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Rückenschmerzen und Nackenschmerzen

Hans-Raimund Casser
Monika Hasenbring
Annette Becker
Ralf Baron
(Hrsg.)

Rückenschmerzen
und Nackenschmerzen
Interdisziplinäre Diagnostik und Therapie, Versorgungspfade,
Patientenedukation, Begutachtung, Langzeitbetreuung

Mit 238 Abbildungen

123
Herausgeber
Hans-Raimund Casser
DRK Schmerz-Zentrum Mainz
Mainz, Deutschland

Monika Hasenbring
Ruhr-Universität Bochum
Bochum, Deutschland

Annette Becker
Philipps-Universität Marburg
Marburg, Deutschland

Ralf Baron
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Kiel, Deutschland

ISBN 978-3-642-29774-8 978-3-642-29775-5 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5

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V

Vorwort

Rücken- und Nackenschmerzen sind und Die Herausgeber danken den zahlreichen
bleiben die häufigsten Beschwerdeangaben Autoren, die mit ihren interessanten Beiträ-
beim akuten wie auch chronischen Schmerz. gen dazu beigetragen haben, die Komplexität
Noch immer fällt es schwer, einheitliche und dieses Themas darzustellen und Lösungs-
allgemeingültige diagnostische und thera- möglichkeiten aufzuzeigen. Wir bedanken
peutische Maßnahmen zu entwickeln. Zu uns auch besonders für die Geduld bei dem
umfangreich sind die Ursachen und Kofakto- langdauernden Entstehungsprozess dieses
ren für das Auftreten und die Weiterentwick- Buchs, beim Verlag, insbesondere Frau Dr.
lung der Beschwerden. Für jeden Patienten Krätz und Herrn Treiber, die unermüdlich
muss individuell entschieden werden, welche mit uns an dem Gelingen und der Vollen-
Diagnostik eingesetzt werden soll und welche dung dieses Werks gearbeitet haben.
Therapie erfolgversprechend erscheint. Als
Therapeuten sind wir hier in besonderer Wir hoffen, dass wir nicht nur den Rücken-
Weise gefordert: Wir sind gezwungen, uns schmerzexperten, sondern auch den zahl-
mit Über- und Unterversorgung auseinan- reichen mit Rücken- und Nackenschmerz
derzusetzen, müssen ein uns antrainiertes konfrontierten Medizinern, Psychologen,
biomedizinisches Krankheitsverständnis Physiotherapeuten, pflegenden Berufen und
hinterfragen und Menschen mit hohem Lei- allen im Gesundheitswesen mit diesem The-
densdruck zum Selbstmanagement anregen. ma Befassten ein Übersichtswerk geschaffen
Diese gewaltige Herausforderung lässt sich haben, das weitgehend alle Aspekte aktuell
nur lösen, wenn wir kooperieren und konsis- anspricht und für die Praxis relevante The-
tente Strategien im Sinne eines biopsychoso- men hervorhebt. Mag es auch den anstehen-
zialen Krankheitsverständnisses verfolgen. den Leitlinien und Disease-Management-
Es ist deshalb besonders wichtig, dass eine Programmen Basis und Unterstützung sein!
Vielzahl von Autoren an diesem Buch betei-
ligt ist, um den Dialog zu öffnen und mög- H.-R. Casser
lichst allen Gesichtspunkten gerecht zu wer- M. Hasenbring
den. Gerade bei chronifizierten Verläufen A. Becker
sollten wir uns immer bewusst sein, dass die R. Baron
Problematik selten mit rein medizinischen Mainz, Bochum, Marburg und Kiel
Maßnahmen nachhaltig zu lösen ist, sondern im Sommer 2016
auch psychosoziale Aspekte zu berücksichti-
gen sind.

Das Buch ist auch ein Plädoyer für ein mög-


lichst frühzeitiges Erkennen von Risikofakto-
ren für die Chronifizierung von Rücken- und
Nackenschmerzen, die es zu verhindern gilt.
Gerade hier sind adäquate Versorgungs-
strukturen und konsequente Vorgehenswei-
sen dringend erforderlich, die derzeit noch
nicht in ausreichender Weise vorhanden sind
und auch keine entsprechende Förderung er-
fahren. Wissenschaftliche Erkenntnisse und
Erfahrungen aus der Praxis belegen Verbes-
serungsmöglichkeiten, die nun endlich in die
Tat umgesetzt werden müssen.
Die Herausgeber

Prof. Dr. med. Hans-Raimund Casser


Prof. Dr. med. Hans-Raimund Casser ist Ärztlicher Direktor des DRK Schmerz-Zentrums
Mainz. Er ist Facharzt für Orthopädie und orthopädische Rheumatologie, Physikalische
Medizin und Rehabilitation sowie Schmerzmediziner mit Fokus auf muskuloskeletale Be-
schwerden, insbesondere Rückenschmerz. Sein Hauptinteresse gilt der Versorgungs-
forschung, insbesondere dem Behandlungspfad Kreuzschmerz. Prof. Casser ist Präsidiums-
mitglied verschiedener Fachgesellschaften, so der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V.
(ehemals DGSS), der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie
(DGOOC) sowie der Interdisziplinären Gesellschaft für Orthopädische und Unfallchirur-
gische Schmerztherapie (IGOST).

Prof. Dr. phil. Monika Hasenbring


Prof. Dr. phil. Monika Hasenbring ist Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und
Soziologie an der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum sowie der Ambulanz
für Psychotherapie. Ihre Forschungsschwerpunkte: Schmerzverarbeitung bei Kreuz- und
Nackenschmerzen, körperliche Aktivität im Prozess der Chronifizierung, Emotionsregulation
und Schmerzwahrnehmung, Entwicklung von Verfahren in der psychologischen Schmerz-
diagnostik und -therapie. Sie ist Mitglied der Autorengruppe der Nationalen Versorgungs-
leitlinie Kreuzschmerz.

Prof. Dr. med. Annette Becker


Prof. Dr. med. Annette Becker, MPH, studierte Humanmedizin an der RWTH Aachen und
Public Health an der Universität Ulm. Nach ihrer Promotion und wissenschaftlicher Tätig-
keit an der Georg-August-Universität in Göttingen erhielt sie als Fachärztin für Allgemein-
medizin im Jahr 2005 einen Ruf an die Philipps-Universität Marburg auf eine Junior-
professur für Prävention und Behandlung chronischer Krankheiten. Seit 2011 ist sie in
einer hausärztlichen Gemeinschaftspraxis in Wettenberg tätig und seit 2014 Professorin
für Allgemeinmedizin an der Philipps-Universität. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte
ist die Behandlung von Patienten mit Rückenschmerzen in hausärztlichen Praxen.
Sie ist Autorin der nationalen Versorgungsleitlinie »Kreuzschmerzen«, der Leitlinie
»Chronischer Schmerz« der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin sowie zahl-
reicher wissenschaftlicher Fachartikel.

Prof. Dr. med. Ralf Baron


Prof. Dr. med. Ralf Baron ist Leiter der Sektion Neurologische Schmerzforschung und
-therapie sowie stellvertretender Direktor der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums
Schleswig-Holstein in Kiel. 1999–2004 bekleidete er das Amt des Generalsekretärs der
Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Schmerztherapie (DIVS), seit 2005 ist er
Mitglied des Beirats der Neuropathic Pain Special Interest Group (NeuPSIG) of the Inter-
national Association for the Study of Pain (IASP) und 2008–2010 Vorstandsmitglied der
Deutschen Schmerzgesellschaft. Seit 2010 ist er als Councilor bei der International Asso-
ciation for the Study of Pain (IASP) tätig. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der
Erforschung pathophysiologischer Mechanismen der Schmerzentstehung und chronifi-
zierung sowie der Therapie neuropathischer Schmerzsyndrome. Er unterhält eine inten-
sive Zusammenarbeit mit verschiedenen international anerkannten Wissenschaftlern,
z. B. Prof. H.L. Fields (San Francisco, USA) und Prof. T.S. Jensen (Aarhus, Dänemark).
VII
Die Herausgeber

Prof. Dr. Baron ist assoziierter Herausgeber und Reviewer für zahlreiche medizinische
Journale (Advisory-Board-Mitglied der Nature Reviews Neurology seit 2005, Associated
Editor für Pain seit 2003 und European Journal of Pain 2006–2012). Er wurde mit zahl-
reichen Preisen ausgezeichnet, z. B. 2003 mit dem Sertürner Preis, im gleichen Jahr mit
dem Deutschen Schmerzpreis oder 2001 mit dem Heinrich-Pette-Preis der Deutschen
Gesellschaft für Neurologie. 1998 verbrachte er als Gastprofessor einen 1-jährigen For-
schungsaufenthalt am Department of Neurology, University of California San Francisco,
USA (Prof. Dr. Howard L. Fields) im Rahmen eines Feodor-Lynen-Stipendiums der
Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Prof. Baron veröffentlichte gemeinsam mit seinem
engagierten Forschungsteam über 250 Originalarbeiten, Übersichtsarbeiten, Buchbeiträge
und hielt zahlreiche Vorträge bei internationalen Konferenzen und Symposien.
Inhaltsverzeichnis

I Bedeutung des Rücken- und Nackenschmerzes

1 Vom akuten zum chronischen Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3


A.-R. Fahland, T. Kohlmann, C.O. Schmidt

II Entstehungs- und Chronifizierungmechanismen


des Rücken- und Nackenschmerzes

2 Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13


H.-C. Scholle, C. Anders, T. Scholle

3 Entstehung der Schmerzchronifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27


R.-D. Treede

4 Myofasziale Schmerzentstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
S. Mense

5 Körperliche Aktivität und biomechanische Mechanismen


der Schmerzchronifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
M.I. Hasenbring, H. Plaas

6 Risikofaktoren und psychobiologische Mechanismen der Chronifizierung . . . . . . . . 57


M. Pfingsten

7 Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
I. Cascorbi

8 Spezifischer, nichtspezifischer, akuter/subakuter und chronischer


Rückenschmerz: Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
H.-R. Casser

III Versorgungspfade

9 Akuter/subakuter lumbaler Rückenschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79


J.-F. Chenot, A. Becker, R. Baron, H.-R. Casser, M. Hasenbring

10 Chronischer Rückenschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
A. Becker, J.-F. Chenot, H.-R. Casser, R. Baron, M. Hasenbring

IV Diagnostik

11 Diagnostik der Schmerzintensität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107


H.-D. Basler

12 Untersuchungstechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
K. Niemier, H.-R. Casser, R. Baron, J. Raethjen
IX
Inhaltsverzeichnis

13 Psychosoziale Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149


M.I. Hasenbring, M. Pfingsten

14 Interdisziplinäres Assessment zur multimodalen Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . 165


H.-R. Casser, B. Arnold, I. Gralow, D. Irnich, K. Klimczyk, B. Nagel, M. Pfingsten,
M. Schiltenwolf, R. Sittl, W. Söllner, R. Sabatowski, T. Brinkschmidt

V Edukation und Patientenperspektive

15 Information und Edukation des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177


H.-G. Nobis, A. Pielsticker

16 Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
C. Leonhardt

17 Biopsychosoziale Krankheitsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205


M.I. Hasenbring

VI Behandlung

18 Medikamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
I. Cascorbi

19 Physiotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
U. Wolf

20 Nackenschmerzen und sensomotorische Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251


D. Falla

21 Physikalische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263


U. Lange

22 Manuelle Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271


W.F. Beyer

23 Orthopädische Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277


S. Middeldorf

24 Ergotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
P. Higman

25 Potenzial des analgetischen Placeboeffekts in der Rückenschmerztherapie . . . . . . . 287


R. Klinger, H. Flor

26 Psychologische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297


J.A. Glombiewski, M.I. Hasenbring, C.G. Levenig, Z. Karimi

27 Injektionstherapie und Injektionstechniken an der Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . 311


T. Theodoridis
X Inhaltsverzeichnis

28 Anästhesiologische Schmerztherapie bei Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319


W. Hoerster

29 Neuromodulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
V. Tronnier

30 Operative und minimal-invasive Verfahren bei Rücken- und Nackenschmerz . . . . . . 331


T. Koy, M.J. Scheyerer, P. Eysel

31 Akupunktur bei Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351


A. Molsberger

32 Multimodale Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359


B. Arnold, T. Brinkschmidt, H.-R. Casser, I. Gralow, D. Irnich, K. Klimczyk,
G. Müller, B. Nagel, M. Pfingsten, M. Schiltenwolf, R. Sittl, W. Söllner

33 Bewegungstherapie in der Behandlung von Rückenschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369


J. Semrau, W. Geidl, K. Pfeifer

VII Rehabilitation und Langzeitbetreuung

34 Wiedereingliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
B. Kladny, J. Betz

35 Ergonomie – Arbeitsplatzgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389


P. Higman

36 Chronic-Care-Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
J. Gensichen, A. Becker

37 Arbeitsmedizinische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401


S. Letzel

VIII Spezielle Krankheitsbilder

38 Nackenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
H.-R. Casser, M. Graf

39 Osteoporose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
A.A. Kurth, P. Hadji

40 Bandscheibenvorfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
R.H. Richter, S. Richter, R. Forst

41 Spinalkanalstenose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
R. H. Richter, S. Richter, R. Forst

42 Spondylitis und Spondylodiszitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461


S. Richter, R.H. Richter, R. Forst
XI
Inhaltsverzeichnis

43 Skoliose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469
S. Richter, R.H. Richter, R. Forst

44 Wirbelsäulentumoren und -metastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479


R.H. Richter, S. Richter, R. Forst

45 Rheumatologische und neurologische Differenzialdiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . 497


U. Lange, V. Lindner

IX Besondere Patientengruppen

46 Rücken- und Nackenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . 515


J. Forst

47 Rücken- und Nackenschmerz


im Leistungssport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
T. Mierswa, M. Kellmann

48 Ältere Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529


C. Leonhardt, H.-D. Basler

49 Geschlechtsunterschiede bei chronischem Muskel- und Rückenschmerz . . . . . . . . . 541


S. Lautenbacher

X Management

50 Versorgungskonzepte in der Schmerzmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551


B. Arnold

51 Struktur der schmerzmedizinischen Versorgung in Deutschland:


Klassifikation schmerzmedizinischer Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557
G.H.H. Müller-Schwefe, J. Nadstawek, T. Tölle, P. Nilges, M.A. Überall, H.J. Laubenthal, F. Bock,
B. Arnold, H.R. Casser, T.H. Cegla, O.M.D. Emrich, T. Graf-Baumann, J. Henning, J. Horlemann,
H. Kayser, H. Kletzko, W. Koppert, K.H. Längler, H. Locher, J. Ludwig, S. Maurer, M. Pfingsten,
M. Schäfer, M. Schenk, A. Willweber-Strumpf

52 Leitlinie Nackenschmerz der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin


und Familienmedizin (DEGAM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
M. Scherer, A. Wollny

53 Integrierte Versorgung für Patienten mit Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577


G. Lindena

54 Lendenwirbelsäulenbegutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591
J. Kuhn

55 Halswirbelsäulenbegutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
F. Schröter
XII Inhaltsverzeichnis

56 Gesundheitsökonomische Aspekte von Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617


O. Damm, D. Bowles, W. Greiner

57 Leitlinien für die Primärversorgung: vom runden Tisch zur realen Praxis . . . . . . . . . 631
G. Egidi, A. Becker

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642
XIII

Autorenverzeichnis

Anders, Christoph, PD Dr. Bowles, David, M. Sc.


Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, WIP – Wissenschaftliches Institut der PKV
FB Motorik, Pathophysiologie und Biomechanik Gustav-Heinemann-Ufer 74c
Universitätsklinikum Jena 50968 Köln
Erfurterstr. 35
07740 Jena Brinkschmidt, Tamina, Dr.
Algesiologikum MVZ
Arnold, Bernhard, Dr. Schmerztherapiezentrum
Abteilung für Schmerztherapie Heßstr. 22
HELIOS Amper-Klinikum Dachau 80799 München
Krankenhausstr. 15
85221 Dachau Cascorbi, Ingolf, Prof. Dr. Dr.
Institut für Pharmakologie
Baron, Ralf, Prof. Dr. Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Kiel
Klinik für Neurologie Arnold-Heller-Str. 3
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Kiel 24105 Kiel
Arnold-Heller-Str. 3
24105 Kiel Casser, Hans-Raimund, Prof. Dr.
DRK Schmerz-Zentrum Mainz
Basler, Heinz-Dieter, Prof. Dr. Dr. Auf der Steig 16
Roter Hof 5 55131 Mainz
35037 Marburg
Cegla, Thomas H., Dr.
Becker, Annette, Prof. Dr. Regionales Schmerzzentrum DGS
Abt. f. Allg. Medizin, Präventive & Rehabilitative Medizin Krankenhaus St. Josef
Philipps-Universität Marburg Bergstr. 6–12
Karl-von-Frisch-Str. 4 42105 Wuppertal
35043 Marburg
Chenot, Jean-François, Prof. Dr.
Betz, Jan, Dipl. Soz. Päd. (FH) Abteilung für Allgemeinmedizin
Klinische Sozialarbeit Universitätsmedizin Greifswald
Fachklinik Herzogenaurach Ellernholzstr. 1–2
In der Reuth 1 17487 Greifswald
91074 Herzogenaurach
Damm, Oliver, MPH
Beyer, Wolfgang F., Prof. Dr. Fakultät für Gesundheitswissenschaften
Orthopädie-Zentrum Bad Füssing Universität Bielefeld
Deutsche Rentenversicherung Bayern Süd Universitätsstr. 25
Waldstr. 12 33615 Bielefeld
94072 Bad Füssing
Egidi, Günther, Dr.
Bock, Fritjof, Dr. Arztpraxis für Allgemeinmedizin
Schmerzzentrum Bodensee-Oberschwaben Huchtinger Heerstr. 41
Kuppelnaustr. 5 28259 Bremen
88212 Ravensburg
XIV Autorenverzeichnis

Emrich, Oliver, Dr. Glombiewski, Julia Anna, Dr.


Regionales Schmerzzentrum DGS Fachbereich Psychologie und Psychotherapie
Gesundheits- und Schmerzzentrum Ludwigshafen Universität Marburg
Rosenthalstr. 17 Gutenbergstr. 18
67069 Ludwigshafen 35037 Marburg

Eysel, Peer, Prof. Dr. Graf, Michael, Dr.


Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Gartenfeldstr. 6
Universitätsklinikum Köln 54295 Trier
Kerpenerstr. 62
50937 Köln Graf-Baumann, Toni, Prof. Dr.
Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung
Fahland, Ruth, Dipl. Psych. für Schmerztherapie e. V.
Institut für Community Medicine Schillerstr. 14
Universitätsmedizin Greifswald 79331 Teningen
Walther-Rathenau-Str. 48
17475 Greifswald Gralow, Ingrid, Prof. Dr.
Schmerzambulanz und Schmerz-Tagesklinik
Falla, Deborah, Prof. Dr. Universitätsklinikum Münster
Zentrum Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin Albert-Schweitzer-Campus 1
Universitätsklinikum Göttingen 48149 Münster
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen Greiner, Wolfgang, Prof. Dr.
Fakultät für Gesundheitswissenschaften
Flor, Herta, Prof. Dr. Dr. h. c. Universität Bielefeld
Institut für Neuropsychologie und Klinische Psychologie Universitätsstr. 25
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit 33615 Bielefeld
J5
68159 Mannheim Hadji, Peyman, Prof. Dr.
Krankenhaus Nordwest
Forst, Jürgen, PD Dr. Universität Marburg
Waldkrankenhaus St. Marien GmbH Steinbacher Hohl 2–26
Orthopädische Universitätsklinik Erlangen 60488 Frankfurt
Rathsbergerstr. 57
91054 Erlangen Hasenbring, Monika, Prof. Dr.
Abteilung für Medizinische Psychologie
Forst, Raimund, Prof. Dr. und Medizinische Soziologie
Waldkrankenhaus St. Marien GmbH Ruhr-Universität-Bochum
Orthopädische Universitätsklinik Erlangen Universitätsstr. 150
Rathsbergerstr. 57 44801 Bochum
91054 Erlangen
Henning, Jörg, Dr.
Geidl, Wolfgang, Dr. Zentrum für Konservative Orthopädie
Institut für Sportwissenschaft und Sport Krankenhaus Lahnhöhe
Universitätsklinikum Nürnberg-Erlangen Am Kurpark 11
Gebbertstr. 123 b 56112 Lahnstein
91058 Erlangen
Higman, Patience, Prof. Dr.
Gensichen, Jochen, Prof. Dr. Fachbereich Gesundheit und Soziales
Institut für Allgemeinmedizin Hochschule Fresenius
Universitätsklinikum Jena Limburgerstr. 2
Bachstr. 18 65510 Idstein
07743 Jena
XV
Autorenverzeichnis

Hoerster, Winfried, Dr. Klinger, Regine, PD Dr.


Abteilung für Anaesthesiologie Zentrum für Anästhesiologie und Intensivmedizin
Krankenhaus Balserische Stiftung Universität Hamburg
Wilhelmstr. 14 Martinistr. 52
35392 Gießen 20246 Hamburg

Horlemann, Johannes, Dr. Kohlmann, Thomas, Prof. Dr.


Regionales Schmerzzentrum DGS Institut für Community Medicine
Praxis Dr. Horlemann Universitätsmedizin Greifswald
Grünstr. 13–15 Walther-Rathenau-Str. 48
47625 Kevelaer 17475 Greifswald

Irnich, Dominik, PD Dr. Koppert, Wofgang, Prof. Dr.


Algesiologikum MVZ Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin
Schmerztherapiezentrum Medizinische Hochschule Hannover
Heßstr. 22 Carl-Neuberg-Str. 1
80799 München 30625 Hannover

Karimi, Zhora, Dr. Koy, Timmo, Dr.


Praxis für Psychotherapie Wirbelsäulenzentrum
Obermarkt 2 Klinik am Ring
45525 Hattingen Hohenstaufenring 28
50674 Köln
Kayser, Hubertus, Dr.
Praxisgemeinschaft für Anästhesie, Schmerz- Kuhn, Jürgen, Dr.
und Palliativmedizin Liebigstr. 35
Dr. Auerswald & Partner 35392 Gießen
Sonnebergerstr. 6
28329 Bremen-Vahr Kurth, Andreas, Prof. Dr.
Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie
Kellmann, Michael, Prof. Dr. Universitätsmedizin Mainz
Fakultät für Sportwissenschaft Langenbeckstr. 1
Ruhr-Universität Bochum 55131 Mianz
Gesundheitscampus Nord 10
44801 Bochum Längler, Klaus H.
Regionales Schmerzzentrum DGS
Kladny, Bernd, Prof. Dr. Praxis für Spezielle Schmerztherapie
Abteilung für Orthopädie Antoniusweg 4
m&i-Fachklinik Herzogenaurach 41844 Wegberg
In der Reuth 1
91074 Herzogenaurach Lange, Uwe, Univ.-Prof. Dr.
Abteilung für Rheumatologie, klinische Immunologie,
Kletzko, Harry physikalische Medizin und Osteologie
Integrative Managed Care Service GmbH Kerckhoff-Klinik
Parkstr. 13 Benekestr. 2-8
65549 Limburg/Lahn 61231 Bad Nauheim

Klimcyk, Klaus, Dr. Laubenthal, Heinz Josef, Prof. Dr.


Algesiologikum MVZ Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung
Schmerztherapiezentrum für Schmerztherapie e. V.
Heßstr. 22 Heckerstr. 50
80799 München 44807 Bochum
XVI Autorenverzeichnis

Lautenbacher, Stefan, Prof. Dr. Dr. Mense, Siegfried, Prof. Dr.


Physiologische Psychologie Lehrstuhl für Neurophysiologie
Universität Bamberg Medizinische Fakultät Mannheim
Markusplatz 3 der Universität Heidelberg
96047 Bamberg Ludolf-Krehl-Str. 13–17
68167 Mannheim
Leonhardt, Corinna, Dr.
Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Middeldorf, Stefan, Dr.
Licherstr. 106 Orthopädische Klinik
35394 Gießen Schön Klinik Bad Staffelstein
Am Kurpark 11
Letzel, Stephan, Univ.-Prof. Dr. 96231 Bad Staffelstein
Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
Universitätsmedizin Mainz Mierswa, Tobias, M. Sc.
Obere Zahlbacher-Str. 67 Fakultät für Sportwissenschaft
55131 Mainz Ruhr-Universität Bochum
Gesundheitscampus-Nord 10
Levenig, Claudia G., M. A. 44801 Bochum
Abteilung für Medizinische Psychologie
und Medizinische Soziologie Molsberger, Albrecht
Ruhr-Universität Bochum Orthopädische Klinik
Universitätsstr. 150 Ruhr-Universität Bochum
44780 Bochum Universitätsstr. 150
44780 Bochum
Lindena, Gabiele, Dr.
CLARA Clinical Analysis, Research and Application Müller, Gerd, Dr.
Clara-Zetkin-Str. 34 Rückenzentrum Am Michel
14532 Kleinmachnow Erste Brunnenstr. 1
20459 Hamburg
Lindner, Volker, Dr.
Klinik für Neurologie Müller-Schwefe, Gerhard, Dr.
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein – Campus Kiel Regionales Schmerzzentrum DGS
Arnold-Heller-Str. 3 Schmerz- & Palliativzentrum Göppingen
24105 Kiel Schillerplatz 8/1
73033 Göppingen
Locher, Hermann, Dr.
Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie Nadstawek, Joachim, Prof. Dr.
Lindauerstr. 16/1 Schmerzzentrum
88069 Tettnang Jankerklinik
Villenstr. 8
Ludwig, Jörn, Dr. 53129 Bonn
sporthopaedicum
Bahnhofplatz 27 Nagel, Bernd, Dr.
94315 Straubing Algesiologikum MVZ
Schmerztherapiezentrum
Maurer, Silvia, Dr. Heßstr. 22
Regionales Schmerzzentrum DGS 80799 München
Praxis Dr. Silvia und Thomas Maurer
Weinstr. 27 Niemier, Kay, Dr.
76887 Badbergzabern Klinik für Manuelle Therapie
Ostenallee 83
59071 Hamm
XVII
Autorenverzeichnis

Nilges, Paul, Dr. Richter, Silvia, Dr.


DRK-Schmerzzentrum Mainz Orthopädische Universitätsklinik Erlangen
Auf der Steig 16 Rathsbergerstr. 57
55131 Mainz 91054 Erlangen

Nobis, Hans-Günter, Dipl. Psych. Sabatowski, Rainer, Prof. Dr.


MEDIAN Klinikum für Rehabilitation UniversitätsSchmerzCentrum (USC)
Klinik am Burggraben Universitätsklinikum Dresden
Alte Vlothoer Str. 47–49 Fetscherstr. 74
32105 Bad Salzuflen 01307 Dresden

Pielsticker, Anke, Dr. Schäfer, Michael, Prof. Dr.


Institut für Schmerztherapie München Klinik für Anästhesiologie
Tal 15 Universitätsmedizin Berlin
80331 München Charitéplatz 1
10117 Berlin
Pfeifer, Klaus, Prof. Dr.
Institut für Sportwissenschaft und Sport Schenk, Michael, Dr.
Universitätsklinikum Nürnberg-Erlangen Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe
Gebbertstr. 123b Kladower Damm 221
91058 Erlangen 14089 Berlin

Pfingsten, Michael, Prof. Dr. Scherer, Martin, Prof. Dr.


Schmerztagesklinik und -ambulanz Institut für Allgemeinmedizin
Universitätsmedizin Göttingen Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Robert-Koch-Str. 40 Martinistr. 52
37075 Göttingen 20246 Hamburg-Eppendorf

Plaas, Heike, Dipl.-Psych. Scheyerer, Max J., Dr.


Abteilung für Medizinische Psychologie Klinik und Poliklinik für Orthopädie und Unfallchirurgie
und Medizinische Soziologie Universitätsklinikum Köln
Ruhr-Universität Bochum Kerpenerstr. 62
Universitätsstr. 150 50937 Köln
44801 Bochum
Schiltenwolf, Michael, Dr.
Raethjen, Jan, Prof. Dr. Orthopädische Klinik
Klinik für Neurologie Universitätsklinikum Heidelberg
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel Schlierbacher Landstr. 200a
Schittenhelmstr. 10 69118 Heidelberg
24105 Kiel
Neurologische Praxis Schmidt, Carsten Oliver, PD Dr.
Preußerstraße 1–9 Institut für Community Medicine
24105 Kiel Universitätsklinikum Greifswald
Walther-Rathenau-Str. 48
Richter, Richard Heinrich, PD Dr. 17475 Greifswald
Waldkrankenhaus St. Marien GmbH
Orthopädische Universitätsklinik Erlangen Scholle, Hans-Christoph, Prof. Dr.
Rathsbergerstr. 57 Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie,
91054 Erlangen FB Motorik, Pathophysiologie und Biomechanik
Universitätsklinikum Jena
Erfurterstr. 35
07740 Jena
XVIII Autorenverzeichnis

Scholle, Thorsten, Dr. Tronnier, Volker, Prof. Dr.


Zentrum für diagnostische und interventionelle Klinik für Neurochirurgie
Radiologie, Diagnostische Radiologie Universitätsklinikum Schleswig Holstein
Zentralklinik Bad Berka Ratzeburger Allee 160
Robert-Koch-Allee 9 23538 Lübeck
99437 Bad Berka
Überall, Michael A., PD Dr.
Schröter, Frank, Dr. Regionales Schmerzzentrum DGS
Institut für Medizinische Begutachtung (IMB) Institut für Neurowissenschaften
Landgraf-Karl-Str. 21 Theodorstr. 1
34131 Kassel 90489 Nürnberg

Semrau, Jana Willweber-Strumpf, Annette, Dipl.-Psych.


Institut für Sportwissenschaft und Sport Schmerz- und Tagesklinik-Ambulanz
Universitätsklinikum Nürnberg-Erlangen Universitätsmedizin Göttingen
Gebbertstr. 123 b Robert-Koch-Str. 40
91058 Erlangen 37075 Göttingen

Sittl, Reinhard, Dr. Wolf, Udo, Prof.


Interdiziplinäres Schmerzzentrum Studiengang Physiotherapie
Universitätsklinikum Nürnberg- Erlangen Hochschule für Gesundheit
Krankenhausstr. 12 Universitäts Str. 105
91054 Erlangen 44789 Bochum

Söllner, Wolfgang, Prof. Dr. Wollny, Anja, Dr.


Klinik für Psychosomatik Institut für Allgemeinmedizin
und Psychtherapeutische Medizin Universität Rostock
Klinikum Nürnberg Doberanerstr. 142
Prof.-Ernst-Nathan-Str. 1 18057 Rostock
90410 Nürnberg

Theodoridis, Theodoro, Dr.


Minimalinvasive und operative Wirbelsäulentherapie
Viktoria Klinik Bochum
Viktoriastr. 66–70
44787 Bochum

Tölle, Thomas, Prof. Dr.


Klinik für Neurologie
TU München
Ismaningerstr. 22
81675 München

Treede, Rolf, Prof. Dr.


Lehrstuhl für Neurophysiologie
Universität Heidelberg, Med. Fakultät Mannheim
Ludolf-Krehl-Str. 13–17
68167 Mannheim
XIX

Abkürzungen

ACT Akzeptanz- und Commitmenttherapie FABQ Fear-Avoidance Beliefs Questionnaire


AEM Avoidance-endurance-Modell FAM Fear-avoidance-Modell
AEQ Avoidance-Endurance Questionnaire FAR Fear-avoidance-Reaktionen
AI Aromataseinhibitoren FBSS failed back surgery syndrome
ALIF anteriore lumbale interkorporelle Fusion FCE functional capacity evaluation
AMIKA alte Menschen in körperlicher Aktivität FESV Fragebogen zur Erfassung der Schmerz-
ArbMedVV arbeitsmedizinische Vorsorgeverordnung verarbeitung
ArbSchG Arbeitsschutzgesetz FfbH-R Funktionsfragebogen Hannover Rücken
ART Acupuncture Randomized Trial FTL Fascia thoracolumbalis
ASR Achillessehnenreflex
ATP Adenosintriphosphat GERAC German Acupuncture Trials
AU-Zeit Arbeitsunfähigkeitszeit GfA Gesellschaft für Arbeitswissenschaft
AWMF Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen GKV gesetzliche Krankenversicherung
Medizinischen Fachgesellschaften GnRH gonadotropin releasing hormone
GRIP Göttinger Rücken-Intensiv-Programm
BAR Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation
BDI Beck-Depressions-Inventar HADS Hospital Anxiety and Depression Scale
BESD Beurteilung von Schmerzen bei Demenz HHNA Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-
BGW Bindegewebe rinden-Achse
BJHS benign joint hypermobility syndrome HKF Heidelberger Kurzfragebogen
BK Bradykinin HLA-B human leukocyte antigen-B
BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit HOBS handlungsorientierte Beratung für Schmerz-
BSR Bizepssehnenreflex patienten
BSV Bandscheibenvorfall HWK Halswirbelkörper
BWK Brustwirbelkörper HWS Halswirbelsäule
BWS Brustwirbelsäule
ICF International Classification of Functioning
CGRP calcitonin gene-related peptide Disability and Health
CLBP chronic lower back pain IDET intradiskale elektrothermale Therapie
COPM Canadian Occupation Performance Measure IgA Immunglobulin A
CPAQ Chronic Pain Acceptance Questionnaire IgG Immunglobulin G
CPM conditioned pain modulation IL Interleukin
CPR clinical prediction rule IMBA Integration von Menschen mit Behinderung
CR konditionierte Reaktion in die Arbeitswelt
CRMO chronisch rezidivierende multifokale Osteo-
myelitis KBV Kassenärztliche Bundesvereinigung
CRP C-reaktives Protein KHK koronare Herzkrankheit
CRPS complex regional pain syndrome KM Kontrastmittel
CT Computertomografie KSI Kieler Schmerzinventar
CTÜ zervikothorakaler Übergang KTL Katalog therapeutischer Leistungen
CYP2D6 polymorphes Cytochrom P450 2D6 KUSS Kindliche Unbehagens- und Schmerz-Skala

DD Differenzialdiagnose LA Lokalanästhetikum
DER distress-endurance responses LDH Laktatdehydrogenase
DGAUM Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin LSPA lumbale Spinalnervanalgesie
und Umweltmedizin e. V. LSS Spinalkanalstenose
DIAM device for interspinous assisted motion LWK Lendenwirbelkörper
DISH diffuse interstitielle Hyperosteose LWS Lendenwirbelsäule
DLPFC dorsolateraler präfrontaler Kortex
DMP Disease-Management-Programm MASK-P multiaxiale Schmerzklassifikation,
DOMS delayed onset muscle soreness psychosoziale Dimension
DXA dual-energy X-ray absorptiometry MET metabolic equivalents
MI motivational interviewing
EEG Elektroenzephalogramm MPSQ Örebro Musculoskeletal Pain Screening
EER eustress-endurance responses Questionnaire
EMG (OHNWURP\RJUDfLH MPSS Mainz Pain Staging System
MRT Magnetresonanztomografie
MTrPs myofasziale Triggerpunkte
XX Abkürzungen

N Newton TLÜ thorakolumbaler Übergang


NGF nerve growth factor TNF Tumornekrosefaktor
NMDA N-Methyl-D-Aspartat tNSAR traditionelle nichtsteroidale Antirheumatika/
NPP Nucleus-pulposus-Prolaps Antiphlogistika
NRS numerische Ratingskala TOP-Prinzip Technische-organisatorische-personen-
NS neutraler Stimulus bezogene-Maßnahmen-Prinzip
NSAR nichtsteroidales Antirheumatikum TOPS total posterior lumbar arthroplasty system
NVL nationale Versorgungsleitlinie TR Repetitionszeit
TRP Triggerpunkt
ODI Oswestry-disability-Index TSE Turbospin-Echo
OEMG Oberflächen-EMG TSH Thyreoidea-stimulierendes Hormon
OPLL ossification of the posterior longitudinal TSK Tampa Scale for Kinesiophobia
ligament TSR Trizepssehnenreflex
OPS Operationen- und Prozedurenschlüssel TTM transtheoretisches Modell der Verhaltens-
OS Oberschenkel änderung
OSA Occupational Self Assessment
OSG oberes Sprunggelenk ULNNT Upper Limb Neural Tension Test
UM Ultrarapidmetabolisierer
PAG periaquäduktales Grau UR unkonditionierte Reaktion
PASS Pain Anxiety Symptom Scale US unkonditionierter Stimulus
PAVK periphere arterielle Verschlusskrankheit USG unteres Sprunggelenk
PCS Pain Catastrophizing Scale
PDI Pain Disability Questionnaire VAS visuelle Analogskala
PEEK Polyetheretherketon VRS verbale Ratingskala
PEMF pulsed electromagnetic fields VRT Volume-rendering-Technik
PENS perkutane elektrische Nervenstimulation
PET Positronenemissionstomografie WAD whiplash associated disorders
PGE2 Prostaglandin E2 WBS Wirbelsäule
PHODA photograph series of daily activities WDR-Zelle Wide-dynamic-range-Zelle
PIR postisometrische Relaxation WK Wirbelkörper
PLIF posteriore lumbale interkorporelle Fusion
PMMA Polymethylmethacrylat XLIF lateral lumbar interbody fusion
PMR progressive Muskelentspannung
PNfS periphere Nervenfeldstimulation ZML zentrale motorische Leitungszeit
PNP Polyneuropathie ZNS zentrales Nervensystem
PSR Patellarsehnenreflex

QCT quantitative Computertomografie


QST qXDQWLWDWLYHVHQVRULVFKH7HVWXQJ
QUS quantitativer Ultraschall

rACC URVWUDOHsDQWHULRUHs&LQJXOXP
RCT randomized controlled trial
RPR Radiusperiostreflex

SCS spinal cord stimulation


SEP sensibel evozierte Potenziale
SIG Sakroiliakalgelenk
SP Substanz P
SPECT Einzelphotonenemissionstomografie
SSNRI spezifischer Serotonin-/Noradrenalin-
Wiederaufnahmehemmer
SSRI selektiver Serotonin-Wiederaufnahme-
hemmer
SWK Sakralwirbelkörper

TE Echozeit
TENS transkutane elektrische Nervenstimulation
TEP Totalendoprothese
TFASTM total facet arthroplasty system
TLIF transforaminale lumbale interkorporelle
Fusion
TLSO Thorakolumbosakralorthese
1 I

Bedeutung des Rücken-


und Nackenschmerzes
Kapitel 1 Vom akuten zum chronischen Schmerz –3
A.-R. Fahland, T. Kohlmann, C.O. Schmidt
3 1

Vom akuten zum


chronischen Schmerz
A.-R. Fahland, T. Kohlmann, C.O. Schmidt

1.1 Begriffsbestimmungen –4
1.1.1 Ätiologie – 5
1.1.2 Risikofaktoren – 5

1.2 Epidemiologie –6

1.3 Verlauf –8

1.4 Soziökonomische Bedeutung –9

Literatur –9

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
4 Kapitel 1 · Vom akuten zum chronischen Schmerz

Rückenschmerzen zählen in Deutschland und anderen


1 Industrienationen zu den größten Gesundheitsproblemen.
Sie bedingen eine erhebliche individuelle Beschwerdelast
sowie hohe Kosten im Gesundheitssystem und in der
Volkswirtschaft. Betroffen sind im Laufe eines Jahres rund
55–75 % der Erwachsenenbevölkerung. Der Begriff Rücken-
schmerz beschreibt zahlreiche Formen schmerzhafter
Beschwerden im Rücken, denen nur minderheitlich medizi-
Rücken
nisch eindeutige Ursachen zugeordnet werden können.
Insbesondere bildgebende Verfahren haben nur eine be-
grenzte diagnostische und therapieleitende Aussagekraft.
Unter den sog. spezifischen Ursachen dominieren degenera-
tive Erkrankungen. Die Mehrheit der akuten unspezifischen
Rückenschmerzen klingt innerhalb weniger Wochen ab.
Wichtige Risikofaktoren für die Chronifizierung sind psycho-
soziale Faktoren wie Depressivität oder Stress. Während
Rückenschmerzen in allen gesellschaftlichen Schichten
vorkommen, sind beeinträchtigende Rückenschmerzen in
sozial schwachen Schichten stark überrepräsentiert.

1.1 Begriffsbestimmungen

Der Begriff der Rückenschmerzen beschreibt unterschied-


lich starke Schmerzzustände in verschiedenen Bereichen
des Rückens, unabhängig von ihrer Ursache (. Abb. 1.1).
Beschwerden und Schmerzen im Bereich des unteren
Rückens vom unteren Rippenbogen bis zu den Gluteal-
falten werden häufig auch mit dem Begriff der Kreuz-
schmerzen beschrieben (. Abb. 1.2). Beim Vergleich mit . Abb. 1.1 Mannequin zur Lokalisierung der Rückenschmerzen aus
der DFRS-Studie. (Aus Schmidt et al. [39]; mit freundl. Genehmigung)
Studien aus dem angloamerikanischen Bereich ist zu
beachten, dass diese vorzugsweise auf Kreuzschmerzen,
also »low back pain«, fokussieren.
Plötzlich und heftig auftretende lokale Schmerzen im
Lendenbereich werden auch als Lumbago (»Hexen-
schuss«) bezeichnet [2]. Rückenschmerzen im Lenden-
bereich, die in das Bein und den Fuß oder die Zehen aus-
strahlen, werden dagegen als Lumboischialgie/Ischialgie
bzw. als radikulär bezeichnet.
Neben der Beschreibung der Rückenschmerzen als
radikulär oder nichtradikulär (z. B. Lumbago) werden
die Schmerzen auch nach der Schmerzlokalisation (z. B.
Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule, Lendenwirbelsäule),
Ätiologie, Dauer, Qualität, assoziierten Beschwerden und
Auftretensmuster klassifiziert. Hinsichtlich der Dauer und
Auftretensmuster werden Rückenschmerzen in akut, sub-
akut, rezidivierend oder chronisch differenziert. Derzeit
existieren verschiedene konkurrierende Definitionsvor-
schläge akuter und chronischer Schmerzen, von denen
sich bislang keiner in der Epidemiologie und im Gesund-
heitswesen endgültig durchsetzen konnte. In einer Analyse
von 40 internationalen epidemiologischen Studien konn- . Abb. 1.2 Lokalisation der Kreuzschmerzen (»low back pain«) aus
ten Raspe et al. [35] aufzeigen, dass die Definition chroni- DEGAM. (Aus Becker et al. [2]; mit freundl. Genehmigung)
1.1 · Begriffsbestimmungen
5 1
scher Schmerzen hauptsächlich anhand der Dauer erfolg- ziiert sind. Dies schränkt die therapieleitende Aussagekraft
te, diese aber stark variierte. 3 Studien definierten Schmer- bildgebender Verfahren ein [10, 29]. Auch bevölkerungs-
zen als chronisch ab einer Dauer von 4 Wochen, 7 Studien bezogene Ergebnisse untermauern die begrenzte Aussage-
ab 3 Monaten, 9 Studien ab 6 Monaten und 3 Studien ab kraft bildgebender Verfahren [23].
einer Schmerzdauer von 12 Monaten. In 13 Studien wur- Circa 85–90 % der Rückenschmerzen kann keine
den zur Definition chronischer Rückenschmerzen zusätz- spezifische Ursache zugeordnet werden. In der wissen-
liche Faktoren wie schmerzbedingte Beeinträchtigungen/ schaftlichen Literatur hat sich für diese der Terminus un-
Einschränkungen, Arbeitsunfähigkeitstage oder die An- spezifischer oder nichtspezifischer Rückenschmerz
zahl der Arztkonsultationen herangezogen. Bei den ver- durchgesetzt [11, 24, 30]. Zu beachten ist, dass die Abgren-
bliebenen 5 Studien fand sich keine explizite Definition zung spezifischer und unspezifischer Rückenschmerzen
chronischer Rückenschmerzen [35]. aus mehreren Gründen problematisch ist. Sie beschreibt
Eine häufig genutzte Definition der Deutschen Ge- die »Demarkationslinie« bekannten Wissens zwischen
sellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin ätiologisch eindeutigen und unklaren Ursachen und ist
(DEGAM) beschreibt folgende Kriterien [2]: damit fortwährendem Wandel ausgesetzt. Gleichzeitig ist
4 Akute Rückenschmerzen treten erstmals oder nach die empirische Grundlage unzureichend, auf der Präva-
mindestens einem halben Jahr Beschwerdefreiheit auf lenzschätzungen zur Verteilung spezifischer und unspezi-
und halten für höchstens 3 Monate an. fischer Faktoren beruhen.
4 Akute Rückenschmerzen, die länger als 6 Wochen Angesichts der begrenzten Möglichkeit, den meisten
dauern, werden als subakut bezeichnet. medizinischen Befunden eine klare medizinische Ursache
4 Rezidivierende Rückenschmerzen treten nach einer zuzuweisen, kommt der Analyse weiterer prognostisch
beschwerdefreien Zeit von mindestens 6 Monaten auf relevanter Faktoren eine große Rolle zu, um Risikoperso-
und werden als eine neue Episode akuter Rücken- nen und -populationen zu identifizieren und präventive
schmerzen betrachtet. wie therapeutische Maßnahmen anzupassen. Hierbei ist
4 Ab einer Schmerzdauer von mindestens 3 Monaten zwischen Risikofaktoren und Risikoindikatoren zu unter-
werden Rückenschmerzen als chronisch definiert. scheiden. Während Risikofaktoren Bestandteil einer zu
Rückenschmerzen führenden Kausalkette sind, indizieren
Risikoindikatoren lediglich Subgruppen, für die ein erhöh-
1.1.1 Ätiologie tes Erkrankungsrisiko besteht [15]. Zu Letzteren zählen
beispielsweise soziale Statusindikatoren. Vor allem ein ge-
Die Ätiologie von Rückenschmerzen ist komplex und ringes Bildungsniveau und in geringerem Maße eine nied-
wird nach wie vor nur eingeschränkt verstanden. Einer- rige berufliche Stellung sowie ein niedriges Einkommen
seits belegen klinische und epidemiologische Studien zahl- sind mit einer höheren Rückenschmerzprävalenz assozi-
reiche Faktoren, die dieses Symptom bedingen können. iert [12, 38]. Das Risiko für beeinträchtigende Rücken-
Diagnostizierbare medizinische Ursachen umfassen bei- schmerzen in den 3 Monaten vor der Erhebung war bei
spielsweise Wurzelkompressionen, bedingt durch dege- deutschen Erwachsenen mit Hauptschulabschluss fast
nerative Veränderungen der Wirbelkörper oder Wirbel- 4-mal höher als bei (Fach-)Abiturienten (17,6 % vs. 4,5 %).
brüche, spinale Stenosen, Tumoren oder entzündliche Er- Um einen Vergleich zu liefern: Das Bildungsniveau erwies
krankungen, z. B. Spondylitis ankylosans [30]. Anderer- sich damit als wichtiger zur Differenzierung zwischen
seits sind diese medizinisch eindeutig zuordenbaren Symptomen bei deutschen Erwachsenen als praktisch alle
Ursachen, sie werden auch als spezifische Ursachen be- radiologischen MRT-Befunde einer dänischen Bevölke-
zeichnet, nur für einen kleinen Teil der Beschwerden ver- rungsstichprobe [22].
antwortlich. Schätzungen zufolge machen diese kaum
10–15 % der Fälle aus [11, 24]. Unter den spezifischen
Ursachen sind degenerative Erkrankungen wie Kompres- 1.1.2 Risikofaktoren
sionsfrakturen bei Osteoporose (ca. 4 %) häufiger ver-
treten als Tumoren bzw. Metastasen (<0,5 %) oder Infek- Mehrere epidemiologische Studien belegen, dass einige der
tionen (ca. 0,1 %) [11]. Die Unsicherheit hinsichtlich der üblichen Risikofaktoren wie Übergewicht oder körperliche
Ätiologie der Beschwerden wird dadurch verstärkt, dass Inaktivität in Bevölkerungsstichproben einen geringen Be-
radiologisch diagnostizierbare pathologische Auffällig- zug zu Rückenschmerzen aufweisen [9, 17, 27]. Demge-
keiten – dabei handelt es sich zumeist um degenerative genüber kommt psychosozialen Risikofaktoren eine grö-
Veränderungen der Bandscheiben und Wirbelkörper oder ßere Bedeutung zu. Dazu zählen Depressivität, Distress,
Fehlstellungen, etwa im Rahmen einer Spondylolisthesis Somatisierung sowie schmerzbezogene Kognitionen wie
– mit den subjektiven Beschwerden zumeist gering asso- »fear-avoidance-beliefs«, »endurance« oder das Katastro-
6 Kapitel 1 · Vom akuten zum chronischen Schmerz

phisieren [8, 28, 33]. Konsistente Zusammenhänge be- lenz lag bei 60 % [40]. Neuere bevölkerungsbezogene
1 treffen auch psychosoziale Arbeitsplatzmerkmale und Studien bestätigen diese Schätzungen (. Tab. 1.1). Die
Rückenschmerzen [5], darunter eine niedrige Arbeits- Punktprävalenz in der erwachsenen Bevölkerung schwankt
platzzufriedenheit, eine als monoton erlebte Arbeit, sozia- zwischen 30 und 40 %, die Jahresprävalenz zwischen
le Konflikte und Stress am Arbeitsplatz. Psychosoziale 55 und 75 % [3, 16, 39]. Entsprechend hohe Schätzungen
Risikofaktoren haben einen hohen Stellenwert innerhalb finden sich auch bei den Lebenszeitprävalenzen: Etwa
aktueller Behandlungsleitlinien für Rückenschmerzen, 70–80 % der Bevölkerung sind mindestens einmal in ih-
beispielsweise der nationalen Versorgungsleitlinie Rücken- rem Leben von Rückenschmerzen betroffen. Nach Anga-
schmerz [7]. ben im telefonischen Gesundheitssurvey 2004 berichteten
Rückenschmerzen sind auch assoziiert mit mechani- 22 % der Frauen und 15 % der Männer von chronischen
schen Arbeitsplatzfaktoren wie starkem Heben oder Tätig- Rückenschmerzen, definiert als täglich oder nahezu täg-
keiten in ungünstigen Körperhaltungen [17, 42, 43]. Zu lich aufgetretene Schmerzen von mindestens 3 Monaten
berücksichtigen ist, dass auch zu anerkannten psycho- Dauer in den letzten 12 Monaten [13]. Diese Angaben ver-
sozialen Risikofaktoren die Befundlage keineswegs durch- deutlichen den beträchtlichen Anteil der Betroffenen mit
weg eindeutig ist [34]. chronischen Beschwerden, wobei Chronizität nicht mit
Insgesamt gibt es unter den bekannten Risikofaktoren Behandlungsrelevanz gleichzusetzen ist.
und Risikoindikatoren keinen einzelnen mit einer heraus- Auch wenn die Prävalenzschätzungen in Abhängigkeit
gehobenen Bedeutung im Prozess der Chronifizierung. von der Methodik der Befragung und der Definition von
Die Befunde belegen vielmehr, dass mannigfaltige bio- (chronischen) Rückenschmerzen variieren, lassen sich
psychosoziale Belastungen chronischen Rückenschmerz studienübergreifend folgende Punkte feststellen:
bedingen und verstärken können. Grundsätzliche Fragen 4 Rückenschmerzen finden sich bei beiden Geschlech-
nach Kausalketten bei der Entstehung von Rückenschmer- tern, in allen Altersklassen und allen sozialen
zen müssen noch als ungeklärt gelten (7 Kap. 6). Ein be- Schichten.
sonderer Fokus der Forschung zu diesem Thema ist derzeit 4 Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
die Identifikation von Subgruppen mit prädiktiv relevan- 4 Junge Erwachsene zeigen bereits ab 20 Jahren eine
ten Mustern von Risikofaktoren [6, 19, 37]. hohe Jahresprävalenz von Rückenschmerzen, die nur
geringfügig mit dem Alter ansteigt.
4 Die Prävalenzen chronischer bzw. schwergradiger
1.2 Epidemiologie Rückenschmerzen steigen mit dem Alter stark an.

Die Angaben zur Schmerzprävalenz beruhen meistens auf Die charakteristische Alters- und Geschlechtswendigkeit
selbstberichteten Angaben, die mittels mündlicher (per der Schmerzprävalenzen ist anhand der Daten aus dem
Telefon oder »face-to-face«) oder schriftlicher Befragun- telefonischen Gesundheitssurvey 2004 deutlich zu erken-
gen (postalische Fragebögen) erhoben wurden. Klinische nen (. Abb. 1.3): Frauen berichteten nicht nur häufiger
Untersuchungen spielen in der Schmerzepidemiologie über Rückenschmerzen als Männer, sondern konsultierten
eine geringere Rolle. Daher differenzieren die meisten deswegen auch häufiger einen Arzt und nahmen mehr
Angaben zur Prävalenz von Rückenschmerzen nicht nach Schmerzmittel ein [40].
der Ätiologie, was vor dem Hintergrund der zuletzt darge- Bezogen auf die alten Bundesländer sind die Präva-
stellten Befunde ohnehin problematisch wäre. Erfragt wird lenzraten von Rückenschmerzen relativ stabil geblieben. In
das Auftreten von Schmerzen zu einem bestimmten Zeit- einem direkten Vergleich zweier methodisch ähnlicher
punkt (Punktprävalenz) oder in einem vorgegebenen Zeit- Querschnittstudien aus Lübeck in den Jahren 1991/1992
raum (Periodenprävalenz). Üblicherweise wird die Punkt- und 2003 zeigten sich unwesentliche Änderungen. In die-
prävalenz (z. B. »Haben Sie heute Rückenschmerzen?«), sen Studien wurden Punktprävalenzen von 39 % bzw. 38 %
die 3-Monats-Prävalenz (»Hatten Sie in den letzten 3 Mo- und Jahresprävalenzen von 73 % bzw. 74 % berichtet [20].
naten Rückenschmerzen?«) oder die 12-Monats-Prävalenz Im Ost-West-Vergleich zeigten sich Anfang der 1990er
(»Hatten Sie in den letzten 12 Monaten Rückenschmer- Jahre noch deutliche Unterschiede in den Schmerzpräva-
zen?«) erfragt. lenzen. Die Prävalenzen von Rückenschmerzen lagen
In Deutschland gibt es mehrere Quellen, die die Ver- 1991/1992 im Osten etwa 11–14 % unter den westdeut-
breitung von Rückenschmerzen behandeln. So berichteten schen Schmerzprävalenzen [4, 13, 36]. Neuere Erhebungen
im Bundesgesundheitssurvey aus dem Jahre 1998, an dem aus den Jahren 2003 und 2004 dokumentieren eine An-
über 7.000 Erwachsene im Alter zwischen 18 und 80 Jah- näherung der Punkt- und Jahresprävalenzen in den neuen
ren teilnahmen, etwa 35 % der Befragten über Rücken- Bundesländern an die Prävalenzen in den alten Bundeslän-
schmerzen in den letzten 7 Tagen. Die 12-Monats-Präva- dern [13, 31].
1.2 · Epidemiologie
7 1

. Tab. 1.1 Aktuelle bevölkerungsbezogene Studien zur Prävalenz von Rückenschmerzen

Autor (Jahr) Studie/Region N Definition Prävalenz (%)

Punktprävalenz
Hüppe et al. 2003 [20] Lübeck 2.441 Rückenschmerzen Männer: 34,5
Frauen: 41,5
Hüppe et al. 2003 [20] Lübeck 2.441 Rückenschmerzen Grad 3 (hohe Schmerz- Männer: 7,6
intensität, hohe Beeinträchtigung) Frauen: 12,7
Schmidt et al. 2007 [39] DFRS-Studie West 9.387 Rückenschmerzen Gesamt: 37,1
Männer: 35,3
Frauen: 38,8
7-Tages-Prävalenz
Bellach et al. 2000 [3] BGS´98 7.124 Rückenschmerzen Männer: 31,4
Frauen: 39,4
Raspe et al. 2003 [35] Lübecka 4.327 Rückenschmerzen Gesamt: 68,0
12-Monats-Prävalenz
Bellach et al. 2000 [3] BGS’98 7.124 Rückenschmerzen Männer: 56,2
Frauen: 62,1
Hüppe et al. 2003 [20] Lübeck 2.441 Rückenschmerzen Männer: 73,4
Frauen: 74,3
Ellert et al. 2006 [13] TelGes’04 7.341 Rückenschmerzen Männer:: 57,5
Frauen: 65,6
Schmidt et al. 2007 [39] DFRS-Studie West 8.313 Rückenschmerzen Gesamt: 76,0
Männer: 74,5
Frauen: 77,4
Neuhauser et al. 2005 [31] TelGes’03 8.313 Chronische Rückenschmerzen (Schmerzdauer Gesamt: 18,7
≥3 Monate in den letzten 12 Monaten)
Ellert et al. 2006 [13] TelGes’04 7.341 Chronische Rückenschmerzen (Schmerzen Männer: 14,8
[nahezu] täglich, Dauer ≥3 Monate) Frauen: 21,6
Lebenszeitprävalenz
Schmidt et al. 2007 [39] DFRS-Studie West 9.387 Rückenschmerzen Gesamt: 85,5
Männer: 85,3
Frauen: 85,7
Neuhauser et al. 2005 [31] TelGes’03 8.313 Chronische Rückenschmerzen (Schmerzdauer Gesamt: 27,3
≥3 Monate in den letzten 12 Monaten)
Ellert et al. 2006 [13] TelGes’04 7.341 Chronische Rückenschmerzen (Schmerzen Männer: 23,0
[nahezu] täglich, Dauer ≥3 Monate) Frauen: 31,5

aStudienteilnehmer: berufstätige Versicherte der Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein aus Lübeck


DFRS-Studie Studie des Deutschen Forschungsverbundes Rückenschmerz (in Bochum, Göttingen, Heidelberg/Rhein-Neckar-Kreis,
Lübeck, Marburg); BGS’98 Bundesgesundheitssurvey 1998; TelGes’03 Telefonischer Gesundheitssurvey 2002/2003; TelGes’04 Telefo-
nischer Gesundheitssurvey 2004

Die hohe Prävalenz von Rückenschmerzen spiegelt abrechnungsrelevante Diagnosen von ca. 600.000 behan-
sich auch in der Inanspruchnahme medizinischer Leistun- delten Patienten berichten. Rückenschmerzen (ICD-10-
gen wider, wie sie z. B. das ADT-Panel (Abrechnungs- Code M54) waren im Jahr 2012 in Allgemeinarztpraxen
DatenTransfer) Nordrhein des Zentralinstituts für kassen- der dritthäufigste und in orthopädischen Praxen der häu-
ärztliche Versorgung dokumentiert. Das ADT-Panel ist figste Behandlungsanlass [45]. Laut einer weiteren Studie
eine geschichtete Zufallsstichprobe von 450 Praxen nieder- zu Beratungsanlässen in Hausarztpraxen bei 31.524 Pa-
gelassener Ärzte aus 14 Arztgruppen, die quartalsweise tienten waren im Jahr 2007 Rückenbeschwerden mit 6,9 %
8 Kapitel 1 · Vom akuten zum chronischen Schmerz

80
1
70

60

50
Prävalenz (%)

Frauen
40
Männer
30

20

10

0
18 – 29

30 – 39

40 – 49

50 – 59

60 – 69
? 70

Gesamt

18 – 29

30 – 39

40 – 49

50 –59
60 – 69
? 70

Gesamt

18 – 29

30 – 39

40 – 49

50 – 59
60 – 69

? 70

Gesamt
Jahresprävalenz RS Jahresprävalenz chronischer Lebenszeitprävalenz
RS chronischer RS
Altersklassen

. Abb. 1.3 Prävalenz von Rückenschmerzen (RS) und chronischen Rückenschmerzen in Deutschland bei Frauen und Männern nach Alters-
klassen. Daten aus dem telefonischen Gesundheitssurvey 2004 des Robert Koch-Instituts [13]

der zweithäufigste Beratungsanlass – nach Husten mit 7 % lagen bei 50 % bzw. 62 %. Inwieweit diese Prävalenzschät-
[26]. Diese Schätzungen entsprechen auch internationalen zungen tatsächliche Unterschiede zwischen den Ländern
Angaben [21]. widerspiegeln, ist aufgrund großer methodischer Unter-
Rückenschmerzen treten bereits bei Kindern und schiede der Studien nur schwer einschätzbar.
Jugendlichen auf. Eine gute Quelle bildet der Kinder- und
Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) aus dem Jahr 2003, an
dem ca. 17.600 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 1.3 Verlauf
3 und 17 Jahren teilnahmen. Die Daten zur Schmerzprä-
valenz bei Kindern im Alter zwischen 3 und 10 Jahren be- Die Mehrheit der akuten unspezifischen Rückenschmer-
ruhten auf den Angaben der Eltern. Etwa 10 % gaben für zen klingt innerhalb weniger Wochen ab [32]. Etwa 70–
ihre Kinder Rückenschmerzen als Hauptschmerz in den 90 % der Rückenschmerzpatienten kehren innerhalb eines
vergangenen 3 Monaten an. Damit lagen sie hinter Bauch-, Monats wieder zur Arbeit zurück [32]. Allerdings handelt
Kopf-, Bein-, Hals- und Ohrenschmerzen auf dem 6. Rang. es sich bei vielen Rückenschmerzepisoden um ein rekur-
Bei den 11- bis 17-Jährigen stieg die 3-Monats-Prävalenz rierendes Ereignis. Anhand der Übersichtsarbeiten von
auf 13 %. Rückenschmerzen waren in dieser Altersgruppe Hestbaek et al. [18] und Pengel [32] lässt sich der Verlauf
nach den Kopfschmerzen (34 %) die zweithäufigste der Rückenschmerzen folgendermaßen beschreiben:
Schmerzart [14]. 4 Reduktion der Schmerzintensität und Funktionsbe-
Im internationalen Vergleich unterscheiden sich die einträchtigung innerhalb eines Monats um 12–84 %.
Rückenschmerzprävalenzen erheblich. Walker (2000) be- 4 68–86 % der Patienten kehren innerhalb eines
richtete in seiner Übersichtsarbeit von Punktprävalenzen Monats zurück zur Arbeit, 93 % kehren innerhalb von
zwischen 12 % (Schweden) und 33 % (Belgien), Jahresprä- 6 Monaten zurück.
valenzen von 22 % (Hongkong) bis 65 % (Dänemark) und 4 42–75 % der Patienten mit Rückenschmerzen zu Be-
Lebenszeitprävalenzen von 11 % (Thailand) bis 84 % ginn eines mindestens 12-monatigen Untersuchungs-
(Kanada) [44]. Ähnliche Differenzen zeigten sich auch bei zeitraums berichteten auch am Ende dieses Zeitraums
Schätzungen zur Prävalenz von Rückenschmerzen in über Rückenschmerzen.
Afrika. In der Übersichtsarbeit von Louw et al. [48] 4 Bei durchschnittlich 26 % traten innerhalb von
schwankte die Punktprävalenz bei Erwachsenen zwischen 3 Monaten Rückenschmerzen erneut auf, die Rekur-
16 % (Zimbabwe) und 59 % (Nigeria), mit einer durch- renz innerhalb von 12 Monaten lag bei 66–84 %.
schnittlichen Prävalenz von 32 %. Die durchschnittlichen 4 Bei 26–37 % traten erneute Phasen mit Arbeitsun-
Jahres- und Lebenszeitprävalenzen für Rückenschmerzen fähigkeit auf.
Literatur
9 1
Aktuelle Ergebnisse aus der multizentrischen Langschnitt- Literatur
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logon?p_uid=gast&p_aid=0&p_knoten=FID&p_sprache=D&p_
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10 Jahren – weiterhin die vorderen Ränge und verursachen An analysis of the relationship between psychological variables,
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43:1495–1507
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bei den Arbeitsunfähigkeitstagen ist bei den frühzeitigen onset of an episode of troublesome neck and low back pain. Pain
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gen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit im Jahre 2008 Occup Environ Health 82:797–806
wurden 5.108 Anträge (3,2 %) aufgrund von Rückschmer- 10. Chou R, Fu R, Carrino JA, Deyo RA (2009) Imaging strategies for
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Die Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bun- Community Health 55:455–468
desamtes zeigt – entsprechend den Rückgängen in den 13. Ellert U, Wirz J, Ziese T (2006) Beiträge zur Gesundheitsberichter-
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direkten Kosten für Dorsopathien sind laut der Krank- come, and occupational class cannot be used interchangeably in
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10 Kapitel 1 · Vom akuten zum chronischen Schmerz

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(Phila Pa 1976 ) 29:1017–1021
11 II

Entstehungs- und Chroni-


fizierungmechanismen
des Rücken- und Nacken-
schmerzes
Kapitel 2 Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie – 13
H.-C. Scholle, C. Anders, T. Scholle

Kapitel 3 Entstehung der Schmerzchronifizierung – 27


R.-D. Treede

Kapitel 4 Myofasziale Schmerzentstehung – 39


S. Mense

Kapitel 5 Körperliche Aktivität und biomechanische Mechanismen


der Schmerzchronifizierung – 47
M. I. Hasenbring, H. Plaas

Kapitel 6 Risikofaktoren und psychobiologische Mechnismen


der Chronifizierung – 57
M. Pfingsten

Kapitel 7 Genetik – 67
I. Cascorbi

Kapitel 8 Spezifischer, nichtspezifischer, akuter/subakuter


und chronischer Rückenschmerz. Definition – 73
H.-R. Casser
13 2

Anatomie, Physiologie
und Pathophysiologie
H.-C. Scholle, C. Anders, T. Scholle

2.1 Anatomie – 14
2.1.1 Wirbel und Gelenkverbindungen – 14
2.1.2 Bandscheiben – 15
2.1.3 Bandapparat – 15
2.1.4 Muskulatur – 16
2.1.5 Rückenmark und Spinalnerven – 16
2.1.6 Spinale Kompartimente – 18
2.1.7 Gefäßversorgung – 18

2.2 Physiologie – 19
2.2.1 Das stabilisierende System der Wirbelsäule – 19
2.2.2 Funktion der Rumpfmuskulatur bei statischer
und dynamischer Belastung – 21

2.3 Pathophysiologie – 23
2.3.1 Interaktion zwischen passivem und aktivem System sowie motorischer
Kontrolle bei Rückenschmerz – 23
2.3.2 Funktion der Rumpfmuskulatur bei Patienten mit akutem
und chronischem Rückenschmerz – 24
2.3.3 Nackenschmerz – 25

Literatur – 26

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
14 Kapitel 2 · Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie

In diesem Kapitel wird die Anatomie der Hals-, Brust- und der Halswirbelsäule (HWS), Brustwirbelsäule (BWS) und
Lendenwirbelsäule, insbesondere die der Wirbel und Ge- Lendenwirbelsäule (LWS) nach kaudal zu und nimmt sak-
lenkverbindungen, der Bandscheiben, des Bandapparats, ral und kokzygeal wieder ab. Der Wirbelbogen besteht aus
2 der Muskulatur, des Rückenmarks, der Spinalnerven, der den paarigen Bogenwurzeln (Pediculi arcus vertebrae), die
spinalen Kompartimente und der Gefäßversorgung dar- dorsal dem Corpus entspringen, und der paarigen Lamina
gestellt. Des Weiteren werden Grundlagen der Physiologie arcus vertebrae (. Abb. 2.1). Der Wirbelbogen bildet mit
des stabilisierenden Systems der Wirbelsäule erläutert, der Wirbelkörperhinterkante die knöcherne Begrenzung
unterteilt in die Komponenten passives und aktives System des Spinalkanals. Dem Wirbelbogen entspringt seitlich
sowie motorische Kontrolle. Funktionelle Aspekte der beidseits je ein Querfortsatz (Processus transversus). An
Rumpfmuskulatur während statischer und dynamischer Be- der BWS artikulieren diese mit den Rippen, und an der
lastung werden im folgenden Abschnitt diskutiert. Kardinale Hals- und Lendenwirbelsäule dienen sie als Muskelansatz.
Pathomechanismen, die zur Entstehung von akuten und Nach dorsal entspringen dem Wirbelbogen der Dornfort-
chronischen Rücken- sowie Nackenschmerzen beitragen, satz (Processus spinosus) und in vertikaler Ausrichtung
werden in weiteren Abschnitten vermittelt. paarige Gelenkfortsätze, der Processus articularis superior
und der Processus articularis inferior. Diese bilden eine
echte gelenkige Verbindung der Wirbelkörper, das Facet-
2.1 Anatomie tengelenk.
Der Atlas, der 1. Wirbel der HWS, bildet ein Gelenk
Der segmentale Aufbau der Wirbelsäule kann zwischen 32 mit den Hinterhauptkondylen des Kopfs (oberes Kopf-
und 35 Wirbeln variieren. Lediglich bei 20 % der radiolo- gelenk/Articulatio atlantooccipitalis), ebenso mit dem
gisch untersuchten Menschen [15] existieren die üblicher- 2. Wirbel der HWS (Axis). Die letztere Verbindung
weise genannten 7 zervikalen, 12 thorakalen und 5 lumba- wird als unteres Kopfgelenk/Articulatio atlantoaxialis
len Wirbel sowie die 5 fusionierten, sakralen und die 4 bezeichnet. Zwischen dem 2. und 3. Wirbel der HWS be-
kokzygealen Wirbel. Vor allem im lumbosakralen Bereich steht nur eine geringe Beweglichkeit, danach nimmt diese
gibt es Übergangsanomalien. Aufgrund einer Sakralisie- bis zum Übergang vom 5. zum 6. Wirbel wieder stetig zu
rung von Lumbalwirbeln bzw. einer Lumbalisierung von (. Abb. 2.4). Lateral am Wirbelkörper bildet der Uncus
Thorakal- oder Sakralwirbeln kann sich die Anzahl der corporis beidseits zwischen benachbarten zervikalen
freien Lendenwirbelkörper verändern. Segmenten eine Uncovertebralverbindung.

> In den verschiedenen Wirbelsäulenetagen verän-


2.1.1 Wirbel und Gelenkverbindungen dert sich der Winkel der Facettengelenkflächen [8].
In der HWS- und BWS-Region sind die Facetten-
Mit Ausnahme des 1. Wirbels der Halswirbelsäule (HWS) gelenkflächen mehr koronar ausgerichtet (erleich-
besteht jeder Wirbel aus einem Wirbelkörper (Corpus tert Rotationsbewegungen), in der LWS eher
vertebrae) und einem Wirbelbogen (Arcus vertebrae). sagittal (erleichtert Flexions-/Extensionsbewe-
Die Höhe der einzelnen Wirbelkörper nimmt im Bereich gungen).

Corpus vertebrae

Processus transversus

Processus spinosus

Lamina arcus vertebrae

Processus articularis superior

Facettengelenk

Processus articularis inferior

. Abb. 2.1 CT-Ansicht eines Lendenwirbelkörpers mit seinen gelenkigen Verbindungen von dorsal (sekundäre VRT-Rekonstruktion aus
Kollimation 64×0,625 mm; VRT Volume-rendering-Technik)
2.1 · Anatomie
15 2
geben wird (. Abb. 2.2; . Abb. 2.4). Die Höhe aller Band-
scheiben macht beim Gesunden 25 % der Gesamtheit
der Wirbelsäule aus. Die axiale Lastaufnahme des Kör-
Corpus vertebrae pers  wird durch die Bandscheiben gewährleistet. Die
Elastizität bzw. Anpassungsfähigkeit der Bandscheibe
Processus spinosus an variierende Druckverhältnisse im Bandscheibenfach
während Wirbelsäulenbewegungen hängt stark von
Ligamentum
longitudinale anterius
ihrem Wassergehalt ab. Dieser nimmt im Laufe des Ta-
ges  unter Belastung ab und nimmt in der Nacht unter
Ligamentum Entlastungsbedingungen wieder zu. Der physiologische
longitudinale posterius Wechsel des Bandscheibenwassergehalts in Abhängigkeit
Medulla spinalis von der Belastung ist mit zunehmendem Alter vermin-
dert.  Eine vermehrte Dysfunktion des Wasserhaushalts
Conus medullaris der Bandscheibe wird auch als Ausdruck für degenerative
Veränderungen gewertet. Die Versorgung der Band-
Nucleus pulposus scheiben erfolgt beim Erwachsenen nach Obliteration
von kleinen, zentral penetrierenden Gefäßen um das
Anulus fibrosus 20. Lebensjahr herum ausschließlich über lymphatische
Kanäle und über passive Zirkulation von Extrazellular-
Dura mater
flüssigkeit.

2.1.3 Bandapparat
. Abb. 2.2 Sagittale MRT-Ansicht der Brust- und der Lendenwir-
belsäule (T2-TSE: TE 94 ms/TR 1.430 ms; TSE Turbospin-Echo; TE Echo-
Die passive Stabilisierung der segmentiert aufgebauten
zeit; TR Repetitionszeit) Wirbelsäule wird zusätzlich zu den kleinen ligamentären
Zwischenwirbelverbindungen und Gelenkkapseln durch
folgende große Bandstrukturen gewährleistet (. Abb. 2.2;
2.1.2 Bandscheiben . Abb. 2.3; . Abb. 2.4):
4 Ligamentum longitudinale anterius: Das vordere
Die Bandscheiben, ein embryologischer Rest der Chorda Längsband verläuft vom äußeren Vorderrand des
dorsalis, bestehen aus einem gelatinösen Gallertkern Foramen magnum über die ventrale Fläche der
(Nucleus pulposus), der vom Faserring (Anulus fibrosus) Wirbelkörper/Bandscheiben nach kaudal bis zum
und den Deckplatten der angrenzenden Wirbelkörper um- Os sacrum.

Corpus vertebrae

Musculus psoas

Dura mater

Cauda equina mit


Spinalnerven

Autochthone
Rückenmuskulatur

Ligamentum flavum

Epiduraler Fettkörper

. Abb. 2.3 Transversale MRT-Ansicht der Lendenwirbelsäule (T2-TSE: TE 96 ms/TR 1.900 ms)
16 Kapitel 2 · Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie

Atlas

Dens axis

2 Musculus longus capitis

Zervikales Myelon

Liquorraum

Ligamentum longitudinale anterius

Ligamentum longitudinale posterius

Discus intervertebralis

Musculi interspinales

Ösophagus

Ligamentum flavum

Ligamentum supraspinale (nuchae)

Trachea

. Abb. 2.4 Sagittale MRT-Ansicht der Halswirbelsäule (T2-TSE: TE 95 ms/TR 1.660 ms)

4 Ligamentum longitudinale posterius: Das hintere muskulatur (entwicklungsgeschichtlich primäre Rücken-


Längsband bildet die vordere ligamentäre Begrenzung muskeln), zum anderen die oberflächliche Rückenmus-
des Spinalkanals und erstreckt sich von der ventralen kulatur die aktive Stabilisierung der entwicklungsge-
Innenfläche des Foramen magnum über die schichtlich primär kyphotisch gekrümmten BWS und
Wirbelkörperhinterflächen/Bandscheiben bis zum der sekundär lordotisch gekrümmten HWS und LWS. Die
Os sacrum. oberflächliche Rückenmuskulatur wird entwicklungsge-
4 Ligamentum flavum: Als elastische Verbindung schichtlich auch als sekundäre, aus der ventralen Rumpf-
zwischen 2 benachbarten Wirbelbögen begrenzt es muskulatur und den Extremitäten eingewanderte Rücken-
den Spinalkanal nach lateral und dorsal. Eine Hyper- muskulatur bezeichnet (s. auch 7 Abschn. 2.2.1).
trophie des Ligamentum flavum ist meist Ausdruck Auf die primären Rückenmuskeln soll im Weiteren
von degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule. näher eingegangen werden. Diese werden von den Rami
4 Ligamentum supraspinale: Das oberflächlich liegende posteriores der Spinalnerven versorgt. Zusammengefasst
Band zieht über die Dornfortsätze hinweg. Es setzt sich häufig als Musculus erector spinae bezeichnet, unterteilt
im Bereich der HWS als Ligamentum nuchae fort. sich die autochthone Rückenmuskulatur im Bereich der
4 Ligamentum interspinale: Diese Bandverbindung HWS, BWS und LWS in 2 Gruppen: den medialen Trakt
befindet sich zwischen benachbarten Dornfortsätzen und den lateralen Trakt (. Tab. 2.1; . Tab. 2.2; s. auch
und ist im HWS-Bereich gering ausgebildet. . Abb. 2.5).
4 Ligamenta alaria: rechtes und linkes Band zwischen
der Spitze des Dens axis, also des 2. Wirbelkörpers
der HWS, und den ventromedialen Rändern der Hin- 2.1.5 Rückenmark und Spinalnerven
terhauptkondylen am Rand des Foramen magnum.
Der Winkel zwischen den Bändern beträgt etwa 170°. Im Laufe der körperlichen Entwicklung wächst die Wirbel-
säule im Vergleich zum Rückenmark stärker. Dadurch
verschieben sich Spinalnervenwurzeln und knöcherne
2.1.4 Muskulatur Wirbelsäule relativ zum Rückenmark in longitudinaler
Richtung nach kaudal.
Neben der Hals-, Thorax- und Bauchwandmuskulatur Im Gegensatz zum Gehirn liegt die graue Substanz in-
gewährleistet zum einen die tiefe, autochthone Rücken- nerhalb der peripheren weißen Substanz des Rücken-
2.1 · Anatomie
17 2
marks. Aufgrund der paarigen Vorder- und Hinterhörner
entsteht eine H- bzw. schmetterlingsförmige Konfigura-
tion der grauen Substanz. Der mit Ependym ausgekleide-
te Zentralkanal ist normalerweise bildmorphologisch
kaum abgrenzbar. Die funktionelle Anatomie des Rücken-
marks wird in der . Abb. 2.6 zusammengefasst [2].
Beim Erwachsenen reicht das Rückenmark kaudal
meistens bis auf die Höhe des Übergangs LWK1/2. Dort
geht es als Conus medullaris in das Filum terminale über,
das als nervenzellfreier Endstrang bis nach kokzygeal
reicht. Aufgrund der relativ großen nervalen Versorgungs-
gebiete der Arme und Beine gibt es im Verlauf des Rücken-
marks 2 Auftreibungen: in Höhe von HWK4 bis BWK1 die
Intumescentia cervicalis und in Höhe von BWK10 bis 12
die Intumescentia lumbosacralis [16].
Unterhalb von LWK1/2 bilden die deszendierenden
Spinalnervenwurzeln die Cauda equina. Jeder der 31 paa-
rigen Spinalnerven entsteht innerhalb des Duralsacks aus
der Vereinigung einer ventralen (efferent) und einer dor-
salen Wurzel mit Spinalganglion (afferent). Im Gegensatz
zu den zervikalen Spinalnerven verlassen die thorakalen
. Abb. 2.5 Koronare MRT-Ansicht des Nacken-Schulter-Bereiches und lumbalen Spinalnerven das Neuroforamen (Canalis
(T2-TSE: TE 93 ms/TR 1.650 ms). 1: Cerebellum; 2: Liquor cerebro-
intervertebralis) unterhalb des namentlich dazugehörigen
spinalis; 3: Processus spinosus; 4: M. sternocleidomastoideus;
5: M. trapezius; 6: M. rectus capitis; 7: M. obliquus capitis inferior;
Wirbelkörpers. Als anatomische Variante können 2 spina-
8: M. semispinalis cervicis; 9: M. semispinalis capitis; 10: M. levator le Wurzeln den Spinalkanal gemeinsam durch ein Neuro-
scapulae foramen verlassen.

. Tab. 2.1 Autochthone Rückenmuskeln – medialer Trakt (nach Schiebler et al. [16])

System Muskel Verlauf Funktion an der Wirbelsäule

Transversospi- M. semispinalis thoracis, Segmentübergreifend von Quer- Einseitig: Drehung zur Gegenseite,
nales System cervicis, capitis auf Dornfortsätze der Wirbelkörper Lateralflexion zur selben Seite bei Wir-
bzw. zum Hinterhaupt kung über mehrere Segmente
Beidseitig: Streckung
Mm. multifidi Segmentübergreifend vom dorsa- Einseitig: Drehung zur Gegenseite (außer
len Os sacrum sowie von den LWS), Lateralflexion zur selben Seite bei
Processus mamillares der LWS, Wirkung über mehrere Segmente
Querfortsätzen der BWS bzw. Beidseitig: Streckung
Processus articulares der HWS zu
den Dornfortsätzen
Mm. rotatores lumborum, Teilweise segmentübergreifend Einseitig: geringe Drehung zur Gegensei-
thoracis, cervicis von Processus mamillares der LWS te (BWS, HWS), geringe Lateralflexion zur
bzw. Querfortsätzen der BWS/HWS selben Seite, insbesondere bei Wirkung
auf Dornfortsätze und Wirbelbögen über mehrere Segmente
Beidseitig: Streckung
Interspinales und Mm. interspinales lumborum Segmental zwischen Streckung, mit geringer Wirkung
spinales System thoracis (fehlen oft), cervicis Dornfortsätzen
M. spinalis thoracis, cervicis, An Dornfortsätzen mehrere Seg- Streckung, mit geringer Wirkung
capitis (fehlen oft) mente verspannend
M. rectus capitis posterior Dornfortsatz (Axis) bzw. Tuberculum Beidseitig: Streckung
major/minor posterius (Atlas) zum Hinterhaupt Einseitig: Drehung zur selben Seite (major)
18 Kapitel 2 · Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie

. Tab. 2.2 Autochthone Rückenmuskeln – lateraler Trakt (nach Schiebler et al. [16])

System Muskel Verlauf Funktion an der Wirbelsäule


2
Intertransversales Mm. intertransversarii Intersegmental Processus mamillares Einseitig: Lateralflexion zur selben Seite
System mediales lumborum et accessorii der LWS Beidseitig: Streckung

(Inkonstant) Mm. inter- Intersegmental Processus transversus Streckung, Lateralflexion


transversarii thoracis der BWS

Mm. intertransversarii Intersegmental zwischen den Streckung, Lateralflexion


posteriores cervicis Querfortsätzen der HWS

M. obliquus capitis Querfortsatz (Atlas) zum Hinterhaupt Beidseitig: Streckung


superior Einseitig: Lateralflexion zur selben Seite,
geringe Drehung des Kopfs zur Gegenseite

Spinotrans- M. splenius cervicis, Segmentübergreifend in HWS/BWS, Einseitig: Drehung und Lateralflexion zur
versales System capitis schräg verlaufend von Dorn- auf selben Seite
Querfortsätze der Wirbelkörper bzw. Beidseitig: Dorsalflexion der HWS und im
zum seitlichen Hinterhaupt Atlantookzipitalgelenk

M. obliquus capitis Vom Dornfortsatz des Axis zum Quer- Drehung im Atlantookzipitalgelenk
inferior fortsatz des Atlas

Sakrospinales M. iliocostalis Segmentübergreifend von Crista Einseitig: Lateralflexion zur selben Seite
System und lumborum, thoracis, iliaca, Os sacrum, Fascia thoracolum- LWS, BWS, HWS
Mm. levatores cervicis balis und Angulus costae auf Angulus Beidseitig: Streckung
costarum costae der Rippen bzw. auf Tubercu- Exspiration, Inspiration
lum posterius der Halswirbel

M. longissimus thoracis, Segmentübergreifend von Os sacrum, Einseitig: Lateralflexion zur selben Seite
cervicis Dornfortsätzen (LWS) und Querfort- LWS, BWS, HWS
sätzen (BWS) auf Querfortsätze BWS/ Beidseitig: Streckung
LWS, Rippen und Tubercula posteriora Teilweise Exspiration
der HWK

Mm. levatores costarum Von Querfortsätzen BWS, HWS auf Einseitig: Lateralflexion zur selben Seite,
breves et longi tiefere bzw. übernächst tiefere Rippe geringe Drehwirkung in der unteren BWS
Beidseitig: Streckung

2.1.6 Spinale Kompartimente Eine bilddiagnostische Zuordnung z. B. einer Blutung in


die spinalen Kompartimente kann dadurch erleichtert
Der knöcherne Querschnitt des Spinalkanals ist in der werden.
HWS und BWS annähernd rund und in der LWS queroval. Der Epiduralraum ist zwischen Duralsack und den
Der Inhalt des Spinalkanals wird in ein extradurales, int- knöchernen Grenzen des Spinalkanals gelegen und vor-
radurales und intramedulläres Kompartiment unterteilt wiegend mit Fett und venösen Gefäßen gefüllt.
(. Abb. 2.3). Die Dura mater verläuft von intrakraniell > Aufgrund seiner guten Gefäßversorgung ist der
über das Foramen magnum als Duralsack nach intraspinal Epiduralraum bei hämatogen fortgeleiteten
und trennt dort den Epiduralraum von den intraduralen Prozessen (Entzündungen, Metastasen) häufig
Kompartimenten. Der Duralsack reicht in der Regel bis beteiligt.
zum zweiten Sakralwirbelkörper.
Der Dura ist innenseitig die Arachnoidea spinalis
angeheftet. Diese füllt den Raum zwischen dem Duralsack
und der Pia mater, die dem Rückenmark aufliegt. Dieser 2.1.7 Gefäßversorgung
mit Liquor cerebrospinalis gefüllte Raum bildet die Fort-
setzung vom intrakraniellen Subarachnoidalraum. Durch Die arterielle Versorgung der ventralen Anteile des
inkonstante Verbindungen zwischen Pia und Dura mater Rückenmarks erfolgt überwiegend aus der Arteria spinalis
können insbesondere dorsal Pseudokompartimente des anterior, die kranial aus dem Zusammenfluss der Rami
Subarachnoidalraums entstehen (Septum posticum). spinales der Aa. vertebrales entsteht. Die dorsalen Anteile
2.2 · Physiologie
19 2

HWK 2 > Cave: Das Rückenmark ist besonders in seinem


zervikothorakalen Anteil ischämiegefährdet. Im
kaudalen Anteil des Rückenmarks bestehen häufiger
Anastomosen.
C7
BWK 1
Die klappenlose, venöse Drainage aus dem Rückenmark
erfolgt meistens über dorsale Venen zu einem dorsolate-
ralen Plexus der Pia mater. Radikulomedulläre Venen
verbinden diesen mit dem epiduralen Venenplexus. Epidu-
T6 ral besteht ein longitudinales System aus paarigen an-
terioren Venen und posterioren Venen, die untereinander
zusätzlich transversale Anastomosen ausbilden. Eben-
falls in diesen Plexus münden intravertebrale und basi-
T11 vertebrale Venen. Aus dem epiduralen Plexus fließt das
venöse Blut nach extraspinal in lateral der Bogenwurzeln
gelegene Venen, die thorakal in die Vena azygos und
L4
hemiazygos bzw. lumbal in die Venae lumbales ascen-
Epikonus dentes münden.
Konus > Cave: Änderungen der Druckverhältnisse zwischen
LWK 2
Abdomen/Thorax und Spinalraum können eine
venöse Stase bzw. sogar eine Umkehr der Flussrich-
Kauda
tung nach intraspinal zur Folge haben. Dabei ist auf
die Erregerausbreitung bei entzündlichen Verände-
rungen zu achten.

Os
sacrum
2.2 Physiologie

2.2.1 Das stabilisierende System


der Wirbelsäule
. Abb. 2.6 Funktionelle Anatomie des Rückenmarks. Nach dem allgemein akzeptierten Konzept von Panjabi
(Aus Berlit [2])
[11] umfasst das stabilisierende System der Wirbelsäule
3 Komponenten, die miteinander interagieren. Diese sind
das passive und aktive System der Wirbelsäule sowie deren
des Rückenmarks, insbesondere die Hinterstränge, werden motorische Kontrolle. Das passive System umfasst Wir-
von den meist paarig angelegten Aa. spinales posteriores belkörper, Zwischenwirbelscheiben, Bänder, Facetten-
versorgt, die entweder aus den Aa. cerebellares posteriores gelenke, Gelenkkapseln und die passiven mechanischen
inferiores oder ebenfalls aus den Aa. vertebrales ent- Eigenschaften der dazugehörigen Muskulatur. Das aktive
springen. System besteht aus Muskeln und Sehnen, die für die Wir-
Sowohl das ventrale als auch das dorsale arterielle Sys- belsäulenstabilität essenzielle Bedeutung haben. Diese
tem erhält zusätzlich weiter kaudal Zuflüsse aus paarigen Muskeln werden über motorische Kontrollsysteme je
Segmentarterien (Rami spinales der Aa. intercostales und nach funktionellen Notwendigkeiten geregelt. Hierfür sind
lumbales), die über die Neuroforamina in den Spinalkanal Informationen von Bewegungs- und Spannungssensoren
eintreten. Die meisten Segmentarterien bilden sich jedoch sowie weiteren Sensortypen notwendig, die sich in Mus-
nach der Fetalzeit im Verlauf der Entwicklung zurück. keln, Sehnen, Bändern und Gelenken befinden. Damit
Beim Erwachsenen sind häufig nur 6–8 ventrale und sind auch Teile des passiven Systems eine notwendige
10–20 dorsale Segmentarterien festzustellen. Thorakal gibt Voraussetzung für motorische Kontrollprozesse, die auf
es häufig linksseitig (73 %) eine dominierende Segment- das aktive System (Muskulatur) wirken.
arterie (nach Adamkiewicz benannt), die in 62 % der Fälle Unter physiologischen Bedingungen garantieren die
in Höhe von BWK9 bis BWK12 zu finden ist (lumbaler 3 Subsysteme die Stabilität des Wirbelsäulensystems und
Ursprung in 26 % der Fälle) [15]. deren funktionelle Anpassung an verschiedene dynami-
20 Kapitel 2 · Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie

sche und statische Belastungssituationen. Die Eigenschaf- spinae sowie der M. rectus abdominis [3]. Die lokal stabi-
ten des passiven Systems allein reichen nicht für eine ange- lisierenden Muskeln kontrollieren die Bewegungsseg-
messene Wirbelsäulenstabilität aus [11, 12], insbesondere mente der Wirbelsäule. Das sind die kleinsten bewegli-
2 wenn diese an aktuelle Haltungs- und Bewegungsprozesse chen Einheiten der Wirbelsäule, die aus 2 benachbarten
angepasst werden muss. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Wirbelkörpern, einer Bandscheibe und den dazugehöri-
das aktive System nicht nur die wirbelsäulennahe Musku- gen Facettengelenken, Bändern, Muskeln, Nerven sowie
latur umfasst. Eine Vielzahl elektrophysiologischer Studien Gefäßen bestehen. Während der Kontraktion der lokal
hat gezeigt, dass in die Regelprozesse des aktiven Systems stabilisierenden Muskeln kommt es zu keiner oder nur zu
auch die ventrale Muskulatur, insbesondere der abdomi- einer geringfügigen Muskellängenänderung. Die kontinu-
nale Teil, involviert ist. Letztlich gehören zum aktiven Sys- ierliche Aktivität der lokal stabilisierenden Muskeln ist
tem alle Hals-, Rumpf- und Beckenbodenmuskeln sowie unabhängig von der Bewegungsrichtung der Wirbelsäule.
das Diaphragma. Die global stabilisierenden Muskeln kontrollieren ent-
> Das passive und das aktive System der Wirbelsäule
sprechend dieser Muskeleinteilung das Bewegungsausmaß
sowie deren motorische Kontrolle garantieren
der Wirbelsäule. Dabei dominiert der exzentrische Mus-
die Stabilität und funktionelle Anpassung der
kelkontraktionstyp. Die Muskelaktivitäten haben einen
Wirbelsäule an dynamische und statische
diskontinuierlichen Verlauf, der von der Bewegungsrich-
Belastungssituationen.
tung abhängt. Die global mobilisierenden Muskeln er-
zeugen entsprechend der morphofunktionellen Einteilung
Die Regelprozesse des aktiven Systems wirken in Sinne des die notwendige Kraft für die Bewegungen der Wirbelsäule.
»feedforward« und des »feedback«. Es konnte demonst- Es dominiert der konzentrische Kontraktionstyp. Die
riert werden, dass in der Vorphase einer visuell initiierten Muskelaktivitäten haben wiederum einen diskontinuierli-
willkürlichen Flexionsbewegung im Schultergelenk bereits chen Verlauf, der von der Bewegungsrichtung abhängt.
kurz nach dem visuellen Signal die Muskelaktivität des Diese Einteilung der Muskulatur aus funktionell-morpho-
M. transversus abdominis ansteigt [4], um die Körper- logischer Sicht trifft nicht für alle Belastungsbedingungen
haltung für die Bewegung vorzubereiten (»feedforward der Wirbelsäule zu. Reaktionen der Muskeln auf verschie-
control«). Die mit der eigentlichen motorischen Aufgabe dene statische und dynamische Belastungen demonstrie-
verbundenen Aktivitäten, wie die des M. deltoideus, be- ren, dass eine aufgabenbezogene Aktivierung, die das oben
ginnen erst später nach einer weiteren Latenzphase. Die dargestellte funktionsmorphologische Einteilungsprinzip
rückgekoppelten Regelprozesse (»feedback control«) ver- nicht oder nur unzureichend reflektiert, dominierend
arbeiten Informationen über die Muskellänge, Muskellän- werden kann (7 Abschn. 2.2.2; 7 Abschn. 2.3.2).
genänderung, Muskelspannung, Bänderdehnung, Gelenk- > Die Muskulatur der Wirbelsäule wird aus funktio-
position sowie weitere biomechanische Größen und er- neller Sicht in das lokal stabilisierende, das global
möglichen dadurch über eine optimierte Ansteuerung des stabilisierende und das global mobilisierende
aktiven Systems die Anpassung der Wirbelsäulenstabili- Muskelsystem eingeteilt.
tätseigenschaften an aktuelle Bedingungen der Haltungs-
und Bewegungsregulation. So konnte mittels Elektromyo- Die neutrale Zone [12] umfasst den physiologischen
gramm (EMG) bei einer zunehmenden Dehnung des Bereich der Wirbelkörperbewegungen, der an der Neutral-
Ligamentum supraspinale eine anwachsende Aktivierung position beginnt (die Wirbelsäulenposition, bei der die
des M. multifidus festgestellt werden [18]. Diese Antwort Beanspruchung der Wirbelsäule und der dazugehörigen
des aktiven Systems demonstriert eine reflektorische Muskulatur minimal ist) und bis zum Auftreten eines stär-
Stabilisierungsreaktion im Wirbelsäulenbereich bei er- keren Bewegungswiderstands reicht. Danach folgt die elas-
höhter Beanspruchung, um die Bewegungssegmente (s. tische Zone, die den restlichen physiologischen Bereich
nächsten Abs.) zu schützen. Derartige Reaktionen können (bei zunehmenden Bewegungswiderständen) charakteri-
auch über Rezeptoren anderer Strukturen des passiven und siert. Die neutrale und die elastische Zone zusammen be-
aktiven Systems ausgelöst werden. stimmen den »range of motion« der Wirbelsäule. Unter
Nach Bergmark in der Modifikation von Comerford u. physiologischen Bedingungen findet der Hauptteil der
Mottram [3] wird die Muskulatur aus funktioneller Sicht Regulationsvorgänge einer aufgabenbezogenen Anpas-
in das lokal stabilisierende, das global stabilisierende und sung der Wirbelsäulenstabilität im Bereich der neutralen
das global mobilisierende Muskelsystem eingeteilt. Zum Zone statt, d. h., diese Prozesse sind im Wesentlichen auch
ersten Muskelsystem gehören z. B. der M. transversus ab- muskulär determiniert.
dominis und der M. multifidus (pars lumbalis), zum zwei- Aus evolutionsbiologischer Sicht sind die spezifi-
ten die Mm. obliqui abdominis, der M. glutaeus medius schen Anpassungen des Rumpfs und des dazugehörigen
sowie der M. spinalis und zum dritten der M. erector Muskelsystems an die aufrechte Körperhaltung und
2.2 · Physiologie
21 2
die Bipedie des Menschen im Vergleich mit vierbeinigen wirken) permanent auf niedrigem Niveau aktiviert sind
Säugetieren eher geringgradig, d. h., wesentliche Eigen- (. Abb. 2.7).
schaften des Rumpfs haben bereits bei vierbeinigen Säuge- Die höchste Amplitude wird dabei regelmäßig über
tieren existiert. Damit erklärt die vielfach angenommene dem M. obliquus internus gemessen. Allerdings unterliegt
Einzigartigkeit des menschlichen Rumpfs nicht die diese Situation verschiedenen Einflüssen: Generell weisen
Häufigkeit von Rückenproblemen des Menschen [17]. Frauen höhere Amplitudenanteile für ihre Bauchmuskeln
und demgegenüber geringere für die Rückenmuskeln auf,
mit zunehmendem Alter nimmt der Anteil der Rücken-
2.2.2 Funktion der Rumpfmuskulatur muskeln, aber auch der des M. obliquus externus auf
bei statischer und dynamischer Kosten des M. obliquus internus immer weiter zu. Das Be-
Belastung anspruchungsniveau der Rumpfmuskeln liegt dabei bei
jüngeren Personen mit Ausnahme des M. obliquus inter-
Die überwiegende Zeit aktiven Lebens befindet sich der nus bei Werten unter 5 % der maximalen Leistungsfähig-
Rumpf des Menschen in Neutralstellung, er wird entlang keit, das Niveau der Beanspruchung steigt jedoch mit zu-
der Wirbelsäule nur durch die Gravitation belastet. Bereits nehmendem Alter an und erreicht Werte von bis zu 15 %.
ohne zusätzlich von außen wirkende Kraftvektoren muss Auch hier weist die Bauchmuskulatur von Frauen höhere
die Wirbelsäule aufgrund ihrer Form in der sagittalen Werte auf als die von Männern. Es wird somit deutlich,
Ebene dabei aktiv stabilisiert werden. Die Sicherung eines dass die Rumpfmuskulatur bereits beim ruhigen Stehen
Bewegungssegments (7 Abschn. 2.2.1) erfolgt im Bereich Kraftvektoren zu kompensieren hat, also permanent aktiv
der normalen Beweglichkeit durch die Vielzahl der zur Sicherung der aufrechten Körperhaltung beiträgt. Der
kleinen, monosegmentalen (lokalen) Muskeln, die bereits erstaunlich hohe Anteil des M. obliquus internus kann da-
bei geringem Aktivitätsniveau permanent hohe Steifig- bei nicht allein mit dem Zurückhalten der Bauchorgane
keiten entwickeln [7]. Die Kompensation einwirkender begründet werden, denn zumindest für jüngere Personen
Kraftvektoren sowie alle aktiven Bewegungen werden wird mit steigendem BMI der Anteil des M. multifidus auf
über die deutlich kräftigeren, mehrere Segmente über- Kosten des M. obliquus internus erhöht. Die dabei an-
spannenden, weiter entfernt von der Wirbelsäule liegen- zunehmende ventrale Lasterhöhung führt also zu einer
den Muskeln übernommen. Die Funktion der Muskulatur deutlich vom Lastvektor abhängigen Verschiebung der
kann in vivo mithilfe der Elektromyografie (EMG) Aktivitätsanteile. Bei älteren Personen findet sich keinerlei
evaluiert werden, wobei die tiefer liegenden Muskeln in derartiger Zusammenhang, was auf eine eingeschränkte
der Regel nur invasiv mittels Nadel- oder Fine-wire- funktionelle Anpassungsfähigkeit mit zunehmendem
EMG, die oberflächlich liegenden Muskeln nicht invasiv Alter hinweisen könnte. Demzufolge darf die Funktionali-
mittels Oberflächen-EMG (OEMG) erfasst werden. tät der Rumpfmuskulatur selbst für äußerlich identische
Trotz der ableitungstechnisch bedingten Limitation eignet Bedingungen nicht als eine einheitlich definierbare Situa-
sich das OEMG sehr gut, um die Rumpfmuskelfunktion tion verstanden werden, sondern ist in unterschiedlichem
insbesondere an größeren Personengruppen zu unter- Ausmaß alters-, geschlechts- und konstitutionsbedingten
suchen. Einflüssen unterworfen.
Generell gilt: Bewegungen resultieren aus einem Un- Das zumindest phasenweise vorhandene Ungleichge-
gleichgewicht von einwirkenden und entgegenwirkenden wicht zwischen einwirkenden und entgegenwirkenden
Kräften. Im Fall statischer Belastungssituationen kann Kräften führt bei der Rumpfmuskulatur konsequenter-
von einem Gleichgewicht dieser beiden Komponenten weise zu dynamischen Belastungen des Rumpfs. Dabei ist
ausgegangen werden. Dafür kommen natürlicherweise vor die Frage von Bedeutung, ob die Störung erwartet oder
allem über die Arme und Schultern eingeleitete Kombina- unerwartet eintritt. Bei unerwarteten Störungen kommt
tionen vertikaler und horizontaler Kräfte infrage, z. B. der bereits vorhandenen Basisaktivität eine Schlüsselrolle
beim Tragen von Lasten. Für die am häufigsten anzutref- zu: Die damit bestehende Grundsteifigkeit verhindert in-
fende Situation von dorsal nach ventral gerichteten Kräften nerhalb bestimmter Grenzen weitere Auswirkungen der
kommt der Rückenmuskulatur die Hauptfunktion zu, was Störung [20], dies sogar ohne die Notwendigkeit einer
auch leicht an ihrem Muskelquerschnitt zu erkennen ist, reflektorischen Antwort. Hierbei ist vor allem die erreichte
der den Querschnitt aller anderen Rumpfmuskeln deutlich Auslenkungsgeschwindigkeit und weniger das Ausmaß
übersteigt. der durch die Störung hervorgerufenen Dislokation von
Wird die Rumpfmuskulatur beim ungestörten aufrech- Bedeutung [20]. Jegliche willkürliche oder unwillkürliche
ten Stehen untersucht, wird offenbar, dass die Muskeln (reflektorische) Antwort auf den einwirkenden Reiz birgt
bereits in dieser als fast frei von äußeren Störeinflüssen potenziell die Gefahr der Entstehung von Mikrotraumen;
anzusehenden Position (allein die Gravitationskräfte diesen kommt innerhalb der Pathogenese des Rücken-
22 Kapitel 2 · Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie

20–40 Jahre 50–70 Jahre


60

50
2
40
Anteil in %
30

20

10

a 0
25

Frauen
Amplitude in % MVC

20
Männer

15

10

b 0
ra oi oe mf lo ra oi oe mf lo
Muskel Muskel

. Abb. 2.7 Mittleres Amplitudenniveau (Median ± Quartilabstände) beim freien, ungestörten Stehen: a Amplitudenanteile der unter-
suchten Muskeln in %, b Amplituden in % der maximal erreichbaren Aktivierungsstärke (engl: »maximum voluntary contraction«, MVC).
In der linken Spalte sind immer die Werte von Personen im Alter von 20 bis 40 Jahren, in der rechten Spalte die von Personen im Alter von
50 bis 70 Jahren dargestellt. Signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind jeweils mit einem Sternchen über den Säulen
markiert (p<0,05). ra: M. rectus abdominis, oi: M. obliquus internus, oe: M. obliquus externus, mf: M. multifidus, lo: M. longissimus thoracis

schmerzes eine entscheidende Bedeutung zu [13, 20] zueinander, wobei zusätzlich eine zeitliche Anpassung ins-
(7 Abschn. 2.3.1), da die insgesamt zu berücksichtigende besondere der Amplitudenspitzen der Rückenmuskeln
Refraktärzeit von ≥80 ms bereits ein erhebliches Schädi- erfolgt. Es handelt sich also, wie an diesem Beispiel illust-
gungspotenzial enthält. Anders verhält es sich mit erwar- riert, um eine komplexe Anpassung der Rumpfmuskel-
teten bzw. geplanten Einflüssen. Hier kann durch zeitge- funktion, die im Ergebnis eine situationsadäquate Funk-
rechte Aktivierung [1] bzw. Voraktivierung [5] die Steifig- tionalität gewährleistet, die wiederum Voraussetzung für
keit der Muskeln aktiv erhöht [6] und somit mögliche die Verhinderung von traumatischen Einflüssen auf die
Schäden vermieden werden. Wirbelsäule ist.
Eine der häufigsten dynamischen Belastungssitua- > Die Rumpfmuskulatur reagiert selbst während
tionen in unserem Alltagsleben ist die Lokomotion, d. h. identischer Bedingungen nicht einheitlich, sondern
die Fortbewegung. In . Abb. 2.8 sind die mittleren Ampli- zeigt in unterschiedlichem Ausmaß alters-,
tudenverlaufskurven für unterschiedliche Gehgeschwin- geschlechts- und konstitutionsbedingte Abhängig-
digkeiten von gesunden Männern und Frauen dargestellt. keiten.
Es wird deutlich, dass neben den zu erwartenden gene-
rellen Amplitudendifferenzen und Unterschieden in der
intermuskulären Koordination zwischen den Geschlech-
tern eine ganz klare Geschwindigkeitsabhängigkeit be-
steht. Dabei wird zunächst der erhöhten Anforderung mit
steigender Gehgeschwindigkeit in Form sich dabei er-
höhender Amplitudenwerte Rechnung getragen. Weiter-
hin verschiebt sich das Verhältnis der Amplitudenwerte
2.3 · Pathophysiologie
23 2

Frauen Männer Formen beruht darauf, dass der spezifische Rücken-


schmerz in der Regel pathoanatomisch begründbar ist, der
2 km/h unspezifische jedoch nicht und insofern letztlich eine Aus-
schlussdiagnose ist. Bereits in den 1930er Jahren wurden
Resultate publiziert, die eine Korrelation zwischen Band-
scheibenprolaps und Rückschmerz herstellten [10]. Diese
Resultate haben viele Jahre die ärztliche Sicht geprägt. Neu-
ere Resultate zeigen jedoch, dass nur bei ≤15 % der Patien-
ten der Rückenschmerz als spezifisch klassifiziert werden
kann, beim überwiegenden Teil der Patienten wird also ein
unspezifischer Rückenschmerz diagnostiziert. Bei unter
4 km/h
10 % dieser Patienten kommt es zu einer Chronifizierung
der Rückenbeschwerden. Davon spricht man ab einer
Dauer von 12 Wochen, in denen die Rückenschmerzen
entweder dauerhaft oder immer wiederkehrend auftreten.
30–50 % der Personen, die radiologisch ausgeprägte Pro-
trusionen im Spinalkanal zeigen, geben in der Anamnese
keine Rückenbeschwerden an. Wesentliche Mechanismen,
die zu akutem und chronisch-unspezifischem Rücken-
schmerz führen können, gehören demnach zur funktionel-
len Ebene.
6 km/h Es gibt bisher nur wenige Ergebnisse, die eindeutig be-
legen, welche Mechanismen der funktionellen Ebene bei
akutem und chronisch-unspezifischem Rückenschmerz
gestört sind. Ein Teil der Studien kann zeigen, dass die
3 Komponenten, die zur Stabilisierung der Wirbelsäule
beitragen, d. h. das passive und aktive System sowie die
dazugehörigen motorischen Kontrollsysteme, Dysfunk-
tionen aufweisen. So stellte Panjabi [12] dar, dass die zu-
ra oi oe mf lo nehmende Schädigung und Degeneration von Strukturen,
. Abb. 2.8 Polardiagramme des mittleren Amplitudenverlaufs (μV)
die die Wirbelsäule stabilisieren, mit Größenveränderun-
von 5 Rumpfmuskeln für Frauen (linke Spalte) und Männer (rechte gen der neutralen Zone einhergeht. Er leitete daraus die
Spalte) während des Gehens bei 2, 4 und 6 km/h auf einem Lauf- Instabilitätshypothese ab. In einer späteren Publikation
band. Die Muskeln beider Seiten wurden gepoolt. Beginn des nor- fokussierte Panjabi [13] die Aufmerksamkeit auf »Sub-
mierten Schrittzyklus ist bei 12 Uhr, der Schrittverlauf ist im Uhrzei-
failure-Schäden« der Bänder der Wirbelsäule, der Band-
gersinn aufgetragen. Der normierte Schrittzyklus beginnt mit dem
Aufsetzen des ipsilateralen Beins. Die umlaufenden farbigen Kreisli-
scheiben sowie der Facettengelenkkapseln, die durch ein
nien kennzeichnen die Bodenkontaktzeiten der Füße; schwarz: ipsi- Einzeltrauma oder durch kumulative Mikrotraumen
lateral, grau: kontralateral. ra: M. rectus abdominis, oi: M. obliquus ausgelöst werden können. Die in diesen Strukturen befind-
internus, oe: M. obliquus externus, mf: M. multifidus, lo: M. longissi- lichen Mechanorezeptoren werden durch die Beanspru-
mus thoracis
chung in ihrer Funktion gestört und führen durch die
veränderten Afferenzen zur Fehlinformation der motori-
schen Kontrollsysteme; diese bewirken dadurch eine Ver-
2.3 Pathophysiologie änderung der Ansteuerung des aktiven Systems, also der
beteiligten Muskeln. Diese Dysfunktion in der Muskel-
2.3.1 Interaktion zwischen passivem und ansteuerung äußert sich in veränderten Muskelaktivi-
aktivem System sowie motorischer tätsamplituden und Muskelkoordinationsmustern (s. auch
Kontrolle bei Rückenschmerz 7 Abschn. 2.3.2), die Fehlbeanspruchungen des stabilisie-
renden Systems der Wirbelsäule verursachen können. Die
Neben der Klassifizierung des Rückenschmerzes nach sei- durch anhaltende Fehlbeanspruchungen ausgelösten Ent-
nem zeitlichen Auftreten als akut, subakut und chronisch zündungsprozesse und die eher schlechten Heilungsten-
wird er auch in eine spezifische und eine unspezifische denzen der traumatisierten Bänder, Bandscheiben und
(nichtspezifische) Form eingeteilt (7 Kap. 8; s. auch [23]). Gelenkkapseln können die Entwicklung von Schmerzsyn-
Eine wesentliche Unterscheidung zwischen diesen beiden dromen und deren Chronifizierung fördern, so vermutet
24 Kapitel 2 · Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie

der Autor. Hinweise für ein propriozeptives Defizit liefer- und somit nicht an definierte Einwirkungsintensitäten ge-
ten auch Untersuchungen zur Rumpfpositionierung und koppelt. Oft kommt es dabei vor, dass im Vergleich geringe
zum Rumpfbewegungssinn. Intensitäten erhebliche Schmerzen auslösen. Wenn das der
2 Weitere pathogenetische Ansätze zur Entstehung von Fall ist, kann auch das muskuläre System die Ursache für
Rückenschmerz gehen ebenfalls von Änderungen musku- eine verringerte physiologische Reserve sein – entweder
lärer Aktivierungsprozesse aus, so das »Pain-spasm-pain- aufgrund einer mittlerweile vorhandenen generellen
Modell« und das »Pain-adaptation-Model«. Ersteres Dekonditionierung oder beispielsweise wegen temporärer
Modell postuliert, dass eine akute Läsion im Wirbelsäulen- Verringerungen der muskulären Leistungsfähigkeit –
bereich häufig von einer starken Kontraktion der umge- also Ermüdungsphänomenen –, die durch Zwangshaltun-
benden Muskulatur begleitet wird, die dann zu einer loka- gen ausgelöst wurden. Daneben müssen bei überstarken
len Minderdurchblutung der Muskulatur mit weiterer und Schmerzreaktionen auch Sensibilisierungsmechanismen
zum Teil verstärkter Reizung von Schmerzrezeptoren der Schmerzverarbeitung berücksichtigt werden (7 Kap. 3).
führt. Das »Pain-adaptation Modell« besagt, dass Afferen- Weiterhin konnte beobachtet werden, dass zusätzlich zum
zen von Schmerzrezeptoren, die spinal über Interneurone bisher Gesagten bei akuten Rückenschmerzen bereits in
auf α-Motoneurone umgeschaltet werden, durch zentral- Erwartung auftretender Schmerzen der reguläre Aktivi-
nervöse Einflüsse, einschließlich solcher des Kortex, zu tätsverlauf von Rückenmuskeln beim Gehen deutlich
modulieren sind. Dadurch kann die Aktivität agonistischer variabler ist als ohne Schmerzen [9]. Das weist auf eine
Muskulatur bei Schmerz reduziert werden und die antago- akute Beeinträchtigung der motorischen Ansteuerung hin,
nistischer Muskulatur zunehmen. Dies bedeutet biome- die wiederum zu biomechanischen Fehlbelastungssituati-
chanisch eine Verringerung der Bewegung im Wirbelsäu- onen führen kann und somit potenziell die Schmerzen
lenbereich, die zu einer Verminderung der Reizung der verstärkt. Möglicherweise sind Veränderungen der moto-
peripheren Schmerzrezeptoren und damit des Schmerzes rischen Regulation, die die Personen für die Entstehung
führt (s. auch 7 Abschn. 2.3.2). Auf die im Rahmen der von Rückenschmerzen prädestinieren, auch bereits vor
Chronifizierung des Rückenschmerzes wichtigen periphe- dem akuten Schmerzereignis vorhanden.
ren und spinalen Mechanismen sowie deren zerebrale Be- Chronische schmerzbedingte Beeinträchtigungen der
einflussung wird an anderer Stelle im Detail eingegangen Rumpfmuskelfunktion betreffen vor allem 2 Ebenen der
(7 Kap. 3, 4, 6). muskulären Funktionalität: Störungen der Kraftleistungs-
fähigkeit und Störungen der muskulären Koordination,
die sowohl die intermuskuläre Ebene als auch die intramus-
2.3.2 Funktion der Rumpfmuskulatur kuläre Ebene betreffen können [19]. Das heißt, es können
bei Patienten mit akutem und im Einzelfall entweder die Kraftleistungsfähigkeit, die mus-
chronischem Rückenschmerz kuläre Koordination oder Kombinationen mit unterschied-
licher Ausprägung der beiden Störungsebenen auftreten.
Biomechanische Überbeanspruchungen der Wirbelsäule Das erschwert die individuelle Diagnostik nicht unerheb-
(7 Abschn. 2.3.1) bewirken in der Regel akut auftretende lich, denn aus naheliegenden Gründen können in der über-
Schmerzereignisse, die reflektorisch zu einer Erhöhung des wiegenden Zahl der Fälle nicht alle Ebenen der muskulären
muskulären Tonus führen, um die Beweglichkeit des be- Leistungsfähigkeit untersucht werden, um das spezifische
troffenen Gebiets zu verringern und so weitere Schädigun- Problem zu extrahieren. Das ist einer der wesentlichen
gen zu vermeiden. Bei Fortbestehen dieser Situation entste- Gründe für die diagnostischen Schwierigkeiten bei
hen zusätzlich durch den lokal verminderten Perfusions- Rückenschmerzen, die oft in einen unvermeidlich erschei-
druck bedingte Sauerstoffmangelzustände. Der daraus re- nenden Ablauf münden. Dieser Ablauf führt, beginnend
sultierende muskuläre Hartspann ist ebenfalls schmerzhaft mit multiplen Arztbesuchen, aufgrund der diagnostischen
(»pain-spasm-pain mechanism«, 7 Abschn. 2.3.1). Ein Leere zu einem therapeutischen Aktionismus und daraus
weiterer pathogenetischer Weg (»pain-adaptation mecha- resultierender psychischer Belastung der Patienten mit der
nism«, 7 Abschn. 2.3.1) kann zu einer deutlichen Verschie- Endstufe des therapeutischen Nihilismus.
bung der Aktivitätsrelationen zwischen agonistischer und Der Schwerpunkt der Störungen scheint sich im Be-
antagonistischer Muskulatur im Rumpfbereich führen. reich der koordinativen Funktion identifizieren zu lassen;
Demzufolge ist bei allen genannten Mechanismen auf- deren diagnostischer Zugang gestaltet sich aber deutlich
grund des Schmerzes die reguläre Funktionalität auf- schwieriger als der der Identifikation der Kraftleistungs-
gehoben, die durch eine tonische Anspannung der Mus- fähigkeit. Zur Analyse der koordinativen Funktionen ist
kulatur im betroffenen Gebiet gekennzeichnet ist [19]. der Einsatz des EMG meistens unerlässlich. Als einer der
Die eingangs erwähnten biomechanischen Überlas- Hauptbefunde konnte nachgewiesen werden, dass die be-
tungssituationen sind immer individuell zu verstehen reits erwähnte (7 Abschn. 2.2.1; 7 Abschn. 2.2.2) präpara-
2.3 · Pathophysiologie
25 2
10 Klassifizierung nach seinem zeitlichen Auftreten in akut,
9 subakut und chronisch erfolgt (s. auch 7 Abschn. 2.3.1).
Differenz in % des normierten Schritts

Die ätiopathogenetische Differenzierung des Nacken-


8
schmerzes ist wie beim Rückenschmerz in der Regel
7 problematisch. Objektive Verfahren wie solche aus der
6 Radiologie, Elektrophysiologie oder Biomechanik können
5 meistens die Ursachen und die Entstehung des Nacken-
4
schmerzes nicht sicher aufklären. Parallelitäten zwischen
Rücken- und Nackenschmerz ergeben sich auch bei den
3
jährlichen Kosten, die in den entwickelten Industrielän-
2 dern sehr hoch sind.
1 Wie beim Rückenschmerz gibt es verschiedene psy-
0 chosoziale Einflussfaktoren, die eine Chronifizierung von
mf lo Nackenschmerzen fördern. Hierzu zählen Depressivität,
Gesunde CURS Ängstlichkeit, vermindertes Selbstwertgefühl, ungünstige
. Abb. 2.9 Ausmaß der Änderung (Median ± Quartilabstände) Bewältigungsstrategien (z. B. »Katastrophisieren«) sowie
des beim Gehen im EMG beobachtbaren Amplitudengipfels zum belastende Probleme in Familie und Beruf.
kontralateralen Fersenaufsatz von 2 km/h auf 6 km/h. mf: M. multifi- Ein wichtiger Teil von HWS-Beschwerden wird mit
dus, lo: M. longissimus thoracis den Folgen von Beschleunigungstraumata in Verbindung
gebracht [22], so beim Aufprall eines von hinten kommen-
den Fahrzeugs auf das Heck eines Vorderfahrzeugs. Der
torische Aktivierung der tiefen Bauchmuskeln bei Hauptanteil der daraus resultierenden Beschwerden ist
chronischen Rückenschmerzpatienten vermindert bis entsprechend der klinischen Klassifikation als leicht- bis
aufgehoben ist [4]. Die Störung der intramuskulären mittelgradig einzuordnen. Da bei derartigen Syndromen
Koordination zeigt sich unter anderem in einer beeinträch- auch versicherungsrechtliche Aspekte zu berücksichtigen
tigten Anpassung an veränderte äußere Bedingungen, so sind, die erhebliche Kosten verursachen können, wurde
für die Rückenmuskeln: Die bei Gesunden beobachtete immer wieder versucht, diese Kosten durch ein verbesser-
Vorverlagerung der beim Gehen erfolgten Amplituden- tes Verständnis der Pathogenese des Beschleunigungs-
spitze zum kontralateralen Fersenaufsatz findet bei Patien- traumas zu senken. Dies ist bisher nicht gelungen. Die
ten mit chronischen Rückenschmerzen in deutlich gerin- bereits 1964 auf der Grundlage von tierexperimentellen
gerem Ausmaß statt (. Abb. 2.9). Untersuchungen aufgestellte Theorie zur Hyperextension
> Patienten mit akutem und chronisch-unspezifischem
der HWS [10], mit der bei einem Heckaufprall Schädigun-
Rückenschmerz zeigen Dysfunktionen in der
gen von Strukturen des Halses erklärt werden, wurde
Ansteuerung der wirbelsäulenstabilisierenden
später modifiziert. Aber auch nach dieser Modifikation
Muskulatur. Es gibt Hinweise, dass bei Personen
war und ist das pathogenetische Konzept nicht unstrittig.
mit akutem Rückenschmerz diese Veränderungen
Es wird heute davon ausgegangen, dass kurz nach dem
bereits vor dem akuten Ereignis vorhanden sind.
Heckaufprall (in den ersten 50 ms) der Kopf der betroffe-
nen Person im angestoßenen Fahrzeug eine Translations-
bewegung ausführt. Danach kommt es im Zeitbereich
50–75 ms zu einer S-förmigen HWS-Verformung mit
2.3.3 Nackenschmerz lokaler Extension der unteren HWS und kompensatori-
scher Flexion der oberen HWS. In-vitro-Untersuchungen
Der Nackenschmerz wird in der gültigen Leitlinie [21] als (ohne Berücksichtigung der komplexen Funktionen stabi-
solcher definiert, wenn sich der Schmerz in einer Region lisierender Muskeln) zeigten, dass 75 ms nach dem Fahr-
befindet, die folgendermaßen markiert wird: zeugaufprall maximale Extensionswerte in den unteren
4 kranial durch die Linea nuchalis superior (Knochen- Abschnitten der HWS auftreten, die bei Überschreitung
leiste am äußeren Hinterhaupt), physiologischer Grenzwerte zu HWS-Läsionen führen
4 kaudal durch den 1. Wirbelkörper der BWS und können. Eine maximale Rückverlagerung des Kopfs wurde
4 lateral durch die schultergelenknahen Ansätze des jedoch erst ca. 100 ms nach dem Aufprall beschrieben [14].
M. trapezius. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass eine Änderung
der Geschwindigkeit von 10 km/h oder weniger beim be-
Wie beim Rückenschmerz wird eine spezifische von einer troffenen Fahrzeug in der Regel nicht ausreicht, um eine
unspezifischen Form unterschieden, ebenso wie eine HWS-Verletzung zu bewirken. Das bedeutet, dass nur bei
26 Kapitel 2 · Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie

einem Aufprall ab einer bestimmten Stärke eine HWS- 18. Solomonow M, Zhou BH, Harris M, Lu Y, Baratta RV (1998) The
Verletzung wahrscheinlich wird und dass diese bereits in ligamento-muscular stabilizing system of the spine. Spine
der Phase der S-förmigen HWS-Verformung mit lokaler 23:2552–2562
19. van Dieen JH, Selen LP, Cholewicki J (2003) Trunk muscle activa-
2 Extension der unteren HWS und kompensatorischer tion in low-back pain patients, an analysis of the literature. J
Flexion der oberen HWS auftritt und nicht erst nach Electromyogr Kinesiol 13:333–351
100 ms während der maximalen Rückverlagerung des 20. Wagner H, Puta C, Anders C, Petrovitch A, Schilling N, Scholle HC
Kopfs. Gefährdet für Verletzungen sind demnach insbe- (2009) Chronischer unspezifischer Rückenschmerz – Von der
sondere die unteren Abschnitte der HWS. Funktionsmorphologie zur Prävention. Manuelle Medizin 47:
39–51
21. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften (AWMF) (2014) Leitlinie Nackenschmerzen.
Literatur http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/053-007.html. Zuge-
griffen: 3. Juni 2015
1. Anders C, Wenzel B, Scholle HC (2008) Activation characteristics 22. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
of trunk muscles during cyclic upper body perturbations caused Fachgesellschaften (AWMF) (2015) Leitlinie Beschleunigungs-
by an oscillating pole. Arch Phys Med Rehabil 89:1314–1322 trauma der Halswirbelsäule. http://www.awmf.org/leitlinien/
2. Berlit P (2006) Klinische Neurologie, 2. Aufl. Springer, Berlin, S 459 detail/ll/030-095.html. Zugegriffen: 3. Juni 2015
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function – contemporary developments. Man Ther 6:15–26 (2010) Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz. http://
4. Hodges PW, Richardson CA (1996) Inefficient muscular stabiliza- www.leitlinien.de/nvl/kreuzschmerz. Zugegriffen: 3. Juni 2015
tion of the lumbar spine associated with low back pain. A motor
control evaluation of transversus abdominis. Spine 21:2640–2650
5. Hodges PW, Cresswell A, Thorstensson A (1999) Preparatory trunk
motion accompanies rapid upper limb movement. Exp Brain Res
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Hansson T, Thorstensson A (2003) Intervertebral stiffness of
the spine is increased by evoked contraction of transversus
abdominis and the diaphragm: in vivo porcine studies. Spine
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stiffness in premammillary cats: intrinsic and reflex components. J
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8. Hosten N, Liebig T (2006) Computertomographie von Kopf und
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Neutral zone and instability hypothesis. J Spinal Disord 5:390–396
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subfailure injuries lead to muscle control dysfunction. Eur Spine J
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Bär HF (1998) Biomechanik des Beschleunigungstraumas.
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Harnsberger HR, Osborne AG, Ross JS, MacDonald A (Hrsg)
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Springer, Berlin, Heidelberg, New York, S 235–241
17. Schilling N, Arnold D, Wagner H, Fischer MS (2005) Evolutionary
aspects and muscular properties of the trunk – Implications for
human low back pain. Pathophysiology 12:233–242
27 3

Entstehung der
Schmerzchronifizierung
R.-D. Treede

3.1 Neurobiologie der Schmerzchronifizierung – 28


3.1.1 Einleitung – 28
3.1.2 Schmerz mit und ohne Warnfunktion – 28
3.1.3 Was ist ein chronischer Schmerz? – 28
3.1.4 Warum sollte man zwischen chronischem und akutem Schmerz
unterscheiden? – 29
3.1.5 Mechanismen der Schmerzentstehung: 3 Phasen – 29
3.1.6 Chronischer Schmerz als eigene Entität – 31
3.1.7 Chronischer Schmerz als persistierender Akutschmerz – 31
3.1.8 Konsequenzen für die praktische Schmerztherapie – 32

3.2 Schmerzgedächtnis – 32
3.2.1 Einleitung – 32
3.2.2 Gibt es ein Schmerzgedächtnis? – 33
3.2.3 Explizites, deklaratives Gedächtnis – 33
3.2.4 Implizites Gedächtnis: assoziatives Lernen – 33
3.2.5 Implizites Gedächtnis: nichtassoziatives Lernen – 34
3.2.6 Konsequenzen für die praktische Schmerztherapie – 35

Literatur – 36

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
28 Kapitel 3 · Entstehung der Schmerzchronifizierung

Die Empfindlichkeit des nozizeptiven Systems ist nach einer 3.1.2 Schmerz mit und ohne Warnfunktion
Gewebeschädigung durch periphere und zentrale Sensibili-
sierung gesteigert. Hieraus resultieren Hyperalgesie und Die Detektion noxischer Reize durch nozizeptive Nerven-
Allodynie, normalerweise eine relativ kurz dauernde Modu- endigungen und die anschließende Signalverarbeitung im
lation des nozizeptiven Systems, die in eine lang dauernde nozizeptiven System warnen den Organismus vor aktueller
Modifikation mit veränderter Genexpression übergehen und potenzieller Gewebeschädigung durch externe Ereig-
3 kann. Die molekularen Mechanismen der so entstehenden nisse oder Veränderungen im internen Milieu. Diese
Schmerzchronifizierung sind klinisch bisher nicht messbar. Warnfunktion des Akutschmerzes ist bereits in einfachen
In der praktischen Schmerztherapie sollte man als Arbeits- Nervensystemen von Invertebraten programmiert [32, 67,
hypothese davon ausgehen, dass die Chronifizierung ein 69]. Bei Verlust dieser Warnfunktion besteht eine erhöhte
reversibler Prozess ist. Behandlungsansätze können sich ex Verletzungsgefahr. Darüber hinaus ist auch die Wundhei-
iuvantibus aus der diagnostischen Lokalanästhesie und aus lung in denervierter Haut oder Cornea verzögert [17]. Der
pharmakologischen oder verhaltensmedizinischen Eingrif- vollständige Verlust dieser Warnfunktion bei Patienten mit
fen in Gedächtnisprozesse ergeben. Das implizite assoziative angeborener Schmerzunempfindlichkeit durch spezifische
Gedächtnis, in Form von klassischer oder operanter Kondi- Gendefekte hat sogar negative Folgen für die Lebenserwar-
tionierung an der Chronifizierung von Schmerz beteiligt ist, tung [33].
wird umgekehrt auch zur Behandlung chronischer Schmer- Beim chronischen Schmerz ist eine solche Warnfunk-
zen eingesetzt. Die Verhinderung der Konsolidierung des tion nicht erkennbar. Diese Entkopplung wird auch in der
Schmerzgedächtnisses sowie seine Extinktion sind zentrale Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer
Ziele einer rationalen Schmerztherapie. zur Abgrenzung von akutem und chronischem Schmerz
benannt: Die Zusatzweiterbildung »Spezielle Schmerzthe-
rapie« umfasst die Erkennung und Behandlung chronisch
3.1 Neurobiologie der Schmerz- schmerzkranker Patienten, bei denen der Schmerz seine
chronifizierung Leit- und Warnfunktion verloren und einen selbstständi-
gen Krankheitswert erlangt hat.
3.1.1 Einleitung

Der Schmerzsinn ist für das Überleben des Organismus 3.1.3 Was ist ein chronischer Schmerz?
essenziell, weil er vor drohenden Schäden durch äußere
Ereignisse oder innere Erkrankungen warnt. Für diese Die International Association for the Study of Pain
Funktion besitzen wir einen hoch spezialisierten Teil des (7 http://www.iasp-pain.org) gibt keine klare Definition
Nervensystems, das nozizeptive System, das wiederum ei- des chronischen Schmerzes an: Einerseits gilt Schmerz als
nen Teil des somatosensorischen Systems darstellt. Nach chronisch, wenn er den normalen Heilungsverlauf über-
einer Gewebeschädigung ist die Empfindlichkeit des nozi- dauert, andererseits wird aus pragmatischen Gründen oft
zeptiven Systems durch periphere und zentrale Sensibili- eine Mindestdauer von 3 bis 6 Monaten gefordert [31].
sierung gesteigert. Hieraus resultieren Hyperalgesie und Rein zeitliche Definitionen haben in der Praxis nur einen
Allodynie, die den Heilungsprozess normalerweise nur um niedrigen diskriminativen und prädiktiven Wert gezeigt
einige Stunden überdauern. Tierexperimentell wurde ge- [41].
zeigt, dass diese relativ kurz dauernde Modulation des no- Analog zum Staging in der Onkologie wurden insbe-
zizeptiven Systems in eine lang dauernde Modifikation mit sondere für den Rückenschmerz Stadieneinteilungen der
veränderter Genexpression übergehen kann. Welchen Ein- Schmerzchronifizierung entwickelt, die auch die Mög-
fluss dabei die Stärke und Dauer der auslösenden Gewebe- lichkeit von primär chronischen Schmerzen vorsehen, bei
schädigung, eine mögliche Wiederholung schädigender denen konzeptuell bereits zu einem frühen Zeitpunkt eine
Ereignisse oder eine genetische Prädisposition haben, ist Entkopplung von der Warnfunktion eintritt [61, 70]. Die
noch nicht geklärt. Instrumente zum Staging beruhen auf psychosozialen Pa-
Die molekularen Mechanismen der Schmerzchronifi- rametern wie subjektive Beeinträchtigung, Arbeitsunfä-
zierung sind klinisch bisher nicht messbar. In der prakti- higkeit oder Inanspruchnahme des Gesundheitssystems,
schen Schmerztherapie sollte man als Arbeitshypothese die empirisch einen hohen prädiktiven Wert für den wei-
davon ausgehen, dass die Chronifizierung ein reversibler teren Krankheitsverlauf aufweisen. Sie testen somit nicht
Prozess ist. Behandlungsansätze können sich ex iuvantibus das Grundkonzept der Schmerzchronifizierung (den Ver-
aus der diagnostischen Lokalanästhesie und pharmakolo- lust der Warnfunktion), weil hierfür keine neurobiologi-
gischen oder verhaltensmedizinischen Eingriffen in Ge- schen Testparameter verfügbar sind, sondern beruhen auf
dächtnisprozesse ergeben. sozialmedizinischen Surrogatparametern.
3.1 · Neurobiologie der Schmerzchronifizierung
29 3
In Deutschland kann seit 2009 der chronische Schmerz 3.1.5 Mechanismen der Schmerz-
im ICD-10 kodiert werden. Mit der Ziffer F45.41 »Chroni- entstehung: 3 Phasen
sche Schmerzstörung mit somatischen und psychischen
Faktoren« wird zum Ausdruck gebracht, dass bei einem Die Funktionsweise des nozizeptiven Systems kann man
Patienten mit chronischem Schmerz psychische Faktoren grob in 3 Phasen gliedern (. Abb. 3.1). Phase 1 (Aktivie-
eine wichtige Bedeutung im Chronifizierungsprozess rung) beschreibt die Signalverarbeitung bei einem kurzen
haben und einen spezifischen Behandlungsbedarf aus- phasischen Schmerzreiz, hier symbolisiert durch einen
lösen [57]. Im Gegensatz zur Ziffer F45.40 (somatoforme Nadelstich. Der Reiz aktiviert nozizeptive Nervenendigun-
Schmerzstörung) muss dabei nicht postuliert werden, dass gen in der Haut. Die dort entstehenden Serien von Ak-
emotionale Konflikte oder psychosoziale Belastungen die tionspotenzialen erreichen das ZNS, wo sie – abhängig
Hauptrolle in der Genese des Schmerzes spielen (»psycho- von der momentanen Erregbarkeit und dem Aktivierungs-
gener Schmerz«). Die neue Ziffer trägt der Tatsache grad deszendierender Kontrollsysteme – bis zur Groß-
Rechnung, dass monokausale psychische Attribution und hirnrinde weitergeleitet werden können. Daraus resultiert
monokausale somatische Attribution der Schmerzursache eine kurze Schmerzempfindung, die in das periphere
jeweils nur selten auf den chronischen Schmerz zutreffen. rezeptive Feld projiziert und dort lokalisiert wahrgenom-
Entsprechend dem biopsychosozialen Modell der Entste- men wird.
hung chronischer Schmerzen berücksichtigt die Ziffer Beim chronischen Schmerz, hier illustriert am Beispiel
F45.41 die Interaktion von somatischen und psychosozia- des neuropathischen Schmerzes nach peripherer Nerven-
len Faktoren. läsion, kommen zusätzliche Mechanismen hinzu (hier
Diese neue Diagnose wird inzwischen umfassend als Phase 3 bezeichnet). Im Zuge von Degeneration und
genutzt, um den Behandlungsbedarf von Patienten mit Regeneration nach Nervenverletzungen kann es zu Phäno-
chronischem Schmerz einheitlich zu kodieren; sie stellt die typänderungen und geänderter Genexpression in periphe-
häufigste Indikation für multimodale Schmerztherapie ren und zentralen nozizeptiven Neuronen kommen und in
dar. Chronischer Schmerz wurde damit im deutschen deren Folge zu langfristig geänderten synaptischen Ver-
Gesundheitssystem sichtbar gemacht, was für das Jahr 2013 bindungen [3, 21]. Eine solche Modifikation des nozizep-
erstmals zur Berücksichtigung im morbiditätsbezogenen tiven Systems, bei der nichtnozizeptive taktile Afferenzen
Risikostrukturausgleich zwischen den gesetzlichen Kran- Zugang zu zentralen nozizeptiven Neuronen bekommen,
kenkassen führte. Wenn der besseren Dokumentation so- erklärt z. B. die Schmerzhaftigkeit leichter Berührungs-
mit eine entsprechende Ressourcenallokation folgt, ist zu reize (dynamische taktile Allodynie). Es wird bezweifelt,
hoffen, dass dies auch der Qualität der Patientenversor- dass solche extensiven Reorganisationsprozesse spontan
gung zugutekommt. reversibel sind. Phänomene wie die Allodynie sind mit den
Mechanismen der Phase 1 nicht erklärbar.
Das eigentlich neue Konzept in dieser Abbildung ist die
3.1.4 Warum sollte man zwischen Einführung einer Phase 2 [7]. Diese Phase repräsentiert
chronischem und akutem Schmerz die akute Plastizität des nozizeptiven Systems, die durch
unterscheiden? Modulation der peripheren Signaltransduktion (periphere
Sensibilisierung) und der zentralen Signalübertragung
Bewährte Therapiekonzepte aus der Akutschmerztherapie (zentrale Sensibilisierung) zustande kommt. Periphere
versagen häufig beim chronischen Kopf- oder Rücken- Sensibilisierung wird durch Entzündungsmediatoren aus-
schmerz [59]; hierzu gehören die Gabe von Analgetika aus gelöst, zentrale Sensibilisierung erfolgt durch synaptische
der Gruppe der nichtsteroidalen Entzündungshemmer Plastizität, analog zu elementaren Gedächtnisprozessen
oder die Ruhigstellung des betroffenen Körperteils bis [44] (7 Abschn. 3.2).
hin zur Bettruhe. Umgekehrt sind Therapieerfolge beim Zentrale Sensibilisierung nach einer einfachen Ver-
chronischen Schmerz mittels verhaltensmedizinischer letzung oder nach einer durch Capsaicininjektion simu-
Verfahren zu erzielen [13, 16, 37], die in der Akutschmerz- lierten Verletzung führt ähnlich wie eine Nervenläsion zu
therapie kaum eine Rolle spielen. Diese klinischen Erfah- einer dynamischen taktilen Allodynie [27, 55]. Solche
rungen führten zu der Vorstellung, dass die Behandlung Phase-2-Mechanismen werden durch jede Verletzung
akuter und chronischer Schmerzen auf grundlegend ver- aktiviert und führen vorübergehend zu einem veränderten
schiedene Verfahren zurückgreifen muss. Nachfolgend soll Antwortverhalten des nozizeptiven Systems. Sie gehören
diskutiert werden, inwieweit für diese strikte Trennung zum normalen Repertoire des nozizeptiven Systems und
eine neurobiologische Basis besteht. sind spontan reversibel, sobald das auslösende nozizeptive
Eingangssignal entfällt [26].
30 Kapitel 3 · Entstehung der Schmerzchronifizierung

C.N.S. Pain
Phase 1
Aktivierung
Brief Brief Synaptische Übertragung
injury Deszendierende Kontrolle

3 Phase 2
Modulation
Persisting Periphere und zentrale
Sensibilisierung
Inflammation

Phase 3

Modifikation
Nerve Degeneration
or CNS Abnormal
Regeneration
damage

. Abb. 3.1 Schmerzmechanismen: 3 Phasen. Phase 1 (Aktivierung): Kurz dauernde noxische Reize aktivieren nozizeptive Nervenendigungen
in der Haut und in anderen Organen. Die daraus resultierende neuronale Aktivität wird im ZNS mit diversen deszendierenden Kontrollsignalen
verrechnet. Bei hinreichender Aktivierung nozizeptiver Hirnregionen entsteht ein kurzer, phasischer Schmerz. Phase 2 (Modulation): Die peri-
phere Aktivierbarkeit und die zentralen Übertragungseigenschaften des nozizeptiven Systems sind durch periphere oder zentrale Sensibilisie-
rung schnell modulierbar. Periphere Sensibilisierung wird überwiegend durch Entzündungsmediatoren ausgelöst, zentrale Sensibilisierung er-
folgt durch synaptische Plastizität, analog zu elementaren Gedächtnisprozessen. Diese Mechanismen werden durch jede Verletzung aktiviert.
Sie gehören zum normalen Repertoire des nozizeptiven Systems und sind spontan reversibel. Phase 3 (Modifikation): Im Zuge von Degenera-
tion und Regeneration nach Nervenverletzungen kommt es zu Phänotypänderungen und geänderter Genexpression in peripheren und
zentralen nozizeptiven Neuronen und in deren Folge zu langfristig geänderten synaptischen Verbindungen, die z. B. eine Schmerzhaftigkeit
leichter Berührungsreize verursachen können (dynamische taktile Allodynie). (Mod. nach Cervero u. Laird [7] und Woolf u. Salter [68])

> Der Zeitbereich der Phase-2-Mechanismen > Ein Verbindungsglied zwischen Phase 2 und 3 ist
entspricht der Dauer des Akutschmerzes nach möglicherweise die Familie der mitogenaktivierten
operativen Eingriffen. Proteinkinasen (MAPK), deren Mitglieder ERK und
p38 nach Nervenverletzung im Rückenmark nach-
Tierexperimente haben gezeigt, dass die Mechanismen einander in Neuronen, Mikroglia und Astrozyten
der Phase 2 aus aktivitätsabhängiger synaptischer Plastizität aktiviert werden [71].
bestehen (7 Abschn. 3.2) sowie aus der Phosphorylierung
von Membranrezeptoren und Ionenkanälen [21]. In diesen Während im Tierexperiment v. a. mit Modellen gearbeitet
Prozessen sind Proteinkinase C (PKC), Proteinkinase A, wird, bei denen die Chronifizierung durch Phase 3 regel-
Calcium-Calmodulin-abhängige Kinase (CaMKII) und der mäßig auftritt, ist der klinische Alltag dadurch geprägt,
Signalweg NO-Synthase/Proteinkinase G beteiligt. dass bei gleicher Grundkrankheit nur ein kleiner Teil der
Patienten einen chronischen Schmerz entwickelt. Welchen
In der Phase 3 kommt es zusätzlich zur veränderten Genex- Einfluss dabei die Stärke und Dauer der auslösenden Ge-
pression [68], u. a. durch Aktivierung regulatorischer Gene webeschädigung, eine mögliche Wiederholung schädigen-
wie c-fos [5] und durch Veränderungen in der Menge an der Ereignisse oder eine genetische Prädisposition haben,
Neurotrophinen (NGF, GDNF, BDNF), die im Spinalgang- ist noch nicht geklärt. Beim Menschen liegt wahrschein-
lion und im Rückenmark verfügbar sind [49]. Hierdurch lich eine Mischung aus genetischen und psychologischen
ändert sich nach Nervenläsionen, aber auch bei chronischer Prädispositionsfaktoren vor [23], wobei einige Menschen
Entzündung nicht nur die Expression von Ionenkanälen schon nach kurzer und leicht schmerzhafter Reizung mit
und Membranrezeptoren, sondern auch das Verhältnis ver- einer über mehrere Tage dauernden Schmerzempfindlich-
schiedener Subpopulationen von nozizeptiven Neuronen. keitssteigerung reagieren [35].
3.1 · Neurobiologie der Schmerzchronifizierung
31 3
3.1.6 Chronischer Schmerz als Propranolol Phentolamin
36 2 mg 1 mg/kg
eigene Entität
34

> Die veränderte Genexpression der Phase 3 bildet 32

Temperatur (°C)
die neurobiologische Basis für das Konzept, nach
dem das nozizeptive System beim chronischen 30
Schmerz andere Eigenschaften aufweist als beim 28
Akutschmerz.
26
Aus entzündetem Gewebe wird vermehrt Nervenwachs- Betroffene Seite
tumsfaktor (NGF) zum Spinalganglion retrograd-axonal 24 Gegenseite
transportiert. Hierdurch werden beim chronischen Ent- 22
zündungsschmerz Substanz P, »calcitonin-gene-related 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55
peptide« (CGRP), der Capsaicinrezeptor TRPV1 und der
Natriumkanal NaV1.8 hochreguliert, während sie beim 100
chronischen neuropathischen Schmerz herunterreguliert
sind, da der axonale Transport von NGF dort vermindert 80
Visuelle Analogskala
ist [68]. Beim neuropathischen Schmerz kommt es gleich- Spontanschmerz
zeitig zur Hochregulation eines anderen Natriumkanals 60 Hyperalgesie
(NaV1.3). Diese Veränderung der Natriumkanalexpres-
sion (weniger NaV1.8, mehr NaV1.3) führt nach Nerven- 40
verletzungen zu Spontanaktivität und gesteigerten Ent-
ladungsraten [63].
20

Spontane Generierung von Aktionspotenzialen in einem


Neurom oder im Spinalganglion ist ein zentrales pathophy- 0
0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55
siologisches Konzept beim peripheren neuropathischen
Zeit (min)
Schmerz [50]. Beim seltenen Krankheitsbild der Erythromel-
algie wurde eine solche Spontanaktivität mittels Mikroneu- . Abb. 3.2 Modulierbarkeit der Hyperalgesie beim chronischen
rografie nachgewiesen [34], ebenso beim Phantomschmerz Schmerz: Bei einer 40-jährigen Patientin mit komplexem regionalem
Schmerzsyndrom vom Typ 1 (CRPS I) im rechten Bein wurde
mittels Einzelzellableitungen aus dem Thalamus [28]. Wenn
1 mg/kgKG Phentolamin als Kurzinfusion über eine Armvene
diese Spontanaktivität auf einer veränderten Expression von appliziert. Oben: Temperaturerhöhung in beiden Beinen aufgrund
Ionenkanälen beruht, benötigt sie möglicherweise eine von Vasokonstriktorblockade durch den α-adrenergen Antago-
Pharmakotherapie mit speziell hierfür entwickelten Kanal- nisten. Unten: simultane Reduktion von Spontanschmerz und
blockern [11]. Leider ist der Nachweis der Spontanaktivität mechanischer Hyperalgesie um 75 %. (Aus Treede [53])
im klinischen Alltag nicht möglich, da weder periphere
Mikroneurografie noch Einzelzellableitungen aus dem
Thalamus infrage kommen. 3.1.7 Chronischer Schmerz als
persistierender Akutschmerz
Chronischer Schmerz (Phantom-, Rückenschmerz) ver-
ändert die Repräsentation des betroffenen Körperteils Es besteht Konsens, dass chronischer Schmerz auf der
im primären somatosensorischen Kortex [14, 15]. Das Basis der Mechanismen der Signalverarbeitung kurzer
Ausmaß der kortikalen Reorganisation korreliert mit der phasischer Schmerzreize (Phase 1) nicht erklärbar ist.
Schmerzstärke [25]. Eine Reorganisation der rezeptiven Wenn man jedoch die akute Plastizität des nozizeptiven
Felder findet man auch im Thalamus [28]: Dort ist Systems einbezieht (Phase 2), besteht die Möglichkeit,
die Stumpfregion nach Amputationen überrepräsentiert. auch eine veränderte Schmerzempfindlichkeit (z. B.
Diese Veränderungen der Somatotopie im ZNS wurden Allodynie) beim chronischen Schmerz zu erklären, ohne
ursprünglich als spezifisch für den chronischen Schmerz eigenständige neue Mechanismen (Phase 3) postulieren zu
angesehen; sie haben sich aber als Korrelate des schnellen müssen. Der chronische Schmerz wäre dann zumindest
somatosensorischen Lernens herausgestellt (7 Abschn. teilweise ein persistierender Akutschmerz.
3.1.7). Wenn diese Hypothese stimmt, sollte sich die Hyperal-
gesie oder Allodynie schnell zurückbilden, sobald ein affe-
rentes Eingangssignal aus der Peripherie, das die zentrale
32 Kapitel 3 · Entstehung der Schmerzchronifizierung

Sensibilisierung dynamisch unterhält, eliminiert wird [26]. ohne dass eine potenziell irreversible Veränderung der
. Abb. 3.2 zeigt ein solches Beispiel, in dem Schmerz und Genexpression (Phase 3) postuliert werden muss. Der kli-
mechanische Hyperalgesie durch eine Sympathikus- nische Phänotyp gibt nach gegenwärtigem Kenntnisstand
blockade mittels eines α-adrenergen Antagonisten zeit- keine Auskunft darüber, welche Klasse von Mechanismen
gleich gehemmt werden konnten [53]. Auch die Allodynie in einem gegebenen Fall vorliegt. Als diagnostische Maß-
nach peripheren Nervenläsionen ließ sich in einigen nahme bietet sich an, die Reversibilität der Symptomatik
3 Fällen durch gezielte diagnostische Nervenblockaden auf- zu prüfen. Hierzu kann die diagnostische Lokalanästhesie
heben [19]. eingesetzt werden oder kurze Infusionstests.
> Von der Möglichkeit, mit diagnostischen Nerven-
Dynamische taktile Allodynie und mechanische Hy-
blockaden die Quelle der Spontanaktivität ein-
peralgesie sind Zeichen einer zentralen Sensibilisierung.
zugrenzen, wird wenig Gebrauch gemacht, da sich
Sie treten als Folge sowohl der akuten Modulation (Phase
die entsprechende Blockadetechnik oft nicht zur
2) als auch der länger dauernden Modifikation (Phase 3)
dauerhaften Behandlung eignet. Sie bietet aber die
des nozizeptiven Systems auf. Eine Reorganisation der
Gelegenheit zu mechanismenbasierter Diagnostik
Somatotopie im primären somatosensorischen Kortex gibt
beim neuropathischen Schmerz.
es beim chronischen Schmerz ebenso wie auch bei kurz
dauernden Modulationen des nozizeptiven Eingangs-
Die Reorganisation der somatotopischen Repräsentation im signals.
primären somatosensorischen Kortex ist mit Verfahren der Beim chronisch persistierenden Akutschmerz (Phase 2)
klinischen Neurophysiologie gut erfassbar (7 Abschn. 3.1.6). geht man davon aus, dass dieser Zustand durch ein persis-
Nach Amputationen ist diese Reorganisation schon 10 Tage tierendes nozizeptives Eingangssignal zum Rückenmark
nach der Operation nachweisbar [64]. Experimentelle aufrechterhalten wird. Dieses Konzept eines spontanak-
Lokalanästhesie führt sogar schon innerhalb von Minuten tiven Fokus im nozizeptiven System kann durch diagnos-
zu einer kortikalen Reorganisation [62]. Umgekehrt ist die tische Nervenblockaden und durch Infusionstests klinisch
kortikale Reorganisation beim Phantomschmerz unter überprüft werden. Eine solche mechanismenbasierte
Lokalanästhesie reversibel, sofern diese den Schmerz redu- Diagnostik ist ein wichtiger Meilenstein zu einer mecha-
ziert hatte [4]. Es handelt sich hierbei also vermutlich eher nismenbasierten Schmerztherapie.
um die akute Reorganisation des somatosensorischen Sys-
tems im Zusammenhang mit Lernprozessen [8].
3.2 Schmerzgedächtnis
Ein weiteres Beispiel, das in diesem Zusammenhang gern
diskutiert wird, ist die chirurgische Behandlung der chroni- 3.2.1 Einleitung
schen Arthrose durch eine Endoprothese. Hier soll es durch
die Operation trotz lange bestehender Schmerzsymptoma- Der Begriff Schmerzgedächtnis kann mehrere Prozesse
tik zu einer sofortigen Schmerzlinderung kommen, sobald beschreiben, die jeweils klinisch relevant sind. Episodi-
die postoperative analgetische Behandlung abgeschlossen sches Gedächtnis bezieht sich auf das bewusste Erinnern
ist. Leider liegen keine empirischen Daten vor, wie schnell selbst erlebter Schmerzen. Da diese Erinnerung ungenau
der Gelenkschmerz nach einer Endoprothese gebessert ist; ist, werden Schmerztagebücher »online« geführt. Neben
der Eingriff als solcher macht eine über mehrere Tage ge- dieser expliziten Form von Schmerzgedächtnis gibt es
hende, intensive Akutschmerztherapie erforderlich [62]. mehrere Formen des impliziten Gedächtnisses, die beim
chronischen Schmerz relevant sind: Assoziatives Gedächt-
nis in Form von klassischer oder operanter Konditionie-
3.1.8 Konsequenzen für die praktische rung ist an der Chronifizierung von Schmerz beteiligt und
Schmerztherapie wird umgekehrt auch zur Behandlung chronischer
Schmerzen eingesetzt. Nichtassoziatives Schmerzgedächt-
Der Verlust der Warnfunktion des chronischen Schmerzes nis in Form von Sensibilisierung ist eine fundamentale
wird zwar in allen Konzepten zur Schmerzchronifizierung Eigenart des nozizeptiven Systems.
betont, ist jedoch nicht empirisch prüfbar und kann daher Die Sensibilisierung der peripheren nozizeptiven Ner-
nicht als neurobiologisches Kriterium für das Vorliegen venendigungen erfolgt nach jeder Verletzung; die daraus
chronischer Schmerzen eingesetzt werden. Das Konzept, resultierende Hyperalgesie gegen Hitzereize trägt zum
dass Schmerzmechanismen in 3 statt in 2 Phasen eingeteilt akuten Entzündungsschmerz bei. Schon im Rahmen des
werden können, eröffnet aber die Möglichkeit, dass chro- Akutschmerzes kommt es auch zu einer zentralen Sensibi-
nischer Schmerz auf einer chronisch persistierenden Plas- lisierung der synaptischen Übertragung und in deren
tizität des nozizeptiven Systems (Phase 2) beruhen kann, Folge zur Hyperalgesie gegen mechanische Reize. Die zen-
3.2 · Schmerzgedächtnis
33 3
trale Sensibilisierung ist beim chronischen Schmerz be- Anamnese, beim Untersuchungsgang und sogar für den
sonders ausgeprägt. Therapieerfolg [20, 66].
Eine zweite Form des expliziten Gedächtnisses ist
das episodische Gedächtnis für Ereignisse. Hierzu gehört
3.2.2 Gibt es ein Schmerzgedächtnis? insbesondere auch das autobiografische Gedächtnis für
selbst erlebte Schmerzen. Die Erhebung einer Anamnese
Die phylogenetisch ältesten Formen von Lernen und Ge- setzt voraus, dass die Patienten sich hinreichend genau
dächtnis sind vermutlich mit dem Geruchssinn und dem erinnern können. Gerade für die Schmerzqualitäten
Schmerzsinn verbunden. Olfaktorische Reize steuern und ihre affektive Komponente wird jedoch allgemein
einen Großteil des Appetenzverhaltens (z. B. bei Nah- angenommen, dass diese nur sehr ungenau erinnert
rungs- oder Partnersuche), während die Detektion noxi- werden [9].
scher Reize eine wichtige Steuerungsfunktion für Vermei-
dungsverhalten besitzt. Lernprozesse für beide Reizarten Empirische Studien zum episodischen Schmerzgedächtnis
kann man bereits bei wirbellosen Tieren nachweisen [18, haben sich auf die Erinnerung an die Intensität vergangener
42, 67]. Viele der klassischen Lernparadigmen zu Sensibi- Schmerzen konzentriert; sie zeigten Ungenauigkeiten von
lisierung oder zu emotionaler Konditionierung arbeiten ca. 10–20 %. Wenn Patienten am Ende einer prospektiven
mit noxischen Reizen als unkonditioniertem aversivem Studie die Schmerzlinderung einschätzen sollen, über-
Reiz [39]. Gedächtnisforschung und Schmerzforschung schätzen sie diese häufig im Vergleich zur aus den Schmerz-
bearbeiten also stark überlappende Themen, aber diese tagebüchern berechneten Schmerzlinderung [10]. Unklar ist
thematische Nähe wird nur selten explizit benannt [43, 51, jedoch, ob diese Ungenauigkeit im Erinnerungsvermögen
56, 69]. an Schmerzen größer ist als für andere Gedächtnisinhalte.
Lernen und Gedächtnis können nach der Zeitdauer in Hier sind vergleichende Studien nötig. Pragmatisch setzt
Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis unterteilt werden (pri- man heute Schmerztagebücher ein, in die tägliche Eintra-
märes und sekundäres Gedächtnis) und nach Inhalten und gungen vorzunehmen sind (teilweise auch elektronisch),
Mechanismen in explizites und implizites Gedächtnis. und fragt zusätzlich am Ende der klinischen Studie (oder
Explizites Gedächtnis wird auch als deklaratives Gedächt- beim nächsten Besuch in der Praxis) noch nach der retro-
nis bezeichnet. Die Inhalte sind verbal beschreibbar und spektiven Einschätzung der Schmerzlinderung.
werden bewusst verarbeitet. Implizites Gedächtnis wird
auch als nichtdeklaratives Gedächtnis bezeichnet. Hierbei Vom expliziten Gedächtnis ist bekannt, dass dessen Inhalte
geht es um unbewusstes, gelerntes Verhalten. Die Inhalte schnell verblassen, wenn sie nicht durch Wiederholungen
können aus einfachen Reflexen oder komplexen Ver- konsolidiert werden. Auch das Langzeitgedächtnis ist nicht
haltensmustern bestehen. resistent gegen das Vergessen, und nur wenige Inhalte
Mit dem Begriff Schmerzgedächtnis wird oft die Vor- gehen in das permanente Gedächtnis über (tertiäres
stellung verbunden, dass es sich um implizites Gedächtnis Gedächtnis); hierzu gehört z. B. der eigene Name. Nicht
für Schmerzverhalten handelt und dass dieses Gedächtnis alle Gedächtnisinhalte sind dem unmittelbaren Zugriff
beim chronischen Schmerz irreversibel konsolidiert sei. zugänglich. Wenn ein Gedächtnisinhalt aktuell nicht abge-
Die nachfolgenden Abschnitte sollen erläutern, dass dies rufen werden kann, ist möglicherweise nur der Prozess des
eine zu enge Sicht auf das Schmerzgedächtnis darstellt. Erinnerns gestört. Mittels welcher Mechanismen Gedächt-
Gedächtnisprozesse sind an vielen Mechanismen des chro- nisinhalte abgerufen werden, ist weniger gut untersucht als
nischen und akuten Schmerzes beteiligt. die Mechanismen des Lernens.

3.2.3 Explizites, deklaratives Gedächtnis 3.2.4 Implizites Gedächtnis:


assoziatives Lernen
Das explizite Gedächtnis wird unterteilt in semantisches
Gedächtnis für Fakten (Wissensgedächtnis) und episodi- Zum assoziativen impliziten Gedächtnis gehören die klas-
sches Gedächtnis für Ereignisse (u. a. autobiografisches sische Konditionierung und die operante Konditionierung
Gedächtnis). Beide Gedächtnisarten spielen eine Rolle in [22]. Beim assoziativen Lernen geht es um den Zusam-
der praktischen Schmerztherapie. menhang zwischen 2 Reizen (klassische Konditionierung
Inhalte des semantischen Gedächtnisses beeinflussen nach Pawlow) oder zwischen einem Reiz und einem
das Arzt-Patient-Verhältnis: Arzt und Patient besitzen Verhalten (operationale Konditionierung nach Skinner).
jeweils eigene Vorstellungen über mögliche Schmerz- Beide Formen des assoziativen Lernens tragen zum chro-
mechanismen; dieses Vorwissen spielt eine Rolle bei der nischen Rückenschmerz bei [58].
34 Kapitel 3 · Entstehung der Schmerzchronifizierung

Durch klassische Konditionierung können verschie- zum Rückenschmerz eine neurobiologische Basis durch
denartige Ereignisse von einem neutralen Reiz in einen analoge Arbeiten zur Furchtkonditionierung erhält.
konditionierten Schmerzreiz transformiert werden, wenn
sie häufig mit einem nachfolgenden Schmerzerlebnis (un-
konditionierter Reiz) gepaart auftreten. Dies gilt z. B. für 3.2.5 Implizites Gedächtnis:
Bewegungsmuster und nachfolgenden Rückenschmerz, nichtassoziatives Lernen
3 aber auch für komplexe Reizsituationen oder sogar für
Gedanken und Vorstellungen [12, 47]. Die Assoziation Nichtassoziatives Lernen geschieht durch Reizwieder-
kann aufgehoben werden, wenn der ursprünglich neutrale holung. Nach der Dual-process-Theorie der Plastizität
Reiz häufig ohne nachfolgenden Schmerz erlebt wird. Die- werden hierdurch gleichzeitig 2 konkurrierende Prozesse
se Situation herzustellen ist eines der Ziele der aktivieren- aktiviert: Habituation und Sensibilisierung [39]. Habitua-
den Schmerztherapie. tion ist definiert als Abnahme einer Verhaltensantwort bei
Durch operante Konditionierung können Verhaltens- wiederholter Reizung. Habituation erfolgt früh im Signal-
muster verstärkt werden, wenn ihnen regelmäßig eine Be- weg, v. a. als Funktion der Anzahl der Reize und der Reiz-
lohnung folgt. Dies gilt auch für das Erlernen funktionell frequenz. Sensibilisierung ist definiert als Zunahme der
ungünstiger Verhaltensmuster beim chronischen Schmerz: Verhaltensantwort bei wiederholter Reizung. Sensibilisie-
Einnahme von Medikamenten nach Bedarf und körper- rung erfolgt später im Signalweg und tritt insbesondere
liche Schonung werden durch Schmerzlinderung belohnt, nach neuartiger, starker oder noxischer Reizung auf.
das Äußern von Beschwerden durch verstärkte Zuwendung In den meisten sensorischen Systemen sind die
der Angehörigen. Verhaltenstherapeutische Ansätze versu- Reizantworten selbst bei hoher Reizstärke nur initial für
chen, diesen Lernprozess durch Umlernen zu durchbre- kurze Zeit gesteigert, während nach wenigen Reizwieder-
chen, indem die positiven Verstärker für Schmerzverhalten holungen die Habituation dominiert [40]. Wenn die
entzogen und positive Verstärker für anderes Verhalten Abnahme der Reizantworten bei Reizwiederholung ver-
(z. B. körperliche Aktivität) aufgebaut werden [58]. mindert ausfällt oder ganz fehlt, wird daraus indirekt auf
Ein Spezialfall der klassischen Konditionierung ist die eine Sensibilisierung geschlossen. Berichte über die Sensi-
Furchtkonditionierung, bei der ein neutraler Sinnesreiz bilisierung des auditorischen Systems bei Gendefekten im
(z. B. ein Ton) mit einem aversiven Reiz gekoppelt wird Glyzinrezeptor oder bei Migräne beruhen auf solchen in-
(in Tierexperimenten meist ein elektrischer Reiz) und direkten Schlussfolgerungen [38, 52].
dann als konditionierter Reiz zu einer Schreckstarre führt Im nozizeptiven System ist dies anders. Unter experi-
(»freezing response«). Bei dieser Konditionierung spielt mentellen Bedingungen kann zwar auch hier eine Abnah-
die Langzeitpotenzierung der synaptischen Übertragung me der Reizantworten bei Reizwiederholung beobachtet
in den Mandelkernen (laterale Amygdala) eine entschei- werden [2], nach einer Verletzung kommt es aber zu einer
dende Rolle. massiven Zunahme der Antworten auf nachfolgende nozi-
> Parallele Experimente auf molekularer Ebene und
zeptive Reize, d. h., die Sensibilisierung dominiert [54].
auf der Verhaltensebene zeigten, dass für die
Dies liegt daran, dass sowohl die Signaltransduktion an
Konsolidierung der Furchtkonditionierung ins Lang-
den nozizeptiven Nervenendigungen im Gewebe als auch
zeitgedächtnis die Transkription und Translation
die Übertragungsstärke an den zentralen Synapsen durch
genetischer Information mit Synthese von mRNA
akute Plastizität des nozizeptiven Systems leicht gesteigert
und Proteinen nötig ist [45]. Extinktion der Furcht-
werden können [7, 68].
konditionierung ist ein aktiver Prozess, bei dem die
Periphere Sensibilisierung der nozizeptiven Nervenen-
körpereigenen Endocannabinoide beteiligt sind
digungen kann man als »peripheres Schmerzgedächtnis«
[30].
auffassen. Im Unterschied zur zentralen Sensibilisierung
beruht sie nicht auf synaptischer Signalübertragung, son-
Unter den psychosozialen Faktoren, die an der Chronifi- dern auf der peripheren Interaktion von Immunsystem
zierung von Rückenschmerz beteiligt sind, spielt die angst- und Nervensystem [46]. Wie lange diese Sensibilisierung
motivierte Vermeidung von Bewegung und Belastung eine anhält und ob sie durch wiederholte Verletzungen konso-
herausragende Rolle (Fear-avoidance-Modell). Angstver- lidiert wird, ist bisher nicht beschrieben.
meidungsüberzeugungen können mit entsprechenden Zentrale Sensibilisierung der synaptischen Übertra-
Fragebögen erfasst werden [36]. Die kognitive Verhaltens- gung im Rückenmark ist der Prototyp eines zentralen
therapie hat das Ziel, die aus dem Angstvermeidungsver- Schmerzgedächtnisses. Sie wird nicht direkt durch eine
halten resultierende Schmerzverstärkung rückgängig zu periphere Verletzung ausgelöst, sondern indirekt durch die
machen [60]. Es ist zu hoffen, dass die bisher eher auf den dadurch verursachte Erregung nozizeptiver Afferenzen
empirischen Sozialwissenschaften basierende Forschung [27]. Hochfrequente Erregung nozizeptiver Afferenzen
3.2 · Schmerzgedächtnis
35 3

. Tab. 3.1 Deutung einiger Schmerzphänomene als Gedächtnisprozesse

Phänomen Prozess Struktur Gedächtnisform

Schmerzangaben in der Anamnese Episodisches Gedächtnis Assoziationskortex Explizit

Schonhaltung Furchtkonditionierung Amygdala Implizit, assoziativ

Hitzehyperalgesie Periphere Sensibilisierung Nozizeptive Nervenendigung Implizit, nichtassoziativ


(intrinsische Sensibilisierung)

Mechanische Hyperalgesie Zentrale Sensibilisierung Rückenmark Implizit, nichtassoziativ


Deszendierende Bahnung Hirnstamm (extrinsische Sensibilisierung)
Dynamische taktile Allodynie

Phantomschmerz Reorganisation taktiler Primärer somatosensorischer


rezeptiver Felder? Kortex

durch chemische oder elektrische Reize ohne eine peri- > Insgesamt betrachtet, spielt die extrinsische
phere Verletzung führt daher ebenfalls zu einer zentralen Sensibilisierung als nichtassoziativer Lernmechanis-
Sensibilisierung [24]. mus eine große Rolle beim akuten und chronischen
> Nach einem einmaligen Ereignis dauert die zentrale Schmerz.
Sensibilisierung ungefähr 24 h [35, 48].

Die Mechanismen der zentralen Sensibilisierung weisen 3.2.6 Konsequenzen für die praktische
große Ähnlichkeit mit der Langzeitpotenzierung im Hippo- Schmerztherapie
campus auf [43, 56]. Da im Hippocampus auch stabile
Formen der Langzeitpotenzierung bekannt sind, die über Das explizite episodische Gedächtnis für selbst erlebte
Monate hinaus anhalten können [1], wird spekuliert, dass Schmerzen wird in jeder Anamnese und bei allen Schmerz-
das spinale Schmerzgedächtnis auch in eine chronische fragebögen angesprochen (. Tab. 3.1). Wegen Ungenauig-
Form übergehen kann. keiten in der Erinnerung an vergangene Schmerzen wer-
den sowohl in klinischen Studien als auch in der Praxis
In der Gedächtnisforschung wird zwischen intrinsischer Schmerztagebücher eingesetzt, in die täglich Eintragungen
und extrinsischer Sensibilisierung unterschieden [39]. Bei der subjektiven Schmerzstärke gemacht werden. Solche
der intrinsischen Sensibilisierung stammen auslösender Tagebücher stehen auch bereits in elektronischer Form zur
Reiz und Testreiz aus derselben Modalität und vom selben Verfügung.
Ort. Experimente zur Langzeitpotenzierung in Schnittprä- Das implizite assoziative Schmerzgedächtnis steht
paraten des Rückenmarks entsprechen einer intrinsischen im Mittelpunkt verhaltenstherapeutischer Konzepte zum
Sensibilisierung. Die extrinsische Sensibilisierung wird chronischen Schmerz. Schmerzverhalten kann sowohl
durch einen Extrareiz ausgelöst, der von einem anderen durch klassische als auch durch operante Konditionierung
Ort oder aus einer anderen Modalität stammt als die im Alltag verstärkt werden. Therapieziel ist die Durch-
Testreize. Dies ist bei der sekundären Hyperalgesie in der brechung dieser Konditionierung durch Umlernen. In
Umgebung einer Verletzung der Fall [29]. Analogie zu Tierexperimenten zur Furchtkonditionierung
könnte die Extinktion gelernten Schmerzverhaltens in
Auch die kortikale Reorganisation der rezeptiven Felder im Zukunft evtl. auch pharmakologisch unterstützt werden.
primären somatosensorischen Kortex beim Phantom- Zur Prävention chronischer Schmerzen gehört nach dem
schmerz entspricht vermutlich einer extrinsischen Sensi- Fear-avoidance-Modell die Vermeidung von unerwünsch-
bilisierung, denn es wurde experimentell gezeigt, dass die ten Kontingenzen (z. B. Medikamenteneinnahme nach
taktilen rezeptiven Felder durch einen nozizeptiven Reiz Bedarf und Schmerzlinderung, Aufmerksamkeit im sozia-
moduliert werden können [6]. Auf welche Weise Änderun- len Umfeld nur bei Schmerzäußerung etc.). Auch hier wäre
gen der taktilen Repräsentation einen chronischen Schmerz eine medikamentöse Unterstützung vorstellbar, aber als
auslösen können, ist unbekannt, aber empirisch besteht Nebenwirkung muss mit allgemeiner Behinderung von
eine hohe Korrelation zwischen der Stärke des Phantom- Lernprozessen gerechnet werden.
schmerzes und dem Ausmaß der Reorganisation im primä- Zum impliziten nichtassoziativen Lernen gehört die
ren somatosensorischen Kortex [25]. Sensibilisierung bei wiederholter Reizung. Sensibilisie-
36 Kapitel 3 · Entstehung der Schmerzchronifizierung

rung ist im nozizeptiven System besonders ausgeprägt 7. Cervero F, Laird JMA (1991) One pain or many pains? A new look
und findet nach jeder banalen Verletzung statt. Die Sen- at pain mechanisms. News Physiol Sci 6:268–273
8. Elbert T, Pantev C, Wienbruch C, Rockstroh B, Taub E (1995) In-
sibilisierung der peripheren nozizeptiven Nervenendi-
creased cortical representation of the fingers of the left hand in
gungen wird durch Entzündungsmediatoren ausgelöst; string players. Science 270:305–307
die daraus resultierende Hyperalgesie gegen Hitzereize 9. Erskine A, Morley S, Pearce S (1990) Memory for pain: a review.
trägt zum akuten Entzündungsschmerz bei. Schon im Pain 41:255–265
3 Rahmen des Akutschmerzes kommt es auch zu einer 10. Feine JS, Lavigne GJ, Thuan Dao TT, Morin C, Lund JP (1998)
Memories of chronic pain and perceptions of relief. Pain 77:
zentralen Sensibilisierung der synaptischen Übertragung
137–141
im Rückenmark und in deren Folge zur Hyperalgesie ge- 11. Fischer TZ, Waxman SG (2010) Familial pain syndromes from
gen mechanische Reize. mutations of the NaV1.7 sodium channel. Ann NY Acad Sci
Wenn Sensibilisierung durch einen intervenierenden 1184:196–207
Reiz ausgelöst wird, der aus einer anderen Modalität 12. Flor H (2000) The functional organization of the brain in chronic
oder von einem anderen Ort stammt als die Testreize, pain. In: Sandkühler J, Bromm B, Gebhart GF (Hrsg) Nervous
system plasticity and chronic pain, progress in brain research.
spricht man von extrinsischer Sensibilisierung. Diese
Elsevier, Amsterdam, S 313–322
Art der Modulation liegt der dynamischen mechanischen 13. Flor H, Fydrich T, Turk DC (1992) Efficacy of multidisciplinary pain
Allodynie und der Reorganisation der rezeptiven Felder treatment centers: a meta-analytic review. Pain 49:221–230
im primären somatosensorischen Kortex zugrunde. Zen- 14. Flor H, Elbert T, Knecht S, Wienbruch C, Pantev C, Birbaumer N,
trale Sensibilisierung und kortikale Reorganisation sind Larbig W, Taub E (1995) Phantom-limb pain as a perceptual
correlate of cortical reorganization following arm amputation.
beim chronischen Schmerz anscheinend besonders aus-
Nature 375:482–484
geprägt. 15. Flor H, Braun C, Elbert T, Birbaumer N (1997) Extensive reorganiza-
tion of primary somatosensory cortex in chronic back pain pa-
> In Analogie zu anderen Lernprozessen muss man
tients. Neurosci Lett 224:5–8
davon ausgehen, dass auch das Schmerzgedächtnis 16. Fordyce WE, Roberts AH, Sternbach RA (1985) The behavioral
verblasst, wenn es nicht durch wiederholte Ereignis- management of chronic pain: a response to critics. Pain 22:
se konsolidiert wird. Die Verhinderung der Konsoli- 113–125
dierung des Schmerzgedächtnisses ist daher eines 17. Gallar J, Pozo MA, Rebollo I, Belmonte C (1990) Effects of
capsaicin on corneal wound healing. Invest Ophthalmol Vis Sci
der Ziele einer rationalen Schmerztherapie.
31:1968–1974
In Analogie zu anderen Gedächtnisformen ist es unwahr- 18. Gillette R, Huang RC, Hatcher N, Moroz LL (2000) Cost-benefit
scheinlich, dass eine Extinktion des Schmerzgedächtnisses analysis potential in feeding behavior of a predatory snail by
integration of hunger, taste, and pain. Proc Natl Acad Sci USA
a priori unmöglich ist. Die Förderung der Extinktion des
97:3585–3590
Schmerzgedächtnisses ist daher ein weiteres rationales 19. Gracely RH, Lynch SA, Bennett GJ (1992) Painful neuropathy:
Therapieziel in der Behandlung von Patienten mit chroni- altered central processing, maintained dynamically by peripheral
schen Schmerzen. input. Pain 51:175–194
20. Jensen MP, Romano JM, Turner JA, Good AB, Wald LH (1999)
Patient beliefs predict patient functioning: further support
for a cognitive-behavioural model of chronic pain. Pain 81:
Literatur 95–104
21. Ji RR, Woolf CJ (2001) Neuronal plasticity and signal transduction
1. Abraham WC (2003) How long will long-term potentiation last? in nociceptive neurons: Implications for the initiation and mainte-
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38 Kapitel 3 · Entstehung der Schmerzchronifizierung

70. Wurmthaler C, Gerbershagen HU, Dietz G, Korb J, Nilges P,


Schillig S (1996) Chronifizierung und psychologische Merkmale
– Die Beziehung zwischen Chronifizierungsstadien bei Schmerz
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pathic pain model. Pain 114:149–159
39 4

Myofasziale Schmerzentstehung
S. Mense

4.1 Einleitung – 40

4.2 Unterschiede zwischen Muskel- und Hautschmerz – 40

4.3 Periphere Mechanismen des myofaszialen Schmerzes – 40


4.3.1 Protonen – 40
4.3.2 Adenosintriphosphat (ATP) – 40
4.3.3 NGF (»nerve growth factor«) – 41
4.3.4 Neuropeptide – 41
4.3.5 Klinische Folgen der Nozizeptoraktivierung im Muskel – 42

4.4 Zentralnervöse Chronifizierungsmechanismen – 42


4.4.1 Sensibilisierung durch nieder frequente postsynaptische Potenziale – 42

4.5 Übertragung von Muskelschmerzen – 43


4.5.1 Myofasziale Triggerpunkte (MTrPs) – 43

4.6 Tonusveränderungen der Muskulatur als Schmerzursache – 43


4.6.1 Das Schmerz-Spasmus-Schmerz-Fehlkonzept – 43

4.7 Die Bedeutung der Fascia thoracolumbalis für


den nichtspezifischen Rückenschmerz – 44
4.7.1 Innervation der Fascia thoracolumbalis der Ratte – 45
4.7.2 Spinale Verarbeitung neuronaler Information
der Fascia thoracolumbalis – 45

Literatur – 45

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DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
40 Kapitel 4 · Myofasziale Schmerzentstehung

Muskelschmerz unterscheidet sich stark vom Hautschmerz. Schmerzursache im Muskel selbst liegt, führen Reflex-
Bei Muskelschmerz treten keine Flexorreflexe auf, und die bewegungen nicht zur Entfernung der Extremität vom
zentrale Verschaltung der Afferenzen von Muskelnozizepto- Schmerzreiz. Diese Unterschiede zeigen, dass die mit
ren ist anders. Muskelnozizeptoren werden durch Bradykinin der Vermittlung von Muskelschmerz befassten Neurone
und Prostaglandine sensibilisiert, die bei Muskelläsionen im Zentralnervensystem (ZNS) anders verschaltet sind
freigesetzt werden. Die Folge ist das Auftreten von Schmer- als die entsprechenden Strukturen für den Hautschmerz.
zen bei leichten Reizen. Eine starke Aktivität von Muskelno- Die Mechanismen des Hautschmerzes dürfen daher
zizeptoren führt zu einer Sensibilisierung von Hinterhorn- nicht ohne Weiteres auf den Muskelschmerz übertragen
4 neuronen. Die Neurone reagieren dann verstärkt auf peri- werden.
phere Reize. Ein Merkmal von Muskelschmerzen ist die
Übertragung der Schmerzen. Übertragung bedeutet, dass
die Schmerzen entfernt von der Muskelläsion empfunden 4.3 Periphere Mechanismen
werden. Das Konzept, dass Muskelschmerz zu Spasmen im des myofaszialen Schmerzes
schmerzenden Muskel führt, ist überholt. Ein schmerzender
Muskel wird zentralnervös abgeschaltet. Beim nichtspezifi- Der Grund für myofasziale Schmerzen liegt meist in einer
schen Rückenschmerz scheint die Fascia thoracolumbalis Erregung von Nozizeptoren durch einen Schmerzreiz.
eine wichtige Rolle als Schmerzquelle zu spielen. Nozizeptoren sind freie Nervenendigungen, die über
marklose oder dünn markhaltige Nervenfasern mit dem
ZNS verbunden sind. Im Muskel werden diese Nervenen-
4.1 Einleitung digungen durch starke mechanische Reize wie Traumen
oder mechanische Überlastung sowie durch eine Vielzahl
Myofaszial bedingte Rückenschmerzen werden zu den von Reizsubstanzen wie z. B. endogene Entzündungs-
sog. nichtspezifischen Rückenschmerzen gerechnet. Die mediatoren (u. a. Bradykinin [BK], Serotonin, Prostaglan-
Ursache für die Schmerzen sind strukturelle oder funk- din E2 [PGE2]) sensibilisiert und erregt. Für den Muskel-
tionelle Störungen in den Weichteilen des Rückens. Der schmerz sind einige chemische Reize besonders bedeut-
etwas unglückliche Begriff »nichtspezifisch« könnte daher sam, nämlich Protonen (H+-Ionen), Adenosintriphosphat
durch »myofaszial« ersetzt werden. Bisher wurde die (ATP) und Nervenwachstumsfaktor (NGF [13]). Protonen
Ursache des nichtspezifischen Rückenschmerzes primär in (Gewebsazidose) und ATP spielen für die Auslösung von
der Muskulatur des Rückens gesehen, neuerdings rücken Hautreiz praktisch keine Rolle.
die Fascia thoracolumbalis und die anderen ligamentären
und faszialen Strukturen des Rückens mehr in das Zent-
rum des Interesses. Über die Schmerzentstehung in der 4.3.1 Protonen
Muskulatur liegen umfangreichere Daten vor als über die
Schmerzhaftigkeit von Faszien. Daher werden in diesem Eine pH-Absenkung im Gewebe ist wahrscheinlich einer
Kapitel zu Beginn muskuläre Schmerzmechanismen dar- der wichtigsten Auslöser für Muskelschmerz, denn viele
gestellt. schmerzhafte Störungen des Muskels sind mit einer
Gewebsazidose verbunden. Schwach saure Lösungen
(pH 6–5) sind effektive Reizstoffe für Muskelnozizeptoren.
4.2 Unterschiede zwischen Muskel- und Solche pH-Senkungen treten bei einer Vielzahl von
Hautschmerz schmerzhaften Störungen der Muskelfunktion auf, z. B. bei
erschöpfender Muskelarbeit, tonischen Fehlhaltungen,
Der Muskelschmerz unterscheidet sich in vielen Aspekten unkoordinierten Kontraktionen unter Stress, reflektori-
vom Hautschmerz. Einige wichtige Unterschiede wurden schen Spasmen und Entzündungen.
bereits 1942 von Thomas Lewis [10] erwähnt. Er beschrieb,
dass Hautschmerz mit Reflexbewegungen und Pulsanstieg
verbunden ist, während Schmerzen von Muskeln, Gelen- 4.3.2 Adenosintriphosphat (ATP)
ken, Faszien und Periost eher Pulsabfall, Schwitzen und
Übelkeit auslösen. ATP kommt in allen Körperzellen vor und wird bei jeder
Der starke Trend zur Übertragung bei Muskelschmerz Gewebsverletzung freigesetzt. In Muskelzellen ist ATP
ist einer der wichtigsten Unterschiede zum Hautschmerz besonders hoch konzentriert, weil es für die Beendigung
(7 Abschn. 4.5). Ein weiterer Unterschied besteht im Feh- der Kontraktion erforderlich ist. Muskelnozizeptoren von
len eines Flexorreflexes beim Muskelschmerz. Der fehlen- Ratten wurden durch Injektionen von ATP in einer
de Flexorreflex ist teleologisch sinnvoll, denn wenn die Konzentration, wie sie in Muskelzellen vorkommt, erregt
4.3 · Periphere Mechanismen des myofaszialen Schmerzes
41 4

Ableitelektrode

1s
Nox. P.
20
10 s
Rezeptives Feld

Imp/s
10
MG

0
a Caput mediale des M. gastrocnemius b Leichter Druck Schmerzhafter Dehnung
Druck

1 min
Impulses/time

c Schmerzhafter Tyrode (25 μl) ATP (7,6 mM, 25 μl)


Druck ThA1

. Abb. 4.1 Identifizierung eines Nozizeptors im M. gastrocnemius-soleus der Ratte und seine Erregung durch ATP. A Registrierung der
Aktionspotenziale von Einzelfasern des GS-Muskelnerven; RF rezeptives Feld der nozizeptiven Endigung im GS-Muskel. Durch Druck auf
dieses Gebiet im Caput mediale des M. gastrocnemius konnte der Rezeptor aktiviert werden. B Identifizierung des Rezeptors als Nozizeptor.
Er reagierte nicht auf Dehnung des Muskels und auf schwachen Druck, sondern benötigte schmerzhaften Druck für seine Aktivierung. Auf
der Ordinate ist die Impulsfrequenz des Rezeptors aufgetragen gegen die Zeit auf der Abszisse. Das obere Teilbild zeigt die Originalregistrie-
rung der Antwort auf den starken Druckreiz; jeder vertikale Strich ist ein Aktionspotenzial. Darunter die geglättete Wiedergabe der Compu-
teraufzeichnung. C Antwort des Nozizeptors auf ATP i.m.; die Pfeile unter der Abszisse geben den Zeitpunkt der Reizung bzw. Injektion an.
Tyrode war das Lösungsmittel für ATP. (Aus Mense [14])

(. Abb. 4.1). Da alle Körperzellen ATP enthalten, wird es 4.3.4 Neuropeptide


oft als universeller Schmerzreiz angesehen [3]. ATP kann
bei Muskeltraumen, bspw. einer Prellung oder einem Viele Nozizeptoren des Muskels enthalten Neuropeptide,
Muskelfaserriss, und anderen pathologischen Alterationen u. a. Substanz P (SP) und »calcitonin gene-related peptide«
des Muskels, wie etwa einer nekrotisierenden Myositis, als (CGRP). Diese Peptide werden bei Aktivierung der Endi-
Schmerzfaktor wirken. gung freigesetzt und verursachen durch Dilatation und
Permeabilitätserhöhung der Gefäße eine lokale Durch-
blutungssteigerung bis hin zum Ödem. Die Neuropeptide
4.3.3 NGF (»nerve growth factor«) werden auch bei der Kompression von Spinalnerven oder
Hinterwurzeln freigesetzt. Bei dieser Form der Rücken-
NGF hat eine enge Beziehung zum Muskelschmerz: NGF schmerzen entstehen Aktionspotenziale an der Kompres-
wird im Muskel synthetisiert und erregt einen besonderen sionsstelle, die sich erstens in Richtung ZNS ausbreiten
Typ von Muskelnozizeptoren, nämlich solche, die über und Schmerzen auslösen und zweitens in die nozizeptive
tetrodotoxinresistente (TTX-resistente) Nervenfasern mit Endigung einlaufen und hier die vasoaktiven Neuropep-
dem ZNS verbunden sind. In einem pathologisch alterier- tide SP und CGRP freisetzen. Auf diese Weise entwickelt
ten Muskel ist die NGF-Synthese gesteigert. sich eine periphere neurogene Entzündung mit Hyper-
ämie, Ödem und Synthese von Entzündungsmediatoren
[12]. Dadurch werden die neuropathischen Schmerzen
verstärkt.
42 Kapitel 4 · Myofasziale Schmerzentstehung

L6 Mittellinie
Effektive (offene) Synapse L5
L4
L3 Becken
Prox. Schwanz

4 Ineffektive
(schlafende)
Synapse
Reizelektrode

M. gastrocnemius-soleus

Intakter Muskel

Einflussgebiet unter Kontrollbedingungen

N. femoralis
Einflussgebiet in Myositis-Tieren

(Akute Myositits, Dauer 2–8 h)

. Abb. 4.2 Ausbreitung einer läsionsbedingten Erregung in Neuronenpopulationen im Rückenmark der Ratte. Der karierte Bereich im
Segment L4 und L5 gibt das normale Einflussgebiet des GS-Nerven wieder (hier können Rückenmarkneurone durch Aktivität im GS-Nerv er-
regt werden). Die gestrichelte Linie markiert das vergrößerte Gebiet 2–8 h nach der Auslösung einer Entzündung im GS-Muskel. Die schwarz
umrandeten Synapsen sind effektiv, d. h., präsynaptisch einlaufende Informationen werden an höhere Zentren weitergeleitet. Die grauen
Synapsen im gestrichelten Gebiet sind ineffektiv und lösen postsynaptisch nur unterschwellige Potenziale aus, die nicht weitergeleitet
werden. Unter dem verstärkten Impulseinstrom aus dem entzündeten Muskel werden die ineffektiven Synapsen aktiv und erregen nun
Neurone in den Segmenten L3 und L6, was in Tieren ohne Muskelentzündung nicht der Fall war

> Muskelschmerz unterscheidet sich subjektiv und 4.4 Zentralnervöse Chronifizierungs-


bezüglich der zentralnervösen Verschaltung grund- mechanismen
legend vom Hautschmerz. So löst Muskelschmerz
im Gegensatz zu Hautschmerz keine Flexorreflexe Dieser Abschnitt behandelt nur solche Mechanismen, die
aus, und die Muskelnozizeptoren werden effektiv von besonderer Bedeutung für nichtspezifische Rücken-
durch Gewebsazidose und ATP erregt. schmerzen sind. Ein Impulseinstrom von Muskelnozi-
zeptoren ins Rückenmark bewirkt eine stärkere Erregbar-
keitssteigerung in sensorischen Hinterhornneuronen als
4.3.5 Klinische Folgen der Nozizeptor- ein nozizeptiver Einstrom von der Haut [17]. Eine an-
aktivierung im Muskel haltende Aktivierung von Muskelnozizeptoren durch eine
experimentelle Myositis des M. multifidus führte im
Die Sensibilisierung der Muskelnozizeptoren durch BK, Rückenmark von Ratten innerhalb weniger Stunden zu
PGE2 und andere Entzündungsmediatoren ist einer der einer Vergrößerung der Neuronenpopulation, die durch
Gründe für die Druckschmerzhaftigkeit und den Be- Aktionspotenziale aus dem entzündeten Muskel erregt
wegungsschmerz bei Patienten mit nichtspezifischem werden konnte [5] (. Abb. 4.2).
Rückenschmerz. Die Sensibilisierung manifestiert sich
klinisch in 2 Phänomenen: Normalerweise schmerzlose
Reize werden schmerzhaft (Allodynie), und Schmerzreize 4.4.1 Sensibilisierung durch nieder-
erzeugen stärkere Schmerzen (Hyperalgesie). Der Haupt- frequente postsynaptische Potenziale
mechanismus für Allodynie und Hyperalgesie ist aber in
der Übererregbarkeit von nozizeptiven Neuronen im ZNS Im Gegensatz zu früheren Annahmen ist keine hoch-
zu sehen. frequente Aktivierung der Hinterhornneurone für deren
4.6 · Tonusveränderungen der Muskulatur als Schmerzursache
43 4
Sensibilisierung notwendig. Aktionspotenziale geringer ten komprimieren Kapillaren, was eine lokale Ischämie mit
Frequenz oder sogar unterschwellige postsynaptische Po- Freisetzung von sensibilisierenden Substanzen bewirkt.
tenziale in den Zellen reichen aus, um sie zu sensibilisieren Diese Hypothese ist allerdings nicht in allen Schritten ge-
[7]. Der Impulseinstrom von Muskelnozizeptoren ins Rü- sichert und lässt noch viele Fragen offen. Eine alternative
ckenmark führt offenbar dazu, dass ursprünglich ineffek- Erklärung besteht in der Bildung von Lecks in der Muskel-
tive (»schlafende«) Synapsen effektiv werden. Eine stum- zellmembran nach einer Überlastung. Durch die Lecks
me Synapse löst im nachgeschalteten Neuron keine Ak- kann Ca++ (extrazelluläre Konzentration etwa 2 mM) in
tionspotenziale aus, sondern nur unterschwellige synapti- die Zelle eindringen und zu lokalen Kontraktionen unter
sche Potenziale. Diese Potenziale werden nicht an höhere dem Leck führen. Für die Kontraktion sind intrazelluläre
Zentren weitergeleitet, können aber spinale Neurone sen- Ca++-Konzentrationen von unter 0,02 mM ausreichend.
sibilisieren. Die von einem MTrP ausgelösten – u. U. in weiter Ent-
Auch Gliazellen (besonders Mikroglia) können durch fernung vom Triggerpunkt auftretenden – übertragenen
Freisetzung von Substanzen wie Tumornekrosefaktor-α Schmerzen führen oft zu einer Fehllokalisation der
(TNF-α) zur Sensibilisierung von zentralen Neuronen bei- Schmerzen durch den Patienten. Der Therapeut muss die
tragen, die Antrieb von Muskelnozizeptoren erhalten [12]. eigentliche Schmerzquelle durch Palpation der Muskulatur
aufsuchen und behandeln.
Beispiele von MTrP-bedingten übertragenen Schmer-
4.5 Übertragung von Muskelschmerzen zen im Rücken zeigt . Abb. 4.3. Wenn man die mehr oder
weniger konstanten Übertragungsmuster kennt, kann
Muskelschmerz hat im Gegensatz zum Hautschmerz eine man durch Druck auf den vermuteten Ort des MTrP die
starke Tendenz zur Übertragung. Schmerzübertragung übertragenen Schmerzen auslösen und so die Diagnose
bedeutet, dass die Patienten die Schmerzen nicht (nur) am bestätigen.
Ort der Muskelläsion empfinden, sondern unter Umstän-
> Schmerzübertragung kommt oft bei Muskelschmerz
den in großer Entfernung davon. Ein möglicher Mechanis-
vor. Übertragene Schmerzen sind Ausdruck von
mus für die Schmerzübertragung besteht in der Ausbrei-
spinalen Umschaltvorgängen und führen zu
tung der durch die Muskelläsion bedingten Erregung im
Fehllokalisationen der Schmerzquelle durch den
Rückenmark [5] (. Abb. 4.2). Sobald die Erregung nozi-
Patienten.
zeptive Hinterhornneurone erreicht, die nicht das Gebiet
der ursprünglichen Muskelläsion, sondern eine andere
Region versorgen, empfindet der Patient übertragene
Schmerzen in dieser anderen Region. Die Schmerzüber- 4.6 Tonusveränderungen der Muskulatur
tragung ist demnach Ausdruck einer veränderten Ver- als Schmerzursache
schaltung im Rückenmark und – im Gegensatz zum proji-
zierten Schmerz – nicht an das periphere Innervationsge- Muskelverspannungen und Spasmen kann man als länger
biet eines Spinalnerven gebunden. In dem in . Abb. 4.2 anhaltende, unwillkürliche Kontraktionen eines Muskels
gezeigten Beispiel wurde die Erregungsausbreitung im definieren (die zentralnervös bedingte Spastizität wird hier
Rückenmark durch eine Entzündung des M. gastrocnemi- nicht behandelt).
us-soleus ausgelöst, sie tritt aber auch bei einer Entzün-
dung des M. multifidus auf.
4.6.1 Das Schmerz-Spasmus-Schmerz-
Fehlkonzept
4.5.1 Myofasziale Triggerpunkte (MTrPs)
Das weitverbreitete Circulus-vitiosus-Konzept der
Die MTrPs sind palpable lokale Verhärtungen im Muskel- Spasmusentstehung postuliert, dass Muskelschmerz zu
gewebe, die bei Bewegungen und Palpation schmerzhaft Spasmen führt, die wieder Muskelschmerz verursachen.
sind. Sie liegen meist im Verlauf eines verspannten Mus- Dieses Konzept muss als obsolet angesehen werden. Die
kelfaserbündels, dem »taut band«. Auch in Rückenmus- meisten Studien zeigen bei Muskelschmerz eine ver-
keln kommen MTrPs vor. Die integrierte Hypothese der minderte – und nicht gesteigerte – Erregbarkeit der
Entstehung von MTrP [14] postuliert, dass durch eine α-Motoneurone, die den schmerzenden Muskel versorgen
Muskelläsion (z. B. Überlastung) die neuromuskulären [9]. Das Circulus-vitiosus-Fehlkonzept ist heute weitge-
Endplatten so geschädigt werden, dass durch überschie- hend durch das »Pain-adaptation-Modell« von Lund und
ßende Freisetzung von Acetylcholin (Ach) kleine Kontrak- Kollegen ersetzt. Es geht davon aus, dass ein schmerzender
tionsknoten unterhalb der Endplatte entstehen. Die Kno- Agonist gehemmt und gleichzeitig der Antagonist über-
44 Kapitel 4 · Myofasziale Schmerzentstehung

Übertragene
Schmerzen
im Iliosakralgelenk

4 Triggerpunkt
im M. iliocostalis
thoracis

a
Triggerpunkt
im M. soleus

Übertragene
Schmerzen

. Abb. 4.3 Von myofaszialen Triggerpunkten (MTrPs) ausgehende übertragene Schmerzen im Rücken. A Der MTrP im M. iliocostalis thoracis
ist nur mit geringen Schmerzen am Ort des MTrP verbunden, führt aber zu übertragenen Schmerzen im gesamten Rücken. B Der MTrP im
M. soleus verursacht ebenfalls nur geringe lokale Schmerzen; der Patient empfindet die stärksten Beschwerden im Iliosakralgelenk

aktiv ist, sodass es zu Kokontraktionen beider Muskeln muskeln mit der Wirbelsäule und der Crista iliaca. Die FTL
kommt [11]. Die Kokontraktion erklärt die klinische Be- setzt sich kranial bis zum Schädel und kaudal bis zur Faszie
obachtung, dass die Kraft eines schmerzenden Muskels des Beins fort. Die Faszie verbindet den M. latissimus dor-
verringert und der Bewegungsablauf verlangsamt ist. Dies si mit den Glutäalmuskeln und koppelt so funktionell den
gilt der Schonung des schmerzenden Muskels. Arm mit dem (kontralateralen) Bein [16].
Muskelverspannungen und Spasmen sind meist nicht Erst in den letzten Jahren ist die FTL als Quelle für
die Ursache, sondern die Folge von Schmerzen. Die Spas- nichtspezifische Rückenschmerzen in der Diskussion. Die
mus auslösenden Schmerzen haben ihren Ursprung nicht Faszie besitzt eine dicke Schicht von kollagenen Faserbün-
in dem verspannten Muskel, sondern in einer schmerzhaf- deln, die als Aponeurose für Rücken- und Bauchmuskeln
ten Läsion eines anderen Muskels oder eines benachbarten dienen und so zur Beweglichkeit des Rumpfs beitragen [2].
Gelenks. In körperlicher Ruhe dient sie zusammen mit den anderen
> Ein schmerzender Muskel wird nicht kontrahiert,
Bändern der Wirbelsäule der mechanischen Stabilität des
sondern zentralnervös gehemmt. Muskelspasmen
Rückens. Wird die Faszie bei Fehlhaltungen chronisch
haben ihre Ursache meist nicht im Muskel selbst,
falsch belastet, werden Umbauprozesse in den kollagenen
sondern in schmerzhaften Veränderungen anderer
Faserbündeln ausgelöst, d. h., die Faszie passt sich plastisch
Muskeln oder benachbarter Gelenke.
den neuen Anforderungen an. Sind die Belastungen zu
groß, kommt es zu Einrissen in der Faszie mit Entstehung
einer sterilen Entzündung und Sensibilisierung von
Nervenendigungen.
4.7 Die Bedeutung der Fascia Für die Schmerzforschung besonders wichtig ist die
thoracolumbalis für den nicht- Frage nach der Innervation des Fasziengewebes. Die
spezifischen Rückenschmerz wenigen publizierten Arbeiten zu diesem Thema wider-
sprechen sich: So konnten Bednar und Mitarbeiter [1]
In der Literatur steht meist die mechanische Funktion der keine rezeptiven Nervenendigungen in der Faszie von
Fascia thoracolumbalis (FTL) im Vordergrund. Sie verbin- Rückenschmerzpatienten finden, während andere Grup-
det den M. latissimus dorsi und einige der flachen Bauch- pen (z. B. [18]) zeigten, dass die FTL innerviert ist. Die für
Literatur
45 4

Aa Faszie der Ratte erhoben wurden. Auch hier waren sowohl


SP 10 μm
CGRP- als auch SP-positive freie Nervenendigungen nach-
weisbar, und der Anteil der sympathischen Fasern und war
auffallend hoch.

4.7.2 Spinale Verarbeitung neuronaler


Information der Fascia
A thoracolumbalis
Subkutanes
Gewebe Eigene Ergebnisse von Neuronen im lumbalen Rücken-
mark der Ratte konnten zeigen, dass Neurone, die auf die
Fascia Reizung der Faszie reagierten, eine starke Antriebskonver-
thoracolumbalis genz aufwiesen. Dies bedeutet, dass ein und dieselbe Zelle
nicht nur von Nozizeptoren der Faszie, sondern auch von
dem darunterliegenden M. multifidus und von der Haut
M. multifidus erregt werden konnte. Darüber hinaus erhielt sie auch An-
100 μm
trieb von nichtnozizeptiven Nervenendigungen. Dies ist
. Abb. 4.4 Freie Nervenendigung am Übergang der Subkutis zur die Verschaltung einer »Wide-dynamic-range-Zelle
oberflächlichen Faszie in der kaudalen Fascia thoracolumbalis der (WDR-Zelle), eines nozizeptiven Neurons. Möglicher-
Ratte. Die Endigung wurde mit Antikörpern gegen SP dargestellt weise ist diese Antriebskonvergenz aus verschiedenen Ge-
(Einsatzbild) und ist daher vermutlich ein Nozizeptor, dessen Axon
weben der Grund für die schlecht lokalisierbare Natur des
SP enthält
nichtspezifischen Rückenschmerzes [15].
Neurone, die durch Reizung der Faszie in Höhe des
den Schmerz relevanten freien Nervenendigungen wurden Wirbelkörpers (WK) L5 erregt wurden, lagen nicht im
aber damals nicht dargestellt. Segment L5, sondern im Segment L2 und höher. In den
Auch für andere Bänder der Wirbelsäule ist eine Inner- Segmenten L5, L4 und L3 wurden keine Neurone mit An-
vation beschrieben worden. Allgemein kann man davon trieb von der kaudalen FTL gefunden. Bei einer experi-
ausgehen, dass alle Faszien und Bänder innerviert sind. mentellen Entzündung des M. multifidus in Höhe von WK
L4/L5 kam es zu einer Ausbreitung der FTL-induzierten
Erregung auch in das Segment L3. Neurone im Segment
4.7.1 Innervation der Fascia L3, die normalerweise keinen Antrieb von den Rezeptoren
thoracolumbalis der Ratte der FTL erhielten, waren bei Tieren mit einer Muskelent-
zündung nun durch die Reizung der Faszie erregbar [6].
Schon mit einer Universalfärbung aller neuronalen Struk- Solch ein Vorgang könnte bei Patienten mit nichtspezifi-
turen konnten wir ein dichtes Netzwerk von Nervenfaser- schem Rückenschmerz das Gefühl einer Schmerzaus-
bündeln in der Faszie nachweisen. Der Einsatz von Anti- breitung hervorrufen.
körpern gegen CGRP und SP machte eine große Zahl von > Die Fascia thoracolumbalis weist eine dichte Inner-
freien Nervenendigungen sichtbar. Die SP-positiven Endi- vation mit nozizeptiven und sympathischen Fasern
gungen werden allgemein als Nozizeptoren angesehen [8] auf. Auch die zentralnervöse Verarbeitung der Im-
(. Abb. 4.4), dies gilt auch für einen Teil der CGRP-positi- pulsaktivität der Faszienrezeptoren spricht für die
ven und freien Endigungen ohne Peptide. Faszie als mögliche Schmerzquelle für den nicht-
Interessant war der hohe Anteil an sympathischen spezifischen Rückenschmerz.
Fasern, von denen viele Netzwerke um Gefäße bildeten.
Diese Fasern sind wahrscheinlich Vasomotoren, d. h., sie
können die Muskulatur der Blutgefäße zur Kontraktion Literatur
bringen und so eine schmerzhafte Ischämie in der Faszie
erzeugen. Dieser Befund könnte erklären, warum Patien- 1. Bednar DA, Orr F, Simon G (1995) Observations on the pathomor-
ten mit nichtspezifischem Rückenschmerz über eine phology of the thoraco-lumbar fascia in chronic mechanical back
pain. A microscopic study. Spine 20:1161–1164
Verstärkung ihrer Schmerzen berichten, wenn sie unter
2. Bogduk N, Macintosh JE (1984) The applied anatomy of the
psychischem Stress stehen [4]. thoracolumbar fascia. Spine 9:164–170
Vorläufige Ergebnisse von Biopsiepräparaten des 3. Burnstock G (2006) Purinergic P2 receptors as targets for novel
Menschen sind weitgehend identisch mit denen, die an der analgesics. Pharmacol Ther 110:433–54
46 Kapitel 4 · Myofasziale Schmerzentstehung

4. Chou R, Shekelle P (2010) Will this patient develop persistent


disabling low back pain? JAMA 303:1295–1302
5. Hoheisel U, Koch K, Mense S (1994) Functional reorganisation in
the rat dorsal horn during an experimental myositis. Pain 59:-
11–18
6. Hoheisel U, Taguchi T, Treede RD et al (2011) Nociceptive input
from the rat thoracolumbar fascia to lumbar dorsal horn
neurones. Eur J Pain. doi: 10.1016/j.ejpain.2011.01.007
7. Hoheisel U, Unger T, Mense S (2007) Sensitization of rat dorsal
4 horn neurones by NGF-induced subthreshold potentials and
low-frequency activation. A study employing intracellular
recordings in vivo. Brain Res 1169:34–43
8. Lawson SN, Crepps BA, Perl ER (1997) Relationship of substance P
to afferent characteristics of dorsal root ganglion neurones in
guinea-pig. J Physiol 505:177–191
9. Le Pera D, Graven-Nielsen T, Valeriani M et al (2001) Inhibition of
motor system excitability at cortical and spinal level by tonic
muscle pain. Clin Neurophysiol 112:1633–1641
10. Lewis T (1942) Pain. MacMillan, London (facsimile edition 1981)
11. Lund JP, Donga R, Widmer CG (1991) The pain-adaptation model:
a discussion of the relationship between chronic musculoskeletal
pain and motor activity. Can J Physiol Pharmacol 69:683–694
12. Marchand F, Perretti M, McMahon SB (2005) Role of the immune
system in chronic pain. Nat Rev Neurosci 6:521–32
13. Mense S (2009) Algesic agents exciting muscle nociceptors. Exp
Brain Res 196:89–100
14. Mense S (2010) Peripheral mechanisms of muscle pain: response
behavior of muscle nociceptors and factors eliciting local muscle
pain. In: Mense S, Gerwin RD (Hrsg) Muscle Pain: Understanding
the mechanisms. Springer Berlin, Heidelberg
15. Simons DG (2004) Review of enigmatic MTrPs as a common cause
of enigmatic musculoskeletal pain and dysfunction. J Electro-
myogr Kinesiol14:95–107
16. Taguchi T, Hoheisel U, Mense S (2008) Dorsal horn neurons
having input from low back structures in rats. Pain 138:119–129
17. Vleeming A, Pool-Goudzwaard AL, Stoeckart T et al (1995) The
posterior layer of the thoracolumbar fascia. Its function in load
transfer from spine to legs. Spine 20:753–758
18. Wall PD, Woolf CJ (1984) Muscle but not cutaneous C-afferent
input produces prolonged increases in the excitability of the
flexion reflex in the rat. J Physiol 356:443–358
19. Yahia L, Rhalmi S, Newman N et al (1992) Sensory innervation of
human thoracolumbar fascia. An immunohistochemical study.
Acta Orthop Scand 63:195–207
47 5

Körperliche Aktivität und


biomechanische Mechanismen
der Schmerzchronifizierung
M.I. Hasenbring, H. Plaas

5.1 Einleitung – 48

5.2 Beziehung zwischen körperlicher Aktivität und Schmerz – 48


5.2.1 Selbstberichtsdaten zur Beeinträchtigung – 48
5.2.2 Objektive Aktivitätsmessung und Schmerz – 48

5.3 Bedeutung von Kontextfaktoren für die Definition


gesundheitsfördernder Aktivität – 49
5.3.1 Körperliche Aktivität im alltäglichen Leben – 50
5.3.2 Körperliche Aktivität im beruflichen Alltag – 50
5.3.3 Körperliche Aktivität im Sport – 51

5.4 Aktivität und Mechanismen der Schmerzverstärkung – 52


5.4.1 Müdigkeit, Schmerz und Motorik – 52
5.4.2 Individuelle Schmerzverarbeitung und körperliche Aktivität – 52

5.5 Wechsel zwischen körperlicher Belastung und Erholung – 53

5.6 Individualisierung der Empfehlungen zu Be-und Entlastung


im Alltag – 54

Literatur – 55

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
48 Kapitel 5 · Körperliche Aktivität und biomechanische Mechanismen der Schmerzchronifizierung

In der Therapie von Kreuz- und Nackenschmerzen ist die zulösen und aufzeigen, wie diese Erkenntnisse therapeu-
rasche Wiederherstellung der körperlichen Aktivität im tisch genutzt werden können.
Alltag ein vorrangiges Ziel für den individuell Betroffenen
wie für die Gesellschaft. Der vorliegende Beitrag beleuchtet
die Schwierigkeit, ein »normales« Maß an Aktivität zu 5.2 Beziehung zwischen körperlicher
definieren, da sowohl Inaktivität als auch Formen von Über- Aktivität und Schmerz
aktivität mit einem erhöhten Risiko chronischer Schmerzen
einhergehen. Basierend auf neurobiologischen Grundlagen Bis heute ist die Beziehung zwischen körperlicher Aktivität
sowie auf klinischer Forschung wird aufgezeigt, welche und Rücken- sowie Nackenschmerz kaum vollständig
Mechanismen die Beziehung zwischen körperlicher Aktivität verstanden. Körperliche Aktivität ist einerseits als Risiko-
5 und Schmerz vermitteln und welche Rolle Lebenskontexte faktor für das Auftreten von muskuloskeletalen Schmerzen
(u. a. Beruf/Hausarbeit, Freizeit/Sport) auf der einen Seite, bekannt, andererseits auch als präventiver oder therapeu-
individuelle Muster der Schmerzverarbeitung auf der tischer Faktor [1]. Ebenso ist aber auch körperliche Inakti-
anderen spielen. Die Autoren empfehlen für verschiedene vität als Risikofaktor für muskuloskeletale Beschwerden
therapeutische Settings (z. B. Physiotherapie, Rehabilitation, bekannt [23]. Für eine Klärung dieser scheinbaren Wider-
Psychotherapie) individualisierte Maßnahmen, die zur Ver- sprüche ist es dabei zunächst sinnvoll, die Methode zu
besserung der Flexibilität zwischen körperlicher Belastung reflektieren, mit der körperliche Aktivität bzw. deren Be-
und Erholung beitragen. einträchtigung gemessen wird [37].

5.1 Einleitung 5.2.1 Selbstberichtsdaten zur


Beeinträchtigung
Aktuelle evidenzbasierte Leitlinien zur Diagnostik und
Behandlung von Kreuzschmerzen, bei denen sich keine Für Patienten mit Rücken- oder Nackenschmerzen steht
Hinweise auf »red flags« ergeben, empfehlen eine mög- neben der eigentlichen Schmerzempfindung die schmerz-
lichst weitgehende Beibehaltung normaler körperlicher bedingte Beeinträchtigung alltäglicher Aktivitäten im Vor-
Aktivität im Fall akuter Schmerzen sowie auch eine mög- dergrund. Die Betroffenen beklagen, dass sie in der Aus-
lichst rasche Wiederaufnahme körperlicher Aktivität bei übung ihrer beruflichen Tätigkeit, aber auch in Hausarbeit
subakuten oder chronischen Schmerzen (NVL [33]). Eine und Freizeit eingeschränkt sind. Dies betrifft rein körper-
Unterbrechung körperlicher Aktivität, z. B. in Form von liche Aktivitäten als auch die sozialen Interaktionen. Em-
Bettruhe, wird bis auf wenige Ausnahmen trotz kurzfristi- pirische Untersuchungen zum Zusammenhang von
ger analgetischer Wirkung abgelehnt, da sich nachweislich Schmerzintensität und subjektiv eingeschätzter Beein-
mittel- und langfristig negative Konsequenzen einstellen trächtigung bestätigen zwar einen positiven linearen Zu-
können. Ähnliche Empfehlungen gelten ebenso für den sammenhang, allerdings konnten schon Crombez et al. [7]
Nackenschmerz (DEGAM [8]). Obwohl die Bedeutung eindrucksvoll zeigen, dass dieser Zusammenhang ver-
körperlicher Aktivität in der Behandlung von Rücken- und gleichsweise gering ausfällt. Das subjektive Empfinden
Nackenschmerzen grundsätzlich anerkannt ist und die schmerzbedingter Beeinträchtigung hängt in höherem
Wiederherstellung normaler Aktivität in der Behandlung Maß mit der emotionalen und gedanklichen Verarbeitung
des chronischen Schmerzes ein entscheidendes Ziel dar- der Schmerzen zusammen als mit dem Schmerz selbst:
stellt [39], kommt es bei der Umsetzung dieser Empfehlun- Menschen mit erhöhter Angst vor Aktivitäten, die Schmer-
gen in der ärztlichen Praxis zu erheblichen Problemen in zen auslösen könnten, sowie der Neigung, Schmerzen als
der Compliance – sowohl auf der Seite der Behandler wie bedrohlich zu interpretieren, zu »katastrophisieren«, ge-
auch auf der Seite der Patienten [28]. ben im Fragebogen eine deutlich höhere Beeinträchtigung
Ursächlich ist damit zu rechnen, dass die sehr komplexe an als Menschen mit geringen Angstwerten.
Beziehung zwischen körperlicher Aktivität und Schmerz,
das lückenhafte Wissen um diese Zusammenhänge sowie
widersprüchliche Befunde zu einer Verunsicherung von 5.2.2 Objektive Aktivitätsmessung und
Betroffenen wie von Behandlern selbst führen. In dem Schmerz
vorliegenden Kapitel wollen wir einen Überblick über das
aktuelle empirische Wissen zum Zusammenhang von Zahlreiche Studien, die in den letzten 10 Jahren körperli-
körperlicher Aktivität und Schmerzen des Muskelskelett- che Aktivität durch Accelerometer objektiv über ein bis
systems geben – mit Schwerpunkt Rücken- und Nacken- mehrere Tage aufgezeichnet haben, konnten dagegen
schmerz – und dabei versuchen, einige Widersprüche auf- überwiegend keinen Zusammenhang zwischen dem Aus-
5.3 · Bedeutung von Kontextfaktoren für die Definition gesundheitsfördernder Aktivität
49 5
maß körperlicher Aktivität und Rückenschmerz nach- Hoch
weisen [21]. Patienten mit chronischem Rückenschmerz
zeigten – oft trotz hoher subjektiver Beeinträchtigung –
nicht weniger Aktivität im Alltag als gesunde, rücken-
Häufigkeit von
schmerzfreie Personen, und das Ausmaß von Rücken- Kreuz- und
schmerz in Patientenstichproben korrelierte nicht mit dem Nackenschmerzen
Ausmaß objektiver Parameter [36].
Erste Befunde deuten an, dass viele Patienten mit
»chronic lower back pain« (CLBP) charakteristische Gering
Schwankungen über den Tag hinweg zeigen. So berichten
Huijnen et al. [25], dass Patienten mit Rückenschmerzen Gering Moderat Hoch
tagsüber ein höheres Maß an körperlicher Aktivität als Ge-
Intensität/Frequenz
sunde zeigten, abends dagegen deutlich weniger. Patienten körperlicher Aktivität
mit solchen Schwankungen berichteten zudem über stär-
. Abb. 5.1 U-Funktion. Theoretische Beziehung zwischen körper-
kere Beeinträchtigung als Patienten ohne Schwankungen. licher Aktivität und Kreuz-/Nackenschmerz. (Mod. nach Abenhaim et
In einer interessanten prospektiven Längsschnittstudie al. [1]; mit freundl. Genehmigung)
fand die Arbeitsgruppe um Janine Verbunt in den Nieder-
landen keine Korrelation zwischen dem aktuellen Ausmaß
an objektiv gemessener körperlicher Aktivität und der U- förmigen Beziehung aufgestellt, der zufolge sowohl ein
subjektiv eingeschätzten Beeinträchtigung, weder im sehr geringes als auch ein sehr hohes Aktivitätsniveau mit
Quer- noch im Längsschnitt [3]. Patienten, die im Lauf stärkeren Rückenschmerzen einhergehen soll (. Abb. 5.1).
eines Jahres nach Ersterhebung eine deutliche Schmerz- Im Jahr 2009 wurde dieser Zusammenhang erstmals
reduktion erlangt hatten, zeigten erwartungsgemäß einen im Rahmen einer populationsbasierten holländischen
Anstieg in ihrem Aktivitätsniveau, allerdings genauso wie Kohorte von 3.364 Personen nachgewiesen, die per Zufall
Patienten, die im selben Zeitraum über keine Linderung aus 8.000 Personen ausgewählt wurde [20]. Über einen
berichteten. Die Änderung des Aktivitätslevels war da- Fragebogen wurden verschiedene Aktivitätsparameter aus
rüber hinaus unabhängig von verschiedenen Parametern den Bereichen der täglichen Routine (Beruf, Haushalt),
allgemeiner körperlicher Fitness. Die subjektive Beein- Freizeit sowie Sport erhoben. Im Einzelnen zeigten so-
trächtigung korrelierte interessanterweise signifikant mit wohl Personen mit überwiegend sitzender Tätigkeit als
dem erlebten Rückgang körperlicher Aktivität seit Beginn auch solche mit körperlich anstrengender Tätigkeit häu-
der Rückenschmerzen. Die Autoren diskutieren die figer chronische Rückenschmerzen, während moderate
Möglichkeit, dass die subjektiv erfasste Beeinträchtigung sportliche Aktivität (1–2,5 h/Woche) mit der geringsten
tatsächlich primär auf der individuellen Bewertung der Rate an chronischen Beschwerden einherging. Bei Ver-
eigenen Aktivität beruht. Das könnte bedeuten, dass ein wendung eines Overallscores der körperlichen Aktivität
Teil der Patienten vor Beginn der Rückenschmerzen ein bestätigte sich ebenfalls die angenommene U-Funktion,
überdurchschnittlich hohes Maß an körperlicher Aktivität ein Zusammenhang, der besonders bei Frauen in der
gezeigt haben (in der Studie nicht erfasst), sodass sie den Altersgruppe 25–45 Jahre sowie für den Bereich der sport-
Rückgang zu einem »normalen« oder durchschnittlichen lichen Betätigung ausgeprägt war.
Level als deutlich beeinträchtigend erleben. Die Befunde > Die Beziehung zwischen körperlicher Aktivität
der Accelerometerstudien machen insgesamt deutlich, und Rückenschmerz wird am ehesten durch eine
dass Patienten mit chronischen Rückenschmerzen hin- U-Funktion beschrieben: Sehr geringe wie auch sehr
sichtlich des Ausmaßes an körperlicher Aktivität keine in hohe Aktivitätslevel erhöhen das Risiko von Rücken-
sich homogene Gruppe darstellen und dass Subgruppen schmerzen.
mit sehr hohem, aber auch sehr niedrigem Aktivitätslevel
zu unterscheiden sind.

Körperliche Aktivität und Schmerz: 5.3 Bedeutung von Kontextfaktoren für


eine U-Funktion? die Definition gesundheitsfördernder
Mit dem systematischen Review über den Zusammen- Aktivität
hang von körperlichem Training und Rückenschmerz von
Campello und Mitarbeitern aus dem Jahr 1996 sowie mit Die Erkenntnis, dass sowohl Patienten mit sehr hohem als
nachfolgenden Publikationen (Campello et al. 1996, auch mit sehr niedrigem Aktivitätslevel verstärkte Schmer-
zit. nach [1]) wurde die Hypothese einer nichtlinearen, zen angeben, macht das Auffinden und Definieren eines
50 Kapitel 5 · Körperliche Aktivität und biomechanische Mechanismen der Schmerzchronifizierung

»normalen« Aktivitätsniveaus außerordentlich schwierig. zen und kehrten rascher an die Arbeit zurück als die-
Die Verwendung ungenauer Formulierungen wie »Beibe- jenigen, denen längere Bettruhe empfohlen worden war.
haltung normaler Aktivität« sollten daher ersetzt werden Interessanterweise fanden allerdings z. B. Wiesel et al. [41]
durch evidenzbasierte Empfehlungen zur Beibehaltung in einer Stichprobe von 80 Militärsoldaten, dass diejeni-
oder Stärkung »gesundheitsförderlicher körperlicher gen, denen Bettruhe verboten war, sich schlechter erholten
Aktivität« [11]. als eine Gruppe, der dies erlaubt wurde, und beleuchteten
Die internationale Task Force on Back Pain [1] macht somit ebenfalls mögliche Kontextfaktoren.
darauf aufmerksam, dass es für den Versuch einer Defini- Einige Studien an Patienten mit Rückenschmerz er-
tion empfehlenswerter körperlicher Aktivität in der fassten die Häufigkeit bestimmter Alltagsaktivitäten, z. B.
Behandlung von Rückenschmerz zunächst wichtig ist, die Sich-vornüber-Beugen, längeres Gehen oder Stehen, und
5 Vielfalt möglicher Kontextfaktoren zu berücksichtigen. Sie fanden, dass diese mit einem Schmerzanstieg einhergin-
empfiehlt eine Klassifikation in die Bereiche gen, andere hingegen, z. B. Sichhinlegen oder Ein-heißes-
1. Mobilität und Aktivitäten im Alltag, Bad-Nehmen, mit einem Schmerzrückgang [29]. In einer
2. regenerative und sportbezogene Aktivitäten, bevölkerungsbasierten Querschnittstudie zeigte sich ein
3. berufliche Aktivitäten. positiver Zusammenhang zwischen alltäglichen körperli-
chen Aktivitäten, quantifiziert nach leichter, moderater
Operationale Definitionen gesundheitsförderlicher Akti- und hoher Anstrengung, und Rückenschmerz [42]. Weite-
vität sollten für diese Bereiche getrennt entwickelt werden. re Studien weisen auf die prädiktive Bedeutung aktivitäts-
abhängiger Rückenschmerzen hin [26, 5], d. h., Patienten,
die angaben, dass ihre akuten Rückenschmerzen bereits bei
5.3.1 Körperliche Aktivität im alltäglichen einfachen Aktivitäten stärker wurden, gaben nach 6 oder
Leben 12 Monaten eher chronische Beschwerden an.
Insgesamt muss man festhalten, dass die Studienlage
Zu den Aktivitäten des alltäglichen Lebens zählen nach zum Zusammenhang von Aktivitäten im Alltag und
Abenhaim et al. [1] Aspekte der allgemeinen Mobilität mit Rücken- oder Nackenschmerz keine allgemeingültigen
den Zuständen des Gehens, Stehens, Sitzens und Liegens Hinweise für ein empfehlenswertes Maß an Aktivität ge-
sowie Alltagsaktivitäten wie z. B. Körperpflege, das Ess- ben, weder hinsichtlich der Qualität möglicher Aktivitäten
verhalten, alltägliche Hausarbeiten. Will man der Frage noch hinsichtlich quantitativer Aspekte. Erschwerend ist
nachgehen, welche qualitativen oder quantitativen Aspek- im Bereich der Alltagsaktivitäten das hohe Maß an Varia-
te mit mehr oder weniger Rücken- oder Nackenschmerz bilität möglicher schmerzverstärkender Aktivitäten. Man
assoziiert sind, um so einer Definition gesundheitsför- kann mit Vorsicht sagen, dass sich ebenfalls ein U-förmi-
dernder Aktivität näher zu kommen, wird deutlich, dass es ger Zusammenhang andeutet mit mehr Beschwerden bei
wiederum an Messinstrumenten mangelt. Zum Einsatz längerer Bettruhe einerseits, aber auch bei bestimmten
kommen meist die oben genannten, auf Selbstbeurteilung Alltagsaktivitäten wie Vornüberbeugen, längerem Gehen
basierenden Methoden, wie z. B. der Oswestry-Frage- oder Stehen oder auch Arbeiten in und am Haus, die mit
bogen, die die subjektiv wahrgenommene schmerzbeding- einem höheren Anstrengungsniveau einhergehen.
te Einschränkung in diesen Aktivitäten erfassen. Ein hohes
Maß an Beeinträchtigung kennzeichnet dabei den Schwe-
regrad einer Rücken- oder Nackenschmerzerkrankung, 5.3.2 Körperliche Aktivität im beruflichen
ein Rückgang der Beeinträchtigung den Erfolg jeweiliger Alltag
Therapiemaßnahmen. Wie in 7 Abschn. 5.2 aufgezeigt,
entspricht dies nicht dem objektiven Aktivitätsmuster. Es Im Kontext beruflicher Aktivitäten werden vor allem spe-
existieren zahlreiche Ansätze, um das Ausmaß eines kli- zifische, körperlich belastende Aktivitäten im Zusammen-
nisch relevanten Therapieerfolgs zu bestimmen, eine De- hang mit Rücken- oder Nackenschmerz untersucht. Die
finition eines normalen Aktivitätslevels liefert jedoch bis Auswahl spezifischer Berufsgruppen, wie z. B. die Alten-
heute keine dieser Studien [1, 35]. Erste Ansätze zu einer pflege, LKW-Fahrer oder Straßenbauarbeiter, ermöglicht
Quantifizierung gibt es zu Teilaspekten wie der der Mobi- es in gewissem Ausmaß, relevante Aktivitätsmuster zu
lität. Abenhaim et al. [1] analysieren 6 klinische Studien standardisieren. Hier zeigt sich, dass Arbeiten, die un-
zum Liegen mit der Quantifizierung des einen Extrems günstige Rückenpositionen beinhalten (z. B. vornüberge-
von Mobilität, der Bettruhe. Verglichen wurde Bettruhe beugte Hebeleistungen in der Altenpflege, langes vorn-
unterschiedlicher Dauer (z. B. 2 oder 6 Tage) oder Bettruhe übergebeugtes Sitzen im LKW), zum Teil gepaart mit
zusammen mit anderen Therapieelementen. Patienten mit starken Vibrationen (Straßenbau) oder dem Heben
weniger Bettruhe erholten sich schneller von den Schmer- schwerer Lasten, mit einer erhöhten Inzidenz akuter
5.3 · Bedeutung von Kontextfaktoren für die Definition gesundheitsfördernder Aktivität
51 5
Rückenschmerzen einhergehen und mit der Stärke der einmal eine sehr zentrale Rolle. Für Gesunde existiert be-
Schmerzen bei chronischem Leiden positiv korrelieren [1, reits eine Reihe empirisch basierter Empfehlungen, die
38]. Zu den zentralen biomechanischen Risikofaktoren für verschiedene Aktivitäten, begonnen beim Gehen über
Nackenschmerzen zählen neben sitzender beruflicher leichte oder schwerere Hausarbeiten bis zu verschiedenen
Tätigkeit vor allem repetitive und Präzisionsarbeiten, sportlichen Aktivitäten, über sog. MET (»metabolic equi-
die mit lang anhaltenden Phasen ununterbrochener valents«) entsprechend der aufzuwendenden Energie
Muskelaktivität einhergehen [10]. quantifiziert [2]. So entspricht 1 MET dem ruhigen Sitzen,
Physisches Overload mit lang anhaltenden unphysio- Gehen auf hartem Untergrund 3 METs und Laufen/
logischen Körperhaltungen sowie häufigen Wiederholun- Jogging etwa 5 METs. Leichte Intensitäten entsprechen
gen finden sich als Risikofaktoren für muskuloskeletale <3,0 METs, moderate 3,0–6,0 METs und starke Intensitä-
Schmerzen vor allem auch im Hochleistungsbereich, z. B. ten entsprechen >6 METs. Wenn eine Person für 30 min
bei professionellen Musikern [4] oder im Leistungssport mit etwa 5 km/h (ca. 3,3 METs) zu Fuß geht, hat sie ca.
(7 Abschn. 5.3 und 7 Kap. 47). Ein besonderes Augenmerk 99 MET-min aufgewandt (3,3 MET x 30 min = 99 MET-
liegt in diesen Berufsgruppen auf der Pausengestaltung, min), wenn sie für 20 min bei etwa 8 km/h (8 METS) joggt,
um akuten Beschwerden vorzubeugen oder die Genesung kommt sie auf 160 MET-min. Die Empfehlungen sehen
nach eingetretener Schädigung zu fördern. Während in der eine wöchentliche Aktivität von etwa 500 MET-min als
allgemeinen Arbeitsmedizin 5-minütige Pausen jeweils Minimum für »intentionale« körperliche Aktivität vor,
1-mal pro Stunde empfohlen werden [27], sollten Musiker die bewusst und zielgerichtet neben der normalen, durch
in den Übungszeiten alle 25 min eine 5-minütige Unter- Beruf und Haushalt geforderten Aktivität aufgebracht
brechung einhalten. In der Folge einer akuten muskulo- wird. Eine Übertragung auf Personen mit bereits einge-
skeletalen Schädigung werden für eine optimale Heilung tretenen Rücken- oder Nackenschmerzen ist allerdings
des Gewebes klare Empfehlungen ausgesprochen nicht ohne Weiteres möglich, da die zugrunde liegenden
(7 Abschn. 5.5). Chan u. Ackermann [4] beklagen aller- Untersuchungen lediglich an Gesunden durchgeführt
dings, dass es für Musiker nicht, wie z. B. für Hoch- wurden [19]; sie lieferten daher keine Erkenntnisse da-
leistungssportler, standardisierte Behandlungsangebote rüber, ob spezifische sportliche Aktivitäten bei Rücken-
gibt, die unmittelbar nach Eintreten akuter Schmerzen oder Nackenschmerz eher schmerzlindernd wirken als
angeboten werden. Musiker sind hier sehr viel mehr auf andere und welche Intensitäten zur Schmerzlinderung
sich selbst gestellt, da sie individuell entscheiden, ob und beitragen.
wann sie eine ärztliche und/oder physiotherapeutische Sportliche Aktivitäten spielen dennoch in der Therapie
Behandlung aufsuchen. Dies gilt in ähnlicher Weise für alle vor allem von subakuten oder chronischen muskulo-
Berufstätigen, wobei sich gezeigt hat, dass nur etwa 19 % skeletalen Schmerzen eine zentrale Rolle, sie werden im
der Berufstätigen bei Auftreten akuter Beschwerden un- 7 Kap. 19, »Physiotherapie«, beschrieben. Einige wenige
mittelbar den Arzt aufsuchen [27]. randomisierte Interventionsstudien zeigen dabei, dass ge-
zieltes gerätegestütztes Training gleichermaßen schmerz-
reduzierend wirkt wie individuelle physiotherapeutische
5.3.3 Körperliche Aktivität im Sport Maßnahmen oder aber die Teilnahme ein einem Aerobic-
Kurs [31]. Erste experimentelle Studien zeigen auch, dass
Wie sich bereits in der erwähnten Studie von Heneweer et z. B. aerobe sportliche Aktivität, wie das oben genannte
al. [20] (7 Abschn. 5.2.2) zeigte, gilt eine U-förmige Bezie- 30-minütige Laufen, zu einer Anhebung der individuellen
hung zwischen körperlicher Aktivität und Rücken- oder Schmerzschwellen führt – gemessen über experimentelle
Nackenschmerzen vor allem auch für sportliche Aktivitä- Druckschmerzreizung. Dies gilt für Gesunde und nach
ten. In ihrer populationsbasierten Studie fanden die Auto- dem bisherigen Kenntnisstand auch für Patienten mit
ren, dass weniger als 1 h sportlicher Tätigkeit pro Woche, wenig beeinträchtigenden Rückenschmerzen. Allerdings
aber auch mehr als 2,5 h eher mit Schmerzen einhergingen wurde auch gezeigt, dass bei schwer chronifizierten
als ein dazwischen liegender Trainingsumfang. Daher ist muskuloskeletalen Schmerzen, wie etwa der Fibromyalgie,
es nicht überraschend, dass die Prävalenz chronischer dieser Effekt ausbleibt oder dass es sogar zu einer Senkung
Rückenschmerzen bei Hochleistungssportlern mindestens der Schmerzschwellen und damit einer Intensivierung der
genauso hoch ist wie in der Allgemeinbevölkerung, vor Schmerzen kommt [34].
allem in Sportarten, die mit spezifischen, den Rücken oder > Die Definition von gesundheitsfördernder Aktivität
Nacken betreffenden Belastungshaltungen einhergehen hängt von Kontextfaktoren wie Beruf/Haushalt,
(7 Kap. 47). Freizeit oder Sport ab.
Sportliche Aktivitäten spielen für die allgemeine
Fitness, Gesunderhaltung und Lebensqualität zunächst
52 Kapitel 5 · Körperliche Aktivität und biomechanische Mechanismen der Schmerzchronifizierung

5.4 Aktivität und Mechanismen Muskels [6] und vermittelt über zentrale oder periphere
der Schmerzverstärkung Mechanismen. Im Laufe anhaltender oder repetitiver
»low-force tasks« im experimentellen Setting kommt es zu
Ein charakteristisches Merkmal sog. nichtspezifischer einer erhöhten wahrgenommenen Anstrengung sowie zu
Rücken- oder Nackenschmerzen ist ihr häufig schleichen- einer Reduktion an Maximalkraft. In der Elektromyografie
der Beginn sowie die zeitliche Verzögerung zwischen einer motorischer Einheiten zeigen sich ein Anstieg der Ampli-
möglichen körperlichen Fehlbelastung und dem Auftreten tude sowie ein Abfall in der Frequenz. Eine physiologische
der Schmerzen [6]. Die Schmerzen sind einerseits nicht Hypothese, bekannt geworden als Cinderella-Effekt,
eindeutig einem Auslöser zuzuordnen, andererseits ist besagt, dass niedrigschwellige Typ-1-Muskelfasern, die
häufig keine physische Struktur eindeutig so geschädigt, während einer »low-force task« als Erste rekrutiert werden,
5 dass dies in der ambulanten ärztlichen Praxis zuverlässig für lange Zeit aktiviert bleiben [22] und schließlich bei
entdeckt werden könnte. Bei körperlicher Inaktivität wie Überlastung verletzt werden. Ein anderer Effekt anhalten-
auch bei Überaktivität ist davon auszugehen, dass die der Belastung ist die zunehmende Kokontraktion agonis-
ablaufenden Prozesse, begonnen bei einem spezifischen tisch-antagonistischer Muskelpaare. In einer Serie laborex-
Verhalten über dadurch ausgelöste anhaltende oder repe- perimenteller Studien konnten u. a. Cote u. Hoeger Be-
titive physiologische Prozesse bis hin zu einer Schädigung ment [6] zeigen, dass z. B. bei anhaltendem Hämmern oder
und dem Auftreten von Schmerzen, in einem Zeitfenster Sägen eine geringer werdende Amplitude am Ellbogen
ablaufen, das das Erkennen dieser Kontingenzen sehr er- durch einen Anstieg im Bereich des Rumpfs kompensiert
schwert. wurde. Kompensationsleistungen distaler Muskelareale
Im Fall körperlicher Inaktivität wie z. B. bei zu langer waren bei Patienten mit Schulterschmerzen ausgeprägter
Bettruhe, aber auch bei dauerhaftem Verzicht auf ehemals als bei Gesunden. Die globale Aufgabenstellung sowie die
ausgeübten Sport bis hin zum Verzicht auf jegliche Be- vorgegebene Dauer wurden dabei aber von allen Pro-
wegung, z. B. Spazierengehen oder Treppensteigen, kommt banden eingehalten.
es über längere Zeiträume hinweg zu einer Verringerung Wird im Verlauf dieser Tätigkeiten experimentell, z. B.
der muskulären und kardiovaskulären Fitness. Eine atro- pharmakologisch, Schmerz induziert, kommt es in
phierte Muskulatur reagiert aufgrund neurophysiologi- verstärktem Maß zu kompensatorischen motorischen
scher Sensibilisierungsprozesse bei normaler Belastung Aktivitäten, wobei chronische Schmerzpatienten eine
vorschnell schmerzhaft (s. auch 7 Kap. 3), was einen deutlich reduzierte Variabilität in ihrem motorischen Ant-
Circulus vitiosus auslöst und unterhält. wortverhalten zeigen im Vergleich zu Gesunden [43]. Die
Im Fall körperlicher Überaktivität weisen dagegen Autoren gehen davon aus, dass sich ein Kreislauf schließt
zahlreiche Studien auf die Bedeutung langanhaltender zwischen andauernden/repetitiven körperlichen Aktivitä-
körperlicher Belastung von geringerer Intensität hin, die ten von geringerer Intensität, nachfolgender muskulärer
Muskeln, Bänder, Faszien, Gelenke und Bandscheiben Müdigkeit, umfangreichen Kompensationsleistungen
affizieren (7 Kap. 2; 7 Kap. 4) können. Diese Belastungs- durch Koaktivierung antagonistischer Strukturen sowie
haltungen wurden dabei nicht nur als Risikofaktoren für allmählich einsetzenden geringfügigen Verletzungen mus-
Rücken- oder Nackenschmerzen nachgewiesen, sondern kulärer und angrenzender Strukturen. Schmerzen treten
auch für Müdigkeit, die als sog. »low force fatigue« wiede- somit deutlich zeitverzögert auf und sind in der subjek-
rum selbst als Risikofaktor für arbeitsbedingte Verletzun- tiven Wahrnehmung nur schwer spezifischen Tätigkeiten
gen und nachfolgende Schmerzen aufgezeigt wurde zuzuordnen. Hodges u. Smeets haben diese Zusammen-
(Hagberg 1984, zit. nach [6]). hänge in einem multifaktoriellen Adaptationsmodell zu-
> Ein charakteristisches Merkmal sog. nichtspezifi-
sammengefasst: Es bringt zum Ausdruck, dass zahlreiche
scher Rücken- oder Nackenschmerzen ist ihr häufig
motorische Programme, die kurzfristig Entlastung mit sich
schleichender Beginn und die zeitliche Verzögerung
bringen und so die Vollendung einer spezifischen Aufgabe
zwischen einer körperlichen Fehlbelastung und
ermöglichen, langfristig zu Schädigungen im Muskel-
dem Auftreten von Schmerzen.
skelettsystem führen können [24].

5.4.2 Individuelle Schmerzverarbeitung


5.4.1 Müdigkeit, Schmerz und Motorik und körperliche Aktivität

Müdigkeit wird definiert als die Reduktion funktionaler Diese neurophysiologischen Adaptationsprozesse, die
Kapazität, z. B. Kraft und Ausdauer eines Muskels, hervor- kurzfristig zum Ziel haben, ermüdete oder verletzte physi-
gerufen durch anhaltenden oder repetitiven Gebrauch des sche Strukturen zu schützen, stehen unter dem Einfluss
5.5 · Wechsel zwischen körperlicher Belastung und Erholung
53 5
zahlreicher kognitiv-affektiver und behavioraler Prozesse, über adaptivem Verhalten konnte in ersten prospektiven
die bewusst oder unbewusst ablaufen können. In kognitiv- Studien an Patienten mit akuten/subakuten Rücken- oder
behavioralen Modellen der Schmerzverarbeitung, wie z. B. Beinschmerzen belegt werden [13, 16].
den verschiedenen Versionen des Fear-avoidance- Modells In einer Reihe von Accelerometerstudien konnte
oder im Avoidance-endurance-Modell (AEM; s. auch darüber hinaus gezeigt werden, dass Patienten 6 Monate
7 Kap. 17) [12], wird zunächst beschrieben, wie – vermit- nach Operation eines primären Bandscheibenvorfalls
telt über Prozesse des klassischen Konditionierens – mit deutlich mehr körperliche Belastungshaltungen bei mehr
Furcht assoziierte Warnsignale präventiv Adaptations- Schmerzen zeigten (häufigeres Sitzen oder Stehen in gera-
prozesse im motorischen Apparat auslösen können, und der oder vornübergebeugter Haltung), wenn sie Zeichen
zwar auch schon, bevor Schmerzen aufgetreten sind [18]. einer suppressiven Schmerzverarbeitung aufwiesen – dies
Das motorische System kann hier reflektorisch reagieren im Vergleich zu Patienten mit adaptiver Verarbeitung.
(z. B. beim Gehen einen Schongang entwickeln), Men- Patienten mit einer ausgesprochen ängstlich-meidenden
schen können aber auch bewusst und planmäßig solchen Verarbeitung zeigten dagegen hochsignifikant weniger
motorischen Aktivitäten aus dem Weg gehen, von denen Belastungshaltungen [15, 36]. Das Aktivitätsniveau von
sie annehmen, dass sie Schmerzen auslösen. Langfristig Patienten mit adaptiver Schmerzverarbeitung lag in einem
kann es dazu kommen, dass ein Patient mit anhaltenden mittleren Bereich zwischen den genannten Extremgrup-
Rücken- oder Nackenschmerzen alle möglichen Aktivitä- pen, ebenso das Niveau der Schmerzen. Die subjektiv
ten meidet, wie z. B. Sport, spezifische berufliche Tätig- wahrgenommene Beeinträchtigung (»disability«) war
keiten oder auch nur das einfache Spazierengehen, um dagegen bei diesen Patienten am geringsten ausgeprägt.
keine Schmerzen aufkommen zu lassen. Zunehmende Patienten mit adaptiver Verarbeitung zeichnen sich psy-
körperliche Inaktivität führt langfristig zu verschiedenen chologisch durch moderate Ausprägungen im Vermeiden
Facetten eines Disusesyndroms mit atrophierter Muskula- wie auch im Durchhalteverhalten aus. Das AEM geht da-
tur und mangelnder Fitness [40] und einer daraus resul- von aus, dass diese Patienten relativ flexibel mit körper-
tierenden verminderten körperlichen Belastbarkeit (vgl. licher Be- und Entlastung auf ihre Schmerzen reagieren
7 Abschn. 5.4). und dadurch einen zu erwartenden Heilungsprozess be-
Das AEM beschreibt darüber hinaus aber auch die fördern.
gegenläufige suppressive Verhaltenstendenz, trotz Schmer- > Individuelle Muster der Schmerzverarbeitung,
zen spezifische körperliche Aktivitäten aufrechtzuerhalten. z. B. rigide Formen von ängstlichem Meiden oder
Ein suppressiver Umgang mit Schmerzen zeigt sich einer- forciertem Durchhalten, gehen mit zu geringer oder
seits in sog. automatischen Gedanken (Durchhalteappel), zu hoher körperlicher Aktivität einher.
indem der Betroffene versucht, Gedanken, die durch den
Schmerz ausgelöst werden (»Du solltest eine Pause ma-
chen«, »Ich kann nicht mehr«), oder aber die Schmerz-
empfindung selbst zu unterdrücken (»Du kannst heute 5.5 Wechsel zwischen körperlicher
Abend ausruhen«, »Stell dich nicht so an«). Im Verhalten Belastung und Erholung
zeigt sich ein suppressiver Umgang, indem Aktivitäten
trotz Müdigkeit und Schmerzen weitergeführt werden, ggf. Psychische Flexibilität im Umgang mit Schmerzen im
durch ein Medikament gelindert, häufig bis »es nicht mehr Alltag wird in der Schmerzforschung mehr und mehr als
geht«, wobei dies bedeutet, dass bereits eine weitgehende ein zentral bedeutsamer, gesundheitsförderlicher Aspekt
oder völlige Erschöpfung eingetreten ist. Wenn dieses angesehen [32]. Patienten, die eher flexibel reagieren und
Verhaltensmuster dazu führt, dass »low force activities« sowohl Schmerzvermeidung als auch suppressive Schmerz-
andauernd oder repetitiv trotz starker Schmerzen – und verarbeitung in einem moderaten Ausmaß zeigen, ent-
evtl. trotz starker Müdigkeit – aufrechterhalten werden, ist wickeln weniger chronische Schmerzen im ambulanten
zu erwarten, dass es zu Mustern »suboptimaler motori- Setting [16] und nach stationärer Behandlung [15, 36] als
scher Kontrolle« [24] kommt; diese blockieren zum einen Patienten mit rigiden maladaptiven Verarbeitungsformen.
Heilungsprozesse nach Eintreten akuter Schmerzen und Der Wechsel körperlicher Be- und Entlastung sowie
können zum anderen weitere Schädigungen im motori- speziell das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Er-
schen Apparat nach sich ziehen. Das AEM nimmt darüber holungspausen ist vor allem für Tätigkeiten mit anhalten-
hinaus an, dass ein adaptives Schmerzverhalten einen der und/oder repetitiv ablaufender körperlicher Aktivität
ausgewogenen und flexiblen Wechsel zwischen Be- und gegeben. Es geht darum, Übermüdung, nachfolgenden
Entlastungshaltungen umfasst, der Heilungsprozesse im Verletzungen und Schmerzen vorzubeugen. Am ein-
Positiven fördert. Die Maladaptivität ausgeprägten Ver- deutigsten zu identifizieren sind solche Aktivitäten in Be-
meidungs- oder suppressiven Schmerzverhaltens gegen- reichen wie dem Hochleistungssport, bei professionellen
54 Kapitel 5 · Körperliche Aktivität und biomechanische Mechanismen der Schmerzchronifizierung

Musikern sowie in der allgemeinen Arbeitsmedizin. Im Im allgemeinen arbeitsmedizinischen Bereich liegen


Leistungssport und beim aktiven Musizieren gehören dagegen nur bruchstückhaft entsprechende Empfehlungen
konstante statische Körperhaltungen und/oder repetitive für die Pausengestaltung vor. So werden für den normalen
Bewegungsabläufe zum alltäglichen Training, um höchst- Alltag in Berufen mit langen Phasen repetitiver Tätigkeit
mögliche Leistung bzw. Perfektion in den muskulären 5-minütige Pausen pro Stunde empfohlen, um übermäßi-
Abläufen selbst zu erbringen. Im Arbeitsalltag erfordern gem physischen Stress für die Muskulatur vorzubeugen
eine Reihe von Berufen spezifische Belastungshaltungen [27]. Für die Zeit nach einem Reha-Aufenthalt und länge-
(u. a. LKW-Fahrer, Arbeiten am PC) oder Bewegungsab- rem Arbeitsausfall sind Formen stufenweiser Wiederein-
läufe (u. a. am Fließband, Arbeiten am PC), die einer be- gliederung möglich. Diese beziehen sich jedoch in der
stimmten Aufgabenstellung dienen und ebenfalls oft unter Regel auf die gesamte Arbeitszeit pro Tag und/oder Woche
5 Leistungsanforderungen stehen. In all diesen Bereichen und weniger auf die Pausengestaltung im Arbeitsablauf.
sind entsprechende motorische Abläufe prinzipiell der
Außenbeobachtung zugänglich und damit quantifizierbar
und messbar. 5.6 Individualisierung der Empfehlungen
zu Be-und Entlastung im Alltag
Tipp
In den meisten Berufen sind die erforderlichen Bewe-
In der Therapie sollte die Fähigkeit zu einem flexiblen
gungsabläufe nicht so normiert wie etwa am Fließband
Wechsel zwischen Belastung und Erholung gefördert
oder beim Führen eines Lastkraftwagens. Dies gilt in noch
werden.
größerem Maß für nicht erwerbstätige Menschen, deren
Alltag primär von Hausarbeit geprägt ist. Lange Zeiten, in
Ziel der Erarbeitung einer Pausengestaltung ist dabei die denen Menschen konstante körperliche Belastungshaltun-
Optimierung der zu erbringenden Leistung bei gleich- gen (langes Stehen oder Sitzen vor allem in vornüber-
zeitiger Vermeidung von Verletzungen und dadurch gebeugter Haltung) und/oder repetitive Bewegungen aus-
bedingten Schmerzen. Ist es bereits zu schmerzhaften Ver- führen, sind hier wahrscheinlich eher durch individuelle,
letzungen gekommen, geht es um eine Optimierung des habituell verankerte Verhaltensmuster bedingt – wie die
Heilungsprozesses, d. h. um eine schnellstmögliche, aber oben genannten Schmerzverarbeitungsformen – als allein
auch vollständige Ausheilung affizierter Strukturen. So durch objektive Vorgaben.
führen z. B. Chan u. Ackermann [4] eine Reihe von Unter- Der individuelle Umgang mit körperlichen Aktivitäten
suchungen an, die zeigen, dass Musiker in ihren alltägli- bei Eintreten von Schmerzen hängt in starkem Maße von
chen Übungseinheiten einen Wechsel des aktiven Musizie- operanten Lernvorgängen ab. Positive Konsequenzen (u. a.
rens von etwa 25 min und einer 5-minütigen Pause einhal- Lob, Anerkennung) sowie das Ausbleiben oder die Ver-
ten sollten. Die Pausengestaltung sollte sich dabei an die ringerung negativer Konsequenzen (z. B. die Verringerung
Dauer und den individuellen Schwierigkeitsgrad anpassen: oder das Ausbleiben von Furcht/Angst vor Schmerzen
Die Häufigkeit dieser kurzen Pausen sollte bei ansteigen- einerseits, von Tadel, Strafen andererseits) führen dazu,
dem Schwierigkeitsgrad erhöht werden, bei längeren dass ein entsprechendes Verhalten als erfolgreich erlebt
Übungssequenzen sollten auch die Pausenzeiten verlän- wird und mit zunehmender Häufigkeit gezeigt wird. Das
gert werden (z. B. 10- bis 15-minütige Pausen bei einer Vermeiden von potenziell schmerzauslösenden Aktivitä-
Übungsdauer von 45 bis 60 min). Eine besondere Auf- ten wird daher häufig dadurch negativ verstärkt, dass
merksamkeit mit veränderter Relation zwischen Be- und Furcht vor Schmerz oder der Schmerz selbst verringert
Entlastung kommt darüber hinaus der Zeit nach einer wird. Patienten mit suppressiver Schmerzverarbeitung
Verletzung zu. Es wird empfohlen, je nach Verletzungs- haben häufig in stärkerem Maß Angst vor negativen
schwere Ruheperioden zwischen 3 und 7 Tagen einzuhal- Konsequenzen z. B. im beruflichen oder privaten Umfeld,
ten, während derer vorsichtige, allmählich sich steigernde sollten sie wegen ihrer Schmerzen bestimmte Aktivitäten
Bewegungsübungen wieder aufgebaut werden, um einer nicht ausführen können (Angst vor Tadel vom Vorgesetz-
Gewebeatrophie vorzubeugen. Wird mit dem Spielen wie- ten, Angst, keine »gute Hausfrau« zu sein). Es entstehen
der begonnen, werden sehr kurze Wechsel von z. B. einem positive (unbedingt »gute« Leistungen erbringen zu
5 min langem Spiel und einer 5-minütigen Pause empfoh- wollen) oder negative Motivationslagen (Furcht vor Tadel,
len. Mit zunehmender Gewebeheilung werden die aktiven Misserfolg), aus denen heraus körperliche Aktivitäten
Phasen des Spiels wieder verlängert. Es geht somit zentral weitergeführt werden, auch wenn sie bereits Müdigkeit
darum, eine Balance zu finden, bei der einerseits weitere oder Schmerz auslösen [18].
Gewebeschädigungen vermieden werden, andererseits Diese Zusammenhänge machen deutlich, dass die
einer Gewebeatrophie vorgebeugt wird. Untersuchung von Prozessen der Schmerzverarbeitung
Literatur
55 5
nicht damit auskommt, den Schmerz selbst als einzigen solche Konzeption wurde bereits 2001 umfangreich disku-
Fokus für individuelles Denken und Handeln anzusehen. tiert [30], erste positive Erfolge zeigen sich im Rahmen
Das Auftreten von Schmerzen im Alltag steht immer in randomisierter Studien in der Allgemeinmedizin [17].
Konkurrenz mit gerade aktuellen Alltagsanforderungen in Aktuell fehlen hier vor allem gut kontrollierte Studien an
Beruf, Haushalt oder Freizeit. Müdigkeit und Schmerzen großen Patientenzahlen sowohl im primärärztlichen als
erfordern eine zumindest kurzfristige Unterbrechung der auch im physiotherapeutischen Setting.
Aktivitäten, insbesondere wenn diese selbst schmerzaus-
lösend oder verstärkend sind. Demgegenüber beansprucht
die Erfüllung von Alltagsanforderungen ihre unmittelbare Literatur
Fortsetzung. Menschen lernen in unterschiedlicher Weise,
mit diesen Konfliktlagen umzugehen [9]. 1. Abenhaim L, Rossignol M, Valat JP et al (2000) The role of activity
in the therapeutic management of back pain. Report of the
Tipp International Paris Task Force on Back Pain. Spine 25:1–31
2. Ainsworth B, Haskell WL, White MC et al (2000) Compendium of
physical activities: an update of activity codes and MET intensi-
In der ärztlichen, physio- oder psychotherapeutischen
ties. Med Sci Sports Exerc 32(S):498–504
Praxis empfiehlt sich eine Individualisierung der Maß- 3. Bousema EJ, Verbunt JA, Seelen HAM et al (2007) Disuse and
nahmen, basierend auf einem Screening individueller physical deconditioning in the first year after the onset of back
Schmerzverarbeitung. pain. Pain 130:279–86
4. Chan C, Ackermann B (2014) Evidence-informed physical
therapymanagement of performance-related musculoskeletal
In Lebensbereichen, in denen eine Pausengestaltung nicht disorders in musicians. Front Psychol 5:706
sinnvoll objektiv normiert werden kann, empfiehlt sich 5. Coste J, Delecoeuillerie G, Cohen de Lara A, Le Parc JM, Paolaggi
daher eine zunehmende Individualisierung. Ein erster JB (1994) Clinical course and prognostic factors in acute low back
pain: An inception cohort study in primary care practice. BMJ
Zugang bietet sich gegenwärtig mit der Feststellung indivi-
308:577–80
dueller Muster der Schmerzverarbeitung: Patienten mit 6. Cote JN, Hoeger Bement MK (2010) Update on the relation be-
einem ausgeprägt ängstlich-meidenden Schmerzverhalten tween pain and movement: consequences for clinical practice.
sollten Zeiten der körperlichen Aktivität deutlich erhöhen, Clin J Pain 26(9):754–762
dabei dennoch bewusst die Pausengestaltung erlernen. 7. Crombez G, Vlaeyen JW, Heuts PH, Lysens R (1999) Pain-related
fear is more disabling than pain itself: evidence on the role
Patienten mit einem rigiden suppressiven Muster sollten
of pain-related fear in chronic back pain disability. Pain 80:
Zeiten der körperlichen Belastung verkürzen und häufiger 329–339
kurze Pausen einhalten. Kognitiv-verhaltenstherapeu- 8. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familien-
tische Prinzipien, die auf dieser Form der Individualisie- medizin (2009) Nackenschmerz, DEGAM-Leitlinie Nr. 13.
rung aufbauen, haben sich in ersten randomisierten Studi- Düsseldorf, Omicron Publishing
9. Goschke T, Dreisbach G (2008) Conflict-triggered goal shielding:
en als sehr effektiv dabei erwiesen, die Schmerzbelastung
response conflicts attenuate background monitoring for pro-
zu reduzieren und einer Chronifizierung vorzubeugen spective memory cues. Psychol Sci 19(1):25–32
[14]. Ein weiterer Schritt der Individualisierung besteht in 10. Hanvold TN, Waersed M, Veiersted KB (2012) Long periods with
der Abschätzung der habituellen Verankerung eines un- uninterrupted muscle activity related to neck and shoulder pain.
günstigen Schmerzverhaltens. Wir können davon ausge- Work 41:2535-2538
hen, dass die oben beschriebenen Prozesse der klassischen 11. Hasenbring MI, Pincus T (2015) Effective reassurance in primary
care of low back pain: what messages from clinicians are most
und operanten Konditionierung bei Patienten mit chroni-
beneficial at early stages of LBP? Clin J Pain 31(2):133–136. doi:
schen, zum Teil langjährigen Schmerzen zu einer außeror- 10.1097/AJP.0000000000000097
dentlichen Stabilisierung und damit Löschungsresistenz 12. Hasenbring MI, Verbunt JA (2010) Fear-avoidance and endurance-
des Verhaltens geführt haben. Änderungsversuchen stellen related responses to pain: new models of behavior and their
sich vielfältige kognitiv-affektive Barrieren entgegen [44], consequences for clinical practice. Clin J Pain 26:747–53
13. Hasenbring M, Marienfeld G, Kuhlendal D, Soyka D (1994) Risk
die sehr wahrscheinlich nur durch individuelle und lang-
factors of chronicity in lumbar disc patients. A prospective
zeitlich durchzuführende kognitiv-behaviorale Therapien investigation of biologic, psychologic, and social predictors of
beeinflussbar sind. In frühen Stadien einer Schmerz- therapy outcome. Spine 19(24):2759–2765
chronifizierung dagegen ist damit zu rechnen, dass diese 14. Hasenbring M, Ulrich HW, Hartmann M, Soyka D (1999) The ef-
Muster noch relativ leicht durch geeignete Aufklärung und ficacy of a risk factor based cognitive behavioral intervention and
EMG-biofeedback in patients with acute sciatic pain: an attempt
Edukation verändert werden können. Als Zugang bieten
to prevent chronicity. Spine 24(23):2525–2535
sich hier edukative Interventionen an, basierend auf einem 15. Hasenbring MI, Plaas H, Fischbein B, Willburger R (2006) The
Screening der individuellen Schmerzverarbeitung, die relationship between activity and pain in patients 6 months
sowohl in die ärztliche Praxis als auch z. B. in physiothera- after lumbar disc surgery: do pain-related coping modes act as
peutische Behandlungen integriert werden können. Eine moderator variables? Eur J Pain 10:701–709
56 Kapitel 5 · Körperliche Aktivität und biomechanische Mechanismen der Schmerzchronifizierung

16. Hasenbring MI, Hallner D, Klasen B, Streitlein-Böhme I, Willburger R, leitlinie Kreuzschmerz. http://www.leitlinien.de/nvl/
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characteristics and outcome at a 6-month follow-up. Pain endogenous analgesia during exercise in patients with chronic
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17. Hasenbring MI, Hallner D, Klasen BW, Streitlein-Böhme I, 205–213
Willburger R, Rusche H (2012) Pain Risk-Screening-based cogni- 35. Perruchoud C, Buchser E, Johanek LM, Aminian K, Paraschiv-
tive-behavioral approaches (PARIS-CBA) for subacute LBP: results Ionescu A, Taylor RS (2014) Assessment of physical activity pf
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Poster presented at the 14th World Congress on Pain, Milan, Italy 36. Plaas H, Sudhaus S, Willburger R, Hasenbring MI (2014) Physical
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57 6

Risikofaktoren und
psychobiologische Mechanismen
der Chronifizierung
M. Pfingsten

6.1 Einleitung – 58

6.2 Wissenschaftliche Evidenz zu Risikofaktoren – 58


6.2.1 Geschlecht – 59
6.2.2 Sozioökonomischer Status – 60
6.2.3 Berufliche Situation und Arbeitsplatz – 60
6.2.4 Lebensstilfaktoren – 61
6.2.5 Psychologische Faktoren – 61
6.2.6 Iatrogene Faktoren – 63

6.3 Berücksichtigung in Leitlinien – 64

6.4 Fazit – 64

Literatur – 65

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
58 Kapitel 6 · Risikofaktoren und psychobiologische Mechanismen der Chronifizierung

Die Chronifizierung von Schmerzen ist ein großes Problem, An Schmerzzeichnungen von betroffenen Patienten lässt
ihre Verhinderung daher anzustreben. Prinzipiell ist davon sich der deutliche Unterschied zwischen akuten und chro-
auszugehen, dass die Chronifizierung von Rückenschmerzen nischen Schmerzen gut darstellen (. Abb. 6.1): Eines der
durch ein komplexes Zusammenwirken zahlreicher Ein- hervorstechendsten Merkmale ist die lokale Ausweitung
flussgrößen aus sehr unterschiedlichen Merkmalsbereichen der schmerzhaften Körperregionen, die mit zunehmender
zustande kommt. Es liegt für den individuellen Fall ver- Schmerzdauer eine immer größere Körperfläche einneh-
mutlich eine Summation von Risikofaktoren aus verschie- men.
denen Bereichen vor, sodass ihre frühzeitige individuelle Chronischer Schmerz ist deutlich schwerer behandel-
Identifikation einen besonders großen Stellenwert hat. bar und verursacht hohe Kosten. Chronizität beginnt in
Ziel ist es, Personen mit einem hohen Chronifizierungs- den meisten Fällen ursprünglich mit einem akuten
risiko durch psychosoziale Faktoren frühzeitig zu identi- Schmerz, sodass es naheliegend ist, nach Möglichkeiten
fizieren und sie ggf. einer spezifischen Behandlung zu suchen, die Entwicklung chronischer Verläufe bereits
zuzuführen, um damit das Risiko eines langwierigen, im Akutfall zu verhindern. Niemand wird als Chroniker
6 komplizierten und kostenintensiven Krankheitsverlaufs geboren, daher muss es bestimmte Voraussetzungen und
abzuwenden. Mechanismen geben, die diese Chronifizierung voran-
treiben. Die Identifizierung von Risikofaktoren, die als
charakteristische Merkmale mit einer solchen Chronifizie-
6.1 Einleitung rung verbunden sind, ist daher eine vordringliche Aufgabe.
Idealerweise sollten diese Risikofaktoren dann mit geeig-
Im epidemiologischen Kapitel dieses Buchs (7 Kap. 1, neten und gezielten Maßnahmen beeinflusst werden, um
»Vom akuten zum chronischen Schmerz«) ist es ausführ- eine Chronifizierung zu verhindern.
lich dargestellt: Rückenschmerzen treten häufig auf und
sind für die Betroffenen, für das medizinische System aber
auch für die Volkswirtschaft ein erhebliches Problem [51, 6.2 Wissenschaftliche Evidenz zu
15]. Die epidemiologischen Daten zeigen, dass Rücken- Risikofaktoren
schmerzen häufig nicht auf eine Einzelepisode beschränkt
bleiben, sondern rezidivierend auftreten. Bei einem Teil Eine der ersten Studien zu den Risikofaktoren von chroni-
der Patienten nimmt die Krankheit sogar einen chroni- fizierten Rückenschmerzen ist die Arbeit von Hasenbring
schen Verlauf, d. h., Schmerz und Beeinträchtigung blei- aus dem Jahr 1999 [21]. Die Autorin und ihre Arbeits-
ben länger bestehen. Die phänomenologischen Merkmale gruppe konnten an einer Gruppe von Patienten mit
des chronischen Schmerzes betreffen dabei die gesamte Rückenschmerzen zeigen, dass eine gezielte therapeutische
Person, es bestehen Auswirkungen auf das nozizeptive Intervention im Sinne eines kognitiv-behavioralen Trai-
System, auf die Erlebens- und Verhaltensanteile sowie auf nings langfristige Krankheitsverläufe verhindern konnte.
die Lebensbezüge des Betroffenen inkl. seiner Partizipa- Dieses Training war auf spezifische Risikofaktoren be-
tionsfähigkeit. Es sind verschiedene Ebenen betroffen (vgl. zogen, die im Vorfeld durch ein Fragebogenscreening
[43]): identifiziert wurden. Die Untersuchung bezog sich zwar
4 Auf der somatischen Ebene finden wir eine erheblich auf eine Patientengruppe mit subakuten radikulären
eingeschränkte körperliche Leistungsfähigkeit sowie Schmerzen, die stationär konservativ behandelt wurden –
insgesamt eine erhöhte psychophysische Reagibilität und darüber hinaus umfasste sie nur eine kleine Stichprobe
mit weiteren, oftmals nicht spezifischen, organisch –, doch war der gewählte Ansatz bereits damals sehr viel-
nicht erklärbaren Beschwerden wie Gastritiden, versprechend.
Schwindel etc. Die Grundlage der Verhinderung von Chronifizierung
4 Auf der kognitiven und emotionalen Ebene besteht ist die Identifikation derartiger Risikofaktoren. In den letz-
oftmals ein Mischbild aus Angst und depressionstypi- ten Jahren sind dazu zahlreiche Studien aufgelegt wurden.
schen Symptomen. Die Patienten zeigen ungünstige Leider unterscheiden sie sich sowohl in Bezug auf die
Kognitionen und Bewältigungsstrategien und weisen Definition der Zielgrößen (z. B. Rückenschmerzen sowohl
oftmals eine tiefe Verunsicherung bzgl. der weiteren mit als auch ohne ärztliche Behandlung) wie auch in Art
Entwicklung auf. und Umfang der einbezogenen, potenziell erklärenden
4 Auf der Verhaltensebene findet man eine häufige Variablen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass für
Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, lange viele der einbezogenen Parameter keine konsistenten Er-
Arbeitsunfähigkeitszeiten (AU-Zeiten) und oftmals gebnisse gefunden wurden; allerdings ergeben sich für eine
eine ausgesprochene Einschränkung des gesamten Reihe von Risikofaktoren auch konsistente Ergebnisse. Als
Verhaltensspielraums. zusammenfassende Übersicht ist eine Liste relevanter
6.2 · Wissenschaftliche Evidenz zu Risikofaktoren
59 6

a b

c d

. Abb. 6.1a–d Schmerzzeichnung. a Akute Schmerzen, b–d chronische Schmerzen

Bevölkerungsstudien, in denen seit 1995 die genannten 6.2.1 Geschlecht


Risikofaktoren prospektiv untersucht wurden, in Fahland
et al. [15] dargestellt. Statistisch gering ausgeprägte Zusammenhänge werden
immer wieder in Bezug auf das Geschlecht gefunden
(Frauen haben häufigere und intensivere Rückenschmer-
In Studien untersuchte Risikofaktoren (u. a.)
zen und andere körperliche Beschwerden). Früher wurde
5 Früheres Auftreten von (Rücken-)Schmerzen
5 Andere körperliche Beschwerden diesbezüglich oftmals über ein bei Frauen gesteigertes
5 Soziodemografische und sozioökonomische Bewusstsein bzw. eine gesteigerte Aufmerksamkeit für kör-
Merkmale perliche Symptome bei gleichzeitig höherer Bereitschaft,
5 Lebensstilfaktoren medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen, disku-
5 Arbeitsplatzmerkmale tiert. Mittlerweile gelten aber neben den geschlechtsspezi-
5 Psychosoziale Faktoren fischen Bewältigungsstrategien insbesondere Unterschiede
der biologischen Mechanismen der Schmerzverarbeitung
60 Kapitel 6 · Risikofaktoren und psychobiologische Mechanismen der Chronifizierung

als weitere mögliche Erklärung. Die heute favorisierten haben, so muss dies nicht notwendigerweise allein auf die
Modelle gehen von einem komplexen Zusammenspiel bio- physikalischen Belastungen im Sinne einer biomechani-
logischer, psychologischer und sozialer Faktoren aus [58]. schen Einwirkung auf den Körper zurückzuführen sein,
sondern kann durch andere – nicht physikalische – Unter-
schiede der Arbeitsorganisation, der Arbeitszufriedenheit
6.2.2 Sozioökonomischer Status oder der individuellen kompensatorischen Möglichkeiten
erklärt werden.
Bezüglich des sozioökonomischen Status wird in mehre- Bereits die Ergebnisse älterer Publikationen, wie z. B.
ren Studien ein inverser Zusammenhang zum Auftreten die ausführliche Metaanalyse von Bigos et al. [6], lassen er-
von Rückenschmerzen belegt. Personen mit niedrigem hebliche Zweifel an einem direkten Zusammenhang
Bildungsniveau, geringerem Einkommen und einem nied- zwischen objektiver Arbeitsbelastung und dem Auftreten
rigeren Berufsstatus haben ein bis zu doppelt erhöhtes von Rückenschmerzen aufkommen. Gäbe es einen solchen
Risiko für anhaltende Rückenschmerzen als Personen mit eindeutigen Zusammenhang, dann hätte aufgrund der Er-
6 hohem Sozialstatus. Dieser Zusammenhang konnte in leichterungen bei mechanisch belastenden Arbeitsplatzbe-
einer Metaanalyse von 24 Studien gut belegt werden [14]. dingungen der negative Trend ansteigender Prävalenzen
Dabei sagen die Risikowahrscheinlichkeiten primär nichts von Rückenschmerzen in den Industrienationen in den
über eine Kausalität aus; es sind die mit diesem sozio- letzten Jahrzehnten gebremst werden müssen. Dies war aber
grafischen Merkmal verbundenen spezifischen Charakte- nicht der Fall: Die nachhaltigen Bemühungen um eine Ver-
ristika, die für das erhöhte Risiko verantwortlich sind. besserung der ergonomischen Situation am Arbeitsplatz
Diskutiert werden in diesem Zusammenhang schicht- haben zwar enorme Kosten verursacht, jedoch konnten sie
spezifische berufliche Besonderheiten wie die Exposition das Auftreten von Rückenschmerzen nicht eindämmen.
an Stressbelastungen und eine geringe Variabilität/Flexibi- Mehrere Studien insbesondere aus dem skandinavischen
lität am Arbeitsplatz (7 Abschn. 6.2.3), erschwerte Zugänge Raum zeigen dagegen übereinstimmend, dass Unzufrie-
zum medizinischen Versorgungssystem, aber auch denheit am Arbeitsplatz, das Erleben von Konflikten (ins-
schichtspezifische Verhaltensfaktoren (z. B. gering ausge- besondere Mobbingsituationen) sowie die Beurteilung, dass
prägtes Gesundheitsverhalten). die Arbeit zu schwer und belastend sei, in engerem Zusam-
Studien zur Untersuchung der Einwirkung des indivi- menhang mit Arbeitsunfähigkeit durch Rückenschmerzen
duellen sozialen Umfelds auf Rückenschmerzen stehen stehen als biomechanische Stressoren [5, 36, 41]. Das Ge-
weitgehend aus. Offensichtlich haben verheiratete Men- fühl der Betroffenen, körperlich zu stark belastet zu sein,
schen ein etwas geringeres Risiko für Rückenschmerzen als kann die objektive Einschätzung der wirklichen physischen
ledige Menschen oder Geschiedene [18]. Mit Sicherheit Belastung dabei deutlich beeinflussen. In einem sehr aktu-
aber ist nicht der sozialrechtliche formale Status hier das ellen systematischen Review zum Einfluss physischer Akti-
entscheidende Bindeglied, sondern andere zwischen- vität am Arbeitsplatz auf die Entwicklung von Rücken-
menschliche Faktoren, wie z. B. gegenseitige Unterstützung schmerzen sind 99 Studien zu diesem Thema analysiert
in sozialen Netzwerken, die in modernen Gesellschaften worden [34]. In keiner einzigen dieser Studien konnte eine
vom sozialrechtlichen Status unabhängig sein kann. strenge Evidenz dafür gefunden werden, dass irgendeine
körperliche Aktivität am Arbeitsplatz mit Rückenschmer-
zen in einem kausalen Zusammenhang steht.
6.2.3 Berufliche Situation und Arbeitsplatz Im Review von Ramond et al. [49] zeigten sich hetero-
gene Ergebnisse bzgl. des Zusammenhangs von Arbeitszu-
Die Untersuchung von Zusammenhängen zwischen friedenheit und chronischen Rückenschmerzen, wobei
Rückenschmerzen und Merkmalen der beruflichen Situa- qualitativ hochwertige Studien sowohl für einen solchen
tion und des Arbeitsplatzes hat international eine lange Zusammenhang sprachen als auch dagegen. Ein ähnlich
Tradition. Aus (naiv)biomechanischer Sicht besteht zu- heterogenes Ergebnis konnten die Autoren dafür finden,
nächst ein plausibler kausaler Zusammenhang zwischen ob Arbeitnehmer einen Versicherungsanspruch (Kompen-
Arbeitsplatzbedingungen und dem Auftreten von Rücken- sations- oder Rentenzahlungen, Versicherungsleistungen)
schmerzen. Für mehrere Faktoren des Arbeitsplatzes bzw. geltend machen oder nicht.
der Arbeitsbewegungen konnte dies auch nachgewiesen Bei Rückenschmerzpatienten mit niedriger Schulbil-
werden (körperliche Schwerstarbeit, ständiges Einnehmen dung und schlechter beruflicher Qualifikation besteht gene-
von Zwangshaltungen, Vibrationsstress); insgesamt sind rell eine geringere Wahrscheinlichkeit, ins Berufsleben re-
die Ergebnisse aber sehr heterogen (s. auch [53]). Selbst integriert zu werden (s. oben). Dies liegt u. a. daran, dass
wenn nachgewiesen ist, dass Menschen mit größerer körperlich gering belastende Tätigkeiten bzw. Teilzeitbe-
mechanischer Arbeitsbelastung mehr Rückenschmerzen schäftigungen auf dem Arbeitsmarkt selten angeboten wer-
6.2 · Wissenschaftliche Evidenz zu Risikofaktoren
61 6
den, womit bereits beeinträchtigten (rückengeschädigten) im Sinne eines passiven, wenig gesundheitsbewussten
Patienten der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert wird. Verhaltens aus. Die z. T. sehr heterogenen Ergebnisse bzgl.
Bereits 1996 haben Keel et al. [32] auf Summationseffekte dieses Zusammenhangs können auch durch die Art der
verschiedener Risikofaktoren hingewiesen: In einer Studie Datenerhebung bedingt sein, wobei Selbstauskünfte in
über die Behandlungseffektivität eines multidimensionalen diesen Bereichen in starkem Maße Aspekten der sozialen
Programms in der Schweiz erwiesen sich ausländische Ar- Erwünschtheit unterliegen.
beitnehmer (Italiener und Jugoslawen) als die Patienten-
gruppe mit den schlechtesten Ergebnissen. Spezifische kul-
turelle Faktoren sieht Keel für die Behandlungseffektivität 6.2.5 Psychologische Faktoren
als weniger bedeutsam an; es sei vielmehr eine Akkumula-
tion negativer Faktoren innerhalb dieser Patientenklientel Die Beteiligung psychologischer Faktoren bei Schmerzer-
(körperliche Schwerstarbeit, geringes Ausbildungsniveau krankungen ist sowohl im Hinblick auf den Einfluss in der
und geringe Arbeitszufriedenheit), die letztlich in einer in- akuten Situation als auch in Bezug auf die Beibehaltung
dividuellen Gemengelage für den negativen Effekt verant- und insbesondere die Chronifizierung der Beschwerden
wortlich ist. Eine durch hohes Alter, niedriges Bildungsni- unbestritten. In zahlreichen Laborexperimenten konnte
veau oder Rückenvorschädigung bedingte geringe »Arbeits- eindrucksvoll gezeigt werden, dass bereits das akute Erle-
platzzugänglichkeit« ist vermutlich für einen erheblichen ben von Schmerzen durch Prozesse der Aufmerksamkeit
Prozentanteil der »Chronizität« von Rückenschmerzen und und Bewertung stark modulierbar ist [29]. Bei chronischen
des Verbleibens in der Krankenrolle verantwortlich. Da Erkrankungen ist dies noch deutlicher bzw. umfassender
dem Begriff »Arbeitslosigkeit« eine negativere Bedeutung der Fall, da im Verlauf der Krankheitsgeschichte die
zukommt als dem Begriff »Krankheit« und das Sozialsys- ursprünglich krankheitsauslösenden Faktoren in den
tem im Krankheitsfall größere Sicherungen bietet als im Fall Hintergrund treten und der Umgang mit der Erkrankung
der Arbeitslosigkeit, ist die Präferierung von Krankheit zur (Krankheitsbewältigung) maßgeblich den weiteren Verlauf
notwendigen Sicherung der Versorgung verständlich [44]. bestimmt (»transition from acute to chronic«). Der
Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass es Einfluss psychischer Prozesse, wie z. B. Aufmerksamkeit,
auch in diesem Bereich vermutlich zu einer komplexen Lernen, kognitive Bewertung, emotionale Aktivierung etc.,
Interaktion aus verschiedenen Risikobereichen kommt, auf das Schmerzgeschehen ist dabei äußerst komplex und
wobei sowohl physikalische Stressoren (überwiegend kör- vermutlich interindividuell sehr unterschiedlich [45].
perliche Schwerarbeit, überwiegend monotone Körperhal- Die am häufigsten zitierte Arbeit ist in diesem Zusam-
tung, überwiegend Vibrationsexposition) als auch die menhang die Publikation von Linton aus dem Jahr 2000
Konsequenzen einer geringen beruflichen Qualifikation [37]. Risikofaktoren wurden hier nicht nur in Bezug auf
(geringere Flexibilität am Arbeitsplatz), berufliche Unzu- Rücken-, sondern auch auf Nackenschmerzen betrachtet.
friedenheit und Kränkungserlebnisse am Arbeitsplatz Nach der Analyse von 37 prospektiven Studien zeigte sich
(Mobbing) sowie der (drohende) Verlust des Arbeitsplat- eine Level-A-Evidenz dafür, dass psychosoziale Variablen
zes vermutlich eine komplizierte Interaktion in Bezug auf eindeutig mit dem Übergang von akutem zu chronischem
die Entwicklung, Beibehaltung oder schlechte Prognose Schmerz zusammenhängen und dass diese Variablen mehr
von Rückenschmerzen eingehen. Bedeutung für die Entwicklung chronischer Schmerz-
zustände haben als medizinische oder biomechanische
Faktoren. Für folgende Merkmale liegt demnach eine
6.2.4 Lebensstilfaktoren Level-A-Evidenz vor:

Bei Lebensstilfaktoren wie Rauchen oder übermäßiges


Merkmale mit Level-A-Evidenz (nach Linton [37])
Trinken von Alkohol gibt es wenig Evidenz für einen Zu-
5 Depressivität, Angst, Distress (vor allem arbeits-
sammenhang mit dem Auftreten oder der Chronifizierung
bezogen)
von Rückenschmerzen. Wenn man sich das Freizeitverhal- 5 Schmerzbezogene Kognitionen (im Sinne
ten anschaut, dann mag es allerdings überraschen, dass automatischer Gedanken): z. B. Katastrophisieren,
eine geringe körperliche Aktivität in Freizeit und Alltag Hilf- und Hoffnungslosigkeit
nicht als relevanter Risikofaktor für Rückenschmerzen 5 Metakognitionen wie z. B. »fear-avoidance-beliefs«
identifiziert werden konnte [27, 10]. Für Körpergewicht 5 Passives Schmerzverhalten (z. B. Vermeidungsver-
gilt Ähnliches, wobei hier sicher kein primärer Zusam- halten)
menhang im Sinne eines vermehrten Risikos aufgrund der 5 Subjektive Wahrnehmung stark beeinträchtigter
Gewichtsbelastung auf körperliche Strukturen gegeben ist. Gesundheit
Vielmehr drückt sich im Übergewicht ein Lebensstilfaktor
62 Kapitel 6 · Risikofaktoren und psychobiologische Mechanismen der Chronifizierung

Keine ausreichende Evidenz wurde für die Merkmale Als positive Faktoren, die zu einem guten Verlauf beitra-
körperlicher und/oder sexueller Missbrauch und Persön- gen, identifizierten sie
lichkeitsmerkmale gefunden. Linton kommt zu dem 4 ein geringes Ausmaß an Angst-/Vermeidungsüber-
Schluss, dass es ausreichende Hinweise für eine klare zeugungen,
Beziehung zwischen psychologischen Faktoren und Na- 4 eine geringe Funktionsbeeinträchtigung in Alltags-
cken- bzw. Rückenschmerzen gibt; dabei fand er nicht nur aktivitäten.
Beziehungen zum Erstauftreten, sondern auch zur Beibe-
haltung und Chronifizierung dieser Schmerzen. Linton Parameter der beruflichen Situation oder die Schmerz-
schlussfolgert in seinem Review, dass psychologische Fak- intensität bei Erstauftreten der Schmerzen zeigten dagegen
toren für Nacken- und Rückenschmerzen relevant sind, keinen klaren Zusammenhang zum Verlauf.
wenn sie auch nur einen Teil der Gesamtvarianz abbilden. Die in dieser Studie identifizierten sog. nichtorgani-
Eine weitere wichtige Arbeit zu dieser Fragestellung ist schen Zeichen aus der körperlichen Untersuchung sind auf
das systematische Review von Pincus et al. [46] aus dem einen Ansatz von Waddell et al. aus dem Jahr 1980 [55]
6 Jahr 2002, das sich explizit auf Rückenschmerzen und die zurückzuführen. Bei diesen Zeichen handelt es sich um
Frage nach ihrer Chronifizierung bezieht. Die meisten der qualitativ beurteilte Hinweise aus den Reaktionen des be-
identifizierten Arbeiten konnten die von ihm angesetzten troffenen Patienten bei der körperlichen Untersuchung
methodologischen Kriterien nicht erfüllen, sodass nach (wie z. B. Übertreibung, Reaktion auf Schmerzreize), die
der Literaturrecherche nur 6 Arbeiten zur weiteren Aus- auf eine hohe psychische Beteiligung hinweisen könnten.
wertung blieben: Für psychologischen Distress (als Belas- Das Konzept ist umstritten und bildet im Wesentlichen die
tung im weitesten Sinn), Depressivität und (etwas geringer persönliche Einschätzung des untersuchenden Arztes ab,
ausgeprägt) Somatisierung konnte ein Zusammenhang dass die Schmerzen eines Patienten durch ein hohes Aus-
mit der Chronifizierung von Rückenschmerzen nachge- maß psychischer Faktoren mitbestimmt sein könnten
wiesen werden. Ein schwacher Zusammenhang ergab sich (s. unten).
noch für das kognitive Merkmal »Katastrophisieren«. Für Das neueste systematische Review in Bezug auf
Aussagen über weitere Zusammenhänge war die Daten- psychosoziale Risikofaktoren für Rückenschmerzen wurde
basis jedoch nicht ausreichend. 2011 von Ramond et al. aus Frankreich mit Daten aus der
> In einer prospektiven Studie an fast 1.000 Patienten
allgemeinärztlichen Behandlung vorgelegt [49]. Die
mit akuten Rückenschmerzen in England konnten
psychologischen Faktoren Depression, psychologische Be-
Jones et al. [31] zeigen, dass Betroffene mit passiven
lastung, passive Bewältigungsstrategien und Angst-/Ver-
Bewältigungseinstellungen ein 3-mal so hohes
meidungsüberzeugungen erwiesen sich als Risikofaktoren
Risiko haben, 3 Monate nach Erstauftreten noch
für einen schlechten Verlauf, während für die meisten
anhaltende Schmerzen zu erleiden, als Personen,
sozialen Variablen und Merkmale der Arbeitsplatzsitua-
die zur aktiven Bewältigung tendieren.
tion kein stringenter Zusammenhang feststellbar war
(7 Abschn. 6.2.3). Interessant ist in dieser Studie das Ergeb-
Interessanterweise ließ sich für aktives Bewältigen kein nis, dass die initiale Überzeugung der betroffenen Patien-
protektiver Wert ermitteln, allein der negative Trend bei ten bzw. ihres behandelnden Arztes über das vermeintliche
passiver Bewältigung war statistisch zu sichern. Risiko einer Chronifizierung die konsistenteste Prädiktion
Im Jahr 2010 legten Chou u. Shekelle [11] eine um- des wirklichen Verlaufs ermöglichte (s. oben) [30]. Bei
fassende systematische Analyse zur Frage der Chroni- Patienten, die von ihrem behandelnden Arzt als wahr-
fizierungsfaktoren bei Rückenschmerzen vor. Anhand von scheinlicher Risikofall für eine Chronifizierung einge-
20 Studien mit insgesamt mehr als 10.000 Patienten er- schätzt wurden, ergab sich eine bis zu 10-mal höhere
mittelte die Autorengruppe folgende Faktoren, die mit ei- Wahrscheinlichkeit für ein schlechtes Behandlungsergeb-
nem schlechten Verlauf von Rückenschmerzen (1 Jahr nis zur 12-Monats-Katamnese.
nach Erstauftreten) verbunden waren: > Zu den wichtigsten Merkmalen, die bzgl. der
4 Vorhandensein sog. nichtorganischer Zeichen in der Chronifizierung von bewegungsbezogenen
körperlichen Untersuchung, Schmerzen in den letzten 15–20 Jahren diskutiert
4 starke Ausprägung passiver Bewältigungsstrategien, wurden, gehören Angst-/Vermeidungsüberzeugun-
4 starke Ausprägung von Angst-/Vermeidungsüber- gen im Rahmen des Fear-avoidance-Modells [54].
zeugungen,
4 starke Funktionsbeeinträchtigung in Alltags- Besonders in Studien aus skandinavischen Ländern haben
aktivitäten, sich Angst-/Vermeidungsüberzeugungen konsistent als
4 psychiatrische Komorbidität, Prädiktorvariable für anhaltenden und chronischen
4 schlechter allgemeiner Gesundheitszustand. Schmerz erwiesen (Zusammenfassung bei [35]). Die Er-
6.2 · Wissenschaftliche Evidenz zu Risikofaktoren
63 6
gebnisse sind aber nicht konsistent: Während [37] z. B. scheibenassoziierten Schmerzen [20] wie auch an Patienten
einen engen Zusammenhang festgestellt haben will, wird mit nicht spezifischem Rückenschmerz [21] weist diese
dieser durch die Ergebnisse der Studie von Pincus et al. Formen der Schmerzverarbeitung ebenfalls als chronifi-
[46] nicht bestätigt. Letztere Autorengruppe legte im Jahr zierungsfördernd aus. In einer jüngeren Metaanalyse zu
2006 ein weiteres Review zu dieser Fragestellung nach, in Querschnittsanalysen an Patienten mit chronischem
dem sie insbesondere die Bedeutung der Angst-/Ver- Rückenschmerz wurde ebenfalls gezeigt, dass »task persis-
meidungsüberzeugungen für eine negative Prognose des tence« trotz Schmerz positive Zusammenhänge mit klini-
Verlaufs von Rückenschmerzen fokussierte: Die Analyse schen Schmerzratings aufweist [60]. Einen theoretischen
ermöglichte keine klaren Schlussfolgerungen mit Er- Rahmen für die Maladaptivität von ängstlichem Vermei-
gebnissen, die sowohl für einen solchen Zusammenhang dungsverhalten gegenüber forcierter suppressiver
sprachen als auch einen solchen Zusammenhang nicht Schmerzverarbeitung bietet das Avoidance-endurance-
herstellen konnten. In einer prospektiven Kohortenstudie Modell (AEM) [59].
an Patienten mit subakuten Rückenschmerzen in den > Auch wenn die Studien zu den psychologischen
Niederlanden konnten auch Henneweer et al. [24] keinen Faktoren für die Chronifizierung von Rücken-
direkten Zusammenhang der Faktoren Katastrophisieren schmerzen z. T. heterogene Ergebnisse erbringen,
und Angst/Vermeidungsüberzeugungen mit der Chronifi- so entsteht dennoch der Eindruck, dass sie in eine
zierung von Rückenschmerzen nachweisen. Der einzige ähnliche Richtung zielen. Bei einem erheblichen Teil
prädiktive Faktor für spätere Chronifizierung war ein ho- der betroffenen Patienten kann demnach ein
hes Ausmaß an Schmerzintensität 8 Wochen nach Beginn gemeinsamer Mechanismus unterstellt werden, der
der Schmerzsymptomatik. kognitive wie Verhaltensaspekte einschließt und
Ein Grund für diese heterogenen Ergebnisse kann speziell mit ungünstigen Erwartungen, maladapti-
darin liegen, dass der Begriff der Angst/Vermeidungsein- ven Bewältigungsstrategien und passivem Krank-
stellungen eine gewisse Unschärfe aufweist: Während er heitsverhalten verbunden ist.
von einigen Autoren eng gefasst ist und nur den direkten
Überzeugungszusammenhang zwischen Schmerz und
Bewegung beinhaltet, wird er von anderen Autoren weiter
gefasst und schließt demnach Mechanismen der Katastro- 6.2.6 Iatrogene Faktoren
phisierung sowie der Schmerzangst mit ein. Diese Un-
schärfe macht die Interpretation der Ergebnisse zur Die oben beschriebenen kognitiven Faktoren und die
Relevanz der Angst-/Vermeidungsüberzeugungen für die problematischen Laientheorien der Patienten werden
Chronifizierung der Rückenschmerzen schwierig. durch das medizinische Versorgungssystem oftmals noch
Die Ergebnisse lassen sich dennoch zusammenfassend unterstützt, indem immer noch vorrangig ein Modell des
so interpretieren, dass kognitive Variablen wie Katastro- »lokalen Schadens« als normales pathologisches Modell
phisierung, Angst vor Schmerzen, die Überzeugung, einen vorausgesetzt wird [50]. Durch aufwendige Diagnostik, die
ernsthaften Schaden an der Wirbelsäule zu haben, und leichtfertige Verschreibung hochpotenter Medikamente
passive Behandlungserwartungen eine Voraussetzung für (Opiate) sowie die Anwendung einer Vielzahl z. T. nicht
negative Verhaltenskonsequenzen (Schonverhalten, sozia- evidenzbasierter, z. T. invasiver Maßnahmen werden diese
ler Rückzug) wie auch für eine gesteigerte Aufmerksamkeit Laientheorien unterstützt und die Patienten in ihren
für Schmerz sind, was wiederum den Chronifizierungs- Somatisierungstendenzen bedient. In einer französischen
prozess befördert. Studie konnte z. B. gezeigt werden, dass Angst-/Vermei-
Ein weiterer Grund für die heterogenen Ergebnisse dungsüberzeugungen bei Patienten mit Rückenschmerzen
könnte darin liegen, dass schmerzbezogene Angst nicht insbesondere dann stark ausgeprägt waren, wenn ihre
immer und nicht automatisch zu ausgeprägtem Vermei- behandelnden Ärzte ebenfalls erhöhte Werte für diese An-
dungsverhalten führt, sondern dass Schmerzen und Angst nahmen aufwiesen [48]. Man muss davon ausgehen, dass
auch mit verschiedenen Formen suppressiver Schmerzver- Einstellungen und Überzeugungen der Therapeuten einen
arbeitung beantwortet werden. Hierzu zählen gedankliche unmittelbaren Einfluss auf a) die Wahl ihrer diagnosti-
Formen der Unterdrückung von Schmerz und den damit schen und therapeutischen Interventionen haben und b)
verbundenen unangenehmen Empfindungen (»thought damit das Krankheitskonzept des betroffenen Patienten
suppression«) wie auch eine ausgeprägte Tendenz im Ver- auch ungünstig beeinflussen können.
halten, trotz Schmerzen gerade anstehende Alltagsaktivi- Durch eine mangelhafte Respektierung der multikau-
täten in jedem Fall fortzusetzen, d. h. mit ausgeprägten salen Genese, den übertriebenen Einsatz diagnostischer
Durchhaltestrategien zu reagieren. Eine Reihe von pro- Maßnahmen, die Überbewertung somatischer bzw. radio-
spektiven Längsschnittstudien an Patienten mit band- logischer Befunde, durch lange, unreflektierte Krank-
64 Kapitel 6 · Risikofaktoren und psychobiologische Mechanismen der Chronifizierung

schreibung und durch die Förderung passiver Therapie- 4 passives Schmerzverhalten, z. B. ausgeprägtes Schon-
konzepte werden zwar die Rollenerwartungen von Arzt und Vermeidungsverhalten.
und Patient erfüllt, sie können aber dazu führen, dass un-
komplizierte, nichtspezifische Rückenschmerzen nicht Eine moderate Evidenz liegt vor für:
mehr den normalen kurzen Heilungsverlauf nehmen, son- 4 schmerzbezogene Kognitionen: Gedankenunter-
dern durch die Chronifizierung zu einem schwierigen und drückung (»thought suppression«),
erst recht relevanten Problem werden. 4 überaktives Schmerzverhalten: beharrliche Arbeit-
Aufwendige Diagnostik ist hier eines der Hauptproble- samkeit (»task persistence«), suppressives Schmerz-
me: Die Bildgebung hat ohne starke Hinweise aus Anam- verhalten,
nese oder körperlicher Untersuchung auf eine spezifische 4 Neigung zur Somatisierung.
strukturelle Störung keinen therapiesteuernden Nutzen
[12]. Vor allem dann, wenn der radiologische Befund Begrenzte bzw. nicht ausreichende Evidenz besteht für
allein zur Bestimmung des weiteren Vorgehens herange- Persönlichkeitsmerkmale und psychopathologische
6 zogen wird, besteht die Gefahr einer falsch angelegten Be- Störungen.
handlung. Patient und Arzt werden für eine somatische > In der Leitlinie wird empfohlen, bereits in der Pri-
Pathologie sensibilisiert und in einem somatischen Krank- märversorgung von Rückenschmerzen Sensibilität
heitskonzept bestärkt. Dadurch wird das Risiko erhöht, für relevante Risikofaktoren aufzubringen. Der erst-
dass relevantere, im psychosozialen Umfeld liegende Ur- behandelnde Arzt sollte die Risikofaktoren mög-
sachen vernachlässigt werden. lichst in der Beratung bzw. bei der weiteren Behand-
> Wenn sich Patienten Sorgen über den »Schaden an lung der Betroffenen berücksichtigen.
ihrer Wirbelsäule« machen, kann dies gravierende
Konsequenzen für ihr weiteres Verhalten nach sich
Eine gezieltere Erfassung von Risikofaktoren ist ab einem
ziehen und die Chronifizierung nachhaltig beför-
Zeitpunkt von 4 Wochen nach dem Erstauftreten der
dern. Aufgrund dieser Erkenntnisse empfehlen die
Schmerzen vorgesehen, wobei im Einzel- bzw. Zweifelsfall
zur Verfügung stehenden Leitlinien beim Erst- oder
auch eine zusätzliche Diagnostik bei einem schmerzthera-
Neuauftreten von Rückenschmerzen eine Limitie-
peutisch versierten, psychotherapeutisch tätigen Kollegen
rung weiterführender Diagnostik und beschränken
(ärztliche oder psychologische Psychotherapie) durchge-
sich auf die Arbeitsdiagnose »unkomplizierte« oder
führt werden sollte. Bei länger als 12 Wochen anhaltenden
»nichtspezifische« Rückenschmerzen
Schmerzen soll neben der weitergehenden somatischen
Diagnostik auch eine umfassende Diagnostik psychosozi-
Dieses Konzept ist allerdings nicht immer leicht vermittel- aler Einflussfaktoren möglichst im Rahmen eines inter-/
bar und kann den Wunsch einer kausalen Abklärung so- multidisziplinären Assessments erfolgen. Gegen eine
wohl aufseiten der Ärzte als auch aufseiten der Patienten solche Forderung steht jedoch die bisher fehlende Verfüg-
oftmals nicht befriedigen und das therapeutische Bündnis barkeit entsprechend ausgebildeter Experten und ent-
gefährden. sprechender Einrichtungen.

6.3 Berücksichtigung in Leitlinien 6.4 Fazit

Die Bedeutung psychosozialer Risikofaktoren verdeutlicht Generell sind sich die meisten Autoren darüber einig, dass
sich auch an ihrem Stellenwert innerhalb aktueller Be- Personen mit erhöhten psychischen Belastungen häufiger
handlungsleitlinien für Rückenschmerzen [1, 2, 13]. Rückenschmerzen entwickeln [57]. Die Spezifität dieser
In der Literaturrecherche der Nationalen Versorgungs- Belastungen ist allerdings unterschiedlich, was ihre Erfas-
leitlinien für Kreuzschmerzen wurden die oben genannten sung schwierig macht. Prinzipiell ist davon auszugehen,
Ergebnisse weitgehend bestätigt [3]. Insbesondere zeigte dass die Chronifizierung von Rückenschmerzen durch ein
sich eine hohe Evidenz für Depressivität/Distress sowie für komplexes Zusammenwirken zahlreicher Einflussgrößen
spezifische Aspekte der Schmerzverarbeitung. aus sehr unterschiedlichen Merkmalsbereichen zustande
Eine starke Evidenz besteht für die Merkmale: kommt. Es liegt für den individuellen Fall vermutlich eine
4 Depressivität, Distress (vor allem berufs-/arbeitsbe- Summation von Risikofaktoren aus verschiedenen Berei-
zogen), chen vor, sodass ihre frühzeitige individuelle Identifikation
4 schmerzbezogene Kognitionen, z. B. Katastrophisie- einen besonders großen Stellenwert hat. Ziel ist es, Per-
ren, Hilf-/Hoffnungslosigkeit, Angst-/Vermeidungs- sonen mit einem hohen Chronifizierungsrisiko durch
verhalten (»fear-avoidance-beliefs«), psychosoziale Faktoren frühzeitig zu identifizieren, sie ggf.
Literatur
65 6
einer spezifischen Behandlung zuzuführen, um damit das 5. Bigos SJ, Battie MC, Spengler DM (1991) A prospective study of
Risiko eines langwierigen, komplizierten und kosteninten- work perceptions and psychosocial factors affecting back injury.
Spine 16:1–6
siven Krankheitsverlaufs abzuwenden.
6. Bigos SJ, Holland J, Webster M (1998) Reliable science about
Rückenschmerzen sind ein in der gesamten erwachse- avoiding low back problems. Springer, New York
nen Bevölkerung verbreitetes Phänomen, dem in den 7. Boersma K, Linton SJ (2005) How does persistent pain develop?
meisten Fällen eine multifaktorielle Genese zugrunde liegt. An analysis of the relationship between psychological variables,
In einem biopsychosozialen Verständnis sind heterogene pain and function across stages of chronicity. Behav Res Ther
43:1495–1507
Protektiv- und Risikofaktorkonstellationen relevant.
8. Boersma K, Linton S (2006a) Expectancy, fear and pain in the
Psychosoziale Faktoren spielen dabei mit hoher Wahr- prediction of chronic pain and disability. Europ J Pain 10:
scheinlichkeit eine größere Rolle als bisher nachweisbare 551–557
biomedizinische oder biomechanische Ursachen. Präven- 9. Boersma K, Linton S (2006b) Psychological processes underlying
tive und therapeutische Interventionsmaßnahmen sollten the development of a chronic pain problem. Clin J Pain 22:
deshalb darauf abzielen, insbesondere auch psychosoziale 160–166
10. Chen SM, Liu MF, Cook J, Bass S, Lo SK (2009) Sedentary lifestyle
Belastungsfaktoren zu identifizieren und gezielt in das
as a risk factor for low back pain: a systematic review. Int Arch
Behandlungsvorgehen einzubauen. Hierzu gibt es erste Occup Environ Health 82:797–806
vielversprechende diagnostisch-therapeutische Ansätze, 11. Chou R, Shekelle P (2010) Will this patient develop persistent
deren Effektivitätsnachweis aber noch aussteht. disabling low back pain? JAMA 303:1295–1302
Es gibt aber auch noch erhebliche Erkenntnislücken, 12. Chou R, Fu R, Carrino JA, Deyo RA (2009) Imaging strategies for
low-back pain. Lancet 373:463–72
und es ist eine vordringliche Aufgabe, die Wirkmechanis-
13. DEGAM, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und
men von Risikofaktoren für die Entstehung und Chronifi- Familienmedizin (2003) Kreuzschmerzen. DEGAM-Leitlinie Nr. 3.
zierung von Rückenschmerzen näher zu bestimmen und Omikron puplishing, Düsseldorf. http://leitlinien.degam.de/index.
in ihren Auswirkungen möglichst genau zu quantifizieren. php?id=71. Zugegriffen: 23. Mai 2013
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66 Kapitel 6 · Risikofaktoren und psychobiologische Mechanismen der Chronifizierung

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67 7

Genetik
I. Cascorbi

7.1 Einleitung – 68

7.2 Genetische Ursachen von Rückenschmerz – 68

7.3 Genetische Ursachen verminderter Nozizeption – 69

7.4 Genetische Ursachen der Schmerzmodulation – 69

7.5 Modulation der Pharmakodynamik


durch genetische Varianten – 69

7.6 Genetische Unterschiede der Pharmakokinetik


von Analgetika – 70
7.6.1 NSAIDs – 70
7.6.2 Opioide – 70
7.6.3 Arzneistofftransporter – 70

7.7 Zusammenfassung – 71

Literatur – 71

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
68 Kapitel 7 · Genetik

Die Kenntnisse über die genetische Variabilität und daraus lierungsschritt offenbar einem Teil der Bevölkerung nicht
folgende molekularbiologische Prozesse der Nozizeption möglich ist [15]. Die genetische Charakterisierung des
erlauben ein zunehmend besseres Verständnis sowohl der Metabolismus und Membrantransports von Analgetika
Entstehung des Schmerzes als auch der analgetischen wie auch von ihren Targets hat weitere Erkenntnisse er-
Therapie. So tragen genetische Faktoren zum Risiko der bracht, die im Weiteren nach Pharmakokinetik und -dyna-
Bandscheibendegeneration mit bis zu 35 % bei, sind jedoch mik zusammengefasst sind. Die zunehmende Aufklärung
nur zu einem kleinen Teil auch mit Rückenschmerzen von Varianten im gesamten humanen Genom erlaubt es
assoziiert. Zu Rückenschmerzen liegen für Varianten der aber auch immer besser, interindividuelle Unterschiede
GTP-Cyclohydrolase 1 die stärksten belastbaren Daten vor. der Nozizeption sowie Ursachen schmerzhafter Erkran-
Für die analgetische Wirkung von Opioiden und NSAIDs kungen mit genetischen Merkmalen zu assoziieren und
dagegen bestehen eindeutige Assoziationen zu genetischen spezifische Risikogene zu identifizieren [7].
Varianten jedoch nur in wenigen Fällen. Ein Beispiel ist der
polymorphe Metabolismus von Codein. Für die personali-
sierte Therapie des Schmerzes bedarf es vielmehr eines 7.2 Genetische Ursachen von
systempharmakologischen Ansatzes, der genomweite Rückenschmerz
7 Daten, Medikation und die Charakterisierung des individuel-
len Phänotyps einschließt. Bislang wurde angenommen, dass chronischer Rücken-
schmerz auf lumbalen Bandscheibendegenerationen beru-
he, die durch Alter, psychische und mechanische Faktoren
7.1 Einleitung verursacht wurden. In den letzten Jahren mehren sich aber
die Hinweise, dass die Bandscheibendegeneration eine
Frühe Erkenntnisse zur Variabilität der Ansprechrate auf multifaktorielle Erkrankung ist, an der auch genetische
Analgetika gehen auf phänotypische Unterschiede zurück, Faktoren mit 30–45 % [3] beteiligt sind. Jüngere Zwillings-
wie sie z. B. bei der Anwendung von Codein beobachtet studien zeigten jedoch, dass Rückenschmerz und lumbale
wurden. Hier zeigte sich, dass ca. ein Zehntel der Patienten Bandscheibendegeneration nur etwa 13 % gemeinsame
überhaupt keine analgetische Wirkung nach Codeingabe genetische Ursachen haben [6].
zeigte. Im Wissen über Aktivierung von Codein zu Genetische Varianten betreffen mechanische Struktu-
Morphin konnte erklärt werden, dass dieser über das ren, die die Stabilität der Bandscheiben gewährleisten,
Leberenzym Cytochrom P450 2D6 vermittelte Demethy- wie Kollagene, die Knorpelproteine Aggrecan und CILP

. Tab. 7.1 Genetische Ursachen des chronischen Rückenschmerzes (Übersicht)

Struktur Gen Krankheit Referenz

Kollagen Typ I, alpha-1 COL1A1 Lumbale Bandscheibendegeneration Tilkeridis et al. 2005 [19]

Kollagen Typ IX, alpha-3 COL9A3 Bandscheibenerkrankung Paassilta et al. 2001 [11]

Kollagen Typ XI, alpha-1 COL11A1 Lumbale Bandscheibenhernien Mio et al. 2007 [9]

Kollagen Typ XI, alpha-2 COL11A2 Tegeder u. Lötsch 2009 [17]

Aggrecan AGAN Bandscheibendegeneration Solovieva et al. 2007 [14]

»Cartilage intermediate layer protein« CILP Bandscheibendegeneration Seki et al. 2005 [12]

Vitamin-D-Rezeptor VDR Bandscheibendegeneration Yuan et al. 2010 [20]

Metalloproteinsase-3 MMP3 Bandscheibendegeneration Yuan et al. 2010 [20]

Metalloproteinsase-9 MMP9 Tegeder u. Lotsch 2009 [17]

Thrombospondin-2 THBS2 Lumbale Bandscheibenhernien Hirose et al. 2008 [22]

Interleukin-1 alpha IL1A Inflammation Solovieva et al. 2004 [13]

Interleukin-1 IL1B Inflammation Solovieva et al. 2004 [13]

Interleukin-1-Rezeptor IL-1RN Inflammation Solovieva et al. 2004 [13]

Interleukin-6 IL6 Inflammation Heffner et al. 2011 [4]


7.5 · Modulation der Pharmakodynamik durch genetische Varianten
69 7
(»cartilage intermediate layer protein«) sowie indirekt an
. Tab. 7.2 Hereditäre Kanalopathien, die mit einer erblichen
der Knorpelbildung beteiligte Faktoren wie der Vitamin- Insensitivität gegenüber Schmerz einhergehen (Übersichts-
D-Rezeptor und Metalloproteinasen (. Tab. 7.1). Darüber artikel [7])
hinaus ist bekannt, dass inflammatorische Prozesse am
Rückenschmerz beteiligt sind. So konnten Varianten in Erkrankungsname Gen
Interleukin 1 (IL-1) und im Interleukin-1-Rezeptor sowie
Congenital insensitivity to pain SCN9A
in IL-6 mit dem Auftreten von Rückenschmerz assoziiert
werden. HSAN-I SPTLC1

HSAN-II HSN2

HSAN-III IKAP
7.3 Genetische Ursachen verminderter
Nozizeption HSAN-IV, CIPA TRKA/NGF

HSAN-V NGFB
Die Strukturen und Signalwege der Nozizeption sind
komplex. Es gibt nur wenige Extrembeispiele, in denen
Mutationen in Nozizeptoren, sog. Kanalopathien, zu
einem erblich bedingten Verlust der Sensitivität führen. chirurgischen Eingriff wegen degenerativer Bandschei-
Die völlige Abwesenheit von Schmerz konnte mit raren benerkrankungen unterzogen hatten, nachgewiesen
Mutationen in der α-Untereinheit des spannungsab- werden.
hängigen Natriumkanals Nav1.7 in Verbindung gebracht
werden [1]. Weitere sehr seltene hereditäre sensorische
und autonome Neuropathien (HSAN) beruhen auf 7.5 Modulation der Pharmakodynamik
Mutationen in weiteren Strukturen (. Tab. 7.2). Diese durch genetische Varianten
Mutationen sind auf wenige Familien begrenzt und tragen
nicht zur Variabilität der Schmerzempfindung im Allge- Die besten Daten zur interindividuellen Variabilität der
meinen bei. Pharmakodynamik von Analgetika liegen für Effekte von
Opioiden am μ-Opioidrezeptor OPRM1 vor. Dieser
Rezeptor ist hochpolymorph, allerdings sind die meisten
7.4 Genetische Ursachen Varianten sehr selten. Am besten untersucht ist eine mit
der Schmerzmodulation 15 % häufige Variante 118A>G, die für einen Asn40Asp-
Austausch kodiert. Hierdurch wird eine extrazelluläre
Anders als die sehr seltenen genetischen Erkrankungen, Glykosilierungsstelle deletiert, wodurch es zur verminder-
die mit einer verminderten Schmerzsensibilität einher- ten Rezeptorexpression [21] bzw. zu einem verminderten
gehen können, führen genetische Varianten in Signal- Signaling [10] kommen könnte. Zahlreiche experimentelle
wegen der Nozizeption zu einer Modulation (Zu- oder Ansätze wie auch klinische Studien konnten zeigen, dass
Abnahme) in Abhängigkeit bestimmter Schmerzreize. Die OPRM1 118A>G die Pharmakodynamik von Opioiden
GTP-Cyclohydrolase 1 ist essenziell für die Synthese von beeinflusst. So konnte postoperativ ein erhöhter Dosis-
Tetrahydrobiopterin, einem Schlüsselmodulator für peri- bedarf für Alfentanil und Morphin nachgewiesen werden
pheren neuropathischen und entzündlichen Schmerz [18]. (s. Übersichtsarbeit [17]). In der Praxis eignet sich diese
Ein Haplotyp des GCH1-Gens, der eine Häufigkeit von Variante aber nicht zur Vorhersage der Schmerzmittel-
15,4 % in der kaukasischen Bevölkerung aufweist, ist in dosis, da diese inter- wie auch intraindividuell aufgrund
einer Studie mit signifikant vermindertem Schmerz nach der Toleranzbildung stark variiert.
Diskektomie von Patienten mit chronischem Rücken- > Einige Studien weisen darauf hin, dass eine Variante
schmerz assoziiert. im Gen des μ-Opioidrezeptors – OPRM1 118A>G –
Weitere genetische Modulatoren der Nozizeption sind den Opioidbedarf moduliert.
die Katechol-O-Methyltransferase (COMT) , der
μ-Opioidrezeptor (OPMR1), der Melanokortin-1-Rezep- Weitere genetische Faktoren, die die Pharmakodynamik
tor (MC1R) sowie Transient-receptor-potential-Kanäle von Analgetika beeinflussen können, sind die COMT
(TRP-Kanäle) wie TRPA1 und TRPV1. Für diese Modula- (s. oben) sowie möglicherweise Varianten im Prostaglan-
toren liegen jedoch weniger belastbare Daten vor. Für dinendoperoxidsynthase-2-Gen (PTGS2-Gen), das für die
einen bestimmten Haplotyp des COMT-Gens konnte Cyclooxygenase 2 (COX2) kodiert. Hier besteht aber nur
ein signifikant verbesserter ODI-Index (ODI: »oswestry geringe Evidenz, und belastbare Daten bei der Behandlung
low back pain disability«) bei Patienten, die sich einem chronischer Rückenschmerzen liegen nicht vor.
70 Kapitel 7 · Genetik

7.6 Genetische Unterschiede H3CO


HO
der Pharmakokinetik von Analgetika
CYP2D6
7.6.1 NSAIDs O O
N CH3 N
H H
Nichtsteroidale Antiphlogistika wie Diclofenac werden H H
teilweise über das polymorphe CYP2C9 metabolisiert. Es HO HO
sind distinkte Unterschiede bei gesunden Freiwilligen Codein Morphin
nachgewiesen worden, der Unterschied bezüglich der an- . Abb. 7.1 Circa 10 % des nicht analgetisch wirksamen Prodrugs
algetischen und antiphlogistischen Wirkung erscheint in Codein werden durch CYP2D6 zu Morphin demethyliert
klinischen Studien aber nicht relevant bzw. konnte bislang
nicht nachgewiesen werden. Auch besteht keine eindeutige
Assoziation des Ausmaßes unerwünschter Wirkungen wie die Wiederaufnahme der Neurotransmitter Noradrenalin
gastrointestinaler Blutungen mit genetischen Varianten und Serotonin hemmt und damit koanalgetische Eigen-
von CYP2C9 [2]. schaften aufweist. CYP2D6-PMs weisen eine signifikant
7 geringere Analgesie auf und benötigen häufig eine
»Rescuemedikation« bei Nichtansprechen auf die Trama-
7.6.2 Opioide doltherapie. Obwohl die agonistische Wirkung von
O-Desmethyltramadol am μ-Opioidrezeptor schwächer
jCodein als die des Morphins ist, ist auch bei Tramadol eine schwere
Das Prodrug Codein ist kaum analgetisch, sondern anti- Atemdepression bei einem Patienten beobachtet worden,
tussiv wirksam. Erst die Demethylierung des Moleküls zu der eine CYP2D6-Genduplikation und gleichzeitig eine
Morphin ermöglicht die Bindung des Moleküls am Niereninsuffizienz aufwies. In einer Studie an freiwilligen
μ-Opioidrezeptor und entsprechende analgetische Probanden hatten CYP2D6-UMs eine höhere Schmerz-
Wirkung. Da nur ca. 10 % dieses Prodrugs in den aktiven schwelle, litten aber auch zu 50 % unter Übelkeit [5].
Metaboliten Morphin umgewandelt werden, wird Codein
als eher schwaches Analgetikum der WHO-Gruppe II jOxycodon und Hydrocodon
betrachtet. Die Demethylierungsreaktion wird durch das Auch die Opioide werden teilweise durch CYP2D6 meta-
polymorphe Cytochrom P450 2D6 (CYP2D6) katalysiert bolisiert. Es bilden sich die (aktiven) Metaboliten Oxymor-
(. Abb. 7.1). Circa 8 % der deutschen Bevölkerung sind phon und Hydromorphon. Die Unterschiede zwischen
sog. CYP2D6-Poor-Metabolizer (PM), die keine CYP2D6- CYP2D6-Normalmetabolisierern und -PM sind aus-
Aktivität aufweisen. Entsprechend können diese Indivi- geprägt, belastbare Daten zur Pharmakodynamik in Ab-
duen Codein nicht in Morphin umwandeln. gängigkeit vom CYP2D6-Genotyp liegen bislang aber
Neben dem Verlust der Aktivität weist CYP2D6 auch nicht vor.
in 2–3 % der deutschen Bevölkerung Genduplikationen > Tramadol ist ein CYP2D6-Prodrug. CYP2D6-PMs
auf. Die Folge ist eine verstärkte Proteinexpression mit benötigen häufiger eine »Rescuemedikation«,
hoher Enzymaktivität, die mit dem Phänotyp des Ultrara- bei CYP2D6-UMs ist über einzelne Fälle von Atem-
pidmetabolisierers (UM) einhergeht. UMs können mehr depression berichtet worden, insgesamt gilt das
Morphin als erwünscht bilden, es besteht die Gefahr einer Medikament aber als sicher.
Atemdepression; über einzelne fatale Verläufe ist berichtet
worden [16].
> Codein wird von ca. 10 % der Bevölkerung nicht in
das analgetisch wirksame Morphin demethyliert
7.6.3 Arzneistofftransporter
(Poor-Metabolizer). 2–3 % bilden dagegen größere
Mengen Morphin (Ultrarapidmetabolisierer). Hier
Opioide sind Substrate von ABC-Effluxtransportern. Hier-
besteht ggf. die Gefahr der Atemdepression.
bei ist ABCB1 (MDR1, P-Glykoprotein) von besonderer
Bedeutung für die meisten Opioide. Das die Darmmotilität
hemmende Loperamid, das normalerweise nicht die Blut-
jTramadol Hirn-Schranke überwindet, dringt bei Hemmung von P-
Tramadol wird ebenfalls durch CYP2D6 in der Leber Glykoprotein (z. B. durch Verapamil) in den Liquorraum
in einen aktiven Metaboliten überführt. Der Metabolit und entfaltet zentrale Effekte wie Miosis und Sedation.
O-Desmethyltramadol hat eine 200-fach stärkere Wirkung Eine Beobachtungsstudie an ambulanten Patienten
am μ-Opioidrezeptor OPRM1 als die Muttersubstanz, die weist darauf hin, dass der Opioidbedarf bei Trägern der
Literatur
71 7
3435T-Variante signifikant geringer ist als bei Trägern des 4. Heffner KL, France CR, Trost Z, Ng HM, Pigeon WR (2011) Chronic
Wildtyps [8]. Diese Variante wird mit veränderter P-Gly- low back pain, sleep disturbance, and interleukin-6. Clin J Pain
27:35–41
koproteinexpression bzw. Proteinformierung in Ver-
5. Kirchheiner J, Keulen JT, Bauer S, Roots I, Brockmoller J (2008)
bindung gebracht. Effects of the CYP2D6 gene duplication on the pharmacokinetics
Die hohe inter- und intraindividuelle Variabilität der and pharmacodynamics of tramadol. J Clin Psychopharmacol
Expression von P-Glykoprotein trägt jedoch mehr zur 28:78–83
Modulation der Bioverfügbarkeit von Opioiden bei, als 6. Livshits G, Popham M, Malkin I, Sambrook PN, Macgregor AJ,
Spector T, Williams FM (2011) Lumbar disc degeneration and
dies einzelne genetische Varianten vermögen. Die geneti-
genetic factors are the main risk factors for low back pain in
schen Varianten von ABCB1 erlangen somit keine prädik- women: the UK Twin Spine Study. Ann Rheum Dis 70:
tive Bedeutung. 1740–1745
7. Lotsch J, Geisslinger G, Tegeder I (2009a) Genetic modulation of
> Mit Ausnahme von Mutationen im Nav1.7-Gen, die
the pharmacological treatment of pain. Pharmacol Ther 124:
zu einem Verlust der Schmerzperzeption führen, 168–184
gibt es nur wenige genetische Varianten, die eine 8. Lotsch J, von Hentig N, Freynhagen R, Griessinger N, Zimmer-
Assoziation zum akuten Schmerzempfinden auf- mann M, Doehring A, Rohrbacher M, Sittl R, Geisslinger G (2009b)
weisen. Die analgetische Wirkung typischer Cross-sectional analysis of the influence of currently known
Schmerzmittel wie NSAIDs oder Opioide lässt sich pharmacogenetic modulators on opioid therapy in outpatient
pain centers. Pharmacogenet Genomics 19:429–436
anhand genetischer Varianten kaum vorhersagen.
9. Mio F, Chiba K, Hirose Y, Kawaguchi Y, Mikami Y, Oya T, Mori M,
Die Ausnahme ist Codein – der prädiktive Nutzen Kamata M, Matsumoto M, Ozaki K, Tanaka T, Takahashi A, Kubo T,
einer eigens dafür durchgeführten pharmakogene- Kimura T, Toyama Y, Ikegawa S (2007) A functional polymorphism
tischen Untersuchung erscheint aber zweifelhaft, da in COL11A1, which encodes the alpha 1 chain of type XI collagen,
wesentlich zuverlässigere Alternativmedikamente is associated with susceptibility to lumbar disc herniation. Am J
Hum Genet 81:1271–1277
für Codein zur Verfügung stehen.
10. Oertel BG, Kettner M, Scholich K, Renne C, Roskam B, Geisslinger
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receptor genetic variant diminishes the receptor signaling
efficacy in brain regions processing the sensory information of
7.7 Zusammenfassung pain. J Biol Chem 284:6530–6535
11. Paassilta P, Lohiniva J, Goring HH, Perala M, Raina SS, Karppinen J,
Die zunehmenden Kenntnisse über die genetische Varia- Hakala M, Palm T, Kroger H, Kaitila I, Vanharanta H, Ott J,
bilität und tiefer gehendes Verständnis der molekular- Ala-Kokko L (2001) Identification of a novel common genetic risk
factor for lumbar disk disease. JAMA 285:1843–1849
biologischen Prozesse der Nozizeption erlauben eine zu- 12. Seki S, Kawaguchi Y, Chiba K, Mikami Y, Kizawa H, Oya T, Mio F,
nehmend bessere Abschätzung der Bedeutung der Genetik Mori M, Miyamoto Y, Masuda I, Tsunoda T, Kamata M, Kubo T,
sowohl für die Entstehung des Schmerzes als auch für die Toyama Y, Kimura T, Nakamura Y, Ikegawa S (2005) A functional
analgetische Therapie. Eine eindeutige Assoziation besteht SNP in CILP, encoding cartilage intermediate layer protein, is
jedoch nur in wenigen Fällen. Für die personalisierte associated with susceptibility to lumbar disc disease. Nat Genet
37:607–612
Therapie des Schmerzes bedarf es aber eines multimodalen
13. Solovieva S, Leino-Arjas P, Saarela J, Luoma K, Raininko R,
Ansatzes genomweiter Daten in Verbindung mit der ge- Riihimaki H (2004) Possible association of interleukin 1 gene locus
nauen Charakterisierung des individuellen Phänotyps. polymorphisms with low back pain. Pain 109:8–19
14. Solovieva S, Noponen N, Mannikko M, Leino-Arjas P, Luoma K,
Raininko R, Ala-Kokko L, Riihimaki H (2007) Association between
the aggrecan gene variable number of tandem repeats poly-
Literatur morphism and intervertebral disc degeneration. Spine (Phila Pa
1976) 32:1700–1705
1. Cox JJ, Reimann F, Nicholas AK, Thornton G, Roberts E, Springell K, 15. Somogyi AA, Barratt DT, Coller JK (2007) Pharmacogenetics of
Karbani G, Jafri H, Mannan J, Raashid Y, Al Gazali L, Hamamy H, opioids. Clin Pharmacol Ther 81:429–444
Valente EM, Gorman S, Williams R, McHale DP, Wood JN, Gribble 16. Stamer UM, Stuber F (2008) Codeine induced respiratory
FM, Woods CG (2006) An SCN9A channelopathy causes congeni- depression in a child. Paediatr Anaesth 18:272–273
tal inability to experience pain. Nature 444:894–898 17. Tegeder I, Lötsch J (2009) Current evidence for a modulation of
2. Estany-Gestal A, Salgado-Barreira A, Sanchez-Diz P, Figueiras A low back pain by human genetic variants. J Cell Mol Med
(2011) Influence of CYP2C9 genetic variants on gastrointestinal 13:1605–1619
bleeding associated with nonsteroidal anti-inflammatory drugs: a 18. Tegeder I, Costigan M, Griffin RS, Abele A, Belfer I, Schmidt H,
systematic critical review. Pharmacogenet Genomics 21:357–364 Ehnert C, Nejim J, Marian C, Scholz J, Wu T, Allchorne A,
3. Hartvigsen J, Nielsen J, Kyvik KO, Fejer R, Vach W, Iachine I, Diatchenko L, Binshtok AM, Goldman D, Adolph J, Sama S, Atlas SJ,
Leboeuf-Yde C (2009) Heritability of spinal pain and consequenc- Carlezon WA, Parsegian A, Lotsch J, Fillingim RB, Maixner W,
es of spinal pain: a comprehensive genetic epidemiologic analy- Geisslinger G, Max MB, Woolf CJ (2006) GTP cyclohydrolase and
sis using a population-based sample of 15,328 twins ages 20–71 tetrahydrobiopterin regulate pain sensitivity and persistence. Nat
years. Arthritis Rheum 61:1343–1351 Med 12:1269–1277
72 Kapitel 7 · Genetik

19. Tilkeridis C, Bei T, Garantziotis S, Stratakis CA (2005) Association


of a COL1A1 polymorphism with lumbar disc disease in young
military recruits. J Med Genet 42:e44
20. Yuan HY, Tang Y, Liang YX, Lei L, Xiao GB, Wang S, Xia ZL (2010)
Matrix metalloproteinase-3 and vitamin d receptor genetic
polymorphisms, and their interactions with occupational expo-
sure in lumbar disc degeneration. J Occup Health 52:23–30
21. Zhang Y, Wang D, Johnson AD, Papp AC, Sadee W (2005) Allelic
expression imbalance of human mu opioid receptor (OPRM1)
caused by variant A118G. J Biol Chem 280:32618–32624
22. Hirose Y, Chiba K, Karasugi T, Nakajima M, Kawaguchi Y, Mikami Y,
Furuichi T, Mio F, Miyake A, Miyamoto T, Ozaki K, Takahashi A,
Mizuta H, Kubo T, Kimura T, Tanaka T, Toyama Y, lkegawa S (2008)
A functional polymorphism in THBS2 that affects alternative
splicing and MMP binding is associated with lumbar-disc
herniation. Am J Hum Genet 82:1122–1129

7
73 8

Spezifischer, nichtspezifischer,
akuter/subakuter und
chronischer Rückenschmerz:
Definition
H.-R. Casser

Literatur – 75

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
74 Kapitel 8 · Spezifischer, nichtspezifischer, akuter/subakuter und chronischer Rückenschmerz: Definition

Rückenschmerz ist ein Symptom, aber keine Diagnose. Die Schmerz; s. oben, Definition), die eine klare pathoanato-
Versuche, den Rückenschmerz zeitlich oder anatomisch zu mische Abgrenzung aufweisen, wie z. B. Fraktur, Tumor
erfassen, sind unbefriedigend und werden der Multidimen- und Infektion sowie neurologische Defizite.
sionalität des Rückenschmerzes nicht gerecht. Eine Ein-
> Folgt man der Definition, beträgt der Anteil der »red
teilung in nichtspezifische und spezifische Rückenschmerzen
flags« maximal 15 % der Rückenschmerzursachen [4],
ermöglicht eine pragmatische Ersteinschätzung. Es besteht
was bedeutet, dass 80–90 % der Rückenschmerzen
erheblicher Fortbildungsbedarf bei der differenzierten Er-
nichtspezifisch sind und damit eine nicht gesicherte
fassung und der individuellen Therapieplanung akuter und
pathoanatomische Entität besitzen [7].
chronischer Rückenschmerzen.
Anderseits ist bekannt, dass ein Großteil der Ursachen des
Rückenschmerzen stellen keine medizinische Diagnose Rückenschmerzes Funktionsstörungen sind, die nur durch
dar, sondern sind ein Symptom unterschiedlichster Ur- klinische und in der Regel nicht oder nur unzureichend
sachen. Anatomisch umfassen sie den Kreuzschmerz, der durch bildgebende Verfahren nachweisbar sind, wie
als Schmerz unterhalb des Rippenbogens und oberhalb der z. B. das Iliosakralgelenksyndrom (ISG-Syndrom), das
Gesäßfalten, mit oder ohne Ausstrahlung in die Beine Facettensyndrom oder muskuläre Dysbalancen. Sie
definiert ist [2], und den oberen Rückenschmerz in der werden vom Patienten unterschiedlich wahrgenommen
Umgebung der Brustwirbelsäule bis zum Nacken. Die und rufen eine wechselnde klinische Symptomatik hervor.
Hauptbeschwerden befinden sich im unteren Rücken, d. h. Schwierig ist auch die Einordnung von degenerativen
8 im Lenden- und Kreuzbeinbereich, ohne dass die Veränderungen, die durch die fortgeschrittene bildgeben-
Beschwerden immer vertebragen anzusehen sind. Bekann- de Diagnostik detailliert nachgewiesen werden können:
terweise können auch Bauch- oder Beckenorgane Be- Sie sind einerseits als typische Alterserscheinungen zu
schwerden im »tiefen« Rücken auslösen. werten, anderseits erlangen sie durch Aktivierung Krank-
Die Abklärung der Ursache von Rückenschmerzen ist heitswert, wie z. B. die aktivierte Spondylarthrose. Ein
häufig schwierig und, wenn überhaupt, nur im Verlauf zu anderes Beispiel ist die Spinalkanalstenose, die in den
beurteilen. Befunden der kernspintomografischen Untersuchung
> Eine pragmatische Unterscheidung in nichtspezi-
beim älteren Patienten häufig erwähnt wird, deren
fischen (nicht klassifizierten) und spezifischen
Krankheitswert aber allein durch die klinische Diagnostik
(klassifizierten) Kreuzschmerz, wie sie in der
inklusive der neurologischen Beurteilung zu erfassen
Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz [2]
ist.
vorgenommen wird, ist der Versuch, eine erste > Gerade die zahlreichen degenerativen Veränderun-
Übersicht zu schaffen und das weitere Vorgehen zu gen der Wirbelsäule mit ihrem potenziellem Krank-
strukturieren. heitswert [6], aber auch mit Funktionsstörungen der
Gelenke und der Muskulatur, die heute neuro-
anatomisch und neurophysiologisch durchaus
Definition Rückenschmerz [1] nachvollziehbar sind, lassen sich häufig in ihrer
5 Ein Symptom, keine Diagnose klinischen Bedeutung nur schwer einschätzen.
5 Ausdruck eines multifaktoriellen Geschehens mit
verschiedenen Erklärungsmodellen Als neurophysiologische Ursachen des nichtspezifischen
5 Differenzierung zwischen spezifischen und Kreuzschmerzes im peripheren Nervensystem wie im
nichtspezifischen Rückenschmerzen [2] Muskel gelten zunächst die Sensibilisierung von Nozizep-
– Spezifische (klassifizierte) Rückenschmerzen: toren praktisch aller Wirbelsäulenstrukturen und der
eindeutiger diagnostischer Nachweis mit spastische Hypertonus der Muskulatur als Antwort auf
entsprechender Therapie Noziafferenzen, ggf. unter Ausbildung von Tendomyosen
– Nichtspezifische (nicht klassifizierte) Rücken- und Triggerpunkten. Weitere Gründe sind die im zentra-
schmerzen: kein sicherer kausaler Zusammen- len Nervensystem übertragenen Schmerzen infolge
hang zwischen Beschwerdeangabe, klinischem Konvergenz durch Nozizeption aus Organen, die nicht der
Befund und bildgebender Diagnostik Wirbelsäule zuzurechnen sind, als auch Schmerzen, die
durch Funktionsstörungen zentralnervöser schmerz-
hemmender Systeme entstehen [9, 10].
Beim nichtspezifischen Kreuzschmerz lässt sich im Ver- Befunde, wie z. B. die manualmedizinische »Blockie-
gleich zum spezifischen Kreuzschmerz keine eindeutige rung«, erfordern eine hohe Expertise, da sie eine bestimm-
Ursache erkennen. Als spezifische Ursachen gelten die sog. te, z. B. manualmedizinische Vorgehensweise nahelegen,
»red flags« (7 Kap. 9, Versorgungspfade akuter/subakuter deren Evidenz derzeit umstritten ist. Hinzu kommt die
Literatur
75 8
große Verantwortung des Erstbehandlers, dem Patienten 4 auf der sozialen Ebene durch Störung der sozialen In-
ein realistisches und praktikables Erklärungsmodell seiner teraktion und Behinderung der Arbeit.
Beschwerden zu vermitteln, das einer unberechtigten > Die Multidimensionalität des Symptoms Rücken-
Beunruhigung des Patienten entgegenwirkt und seine schmerz erfordert eine sehr verantwortungsbe-
Motivation fördert, eigenständig sekundärprophylaktisch wusste und vorurteilsfreie Abklärung mit differen-
tätig zu werden. Einerseits sollte bei unklarer Erstdiagnose ziertem und dosiertem Einsatz diagnostischer und
eine diagnostische und therapeutische Überstrapazierung therapeutischer Maßnahmen. Weder Polypragmatis-
des Patienten mit der Gefahr einer iatrogenen Chronifizie- mus noch fatalistisches Abwarten werden dem
rung vermieden werden, anderseits sollte keine Verharm- Patienten gerecht.
losung prognostisch ungünstiger struktureller wie auch
funktioneller Veränderungen stattfinden. Die vorschnelle
Delegation unklarer Beschwerden auf psychosoziale Ur-
sachen genauso wie deren Nichtberücksichtigung im Literatur
Behandlungsmodell des Patienten sind gefährliche Ein-
1. Baron R, Koppert W, Strumpf M, Willweber-Strumpf A (Hrsg)
schränkungen, die dem anerkannten biopsychosozialen
(2013) Praktische Schmerzmedizin. Springer, Heidelberg
Schmerzmodell nicht entsprechen. 2. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung
Die zeitliche Unterteilung des Rückenschmerzes in (KBV) und Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer
akut, subakut und chronisch mit Begrenzung des akuten Fachgesellschaften (AWMF) (Hrgs) (2013) Nationale Versorgungs-
Schmerzes auf eine Dauer von 6 Wochen, des subakuten leitlinie Kreuzschmerz. http://www.leitlinien.de/nvl/
kreuzschmerz/. Zugegriffen: 9. September 2015
auf 6–12 Wochen und mit Festlegung des chronischen
3. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familien-
Schmerzes auf über 12 Wochen ist unzureichend. medizin (DEGAM) (2003) Kreuzschmerzen, DEGAM-Leitlinie Nr. 3.
Als geeigneter haben sich Definitionen bewährt, die http://www.degam.de/files/Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Doku-
sich am Vorkommen des Rückenschmerzes in einem Zeit- mente/DEGAM-S3-Leitlinien/LL-03_Kreuz_mod-007.pdf.
raum von mindestens ½–1 Jahr orientieren [8]: Zugegriffen: 9. September 2015
4 Akut – das heißt neu aufgetreten bei einer Dauer bis 4. Deyo RA, Rainville J, Kent DL (1992) What can the history and
physical examination tell us about low back pain? JAMA
zu 12 Wochen bzw. ohne Rezidiv innerhalb der
268(6):760–765
letzten 12 Monate. 5. Diener HC (1997) Schmerzbegriff. In: Diener HC, Meier CH (Hrsg)
4 Mittelfristig oder subakut – wenn die Rücken- Das Schmerztherapiebuch. Urban & Schwarzenberg, München
schmerzen an weniger als der Hälfte der Tage des 6. Fanuele JC, Birkmeyer NJ, Abdu WA, Tosteson TD, Weinstein JN
zurückliegenden Halbjahres auftraten. (2000) The impact of spinal problems on the health status of
patients: have we underestimated the effect? Spine 25(12):
4 Chronisch – wenn sie an mehr als der Hälfte der Tage
1509–1514
des zurückliegenden Jahres bestanden. 7. Koes BW, Tulder MW van, Thomas S (2006) Diagnosis and
4 Rezidivierend – wenn die Rückenschmerzen nach treatment of low back pain. BMJ 332:1430–1434
einem mindestens 6 Monate andauernden, symptom- 8. Korff M v (1994) Studying the natural history of back pain. Spine
freien Intervall erneut auftreten [3]. 19:2041–2046
9. Locher H, Casser HR, Strohmeier M (2011) Spezielle Schmerz-
> Aufgrund des typischen chronisch-remittierenden therapie der Halte- und Bewegungsorgane. Thieme, Stuttgart
Verlaufs von Rückenschmerzen und des unter- 10. Mense S (2005) Neurobiologie des unspezifischen Rücken-
schiedlichen Charakters ist eine rein zeitliche Defini- schmerzes. In: Hildebrandt J, Müller G, Pfingsten M (Hrsg) Die
Lendenwirbelsäule, 1. Aufl. Elsevier, München
tion nicht in der Lage, der Dynamik des Schmerzge-
schehens, d. h. des prognostisch äußerst relevanten
Übergangs vom akuten zum chronischen Schmerz,
ausreichend gerecht zu werden.

Inhaltlich wird der chronische bzw. chronifizierte Rücken-


schmerz besser durch die Charakterisierung seiner Multi-
dimensionalität erfasst [5], und zwar:
4 auf der physiologisch-organischen Ebene durch
Mobilitätsverlust und Funktionseinschränkung,
4 auf der kognitiv-emotionalen Ebene durch Störung
von Empfindsamkeit und Stimmung sowie durch un-
günstige Denkmuster,
4 auf der Verhaltensebene durch schmerzbezogenes
Verhalten,
77 III

Versorgungspfade
Kapitel 9 Akuter/subakuter lumbaler Rückenschmerz – 79
J.-F. Chenot, A. Becker, R. Baron, H.-R. Casser, M. Hasenbring

Kapitel 10 Chronischer Rückenschmerz – 89


A. Becker, J.-F. Chenot, H.-R. Casser, R. Baron, M. Hasenbring
79 9

Akuter/subakuter lumbaler
Rückenschmerz
J.-F. Chenot, A. Becker, R. Baron, H.-R. Casser, M. Hasenbring

9.1 Diagnostische Strategie – 80


9.1.1 Hinweise auf eine »extravertebrale« Ursache – 80
9.1.2 Hinweise auf einen akuten, chirurgisch behandlungsbedürftigen Notfall,
radikuläre Symptomatik oder spezifische Ursachen (»red flags«) – 81
9.1.3 Therapie der akuten nichtspezifischen Rückenschmerzen – 85
9.1.4 Risikofaktoren (»yellow flags«)
und Prävention der Chronifizierung von Rückenschmerzen – 86

Literatur – 87

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
80 Kapitel 9 · Akuter/subakuter lumbaler Rückenschmerz

Akute Kreuzschmerzen bedürfen einer differenzierten durchgeführt, bei der die Verlaufsbeobachtung der Symp-
Beurteilung mit entsprechend abgestimmter Behandlung. tomatik wesentlich das weitere Vorgehen steuert. Dies
Bei Hinweisen für »red flags« ist unverzüglich eine weiter- trägt sowohl der hohen Spontanheilungsrate bei Kreuz-
führende Abklärung in einem spezialisierten Zentrum zu schmerzen als auch dem insgesamt seltenen Vorliegen
veranlassen. Liegen spezifische Rückenschmerzen vor, spezifischer Pathologien in der ambulanten Versorgung
sollten weiter gehende diagnostische Schritte eingeleitet Rechnung.
werden und eine Überweisung zum Fachspezialisten erfol- Eine Erfassung der ICD-Diagnosen bei Hausärzten wie
gen. Ergibt sich anamnestisch als auch klinisch kein Hinweis auch bei Orthopäden zeigt, dass bei beiden Arztgruppen
für eine nachweisbare Pathologie oder einen gefährlichen der Rückenschmerz eine dominierende Rolle einnimmt.
Verlauf, sollte von weiteren diagnostischen Maßnahmen Dabei wird der Orthopäde sowohl als primärer Ansprech-
abgesehen werden und stattdessen der weitere Verlauf partner für Rückenschmerzen angesehen als auch als
nach eingehender Beratung und Unterstützung eigener Konsiliarius nach Erstbehandlung durch den Hausarzt.
Aktivitäten kurzfristig kontrolliert werden. Spätestens nach Insbesondere bei unklarer Ursache bzw. Therapieresistenz
6 Wochen therapieresistenter Beschwerden sollte ein inter- der Rückenschmerzen erfolgt die Überweisung des Patien-
disziplinäres Assessment erfolgen, um ggf. ein multimodales ten vorzugsweise zum Orthopäden, Neurologen oder
Therapieprogramm einzuleiten. Rheumatologen zur weiteren Abklärung.

Fallbeispiel Fortsetzung Fallbeispiel


Der 35-jährige Bankangestellte M. stellt sich zum zweiten Herr M. hat keine relevanten Vorerkrankungen, er ist in
Mal in einem Jahr wegen Rückenschmerzen vor, die in die einem guten Allgemeinzustand, und die Schmerzen sind
9 Vorderseite des rechten Oberschenkels ausstrahlen. Die typisch bewegungsabhängig, sodass eine extravertebrale
Schmerzen sind am Abend vorher beim Aufstehen aus dem Ursache unwahrscheinlich ist. Nicht nur wegen der Aus-
Sessel plötzlich aufgetreten. Auch wenn die letzte Episode strahlung der Schmerzen ins rechte Bein führt der Hausarzt
nur eine Woche gedauert hat, drängt er auf eine Klärung der eine kurze körperliche Untersuchung durch, auch wenn eine
Ursache. radikuläre Ursache der Schmerzen bei Ausstrahlung nur in
den Oberschenkel unwahrscheinlich ist. Nach einer unauf-
fälligen Kraft- und Reflexprüfung, einem negativen Lasègue-
9.1 Diagnostische Strategie Test und einem negativen Femoralisdehnungszeichen, bei
dem nur Schmerzen im Lendenbereich durch die damit
Lumbale Rückenschmerzen sind eine Volkskrankheit und verbundene Entlordosierung bzw. Hyperlordosierung auf-
gehören in der hausärztlichen Praxis zu den häufigen treten, werden die Beinbeschwerden als funktionell
Konsultationsanlässen. Die für den hausärztlichen Bereich (Schmerzübertragung in den Oberschenkel) eingeordnet.
geltende S3-Leitlinie Kreuzschmerzen der Deutschen Eine Untersuchung der Hüfte und des Iliosakralgelenks ist
Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin ebenfalls unauffällig. Einen Hinweis auf eine spezifische
(DEGAM) von 2003 wurde 2010 durch die interdisziplinäre Ursache findet der untersuchende Arzt nicht. Nach einer
Nationale Versorgungsleitlinie »Kreuzschmerz« (NVL) gründlichen Anamnese und der körperlichen Untersuchung
abgelöst [1]. In der Hausarztpraxis steuern hauptsächlich kann der Patient überzeugt werden, auf eine Bildgebung
Anamnese und körperliche Untersuchung das therapeu- zu verzichten. Der Arzt fragt ihn nach seiner Krankheitsvor-
tische Vorgehen. In der Primärversorgung von Patienten stellung. Gemeinsam erarbeiten sie, dass Herr M. seit ca.
mit akuten Beschwerden im LWS- oder HWS-Bereich be- 5 Jahren keinen Sport treibt und eine überwiegend sitzende
stimmen 3 klinische Leitfragen das weitere Vorgehen: Tätigkeit mit geringer körperlicher Belastung ausübt. Mit
4 Liegt den Schmerzen eine Störung der Wirbelsäule einer wissenschaftlich sicher zu bezweifelnden Erklärung
und ihrer diskoligamentären Strukturen oder eine einigen sich Arzt und Patient, dass eine unzureichende
»extravertebrale« Ursache zugrunde? Bauch- und Rückenmuskulatur am ehesten Ursache der
4 Liegen ein akuter, chirurgisch behandlungsbedürfti- Beschwerden ist.
ger Notfall, eine radikuläre Symptomatik oder Hin-
weise auf eine spezifische Ursache der Beschwerden
vor (»red flags«)? 9.1.1 Hinweise auf eine »extravertebrale«
4 Liegen psychosoziale Risikofaktoren für eine Chroni- Ursache
fizierung vor (»yelllow flags«)?
Die Mehrheit der Beschwerden im LWS-Bereich ist
Um die Belastung für den Patienten und das Gesundheits- muskuloskeletal bedingt und kann ätiologisch nicht ab-
system gering zu halten, wird eine gestufte Diagnostik schließend geklärt werden. Über die Häufigkeit extraver-
9.1 · Diagnostische Strategie
81 9
tebraler Ursachen für Kreuzschmerzen in der Primärver- onalen und internationalen Leitlinien wie auch der aktuel-
sorgung gibt es keine zuverlässigen epidemiologischen len NVL übernommen (. Tab. 9.1). Das Konzept der »red
Daten. Sie sind insgesamt eher selten und werden in der flags« beruht hauptsächlich auf klinischen Überlegungen
Primärversorgung auf weniger als 2 % geschätzt [6]. Der und ist epidemiologisch nicht gut validiert. Was genau zu
anatomisch nicht korrekte Begriff »extravertebral« bezieht den »red flags« zählt, wird in den Leitlinien sehr unter-
sich auf Ursachen für Rückenschmerzen, die nicht primär schiedlich definiert. . Tab. 9.1 zeigt eine Auswahl, die aus
durch eine Erkrankung der Wirbelsäule und ihrer diskoli- mehreren Leitlinien zusammengestellt wurde.
gamentären Strukturen oder der umliegenden Muskulatur Ein Beispiel für ein problematisches »red flag« sind die
bedingt sind. Eine routinemäßige Ausschlussdiagnostik ist Kriterien »Alter unter 20 Jahre« und »Alter über 50 Jahre«.
angesichts der niedrigen Wahrscheinlichkeit extraverte- Der klinische Hintergrund ist, dass bei Kindern z. B. Ent-
braler Ursachen und wegen der Vielzahl der Differenzial- wicklungsstörungen vorliegen könnten und bei Erwachse-
diagnosen nicht sinnvoll. Die Indikation für weiterführen- nen mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit für
de Diagnostik wie Labor Bildgebung oder Krankenhaus- Metastasen oder osteoporotische Frakturen zunimmt.
einweisung ergibt sich aus den anamnestischen Hinweisen, Eine häufige Fehlinterpretation ist, dass das Vorliegen
der körperlichen Untersuchung sowie dem Verlauf der einer »red flag« automatisch zu weiterführender Diagnos-
Symptome (7 Übersicht). Die meisten Fälle von extraverte- tik bzw. Überweisung führen sollte. Rückenschmerzen
bralen Rückenschmerzen sind anhand der Symptomkon- sind sowohl bei Kindern als auch älteren Erwachsenen
stellation klinisch leicht zu erkennen [3]. sehr häufig, daher ist Alter allein als Kriterium zur Indi-
kation weiterführender Diagnostik ungeeignet. Die Leit-
linien empfehlen daher bei »red flags« keinen Handlungs-
Symptome, die auf »extravertebrale« Rücken-
automatismus, sondern nur eine erhöhte Aufmerksamkeit.
schmerzen hinweisen können
Die Wertung der Befunde und Konsequenzen daraus blei-
5 Ungewöhnliche Schmerzlokalisation und
ben der individuellen ärztlichen Expertise überlassen.
Ausbreitung
Schwere Traumen oder gravierende Paresen werden in
5 Kolikartige Schmerzen
Deutschland im Regelfall sofort in spezialisierten Zentren
5 Fieber
behandelt. Manche der Red-flag-Pathologien sind in der
5 Schwitzen
ambulanten Versorgung so selten, dass die meisten Haus-
5 Kreislaufprobleme
ärzte diese kaum oder nie sehen. Für das Cauda-equina-
5 Bewegungsunabhängige Ruheschmerzen
Syndrom wird eine Inzidenz (Neuerkrankungsrate) von
5 Keine Einschränkung der Beweglichkeit
1,5–3,4:1.000.000 geschätzt [10]. Nur bei Verdacht macht
5 Nächtliche Schmerzen
es Sinn, nach Mastdarm- und Blasenfunktionsstörungen
zu fragen oder auf eine Reithosenanästhesie zu achten, die
jeweils als oligosymptomatische Ausprägung auch isoliert
vorhanden sein können. Sind diese »red flags« vorhanden,
9.1.2 Hinweise auf einen akuten, ist allerdings eine sofortige neurologische/neurochirur-
chirurgisch behandlungsbedürftigen gische Abklärung erforderlich. Diese beinhaltet eine wei-
Notfall, radikuläre Symptomatik oder terführende klinisch-neurologische Untersuchung (z. B.
spezifische Ursachen (»red flags«) Hinweise auf ein Querschnittsyndrom, Identifikation der
betroffenen Nervenwurzel) und eine bildgebende Untersu-
Da lumbale Rückenschmerzen häufig und schwere Patho- chung zur Diagnosesicherung (MRT). Bei Lähmungs-
logien in der ambulanten Versorgung selten sind, ist es erscheinungen an den Extremitäten, Blasen-/Mastdarm-
notwendig, weiterführende Diagnostik rational einzu- lähmung, Querschnittsyndrom und beim Konus-Kauda-
setzen. Eine breite Ausschlussdiagnostik ist aus epidemio- Syndrom ist eine schnelle operative Dekompression bei
logischen und ökonomischen Gründen in der Primärver- bildgebendem Nachweis von entsprechend großen Band-
sorgung weder möglich noch sinnvoll. Durch Anamnese scheibenvorfällen oder raumfordernden Prozessen not-
und körperliche Untersuchung kann in einer »diagnosti- wendig.
schen Triage« die Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte Bei älteren Patienten mit Rückenschmerzen nach
Pathologien vorliegen, verringert werden. Zusätzliche Un- Traumen muss berücksichtigt werden, dass auch Bagatell-
tersuchungen wie z. B. Bildgebung haben ohne klinische traumen zu Frakturen führen können, wenn die Patienten
Hinweise keinen diagnostischen Nutzen bei akuten Be- unter Osteoporose leiden.
schwerden [4]. Dazu wurde von der Clinical Standards Die häufigste spezifische Pathologie in der Primärver-
Advisory Group in den 1990er Jahren das Konzept der »red sorgung ist die ankylosierende Spondylarthritis mit einer
flags« entwickelt. Es wurde mit Variationen von allen nati- Inzidenz von ca. 6–7:100.000 (7 Kap. 10, »Chronischer
82 Kapitel 9 · Akuter/subakuter lumbaler Rückenschmerz

. Tab. 9.1 Warnhinweise – »red flags« – auf spezifische Rückenschmerzen in der Primärversorgung

Pathologie Klinische Hinweise Epidemiologie

Nervenkompression

– Bedeutender – Schmerzausstrahlung in die Beine | 1–2 %


lumbaler Band- – Lähmungen
scheibenvorfall – Reflexabschwächung im Seitenvergleich (Sensitivität 50 %, Spezifität 60 %)
– Dermatomale Sensibilitätsstörungen
– Positiver Lasègue-Test (Sensitivität 80 %, Spezifität 40 %)
– Positives Femoralisdehnungszeichen
– Lumbale Spinalkanal- – Alter >70 Jahre  1–5 %
|
stenose – Schmerzausstrahlung in beide Beine >70 Jahre
– Symptombesserung beim Vorbeugen
– Cauda-equina- – Schlaffe Parese <0,1 ‰
Syndrom – Reithosenanästhesie
– Mastdarmschwäche
– Blasenschwäche
Metastase/Tumor – Tumorerkrankung in der Anamnese (Sensitivität 55 %, Spezifität 98 %) <1 ‰
– Querschnittssymptomatik
– Nachtschmerz, Ruheschmerz
9 – Unerklärter Gewichtsverlust (Sensitivität 15 %, Spezifität 94 %)
– Alter >50 Jahre (Sensitivität 84 %, Spezifität 69 %)
Infektion – Anhaltendes Fieber in der Anamnese (Sensitivität 0 %, Spezifität 99 %) <1 ‰
– Intravenöser Drogenmissbrauch
– Immunsuppression
– Operation an der Wirbelsäule
Rheumatisch entzünd- – Morgensteifigkeit, Besserung mit Bewegung <1 %
liche Wirbelsäulen- – Schmerzen >3 Monate
erkrankung – Extravertebrale Begleiterkrankungen (z. B. Uveitis, Psoriasis, Colitis ulcerosa)
– Alter <40 Jahre (in Kombination mit anderen Hinweisen)
– Gutes Ansprechen auf NSAR
Fraktur – Trauma <1 ‰
– Bekannte Osteoporose
– Länger dauernde systemische Steroideinnahme (>3 Monate)
– Alter >70 Jahre
Weniger wichtige »spezifische« Diagnosen (keine »red flags«)
– Osteochondrose – Kein Zusammenhang von Bildgebung und Beschwerden Altersabhängiger
Normalbefund
– Spondylolisthese – Hyperlordose 3–4 % der Bevölkerung
– Schmerzen im Sitzen gebessert 80 % Grad I–II nach
– Geringer Zusammenhang von Bildgebung und Beschwerden Meyerding sind völlig
bedeutungslos
– Facettengelenk- – Kann auch invasiv nicht sicher diagnostiziert werden Altersabhängiger
arthrose – Kein Zusammenhang von Bildgebung und Beschwerden Normalbefund
– Keine zuverlässigen klinischen Symptome | unklar
– Eher Ältere >50 Jahre
– Diskogener Rücken- – Kann nur invasiv mit Diskografie diagnostiziert werden (umstritten) <1 %
schmerz – Indikation zur invasiven Diagnostik umstritten
– Iliosakralgelenk- – Funktionelle Diagnose 0–30 %
affektion – Kann nicht mit Bildgebung diagnostiziert werden Eher Jüngere
– Schmerz bewegungsabhängig im Gesäßbereich

– Fehlstatik, Wirbel- – Funktionelle Diagnose 0–30 %


blockade – Kann nicht mit Bildgebung diagnostiziert werden Eher Jüngere
– Schmerz bewegungsabhängig
9.1 · Diagnostische Strategie
83 9

. Tab. 9.2 Körperliche Untersuchung bei Rückenschmerzen

Basisuntersuchung bei Kreuzschmerzen ohne Begleitsymptomatik

Inspektion Allgemeinzustand, körperliche Beeinträchtigung, Schmerzerleben, Haltung, Beckenstand, Deformitäten,


Verletzungszeichen, Haut

Palpation – Schmerzhaftigkeit und Verspannung der lokalen Muskulatur und der begleitend betroffenen Muskulatur
– Lokaler Druck- oder Klopfschmerz (Fraktur)

Beweglichkeitsprüfung Ante-, Retro-, Lateroflexion

Nervendehnungstest Lasègue-Test (evtl. ergänzend Bragard-Test)

Fakultative Untersuchung bei Kreuzschmerzen ohne Begleitsymptomatik

– Finger-Boden-Abstand

– Schober-Zeichen

Ergänzende Basisuntersuchung bei Kreuzschmerzen mit Begleitsymptomatik

Ergänzende Anamnese – Muskuläre Schwäche


– Gefühlsstörungen in den Beinen sowie Blasen- und/oder Mastdarmlähmung/-entleerungsstörung

Neurologische – Muskelkraft: Dorsalextension der Zehen und Plantarflexion des Fußes (L5 bzw. S1) sowie Knieextension
Basisdiagnostik (L4), Hüftadduktion (L3) und Hüftflexion (L1–2), Hüftabduktion (L5), Hüftstreckung (S1)
– Dermatombezogene Sensibilitätsprüfung
– Muskeleigenreflexe: Achillessehnenreflex (ASR), Patellarsehnenreflex (PSR), und Tibialis-posterior-Reflex

Fakultative Untersuchung bei Kreuzschmerzen mit Begleitsymptomatik

Beweglichkeit in der – Patrick-Test (Faber-Test)


Hüfte – Innen-, Außenrotation und Beugung der Hüfte

Untersuchung des Anwendung mehrerer Schmerzprovokationstests, z. B. Patrick- oder Faber-Test, Gaenslen-Test, positiver
Sakroiliakalgelenks Posterior-Pelvic-Pain-Provocation-Test (P4-Test)

Rückenschmerz). Die Häufigkeit von Radikulopathien oder Bei auffälligen Befunden muss eine weitere Diagnostik
Myelopathien in der Primärversorgung ist unbekannt, da je nach Dringlichkeit im ambulanten oder stationären Be-
eine sichere diagnostische Abgrenzung insbesondere von reich veranlasst werden.
pseudoradikulären Beschwerden mit Beschwerden in den
Extremitäten in epidemiologischen Studien nicht trenn- Spezialärztliche Untersuchungen
scharf gelingt. Bei spezialärztlichen Untersuchungen, insbesondere durch
In Leitlinien wird pragmatisch neben den pathophy- den Orthopäden, sollten spezifische und funktionelle Ur-
siologisch relativ gut abgrenzbaren Ursachen wie Fraktur, sachen differenziert werden. Neben der Basisuntersuchung
Entzündung, Neoplasie und Verdacht auf eine radikuläre beim Rückenschmerz (. Tab. 9.2) sollte auch manualmedi-
Symptomatik auf eine weitere Subklassifizierung verzichtet. zinische Diagnostik und ggf. auch Therapie erfolgen. Die
Zum einen gelingt die Subklassifizierung nicht zuverlässig, körperliche Untersuchung dient dazu, spezifische und
zum anderen lassen sich daraus keine evidenzbasierten nichtspezifische Ursachen zu erkennen, mögliche anam-
spezifischen Handlungsempfehlungen ableiten. Zur kör- nestische Hinweise und Vorbefunde anhand der aktuellen
perlichen Untersuchung gehören im Sinne eines Minimal- körperlichen Situation zu überprüfen und zu bewerten
standards die Inspektion, Palpation, Bewegungsprüfung sowie anhand der Untersuchung im Gespräch mit dem Pa-
und der Lasègue-Test. Bei Hinweisen auf radikuläre Symp- tienten weitere Informationen zu erhalten. Insbesondere
tome (Ausstrahlung ins Bein oder muskuläre Schwäche) aus schmerztherapeutischer Sicht ist die Überprüfung der
wird die Untersuchung um eine Kraft-, Reflex- und Sensi- Oberflächensensibilität von Rumpf, Armen und Beinen
bilitätsprüfung erweitert (7 Kap. 12, »Untersuchungstechni- bedeutend, um z. B. den Nachweis von Hyperalgesien und
ken«) (. Tab. 9.2). Bei entsprechender Ausbildung und Allodynien zu führen.
Erfahrung sind differenziertere funktionelle Untersuchun- Neben der Basisuntersuchung ergänzen insbesondere
gen möglich, wie z. B. die Untersuchung des Iliosakralge- Muskeluntersuchungen zur Erfassung von Muskelverkür-
lenks. zungen, Muskeldysbalancen oder Tonusveränderungen
84 Kapitel 9 · Akuter/subakuter lumbaler Rückenschmerz

die Befundung. Dazu gehören Muskeltests, z. B. zum (traumatische Veränderungen der Wirbelsäule, osteoporo-
Nachweis einer Verkürzung der Ischiokruralmuskulatur, tische Frakturen, Nierenlager). Hinzu kommt die Beweg-
des M. rectus femoris bzw. des M. psoas, eine differenzier- lichkeitsprüfung sämtlicher Wirbelsäulenabschnitte mit
te segmentale Wirbelsäulenuntersuchung (Hypo- oder Dokumentation des Ablaufs und der Ausführung und
Hypermobilität) bei den betroffenen Wirbelsäulenregio- ihres jeweiligen Einflusses auf das Schmerzgeschehen so-
nen sowie Tests zur Tiefenstabilität. wie die manualdiagnostische Untersuchung mit Erfassung
Einschränkungen der körperlichen Untersuchungen möglicher Blockierungen in den Facettengelenken bzw.
ergeben sich durch die begrenzte Zugänglichkeit der dem Iliosakralgelenk oder den Ligamentosen im Becken-
Strukturen und die geringe Trennschärfe vieler Tests. Bein-Bereich sowie muskulärer Dysfunktionen.
Durch Kombination ergänzender Untersuchungen (Test- Eine orientierende neurologische Untersuchung mit
kombinationen) lässt sich eine Verbesserung der Aussage- Nachweis möglicher Nervenkompressionszeichen bzw.
kraft erreichen. Sensibilitätsstörungen, Paresen und Reflexdifferenzen ist
Besondere Bedeutung kommt bei der körperlichen zum Ausschluss neurologischer Symptome obligat. Bei
Untersuchung des Kreuzschmerzes der Erfassung von anamnestischen Hinweisen bzw. Symptomen ist eine
Funktionsstörungen zu, d. h. in erster Linie muskulärer weitergehende neurophysiologische Differenzialdiagnos-
Insuffizienzen, Dysbalancen, Instabilitäten und Gelenk- tik indiziert.
dysfunktionen. Die körperliche Untersuchung kann durch die Kombi-
Der somatisch-funktionelle Befund besitzt eine große nation verschiedener somatischer Befunde, insbesondere
Bedeutung für die individuelle Therapieplanung. So unter- der aussagekräftigen Provokationstests, unter Einbezie-
scheidet O’Sullivan [16] beim »nichtspezifischen Rücken- hung extravertebraler Strukturen, z. B. der Hüft- und Rip-
9 schmerz« ein »movement impairment« von einem »control pengelenke, weitere bildgebende Verfahren vermeiden
impairment«. Befundkonstellationen mit einem massiven, helfen bzw. auch einer Verunsicherung durch bildgebende
plötzlichen Beschwerdebeginn, eingeschränkter segmen- Befunde entgegenwirken – vorausgesetzt, es bestehen
taler Bewegung in die schmerzhafte Richtung, Bewegungs- keine Hinweise für »red flags«. Andererseits ermöglicht es
vermeidung, hoher Schmerzerwartung sowie überschie- die klinische Untersuchung, die weiterführende Diagnos-
ßender Muskelreaktion und auffällig kontrollierten Be- tik mit konkreter Fragestellung gezielter einzusetzen, so
wegungen mit hoher Gewebespannung werden dem z. B. Röntgen, CT, MRT, aber auch Laboruntersuchungen.
»movement impairment« zugerechnet. Das »control im- Dazu gehören auch exakt definierte Infiltrationen zur
pairment« hingegen zeichnet sich aus durch einen oft weiteren Abklärung lokaler körperlicher Befunde wie ISG-
schleichenden Beginn ohne eingeschränkte segmentale oder Facettensyndrome, vorzugsweise mit geringdosierten
Bewegung in die schmerzhafte Richtung sowie Ver- und kurzwirksamen Lokalanästhetika, z. B. exakt platziert
meidung von schmerzhaften Aktivitäten, geringe Wahr- unter Bildwandlerkontrolle.
nehmung von Schmerzauslösern bei schlechter lumbopel- Während vertebragene Ursachen häufig beim Rücken-
viner Propriozeption und fehlender muskulärer Gegenre- schmerz überschätzt werden, geraten extravertebrale
aktion [16]. So empfiehlt sich bei Patienten mit »move- Differenzialdiagnosen trotz ihrer z. T. schwerwiegenden
ment impairment« eine Förderung der Beweglichkeit und Folgen schnell in den Hintergrund. Hierunter versteht
ein Abbau von Bewegungsangst, bei Patienten mit »control man Rückenschmerzen, die durch benachbarte Organe
impairment« zunächst nur eine schrittweise aufzubauende ausgelöst werden, die wiederum nicht unmittelbar zu den
segmentale Stabilisierung [15]. knöchernen, muskulären oder diskoligamentären Struktu-
> Aufgrund der eingeschränkten Aussagekraft eines
ren der Wirbelsäule gehören [1].
einzelnen körperlichen Tests darf das Einzelergebnis
Bildgebende Diagnostik
eines Untersuchungszeichens nicht isoliert be-
trachtet werden, sondern nur in Kombination mit
Aufgrund möglicher Nebenwirkungen und der Gefahr
anderen klinischen Tests unter Berücksichtigung
einer Chronifizierung durch »Überdiagnostik« sind bild-
anamnestischer und weiterer diagnostischer
gebende Verfahren streng zu indizieren. Bei Vorliegen von
Befunde (Labor, Bildgebung).
»red flags« ist in der Regel eine bildgebende Abklärung
erforderlich. Bei Fraktur- und Infektionsverdacht oder
Bedeutend für die klinische Untersuchung des Rücken- auch Radikulopathien ist die MRT die sensitivste diagnos-
schmerzes sind die Inspektion mit Erfassung statischer wie tische Maßnahme und aufgrund der fehlenden Strahlen-
dynamischer Beeinträchtigungen und Haltungsverände- belastung der Computertomografie vorzuziehen. Dies gilt
rungen, die Palpation der Haut und der Muskulatur (Haut- auch bei Frakturen, deren exakte Lokalisation, Klassifika-
sensibilität, Hyperalgesie, Allodynie, Muskeltonus) und tion und Alter (osteoporotische Fraktur) von Bedeutung
die Erfassung von Druck- und Klopfschmerzhaftigkeit ist. Die nativradiologische Untersuchung ist bei der Erst-
9.1 · Diagnostische Strategie
85 9
diagnostik einer Fraktur indiziert sowie bei vermuteten modalen Therapie möglichst durch ein interdisziplinäres
oder bekannten Destruktionen zur Beurteilung der Wirbel- Assessment zu prüfen. Nach 12 Wochen anhaltenden Be-
säulenstatik und als Basis der Verlaufskontrolle. Insbe- schwerden sollte dies generell anhand eines umfangreichen
sondere die Röntgenfunktionsaufnahmen ermöglichen interdisziplinären Assessments erfolgen.
eine dynamische Beurteilung der Wirbelsäule, was so-
wohl bei Destruktionen als auch bei Funktionsstörungen Fortsetzung Fallbeispiel
von Bedeutung ist. Ansonsten orientiert sich die Auswahl Herr M. erhält eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für
des bildgebenden Verfahrens nach Verfügbarkeit und 3 Tage. Trotzdem soll er sich so gut wie möglich weiter
Kosten [1]. bewegen. Damit das leichter gelingt, rät ihm sein Arzt, zu-
Bei akuten Rückenbeschwerden ohne anamnestische mindest für die nächsten Tage regelmäßig Ibuprofen ein-
oder klinische Hinweise für spezifische Ursachen ist zu- zunehmen. Erfahrungsgemäß bessern sich die meisten
nächst keine bildgebende Diagnostik erforderlich. Sollte akuten Kreuzschmerzen innerhalb von 1 bis 2 Wochen.
sich eine akute Verschlechterung der Symptomatik er- Herr M. stellt sich erst wieder im Herbst wegen einer
geben oder sollten seit 6 Wochen therapieresistente Be- Erkältung vor. Er hatte noch eine weitere Schmerzattacke ge-
schwerden vorliegen, ist eine bildgebende Untersuchung habt, die er selber bewältigen konnte. Das hat ihn motiviert,
indiziert (NVL KS 2010). Sollten die Rückenbeschwerden wieder 1-mal pro Woche zu einem Lauftreff zu gehen.
über 12 Wochen therapieresistent anhalten, ist bei chroni-
schem Rückenschmerz eine Bildgebung indiziert. Sie
sollte aber bei Nachweis psychosozialer Chronifizierungs- 9.1.3 Therapie der akuten nichtspezifischen
faktoren kritisch eingesetzt werden, um eine Fixierung des Rückenschmerzen
Patienten auf mögliche radiologische Befunde zu ver-
meiden (NVL KS 2010). Die Basistherapie besteht aus Aufklärung des Patienten
> Bildgebende Befunde bedürfen auf jeden Fall einer
und seiner Motivierung, so weit wie möglich körperlich
abschließenden Beurteilung und Besprechung mit
aktiv zu bleiben, um Bewegungsängste und eine Dekondi-
dem Patienten, und zwar durch den Behandler, der
tionierung zu vermeiden. Die Verordnung von Physio-
sowohl bildgebende Befunde kompetent erheben
therapie oder speziellen Bewegungsübungen ist in der
kann als auch die Anamnese und den klinischen
Akutphase nicht effektiv. Ein wichtiger Grund für die In-
Befund des Patienten detailliert kennt.
anspruchnahme ärztlicher Hilfe ist die Arbeitsunfähigkeit.
Bei der Bewertung der Arbeitsfähigkeit müssen die An-
forderungen am Arbeitsplatz und die funktionelle Be-
Laboruntersuchungen einträchtigung berücksichtigt werden. Diskrepanzen
Laboruntersuchungen sind ohne klinischen oder anam- zwischen der objektiven und subjektiven Belastung am
nestischen Verdacht nicht indiziert. Bestehen Hinweise für Arbeitsplatz sind nicht selten und können vom Hausarzt
eine entzündliche Erkrankung, z. B. Spondylitis, oder für oft nur schwer eingeschätzt werden. Auch arbeitsunfähi-
eine rheumatische Erkrankung, insbesondere eine axiale gen Patienten sollte nicht zu Schonung oder Bettruhe ge-
Spondyloarthritis, sind Entzündungsparameter (CRP/ raten werden, da diese die Rekonvaleszenz verzögern
BSG sowie Blutbild) zu bestimmen und ggf. rheumatologi- kann. Um Aktivität möglich zu machen oder zu fördern,
sche Untersuchungen vorzunehmen (u. a. HLA-B 27). ist eine unterstützende Schmerztherapie sinnvoll. Dazu
> Bestehen sowohl in einer sorgfältig durchgeführten
werden Paracetamol oder orale nichtsteroidale Antirheu-
Anamnese als auch bei einer umfassenden körper-
matika (NSAR) empfohlen (7 Kap. 18, »Medikamente«).
lichen Untersuchung keine Hinweise für wesentliche
Diese sollten zumindest initial möglichst regelmäßig und
Pathologien oder gefährliche Verläufe, sollte von
nicht nur nach Bedarf eingenommen werden. Opiate und
einer weiteren (apparativen) Diagnostik abgesehen
Muskelrelaxanzien sollten bei akuten Rückenschmerzen
werden, der Rückenschmerz als nichtspezifisch
nur in begründeten Einzelfällen verordnet werden. Injek-
(nichtklassifiziert) angesehen und der weitere
tionstherapien (sowohl die lokale Applikation von Lokal-
Verlauf abgewartet werden.
anästhetika als auch die Injektion von Schmerzmitteln mit
und ohne Kortikoide) sollten wegen mangelnden Wir-
Die NVL Kreuzschmerzen 2010 [1] empfiehlt, nach spätes- kungsnachweises, der damit verbundenen Iatrogenisie-
tens 6 Wochen Schmerzdauer und alltagsrelevanten Akti- rung als auch wegen möglicher Komplikationen nicht
vitätseinschränkungen (Unfähigkeit zu arbeiten bzw. durchgeführt werden. Es konnte gezeigt werden, dass
Alltagsaktivitäten durchzuführen) trotz leitliniengerechter Patienten, die eine schriftliche Aufklärung zur Injektion
Versorgung bei Nachweis von Risikofaktoren zur Chroni- von NSAR erhalten hatten, auf eine Injektion verzichteten
fizierung (»yellow flags«) die Indikation zu einer multi- [11]. Für eine am vermuteten Schmerzmechanismus ori-
86 Kapitel 9 · Akuter/subakuter lumbaler Rückenschmerz

entierte spezifische medikamentöse Therapie des nicht- wurden international und national mehrere Fragebögen
spezifischen Rückenschmerzes fehlt derzeit die Evidenz. entwickelt (7 Kap. 13, »Psychosoziale Diagnostik«). Ein flä-
Optional kann bei entsprechender Qualifikation eine chendeckender Einsatz solcher Instrumente hat sich aber
manuelle Therapie angewandt werden. Studien zur Aus- außerhalb von spezialisierten Zentren in der Primärver-
wahl von Patienten, die am ehesten von manueller Thera- sorgung bisher nicht durchgesetzt. Da die Mehrheit der
pie profitieren, haben sich allerdings nicht reproduzieren Patienten mit Rückenschmerzen in der Primärversorgung
lassen [7]. Die Applikation lokaler Wärme ist schmerz- relativ rasch wieder arbeitsfähig wird, ist ein systema-
lindernd, sollte aber als passive Maßnahme nicht zur lang- tisches Screening aller Patienten mit Rückenschmerzen
fristigen Schonung führen. Lokale Kälte wirkt bei Rücken- mit einem solchen Instrument aus testtheoretischen Über-
schmerzen nicht schmerzlindernd. Auch für andere physi- legungen nicht sinnvoll (7 Kap. 57, »Leitlinien für die Primär-
kalische Maßnahmen, z. B. Kurzwellendiathermie, fehlt versorgung: vom runden Tisch zur realen Praxis«). Die Alter-
die Evidenz, sodass die NVL diese nicht empfiehlt. native ist ein sog. »case finding«, d. h., die Anwendung der
Instrumente wird gezielt auf eine Gruppe von Patienten
Tipp mit bestimmten Merkmalen beschränkt, was sowohl die
Aussagekraft der Teste verbessert als auch eine rationale
Bei anhaltenden Beschwerden (>6 Wochen) oder-
Nutzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen erlaubt.
häufigen Rezidiven kann eine Rückenschule, die
Ein solches Merkmal ist nach der NVL vor allem die
sowohl Bewegungselemente, Schulungen und Ent-
Schmerzdauer, es könnte auch die Konsultationsfrequenz
spannungsverfahren einschließt, zur Unterstützung
herangezogen werden. Die NVL empfiehlt, die Risiko-
empfohlen werden.
faktoren spätestens nach 4 Wochen anhaltender Beschwer-
9 den allgemein zu erfassen (. Abb. 9.1). Diese Kriterien
wurden im Konsensverfahren entschieden, da für den
Zeitpunkt, die Art und die Wirksamkeit des Screenings
9.1.4 Risikofaktoren (»yellow flags«) derzeit noch die wissenschaftlichen Grundlagen [13]
und Prävention der Chronifizierung fehlen. Weiterhin fehlen flächendeckende Strukturen, um
von Rückenschmerzen im Falle eines positiven Screenings Behandlungskonse-
quenzen zu ziehen und präventiv auf Risikofaktoren für
Jeder chronische Schmerz hat als akuter Schmerz begon- Chronifizierung einzugehen (7 Kap. 57). Es gibt insbeson-
nen. Da die Behandlung von chronischen Rückenschmer- dere eine Versorgungslücke für niederschwellige Ange-
zen schwierig und teuer ist, liegt es nahe, eine Verstärkung bote, die in der Intensität zwischen der einfachen Beratung
des Krankheitserlebens durch Ärzte und unnötige Unter- und der intensiven Rehabilitation liegen. In der Entwick-
suchungen (iatrogene Somatisierung) zu vermeiden und lung sind psychosozial determinierte primärärztliche und
die bekannten psychosozialen Risikofaktoren (»yelllow physiotherapeutische Beratungsangebote [14] (7 Kap. 26,
flags«) möglichst frühzeitig schon in der Primärver- »Psychologische Verfahren«). Pragmatisch müssen Haus-
sorgung zu erfassen [2]. ärzte das lokal verfügbare Angebot, wie Sportangebote,
Der Einsatz von Therapiemaßnahmen ist zurück- Reha-Sport, Rückenschulen, Beratungsstellen der Renten-
haltend und orientiert sich am Schmerz und dem aktu- versicherer, kennen und in ihr Therapiekonzept integrie-
ellen Funktionsstatus des Patienten. Bezüglich der nicht- ren. Wichtigste behandelbare psychosoziale Chronifizie-
medikamentösen Therapiemaßnahmen ist bei akutem rungsfaktoren sind eine depressive Verstimmung, eine
Kreuzschmerz Bewegungstherapie nicht wirksamer als suppressive Schmerzverarbeitung, teils bei hohen Selbst-
die Beibehaltung der normalen Aktivität. Schonung und ansprüchen und Angst-/Vermeidungsüberzeugungen.
Bettruhe haben nachgewiesenerweise keinen Effekt Hier können neben der Behandlung der Depression z. B.
oder führen gar zu einer Verstärkung der Schmerzen bzw. die progressive Muskelrelaxation oder eine kognitive Ver-
zu Verzögerung der Wiederaufnahme täglicher Aktivi- haltenstherapie angeboten werden. Nicht alle bekannten
täten. Bei Vorliegen psychosozialer Risikofaktoren soll Risikofaktoren, wie niedrige Bildung, Unzufriedenheit am
bei subakutem nichtspezifischen Kreuzschmerz, d. h. bei Arbeitsplatz oder sozioökonomische Faktoren (7 Kap. 6,
Schmerzen über 6 Wochen, eine auf das individuelle Risi- »Risikofaktoren und psychobiologische Mechanismen der
koprofil bezogene kognitive Verhaltenstherapie angeboten Chronifizierung«, die auch als »blue flags« bzw. als »black
werden [1]. flags« bezeichnet werden, können durch therapeutische
Hausärzte, die das soziale und familiäre Umfeld der Maßnahmen beeinflusst werden. Dennoch ist die Er-
Patienten sowie die lokalen Strukturen oft gut kennen, fassung dieser Faktoren wichtig, um die individuellen Zu-
haben für die Erfassung psychosozialer Risikofaktoren sammenhänge zu verstehen und unnötige Therapien zu
gute Voraussetzungen. Für deren systematische Erfassung vermeiden. Bei der Betreuung von Angestellten in größe-
Literatur
87 9
• typische
kardiale Ischämie

• Aortenaneurysma
• atypische
• Pyelonephritis kardiale Ischämie
• Nephrolithiasis
• Ischämie/Thrombose • Cholelithiasis (?)
intraabdomineller Organe • Pankreatitis
• Ulcus ventriculi/duodeni

• Iliosakralgelenk-
Syndrom • typische Lokalisation
• gynäkologische von Rückenschmerzen
& urologische
Erkrankungen

. Abb. 9.1 Schematische Übersicht über Schmerzlokalisation und mögliche Ursachen. (Mod. nach Chenot [3]; mit freundl. Genehmigung)

ren Betrieben besteht oft auch die Möglichkeit zur Koope- 5. Cook CE, Wilhelm M, Cook AE, Petrosino C, Isaacs R (2011) Clinical
ration mit Betriebsärzten. tests for screening and diagnosis of cervical spine myelopathy: a
systematic review. J Manipulative Physiol Ther 34:539–546
> Bei anhaltenden Beschwerden mit fehlender 6. Deyo RA, Weinstein JN (2001) Low back pain. N Engl J Med
Besserung oder sogar Verschlechterung muss die 344:363–370
7. Hallegraeff JM, de Greef M, Winters JC, Lucas C (2009) Manipula-
Klassifizierung der Schmerzen (nichtspezifisch/
tive therapy and clinical prediction criteria in treatment of acute
spezifisch) überprüft werden, damit je nach Bedarf
nonspecific low back pain. Percept Mot Skills108:196–208
eine spezifische Therapie, Rehabilitation oder 8. Henschke N, Maher CG, Refshauge KM (2007) Screening for
spezielle Schmerztherapie veranlasst werden kann. malignancy in low back pain patients: a systematic review. Eur
Spine J 16:1673–1679
9. Henschke N, Maher CG, Refshauge KM (2008) A systematic review
Die NVL (. Abb. 9.2) schlägt dazu ein interdisziplinäres identifies five »red flags« to screen for vertebral fracture in
Assessment vor, das die Indikation für eine multimodale patients with low back pain. J Clin Epidemiol 61:110–118
Therapie prüft, z. B. in Reha-Einrichtungen oder Schmerz- 10. Podnar S (2006) Epidemiology of cauda equina and conus medul-
laris lesions. Muscle Nerve 35:529–531
kliniken. Die Umsetzung der Empfehlung ist schwierig, da
11. Rosemann T, Joos S, Koerner T, Heiderhoff M, Laux G, Szecsenyi J
entsprechende Strukturen in der Versorgungsrealität nicht (2006) Use of a patient information leaflet to influence patient
ausreichend etabliert sind (7 Kap. 57, »Leitlinien für die decisions regarding mode of administration of NSAID medica-
Primärversorgung: vom runden Tisch zur realen Praxis«). tions in case of acute low back pain. Eur Spine J 15:1737–1741
12. Windt DA van der, Simons E, Riphagen II et al (2010) Physical
examination for lumbar radiculopathy due to disc herniation in
Literatur patients with low-back pain. Cochrane Database Syst Rev;
2:CD007431. doi: 10.1002/14651858.CD007431.pub2
1. ÄZQ, BÄK, KBV, AWMF (Hrsg) (2011) Nationale Versorgungsleitl- 13. Windt D van der, Hay E, Jellema P, Main C (2008) Psychosocial
inie Kreuzschmerzen 2010. http://www.versorgungsleitlinien.de/ interventions for low back pain in primary care: lessons learned
themen/kreuzschmerz/pdf/nvl_kreuzschmerz_lang.pdf. from recent trials. Spine 33:81–89
Zugegriffen: 26. Februar 2016 14. Craik RL (2011) A convincing case: For the psychologically
2. Boersma K, Linton SJ (2005) Screening to identify patients at risk: informed physical therapist. PhysicalTherapy 91:606–608
profiles of psychological risk factors for early intervention. Clin J 15. Nagel B, Casser HR (2011) Zielgerichtete multimodale Therapie.
Pain 21:38–43 In: Locher H, Casser HR, Strohmeier M, Grifka J (Hrsg) Spezielle
3. Chenot JF (2009) Extravertebrale Ursachen von Rückenschmerzen. Schmerztherapie der Halte- und Bewegungsorgane. Thieme,
Z Allgemeinmed 85:508–512 Stuttgart, S 227–239
4. Chou R, Fu R, Carrino JA, Deyo RA (2009) Imaging strategies for 16. O’Sullivan P (2005) Diagnosis and classification of chronic low
low-back pain: systematic review and meta-analysis. Lancet back disorders maladaptive movement and motor control impair-
373:463–472 ments a underlying mechanism. Man Ther 10:242–255
88 Kapitel 9 · Akuter/subakuter lumbaler Rückenschmerz

1
Patient/in mit akutem nichtspezifischem Kreuzschmerz
oder mit neuer Episode rezidivierender Kreuzschmerzen

2
• Edukation/Beratung (insbes. Rat, aktiv zu sein bzw. zu werden)
• ggf. medikamentöse Therapie
• ggf. begleitende nicht medikamentöse Therapie

3 4
Besserung der Schmerzen bzw. Funktionsfähigkeit? ja Therapiefortsetzung
Wiederaufnahme üblicher Aktivitäten möglich? bzw. -beendigung
(innerhalb von 2– 4 Wochen) im Verlauf

nein

5
Erfassung von psychosozialen Risikofaktoren zur Chronifizierung
• Örebro-Fragebogen, Heidelberger Kurzfragebogen, RISC-R
Erfassung von anderen Risikofaktoren
9
7
• ärztliche Aufklärung über individuelles Risikoprofil
• ggf. umfassendes interdisziplinäres Assessment
6 zur Überprüfung der Indikation zu einer multimodalen,
ja
Liegen »yellow flags« vor? multi- und interdisziplinären Behandlung/Rehabilitation
• falls nicht verfügbar
º Überweisung für fachärztliche Diagnostik
und Klärung einer psychotherapeutischen
Behandlungoption
nein

8
Unter Berücksichtigung von Schmerzstärke, funktioneller
Beeinträchtigung, Komorbidität und Behandlungswunsch:
• Überprüfung und ggf. Ergänzung/Intensivierung der Therapie
• ggf. fachärztliche Mitbetreuung zur Therapieoptimierung
(insbesondere bei AU)
• ggf. abwartendes Verhalten, Weiterführung einer
symptomorientierten Basistherapie

10
9 ja Therapiefortsetzung
Besserung der Schmerzen bzw. Funktionsfähigkeit?
bzw. -beendigung im
Wiederaufnahme üblicher Aktivitäten möglich?
Verlauf

nein

11
Fortsetzung: Algorithmus zur Versorgungkoordination
subakuter Kreuzschmerz

. Abb. 9.2 Algorithmus der nationalen Versorgungsleitung zur Versorgung akuter Rückenschmerzen. (© ÄZQ, BÄK, KBV und AWMF [1];
mit freundl. Genehmigung)
89 10

Chronischer Rückenschmerz
A. Becker, J.-F. Chenot, H.-R. Casser, R. Baron, M. Hasenbring

10.1 Primärversorgung/Allgemeinmedizin – 90
10.1.1 Anforderungen und Ziele – 90
10.1.2 Aktuelle Versorgungssituation – 91

10.2 Die Sicht des Hausarztes – 91


10.2.1 Patientenspektrum – 91
10.2.2 Aufgaben der hausärztlichen Versorgung – 92

10.3 Die Sicht des Orthopäden – 93


10.3.1 Mehrdimensionale Messverfahren – 95

10.4 Die Sicht des Neurologen – 99

10.5 Die Sicht der Psychologin – 100

10.6 Empfehlungen zur Versorgungskoordination – 101

Literatur – 103

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
90 Kapitel 10 · Chronischer Rückenschmerz

Chronische bzw. chronifizierte Rückenschmerzen sind spüren. Man habe ihr auch schon einmal Citalopram verord-
charakterisiert durch ihre Multidimensionalität, d. h. auf der net, aber irgendwie habe sie es nicht weiterverfolgt und
physiologisch-organischen Ebene durch Mobilitätsverlust nicht mehr eingenommen.
und Funktionseinschränkung, auf der kognitiv-emotionalen
Ebene durch Störung von Empfindlichkeit und Stimmung
sowie durch ungünstige Denkmuster, auf der Verhaltens- 10.1.1 Anforderungen und Ziele
ebene durch schmerzbezogenes Verhalten und auf der
sozialen Ebene durch Störung der sozialen Interaktion und Der obige Fall von Frau P. zeigt die relativ typische Karrie-
Behinderung der Arbeit. Dieses multifaktorielle Geschehen re einer chronischen Rückenschmerzpatientin. Viele der
erfordert eine sehr verantwortungsbewusste und vorurteils- Patienten haben wie Frau P. einen langen Leidensweg
freie Abklärung mit differenziertem Einsatz diagnostischer hinter sich, der geprägt ist von häufigen Konsultationen,
und therapeutischer Maßnahmen. Eine enge Zusammen- zahlreichen Diagnosen und vielfältigen Therapien. Frau P.
arbeit zwischen Hausarzt und Fachspezialisten ist erforder- wirkt geradezu getrieben von der Aussicht, über einen er-
lich. Dabei steht nicht die ständige, in der Regel unergiebige neuten Arztwechsel die Lösung ihrer Probleme zu finden.
apparative Abklärung chronischer Rückenschmerzen im Vor- In ihrer Geschichte finden sich sehr viele gute Therapiean-
dergrund, sondern vielmehr eine eingehende Untersuchung sätze, die sie aber jederzeit bereit ist aufzugeben, wenn ein
möglicher schmerzunterhaltender Faktoren. Dabei treten neuer Arzt ihr Hoffnung auf Heilung gibt. Sämtliche Pro-
häufig psychosoziale Konflikte in den Vordergrund. Die An- bleme, die Ausdruck ihres Gesundheitszustands sein
bindung chronischer Schmerzpatienten an den vertrauten könnten, sprudeln aus ihr heraus, und ihr neuer Arzt fühlt
Arzt ist für den weiteren Verlauf entscheidend, um sich wie- sich überwältigt von der Vielzahl der Behandlungs- und
derholende Diagnose- und Therapiemaßnahmen, ggf. auch Aktionsbedürfnisse, die ihm präsentiert werden.
invasive Behandlungen, zu vermeiden. Dies setzt eine fach- Eine solche Behandlungssituation ist auf Dauer sowohl
10 lich kompetente und vertrauensvolle Führung voraus, um für die Patienten als auch für die behandelnden Ärzte
ein Ärzte-Hopping mit frustranem Ausgang zu verhindern. unbefriedigend. Das Getriebensein von Frau P. führt einer-
seits zum »Doktor-Hopping« und zu unkoordinierten Be-
handlungsversuchen, andererseits verhindert es, dass sich
10.1 Primärversorgung/Allgemeinmedizin ein Vertrauensverhältnis zwischen Patientin und Arzt bil-
det und Frau P. sich ganz auf eine Behandlung einlassen
A. Becker, J.-F. Chenot kann. Seitens des Arztes entsteht leicht das Gefühl einer
Erwartungshaltung. Er glaubt, sich das Vertrauen von Frau
Fallbeispiel P. »verdienen zu müssen«, und beantwortet ihre suchende
Frau P., eine 68-jährige Patientin, kommt erstmals in eine Aufmerksamkeit mit »neuen« Tests und Maßnahmen, die
hausärztliche Sprechstunde. Sie habe den Arzt wechseln das Krankheitsverhalten von Frau P. verstärken und zur
wollen, da sie sich nicht mehr ausreichend versorgt fühle. Progredienz der Beschwerden beitragen.
Sie berichtet, ständig unter Rückenschmerzen zu leiden. Auf Im Umkehrschluss lassen sich aus dem Beispiel die An-
die anamnestische Frage nach etwaigen Vorerkrankungen forderungen an die Behandlung chronischer Rücken-
seufzt sie und erzählt eine ausführliche Krankheitsgeschich- schmerzpatienten ableiten. Ziel muss sein, unnötige Diag-
te mit multiplen, zumeist muskuloskeletalen Beschwerden. nostik zu vermeiden, abwendbar gefährliche Verläufe aber
Viele Ärzte habe sie schon gesehen. Schlussendlich sei sie dennoch zu erkennen, eine suffiziente Schmerztherapie zu
beim Rheumatologen in Behandlung gewesen. Alles habe gewährleisten, Chronifizierungsprozesse rückgängig zu
man dort untersucht, aber kein Rheuma feststellen können. machen bzw. eine Progredienz der Beschwerden in
Den Bericht hat sie in die Sprechstunde mitgebracht. Daraus Richtung zunehmender Funktionseinschränkungen und
ist zu erfahren, dass vor mehreren Jahren die Diagnose eines Alltagsbeeinträchtigungen zu vermeiden und eine ausrei-
Bandscheibenvorfalls gestellt worden ist, der konservativ chende Lebensqualität der Patienten zu gewährleisten.
behandelt wurde; darüber hinaus sind multiple Osteoarth-
rosen und degenerative Gelenkveränderungen dokumen-
Behandlungsziele »chronischer Rückenschmerz«
tiert. Eine Erkrankung des rheumatischen Formenkreises sei
5 Erkennen abwendbar gefährlicher Verläufe
ausgeschlossen worden. Auf die Frage, was sie derzeit ge- 5 Rückgängigmachen oder Verhindern der
gen ihre Schmerzen unternähme, berichtet die Patientin, Progredienz von Chronifizierungsprozessen
dass sie bei einem Orthopäden Akupunktur bekäme. 5 Früherkennung psychischer Komorbidität
Schmerzmittel nähme sie zurzeit keine ein, habe aber 5 Verbesserung oder Erhalt von Funktionsfähigkeit,
Ibuprofen bei Bedarf. Eine Psychotherapie habe sie schon sozialer Eingebundenheit und Lebensqualität
mit 13 Sitzungen absolviert, würde aber keinen Effekt
10.2 · Die Sicht des Hausarztes
91 10
10.1.2 Aktuelle Versorgungssituation So ist er mit den gesundheitlichen Problemen seiner Pa-
tienten vertraut, kennt ihre persönlichen Eigenschaften,
An der Versorgung chronischer Rückenschmerzen sind ihr soziales und berufliches Umfeld sowie ihr Gesund-
viele Fachgruppen beteiligt. Nach einer Studie von Carey heits- und Krankheitsverhalten. Er ist Ansprechpartner für
et al. [1] in North Carolina suchen 76 % chronischer alle Beschwerden unabhängig vom Fachgebiet und stellt
Schmerzpatienten einen Hausarzt auf und etwa 50 % einen für viele die Schnittstelle zur Sekundärversorgung dar.
Orthopäden oder Neurologen, gefolgt von Physiothera- Über diese erlebte Anamnese und Kontinuität der Be-
peuten und Chiropraktikern. Eine Anzahl von 1 bis 11 ziehung ist es ihm möglich, die Risiken für einen ungüns-
Therapeuten ist laut dieser Studie in das Behandlungsge- tigen Verlauf der Beschwerden frühzeitig zu erkennen oder
schehen jedes Patienten involviert bei durchschnittlich Patienten mit hohem Chronifizierungsrisiko früher zu
21,2 Gesamtkontakten eines Patienten pro Jahr [1]. Eine identifizieren als Kollegen anderer Fachgruppen (»yellow
Befragung von Patienten in deutschen schmerztherapeu- flags«) und gezielt einer intensivierten Therapie zu-
tischen Einrichtungen zeigte ein ähnliches Bild: Mehr kommen zu lassen (7 Abschn. 9.1, Primärversorgung akuter/
als ein Drittel der befragten Patienten haben im Vorfeld subakuter Rückenschmerz). Gerade bei chronischen Patien-
ihrer Konsultation mehr als einen Therapeuten wegen ten hat der Hausarzt vor allem eine begleitende Funktion,
ihrer Schmerzen aufgesucht, darunter meist Hausärzte wenn laut aktuellen Empfehlungen keine weitere Diag-
und niedergelassene Orthopäden, aber auch Neurologen, nostik notwendig ist und abgesehen von intervallartigen
Radiologen, Neurochirurgen und Psychotherapeuten [2]. Intensivbetreuungen die Patienten in ihrem Schmerzge-
Das Spektrum aktiver und passiver, nichtinvasiver und schehen von ihm dauerhaft betreut werden.
invasiver Maßnahmen in der Behandlung chronischer
Rückenschmerzpatienten ist groß und korreliert neben der
Schwere der Beschwerden mit der Anzahl der aufgesuch- 10.2.1 Patientenspektrum
ten Therapeuten. Es kommen sowohl evidenzbasierte als
auch nicht evidenzbasierte Maßnahmen zum Einsatz. Ge- Die Behandlung chronischer Schmerzpatienten gehört zu
rade dort, wo aufgrund der Komplexität der Versorgungs- den häufigsten Aufgaben eines Hausarztes [2, 7]. In einer
situation ein gut aufeinander abgestimmtes Vorgehen der Erhebung in 40 hausärztlichen Praxen gaben 23 % der
Leistungserbringer notwendig wäre, scheint die unzu- Patienten an, unter Schmerzen von mehr als 3 Monaten
reichende Kooperation verschiedener Fachgruppen zu den Dauer zu leiden. Die meisten der Patienten litten unter
Hauptbarrieren der Umsetzung aktueller Empfehlungen multilokulären Schmerzen, wobei in 50 % der Fälle die
zu gehören [3]. Widersprüchliche Informationen für die Lumbalregion angegeben wurde. Obwohl die Mehrzahl
Patienten und unterschiedliche Behandlungsstrategien, der Patienten ihre Schmerzen als moderat einstufte (44 %),
der unzureichende Austausch zwischen Fachgruppen so- litt doch etwa jeder Fünfte unter schweren Schmerzen mit
wie ein Mangel an schmerztherapeutischen Einrichtungen teils starken Einschränkungen im Alltag (22–26 %) und
und Psychotherapieplätzen beeinflussen das Über- mehr als 6 Wochen anhaltender Beeinträchtigung der üb-
weisungsverhalten und führen zu Schnittstellenproblemen lichen Aktivitäten (12 %) [8].
[3–5] (7 Kap. 57, »Leitlinien für die Primärversorgung: vom Typisch für die hausärztliche Praxis ist das hohe durch-
runden Tisch zur realen Praxis«). schnittliche Alter chronischer Rückenschmerzpatienten
> Die Versorgung chronischer Rückenschmerzpatien-
im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung [8]. Bedingt da-
ten ist geprägt von einer Vielzahl von Leistungs-
durch und durch den hohen Prozentsatz von Patienten mit
erbringern verschiedener Berufsgruppen, die oft
Schmerzen höheren Schweregrads ist der Hausarzt mit
unkoordiniert diverse evidenzbasierte und nicht
zahlreichen psychischen und somatischen Komorbiditäten
evidenzbasierte Therapien anbieten.
seiner Patienten konfrontiert. So erschweren Multimorbi-
dität und die damit verbunden Polypharmazie die medika-
mentöse und auch nichtmedikamentöse Schmerztherapie
[9]. Einerseits sprechen häufige kardiale Erkrankungen
10.2 Die Sicht des Hausarztes oder Leber- oder Nierenfunktionsstörungen gegen eine
hochdosierte und langfristige Therapie einzelner Sub-
A. Becker, J.-F. Chenot stanzklassen (z. B. nichtsteroidale Antirheumatika bei
kardialen Erkrankungen, Opioide bei Sturzgefährdung),
Für viele Patienten ist der Hausarzt die zentrale Ver- andererseits steigt mit der Kombinationsbehandlung die
trauensperson im Versorgungsgeschehen. Er steht für Rate unerwünschter Arzneimittelnebenwirkungen und
Kontinuität und Individualität [6]. Die Mehrzahl seiner Interaktionen (7 Kap. 48, »Ältere Patienten«).
Patienten hat er über Jahre auf ihrem Lebensweg begleitet.
92 Kapitel 10 · Chronischer Rückenschmerz

10.2.2 Aufgaben der hausärztlichen relevante Fragen zu sprechen (z. B. Vermittlung einer sozi-
Versorgung alrechtlichen Beratung oder einer Rehabilitation). Aktive
Bewältigungsstrategien lassen sich auf diese Weise besser
Das langfristige Betreuungsverhältnis und die Kenntnis vermitteln, als wenn der Patient an einer akuten Ver-
der individuellen Situation des Patienten sind spezifische schlechterung seiner Problematik leidet.
Chancen und Herausforderungen für die Versorgung Die DEGAM hat in ihrer S1-Leitlinie »Chronischer
chronischer Rückenschmerzpatienten. Schmerz« [12] eine Empfehlung zur strukturierten Ver-
sorgung der Patienten herausgebracht. In viertel- bis halb-
jährigem Abstand sollten das Wohlbefinden, die Alltags-
Spezifika hausärztlicher Versorgung von
funktion, Aktivität, Sozialleben, Schlaf und der Medika-
Rückenschmerzpatienten
mentenkonsum der Patienten erfragt werden. Die daraus
5 Kontinuierliche strukturierte Versorgung des
abzuleitende Therapie orientiert sich an einem Behand-
Patienten
lungsziel, das mit jedem Patienten individuell auszuhan-
5 Aufklärung und Motivierung zu gesundheits-
deln ist.
förderlichem Verhalten
5 Schnittstellenmanagement zur Spezialisten- und Aufklärung und Motivierung
Krankenhausversorgung
Die Betreuung chronischer Rückenschmerzpatienten ist in
vielerlei Hinsicht eine kommunikative Herausforderung.
So ist es für die Begleitung einer Patientin wie Frau P.
Kontinuierliche strukturierte Versorgung wichtig, eine gute Vertrauensbasis zu haben, die es dem
Während sich chronisch kranke Patienten bei den meisten Hausarzt ermöglicht, einerseits zu therapieren (z. B. in
Spezialisten nur kurzfristig zur Durchführung spezifischer Form einer medikamentösen Schmerztherapie), anderseits
10 Diagnostik und Therapie oder konsiliarisch vorstellen, be- aber auch verhaltenssteuernd einzugreifen – indem er Frau
treuen Ärzte der Primärversorgungsebene ihre Patienten P. verständlich macht, dass weitere Diagnostik bzw. in-
kontinuierlich, teils ein Leben lang. Hausärzte erleben die vasive Therapien nicht sinnvoll sind. Diese Mischung aus
Schmerzerkrankung ihrer Patienten in ihren Höhen und wertschätzender Anerkennung der Beschwerden der Pa-
Tiefen, dem episodischen Verlauf des chronischen tientin und gleichzeitiger Zurückweisung eines hilfe-
Schmerzgeschehens folgend. Sie können auch die Erfah- suchenden Aktionismus ist schwierig und ein Balanceakt,
rungen, die ein Patient z. B. während einer schmerz- der viel Erfahrung und kommunikatives Geschick ver-
psychotherapeutischen Behandlung macht, optimal langt.
begleiten, dies vor allem, wenn sie beide die gleichen bio- Ebenfalls schwierig ist es, das Augenmerk des Patien-
psychosozialen Krankheits- und Genesungsmodelle teilen. ten auf eine psychologische Komponente der Beschwerden
Sofern nicht beide, Hausarzt und Patient, die Be- zu lenken, um eine psychotherapeutische Mitbehandlung
schwerden des Patienten als ein chronisches Schmerz- einzuleiten. Die Patienten fühlen sich von ihrem Arzt nicht
syndrom begreifen, dessen Ziel nicht die Heilung, sondern ernstgenommen und bei nicht vorhandener Organpatho-
der Erhalt der Lebensqualität trotz Schmerzen ist, können logie abgeschoben. Frau P. hat bereits eine Psychotherapie
selbst intensivierte Maßnahmen und die Kooperation mit begonnen. Ihr Kommentar, die Therapie sei nicht wirksam
anderen Berufsgruppen als wenig hilfreich und frustrie- und sie würde sie besser abbrechen, sowie der Abbruch der
rend erlebt werden (7 Kap. 57, »Leitlinien für die Primärver- medikamentösen antidepressiven Therapie lassen darauf
sorgung: vom runden Tisch zur realen Praxis«). schließen, dass sie an einen Kausalzusammenhang von
Wie auch für andere chronische Erkrankungen mehr- psychosozialen Faktoren und Rückenschmerz nicht glaubt
fach gefordert und teils umgesetzt, sollte die Betreuung und nicht davon überzeugt ist, auf diesem Weg eine
chronischer Schmerzpatienten proaktiv gestaltet werden Kontrolle ihrer Beschwerden erreichen zu können. Noch
(7 Kap. 36, »Chronic-Care-Management«) [10]. Ein reaktives ist sie auf der Suche nach dem Behandler, der es schafft, die
Vorgehen würde bedeuten, dass Frau P. immer erst dann Ursache der Schmerzen und Müdigkeit zu finden, um ihr
vorstellig wird, wenn sie das Gefühl hat, ihre Schmerzen vollständige Heilung zu verschaffen. Arzt und Patientin
nicht mehr bewältigen zu können. Jedes Gespräch wäre müssen unbedingt Einigkeit über das Ziel der Behandlung
geprägt vom akuten Schmerzgeschehen. Im Gegensatz erzielen (Heilung versus Erhalt von Lebensqualität trotz
dazu bedeutet eine proaktive Vorgehensweise: regelmäßige Schmerzen).
Konsultationen nach einem festen Zeitschema, die es Im Fall von Frau P. wird die erste Konsultation der Pa-
ermöglichen, Warnhinweise für psychosoziale Risiko- tientin dazu dienen, eine Anamnese und klinische Unter-
faktoren oder abwendbar gefährliche Verläufe frühzeitig suchung durchzuführen, um die Schmerzausprägung zu
zu erkennen und mit den Patienten über versorgungs- erfassen, psychosoziale Risikofaktoren zu erheben und
10.3 · Die Sicht des Orthopäden
93 10
Warnhinweise zu überprüfen. Liegen psychosoziale
. Tab. 10.1 Graduierung der Schmerzschwere nach Korff et
Risikofaktoren vor, sollte ein einfaches biopsychosoziales al. [17]
Basismodell (7 Abschn. 17.2.1) genutzt werden, um der
Patientin eine rationale und nachvollziehbare Vorstellung Grad 0 Keine Schmerzproblematik
davon zu vermitteln, wie ggf. Stress oder eine ungünstige Grad 1 Geringe Schmerzintensität und geringe
Schmerzverarbeitung die Beschwerden aufrechterhalten schmerzbedingte Beeinträchtigung
oder verstärken. Langfristig wird der Hausarzt mit der
Grad 2 Hohe Schmerzintensität und geringe schmerz-
Patientin ihr Selbstmanagement besprechen müssen, d. h., bedingte Beeinträchtigung
er wird mit ihr nicht nur über die Bedeutung körperlicher
Grad 3 Moderate schmerzbedingte Beeinträchtigung
Aktivität für den Heilungsprozess sprechen und sie da-
unabhängig von der Schmerzintensität
hingehend motivieren müssen, sondern er wird mit der
Patientin besprechen, inwieweit es ihr gelingt, z. B. Stress- Grad 4 Hohe schmerzbedingte Beeinträchtigung un-
abhängig von der Schmerzintensität
faktoren oder ungünstige Schmerzverarbeitung im Alltag
zu verändern. Dabei ist die kontinuierliche langfristige
Betreuung durch den Hausarzt unerlässlich, um im Sinne
der motivierenden Gesprächsführung (7 Kap. 16, »Ge- 10.3 Die Sicht des Orthopäden
sprächsführung«) patientenzentriert vorgehen zu können.
H.-R. Casser
Schnittstellenmanagement
Ein Ziel evidenzbasierter Leitlinien und Empfehlungen ist Bei Vorstellung eines chronischen Rücken- oder Nacken-
es, unnötige Diagnostik und Therapien vor allem in Form schmerzpatienten ist eine umfassende Beschäftigung mit
bildgebender Verfahren und invasiver Maßnahmen zu der Vorgeschichte unumgänglich – unterstützt, aber nicht
reduzieren, um einer iatrogenen Somatisierung und schä- ersetzbar durch einen Fragebogen. Sie nimmt Bezug
digendem Krankheitsverhalten keinen Vorschub zu leis- auf den Verlauf des Schmerzes, seinen Charakters, seine
ten. Diese Strategie entspricht einer Vorgehensweise, die Lokalität und Ausdehnung, die bisherigen Behandlungs-
im primärmedizinischen Bereich für die meisten Be- maßnahmen, aber auch auf die möglicherweise vorhande-
schwerdeanlässe als sinnvoll erachtet wird. Der Hausarzt nen Komorbiditäten. Hierzu eignet sich der Deutsche
arbeitet im Bereich der Niedrigprävalenz: Gefährliche Schmerzfragebogen [16], der diese Aspekte unter Ein-
Erkrankungen bzw. abwendbar gefährliche Verläufe sind schluss psychometrischer Tests als Vorbereitung für ein
extrem selten und stehen einer Häufung unkomplizierter vertiefendes Gespräch umfasst.
Beschwerden gegenüber. Gegenüber der zweiten Ver- Bei chronischen Schmerzen hat sich die Erfassung der
sorgungsstufe übt der Hausarzt eine Filterfunktion (Gate- Schmerzschwere international durchgesetzt (Graded
keeping) aus, indem er unkomplizierte Beschwerdebilder Chronic Pain Status, GCPS [17]). Dabei ermöglichen An-
nicht weiterweist. gaben zu Schmerzintensitäten und zur schmerzbedingten
Ein gut funktionierendes Netzwerk der an der Ver- Funktionseinschränkung eine Einteilung in 4 Schwere-
sorgung von Rückenschmerzpatienten beteiligten Berufs- gradstufen (. Tab. 10.1). Die Daten dazu werden von
gruppen ist für die ambulante Betreuung der Patienten numerischen Ratingskalen bzgl. der Schmerzintensität der
unerlässlich. Mit dem Ziel, die Lebensqualität des Patien- letzten 3–6 Monate und der Beeinträchtigung der Alltags-
ten zu erhalten, sind unterstützende medizinische aktivitäten gewonnen.
Maßnahmen zum Erhalt der Funktionsfähigkeit und zur Bei länger bestehenden, chronischen Kreuzschmerzen
Reduktion von Beeinträchtigungen im Alltag notwendig. ist die Erfassung des Chronifizierungsstadiums von Be-
Dies ist nur möglich in einem kooperierenden Netz nicht deutung. Hier werden neben dem zeitlichen Schmerz-
nur ärztlicher Kollegen, sondern auch von Angehörigen verlauf die Schmerzlokalisation, die Medikamentenein-
anderer Berufsgruppen wie Physiotherapeuten, Ergothera- nahme und die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens
peuten oder Psychologen, die für den Patienten gut er- erfasst (MPSS) [18] (. Abb. 10.1). Aus den sich ergebenden
reichbar sind. Dabei hilft die erlebte Anamnese des Haus- Summenscores wird eine aktuelle Zuordnung des Chroni-
arztes, der optimalerweise den Patienten in seiner Indivi- fizierungsgrads in Form der 3 Gesamtstadien möglich
dualität und in seinem sozialen Umfeld kennengelernt hat (. Tab. 10.2), eine Verlaufsbeurteilung jedoch nicht.
und ihn bei individuellen Entscheidungen unterstützen
kann.
94 Kapitel 10 · Chronischer Rückenschmerz

Das Mainzer Stadienmodell der Schmerz-Chronifizierung (MPSS)


Auswertungsformular

Wert Achsen- Achsen-


Achse 1: Zeitliche Aspekte summe stadium
Auftretenshäufigkeit
• einmal täglich oder seltener 1
• mehrmals täglich 2
• dauernd 3

Dauer
• bis zu mehreren Stunden 1 3 = I
• mehrere Tage 2 4–6 = II
• länger als eine Woche oder dauernd 3 3–9 7–9 = III

Intensitätswechsel
• häufig 1
• gelegentlich 2
• nie 3

Achse 2: Räumliche Aspekte


Schmerzbild
• monolokulär 1 1= I
• bilokulär 2 2 = II
• multilokulär oder Panalgesie 3 1–3 3 = III

10 Achse 3: Medikamenteneinnahmeverhalten
Medikamenteneinnahme
• unregelmäßiger Gebrauch von 1
max. 2 peripheren Analgetika 2 = I
• max. 3 periphere Analgetika, 2 3–4 = II
höchstens 2 regelmäßig 2–6 5–6 = III
• regelmäßig mehr als 2 periphere Analgetika 3
oder zentralwirkende Analgetika

Anzahl der Entzugsbehandlungen


• keine 1
• eine 2
• mehr als eine Entzugsbehandlung 3

Achse 4: Patientenkarriere
Wechsel des persönlichen Arztes
• kein Wechsel 1 4 = I
• max. 3 Wechsel 2 5– 8 = II
• mehr als 3 Wechsel 3 9–12 = III
4 –12
Schmerzbedingte Krankenhausaufenthalte
• bis 1 1
• 2 bis 3 2
• mehr als 3 3

Schmerzbedingte Operationen
• bis 1 1
• 2 bis 3 Gesamt-
2
• mehr als 3 Addition Stadium
3 I 4–6
der
Achsen- II 7– 8
Schmerzbedingte Rehabilitationsmaßnahmen
Stadien III 9–12
• keine 1
• bis 2 2
• mehr als 2 3

H.U. Gerbershagen, J. Korb, B. Nagel & P. Nilges

. Abb. 10.1 Mainzer Stadienmodell der Schmerzchronifizierung nach Gerbershagen. Auswertungsformular (Aus Casser und Kaiser [19])
10.3 · Die Sicht des Orthopäden
95 10
Instruktion. Es sollte dem Anwender verdeutlicht
. Tab. 10.2 Chronifizierungsstadien des MPSS (Mainzer Pain
werden, dass es um seine individuelle Einschätzung
Staging Score) [19]
unabhängig von einer äußeren Norm geht und dass
Stadium I Schmerz intermittierend, wechselnde Intensi- zur Beurteilung der intrapersonelle Vergleich ent-
tät, umschriebene Lokalisation, angemessene scheidend ist. Es ist zu bedenken, dass die Erfassung
Medikation, seltener Arztwechsel, stabile der Schmerzstärke in Einschätzskalen nur einen Teil-
Bewältigungsstrategie, adäquate Krankheits-
aspekt des Schmerzerlebens abbildet.
kontrolle

Stadium II Schmerz kontinuierlich, wenig wechselnd, Gerade beim rezidivierenden, chronischen Rücken- und
zunehmende Ausbreitung, meist unan-
gemessene Medikation (Missbrauchgefahr),
Nackenschmerz ist es Aufgabe des orthopädischen Fach-
häufiger Arztwechsel, Störung der Be- arztes, in Zusammenarbeit mit Neurologen und Rheuma-
wältigungsstrategien, psychosoziale Aus- tologen bei therapieresistenten Verläufen ein Update
wirkungen somatischer Befunde durchzuführen, um sich ändernde
Stadium III Dauerschmerz, mehr als 70 % der Körperober- oder neu auftretende körperliche Symptome nicht zu über-
fläche, Medikamentenmissbrauch, zielloses sehen. Dazu gehört eine Reihe bekannter Syndrome, die
»Doctorhopping«, mehr als 3 stationäre Be- auf körperlichen und radiologischen Befunden beruhen,
handlungen, komplette Hilflosigkeit, Versagen
denen aber ein sicherer Zusammenhang zwischen Be-
in Familie, Partnerschaft und Beruf
schwerdeangabe, klinischem Befund und bildgebender
Diagnostik fehlt. Entsprechende Zurückhaltung besteht in
der Veranlassung invasiver, diagnostischer und therapeu-
10.3.1 Mehrdimensionale Messverfahren tischer Maßnahmen (. Tab. 10.3).
Bei spezifischen Kreuzschmerzen besteht ein Nachweis
Im deutschsprachigen Raum wird überwiegend die pathoanatomischer Zusammenhänge einzeln oder kombi-
Schmerzempfindungsskala verwandt, die auch Bestandteil niert bei Kompression neuraler Strukturen, Entzündung
des Schmerzfragebogens der Deutschen Gesellschaft zum von Gelenken und struktureller Instabilität einer oder
Studium des Schmerzes (DGSS) ist. Sie umfasst 5 Dimen- mehrerer Bewegungssegmente mit entsprechender Symp-
sionen des Schmerzerlebens, die als affektive (allgemein tomatik. Diagnostische (und kausale) Therapiemaß-
affektive Schmerzangabe, Schmerzangabe der Hartnäckig- nahmen sind einzuleiten (. Tab. 10.4).
keit) und sensorische (Rhythmik, lokales Eindringen, Bei Schmerzen an den Bewegungsorganen, insbe-
Temperatur) Schmerzkomponenten zusammengefasst sondere beim Rücken, kommt es zu einer umfangreichen
werden. Diese werden mithilfe einer Adjektivliste erfasst, Vermischung von verschiedenen diagnostischen und be-
die in Anlehnung an die Originalliste um die sensorischen fundtechnischen Kategorien. Darüber hinaus werden
Qualitäten »pulsierend«, »ziehend«, »drückend« und Röntgen-, MRT- oder CT-Diagnosen, Laborbefunde,
»dumpf« erweitert wurde, um die für die Kopfschmerz- klinische Diagnosen und psychosoziale Faktoren oft un-
patienten typischen Schmerzqualitäten mit zu berücksich- kritisch vermischt. Nicht selten werden schlichte Befund-
tigen. Es wird davon ausgegangen, dass der Anteil des beschreibungen als Diagnosen behandelt.
affektiven Schmerzgeschehens teilweise sowohl auf Fakto- Wie von H. Locher [21] empfohlen wird, eignet sich
ren des Gesamtschmerzgeschehens (z. B. schmerzbedingte aufgrund der Multidimensionalität von Schmerdiagnosen
psychische Beeinträchtigung) als auch auf schmerzun- die sog. 3-Ebenen-Diagnose, die in der Ebene A die Be-
abhängige Faktoren wie etwa dispositionelle Neigung zu schwerden des Patienten, das subjektive Erleben und die
depressiven Verstimmungen, Krankheitsbesorgtheit oder zeitlichen und räumlichen Faktoren beschreibt, in der
Klagsamkeit zurückgeführt werden kann. Die Schmerz- Ebene B eine möglichst präzise Beschreibung der somati-
empfindungsskala kann nach ihrer Auswertung Aufschluss schen Ursachen der Beschwerden einschließlich funktio-
über Leidensdruck und Art der Verarbeitung auf emotio- neller Befunde gibt und in der Ebene C die damit zusam-
naler und kognitiver Ebene geben. menhängenden biografischen, beruflichen und wirtschaft-
lichen Aspekte beinhaltet. Anstatt Formulierungen wie
> Selbstbeurteilungsskalen zur Messung der Schmerz- »chronische Lumboischialgie« oder »chronisches LWS-
intensität liegen in mehrdimensionaler Form (SES) Syndrom« zu verwenden, ließe sich so eine für das weitere
[20] und als Intermodalitätsvergleichsskalen Vorgehen nützlichere Diagnosebeschreibung einsetzen
(numerisch, visuell) vor. Sie haben ihre Bedeutung [21], z. B.:
in der klinischen Anwendung zur Einschätzung von A. chronisch-rezidivierende lumbosakrale belastungs-
Leidensdruck und Therapieverlauf. Entscheidend für abhängige Schmerzen (NRS, PDI) mit pseudoradiku-
die Verfahren der Schmerzmessung ist die genaue lärer Ausstrahlung,
96 Kapitel 10 · Chronischer Rückenschmerz

. Tab. 10.3 Rückenschmerz mit körperlichen und radiologischen Befunden ohne sicheren Kausalzusammenhang [19]

Syndrom Befunde Bewertung/Vorgehen

1. Degeneratives Bandscheiben- Klinisch: – Fragliche klinische Relevanz


syndrom (»diskogener« RS) – Keine radikuläre Symptomatik – Bei Modic-I-Zeichen konsequente
– Überwiegend lokale WS-Schmerzen konservative Therapie, ggf. intradiskale
– Geleg. Pseudoradikuläre Ausstrahlung Intervention
Radiologisch: – Evtl. OP
– BS-Verlagerung: Prolaps, Protrusion, Sequester
– Nukleus-pulposus-Befunde
– Endplattenveränderungen (Modic I–III)
– High Intensity Zone (HIZ)

2. Facettensyndrom Klinisch: – Differenzierung erforderlich zwischen


– Unterschiedliche Symptomatik Funktionsstörung (»Blockierung«) sowie
– Bewegungsabhängige Beschwerdeangabe stummer und aktivierter Arthrose
– Lokaler Druckschmerz – Weitere Abklärung und Therapie durch
– Reklination schmerzhaft Manualmedizin und Facetteninjektion
– Injektionstest positiv – DD: axiale Spondyloarthritis
– Manualdiagnostisch ggf. »Blockierung«
Radiologisch:
– Röntgenologisch unauffällig oder fortgeschrittene
Spondylarthrose
– MRT: Synovitis bei aktivierter Arthrose
3. Iliosakralgelenksyndrom Klinisch: – Häufige Funktionsstörung bei musku-
10 (ISG/SIG-Syndrom) – ISG-Symptomatik und pos. Provokationszeichen lärer Dysbalance und/oder Beinlängen-
– Injektionstest differenz
Radiologisch: – DD: axiale Spondyloarthritis
– Unauffällige Befunde bis zu Arthrose-/Arthritis-
Zeichen (»buntes Bild«)
4. Myofasziales Schmerz- Klinisch: – Pathogenese und Nachweisverfahren
syndrom – Muskuläre Triggerpunkte: lokaler Schmerz mit noch nicht sicher geklärt
peripherer Schmerzausbreitung (Übertragung) – Unterschiedl. Intra- und Interrater-
– Periphere und zentrale Sensibilisierung Reliabilität
Radiologisch: – Lokale Behandlung und Physiotherapie
– Fraglicher Nachweis in MRT und Biopsie

5. Funktionelle Instabilität Klinisch: – Unsichere Pathogenese und Definition


– »Durchbrechgefühl« – Manualmedizinische und physiothera-
– Dekonditionierungszyklus peutische Stabilisierung
– Bewegungsschmerz mit ggf. sensomotorischen – Cave: OP
Ausfällen (reversibel)
– Statomuskuläre Insuffizienz und Dysbalance
– Störung der Tiefenstabilität
Radiologisch:
– Keine direkten Zeichen

B. bei lumbosakraler Spondylarthrose, Hyperlordose schwerden in der Praxis und Klinik vorstellig werdenden
und Adipositas, muskulärer Dekonditionierung und Patienten letztlich bereits an einem chronischen bzw.
Bewegungsmangel, chronisch rezidivierenden Rückenschmerz leidet. So gab
C. exazerbiert nach Hilfe beim Umzug der geschiedenen unter den sich erstmals beim Hausarzt wegen »akuten«
Tochter. Rückenschmerzes vorstellenden Patienten nur ein Drittel
an, bisher nie oder selten Rückenschmerzen gehabt zu
Die Durchgängigkeit und Variabilität des Rückenschmer- haben [22]. Der hier vorgestellte Algorithmus ist sowohl
zes wird in folgendem Versorgungsschema besonders für den akuten als auch chronischen Rückenschmerz-
deutlich. Neben der wichtigen Erstversorgung des akuten patienten anwendbar (. Abb. 10.2).
bzw. subakuten Schmerzes muss davon ausgegangen Das Experten-Panel Rückenschmerz [23] hat diesen Be-
werden, dass ein Großteil der wegen »akuten« Rückenbe- handlungspfad entwickelt, der auf dem Therapiealgorithmus
10.3 · Die Sicht des Orthopäden
97 10

. Tab. 10.4 Spezifischer Rückenschmerz mit erforderlicher weiterer Diagnostik (außer »red flags«) [19]

Krankheitsbild Befunde Weiteres Vorgehen Therapie

1. Radikulopathie (haupts. – Dermatombezogene beinbe- – Bildgebende Diagnostik In Abhängigkeit vom klinischen


L5 und S1) tonte Lumboischialgie, ggf. mit (DD: Prolaps-Stenose- Befund:
sensomotorischen Defiziten Tumor) Konservativ:
– Positive Nervendehnungs- – Ggf. Röntgen, CT – Medikamentös-analgetisch
zeichen – Fachneurologische/ – Physiotherapie
– Reflexdifferenzen elektrophysiologische – Wurzelblockade
Abklärung Operativ:
– OP, insbes. bei motorischen Defiziten

2. Spinalkanalstenose/ – Syndrom der spinalen Enge, – Bildgebende Diagnos- In Abhängigkeit vom klinischen
degenerative Instabilität Gehstreckenverminderung, tik: MRT (Röntgen, CT) Befund:
beinbetonte Syndrome bds. – Fachneurologische/ Konservativ:
– Ggf. sensomotorische Defizite elektrophysiologische – Schmerztherapie
– Rumpf-Flexions-Fehlhaltung Abklärung – Physiotherapie
– Interventionen: (SS)PDA,
Sakralblockade
Operativ:
– Dekompression
– Fusion

3. Axiale Spondyloarthritis – Syndrom des entzündl. – Bildgebende Diagnos- Fachrheumatol. Vorstellung:


(axiale SpA) Rückenschmerzes: Beginn tik: Röntgen, MRT (ISG) – Basistherapie
<45 J., RS >3 Monate, Morgen- – Labordiagnostik: – Schmerzbehandlung
steifigkeit >30 min, Besserung HLA B 27 – Physiotherapie
bei Bewegung, Nachtschmerz
– ISG-Syndrom
– Enthesitis (Ferse)

4. Skoliose: – Familienanamnese – Früherkennung bei Abhängig von Alter, Ursachen und


– idiopathisch – Seitabweichung bei Rumpf- Kindern! Ausmaß:
– sekundär: strukturell, flexion – Bildgebende Diagnos- – Physiotherapie
neuromyopathisch, Binde- – Rippenbuckel tik: Bending-Röntgen, – Korsettversorgung
gewebserkrankung Lendenwulst MRT (sek. Skoliose) – Operative Korrektur

5. Osteoporose: – Akute und chronische Rücken- – Erfassung der Risiko- Konservativ:


– primär schmerzen bei Frakturen und faktoren – Schmerztherapie
– sekundär WK-Deformierungen – Bildgebende Diagnos- – Basistherapie
– Iliokostales Syndrom tik: Röntgen, MRT, – Physiotherapie
(12. Rippe) Osteodensitometrie – Aktiv. Korsett
(T-Score) Operativ:
– Labordiagnostik – Vertebro-/Kyphoplastik
Prävention:
– Ca, Vit. D
– Körperl. Aktivität

6. Neuropathie – Brennender Spontanschmerz – Fachneurologische – Medikamentöse Behandlung


Schmerzsyndrom: – Einschießende Schmerz- Abklärung – Physiotherapie
– peripher attacken – Elektrophysiologie – Interventionelle Verfahren
– zentral – Evozierte Schmerzen – Ggf. Laboruntersuchung
Insbesondere beim RS: (Allodynie, Hyperalgesie) (Blut, Liquor)
– Herpes zoster u. – Plus-Minus-Symptome
postzosterische Neuralgie – »Mixed pain«
– Engpass-Syndrom – Dermatombezogener Haut-
– Trauma ausschlag (Zoster)
– Polyneuropathie (PNP)
– Radikulopathien
(s. oben)
98 Kapitel 10 · Chronischer Rückenschmerz

Versorgungspfad/Algorithmus
Zusammenfassende Darstellung
Zeit in Wochen

AU*-Wochen
rücken-
Akuter, rezidivierender und chronischer Rückenschmerz
gesund

0 / 0
Erstbehandler-Ebene: Hausarzt/Facharzt

Triage
Aktionsebene 1

Screening/Gelbe Flaggen Rote Dunkelrote


(z.B. Heidelberger Kurzfragebogen, Örebro) Flaggen Flaggen

Leichtere Chronifizierungsrisiko
Fälle

Aufklärung symptomat. Therapie


Operatives
Zentrum
Persistenz/Verschlechterung?
4 / 2 – Abklärung
– Ggf. OP
10 Fachspezifische Ebene: Orthopäde/Neurologe

Dunkelrote Flaggen
Aktionsebene 2

Fachspez. Diagnostik Chronifizierungsrisiko

Radiologie
Ggf. Konsile Anaesthesie/Angiologie
Chirurgie/Gynäkologie
Fachspez. Therapie Innere/Onkologie
Psychotherapeut
Urologie
Persistenz/Verschlechterung? Zahnmedizin

8 / 4
Interdisziplinäre Ebene

Interdisziplinäres Assessment
Behandlungsplan und Therapieempfehlung
(1., 2. oder 3. Ebene, akutstationäre Einrichtung, Rehabilitationseinrichtung)
Aktionsebene 3

Kurative Versorgung Rehabilitation


Ambulant/teilstationär/stationär Ambulant/teilstationär/stationär
in Schmerzzentren in Rehabilitationseinrichtungen

Prognostische Stellungnahme

12 / 6
Weiterbehandlung durch Spezifische
Hausarzt/Facharzt Nachsorge

* AU = Arbeitsunfähigkeit

. Abb. 10.2 Versorgungspfad akuter, rezidivierender und chronischer Rückenschmerz (Aus Casser und Kaiser [19])
10.4 · Die Sicht des Neurologen
99 10
der IGOST (Interdisziplinäre Gesellschaft für Allgemeine, an die dritte interdisziplinäre Ebene, wurden in 82 % be-
Orthopädische und Unfallchirurgische Schmerztherapie) folgt bei einem Patientenanteil von 40 %, die anhand des
beruht [24]. Er umfasst sämtliche Formen des Rücken- HKF-R 10 für ein interdisziplinäres Assessment selek-
schmerzes und beinhaltet ein 3-Ebenen-Konzept. Bereits in tioniert wurden. Allein dieser hohe Anteil chronifizierter
der Primärversorgung wird eine schweregradorientierte bzw. chronifizierungsgefährdeter Patienten spricht für den
Zuteilung der Rückenschmerzpatienten verlangt, so auch hohen Anteil chronischer Rückenschmerzpatienten bei der
die direkte Zuweisung chronifizierungsverdächtiger Patien- Erstvorstellung. Insgesamt konnte anhand der numeri-
ten mit psychosozialen Risikofaktoren in die interdiszipli- schen Ratingskala bei allen Patienten eine Reduktion der
näre Ebene zum Assessment (. Abb. 10.3). Schmerzintensität um 2–3 Punkte nachgewiesen werden,
In der Erstbehandlerebene (Haus- oder Facharzt) wird bei zunehmender Aktivität. Defizite zeigten sich in der
eine Differenzierung vorgenommen von Notfällen (»dark nicht ausreichenden Handlungsfähigkeit der 3. Ebene (der
red flags«) mit einer Überweisung in ein operativ ausge- interdisziplinären Ebene), die im ambulanten Bereich nicht
richtetes Wirbelsäulenzentrum, eine Erfassung spezieller über ausreichende Strukturen und Honorierungen verfügt.
Wirbelsäulenleiden (»red flags«) mit Vorstellung beim
Fachspezialisten (Ebene 2) und der Selektion komplexer
Rückenschmerzen mit psychosozialen Auffälligkeiten an- 10.4 Die Sicht des Neurologen
hand des Heidelberger Kurzfragebogens (HKF-R 10) [25]
oder des Örebro Kurzfragebogens [26] mit Weiterleitung R. Baron
in ein interdisziplinäres Schmerzzentrum zum Assessment
(Ebene 3). Bei fehlender Besserung der Beschwerden bzw. Chronische Rückenschmerzerkrankungen sind für die
Verschlechterung ist eine Überweisung des Patienten in Neurologie aus folgenden Gründen eine besondere Heraus-
die nächsthöhere Ebene spätestens nach 4 Wochen bzw. bei forderung: Zur Erschließung des spezifischen somatischen
anhaltender Arbeitsunfähigkeit vorzunehmen. Ursachenspektrums ist weiterhin eine sorgfältige Syndro-
Während in der ersten Ebene neben dem oben ge- mevaluation nach rein klinischen Gesichtspunkten von
nannten Screening leitliniengerecht eine ausführliche Auf- entscheidender Bedeutung. So führt z. B. das Erschei-
klärung des Patienten, ggf. symptomatische Therapie- nungsbild einer Claudicatio spinalis als Indiz für eine lum-
maßnahmen stattfinden, erfolgen in der fachspezifischen bale Spinalkanalstenose zu ganz anderen Schlussfolgerun-
Ebene (2. Ebene) weiterführende Diagnostik und Thera- gen als die Identifikation eines monosymptomatischen ra-
pie, ggf. auch unter konsiliarischer Hinzuziehung weiterer dikulären Ausfallmusters (z. B. als Residualzustand nach
Fachärzte. Bei psychosozialen Risikofaktoren (s. HKF- mehrfachen Bandscheibenoperationen). Auch die Fest-
R 10) oder fehlender Beschwerdebesserung über 8 Wo- stellung einer Zweiterkrankung, z. B. im Sinne einer
chen bzw. bei über 4 Wochen Arbeitsunfähigkeit gehört radikulären Postzosterneuralgie, einer sensiblen Schwer-
der Patient in die interdisziplinäre schmerztherapeutische punktneuropathie bei Diabetes mellitus, einer Rückenmar-
Ebene, wo zunächst ein umfassendes Assessment stattfin- kerkrankung oder einer schmerzhaften Polyneuropathie,
det. Daraus ergibt sich ggf. ein ambulantes, teilstationäres evtl. maskiert durch das entstandene chronische Schmerz-
oder stationäres multimodales Therapieprogramm mit syndrom, kann im Einzelfall den Ansatzpunkt für eine
abschließender Evaluation und prognostischer Stellung- wichtige Therapieerweiterung oder Umstellung liefern.
nahme zur Weiterbehandlung und Arbeitsfähigkeit. Der Außerdem sind in den letzten Jahren bei der Er-
Algorithmus macht ebenfalls deutlich, dass auch nach Ab- forschung neuropathischer Schmerzsyndrome wichtige
schluss der Behandlung in der interdisziplinären Ebene Zusatzerkenntnisse entstanden. Chronische Rücken-
eine Weiterbehandlung durch den Hausarzt/Facharzt bzw. schmerzen können an verschiedenen anatomischen Loka-
Schmerztherapeuten in der Regel erforderlich ist, indivi- lisationen mit Verletzungen nozizeptiver Nerven einherge-
duell unterschiedlich in seiner Intensität und Dauer. hen. Dies ist besonders evident bei chronischer radikulärer
Das deutschlandweit durchgeführte Pilotprojekt des Kompression, aber auch bei Läsionen nozizeptiver Fasern
IGOST/FPZ-IV Rückenschmerzversorgungs-Algorithmus in der degenerierten Bandscheibe und im Rahmen post-
umfasste im untersuchten Zeitraum 2006–2008 9.455 Pa- operativer Narbenbildung. Durch sehr unterschiedliche
tientendaten mit 1.220 teilnehmenden Ärzten, 123 Netz- Neuroplastizitätsvorgänge im peripheren und zentralen
werke in Zusammenarbeit mit 27 unterschiedlichen, über- Nervensystem kann es zu einer zusätzlichen Entwicklung
wiegend regionalen Krankenkassen. neuropathischer Schmerzkomponenten kommen; dies
Die Auswertung der Daten bestätigte die Praktikabilität auch, wenn die Entstehung, Charakteristik und das topi-
des 3-Ebenen-Modells. Die Schnittstellendefinitionen, ins- sche Ausbreitungsmuster – unter Berücksichtigung der
besondere die Überweisung der Patienten mit psychosozi- erfolgten Zusatzdiagnostik – zunächst eine primäre Nozi-
alen Risikofaktoren (»yellow flags«) anhand des HKF-R 10 zeptorvermittlung auf der Basis einer muskuloskeletalen
100 Kapitel 10 · Chronischer Rückenschmerz

Fehlfunktion annehmen lässt. Entsprechend wird in zu- Frau P. hat nach Aufklärung und Beratung durch ihren
nehmender Weise das neurologische »Handwerkszeug« Hausarzt die Zusammenhänge nachvollziehen können
benötigt, um anhand des bestehenden Symptomprofils und kann sich jetzt etwas besser vorstellen, wodurch ihre
eine neuropathische Mitverursachung von chronischen Rückenschmerzen aufrechterhalten und zeitweise auch
Rückenschmerzen identifizieren zu können, auch wenn verstärkt werden. Trotz mehrfacher Gespräche darüber
primär eine entsprechende Genese nicht offensichtlich ist. muss sie sich jedoch eingestehen, dass sie diese bereits seit
Zur Identifizierung einer neuropathischen Komponente vielen Jahren bestehenden Gewohnheiten nicht allein än-
bei Rückenschmerzen sind validierte Screeningfragebögen dern kann bzw. nicht weiß, wie sie sie ändern soll. Zudem
entwickelt worden (z. B. painDETECT). ist ihre Stimmung seit dem Tod ihres Mannes dauerhaft
Daraus resultiert, dass sich bei vielen Patienten eine sehr gedrückt, sodass ihr der Antrieb fehlt.
Erweiterung der algesiologischen Therapieoptionen um Für den Hausarzt ist dies der Punkt, an dem er selbst
den Behandlungsalgorithmus für neuropathische Schmer- seiner Patientin eine spezielle schmerzpsychotherapeu-
zen auch dann als sinnvoll und hilfreich erweisen kann, tische Behandlung empfehlen kann. War die Patientin nach
wenn sich aus den Einzelbefunden keine direkten Nerven- ihren Erfahrungen des ersten unspezifischen Psychothera-
schädigungen im Gefolge der chronischen Rücken- pieversuchs noch sehr skeptisch, da sie keinerlei Idee hatte,
schmerzerkrankung schließen lassen. Folglich wird es für wo eine solche Behandlung ansetzen sollte, kann sie nun
eine erfolgreiche Betreuung chronisch kranker Rücken- mit mehr Einsicht und mehr Zuversicht eine speziell auf die
schmerzpatienten in der Zukunft von entscheidender Schmerzverarbeitung ausgerichtete Behandlung angehen.
Bedeutung sein, die neurologischen Wissensansätze in die Der Hausarzt, ggf. Facharzt sowie der Schmerzpsycho-
alltägliche Versorgungspraxis wesentlich konsequenter als therapeut sollten, basierend auf möglichst übereinstim-
bisher einfließen zu lassen. menden Krankheitsmodellen, die Behandlung Hand in
Hand weiterführen. Der Schmerzpsychotherapeut wird
10 zunächst die Screeningdiagnostik durch eine eingehende
10.5 Die Sicht der Psychologin Untersuchung möglicher schmerzunterhaltender Faktoren
(7 Kap. 13, »Psychosoziale Diagnostik«) weiterführen. Hier-
M. Hasenbring zu gehört auch die erste Abschätzung psychopathologi-
scher Komorbiditäten wie z. B. Angst- oder depressive
Bei leitliniengerechter Behandlung von Patienten mit Störungen von eigenständigem Krankheitswert.
chronischen Rückenschmerzen werden vorliegende psy-
chosoziale Risikofaktoren (»yellow flags«) erfasst. Gehen Fortsetzung Fallbeispiel
wir einmal davon aus, dass z. B. bei der Patientin Frau P. Bei Frau P. zeigen sich keinerlei Hinweise auf eine psycho-
positive Eindrücke aus der Anamnese oder auch positive pathologische Störung. Sie weist in standardisierten Test-
Werte in einem standardisierten Screeningfragebogen vor- verfahren eine erhöhte depressive Stimmungslage auf, die
liegen. Es zeigen sich z. B. eine erhöhte depressive Stim- aber dem Grad einer milden Depression entspricht. Ein ver-
mungslage und Hinweise auf eine depressiv-suppressive haltensanalytisches Interview ergibt Hinweise darauf, dass
Schmerzverarbeitung. Der Hausarzt hat ihr diese Befunde diese Stimmungslage einerseits im Zusammenhang mit
auf der Basis eines einfachen biopsychosozialen Basismo- einer komplizierten Trauerreaktion auf den Tod ihres
Mannes sowie auf den Auszug ihrer beiden erwachsenen
dells (7 Abschn. 17.2.1) erläutert, ihr deutlich gemacht,
Kinder steht. Andererseits ist bekannt, dass ihre Neigung zu
dass ihre niedergedrückte Stimmung bei dem Schmerzver-
einer depressiv-suppressiven Schmerzverarbeitung an der
lauf zwar absolut verständlich ist, aber die Beschwerden
Aufrechterhaltung und Verstärkung negativer, gedrückter
weiterhin ungünstig beeinflusst. Dass sie offensichtlich
Stimmungslagen beteiligt ist. Dies wird durch auffällige
eine Neigung hat, bei einer Schmerzverstärkung mit
Werte in Fragebogenverfahren zur Schmerzverarbeitung
Gedanken des Durchhalteappells zu reagieren (»Stell dich bestätigt. Im Rahmen von 5 50-minütigen probatorischen
nicht so an!« oder »Reiß dich zusammen!«), einmal begon- Sitzungen erkennt Frau P. Ansatzpunkte für Änderungen,
nene Aktivitäten im Haushalt (z. B. Gemüse putzen) erst die in weiteren schmerzpsychotherapeutischen Sitzungen
einmal zu beenden und sich ggf. erst abends eine Pause zu bearbeitet werden können. Frau P. hat nun eine positive
gönnen. Die Patientin hat sich in ihrem Alltagsverhalten Motivation entwickelt, gemeinsam mit ihrem Therapeuten
sehr gut wiedererkannt und kann nachvollziehen, dass sowie unterstützt von ihren Haus- und ggf. Facharzt Ver-
diese Gewohnheiten ihre Schmerzen verstärken. So wie haltensänderungen zu erarbeiten, die zu einer deutlichen
beschrieben verlaufen die meisten ihrer Tage, sodass ihr Schmerzlinderung sowie einer Erhöhung ihrer Lebensquali-
keine Zeit und auch keine Energie für gesundheitsfördern- tät beitragen können. Es wird eine spezielle Schmerzpsycho-
de Aktivitäten wie z. B. Sport, Schwimmen oder längere therapie (Schwerpunkt kognitiv-verhaltenstherapeutisch)
Spaziergänge bleiben. mit zunächst 25 Stunden Dauer beantragt.
10.6 · Empfehlungen zur Versorgungskoordination
101 10

1
Patient/in
• mit > 12 Wochen anhaltendem Kreuzschmerz trotz leitlinien-gerechter Therapie,
• ohne anamnestische Hinweise auf entzündlichen Rückenschmerz

2
Überprüfung der Indikation zu und ggf. Initiierung einer
mulitmodalen, multi- und interdisziplinären Behandlung/Rehabilitation
(z.B. durch umfassendes interdisziplinäres Assessment)

3 nein 4
Psychosoziale einmalige Bildgebung*
Belastungsfaktoren? (MRT)

ja

5 ja
Hinweis auf
Organpathologie?

ja 8
nein 7
ggf. Überweisung für
Spezifische Ursache?
fachärztliche Behandlung
6
Langzeitbetreuung nein
und ggf. kognitiv
verhaltenstherapeutische
Maßnahmen

* nur unter der Voraussetzung, dass nach 6 Wochen noch keine Bildgebung erfolgt ist

. Abb. 10.3 Versorgung beim Übergang zum chronischen nichtspezifischen Kreuzschmerz. (© ÄZQ, BÄK, KBV und AWMF [11]; mit freundl.
Genehmigung)

An der Schmerzverarbeitung orientierte kognitiv- gen Intervention bei Vorliegen von »red flags« oder »yellow
verhaltenstherapeutische Verfahren haben sich sowohl im flags« geraten, andererseits schadet Überdiagnostik und
Einzelsetting [13] wie auch im Gruppensetting [14, 15] als unnötige Therapie dem Patienten. Die beispielhafte Dar-
sehr effektiv dabei erwiesen, zur Linderung von chroni- stellung der Sichtweisen von Hausärzten (7 Abschn. 10.2),
schen muskuloskeletalen Schmerzen beizutragen, wieder Orthopäden (7 Abschn. 10.4), Neurologen (7 Abschn. 10.3)
Alltagsaktivität herzustellen sowie Lebensqualität zu er- und Psychologen (7 Abschn. 10.5) zeigt, wie unterschied-
höhen (7 Kap. 26, »Psychologische Verfahren«). lich die Perspektiven der beteiligten Akteure sind. Drei
Versorgungsebenen sind in die Behandlung involviert: die
hausärztliche Behandlung [1], die ambulant fachärztliche
10.6 Empfehlungen zur Versorgungs- Behandlung [2] und die ambulante oder stationäre, speziell
koordination fachärztliche Schwerpunktbehandlung in Zentren, Klini-
ken, Rehabilitationseinrichtungen [3, 11]. Soll aus diesen
A. Becker, J.-F. Chenot Voraussetzungen ein umfassendes und für den Patienten
optimales Versorgungspaket geschnürt werden, muss es
Die Koordination der Versorgung chronischer Kreuz- einen Hauptansprechpartner geben, der als Koordinator
schmerzpatienten ist komplex. Die biopsychosoziale oder Lotse den Patienten durch das Versorgungsgeschehen
Betrachtungsweise verlangt eine enge Abstimmung leitet und Schnittstellen identifiziert bzw. die Übergänge
unterschiedlicher Leistungserbringer, die verschiedenen zwischen den unterschiedlichen Akteuren gestaltet.
Berufsgruppen angehören. Einerseits wird zur frühzeiti- Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat 2014 die
102 Kapitel 10 · Chronischer Rückenschmerz

Langzeitversorgung
• kontinuierliche Aufklärung und Motivation zu einer gesunden
Lebensführung, die regelmäßige körperliche Aktivität einschließt
• Vermeidung chronifizierungsfördernder medizinischer Verfahren

Klinische Situation Erforderliche Handlungen

Veränderung des Beschwerdebildes • Aufklärung und Beratung,


• unter Berücksichtigung vorliegender Befunde Bewertung diagnostischer
Maßnahmen und therapeutischer Interventionen
Einnahme von Medikamenten gegen regelmäßige Prüfung von:
Kreuzschmerz >4 Wochen • Notwendigkeit der Fortführung der Therapie,
• Nebenwirkungen,
• Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten,
• adäquate Dosierung,
• Einsatz geeigneter nichtpharmakologischer
Maßnahmen, z. B. psychosoziale Interventionen,
• Notwendigkeit einer fachärztlichen Abklärung/
Kontrolle bestehender oder neu eingetretener Komorbiditäten,
• Notwendigkeit einer speziellen
schmerztherapeutischen bzw. einer rehabilitativen Maßnahme,
• Notwendigkeit einer sozialrechtlichen Beratung
Entlassung aus ambulanter/stationärer • Beurteilung der Angemessenheit und Umsetzbarkeit
schmerztherapeutischer Intervention oder der empfohlenen Therapiemaßnahmen,
Rehabilitation • Unterstützung bei der Initiierung und Abstimmung der Maßnahmen
• ggf. Überwachung der Umsetzung (z. B. Sportangebote oder Funktionstraining)
• stufenweise Wiedereingliederung am Arbeitsplatz
10 • ggf. Initiierung und Koordination einer weiterführenden
psychotherapeutischen Behandlung
• ggf. Koordination einer notwendigen fachärztlichen Weiterbetreuung,
• ggf. Förderung und Kooperation von/mit
Nachsorgeprogrammen
• ggf. Beobachtung der sozialrechtlichen Situation
weiterhin bestehende Risikofaktoren und/oder • Terminvergabe zur Behandlung nach festem
nachweislich eingetretene psychosoziale Zeitschema/Vorstellung »bei Bedarf« nur für Notfälle,
Folgen des Kreuzschmerzes • psychosomatische Grundversorgung,
• ggf. Initiierung und Koordination einer weiterführenden
psychotherapeutischen Behandlung
• evtl. sozialrechtliche Beratung oder Initiierung derselben
symptomunterhaltende oder -verstärkende • Terminvergabe zur Behandlung nach festem
Komorbiditäten (Bsp. affektive Störungen wie Zeitschema/Vorstellung »bei Bedarf« nur für Notfälle,
Angst, Depression oder somatoforme Störungen) • psychosomatische Grundversorgung,
• Einleitung und Koordination einer störungsspezifischen Behandlung

. Abb. 10.4 Maßnahmen in der Langzeitbetreuung. (© ÄZQ, BÄK, KBV und AWMF [11]; mit freundl. Genehmigung)

Beratung zu einem strukturierten Behandlungsprogramm chronischer Schmerzen aufweist. Eine bildgebende


Rückenschmerz (Disease-Management-Programm, DMP) Diagnostik ist indiziert, wenn bislang keine Bildgebung
aufgenommen. Ob durch die Einführung eines DMP erfolgt ist, keine psychosozialen Risikofaktoren für einen
Rückenschmerz die Versorgungskoordination verbessert chronischen Verlauf vorliegen oder Hinweise auf eine
und die Behandlungsqualität gesteigert werden kann, spezifische Ursache der Beschwerden vorhanden sind. Bei
bleibt zu prüfen. allen Patienten sollte die Indikation für eine multimodale
In der »NVL Kreuzschmerzen« [11] wurden in einem Therapie überprüft werden [11].
interdisziplinären Expertenteam Empfehlungen für Für die Langzeitversorgung chronischer Patienten
die Kooperation der Behandelnden ausgesprochen. wurden Situationen definiert, für die in der Primärver-
. Abb. 10.3 stellt diese Versorgungswege im Überblick dar. sorgung besondere Maßnahmen ergriffen werden sollten.
Demnach wird empfohlen, bei Patienten, deren Beschwer- . Abb. 10.4 fasst diese zusammen.
den mehr als 12 Wochen anhalten, erneut zu prüfen, ob es
sich um nichtspezifischen Kreuzschmerz handelt und in-
wiefern der Patient ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung
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103 10
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105 IV

Diagnostik
Kapitel 11 Diagnostik der Schmerzintensität – 107
H.-D. Basler

Kapitel 12 Übungstechniken – 121


K. Niemier, H.-R. Casser, R. Baron, J. Raethjen

Kapitel 13 Psychosoziale Diagnostik – 149


M. I. Hasenbring, M. Pfingsten

Kapitel 14 Interdisziplinäres Assessment zur multimodalen


Schmerztherapie – 165
H.-R. Casser, B. Arnold, I. Gralow, D. Irnich, K. Klimczyk,
B. Nagel, M. Pfingsten, M. Schiltenwolf, R. Sittl, W. Söllner,
R. Sabatowski, T. Brinkschmidt
107 11

Diagnostik
der Schmerzintensität
H.-D. Basler

11.1 Schmerzintensität
und Schmerzdiagnostik – 108

11.2 Forderungen an Skalen zur Schmerzmessung – 108

11.3 Gebräuchliche Skalen zur Schmerzmessung – 109


11.3.1 Visuelle Analogskala (VAS) – 109
11.3.2 Verbale Ratingskala (VRS) – 109
11.3.3 Numerische Ratingskala (NRS) – 110
11.3.4 Schmerztagebücher – 110

11.4 Schmerzmessung in der Pädiatrie – 112


11.4.1 Ältere Kinder – 112
11.4.2 Kleinkinder – 112
11.4.3 Neugeborene – 113

11.5 Schmerzmessung in der Geriatrie – 113


11.5.1 »Underreporting of pain« – 113
11.5.2 Subjektive Ratingskalen – 115
11.5.3 Beobachtungsskalen – 115

11.6 Schmerzmessung im Krankenhaus – 116


11.6.1 Der Expertenstandard – 116
11.6.2 Intensivpatienten – 118
11.6.3 Beatmete Patienten – 119

Literatur – 119

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
108 Kapitel 11 · Diagnostik der Schmerzintensität

Die Schmerzintensität kann durch den Selbstbericht, durch onen, in denen die Konzentration auf die Schmerzintensi-
Verhaltensbeobachtung und eingeschränkt als Stressreak- tät von großem Nutzen ist. Es handelt sich vorwiegend um
tion auch durch physiologische Parameter bestimmt solche Situationen, in denen Patienten durch medizinische
werden. Der Selbstbericht stellt den Goldstandard dar. Interventionen Schmerz erleiden oder in denen es darum
Er soll nur dann verlassen werden, wenn er aufgrund ent- geht, akut vorhandenen Schmerz zu lindern und den Er-
wicklungspsychologischer oder kognitiver Bedingungen folg der Schmerzlinderung zu überwachen.
nicht möglich ist. – Skalen für den Selbstbericht sind die > Die Diagnostik der Schmerzintensität kann als
visuelle Analogskala (VAS), die verbale Ratingskala (VRS) globaler Indikator für einen Interventionsbedarf
und die numerische Ratingskala (NRS). Letztere weist die angesehen werden.
meisten Vorteile auf. – Kinder können ab dem 8. Lebensjahr
Skalen für Erwachsene anwenden. Vom 4. Lebensjahr an Diesem Sachverhalt wird durch Qualitätssicherung der
kann die Faces Pain Scale eingesetzt werden. Bei noch jün- Schmerztherapie Rechnung getragen, wobei Struktur-,
geren Kindern ist eine Verhaltensbeobachtung erforderlich Prozess- und Ergebnisvariablen unterschieden werden. Zu
(z. B. mithilfe der KUSS-Skala). Auch bei Neugeborenen ist den Strukturmerkmalen gehört es, über geeignete Instru-
eine Beobachtung des Schmerzverhaltens möglich. – In der mente zur Messung der Schmerzintensität zu verfügen und
Geriatrie sollte bei leichter kognitiver Beeinträchtigung die sich mit ihrer Anwendung vertraut zu machen. Messung
VRS eingesetzt werden. Bei starker Einschränkung oder und Dokumentation des Schmerzes hingegen sind Pro-
Demenz und fehlender verbaler Kommunikationsfähigkeit zessmerkmale. Eine Verbesserung der Prozessqualität
muss auf Beobachtungsverfahren zurückgegriffen werden führt nicht automatisch zu einer Verbesserung der Ergeb-
(z. B. BESD). – Bei verbal nicht kommunikationsfähigen nisqualität [13]. Soll diese nachhaltig verbessert werden,
Patienten auf der Intensivstation sollen ebenfalls Beobach- muss sichergestellt werden, dass der Schmerzmessung und
tungsverfahren eingesetzt werden (z. B. Behavioral Pain Dokumentation auch adäquate therapeutische Interventi-
Scale). Werden die Patienten beatmet und sediert, muss die onen folgen, deren Erfolg kontrolliert wird.
Sedierungstiefe bei der Interpretation der erzielten Werte Die in diesem Beitrag beschriebenen Verfahren zur
berücksichtigt werden. Messung der Schmerzintensität können sowohl bei akutem
11 als auch bei chronischem Schmerz eingesetzt werden. Bei
chronisch Schmerzkranken müssen sie allerdings durch
11.1 Schmerzintensität andere Messverfahren ergänzt werden, die in 7 Kap. 13,
und Schmerzdiagnostik »Psychosoziale Diagnostik«, beschrieben werden.

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einem Aspekt des


Schmerzes, nämlich mit der Schmerzintensität. Aus der 11.2 Forderungen an Skalen zur
Definition der International Association for the Study of Schmerzmessung
Pain (IASP), in der vom Schmerz als einem unangeneh-
men Sinnes- und Gefühlserleben gesprochen wird, geht Zur Diagnostik der Schmerzintensität werden sowohl
hervor, dass Schmerz ein komplexes Phänomen ist. Senso- beim akuten als auch beim chronischen Schmerz Messska-
rische, affektive und kognitive Komponenten des Schmer- len eingesetzt. Außer für besondere Patientengruppen, die
zes werden unterschieden und formen in ihrem Zusam- später in diesem Beitrag berücksichtigt werden, gelten die
menwirken das Schmerzerleben. Wenn ein einziger Aspekt folgenden Forderungen:
aus diesem Erleben herausgegriffen wird, so ist dieses not- > Messskalen sollen schnell und einfach anzuwenden
wendigerweise ein reduktionistisches Vorgehen. Ver- sein, Schmerzintensitäten und ihre Veränderungen
gleichbar wäre es mit dem Versuch, Musik ausschließlich präzise abbilden, für den Patienten leicht verständ-
durch ihre Lautstärke zu beschreiben. lich sein, möglichst für alle Patienten unabhängig
> Schmerz ist mehr als Schmerzintensität! von kognitivem Status oder Sprechvermögen einzu-
setzen sein und den Gütekriterien der psychologi-
Dennoch sprechen einige Gründe dafür, der Messung der schen Testkonstruktion entsprechen.
Schmerzintensität eine gesonderte Abhandlung zu wid-
men. Aus didaktischer Sicht erscheint es angemessen, in Zu den Gütekriterien gehört, dass die Skalen tatsächlich
jedem der vorliegenden Kapitel zur Schmerzdiagnostik Schmerz messen (Validität), dass sie sensitiv sind für Ver-
(7 Kap. 11–14) unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen änderungen des Schmerzes (Sensitivität), dass sie genau
und diese abschließend im Rahmen eines Beitrags zum messen (Reliabilität) und dass unterschiedliche Anwender
multimodalen Assessment (7 Kap. 14) zu würdigen. Aus zum gleichen Messergebnis kommen (Inter-Rater-Reliabi-
inhaltlicher Sicht gibt es in der Medizin zahlreiche Situati- lität und Objektivität).
11.3 · Gebräuchliche Skalen zur Schmerzmessung
109 11
Es werden vorwiegend 3 Skalen eingesetzt, deren Vor-
und Nachteile abzuwägen sind. Skalenübergreifend gilt,
Kein Stärkster
dass sie möglichst ereignisnah (also zeitlich an das augen-
blickliche Erleben gekoppelt) eingesetzt werden sollen. Die Schmerz vorstellbarer
retrospektive Einschätzung des Schmerzes ist nicht valide, Schmerz
da sie von dem augenblicklich erlebten Schmerz beein- 0 100
flusst wird. Nach der Wahl einer Skala soll diese bei allen
Wiederholungsmessungen beibehalten werden.

11.3 Gebräuchliche Skalen zur . Abb. 11.1 Visuelle Analogskala (VAS). Instruktion des Patienten:
Schmerzmessung »Mit der Skala soll versucht werden, Ihren Schmerz zu messen.
Ein Messwert von 0 bedeutet, dass Sie gar keine Schmerzen haben.
Ein Messwert von 100 stellt den stärksten vorstellbaren Schmerz
11.3.1 Visuelle Analogskala (VAS) dar. Bitte kennzeichnen Sie mit einem senkrechten Strich auf der
Linie zwischen 0 und 100, wie stark Ihr Schmerz im Augenblick ist.«
Die VAS besteht aus einer 10 cm langen horizontalen Linie
mit den Endpunkten »kein Schmerz« (0) und »stärkster
vorstellbarer Schmerz« (100) (. Abb. 11.1).
lich erlebten Schmerzstärke entspricht. Der Punkt der
> Es wäre ein Fehler, das Maximum als »unerträglicher Fixierung kann anschließend auf der Rückseite als ein
Schmerz« zu kennzeichnen, da hierdurch sensori- Zahlenwert zwischen 0 und 100 abgelesen werden. Hier-
sche und affektive Schmerzqualitäten vermischt durch erübrigt sich das Ausmessen mit dem Lineal. Die
würden. Erfahrung zeigt allerdings, dass bei wiederholtem
Die Patienten werden gebeten, auf der Linie einen Punkt Gebrauch die Mechanik an Präzision verliert, wodurch
zu markieren, der ihrer augenblicklichen Schmerzstärke fehlerhafte Werte abgelesen werden.
entspricht. Anschließend wird mit einem Lineal ausgemes- Gegen den Einsatz aller VAS-Skalen wird der Einwand
sen, wie groß die Entfernung der Markierung vom Null- vorgebracht, dass Patienten weit weniger Abstufungen der
punkt entfernt liegt. Der Messwert in Millimetern ent- Schmerzintensität vornehmen können, als es die Skalen
spricht der erlebten Schmerzintensität. Falls entlang der vorgeben, dass also eine fiktive Genauigkeit postuliert
Linie zusätzlich in bestimmten Abständen zur Beschrei- wird. In Studien zeigte sich, dass Patienten für die Einstu-
bung der Intensität Zahlen aufgeführt sind, wird von einer fung im Regelfall Abstufungen in 5er- oder 10er-Schritten
grafischen Ratingskala gesprochen. vornehmen, sodass die Vorgabe von 101 Einstufungen
Die VAS gilt als sehr gut untersucht und hat sich als (0–100) in der Praxis auf 11 Einstufungen (0–10) reduziert
valides und zuverlässiges Messinstrument herausgestellt. wird.
Aufgrund der Skala, die Messwerte von 0 bis 100 ermög- Weiterhin ist die Skala zwar einfach anzuwenden, aber
licht, wird der Schmerz sehr differenziert erfasst und ist wegen des Einsatzes eines Lineals umständlich auszuwer-
daher besonders sensitiv für Veränderungen. Für wissen- ten. Zudem erscheint es anspruchsvoll, einen erlebten
schaftliche Studien ist es bedeutsam, dass die Messwerte Schmerz grafisch zwischen 2 Polen einzuordnen, weshalb
auf einer Rationalskala abgebildet werden, was die Anwen- die Skala für kognitiv eingeschränkte Patienten nicht emp-
dung von statistischen Testverfahren mit hoher Testpower fohlen wird.
erlaubt.
Anekdotisch soll angemerkt werden, dass bei Chinesen
die Fehlerhäufigkeit zunahm, wenn die Skala statt vertikal 11.3.2 Verbale Ratingskala (VRS)
horizontal vorgegeben wurde, während sich das bei Perso-
nen aus dem westlichen Kulturkreis genau andersherum Für kognitiv eingeschränkte Personen oder solche, die ein
verhielt. Die gewohnte Leserichtung beeinflusst offensicht- Verständnis für visuelle oder numerische Skalen nicht auf-
lich die Genauigkeit der Einstufung. bringen können, ist die verbale Ratingskala (VRS) besser
Zur Ermittlung der Schmerzstärke werden mitunter geeignet (. Tab. 11.1). Hier werden den Patienten zur Ein-
zusätzlich auch Hilfsmittel wie der »Schmerzschieber« an- schätzung der Schmerzstärke Begriffe vorgelegt, wobei
gewendet. Hier wird über eine Scheibe aus Pappe oder unterschiedlich viele Abstufungen zwischen den Polen
Plastik in einer Schiene ein Schieber geführt, der über der »kein Schmerz« und »sehr starker Schmerz« gewählt wer-
gesamten VAS-Skala beweglich ist und dessen Zeiger auf den können, z. B. geringer – mäßiger – mittlerer – starker
denjenigen Wert fixiert werden kann, der der augenblick- Schmerz bei einer 6-stufigen Skala.
110 Kapitel 11 · Diagnostik der Schmerzintensität

. Tab. 11.1 Beispiele für verbale Ratingskalen (VRS)

Bitte wählen Sie den Begriff, der in diesem Augenblick am besten Ihren Schmerz beschreibt:

4 Abstufungen: Kein Leicht Mäßig Stark

5 Abstufungen: Kein Wenig Mittel Stark Sehr stark

6 Abstufungen: Kein Gering Mäßig Mittel Stark Sehr stark

Stärkste
Tipp Keine
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 vorstellbare
Schmerzen
Schmerzen
Bei der Wahl der VRS ist erneut darauf zu achten, dass
. Abb. 11.2 Numerische Ratingskala (NRS). Instruktion des
diese nur sensorische, nicht aber affektive Beschrei-
Patienten: »Mit der Skala soll versucht werden, Ihren Schmerz zu
bungen des Schmerzes enthält. messen. Ein Messwert von 0 bedeutet, dass Sie gar keine Schmerzen
haben. Ein Messwert von 10 stellt den stärksten vorstellbaren
Schmerz dar. Bitte kreuzen Sie das Kästchen an, das der Stärke Ihres
Auch für die VRS konnte, z. B. im Vergleich mit der VAS, die Schmerzes in diesem Augenblick am ehesten entspricht.«
Validität nachgewiesen werden. Angaben in der VRS sind (Aus Büttner et al. [2] mit freundl. Genehmigung)
allerdings nicht direkt in VAS-Werte zu übertragen, da z. B.
ein mäßiger Schmerz in der VAS von unterschiedlichen
Patienten mit unterschiedlichen Zahlenwerten beschrieben Die Validität der NRS ist gut belegt. Ihr besonderer
wird. Die verwendeten Begriffe haben somit für die Patien- Vorteil ist darin zu sehen, dass ihre Anwendung in Vorgabe
ten unterschiedliche Bedeutungen. Zudem zeigt sich bei und Auswertung ohne Hilfsmittel auskommt und sie daher
einem Vergleich der von den Patienten auf beiden Skalen universell, sogar telefonisch einsetzbar ist. Im Gegensatz
parallel vorgenommenen Einstufungen, dass die Abstände zur VAS kann sie auch bei sehbehinderten Personen ange-
11 zwischen den Kategorien der VRS nicht gleich groß sind. wendet werden. Sie ist kaum fehleranfällig und weist eine
Werden somit den Schmerzkategorien Zahlenwerte sehr gute Inter-Rater-Übereinstimmung auf. Ebenso ist die
zugeordnet (0 = kein Schmerz, 1 = mäßiger Schmerz, 3 = Sensitivität gegenüber Veränderungen des Schmerzes
mittlerer Schmerz etc.), so ist für wissenschaftliche Studien nachgewiesen worden. Durch die Konzentration auf
von Bedeutung, dass diese auf einer Rangskala abzubilden 11 Abstufungen (0–10) für die Schmerzintensität wird im
sind. Das bedeutet, dass nonparametrische statistische Gegensatz zur VAS eine Scheingenauigkeit der Messung
Verfahren mit relativ geringer Testpower eingesetzt wer- vermieden. Außerdem ist ihre Akzeptanz bei den profes-
den müssen. sionellen Anwendern sowie bei kognitiv nicht beeinträch-
Wegen der im Vergleich zur VAS nur geringen Diffe- tigten Patienten hoch.
renzierung der VRS ist diese weniger sensitiv für Verände- Gegenüber der verbalen Ratingskala hat sie zudem
rungen. Ihre leichte Verständlichkeit wird allerdings von den Vorteil, dass die Messwerte auf einer Intervallskala
vielen Patienten geschätzt. Die Anwendung findet dort abzubilden sind und somit parametrische statistische
ihre Grenzen, wo die Patienten kein ausreichendes Sprach- Testverfahren eingesetzt werden dürfen. Die Überein-
verständnis für die vorgegebenen Kategorien besitzen. Au- stimmung der Messwerte mit Werten, die zeitgleich
ßerdem ist bei einer Übersetzung in andere Sprachen zu mit der VAS erhobenen wurden, ist hoch. Wegen der ein-
beachten, dass sich der semantische Gehalt der verwende- facheren Anwendung ist sie allerdings der VAS vorzu-
ten Begriffe verändert. ziehen.

11.3.3 Numerische Ratingskala (NRS) 11.3.4 Schmerztagebücher

Hier wird den Patienten eine Zahlenreihe im Regelfall von Sowohl für die Diagnostik als auch für die Erfolgskontrolle
0 bis 10 zur Einschätzung der Schmerzintensität ange- therapeutischer Interventionen ist es von Bedeutung, nicht
boten, wobei 0 erneut »kein Schmerz« und 10 »stärkster nur 1-Punkt-Messungen vorzunehmen, sondern den zeit-
vorstellbarer Schmerz« bedeuten (. Abb. 11.2). Die vom lichen Verlauf des Schmerzes zu dokumentieren. Hierzu
Patienten gewählte Zahl entspricht der erlebten Schmerz- werden Schmerztagebücher eingesetzt, die von den
intensität. Die Skala kann schriftlich vorgegeben oder dem Patienten geführt werden. Je nachdem, wie variabel der
Patienten ausschließlich mündlich erläutert werden. Schmerz ist und wie präzise der Verlauf abgebildet werden
11.3 · Gebräuchliche Skalen zur Schmerzmessung
111 11

Schmerz im Gespräch

Schmerztagebuch 1
Datum:

Tagesprotokoll Alle Angaben beziehen sich auf die letzten 24 Stunden.

1
Wie stark waren Ihre Schmerzen durchschnittlich in den letzten 24 Stunden?
(Wenn Sie gar keine Schmerzen hatten, kreuzen Sie bitte »O« an.)

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
keine Schmerzen maximal denkbare Schmerzen

2
Haben Sie in den letzten 24 Stunden Schmerzmittel genommen? ja nein

Wenn ja, welche Medikamente oder Spritzen?

Haben Sie heute wegen Ihrer Schmerzen einen Arzt aufgesucht? ja nein

Wenn ja, wen?

3
Haben Sie heute, außer durch Medikamente, selbst Einfluss auf Ihre Schmerzen nehmen können?

0 1 2 3 4 5 6
sehr gut gar nicht

Wenn ja, wie?

4
Wurden Sie heute durch Ihre Schmerzen in Ihren Tätigkeiten und Bedürfnissen eingeschränkt?

0 1 2 3 4 5 6
gar nicht beeinträchtigt sehr stark beeinträchtigt

5
Haben die Schmerzen heute Ihre Stimmung beeinträchtigt?

0 1 2 3 4 5 6
gar nicht beeinträchtigt sehr stark beeinträchtigt

6
Wie wohl haben Sie sich heute gefühlt?

0 1 2 3 4 5 6
sehr wohl gar nicht wohl

. Abb. 11.3 Schmerztagebuch

soll, können unterschiedlich viele Zeitfenster zur Doku- Regelfall wird nicht nur die Schmerzintensität dokumen-
mentation der Schmerzintensität gewählt werden, wobei tiert, sondern auch Art und Zeitpunkt eventueller thera-
eine der oben erwähnten 3 Skalen konstant über den ge- peutischer Interventionen sowie die Stimmung und die
samten Beobachtungszeitraum eingesetzt werden soll. Im Beeinträchtigung durch den Schmerz (. Abb. 11.3).
112 Kapitel 11 · Diagnostik der Schmerzintensität

. Abb. 11.4 Faces Pain Scale – revidiert. Instruktion des Patienten: »Diese Gesichter zeigen, wie weh etwas tun kann (wie sehr etwas
schmerzen kann). Dieses Gesicht hier (auf das Gesicht ganz links zeigen) zeigt, dass es gar nicht wehtut (schmerzt). Die anderen Gesichter
zeigen, dass es mehr und mehr wehtut (schmerzt) (auf die Gesichter der Reihe nach zeigen), bis hin zu diesem Gesicht, das zeigt, dass es ganz
stark wehtut (schmerzt). Zeig mir mal das Gesicht, das am besten zeigt, wie sehr es dir (gerade) wehtut (wie stark deine Schmerzen [gerade]
sind).« (Aus Hicks et al. [6] mit freundl. Genehmigung)

Tipp > In älteren Gesichterskalen werden an den End-


punkten der Skala jeweils ein lächelndes Gesicht
Die Bereitschaft der Patienten zum regelmäßigen und ein weinendes Gesicht mit Tränen in den Augen
Führen der Tagebücher sollte durch motivations- dargestellt. Diese Form der Darstellung hat sich
fördernde Maßnahmen gestützt werden. nicht bewährt.

Ein Gesicht mit Tränen kann von jüngeren Kindern zwar


Hierzu gehört, dass dem Patienten der Sinn des Tagebuchs mit hoher Schmerzintensität verknüpft werden, ältere Kin-
erläutert wird und zudem betont wird, dass die für das der aber wollen mitunter trotz hoher Schmerzen nicht wei-
Ausfüllen benötigte Zeit 2 min nicht überschreiten sollte. nen und wählen deshalb fälschlicherweise ein Bild aus, das
Außerdem soll der Patient regelmäßig Rückmeldung zu auf geringere Schmerzen hinweist. Ein lachendes Gesicht
seinen Aufzeichnungen erhalten, wobei deutlich werden hingegen wird auch von zu diesem Zeitpunkt schmerzfrei-
soll, dass die Aufzeichnungen für Diagnostik und Therapie en Kindern mitunter deswegen nicht gewählt, weil ihnen
11 auch tatsächlich verwendet werden. Im Regelfall soll ein trotz fehlender Schmerzen nicht zum Lachen zumute ist.
Tagebuch nicht länger als 2–3 Wochen ohne Pause geführt
werden, da bei längerer Zeitdauer die Sorgfalt beim Aus- Tipp
füllen nachlässt.
Um validere Ergebnisse zu erhalten, wird empfohlen,
die Kinder – falls möglich – bereits im schmerzfreien
Zustand mit der Ratingskala vertraut zu machen. An
11.4 Schmerzmessung in der Pädiatrie
hypothetischen Situationen soll geprobt werden, was
eine angemessene Einstufung ist (z. B.: »Was für ein
11.4.1 Ältere Kinder
Gesicht machst du, wenn du auf einen spitzen Nagel
trittst? – … wenn du dein Geburtstagspaket auf-
Goldstandard der Schmerzmessung ist bei Kindern ebenso
machst?«).
wie bei Erwachsenen die Selbstauskunft. Die meisten Kin-
der verfügen im Alter von 8 Jahren über einen Entwick-
lungsstand, der ihnen ein Verständnis der quantitativen
Bedeutung von Zahlen erlaubt. Aus diesem Grund werden
von diesem Alter an die gleichen Skalen wie bei Erwachse- 11.4.2 Kleinkinder
nen eingesetzt.
Für entwicklungsverzögerte oder jüngere Kinder ab 4 Für Kleinkinder unter 4 Jahren ist die Gesichterskala nicht
Jahren wird die Faces Pain Scale in ihrer revidierten Form valide. Hier muss die Selbstauskunft verlassen und auf Be-
empfohlen [6] (. Abb. 11.4). Hierbei sucht das Kind aus obachtung des Schmerzverhaltens zurückgegriffen wer-
einer Reihe von 6 Gesichtern, die unterschiedliche den. Im englischsprachigen Raum wird häufig die
Schmerzzustände in aufsteigender Reihenfolge darstellen, Children’s Hospital Eastern Ontario Pain Scale (CHEOPS)
das Gesicht heraus, das dem eigenen Schmerzerleben am eingesetzt [12]. In Deutschland allerdings hat sich die
ehesten entspricht. Zur Überführung in eine Metrik wer- Kindliche Unbehagens- und Schmerzskala (KUSS) durch-
den vom ersten Bild mit dem Wert 0 in Zweierschritten bis gesetzt, um den Schmerz bei Säuglingen und Kleinkindern
zum letzten Bild mit dem Wert 10 Zahlen zugeordnet. Eine zu beurteilen [2] (. Tab. 11.2).
schmerztherapeutische Intervention sollte spätestens ab 5 Parameter (Weinen, Gesichtsausdruck, Rumpfhal-
Messwert 4 erfolgen. tung, Beinhaltung und motorische Unruhe) werden 15 sec
11.5 · Schmerzmessung in der Geriatrie
113 11
Die physiologischen Parameter weisen keine Schmerzspe-
. Tab. 11.2 Kindliche Unbehagens- und Schmerzskala
(KUSS). (Aus [2] mit freundl. Genehmigung)
zifität auf, sodass durch sie lediglich Stressreaktionen be-
urteilt werden, die auf Schmerz hinweisen können; daher
Beobachtung Bewertung sollten sie durch Verhaltensparameter ergänzt werden. Im
deutschsprachigen Raum findet der Berner Schmerzscore
Weinen – Gar nicht 0
für Neugeborene zunehmend auch im Alltag Verwendung
– Stöhnen, Jammern, Wimmern 1
– Schreien 2 (. Abb. 11.5). Er umfasst die Parameter Schlaf, Weinen,
Beruhigung, Hautfarbe, Gesichtsmimik (. Abb. 11.6),
Gesichtsausdruck – Entspannt, lächelt 0
– Mund verzerrt 1
Körperausdruck und Atmung, die jeweils auf einer 4-stu-
– Mund und Augen grimassieren 2 figen Ratingskala von 0 bis 3 beurteilt werden sollen. Ab
Rumpfhaltung – Neutral 0
einem Gesamtwert von 9 sollte eine Intervention erfolgen.
– Unstet 1 Zusätzlich können auch Herzfrequenz und O2-Sättigung
– Aufbäumen, Krümmen 2 berücksichtigt werden [5]. Die bisherige Evaluation zeigt
Beinhaltung – Neutral 0 eine gute Inter- und Intra-Rater-Reliabilität sowie Konst-
– Strampelnd, tretend 1 ruktvalidität. Die Kriteriumsvalidität konnte durch den
– An den Körper gezogen 2 Vergleich mit Messinstrumenten ähnlichen Inhalts belegt
Motorische – Nicht vorhanden 0 werden.
Unruhe – Mäßig 1
– Ruhelos 2
Summe
11.5 Schmerzmessung in der Geriatrie
Instruktion der Patienteneltern: »Beobachten Sie das Kind
über insgesamt 15 sec. Bewerten Sie nur das, was Sie inner- 11.5.1 »Underreporting of pain«
halb dieses Zeitraums beobachtet haben.«
Experten gehen davon aus, dass Schmerz im Alter generell
unterdiagnostiziert ist und deshalb auch zu wenig behan-
lang beobachtet und dann jeweils mit 0–2 Punkten bewer- delt wird. Seit vielen Jahren bereits wird darauf hingewie-
tet, sodass für maximalen Schmerz wiederum ein Punkt- sen, dass viele ältere Menschen Schmerz für ein normales
wert von 10 erzielt werden kann. Eine therapeutische In- Phänomen des Alters halten und daher weniger spontan
tervention wird bei Werten >2 empfohlen. als jüngere darüber berichten (»underreporting of pain«).
Diese Auffassung wird auch von vielen Ärzten geteilt, die
sich daher nicht spontan nach dem Schmerz der Patienten
11.4.3 Neugeborene erkundigen.
Das Phänomen ist sowohl aus ärztlichen Praxen als
In der Neonatologie sind vorwiegend für die Forschung auch aus Alten- und Pflegeheimen bekannt. Befragungen
Skalen entwickelt worden, die physiologische Parameter der Bewohner ergeben durchweg eine höhere Prävalenz
berücksichtigen, z. B. die CRIES-Skala [8], ein Akronym von Schmerzen als Befragungen von Pflegepersonen oder
für Parameter, die Schmerzerleben vermuten lassen (C – Ärzten zu den Schmerzen der Bewohner. Die in einem
»crying, R – »requires increased oxygen administration«, I Altenheim erhobene Schmerzdiagnose ist stark von der
– »increased vital signs«, E – »expression«, S – »sleepless- Methode der Befragung abhängig.
ness«). In neueren Studien kommt die Neonatal Pain, > Verlässt sich der Untersuchende auf den spontanen
Agitation and Sedation Scale (N-PASS) zum Einsatz [7], Bericht der Bewohner, werden deutlich seltener
ebenfalls eine Kombination aus Beobachtungen des Ver- Schmerzdiagnosen gestellt, als wenn gefragt wird
haltens und physiologischer Parameter (Schreien/Irritabi- »Leiden Sie an Schmerzen?«. Noch häufiger sind
lität, Verhaltenszustand, Mimik, Extremitätentonus, Vital- Schmerzdiagnosen bei Einsatz einer standardi-
zeichen: HF, RR, BP, SaO2). sierten Messskala.

> In einer AWMF-Leitlinie wird darauf hingewiesen, Das Problem der Unterdiagnostizierung von Schmerz ver-
dass die physiologischen Parameter durch Müdig- stärkt sich mit zunehmender kognitiver Beeinträchtigung
keit, Erschöpfung oder sedierende Medikamente, und Demenz. Epidemiologische Studien in Europa zeigen
aber auch durch die Unreife bei Frühgeborenen in Prävalenzzahlen für Demenz, die sich mit zunehmendem
ihrer Intensität herabgesetzt sein können und Alter alle 5 Jahre nahezu verdoppeln. Bei den 60- bis
dadurch auch die Funktionalität der eingesetzten 64-Jährigen ist nur 1 % von Demenz betroffen, während
Skalen einschränken [10]. diese Krankheit bei nahezu einem Drittel aller Menschen
114 Kapitel 11 · Diagnostik der Schmerzintensität

Name:

Datum
Berner Schmerzscore für Neugeborene Zeit

Parameter 0 1 2 3
Schlaf Ruhiger Schlaf Oberflächlicher Erwacht kann nicht einschlafen
oder Phase Schlaf mit spontan
physiologischer Augenblinzeln
Wachheit
Weinen Kein Weinen Kurze Vermehrtes Vermehrtes und
Weinphase Weinen schrilles Weinen
(weniger als 2 Min.) (mehr als 2 Min.) (mehr als 2 Min.)
Beruhigung Keine Beruhigung Weniger als Mehr als Mehr als
notwendig 1 Min. zur 1 Min. zur 2 Min. zur
Beruhigung Beruhigung Beruhigung

Hautfarbe Rosig Gerötet Leicht blass Blass marmoriert,


evtl. marmoriert zyanotisch

Gesichtsmimik Gesicht entspannt Vorübergehendes Vermehrtes Dauerhaftes Verkneifen


Verkneifen Verkneifen des des Gesichtes und
des Gesichts Gesichts und Zittern des Kinns
Zittern des Kinns
Körper- Körper entspannt Vorwiegend Häufige Permanente
ausdruck entspannt, Verkrampfung, Verkrampfung
kurze aber auch
Verkrampfung Entspannung
möglich
Atmung Normal und ruhig Oberflächlich, Oberflächlich, Oberflächlich und
(Ausgangswert) Zunahme der Zunahme der unregelmäßig, deutliche
11 Frequenz um Frequenz um Zunahme der Frequenz
10 bis 14 inner- 15 bis 19 inner- um gleich oder mehr
halb von 2 Min. halb von 2 Min. als 20 innerhalb
und/oder Vermehrte von 2 Min. und/oder
thorakale thorakale starke thorakale
Einziehungen Einziehungen Einziehungen

Kein Schmerz: 0–8 Punkte


Schmerz: ≥ 9 Punkte total subjektive Indikatoren

Herzfrequenz Normal Zunahme von Zunahme von Zunahme von 30 bpm


(Ausgangswert) 20 bpm oder 20 bpm oder oder mehr vom
mehr vom mehr vom Ausgangswert oder
Ausgangswert Ausgangswert vermehrt Bradykardien
mit Rückgang mit Rückgang innerhalb von 2 Min.
zum Ausgangs- zum Ausgangs-
wert innerhalb wert innerhalb
von 2 Min. von 2 Min.
Sauerstoff- Senkung von 0% Senkung von Senkung von Senkung von
sättigung bis 1,9% 2% bis 2,9% 3% bis 4,9% 5% und mehr

Kein Schmerz: 0–10 Punkte


Schmerz: ≥ 11 Punkte totale Gesamtskala

Punktetotal für subjektive Indikatoren: 21; Punkte total für Gesamtskala: 27

. Abb. 11.5 Berner Schmerzscore für Neugeborene (BSN). (Mit freundl. Genehmigung von Dr. Eva Cignacco)

im Alter von 90 Jahren diagnostiziert werden kann. Aus von der Art der Analgetika (Opioide, Nichtopioide) und
Pflegeheimen wird berichtet, dass Schmerzdiagnosen bei der untersuchten Population (Heimbewohner, in Familien
Demenzpatienten nur halb so häufig oder noch seltener Lebende, Akutpatienten).
gestellt werden als bei kognitiv unbeeinträchtigten Perso- Die zunächst angenommene Erklärung, dass die neu-
nen. Zudem ist auch die Verordnung von Analgetika bei rodegenerative Erkrankung zu einer Abschwächung des
Demenzpatienten deutlich seltener. Dies gilt unabhängig Schmerzerlebens führe, konnte durch neuere laborexperi-
11.5 · Schmerzmessung in der Geriatrie
115 11

Tipp

In der Geriatrie sollte in jedem Fall versucht werden,


einen verbalen Selbstbericht zum Schmerzerleben
zu erhalten und dazu die Skalen trotz der zuvor be-
schriebenen methodischen Nachteile auf wenige
Kategorien zu begrenzen (z. B. kein Schmerz, leichter
Schmerz, mäßiger Schmerz, starker Schmerz), ehe auf
Fremdberichte und Beobachtungsverfahren zurück-
gegriffen wird.

Wenn bei einem Patienten die Entscheidung für die


. Abb. 11.6 Mimik eines Neugeborenen mit »verkniffenem« Ge- Nutzung einer bestimmten Skala gefallen ist, so sollte diese
sicht, das auf Schmerzerleben hindeutet. (Mit freundl. Genehmigung
Skala auch bei zukünftigen Messungen beibehalten
von Prof. Dr. Erich Kasten)
werden, um den Verlauf abbilden zu können.
Das Problem von Fremdratings durch Pflegepersonen
sowie von Beobachtungen des Schmerzverhaltens besteht
mentelle Befunde [9] nicht bestätigt werden. Die spezifi- in der geringen Übereinstimmung des beobachteten Aus-
sche Mimik, mit der Schmerz ausgedrückt wird, bleibt bei drucksverhaltens mit dem subjektiv erlebten Schmerz. So
den Patienten erhalten und weist eindeutig auf ein ist der übereinstimmende Varianzanteil beider Messver-
Schmerzerleben hin. Entgegen der Erwartung zeigte sich fahren bei verbal kommunikationsfähigen Personen mit
sogar, dass Demenzpatienten im Vergleich zu kognitiv ge- kognitiver Beeinträchtigung nur gering, wobei Fremdver-
sunden Personen in Schmerzsituationen mimisch stärker fahren im Vergleich zu Selbstratings den erlebten Schmerz
reagierten. Zudem konnte eine signifikant stärkere unterschätzen.
schmerzkorrelierte Aktivierung von Hirnarealen, die zur
bekannten Schmerzmatrix gehören (Gyrus cinguli, SI, SII,
Insula), beobachtet werden. Bei Demenzpatienten könn- 11.5.3 Beobachtungsskalen
ten nozizeptive Prozesse sogar verstärkt auftreten.
> Wahrscheinlich leiden Personen mit Demenz unter
Ist die Demenz so weit fortgeschritten, dass auch die ver-
dem Schmerz stärker als kognitiv Gesunde,
bale Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt ist, ist der
ohne dieses – aufgrund ihrer Erkrankung – verbal
Diagnostiker auf die Beobachtung des Schmerzverhaltens
kommunizieren zu können.
angewiesen. Zu diesem Zweck sind verschiedene Beobach-
tungsskalen entwickelt worden, die sich u. a. in der Frage
unterscheiden, ob der Beobachter mit dem Patienten ver-
traut sein muss, weil auch Verhaltensänderungen über die
11.5.2 Subjektive Ratingskalen Zeit erfasst werden, oder ob er den Schmerz unabhängig
vom vorherigen Umgang mit dem Patienten beurteilen
Auch im Alter bleibt der verbale Selbstreport mithilfe stan- kann.
dardisierter Messskalen der Goldstandard der Schmerz- > Konsens besteht darüber, dass die folgenden Be-
messung. obachtungskategorien einbezogen werden sollten:
Tipp
5 Gesichtsausdruck (z. B. Grimassieren,
Stirnrunzeln),
Werden visuelle Analogskalen oder numerische 5 Verbalisation (z. B. Stöhnen, Schreien,
Ratingskalen bei der Schmerzmessung eingesetzt, Schimpfen),
so sollte auf die Darbietung in großen Schriftzügen 5 Körpersprache (z. B. Schonbewegung, Abwehr,
bei guter Beleuchtung geachtet werden. Schaukeln),
5 Atmung (z. B. Keuchen, Pressen) sowie
5 Veränderungen des Verhaltens (z. B. Wechsel des
Mit zunehmender kognitiver Beeinträchtigung erweisen Appetits, Veränderung des Schlafs, Reizbarkeit,
sich allerdings verbale Ratingskalen bzw. Bilder von Zurückgezogenheit) bei Verfahren, die auch
Gesichtern (Faces Pain Scale – Revised) als besser geeignet. Veränderungen des Verhaltens einbeziehen.
116 Kapitel 11 · Diagnostik der Schmerzintensität

BESD-Skala genannt (Beurteilung von Schmerzen bei


Demenz [1, 17]) (. Abb. 11.8). Es handelt sich dabei um
die deutsche Übersetzung der PAINAD-Scale mit den Be-
obachtungskategorien Atmung, negative Lautäußerungen,
Gesichtsausdruck, Körpersprache und Reaktion auf
Tröstung. Für jede Kategorie sind maximal 2 Punktwerte zu
vergeben, sodass ein Gesamtwert von 10 erreicht werden
kann. Die Beobachtung ist zuverlässiger in Situationen, in
denen die Beobachteten mobilisiert werden, als in Ruhe-
situationen. Ein Wert von 4 oder darüber in einer Mobili-
tätssituation wird als behandlungsbedürftig angesehen.
Bisherige Untersuchungen belegen die Reliabilität der
Skala (gute interne Konsistenz, Inter-Rater- und Wieder-
holungsreliabilität). Als Validitätshinweis gilt die Tatsache,
dass sich die BESD-Werte unter analgetischer Medikation
verringern.
Genuine Für die BESD gelten allerdings die bereits bei der Ver-
haltensbeobachtung von Kindern erwähnten Einschrän-
. Abb. 11.7 Schmerzmimik. (Aus Craig et al. [3]; mit freundl.
Genehmigung)
kungen.
> Von der spezifischen Schmerzmimik abgesehen
müssen alle anderen Beobachtungskategorien in
Eine große Schwierigkeit besteht darin, dass diese Katego- Bezug auf die Schmerzerfassung eher als unspezi-
rien, bis auf die spezifische Schmerzmimik (. Abb. 11.7), fisch angesehen werden.
eher als unspezifisch bezeichnet werden müssen und auch
auf andere Probleme wie Depression, Langeweile, Agitiert- Dennoch ist der Einsatz der BESD-Skala bei verbal nicht
11 heit oder Über- bzw. Unterstimulation hinweisen können. kommunikationsfähigen Personen zu empfehlen. Die auf
Das Verhalten kann zwar zuverlässig beobachtet werden diese Weise erhaltene Information über den Schmerz ist
(gute Reliabilität der Instrumente), aber es bleibt häufig valider als jene Information, die durch Behandler oder
unklar, ob dabei tatsächlich Schmerz gemessen wird durch Angehörige gegeben werden kann.
(Validität der Instrumente). Dennoch wird in allen publi-
zierten Leitlinien empfohlen, Beobachtungsskalen ein-
zusetzen, um die Versorgungssituation Demenzkranker zu 11.6 Schmerzmessung im Krankenhaus
verbessern.
11.6.1 Der Expertenstandard
Erfassung von Verhaltensänderung
Als Beispiel für eine Beobachtungsskala, in der auf Verän- Nach den Empfehlungen der AWMF-S3-Leitlinie »Be-
derungen des Verhaltens eingegangen wird, sei die Kurz- handlung akuter perioperativer und posttraumatischer
form der DOLOPLUS-2-Skala erwähnt [14]. Sie besteht aus Schmerzen« soll die Schmerzintensität perioperativ mit-
3 Dimensionen, die das aktuelle Schmerzverhalten be- hilfe eindimensionaler Skalen regelmäßig sowohl in Ruhe
schreiben (Klagen über somatische Beschwerden, abweh- als auch bei Aktivitäten, wie z. B. beim Aufstehen, tiefen
rende und schützende Körperhaltungen in Ruhe sowie Einatmen oder Husten, gemessen und dokumentiert
Schutz- und Schonverhalten in Bezug auf bestimmte Kör- werden [16] . Dadurch können sowohl der Erfolg der
perteile), sowie aus 2 Dimensionen, die auf Verhaltensän- Schmerztherapie und der Prozess der Genesung überprüft
derungen hinweisen (veränderte Kommunikationsweisen als auch mögliche Komplikationen des Verlaufs frühzeitig
und veränderte Teilnahme am sozialen Leben). Die Korre- entdeckt werden.
lation mit dem Rating auf der visuellen Analogskala bei > Eine adäquate perioperative Schmerztherapie
kommunikationsfähigen Patienten beträgt nur 0,48 (ent- reduziert das Risiko der Schmerzchronifizierung
spricht 23 % gemeinsamer Varianz), wobei der Zusammen- und verbessert das postoperative Outcome.
hang beider Skalen mit zunehmender Demenz abnimmt. Ein möglicher Grund dafür ist, dass eine Kontrolle
des Schmerzes dem Patienten eine frühzeitige
1-Punkt-Messung
Aktivierung erlaubt.
Als Beispiel für Skalen, die eine Schmerzmessung ohne
vorherige Kenntnis des Patienten ermöglichen, sei die
11.6 · Schmerzmessung im Krankenhaus
117 11

BESD
Beurteilung von Schmerzen bei Demenz

Beobachten Sie den Patienten/die Patientin zunächst zwei Minuten lang. Dann kreuzen Sie
die beobachteten Verhaltensweisen an. Im Zweifelsfall entscheiden Sie sich für das
vermeintlich beobachtete Verhalten. Setzen Sie die Kreuze in die vorgesehen Kästchen.
Mehrere positive Antworten (außer bei Trost) sind möglich. Addieren Sie nur den jeweils
höchsten Punktwert (maximal 2) der fünf Kategorien.

Name des/der Beobachteten:

Ruhe
Mobilisation und zwar durch folgende Tätigkeit:

Beobachter/in:

Punkt-
nein ja wert
1. Atmung (unabhängig von Lautäußerung)
• normal 0

• gelegentlich angestrengt atmen


1
• kurze Phasen von Hyperventilation
(schnelle und tiefe Atemzüge)
• lautstark angestrengt atmen
• lange Phasen von Hyperventilation 2
(schnelle und tiefe Atemzüge)
• Cheyne Stoke Atmung (tiefer werdende und
wieder abflachende Atemzüge mit Atempausen)

2. Negative Lautäußerung
• keine 0
• gelegentlich stöhnen oder ächzen
1
• sich leise negativ oder missbilligend äußern

• wiederholt beunruhigt rufen

• laut stöhnen oder ächzen 2

• weinen
Zwischensumme 1

Pain Assessment in Advanced Dementia (PAINAD) Scale Warden, Hurley, Volcer et al. 2003
© 2007 der deutschen Version Matthias Schuler, Diakonie-Krankenhaus, Mannheim, Tel: 0621 8102 3601,
Fax: 0621 8102 3810, email: M.Schuler@dako-ma.de
Nichtkommerzielle Nutzung gestattet. Jegliche Form der kommerziellen Nutzung, etwa durch Nachdruck,
Verkauf oder elekronische Publikation bedarf der vorherigen schriftlichen Genehmigung, ebenso die
Verbreitung durch elektronische Medien.
Fassung Dezember 2008 1

. Abb. 11.8 Beurteilung von Schmerzen bei Demenz (BESD). (Mit freundl. Genehmigung von PD Dr. Matthias Schuler)

Für den perioperativen Einsatz wird von Experten nach finden, wenn auf der NRS ein Wert von 3 oder 4 gemessen
Abwägung der Vor- und Nachteile der einzelnen Skalen die wurde. Aufgabe der Pflegefachkraft soll es zudem sein,
NRS zur Schmerzmessung empfohlen. Nach dem Exper- spätestens bei einer Schmerzintensität von mehr als 3 auf
tenstandard Schmerzmanagement in der Pflege soll die der NRS eine zuvor festgelegte Verfahrensregelung anzu-
Schmerzmessung und Dokumentation durch eine Pflege- wenden oder eine ärztliche Anordnung zur Einleitung
kraft zu Beginn des pflegerischen Auftrags sowie in indivi- oder Anpassung der Schmerzbehandlung einzuholen und
duell festzulegenden Zeitabständen durchgeführt werden diese nach Plan umzusetzen.
[4]. Eine schmerztherapeutische Intervention sollte statt-
118 Kapitel 11 · Diagnostik der Schmerzintensität

Name des/der Beobachteten:


Punkt-
3. Gesichtsausdruck nein ja wert
• lächelnd oder nichts sagend 0
• trauriger Gesichtsausdruck
• ängstlicher Gesichtsausdruck 1
• sorgenvoller Blick
• grimassieren 2
4. Körpersprache
• entspannt 0
• angespannte Körperhaltung
1
• nervös hin und her gehen
• nesteln
• Körperspache starr
• geballte Fäuste
• angezogene Knie 2
• sich entziehen oder wegstoßen
• schlagen
5. Trost
• trösten nicht notwendig 0
• Ist bei oben genanntem Verhalten ablenken oder beruhigen
1
11 •
durch Stimme oder Berührung möglich?
Ist bei oben genanntem Verhalten trösten, 2
ablenken, beruhigen nicht möglich?
Zwischensumme 2
Zwischensumme 1
Gesamtsumme von maximal 10 möglichen Punkten __ /10

Andere Auffälligkeiten:

Pain Assessment in Advanced Dementia (PAINAD) Scale Warden, Hurley, Volcer et al. 2003
© 2007 der deutschen Version Matthias Schuler, Diakonie-Krankenhaus, Mannheim, Tel: 0621 8102 3601,
Fax: 0621 8102 3810, email: M.Schuler@dako-ma.de
Nichtkommerzielle Nutzung gestattet. Jegliche Form der kommerziellen Nutzung, etwa durch Nachdruck,
Verkauf oder elekronische Publikation bedarf der vorherigen schriftlichen Genehmigung, ebenso die
Verbreitung durch elektronische Medien.
Fassung Dezember 2008
2

. Abb. 11.8 (Fortsetzung)

11.6.2 Intensivpatienten > Bei einer Sedierung, bei endotrachealer Intubation


oder maschineller Beatmung sind Patienten wegen
Intensivpatienten haben wegen ihrer Erkrankung oder der dadurch eingeschränkten Kommunikations-
wegen invasiver Eingriffe ein erhöhtes Risiko, unter fähigkeit besonders gefährdet, mit ihren Schmerzen
Schmerzen zu leiden. Diese können durch therapeutische unerkannt zu bleiben.
Maßnahmen wie Katheter, Drainagen, maschineller Be-
atmung sowie Physiotherapie, Mobilisation und Verbands- Unerkannte Schmerzen belasten die Atmung und das
wechsel verstärkt werden. Herz-Kreislauf-System und verlangsamen den Genesungs-
Literatur
119 11
Eingriffe geringere Werte zeigen als während schmerz-
. Tab. 11.3 Behavioral Pain Scale (BPS). (Mod. nach [15], dt.
Übers. aus [10]; mit freundl. Genehmigung)
armer Eingriffe.

Tipp
Item Beschreibung Punkte

Gesichtsaus- – Entspannt 1 Da stark sedierte Patienten geringere Werte auf-


druck – Teilweise angespannt 2 weisen als nicht sedierte, muss bei der Interpretation
– Stark angespannt 3 der Schmerzwerte die Sedierungstiefe berücksichtigt
– Grimmassieren 4
werden.
Obere – Keine Bewegung 1
Extremität – Teilweise Bewegung 2
– Anziehen mit Bewegung der 3 Ziel der Analgosedierung ist es, die Patienten so früh wie
Finger 4 möglich wieder in die Lage zu versetzen, ihre körpereige-
– Ständiges Anziehen nen Funktionen wahrzunehmen, ihnen frühzeitig eine
Adaptation – Tolerierung 1 aktive Mitarbeit in der Therapie zu ermöglichen und da-
an – Seltenes Husten 2 durch die Therapieerfolge zu verbessern.
Beatmungs- – Kämpfen mit dem Beatmungs- 3
gerät gerät 4
– Kontrollierte Beatmung nicht Literatur
möglich
1. Basler HD, Hüger D, Kunz R, Luckmann J, Lukas A, Nikolaus T,
Schuler MS (2006) Beurteilung von Schmerz bei Demenz (BESD)
– Untersuchung zur Validität eines Verfahrens zur Beobachtung
prozess. In den S2-Leitlinien der DGAI wird daher ge- des Schmerzverhaltens. Schmerz 20:519–526
fordert, die individuelle Erfassung der Schmerzsituation, 2. Büttner W, Finke W, Hilleke M, Reckert S, Vsianskal L, Brambrink A
(1998) Entwicklung eines Fremdbeobachtungsbogens zur
die Festlegung des sich daraus ergebenden Analgesieziels Beurteilung des postoperativen Schmerzes bei Säuglingen. AINS
sowie die Überprüfung des Therapieeffekts müssten 33:353–361
Standard auf allen Intensivstationen sein [11]. 3. Craig KD, Prkachin KM, Grunau RVE (2001) The facial expression of
Bei verbal kommunikationsfähigen Patienten sollen pain. In: Turk DC, Melzack R (Hrsg) Handbook of pain assessment,
die zuvor beschriebenen subjektiven Schmerzskalen einge- 2. Aufl. Guilford, New York, S 262
4. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
setzt werden, bei Patienten, die dazu nicht in der Lage sind,
(DNQP) (Hrsg) Expertenstandard Schmerzmanagement in der
müssen Verhaltensweisen wie Mimik und Bewegung und Pflege bei akuten Schmerzen, 1. Aktualisierung 2001. http://
physiologische Parameter wie Herz- und Atemfrequenz, www.wiso.hs-osnabrueck.de/fileadmin/users/774/upload/Ex-
Blutdruck, Tränenfluss, Schweißsekretion sowie ihre Ver- pertenstandardSchmerzmanagement_Akt.pdf. Zugegriffen: 20.
änderungen unter analgetischer Therapie zur Beurteilung Juni 2013
5. Gessler P, Cignacco E (2004) Vorgehensweisen zur Schmerz-
herangezogen werden. Anekdotische Berichte belegen,
erfassung bei Neugeborenen sowie Vergleich des Berner
dass bei verbal nicht kommunikationsfähigen Patienten Schmerzscores für Neugeborene (BSN) mit dem Premature Infant
der Einsatz der BESD-Skala auch in der Intensivpflege von Pain Profile (PIPP). Klin Pädiatr 216:16–20
Nutzen sein kann. 6. Hicks CL, von Baeyer CL, Spafford PA, van Korlaar I, Goodenough
B (2001) The Faces Pain Scale – Revised: toward a common metric
in pediatric pain measurement. Pain 93:173–183
7. Hummel P, Puchalski M, Creech SD, Weiss MG (2008) Clinical
11.6.3 Beatmete Patienten reliability and validity of the N-PASS: neonatal pain, agitation and
sedation scale with prolonged pain. J Perinatol 28:55–60
Bei beatmeten Patienten hat die Behavioral Pain Scale 8. Krechel SW, Bildner J (1995) CRIES: a new neonatal postoperative
(BPS) in Deutschland die höchste Akzeptanz gefunden pain measurement score. Initial testing of validity and reliability.
(. Tab. 11.3). Sie besteht aus 3 verhaltensbezogenen Para- Paed Anaesth 5:53–61
9. Lautenbacher S, Kunz M, Mylius V (2007) Mehrdimensionale
metern, dem Gesichtsausdruck, der Bewegung der oberen
Schmerzmessung bei Demenzpatienten. Schmerz 21:529–538
Extremitäten und der Adaptation an das Beatmungsgerät 10. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und
[15]. Diese Parameter werden auf einer Skala von 1 bis 4 Intensivmedizin (DGAI) und der Deutschen Interdisziplinären
bewertet, wobei höhere Werte auf einen höheren Aus- Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) (2010)
prägungsgrad des Schmerzverhaltens hinweisen. Die S3-Leitlinie: Analgesie, Sedierung und Delirmanagement in der
Intensivmedizin – Langfassung. AWMF-Leitlinien-Register Nr.
Testgüte der Skala ist als befriedigend zu bezeichnen. So-
001/012. http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/001-012l.
wohl interne Konsistenz als auch Inter-Rater-Reliabilität pdf. Zugegriffen: 26. April 2013
weisen gute Werte aus. Die Validität wird dadurch 11. Martin J, Bäsell H, Bürkle H, Hommel J, Huth G, Kessler FJ, Kretz FJ,
demonstriert, dass Patienten während schmerzhafter Putensen Ch, Quintel M, Tonner P, Tryba M, Scholz J, Schüttler J,
120 Kapitel 11 · Diagnostik der Schmerzintensität

Wappler F, Spies C (2005) Analgesie und Sedierung in der Inten-


sivmedizin – Kurzversion. S2-Leitlinien der Deutschen Ge-
sellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin. Anästh Inten-
sivmed 46(Suppl. 1):S1–20
12. McGrath PJ, Johnston G, Goodman JT, Schillinger J, Dunn J,
Chapman J (1985) CHEOPS: a behavioral scale for rating post-
operative pain in children. In: Fields HL (Hrsg) Advances in Pain
Research and Therapy. Raven Press, New York, S 395–402
13. Meissner W, Mescha S, Rothaug J, Zwacka S, Goettermann A,
Ulrich K, Schleppers A (2008) Quality improvement in postopera-
tive pain management. Dtsch Arztebl Int 105:865–670
14. Pautex S, Herrmann FR, Michon A, Giannakopoulos P, Gold G
(2007) Psychometric properties of the Doloplus-2 observational
pain assessment scale and comparison to self-assessment in
hospitalised elderly. Clin J Pain 23:774–779
15. Payen JF, Bru O, Bosson JL, Lagrasta A, Novel E, Deschaux I,
Lavagne P, Jacquot C (2001) Assessing pain in critically ill sedated
patients by using a behavioral pain scale. Crit Care Med 29:
2258–2263
16. Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Schmerztherapie
(2009) S3-Leitlinie. Behandlung akuter perioperativer und post-
traumatischer Schmerzen (AWMF-Register Nr. 041/001).
http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/041-001_S3_Be-
handlung_akuter_perioperativer_und_posttraumatischer_
Schmerzen_aktualisierte_Fassung_04-2009_05-2011.pdf.
Zugegriffen: 26. April 2013
17. Schuler M, Becker S, Kaspar R, Nikolaus Th, Kruse A, Basler HD
(2007) Psychometric Properties of the German »Pain Assessment
in Advanced Dementia Scale« (PAINAD-G) in Nursing Home
11 Residents. J Am Med Dir Assoc 8:388–395
121 12

Untersuchungstechniken
K. Niemier, H.-R. Casser, R. Baron, J. Raethjen

12.1 Orthopädie/funktionelle Untersuchung – 122


12.1.1 Neuroorthopädische funktionelle Untersuchung – 122

12.2 Apparative Verfahren – 133


12.2.1 Bildgebung – 133
12.2.2 Laboruntersuchungen – 142
12.2.3 Interventionelle Schmerzdiagnostik – 142
12.2.4 Apparative Funktionsdiagnostik – 142

12.3 Klinisch-neurophysiologische Diagnostik


bei Rückenschmerzen – 143
12.3.1 Einleitung – 143
12.3.2 Ziele der klinisch-neurophysiologischen Untersuchung – 143
12.3.3 Indikationsstellung – 143
12.3.4 Untersuchungsmethoden – 143
12.3.5 Typische Befundkonstellationen bei radikulären Läsionen – 145
12.3.6 Pragmatischer Einsatz der klinischen Neurophysiologie – 146

Literatur – 146

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
122 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

Untersuchungstechniken bei Rücken- und Nackenschmer-


zen umfassen klinische neuroorthopädische Untersuchun- Wesentliche Aufgaben der Untersuchung
gen sowie apparative Verfahren inklusive der apparativen 5 Erhebung funktioneller Befunde des Bewegungs-
Funktionsdiagnostik, der Bildgebung, der Neurophysio- systems:
logie und Laboruntersuchungen. Die klinische Unter- – primäre (grundlegende) Funktionsstörungen
suchung erhebt funktionelle und strukturelle Befunde des – sekundäre (schmerzhafte) Funktionsstörungen
Bewegungssystems und des vegetativen Nervensystems, 5 Erhebung funktioneller Befunde des vegetativen
identifiziert »red flags« und Diskrepanzen zwischen Nervensystems
Befund und Schmerzerleben des Patienten. Sie ist Aus- 5 Erhebung struktureller Befunde des Bewegungs-
gangspunkt für weitere diagnostische Schritte und systems, z. B.:
Voraussetzung für die Therapie. Eine gute klinische Unter- – degenerative Veränderungen der Wirbelsäule
suchung fördert darüber hinaus die Arzt-Patienten- – Arthrosen
Beziehung. Die apparative Diagnostik dient vor allem der 5 Erhebung von »red flags«, z. B.:
Erhärtung klinischer Diagnosen und ist Grundlage für – entzündliche Veränderungen
eventuell notwendige interventionelle oder operative – neurologische Defizite
Therapien. Elektrophysiologische Untersuchungen sind bei 5 Erhebung von Diskrepanzen zwischen Befund und
klinisch-neurologischen Defiziten indiziert und umfassen Schmerzerleben und Einschränkung des Patienten
Nadelelektromyografie, Neurografie und evozierte Poten-
ziale. Ihr Einsatz sollte pragmatisch erfolgen. Die apparative
Funktionsdiagnostik erweitert die körperliche funktionelle Neben der Differenzierung ist die Wertung von funktio-
Untersuchung, unterstützt die Trainingsplanung und dient nellen und strukturellen Befunden für das individuelle
als Feedback für den Patienten. Schmerzsyndrom entscheidend. So können degenerative
Veränderungen der Facettengelenke oder Triggerpunkte
(TRP) eine Bedeutung für den aktuellen Schmerz haben
12.1 Orthopädie/funktionelle oder unwesentlich sein. Zur nachhaltigen Therapiepla-
Untersuchung nung empfiehlt sich auch die Unterscheidung in primäre
und sekundäre Befunde, wobei viele degenerative Störun-
12 K. Niemier, H.-R. Casser, R. Baron gen auf eine mangelnde Stabilisierung zurückzuführen
sind (. Abb. 12.1) [1, 2].
12.1.1 Neuroorthopädische funktionelle Bei ca. 695 Muskeln im Körper kann nicht jeder
Untersuchung Muskel, aber auch nicht jedes Gelenk zu jeder Gelegenheit
untersucht werden. Der Untersuchungsablauf ist von der
K. Niemier, H.-R. Casser Krankheitsphase (akut, rezidivierend, chronisch, chronifi-
zierungsgefährdet), der Lokalisation der Schmerzen (lokal,
Die körperliche Untersuchung ist neben der Anamnese Ausstrahlung, generalisiert) und der Begleitsymptomatik
entscheidend für die weitere apparative Diagnostik, (neurologische Symptome, vegetative Symptome) abhän-
Diagnosefindung und letztendlich Therapieplanung. gig. Bei einem akuten Rezidiv/einer akuten Exazerbation
Eine gute Untersuchung gibt Rückschlüsse auf strukturelle eines chronischen Schmerzsyndroms ist initial eine regio-
und funktionelle Befunde, Diskrepanzen zwischen Befund nale Untersuchung, nach Abklingen der akuten Schmerzen
und Schmerzerleben der Patienten sowie Hinweise auf eine Übersichtsuntersuchung mit befundabhängiger regi-
systemische Erkrankungen (. Tab. 12.1). Sie ist Grundlage onaler Untersuchung notwendig (. Tab. 12.2).
für die Durchführung bzw. Rezeptierung von funktionel-
len Therapien wie der manuellen Therapie, Physiothera- Untersuchung auf sekundäre (schmerzhafte)
pie, Trainingstherapie oder Eigenübungsprogrammen und Befunde
Instrument zur Einschätzung der Therapieeffektivität im jGelenke
Sinne einer Verlaufsdiagnostik. Des Weiteren unterstützt Funktionsstörungen, Arthrosen und entzündliche Verän-
die körperliche Untersuchung die Schaffung einer guten derungen an Knie-, Hüft- und Sakroiliakalgelenken (SIG)
Arzt-Patienten-Beziehung. sind oft an Rückenschmerzen beteiligt oder auch Ursachen
für einen Rückenschmerz. Das Schultergelenk und die
Verbindung der Skapula mit dem Thorax sind häufig in
zervikale und dorsale Schmerzsyndrome involviert.
Gelenke werden immer auf die Gelenkbeweglichkeit
nach der Neutral-Null-Methode untersucht. Die Gelenk-
12.1 · Orthopädie/funktionelle Untersuchung
123 12

. Tab. 12.1 Beispielhafter Ablauf einer neuroorthopädischen funktionellen Untersuchung: Befund – Rückschluss – weitere Diagnostik

Struktur Befund Rückschlüsse/Differenzialdiagnostik Mögliche weitere Diagnostik

Gelenk – Eingeschränkte – Funktionsstörung – Funktionelle Untersuchung


Beweglichkeit – – Gelenkig – Röntgen
– Druckschmerz – – Muskulär
– Arthrose

– Überwärmung – Entzündung: – Röntgen


– Rötung – – Lokal – MRT
– Schwellung/Erguss – – Systemisch – Bakteriologie
– Rheumaserologie
– Internistischer Befund

Wirbelsäule – Eingeschränkte – Funktionsstörungen: – Funktionelle Untersuchung


Beweglichkeit – – Gelenkig – Psychische Differenzialdiagnostik
– Schmerz: – – Muskulär – Röntgen
– – Bewegung – Dysfunktionale Kognitionen – Diagnostische Blockaden (z. B. Facetten-
– – Klopfschmerz – Degenerative Veränderungen gelenke)
– – Druckschmerz – Osteoporose – MRT
– Bandscheibenschäden – Labor und Rheumaserologie
– Entzündung: – Szintigrafie
– – Lokal – DXA-Scan
– – Systemisch

Sakroiliakal- – Eingeschränkte – Funktionsstörungen: – Funktionelle Untersuchung


gelenke Beweglichkeit – – Gelenkig – Röntgen
– Schmerz: – – Muskulär – Diagnostische Blockaden (Sakroiliakal-
– – Bewegung – Degenerative Veränderungen gelenke [SIG])
– – Druckschmerz – Entzündung – MRT mit Kontrastmittel (KM)
– Rheumaserologie
– Internistischer Befund

Allgemein – Schmerzüberemp- – Neuropathische Schmerzkomponente – Neurografische Diagnostik


findlichkeit: – Schmerzregulationsstörung – Quantitative sensorische Testung (QST)
– – Lokal – Psychische Grunderkrankung – Vegetative Diagnostik
– – Generalisiert – Psychische Differenzialdiagnostik
– Soziodiagnostik

Sekundäre (schmerzhafte) • Primäre (grundlegende)


Funktionsstörungen Funktionsstörungen
• Gelenke – Koordination
– Hypomobilität (Blockierung) – Tiefenstabilisation
– Hypermobilität – Hypermobilität
• Wirbelsäule – Konditionierung
– Segmentale Dysfunktion – Vegetative Regulation
– Segmentale Hypermobilität • Grundlegende psychische
• Muskulatur Befunde
– Verspannung – Dysfunktionales
– Verkürzung Schmerzverhalten
– (Kontraktur) – Psychopathologien
– Muskelmuster – Soziale Einflüsse
– TRP – …………
– Abschwächung • Grundlegende strukturelle
• Bindegewebe Befunde
– Subkutan – Arthrosen
– Faszien – Bandscheibenschäden
– Bänder/Sehnen – …………

. Abb. 12.1 Primäre und sekundäre Befunde bei chronischen Schmerzsyndromen


124 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

. Tab. 12.2 Klinische Untersuchung in Abhängigkeit von Chronifizierung und Schmerzausbreitung

Krankheitsphase Lokalisation Untersuchung

Akut Lokal – Regionale neuroorthopädische Untersuchung


– Neurologische Untersuchung

Generalisiert – Neuroorthopädische Übersichtsuntersuchung


– Neurologische Untersuchung
– Internistische Untersuchung

Chronifizierungsgefährdet, Lokal – Neuroorthopädische Übersichtsuntersuchung


rezidivierend, chronisch – Neurologische Untersuchung

Generalisiert – Neuroorthopädische Übersichtsuntersuchung


– Neurologische Untersuchung
– Internistische Untersuchung

. Tab. 12.3 Normwerte für Bewegungsausschläge von relevanten Gelenken (Neutral-Null-Methode), und ihre Kapselmuster.
(Mod. nach Sachse [16])

Gelenk Außen-/Innenrotation Extension-Flexion Abduktion-Adduktion Kapselmuster


(Hüfte und Knie 90° (Knie 90° gebeugt) (Hüfte 90° gebeugt)
gebeugt)

Schulter 110–80/0/90° Nur aktive Prüfung Abduktion 120–80° Abduktion>Außenrotation>Innenrotation

Hüfte 50–40/0/30–40° 15/0/120–140° 40–60/0/20–30° Innenrotation>Extension>Abduktion>-


Flexion>Außenrotation

Knie 30/0/20° 0–10/0/120–150° möglich Flexion>Extension


12
beweglichkeit wird vom Gelenk und den umliegenden
Geweben bestimmt. Gelenkstörungen zeigen ein immer
gleiches Muster der Bewegungseinschränkung (Kapsel-
muster, . Tab. 12.3). Ist ein Gelenk nicht im Kapselmuster
bewegungseingeschränkt, sollte der Blick auf die umlie-
genden Gewebe gerichtet werden. Neben der Bewegungs-
einschränkung sind das Palpationsgefühl am Ende der
Bewegung und eine eventuelle Schmerzprovokation von
Bedeutung. Ein hartes Bewegungsende ist als pathologisch
zu werten.
Eine weitere Methode, Gelenkstörungen zu diagnosti-
zieren, ist das Gelenkspiel. Hier werden nicht die Funk-
tions-, sondern die Gelenkgleitbewegungen (Gelenkspiel)
untersucht. Die Muskulatur ist nahezu aus der Unter- Neutralstellung Funktionsbewegung Gelenkspiel
suchung ausgeschaltet. Ein eingeschränktes Gelenkspiel
und ein hartes Palpationsgefühl am Bewegungsende sind . Abb. 12.2 Funktionsbewegung und Gelenkspiel. (Aus Niemier u.
Zeichen einer Gelenkblockierung (. Abb. 12.2). Seidel [1])
Hinweise für eine Arthrose sind deutliche Bewegungs-
einschränkungen im Kapselmuster, ein deutlich ein-
geschränktes Gelenkspiel und ein oft extrem hartes das Röntgen gestellt. Die Indikation zur operativen Thera-
Bewegungsende. Schnelle Rezidive nach funktioneller pie (z. B. Gelenkersatzoperation) ergibt sich aus der Sym-
Behandlung (Mobilisation, Manipulation) sprechen eher ptomatik, der funktionellen Einschränkung und deren
für arthrotische Veränderungen als für rein funktionelle Behandelbarkeit sowie dem Röntgenbild. In manchen
Störungen. Die endgültige Diagnose Arthrose wird durch Fällen gibt das Röntgenbild nicht den aktuellen morpholo-
12.1 · Orthopädie/funktionelle Untersuchung
125 12

. Tab. 12.4 Gelenkmuster von relevanten Gelenken

Gelenk Abgeschwächte Muskulatur Verspannte/verkürzte Muskulatur Typische Triggerpunkte

Hüfte – M. glutaeus medius – M. Iliopsoas Gesamte Hüftmuskulatur


– M. glutaeus minimus – M. tensor fascia lata
– M. piriformis
– M. rectus femoris
– M. biceps femoris
– Adduktoren
Knie – M. quadriceps vastus medialis – M. quadriceps vastus lateralis Gesamte Kniemuskulatur
– M. popliteus
– M. rectus femoris
– Ischiokrurale Muskulatur
Schulter – Rotatorenmanschette – M. trapezius Gesamte Schultermuskulatur
– Skapulafixatoren – Mm. pectorales majores u. minores
– M. levator scapulae
– Mm. scaleni
SIG – Beckenboden – M. piriformis Beckenmuskulatur
– M. transversus abdominis – M. tensor fascia lata

gischen Befund wieder. Dies ist z. B. bei einer initialen von Lasten vom Rumpf auf die untere Extremität. Funk-
Hüftkopfnekrose oder einem Knochenmarködem der Fall. tionsstörungen sind häufig sekundär zu Blockierungen des
Der klinische Befund ergibt ein schmerzhaftes Gelenk mit Fibulaköpfchens (inkl. TRP M. biceps femoris), Blockie-
ausgeprägten Funktionsstörungen, während das Röntgen- rungen im Segment L4/5 und zu TRP im Beckenboden
bild keine wesentlichen Veränderungen zeigt. In diesen und TRP im M. piriformis [3].
Fällen sollte eine Magnetresonanztomografie (MRT) des
Gelenks durchgeführt werden. jWirbelsäule (WBS)
Neben der Bewegungsstörung werden bei der Gelenk- Die Untersuchung der Wirbelsäule beinhaltet die Beur-
untersuchung Hinweise für Entzündung (Schwellung/ teilung der Gesamtstatik, der regionalen Beweglichkeit und
Erguss, Rötung, Überwärmung), Einschränkungen der der segmentalen Beweglichkeit. Wichtige Regionen sind
Stabilität (funktionell-muskulär, morphologisch, z. B. die sog. Schlüsselregionen, da diese häufig gestört sind und
Kreuzbandläsionen) und Schädigungen von periartikulä- aufgrund ihrer zentralen Lage die Gesamtstatik und Be-
ren (Sehnen, Bänder, Bursae) bzw. intraartikulären Gewe- wegungssteuerung beeinflussen können (. Tab. 12.5).
ben (z. B. Meniskusläsionen) gesucht. Bei Hinweisen auf Bei der Beweglichkeitsprüfung wird auf das Be-
entsprechende Pathologien ist in den meisten Fällen eine wegungsausmaß (. Tab. 12.6), das Palpationsgefühl am
Gelenksonografie ausreichend. Zur Diagnostik von Bewegungsende (hart=pathologisch), Schmerzprovoka-
Meniskusschäden oder Bänderläsionen ist ein MRT oder tionen und Ausweichbewegungen geachtet. Bei auffälligen
die Arthroskopie indiziert. Befunden ist eine segmentale Untersuchung indiziert.
Neben dem Kapselmuster zeigen funktionsgestörte Ausgeprägte Bewegungseinschränkungen können ein
und/oder degenerativ veränderte Gelenke ein typisches Hinweis auf Spondyloarthritiden, ausgeprägte degene-
Gelenkmuster. Dieses zeigt an, welche Muskeln bei rative WBS-Veränderungen oder diffuse interstitielle
Gelenkstörungen typischerweise mit Abschwächung bzw. Hyperosteose (DISH-Syndrom) sein (weitere Diagnostik:
mit Verspannung/Verkürzung reagieren (. Tab. 12.4). Bildgebung, ggf. Rheumaserologie).
> Die Palpation von Muskel-/Sehnenansätzen ist
ein wichtiger Bestandteil der Untersuchung zur Tipp
Differenzierung von Schmerzen.
Eine deutliche Diskrepanz zwischen (geringer) regio-
Eine Besonderheit ist das Sakroiliakalgelenk. Es hat keine naler Beweglichkeit und (normalen) segmentalen Ein-
eigene Muskulatur, wird durch das lokale stabilisierende schränkungen spricht z. B. für Bewegungsvermeidung
System muskulär gesichert (7 Abschn. 12.1.1, »Unter- bei dysfunktionalen Kognitionen oder ausgeprägten
suchung auf primäre Befunde und Störungen«) und über- muskulären Befunden.
nimmt eine Stoßdämpferfunktion bei der Übertragung
126 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

. Tab. 12.5 Schlüsselregionen

Region Besonderheit Folgen von Störungen

Orofaziales – Enge Verbindung zur oberen HWS – HWS-Störungen


System – Anfällig gegenüber Fehlokklusionen der Zähne – Gesichts-/Nackenschmerz
– Anfällig bei psychischem Stress (verbissen sein, Zähne – Kopfschmerzen
knirschen) – Schwindelsymptomatik
Kraniozervikaler – »Schwerer Schädel« trifft auf zarte Kopfgelenke – Nackenschmerz mit oder ohne Ausstrahlung in
Übergang – Hohe Beweglichkeit der Kopfgelenke die obere Extremität
– Kopfschmerzen
– Schwindel
Zervikothorakaler – Gut bewegliche HWS trifft auf die gering bewegliche BWS – Nacken-/Schulterschmerz mit oder ohne
Übergang – Anfällig bei psychischem Stress (eingezogener Kopf, Ausstrahlung in die obere Extremität
Schultern hochgezogen) – Engpasssyndrome
– Kopfschmerzen
Mittlere BWS – Muskuläre Schwachstelle zwischen dem oberen und – Schmerz BWS
unteren Erector spinae – Thorakaler Schmerz
– Häufig Steilstellung – Interskapulärer Schmerz
Thorakolumbaler – Änderung der Bewegungsrichtung (BWS=Rotation; – Thorakaler Schmerz
Übergang LWS=Ante-/Retroflexion) – Lumbaler Schmerz
– Rotation beim Gehen
Lumbosakraler – Bewegliche LWS trifft auf starres Os sacrum – Kreuzschmerz mit oder ohne Ausstrahlung in
Übergang – SIG ohne eigene Muskulatur die untere Extremität
– Übertragung der gesamten Rumpflast auf die untere
Extremität
Füße – Tragen die gesamte Körperlast – Senk-, Knick und Plattfüße können die gesamte
– Vermittlung der Gesamtstatik Körperstatik negativ beeinflussen mit sekundären
– Oft falsch gelagert (Schuhversorgung) generalisierten Befunden (Schmerzen)

12
. Tab. 12.6 Wirbelsäulenbeweglichkeit

Wirbelsäulenabschnitt Ante-/Retroflexion Rechts-/Links-Rotation Rechts-/Links-Seitneige Besonderheiten

HWS 0–1QF/0/40° 60–80/0/60–80° 20–30/0720–30° Beweglichkeit bis in obere


BWS wird gemessen
BWS 20/0/50° 40–80/0/40–80 20/0/20° Bewegung wird bis in die
LWS fortgeleitet
LWS Schober 10/15 5/0/5° 20/0/20
FBA −5 bis 10
Retroflex. 20–30°
QF=Querfinger

kWeitere klinische Untersuchungen Facettendruckschmerz


Isometrische Anspannungstests 4 Facettenarthrose und/oder Facettenreizung mit
4 Positiver Befund: weitere Differenzialdiagnostik Facettensyndrom
hinsichtlich »red flags« 4 Weitere Differenzialdiagnostik
5 TRP-Palpation: Erector-spinae- und/oder
Klopfschmerz WBS Multifidi-TRP-Palpation
4 Hinweise für osteoporotische Frakturen, Entzündung 5 Röntgen regional
4 Weitere Differenzialdiagnostik 5 Diagnostische Blockade der Rami dorsalis in den
5 Röntgenbild (Verdacht auf osteoporotische Fraktur) entsprechenden Segmenten (7 Abschn. 12.2.3,
5 MRT (Verdacht auf Spondylodiszitis) »Interventionelle Schmerzdiagnostik«)
12.1 · Orthopädie/funktionelle Untersuchung
127 12
Interspinöser Druckschmerz Tipp
4 Ligamentäre Überlastung
4 Baastrup-Phänomen Eine dauerhaft erhöhte Muskelspannung kann durch
4 Weitere Differenzialdiagnostik Störungen der Bewegungs- und Haltungssteuerung,
5 Röntgen regional morphologische Faktoren oder durch psychische
5 Diagnostische Blockade interspinös Faktoren aufrechterhalten werden. Eine entsprechen-
(7 Abschn. 12.2.3, »Interventionelle Schmerzdiag- de Differenzialdiagnostik sollte im Rahmen der
nostik«) multimodalen Diagnostik erfolgen.

jMuskulatur
Die Muskulatur wir auf Verlängerbarkeit, Kraft, Trigger- kKraft
punkte und Schmerz untersucht. Hilfreich ist die Kenntnis Eine Kraftmessung erfordert definierte Ausgangslagen
typischer Muskelmuster. für die Vergleichbarkeit von Testergebnissen. Die Kraft
wird in 6 Grade (0–5) eingeteilt. Die Kraftgrade 0–3 erfor-
kVerlängerbarkeit von Muskulatur dern eine weitere neurologische Differenzialdiagnostik
Voraussetzung für die Vergleichbarkeit der Prüfung (siehe neurologische Untersuchung, 7 Abschn. 12.2.4 und
auf Verlängerbarkeit sind definierte Ausgangslagen und 7 Abschn. 12.3). Die Kraftgrade 3–4 können durchaus
Testabläufe. Diese sind von Janda ausführlich beschrieben funktionell bedingt sein. Ursächlich für funktionelle
worden [4]. Neben den möglichen Bewegungsausmaßen Abschwächungen sind TRP, eine nicht ausreichend ver-
spielt auch das Palpationsgefühl am Ende der Bewegung längerbare Muskulatur, Nichtbenutzung (Dekonditionie-
eine entscheidende Rolle. Harte Bewegungsenden sind rung z. B. bei dysfunktionalen Kognitionen/Verhalten
als pathologisch anzusehen. Bei einer eingeschränk- oder Ausschaltung einzelner Muskeln aus Bewegungs-
ten  Verlängerbarkeit werden mehrere Formen unter- mustern) oder Hemmung von Muskulatur durch Schmerz-
schieden: reize [4].

kTriggerpunkte (TRP)
Formen eingeschränkter Verlängerbarkeit
TRP sind kleine palpable Punkte in einer oft stark ver-
von Muskulatur
spannten Muskelfaser (»taut band«). Bei der Palpation von
5 Verspannte Muskulatur – ungenügende Lösung
TRP kommt es zu einem oft starken Schmerz mit charak-
der Aktin-Myosin-Filamente nach der Kontraktion
teristischer Ausstrahlung (»referred pain«, . Abb. 12.3)
(aktiver, ATP verbrauchender Prozess)
und einer lokalen Muskelkontraktion (»twitch response«).
5 Verkürzte Muskulatur – zusätzlich zur unge-
Um einen TRP zu diagnostizieren, müssen alle 3 Charak-
nügenden Lösung der Aktin-Myosin-Filamente
teristika vorliegen:
haben sich Bindegewebsbrücken gebildet
4 »taut band«,
5 Kontraktur – bindegewebiger Umbau der be-
4 »referred pain«,
troffenen Muskulatur. Folge: Gelenkfehlstellungen,
4 »twitch response«.
z. B. Spitzfuß

Liegen die Kriterien für einen TRP nicht vor, wird ein
Zwischen Verspannung und Verkürzung wird mithilfe »tender point« diagnostiziert. Dieser kann bindegewebiger
einer therapeutischen Technik, der postisometrischen Natur sein bzw. Folge einer generalisierten oder lokalen
Relaxation (PIR), unterschieden. Nach minimaler An- Schmerzregulationsstörung. TRP können aktiv und passiv
spannung des betroffenen Muskels kann dieser bei einer vorliegen. Aktive TRP bereiten den Patienten Schmerzen
Verspannung wieder auf seine normale Länge gebracht und führen zu Bewegungseinschränkungen, während
werden. Meist sind mehrere An- und Entspannungs- passive TRP nur bei Palpation auffallen [1].
zyklen  nötig. Bei einem verkürzten Muskel bewirkt die
PIR möglicherweise eine Verbesserung der Verlängerbar- Tipp
keit, der Muskel erreicht jedoch nicht seine physiologische
Durch die Untersuchung können passive in aktive TRP
Länge. Verkürzte Muskel werden mit Dehnungen be-
umgewandelt werden. Eine sofortige Therapie z. B.
handelt.
durch eine PIR-Technik ist sinnvoll.
128 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

1 (Höhe L1)

1 (Höhe S1)

1
2

2 1

2 1

a b
12
. Abb. 12.3 Beispiel für typische TRP mit Schmerzausstrahlung in die LWS/Abdominalregion. a Schräge Bauchmuskeln (1) und Hüftbeuger
(2); b Mm. multifidi (1), M. serratus posterior inferior (2). (Aus Niemier u. Seidel [1])

kSchmerz Komplexe Muskelmuster sind als Folge von Störungen


Kann man durch Palpation in der gesamten Muskulatur der Haltungs- und Bewegungssteuerung zu verstehen
Schmerz provozieren, ist die Abklärung einer entzündli- (7 Abschn. 12.1.1, »Untersuchung auf primäre Befunde und
chen Genese indiziert (Entzündungsparameter, Rheuma- Störungen«) und benötigen eine intensive funktionelle Be-
serologie, Kreatininkinase). Bei negativen Laborwerten handlung unter Einbeziehung der primären und sekundär-
sollten differenzialdiagnostisch eine Schmerzregulations- en Funktionsstörungen.
störung im Sinne der Fibromyalgie, autonome Dysfunkti-
onen und psychosomatische Ursachen abgeklärt werden. jBindegewebe
Bei lokalem, durch Palpation ausgelöstem Schmerz Bindegewebe in seinen verschiedenen Formen ist an Be-
sollte auf TRP und nicht ausreichend verlängerbare Mus- wegung und Haltung zentral beteiligt als:
kulatur untersucht werden. Auch regionale Schmerzregu- 4 propriozeptives Gewebe (Sehnen, Kapsel, Bänder),
lationsstörungen sind differenzialdiagnostisch in Betracht 4 Kraftüberträger und -speicher (Sehnen, Faszien),
zu ziehen. 4 Verschiebeschichten (Faszien, Subkutangewebe),
4 Stabilisator (Bänder, Kapsel),
kMuskelmuster 4 sekretorisches Gewebe (Gelenkkapsel, Bursa),
Durch Muskeln, die eher eine Tendenz zur Abschwächung 4 Polster (Bursa).
bzw. zu einer verminderten Verlängerbarkeit zeigen, ent-
stehen oft typische, immer wiederkehrende Muster. Diese Schmerzhafte Befunde finden sich typischerweise in-
ermöglichen es, den Untersuchungsgang zu vereinfachen folge  nicht ausreichend verlängerbarer Muskulatur an
und zu verkürzen, da man nicht jeden Einzelmuskel unter- Sehnen-Knochen-Übergängen (Insertionstendopathien),
suchen muss (. Tab. 12.7). als Folge von mangelnder muskulärer Stabilisation in
12.1 · Orthopädie/funktionelle Untersuchung
129 12

. Tab. 12.7 Muskelmuster. (Mod. nach Niemier u. Seidel [1])

Muskelmuster Abgeschwächte Muskeln Nicht ausreichend verlängerbare Typische Fehlhaltung


Muskeln

Oberes gekreuztes – Tiefe Halsbeuger – Mm. pectorales majores et minores – Kopfvorhalte


Syndrom – Skapulafixatoren – M. trapezius pars descendens – Überstreckung Kopfgelenke
– Mm. multifidi – Subokzipitale Nackenstrecker – Schulterprotraktion
– M. sternocleidomastoideus – Rundrücken BWS
– Mm. scaleni

Unteres gekreuztes – M. transversus abdominis – Lumbaler Erector spinae – Lumbale Hyperlordose


Syndrom I – Mm. multifidi – Oft kompensatorische BWS-
Hyperkyphose

Unteres gekreuztes – Glutäalmuskulatur – M. iliopsoas – Lumbosakrale Hyperlordose


Syndrom II

Etagensyndrom – Tiefe Halsbeuger – Nackenstrecker – Generalisierte funktionelle


– Skapulafixatoren – Mm. pectorales Störung
– Thorakaler Erector spinae – Lumbaler Erector spinae
– Bauchmuskulatur – Hüftbeuger
– Glutäalmuskulatur – Ischiokrurale Muskulatur

zonen hat typischerweise einen brennenden Charakter


und sollte vom neuropathischen Schmerz differenziert
werden.

Untersuchung auf primäre (grundlegende)


Befunde und Störungen
Primäre Störungen und Befunde sind oft die Ursache für
sekundäre Funktionsstörungen oder auch degenerative
Veränderungen. Die Nichtbehandlung der primären Stö-
rung führt zu rezidivierenden sekundären Veränderungen
und ist ein Risikofaktor für rezidivierende Schmerzen und
Schmerzchronifizierung [5] (. Abb. 12.1).

Primäre Funktionsstörungen im Überblick


5 Konstitutionelle Hypermobilität
5 Bewegungsmusterstörungen
5 Insuffizienz der Tiefenstabilisierung
5 Vegetative/autonome Dysbalance

jHypermobilität
kSegmentale Hypermobilität
4 Überbewegliche Wirbelsäulensegmente meist im An-
schluss an hypomobile Wirbelsäulenabschnitte oder
. Abb. 12.4 Bindegewebszonen. (Aus Niemier u. Seidel [1]) als Folge von Degenerationen oder Traumata

Diagnostik
Bändern (z. B. Beckenbänder bei mangelnder Becken- 4 Segmentale Untersuchung
stabilisation) und Gelenkkapseln sowie aufgrund von 4 Statisches Röntgen (bei Verdacht auf degenerative
reflektorischen Verschaltungen in den Bindegewebszonen Veränderungen und/oder Spondylolistesen)
(. Abb. 12.4). Der Schmerz in verquollenen Bindegewebs- 4 Funktionsröntgen (Ante-/Retroflexion)
130 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

. Tab. 12.8 Brighton-Kriterien zur Diagnostik von BJHS [6]

Minorkriterien Majorkriterien

Beighton-Skala mindestens 1 und Alter >50 Jahre Beighton-Skala mindestens 4 von 9 (aktuell oder anamnestisch)

Gelenkschmerzen oder Rückenschmerzen für mehr als 3 Monate Gelenkschmerzen für mehr als 3 Monate in mindestens 4 Gelenken

Rezidivierende Gelenkluxationen in 1 Gelenk oder mindestens


eine Gelenkluxation in 2 Gelenken

Schmerzhafte Bindegewebsüberlastungen in mindestens


3 Lokalisationen (z. B. Insertionstendopathien, Bursitiden,
Sehnenscheidenentzündungen)

Marfanoider Habitus

Hautzeichen:
– Überdehnbarkeit
– Striae
– Pergamenthaut, Pergamentnarben

Augenzeichen:
– Hängende Augenlider
– Myopie

– Varikosis
– Hernien
– Prolaps Uterus oder Rektum

4 MRT (bei Verdacht auf Affektion neurogener 5 1 Major-Kriterium und 2 Minor-Kriterien erfüllt
Strukturen) sind.
12 4 Funktions-MRT oder Funktionsmyelografie (bei 5 Die Beighton-Skala enthält folgende Kriterien
Verdacht auf positionsabhängige Affektion neuro- (jede Seite jeweils 1 Punkt, Maximalpunktzahl 9)
gener Strukturen) [6]:
– Hyperextension Ellenbogen >10°
kPathologische Hypermobilität – Daumen kann passiv an das Handgelenk geführt
4 Bindegewebserkrankungen mit pathologischer Über- werden
beweglichkeit, z. B. Ehlers-Danlos-Syndrom und – Hyperextension Metakarpophalangealgelenke
Marfan-Syndrom (MCP) ≥90°
– Hyperextension Knie >10°
Diagnostik – Rumpfanteflexion mit gestreckten Knien,
4 Klinische Untersuchung bei Verdacht auf patho- Handflächen berühren den Boden oder weitere
logische Hypermobilität; Überweisung in spezielles Vorbeuge
Zentrum (genetische Testung etc.) 5 Apparative Diagnostik in Abhängigkeit vom klini-
schen Bild
kKonstitutionelle Hypermobilität (»benign joint
hypermobility syndrome«, BJHS) jBewegungsmusterstörungen
4 Patienten mit generalisierter oder auch regionaler Gestörte Bewegungsabläufe führen über Fehlbelastungen zu
Überbeweglichkeit; Ursachen sind unklar, genetische sekundären Störungen. Es konnte gezeigt werden, dass Be-
Kollagenveränderungen oder propriozeptive wegungsmusterstörungen ein Faktor der Schmerzchronifi-
Fehlsteuerungen werden diskutiert zierung und mitbestimmend für das Therapieoutcome sind
[5]. Untersucht werden komplexe Bewegungsmuster wie das
Diagnostik Gangbild und einzelne regionale Bewegungsabläufe.
4 Klinische Untersuchung. Die Diagnose BJHS kann
nach den Brighton-Kriterien (. Tab. 12.8) gestellt Gangbild Die Untersuchung des Gangs setzt die Möglich-
werden, wenn keit, den Patienten mindestens 3 m gehen zu lassen voraus.
5 2 Major-Kriterien oder Es ergeben sich wichtige Hinweise auf neurologische Er-
12.1 · Orthopädie/funktionelle Untersuchung
131 12

. Tab. 12.9 Kriterien und Auswertung der klinischen Ganganalyse (beispielhaft). (Mod. nach Niemier u. Seidel [1])

Kriterium Mögliche Befunde Mögliche Pathologien, klinische Aspekte

Gehstrecke/Gehdauer Meter/Minuten Claudicatio spinalis


Verwendung von Hilfsmitteln Ja/Nein Schonung, Entlastung
Gesamtansicht/Gangkriterien
Lot Vorbeuge, Vorhalte, Seitabweichung Statische Dekompensation, Ischiasskoliose,
Hinweis auf funktionelle Verkettung
Dynamik und Symmetrie Asymmetrie, Hinken, Schonhaltung Gelenkstörung, neurologische Erkrankung
Rhythmus Gleichmäßig, seitengleich, flüssig, Neurologische Differenzialdiagnostik
verlangsamt, zögernd
Tempo Vermindert, normal, schnell Koordinatives Defizit
Spurbreite Normal, verbreitert, breitbasig Ataxie
Schrittlänge Normal, verkürzt Bewegungseinschränkung Gelenk, Hemmung
durch Schmerz
Beinachsen/Fußachsen Varus, Valgus, gerade, stabil, instabil, Gelenkstabilisierung, Arthrosezeichen, muskuläre
Außenrotation, Innenrotation Dysbalance
Regionale Beurteilung
Fuß und Gelenke der unteren Gelenkbewegungen eingeschränkt, normal, Strukturerkrankung, Verkettung (z. B. funktioneller
Extremität hypermobil, instabil, harmonischer Ablauf Senkfuß – Valgisierung Kniegelenk – Adduktion
Hüftgelenk)
Beckenbewegungen Steif, harmonisch, asymmetrisch, hypomobil, Beckenanteversion bei Streckhemmung Hüft-
hypermobil gelenk (Arthrose, Hüftbeuger)
LWS Steil, normal, Hyperlordose, hypomobil, Überlastung Lumbosakralregion, Hinweis für
hypermobil Instabilität
Oberkörper (BWS) Aufrecht, gebeugt, steif, harmonische Fixierte Kyphose
Mitbewegung
Armbewegungen Symmetrisch, seitengleich, vermindert Hinweis für oberes gekreuztes Syndrom

Kopf/HWS Aufrecht, Kopfvorhalte, Hyperlordose Überlastung zervikokranial und zervikothorakal

krankungen, regionale Störungen und funktionelle Verket- lokale Stabilisatoren unterteilt. Das globale System ist vor
tungssyndrome mit der Indikation zur weiteren neurophy- allem bei den der Muskelkraft entgegenwirkenden Kräften
siologischen Abklärung und regionalen Untersuchung. Bei aktiv (z. B. lumbale Erretoren bei Vorbeuge oder Tragen
positiver Befundlage wird die Indikation zur neurophysio- von Lasten vor dem Körper), während das lokale System
logischen Physiotherapie und Gangschulung gestellt (segmentale Stabilisierung) bei allen statischen oder dyna-
(. Tab. 12.9). mischen Belastungen proportional zur Anforderung akti-
viert wird. Eine gute Stabilisation wird durch eine gute
Regionale Bewegungsmuster Einzelne Bewegungsmuster Koordination der beteiligten Muskulatur erreicht [9].
lassen sich meist einfacher untersuchen und geben Hin-
weise auf regionale Störungen sowie Insuffizienzen von kLokales stabilisierendes System (segmentale
Stabilisierungsmechanismen (. Tab. 12.10). Stabilisierung) [10]
4 Aufbau eines belastungsproportionalen intraab-
jStabilisierung dominalen Drucks durch:
Voraussetzung für eine gute Haltungs- und Bewegungs- 5 M. transversus abdominis
stabilisation ist eine funktionierende Propriozeption (pas- 5 Beckenboden
sives Subsystem), neurogene Weiterleitung und Verarbei- 5 Zwerchfell
tung (Kontrollsubsystem) und die Muskulatur (aktives 4 Feinabstimmung der Wirbelsäulensegmente:
Subsystem) [7, 8]. Die Muskulatur wird in globale und Mm. multifidi
132 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

. Tab. 12.10 Testung und Wertung von Bewegungsmustern. (Mod. nach Niemier u. Seidel [1])

Test Auffällige Befunde Funktionell klinische Bedeutung

Einbeinstand – Unsicherheit – Inkoordination der Beckenmuskulatur


– Unvermögen, das Becken mindestens 10 sec horizontal – Insuffiziente Tiefenstabilisierung
zu stabilisieren
– Zeichen nach Duchenne und Trendelenburg

Schulterblattadduktion – Aktivierung des M. trapezius pars descendens und – Insuffiziente Schulterstabilisierung


im Sitzen M. supraspinatus

Armabduktion im Sitzen – Frühzeitige Aktivierung von M. trapezius pars descen- – Fehlende Schulterblattfixation/
dens und M. scaleni Schulterstabilisierung
– Anheben des Schultergürtels

Atmung in Rückenlage – Aktivierung der Atemhilfsmuskulatur – Inkoordination und Insuffizienz der


Tiefenstabilisierung

Kopfanteflexion in – Vorschieben des Kinns, keine Beugung der HWS – Inkoordination der Halsmuskulatur
Rückenlage – Überaktivierung oberflächlicher Muskulatur, – Ungenügende Stabilisierung der HWS
insbesondere M. sternocleidomastoideus

Oberkörperaufrichte aus – Abheben des Schulterblatts von der Unterlage nicht – Hinweis für Inkoordination
Rückenlage möglich oder nur unter Aufgabe des Fersendrucks Bauchmuskulatur
(Aktivierung Hüftbeuger) – Insuffiziente Tiefenstabilisierung

Hüftabduktion in – Annäherung des Beckenkamms an die unteren Rippen, – Hinweis für Abschwächung der
Seitlage bevor die Abduktion die Horizontale erreicht Hüftabduktoren
– Insuffiziente Tiefenstabilisierung

Hüftextension in – Verspätete/aufgehobene Aktivierung der – Hinweis auf Inkoordination der


Bauchlage Glutäalmuskulatur Rumpf-Beckenmuskulatur
– Beckenkippung – Insuffiziente Tiefenstabilisierung
12

Diagnostik 4 Beckenboden:
4 Zwerchfell: 5 Palpation (TRP, Spannung, Aktivierbarkeit)
5 Atemmusterstörungen (z. B. thorakale 5 Anamnese (Urgeinkontinenz)
Hochatmung) 4 Mm. multifidi (Untersuchung in Bauchlage):
5 Ateminspektion unter Belastung (Anhalten der 5 Aufforderung, 2 Dornenfortsätze wie mit einem
Atmung unter Belastung pathologisch) Spanngurt zusammenzuziehen (Palpation para-
5 Palpation Zwerchfell (Spannung, TRP) vertebral im entsprechenden Segment)
4 M. transversus abdominis (Untersuchungsablauf in 5 Pathologien:
Rückenlage): – Anspannung des Erector trunci
5 Aufforderung, die Beckenschaufeln leicht zusam- (harte Palpation)
menzuziehen und/oder den Bauchnabel leicht – Keine Aktivierbarkeit der Multifidi palpabel
zum Untergrund zu ziehen 5 Unterstützend kann die Aktivierung der Multifidi
5 Pathologien: durch einen funktionellen Ultraschall untersucht
– Keine Aktivität des Transversus palpabel (medial werden (7 Abschn. 12.2.1, »Ultraschall«)
der Spina iliaka anterior superior) 5 Im MRT können Atrophien der Multifidi nach-
– Koaktivierung der schrägen Bauchmuskulatur gewiesen werden
palpabel (Kompensationsmuster) 4 Im Bereich der HWS und der Schulter spielen die
– Fluktuation der Muskelspannung während des tiefen Halsbeuger und die Schulterblattfixatoren
Atemzyklus oder Atmung wird angehalten eine entscheidende Rolle bei der regionalen
5 Unterstützend kann die Aktivierung des M. trans- Stabilisierung:
versus durch einen funktionellen Ultraschall 5 Tiefe Halsbeuger (s. Kopfanteflexion, . Tab. 12.10)
untersucht werden (7 Abschn. 12.2.1, 5 Schulterblattfixatoren (s. Schulterabduktion und
»Ultraschall«) Adduktion, . Tab. 12.10)
12.2 · Apparative Verfahren
133 12
Statik Tipp
Die Statik der Wirbelsäule wird vorwiegend durch die zen-
trale muskuläre Steuerung (Kontrollsubsystem) bestimmt. Die Indikation zur funktionellen Behandlung besteht
Veränderungen der Statik treten oft sekundär zu den pri- insbesondere bei dekompensierter Skoliose, die an-
mären Funktionsstörungen auf. In der Untersuchung inte- hand des Kopflots festzustellen ist. Fällt das Kopflot
ressieren uns folgende statische Varianten: nicht durch den thorakolumbalen Übergang, die Sa-
krumbasis und mittig zwischen die Füße, ist die Skoli-
jSagittalebene ose dekompensiert und bedarf einer intensiven (neu-
Lumbale, lumbosakrale Hyperlordose rophysiologischen) Behandlung.
4 Eigenstabilität der Wirbelsäule: hoch
4 Überlastung
5 Dorsaler Bandscheibenraum Übersichtsuntersuchung
5 Facettengelenke Die Übersichtsuntersuchung gibt Hinweise auf regionale
5 Gegebenenfalls Baastrup-Phänomen (Aufeinan- Störungen, Pathomorphologien und »red flags« sowie auf
dertreffen der Dornfortsätze mit interspinösem funktionelle Zusammenhänge und primäre Funktionsstö-
Schmerz) rungen. In . Tab. 12.11 ist ein möglicher Untersuchungs-
4 Mögliche Folgen (regionale Untersuchung) ablauf dargestellt. Diese gründliche Untersuchung ist bei
5 Funktionell chronischen, rezidivierenden und chronifizierungsgefähr-
– Muskulatur: Triggerpunkte; Muskelmuster deten Schmerzsyndromen indiziert. Die Untersuchung
– Segmentale Funktionsstörungen: insbesondere kann zum Teil an einen entsprechend qualifizierten Phy-
Hypomobilitäten siotherapeuten delegiert werden.
5 Degenerative Veränderungen, insbesondere
lumbosakral Regionale Untersuchung
– Protrusionen, Bandscheibenvorfälle, diskogener Eine regionale Untersuchung wird immer in den schmerz-
Schmerz haften Regionen und in Regionen, in denen bei der Über-
– Osteochondrose, Facettenarthrose sichtsuntersuchung positive Befunde aufgefallen sind,
– Degenerative Spondylolisthesen, Spinalkanal- durchgeführt. Die regionale Untersuchung wird sinnvol-
stenosen, Neuroforamenstenosen lerweise in die Übersichtsuntersuchung mit integriert
(. Tab. 12.12).
Steilstellung der Wirbelsäule, Sakrum
4 Eigenstabilität der Wirbelsäule: gering
4 Überlastung 12.2 Apparative Verfahren
5 Muskulatur
5 Bänder K. Niemier, H.-R. Casser, R. Baron
5 Bandscheiben
4 Mögliche Folgen (regionale Untersuchung) Eine gezielt eingesetzte apparative Diagnostik erhärtet
5 Funktionell klinische gestellte Diagnosen und ist Grundlage für inter-
5 Triggerpunkte ventionelle bzw. operative Verfahren in der Rücken-
5 Segmentale Dysfunktionen: Hypomobilitäten; schmerzbehandlung. Schmerz allein ist keine Indikation
segmentale Hypermobilitäten zur apparativen Diagnostik, die Indikation ergibt sich aus
5 Überlastung Bänder Anamnese und klinischem Befund. Insbesondere in der
5 Degenerative Veränderungen (s. Hyperlordose) radiologischen Diagnostik finden sich häufig klinisch
nicht relevante Befunde, die Patienten und Arzt auf die
jFrontalebene falsche Fährte lenken können.
4 Skoliosen > Die apparativ erhobenen Befunde müssen immer
5 Kongenital wieder mit dem klinischen Gesamtbild abgeglichen
5 Juvenil werden.
5 Schiefebenen z. B. durch Beinlängendifferenzen

12.2.1 Bildgebung

Bei einem akuten Rückenschmerz besteht außer bei dem


Vorhandensein von »red flags« keine Indikation zur Rönt-
134 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

. Tab. 12.11 Untersuchungsablauf neuroorthopädische Übersichtsuntersuchung

Untersuchungs- Untersuchung Befunde Hinweise auf regionale Störungen/Verkettungen


position

Stand Inspektion Füße – Fehlstellungen Untere Extremität, insbesondere:


– Deformitäten – Plantarmuskulatur
– Mittelfuß
– Oberes Sprunggelenk (OSG) inkl. Stabilisierung
– Fußgewölbe
– Gesamtstatik (Verkettung nach kranial)
– Beinachsen

Inspektion Bein- – Varus – Untere Extremität, insbesondere:


achsen Knie und – Valgus – – Hüfte inkl. Muskulatur
Hüfte – Hyperextension – – Knie inkl. Muskulatur
– Patellastand (Knie) – Gesamtstatik
Palpation Becken- – Beckenverwringung – Beckenringstörungen
punkte – Anteversion – SIG
– Tiefstand (Schiefebenen) – Symphyse
– Muskuläre Dysbalancen
– Insuffizienz segmentale Stabilisierung
– Lumbosakraler Übergang
– Untere Extremität
– Gesamtstatik
Inspektion LWS – Steilstellung – Hypermobilität/Instabilität LWS (Steilstellung)
– Hyperlordose – Asymmetrische Belastung (Skoliosen)
– Skoliosen – Gesamtstatik (Lot)
– Muskuläre Dysbalancen (unteres gekreuztes Syndrom
I und II)

12 Bewegungsprüfung
LWS
– Einschränkungen:
– – Anteflexion (Schober,
– Bewegungseinschränkungen:
– – Global
Finger-Boden-Abstand [FBA]) – – Muskulär
– – Retroflexion – – Schmerzbedingt
– – Rechts-/Links-Seitneige – – Angstbedingt
– Ausweichbewegungen – – Segmentale
– Funktionsstörungen
Inspektion BWS – Steilstellung – Gesamtstatik
– Hyperkyphose – Verkettungen insbesondere nach kranial
– BWS
Inspektion HWS/ – Kopfvorhalte – Muskuläre Dysbalancen (oberes gekreuztes Syndrom)
Nacken – Schulterprotraktion – Insuffiziente Stabilisierung HWS/Schulter
– Schulterhochstand
Bewegungsmuster – Gestörter Einbeinstand – Beckenstabilisierung
– Unsicherheit (Differenzialdiagnose Polyneuropathie)
– Schulterabduktion – Schulter-Nacken-Region
– Schulterstabilisierung
– Schulteradduktion – Schulterstabilisierung
Gang . Tab. 12.9
Neurologische Gestört: – Radikuläre Defizite
Testung – Gang – Polyneuropathie
– Zehen-Fersen-Gang – Systemerkrankungen
– Romberg-Test

Sitz Inspektion Hände – Deformitäten – Rheumatoide Arthritis:


– Arthrosezeichen – – Akut
– Entzündungszeichen – – Chronisch
– Arthrose
12.2 · Apparative Verfahren
135 12

. Tab. 12.11 (Fortsetzung)

Untersuchungs- Untersuchung Befunde Hinweise auf regionale Störungen/Verkettungen


position

Bewegungsprüfung Hypomobilitäten: – Funktionsstörungen:


obere Extremität – Hände – – Gelenke
– Ellenbogen – – Muskulatur
– Schulter – – BGW
– Arthrosen
– Verkettungen von/nach kranial

Neurologische – Reflexstörungen: – Differenzialdiagnose Radikulärsyndrom, Pseudoradi-


Testung obere – – TSR kulärsyndrom
Extremität – – RPR – Hinweise periphere Nervenläsionen
– – BSR – Neurologische Systemerkrankung
– Kraftverlust
– Sensibilitätsverlust
– Muskelatrophien

Bewegungsprüfung Eingeschränkte – Funktionsstörungen


HWS – Rotation – – Segmental
– Ante-/Retroflexion – – Muskulär
– Seitneige – – Bindegewebe
– Segmental (CTÜ, 1. Rippe) – Degenerative/entzündliche WBS-Veränderungen
– Bewegungsvermeidung

Palpation orofazi- TRP/Schmerz: Funktionsstörung:


ales System – M. masseter – Schlüsselregion
– M. temporalis – HWS/orofaziales System

Bewegungsprüfung – Verminderte Mundöffnung – Funktionsstörungen:


orofaziales System – Asymmetrien – – Kiefergelenk
– – Muskulatur
– Verkettungssyndrome nach kaudal

Bewegungsprüfung Eingeschränkte – Funktionsstörungen:


BWS – Ante-/Retroflexion – – Segmental
– Rotation – – Schlüsselregion TLÜ und mittlere BWS
– Segmental thorakolumbaler – – Muskulatur
Übergang (TLÜ) – – BGW
– Degenerative/entzündliche WBS-Veränderungen
– Bewegungsvermeidung

Bewegungsmuster – Gestörte Atmung: – Überlastung HWS/Nacken


Hochatmung – Gestörte segmentale Stabilisierung

Palpation – TRP Zwerchfell – Gestörte segmentale Stabilisierung


– Segmentale Dysfunktionen TLÜ

Rückenlage Bewegungsprüfung Segmentale Dysfunktionen: – Funktionsstörung Schlüsselregion Kopfgelenke


Kopfgelenke – C0/1 – Verkettungen nach kaudal und kranial
– C1/2

Muskelprüfungen TRP und/oder verminderte – Hinweise:


(Verlängerbarkeit, Verlängerbarkeit – – Oberes gekreuztes Syndrom
TRP) – Trapezius – – Unteres gekreuztes Syndrom II
– Pectoralis – Schmerzursache TRP
– Sternocleidomastoideus – Fehlstatik
– Scaleni
– Hüftbeuger

Bewegungsmuster Gestörte
– Kopfanteflexion – Gestörte HWS Stabilisierung
– Oberkörperaufrichte – Dysbalance Hüftbeuger/Rectus abdominis
136 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

. Tab. 12.11 (Fortsetzung)

Untersuchungs- Untersuchung Befunde Hinweise auf regionale Störungen/Verkettungen


position

Segmentale Stabili- – Insuffiziente Aktivierbarkeit – Insuffiziente segmentale Stabilisierung


sierung Transversus abdominis

Bewegungsprüfung – Eingeschränkte – Hüftstörungen:


Hüfte – – Extension/Flexion – – Funktionell
– – Rotation – – Koxarthrose (Kapselmuster)
– – Gebeugte Adduktion – – Koxitis
– Positives Patrik-Zeichen – – TEP-Lockerung
– Beckenstörungen:
– – SIG
– – Symphyse
– – Muskulär
– Verkürzung/Verspannung:
– – M. iliacus
– – M. psoas

Palpation Hüfte/ – Leiste – Koxarthrose


Becken – Bursa trochanterica – Bursitis trochanterica
– TRP:
– – M. psoas
– – M. iliacus

Bewegungsprüfung Eingeschränkte – Gonarthrose


Knie – Extension/Flexion – Funktionsstörungen:
– Rotation – – Knie
– Fibulaköpfchenmobilität – – Fibula (Verkettungen)

Bewegungsprüfung Beweglichkeitseinschrän- – Funktionsstörungen Schlüsselregion Füße


12 Fuß kungen: (Verkettungen)
– OSG – Arthrose
– USG
– Fußwurzel

Bewegungsmuster – Gestörte Oberkörperaufrichte – Koordination Hüftbeuger/Bauchmuskulatur

Neurologische – Reflexstörungen: – Differenzialdiagnose Radikulärsyndrom/


Testung – – Achillessehnenreflex (ASR) Pseudoradikulärsyndrom
– – Patellasehnenreflex (PSR) – Myelopathie
– Kraftverlust – Systemerkrankung
– Sensibilitätsverlust – Polyneuropathie
– Pathologische Reflexe
– Veränderter Muskeltonus
– Kloni
– Muskelatrophie

Seitlage Bewegungsprüfung Eingeschränkte – Funktionsstörungen Schlüsselregion lumbosakraler


Lumbosakraler – Anteflexion Übergang
Übergang (seg- – Retroflexion – Diskrepanz aktive Bewegung und passive Prüfung
mental) (Bewegungsvermeidung)

Bewegungsprüfung – Hypomobilität SIG – Funktionsstörungen Schlüsselregion lumbosakraler


Becken (segmental) Übergang
– Schmerzprovokation

Palpation Becken – Beckenboden: – Beckenbodeninsuffizienz (segmentale Stabilisierung)


– – Tonus vermindert – Funktionsstörungen Muskulatur
– – TRP
– TRP: Mm. glutaeus medius u.
minimus

Bewegungsmuster – Gestörte Hüftabduktion – Insuffizienz kleine Glutäen (Beckenstabilisierung)


12.2 · Apparative Verfahren
137 12

. Tab. 12.11 (Fortsetzung)

Untersuchungs- Untersuchung Befunde Hinweise auf regionale Störungen/Verkettungen


position

Bauchlage Bewegungsprüfung Hypomobilität: – Funktionsstörungen


Becken – SIG
– Steißbein

Schmerzpalpation – Federungsschmerz: – Facettensyndrom


– – Facetten – Baastrup-Phänomen
– – Interspinös – SIG:
– SIG Druckschmerz – – Arthrose
– Steißbein Druckschmerz – – Entzündliche Erkrankung

Palpation TRP: – Muskuläre Funktionsstörungen


– M. piriformis
– M. glutaeus maximus
– Mm. multifidi
– Skapulafixatoren

Vierfüßlerstand – Abflügeln/Medialisierung der – Insuffizienz Skapulafixatoren (Stabilisierung HWS/


Scapulae Nacken/Schulter)

Bewegungsmuster – Gestörte Hüftextension – Inkoordination Hüftbeuger/Glutäalmuskulatur

. Tab. 12.12 Regionale neuroorthopädische Untersuchung

Region Untersuchung Befund Konsequenzen

HWS/Nacken Isometrische – Schmerzhaft – Röntgen HWS


Anspannungstests – Ggf. MRT HWS

Orofaziales System – TRP Kaumuskulatur – Manualmedizinische Behandlung


– Mundöffnung – Zahnärztliche Untersuchung
– – Vermindert
– – Asymmetrisch

Beweglichkeit – Bewegungseinschränkungen – Segmentale Untersuchung


– Ausweichbewegungen – Ggf. Röntgen HWS

Segmentale Unter- – Hypomobile segmentale – Manualmedizinische Behandlung


suchung HWS und Funktionsstörungen – Physiotherapie (Stabilisierung)
1. Rippe – Segmentale Hypermobilität – Ggf. Röntgen HWS, Funktionsaufnahme

Druckschmerz – Positiv – Ggf. Röntgen HWS


– Facetten – Ggf. diagnostische Blockade
– Interspinös

Muskelmuster – Oberes gekreuztes Syndrom – Physiotherapie auf manualmedizinischer/


(. Tab. 12.7) neurophysiologischer Grundlage

TRP – Subokzipitale Muskulatur – TRP-Behandlung


– M. sternocleidomastoideus
– M. trapezius
– Mm. scaleni
– M. levator scapulae
– Mm. pectoralis major et.
minor

Halsfaszie – Fasziale Hypomobilitäten – Fasziale Behandlungen

Subkutanes BGW – Verquellungen – Reflextherapien


– Narben – Bindegewebsmassage
– Narbenbehandlungen
138 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

. Tab. 12.12 (Fortsetzung)

Region Untersuchung Befund Konsequenzen

Koordination/ – Atmung (thorakale Hoch- – Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage


Stabilisierung atmung) – Atemtherapie
– Schulterabduktion/-adduktion – Medizinische Trainingstherapie
– Kopfanteflexion

BWS/Thorax Klopfschmerz – Positiv – Röntgen BWS

Beweglichkeit – Bewegungseinschränkungen – Segmentale Untersuchung


– Ausweichbewegungen – Ggf. Röntgen BWS
– Thoraxröntgen bei rezidivierenden Befunden

Segmentale Unter- – Hypomobile segmentale – Manualmedizinische Behandlung


suchung BWS und Funktionsstörungen – Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage
Rippen – Segmentale Hypermobilität (Stabilisierung)
– Ggf. Röntgen, Funktionsaufnahme

Druckschmerz – Positiv – Ggf. Röntgen HWS


– Facetten – Ggf. diagnostische Blockade
– Interspinös

Muskelmuster – Oberes gekreuztes Syndrom – Physiotherapie auf manualmedizinischer/neuro-


(. Tab. 12.7) physiologischer Grundlage

TRP – Mm. pectoralis major et minor – TRP-Behandlung


– M. subclavius
– M. trapezius
– M. latissimus dorsi
– M. subscapularis
– Mm. supra- und infraspinatus
12 – Skapulafixatoren
– Interkostalmuskulatur
– Zwerchfell

– Fascia thoraco- – Fasziale Hypomobilitäten – Fasziale Behandlungen


lumbalis
– Ventrale Faszien

Subkutanes BGW – Verquellungen – Reflextherapien


– Narben – Bindegewebsmassage
– Bei rezidivierenden Befunden Thoraxröntgen

Koordination/ – Atmung (thorakale Hoch- – Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage


Stabilisierung atmung) – Atemtherapie
– Schulterabduktion – Training Skapulafixatoren
– Schulteradduktion – Medizinische Trainingstherapie

Innere Organe – Herz – Internistische Differenzialdiagnostik


– Lunge

LWS/Becken Klopfschmerz – Positiv – Röntgen LWS

Beweglichkeit – Bewegungseinschränkungen – Segmentale Untersuchung


– LWS – Ausweichbewegungen – Ggf. Röntgen LWS und/oder Beckenübersicht
– Hüfte – Bei rezidivierenden Befunden Untersuchung
Abdomen/kleines Becken (Sonografie)

Segmentale Unter- – Hypomobile segmentale – Manualmedizinische Behandlung


suchung: Funktionsstörungen – Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage
– LWS – Segmentale Hypermobilität (Stabilisierung)
– SIG – Ggf. Röntgen, Funktionsaufnahme
– Steißbein
– Symphyse
12.2 · Apparative Verfahren
139 12

. Tab. 12.12 (Fortsetzung)

Region Untersuchung Befund Konsequenzen

Druckschmerz – Positiv – Ggf. Röntgen HWS


– Facetten – Ggf. diagnostische Blockade
– Interspinös
– SIG
Muskelmuster – Unteres gekreuztes Syndrom – Physiotherapie auf manualmedizinischer/neuro-
I und II (. Tab. 12.7) physiologischer Grundlage
TRP – M. psoas – TRP-Behandlung
– M. iliacus – Grundlage
– Mm. multifidi
– Zwerchfell
– M. quadratus lumborum
– M. rectus abdominis
– Beckenboden
– Mm. glutaeus maximus,
medius, minimus
– M. piriformis
– M. tensor fascia lata
Faszien: – Fasziale Hypomobilitäten – Fasziale Behandlungen
– Fascia thoraco-
lumbalis
– Fascia lata
Subkutanes BGW – Verquellungen – Reflextherapien
– Narben – Bindegewebsmassage
– Bei rezidivierenden Befunden Untersuchung
Abdomen/kleines Becken
Koordination/ – Aktivierbarkeit: – Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage
Stabilisierung – – M. transversus abdominis – Training Tiefenstabilisation
– – Multifidi – Beckenstabilisation
– – Beckenboden – Medizinische Trainingstherapie
– Atmung (thorakale Hoch-
atmung)
– Hüftextension
– Hüftabduktion
– Einbeinstand
Innere Organe – Gastrointerstinaltrakt Differenzialdiagnostik:
– Leber – Internistisch
– Niere – Gynäkologisch
– Pankreas – Urologisch
– Kleines Becken

gendiagnostik [11, 12, 13, 14]. Bei chronischen Schmerzen 5 Kostovertebralgelenke


ist die weitere bildgebende Diagnostik abhängig vom 5 Sakroiliakalgelenke (SIG)
klinischen Befund und der geplanten Therapie. 4 Bandscheiben
4 Wirbelkörper und Anulus fibrosus (Spondylosis
jRöntgen deformans)
Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule lassen sich 4 Ligamente und Bandansatzstellen (diffuse
im konventionellen Röntgen (2 Ebenen, Schrägaufnahmen ideopathische Skeletthyperostose [DISH]
[Neuroforamen]) an folgenden Strukturen darstellen
(. Tab. 12.13): Des Weiteren geben konventionelle Röntgenaufnahmen
4 Synovialgelenke Hinweise auf Komplikationen degenerativer WBS-
5 Zwischenwirbelgelenke (Facetten) Veränderungen und auf entzündliche Erkrankungen
5 Atlantoaxialgelenk (. Tab. 12.13).
140 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

. Tab. 12.13 Degenerative Wirbelsäulenbefunde im konventionellen Röntgen [17]

Struktur Röntgenbefunde Hauptlokalisation/en Klinische Bedeutung

Synovialgelenke – Verschmälerter Gelenkspalt – Untere und mittlere – Facettensyndrom


(Arthrose) – Osteophyten (Retro- und BWS – Einengung Spinalkanal und/oder
Ventrospondylophyten) – Untere LWS Neuroforamen (Claudicatio spinalis,
– Subchondrale Sklerosierung Nervenwurzelkompression)

Degenerative – Verschmälerter Bandscheibenraum – Untere LWS – Zusammen mit Arthrose der


Bandscheiben- – Vakuumphänomen – Mittlere HWS Facettengelenke Bildung von
veränderungen – Osteophyten Spondylolistesen
– Segmentale Instabilität
– Neuroforamenstenosen
– Diskogener Schmerz

Wirbelkörper und – Ventrale und laterale Osteophyten – Gesamte WBS – Verminderte Beweglichkeit der WBS
Anulus fibrosus (Folge von ventralen/ventrolateralen – Differenzialdiagnose entzündliche
(Spondylosis defor- Bandscheibenvorfällen und/oder Erkrankungen
mans) Protrusionen)
– Bandscheibenräume relativ gut
erhalten

Ligamente und – Fließende Verknöcherung der – Gesamte WBS – Verminderte Beweglichkeit der WBS
Bandansatzstellen Wirbelkörpervorderflächen – Differenzialdiagnose entzündliche
(Diffuse ideopathische – Gut erhaltene Bandscheibenräume Erkrankungen
Skeletthyperostose
[DISH])

Komplikationen degenerativer Wirbelsäulenveränderungen

Degenerative – Degenerative Veränderungen der – Untere LWS – Segmentale Instabilität (Funktions-


Spondylolisthese Bandscheiben und Facetten (s. oben) aufnahmen, Funktions-MRT oder
– Oberer Wirbel gleitet gegenüber Funktionsmyelografie
12 den unteren nach ventral – Spinalkanalstenose (Claudicatio
spinalis)
– Neuroforamenstenose (Nervenwurzel-
kompression)

Spinalkanalstenose Hypertrophie: – Untere LWS – Claudicatio spinalis


– Bogenwurzel – Im HWS-Bereich Myelopathie
– Facetten/Gelenkfortsätze – MRT-Diagnostik erforderlich
– Wirbelkörperhinterkante
– Ligamentum flavum

Neuroforamenstenose – Einengung der Neuroforamen, – HWS – Radikulärsyndrom


Osteophyten – Untere LWS – Röntgen Schrägaufnahmen
– Degenerative Bandscheiben- – MRT-Diagnostik
veränderungen

Entzündliche Wirbelsäulenveränderungen

Rheumatoide Arthritis – Densarrosionen – HWS – Instabilität insb. Kopfgelenkbereich


– Arrosionen Zwischenwirbelgelenke – Hände – MRT erforderlich (Myelonaffektion)
– Subluxation Atlantoaxialgelenk – Hüfte – Rheumatologische Differenzial-
(C1/2) diagnostik
– Arthritis Gelenke – Röntgen Gelenke

Ankolysierende – Rechteckform der Wirbelkörper – Synovialgelenke – Progrediente Einsteifung


Spondylitis (»squaring«) – SIG – Radiologische Frühzeichen im MRT
– Syndesmophyten (zarter und eher – Benachbarte Weich- mit Kontrastmittel
vertikal im Vergleich zu Osteophyten) teile – Rheumatologische Differenzial-
– Bambusstab-WBS (Endstadium) diagnostik
– SIG Ankylose

Psoriasisarthropathie – Sakroiliitis auch einseitig – SIG – Rheumatologische Differenzial-


und Reiter-Krankheit – WBS diagnostik
12.2 · Apparative Verfahren
141 12
führt werden. Hier können dynamische Verschiebungen
Indikationen für das klassische Röntgen der Wirbelkörper gegeneinander gesehen werden. Nicht
der Wirbelsäule gesehen werden dynamische Einflüsse auf neurogene
5 Vor manualmedizinischer Manipulationsbehand- Strukturen (Myelon, Cauda equina, Nervenwurzel). Die
lung [15] (nur bei Risikofaktoren) weitere Differenzialdiagnostik besteht in einem Funk-
5 Diagnostik von Frakturen: tions-MRT oder einer Funktionsmyelografie.
– traumatisch
– osteoporotisch jUltraschall
5 Facettensyndrom vor interventioneller Diagnostik/ Die Ultraschalldiagnostik spielt bei der Diagnostik der
Therapie WBS eine geringere Rolle als bei der Diagnostik der peri-
5 Abklärung funktionell nicht behandelbarer oder pheren Gelenke. Im Rahmen des funktionellen Ultra-
ständig rezidivierender segmentaler hypomobiler schalls kann die Aktivierbarkeit des M. transversus abdo-
Funktionsstörungen minis und der Mm. multifidi dargestellt werden (segmen-
5 Gegebenenfalls Verdacht auf entzündliche tale Stabilisierung, 7 Abschn. 12.1.1, »Untersuchung auf
Erkrankungen (z. B. ankylosierende Spondylitis) primäre Befunde und Störungen«). Hieraus ergibt sich die
Möglichkeit zu einer Biofeedbacktherapie.

Außer der Wirbelsäule sind in der Rückendiagnostik jMagnetresonanztomografie und Computer-


Erkrankungen der SIG und der Hüftgelenke dem konven- tomografie (MRT, CT)
tionellen Röntgen zugänglich. Klinische Hinweise auf Vor allem das MRT ist außer zur Darstellung der degene-
eine Koxarthrose (Einschränkung der Gelenkbeweglich- rativen WBS-Veränderungen (. Tab. 12.13) insbesondere
keit im Kapselmuster) geben die Indikation zum Röntgen. zur Diagnostik von Bandscheibenschäden und Schäden an
Typische Arthrosezeichen im Röntgenbild sind: neurogenen Strukturen geeignet. Wichtige Befunde sind:
4 Gelenkspaltverschmälerung (Rarefizierung Gelenk- 4 Bandscheibenschäden
knorpel), 5 Nucleus-pulposus-Prolaps (NPP) mit/ohne
4 subchondrale Sklerosierung, Nervenwurzel/Myelonaffektion
4 Osteophytenbildung, 5 Protrusio des Nucleus pulposus mit/ohne
4 Ausbildung von Zysten und Pseudozysten. Nervenwurzel/Myelonaffektion
> Eine deutliche Diskrepanz zwischen klinischem Bild
5 Degenerative Bandscheibenveränderungen
(starke Bewegungseinschränkung, Schmerz) und
(Modic 1–3, ggf. Diskografie)
Röntgen ergibt die Indikation zum MRT (Verdacht
4 Spinalkanal: Spinalkanalstenose
auf Hüftkopfnekrose).
4 Neurogene Schäden
5 Nervenwurzel
Neben der morphologischen Diagnostik kann die konven- 5 Myelon
tionelle Röntgenaufnahme auch zur Begutachtung der 5 Cauda equina
funktionellen Fragestellungen herangezogen werden. Be-
urteilt werden insbesondere folgende Faktoren: Neurogene Strukturveränderungen sollten durch eine
4 WBS-Sagittalebene neurologische Differenzialdiagnostik verifiziert werden.
5 Steilstellung der LWS (funktionelle Instabilität)
5 Lot vom L3-Zentrum fällt vor die Sakrumbasis
Indikationen zur MRT-Diagnostik
(lumbale Hyperlordose, Überlastung dorsaler
5 Neurologische Symptome mit positiver neuro-
WBS-Strukturen)
logischer Untersuchung
4 Beckensagittalebene
5 Claudicatio-spinalis-Symptomatik
5 Steistellung Sakrum (funktionelle Instabilität)
5 Hinweise auf infektiöse Erkrankungen
5 Lumbosakrale Hyperlordose (Überlastungsbecken)
(z. B. Spondylodiszitis)
4 Frontalebene
5 Hinweise auf maligne Erkrankung (Primärtumor,
5 Beckenschiefstände
Metastasen)
5 Skoliosen (Skoliosen der LWS sind kompensiert,
5 Frühdiagnostik ankolysierende Spondylitis
wenn Th12 über dem Promotorium steht)

Unterstützend zum konventionellen Röntgen können bei In neuen, offenen MRT-Geräten sind inzwischen Funk-
Verdacht auf segmentale Instabilitäten der WBS Röntgen- tionsuntersuchungen der WBS möglich. Hier kann die
funktionsaufnahmen (Ante- und Retroflexion) durchge- Funktionsmyelografie ersetzt werden.
142 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

jOsteoporosediagnostik
Zur Bestimmung der Knochendichte ist aktuell der Typische Verfahren der interventionellen
DXA-Scan der Goldstandard. Die Kochendichte wird Schmerzdiagnostik
als Abweichung vom Dichtewert junger Erwachsener 5 Blockade der Rami dorsales für die Facetten-
(T-Wert) im Bereich der LWS und der Schenkelhälse ge- gelenkdenervierung
messen. 5 SIG-Blockade für die SIG-Denervierung
5 Diskografie für die Nukleoplastie
jSzintigrafie 5 Austestung mit intratekalem Schmerzkatheter für
Die Szintigrafie hat in der Rückenschmerzdiagnostik im Schmerzpumpen
Wesentlichen folgende Indikationen: 5 Austestung mit externem Stromgenerator und
4 entzündliche Erkrankungen, Testelektrode für SCS
4 Metastasensuche,
4 Lockerung von Hüft-TEP.

12.2.4 Apparative Funktionsdiagnostik


12.2.2 Laboruntersuchungen
Die apparative Funktionsdiagnostik dient der Objektivie-
Bei akuten Rückenschmerzen besteht außer bei Vorhan- rung von funktionellen Störungen:
densein von »red flags« keine Indikation zur Laborunter- 4 Koordination/Stabilisation, z. B.
suchung. Bei rezidivierenden oder chronischen Schmer- 5 Ganganalyse
zen ist eine Laborkontrolle sinnvoll zur Bestätigung oder 5 Dynamische Oberflächen-EMG
zum Ausschluss von: 5 Funktioneller Ultraschall der Muskulatur
4 entzündlichen Erkrankungen (BSG, CRP), (Stabilisation)
4 Infektionen, hämatologischen Erkrankungen 4 Kraftmessung, z. B.
(Blutbild, CRP, BSG), 5 Isometrische Muskelkraftmessung
4 Arzneimittelnebenwirkungen (Leberwerte, 5 Kraftausdauermessungen
Nierenwerte, Elektrolyte), 4 Konditionsmessungen
12 4 Stoffwechselerkrankungen (TSH, nüchtern BZ). 5 Ergometertest
5 6-min-Gehtest
Bei Verdacht auf spezifische Erkrankungen (z. B. rheuma- 4 Gleichgewichtstestung, z. B.
toide Arthritis, Myelom) sollten spezifische Tests durchge- 5 Posturografie
führt werden. 5 Tinetti-Test
4 Vegetative Differenzialdiagnostik, z. B.
5 Herzfrequenzanalyse
12.2.3 Interventionelle 5 Konditionstestung
Schmerzdiagnostik 4 Neurologische Differenzialdiagnostik (Mixed-pain-
Syndrom, neuropathische Schmerzen)
Die interventionelle Schmerzdiagnostik dient der: 5 Quantitative sensorische Testung (QST)
4 Differenzierung von degenerativen WBS-Verände-
rungen, Die Verfahren können zur Steuerung von Trainings-
4 Indikationsstellung von destruktiven Verfahren (z. B. programmen (z. B. Ausdauer- oder Krafttraining), als
vor Facettengelenkdenervierung, SIG-Denervierung, Biofeedbackmethode (videogestützte Bewegungsanalyse)
Nukleoplastien), und in der Verlaufskontrolle genutzt werden. Für viele der
4 Austestung von neuromodulatorischen Verfahren auf dem Markt befindlichen Verfahren ist die wissen-
(»spinal cord stimulation« [SCS], implantierbare schaftliche Evaluation nicht ausreichend.
Schmerzpumpen).
> Bei interventionellen Verfahren erweist sich ein ho-
her Placeboeffekt als problematisch, sodass diese
Verfahren im Rahmen einer multimodalen Diagnos-
tik durchgeführt und die Ergebnisse im Diagnostik-
team gemeinsam gewertet werden sollten.
12.3 · Klinisch-neurophysiologische Diagnostik bei Rückenschmerzen
143 12
12.3 Klinisch-neurophysiologische Therapiestrategie markieren kann. Ein schon primär auf-
Diagnostik bei Rückenschmerzen fälliger klinisch-neurophysiologischer Befund mit klaren
Hinweisen auf eine subklinische radikuläre Läsion zeigt
J. Raethjen zumindest die Gefahr an, dass dieser Patient im Verlauf
auch progrediente klinische Defizite entwickeln könnte,
12.3.1 Einleitung sodass in dieser Situation engmaschigere klinische und/
oder elektrophysiologische Kontrollen angezeigt sind.
Im Vordergrund der neurologischen Beurteilung von
Rückenschmerzpatienten steht neben der Anamnese der
klinisch-neurologische Befund. Die elektrophysiologische 12.3.3 Indikationsstellung
Untersuchung dieser Patienten stellt immer nur den ver-
längerten Arm der klinischen Untersuchung dar und sollte Prinzipiell ist eine Elektrophysiologie nur bei einem
sich daran orientieren. Welche klinisch-neurophysiologi- kleinen Teil von Rückenschmerzpatienten indiziert. Bei
schen Untersuchungsmethoden in welcher klinischen allen Patienten mit klinisch-neurologischen Defiziten und
Situation sinnvoll sind und welche Aussagekraft sie haben, bildgebendem Nachweis einer Bedrängung nervaler Struk-
soll im Folgenden dargestellt werden. Der Häufigkeit ent- turen, die aber nicht übereingebracht werden können, soll-
sprechend ist der klinische Ausgangspunkt dabei in erster te eine Elektrophysiologie angestrebt werden. In diesen
Linie der lumbale Rückenschmerz. Vieles gilt analog Fällen wird überwiegend die unter 7 Abschn. 12.3.2 ge-
auch für höhergelegene (z. B. zervikale) Probleme, wobei nannte 2. Frage im Vordergrund stehen. Eine relative Indi-
schwerere Schädigungen und Rückenmarkaffektionen nur kation besteht bei Patienten, die entweder eine massive
am Rande berührt werden können. Auffälligkeit in der Bildgebung haben, dabei aber klinisch-
neurologisch komplett unauffällig sind, oder die von inter-
mittierend auftretenden neurologischen Ausfällen berich-
12.3.2 Ziele der klinisch-neurophysiolo- ten: Hierbei geht es überwiegend um die oben genannte
gischen Untersuchung 1. Frage [7].

Mit der elektrophysiologischen Untersuchung beim


Rückenschmerzpatienten sollen im Wesentlichen zwei 12.3.4 Untersuchungsmethoden
Fragen beantwortet werden:
1. Lassen sich subklinische radikuläre (Rückenmark-) Nadelelektromyografie
Schädigungen nachweisen? Die Nadel-EMG ist die bei Rückenschmerzpatienten am
2. Finden sich Hinweise auf unabhängige neurologische häufigsten angewandte Methode [2]. Dabei werden sog.
Erkrankungen als zusätzliche oder Hauptfaktoren bei konzentrische Nadelelektroden in verschiedene Muskeln
der Entstehung der Schmerzen (z. B. Polyneuropathie, eingebracht und aus einem kleinen Umkreis um die
Muskelerkrankung)? Elektrodenspitze die elektrische Muskelaktivität abgeleitet.
Unmittelbar nach dem Einstechen wird in Abwesenheit
Während sich aus der positiven Beantwortung der zweiten willkürlicher Muskelinnervation nach pathologischer
Frage direkte therapeutische Konsequenzen und die Spontanaktivität gesucht, die in Form von Fibrillationen
Erweiterung der Diagnostik ergeben können, bleibt die oder positiven scharfen Wellen auftreten kann und eine
Beantwortung der ersten Frage in der Regel ohne direkte relativ akute Denervierung des Muskels anzeigt. Diese
Konsequenzen, solange es sich um reine elektrophysiolo- pathologische Spontanaktivität ist ein sehr sensitives
gische Auffälligkeiten ohne sicheres klinisches Korrelat elektrophysiologisches Zeichen eines Untergangs von
handelt. Allerdings kann auch die Beantwortung der ersten motorischen Nervenfasern (axonale Läsion), allerdings
Frage für das Gesamtmanagement des Rückenschmerz- lässt sie sich aufgrund des Zeitgangs der Waller-Degene-
patienten von Bedeutung sein. Einerseits lassen sich viele ration frühestens ca. 2–3 Wochen nach einer Nerven-
klinisch unauffällige Patienten trotz bildgebender Hin- schädigung (Axonotmesis) nachweisen. Bei akuten
weise auf eine Wurzelbedrängung mit einem unauffälligen Rückenschmerzsyndromen muss diese Latenz beachtet
elektrophysiologischen Befund von der Fortführung der werden. Auch bei primären Muskelschädigungen (Myopa-
hier indizierten konservativen Therapie leichter über- thien) findet sich gelegentlich eine pathologische Spontan-
zeugen. Gleichzeitig lässt sich aufgrund eines solchen aktivität, insbesondere bei entzündlicher Genese (Myo-
unauffälligen Ausgangsbefunds eine subklinische Progres- sitiden).
sion im Verlauf detektieren, die bei gleichzeitiger klini- Bei leichter Willkürinnervation werden dann die
scher Progression ggf. den Übergang zu einer operativen Potenziale einzelner motorischer Einheiten untersucht.
144 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

Dabei werden Amplitude, Potenzialbreite und Polyphasie- Axonen (Waller-Degeneration) zeigt sich typischerweise
rate beurteilt. Hier lassen sich länger bestehende neuroge- eine Amplitudenreduktion.
ne Schäden des Muskels meist von myopathischen Verän- Neben dieser direkten Messung der Nervenabschnitte
derungen differenzieren. Während der chronisch neuro- im distalen stimulierten Bereich besteht die Möglichkeit,
gene Umbau mit einer Vergrößerung und Verbreiterung durch die Ableitung von späten Reizantworten nach
der Potenziale motorischer Einheiten einhergeht, finden Stimulation auch die proximalen Nervenabschnitte auf
sich bei der Myopathie meist kleine, schmale Potenziale. In ihre Funktion hin zu testen. Diese sog. F-Wellen lassen sich
beiden Fällen zeigt sich eine vermehrte Polyphasie. bei deutlich überschwelliger Nervenstimulation vom dis-
Wenn der Patient aufgefordert wird, den untersuchten talen Muskel ableiten. Sie entstehen durch die antidrome
Muskel maximal anzuspannen, lässt sich die Menge der (gegen die physiologische Leitungsrichtung) Weiterleitung
dabei rekrutierbaren motorischen Einheiten anhand des des elektrischen Reizimpulses in den motorischen Axonen
Interferenzmusters abschätzen. Im Normalfall ist dieses des untersuchten Nerven, Reflexion an den motorischen
Muster so dicht, dass die Null-Linie auf dem Bildschirm Vorderhornzellen im Rückenmark und anschließende
bei Betrachtung mit der für diese Untersuchung üblichen orthodrome Weiterleitung über die gesamte periphere Ver-
Zeitauflösung nicht mehr sichtbar ist. Fallen im Rahmen laufsstrecke bis zum Muskel. Da sowohl der antidrome als
der Waller-Degeneration motorische Nervenfasern und auch der orthodrome Anteil dieses Leitungswegs die
damit ihre motorischen Einheiten aus, lichtet sich das Nervenwurzeln im Spinalkanal beinhaltet, kann eine Ver-
Muster, und im Extremfall können trotz maximaler zögerung oder ein Ausfall der F-Wellen ein früher Hinweis
Anspannung einzelne Potenziale motorischer Einheiten auf eine radikuläre Läsion sein [3].
abgegrenzt werden. In dieser Situation und gerade bei
Schmerzpatienten kann es schwierig sein, dies von einer Evozierte Potenziale
schmerzbedingten Minderinnervation abzugrenzen. Die Technik der evozierten Potenziale bezieht die Leitung
Aus der Kombination der Befunde unter diesen 3 Un- im zentralen Nervensystem mit ein. Bei den sensibel
tersuchungsbedingungen lässt sich in der Regel eine gute evozierten Potenzialen (SEP) wird ein Nerv in dem zu
Aussage darüber treffen, ob und auf welcher Grundlage untersuchenden Körperabschnitt wiederholt elektrisch ge-
(myogen oder neurogen) pathologische Veränderungen reizt. Gleichzeitig wird das Elektroenzephalogramm (EEG)
im untersuchten Muskel vorliegen. Dabei ist die Sensitivi- im Bereich des entsprechenden kortikalen sensiblen Pro-
12 tät und Spezifität der pathologischen Spontanaktivität in jektionsareals abgeleitet. Dieses EEG wird dann reizgebun-
Ruhe am höchsten [1]. den über alle (i. d. R. 150–200) elektrischen Stimuli gemit-
telt. Durch diese Mittelung werden reizunabhängige An-
Neurografie teile des EEGs unterdrückt und die Reizantwort deutlich
Bei der Neurografie wird der zu untersuchende Nerv an verstärkt. Verlängerungen der Latenz dieser kortikalen
verschiedenen Stellen elektrisch stimuliert. Die Leitung in Antwortpotenziale weisen auf eine sensible Leitungs-
den motorischen Fasern wird durch Ableitung des Effekts störung im gesamten peripheren und zentralen Verlauf der
dieser Stimulation mit Oberflächenelektroden über einem sensiblen Leitungsbahnen hin. Am häufigsten werden im
distal gelegenen, vom entsprechenden Nerv versorgten klinischen Alltag die SEP des Nervus tibialis und des
Muskel untersucht. Die Leitung der sensiblen Fasern kann N. medianus abgeleitet. Wenn nicht nur kortikal, sondern
orthodrom (in Richtung der physiologischen Nerven- auch proximal peripher und spinal Antwortpotenziale ab-
leitung) oder antidrom (entgegen der Richtung der physio- gleitet werden können, lässt sich der Läsionsort (peripher,
logischen Leitung) gemessen werden. Im ersten Fall wird spinal oder subkortikal) genauer eingrenzen. Dies gelingt
in einem distalen Hautbereich, in dem keine Muskeln, beim N. medianus regelmäßig und verlässlich, während
sondern ausschließlich sensible Hautäste liegen, stimuliert sich beim N. tibialis oft nur das kortikale Antwortpotenzial
und vom Nervenstamm abgeleitet. Dabei sind häufig sicher darstellen lässt. Bezüglich der genauen Ableitungs-
Nadelelektroden notwendig, die in der Nähe des Nerven- technik dieser distalen Potenziale wird auf einschlägige
stamms platziert werden. Die antidrome Technik ist weni- Lehrbücher verwiesen [6]. Je nach Fragestellung und Sym-
ger aufwendig, da in diesem Fall, wie bei der motorischen ptomatik der Patienten können die SEP mit der gleichen
Neurografie, der Nerv stimuliert und von den sensiblen Technik auch für andere Nerven bestimmt werden. Bei der
Hautästen mit Oberflächenelektroden abgeleitet werden Frage nach radikulären Läsionen besteht auch die Mög-
kann [1]. lichkeit der Ableitung von Dermatom-SEP, dabei wird
Bei der Neurografie werden einerseits die Leitungs- nicht ein Nerv, sondern sensible Hautäste stimuliert, die
zeiten, andererseits die Amplitude des Antwortpotenzials ein Dermatom versorgen. Da die Anzahl der dabei er-
ermittelt. Diese Amplitude spiegelt die Anzahl der stimu- regten sensiblen Axone deutlich geringer ist als bei der
lierbaren Axone wieder. Im Fall eines Untergangs von Stimulation am Nervenstamm, sind die kortikal evozierten
12.3 · Klinisch-neurophysiologische Diagnostik bei Rückenschmerzen
145 12
Potenziale bei dieser Technik oft schwieriger darzustellen.
Nur im Seitenvergleich und ggf. im Vergleich der evozier-
Motorischer Kortex Sensibler Kortex
ten Potenziale von klinisch betroffenen und klinisch nicht Bahnstruktur Untersuchungstechnik
betroffenen Arealen lassen sich diagnostisch verwertbare Corona radiatia/ SEP/MEP
Aussagen ableiten [8]. subkortikal

Bei den motorisch evozierten Potenzialen (MEP) wird Rückenmark


analog die Weiterleitung im gesamten motorischen System
von der motorischen Hirnrinde bis zum Muskel bestimmt.
Dabei wird entsprechend der physiologischen Leitrichtung Alpha-Motoneuron
EMG/motorische Neurografie/
der motorische Kortex stimuliert und vom Zielmuskel Nervenwurzel MEP/SEP
abgeleitet. Da eine elektrische Stimulation des Kortex
pseudounipolare
durch die Schädelkalotte aufgrund der hohen Widerstände Plexus Ganglienzelle
extrem schmerzhaft und klinisch-diagnostisch nicht ein-
setzbar ist, dringt ein starker Magnetimpuls (ca. 1 Tesla),
EMG/motorische Neurografie/
der extern mittels Spule appliziert wird, nahezu ungehin- sensible Neurografie/MEP/SEP
dert durch die Schädeldecke und induziert am motori- Nerven

schen Kortex einen elektrischen Strom, der zur Erregung


motorischer Bahnen mit einem am Muskel messbaren
Effekt führt. Dieses Verfahren zur kortikalen Stimulation
ist nahezu schmerzfrei und wird seit den 1980er Jahren in
der klinischen Routine eingesetzt. Im Gegensatz zu den Muskel Sensibles
SEP reicht in diesem Fall ein einzelner kortikaler Reiz aus, Hautareal
um eine sichtbare und klar abgrenzbare Muskelantwort zu
. Abb. 12.5 Schematische Darstellung der verschiedenen Ab-
produzieren. Allerdings ist eine Bahnung durch die gleich- schnitte der motorischen (rot) und sensiblen (blau) Leitungsbahn
zeitige leichte willkürliche Innervation des Muskels durch mit anatomischen Bezeichnungen (links) und den elektrophysiolo-
den Patienten hilfreich. Um eine zentrale von einer peri- gischen Untersuchungsmethoden (rechts), mit denen der jeweilige
pheren motorischen Leitungsstörung unterscheiden zu Abschnitt erfasst werden kann
können, wird in der Regel nicht nur kortikal, sondern auch
spinal stimuliert. Aus der Differenz der kortikomuskulären
Latenz und der peripheren Latenz nach spinaler Stimulati- in diesem distalen Bereich dar, die typischerweise bei Po-
on ergibt sich die sog. zentrale motorische Leitungszeit lyneuropathien auftreten. Proximale, radikuläre Läsionen
(ZML). Dieser Begriff ist insofern missverständlich, als bei können sich aber im Rahmen einer Waller-Degeneration
der Positionierung der Magnetspule über der Wirbelsäule der Nervenfasern (Axone) distal manifestieren: Unab-
bei spinaler Stimulation die motorischen Fasern nicht im hängig vom Läsionsort im Verlauf der Axone, führt eine
Bereich der Nervenwurzeln im Spinalkanal, sondern im Unterbrechung des vom Soma der Nervenzelle ausgehen-
Bereich des Durchtritts des Spinalnerven durch das Fora- den axonalen Transports (Axonotmesis) zu einer distal
men intervertebrale stimuliert werden [6]. Damit ist die beginnenden Degeneration der Axone, die sich bis zum
Leitung im radikulären Abschnitt Teil der zentralen moto- Läsionsort (Ort der Unterbrechung) fortsetzt. In der Regel
rischen Leitungszeit bei den MEP. Das bedeutet einerseits, beginnt diese Waller-Degeneration ca. 2–3 Wochen nach
dass eine Differenzierung zwischen einer radikulären und der Läsion, sodass im Fall einer akuten radikulären
zentralen Läsion der motorischen Leitungsbahnen allein Axonotmesis nach dieser Zeit auch am distalen Nerven
aufgrund der MEP nicht möglich ist. Andererseits erlaubt eine Amplitudenminderung nachweisbar sein kann. Diese
der Vergleich der ZML und der peripheren Leitungszeit bei Amplitudenminderung tritt bei radikulären Läsionen
klinisch eindeutigen peripher-motorischen Ausfällen die allerdings fast ausschließlich in der motorischen Neuro-
Differenzierung zwischen radikulären und peripheren grafie auf [1], da nur hier die Verbindung zwischen Zell-
Nervenläsionen. soma im Vorderhorn (α-Motoneuron) und distaleren
Axonabschnitten radikulär unterbrochen werden kann,
während die pseudounipolaren Ganglienzellen der sensib-
12.3.5 Typische Befundkonstellationen len Axone im Bereich des Spinalganglions im Foramen
bei radikulären Läsionen intervertebrale, also distal des typischen radikulären
Schädigungsorts bei degenerativen Wirbelsäulenverände-
Die Neurografie misst in erster Linie distale Nervenab- rungen, liegen (. Abb. 12.5). Das unterscheidet die neuro-
schnitte und stellt somit besonders sensitiv Schädigungen grafischen Befunde radikulärer Läsionen von denen einer
146 Kapitel 12 · Untersuchungstechniken

Neuropathie, bei der in der Regel sensible und motorische


. Tab. 12.14 Typische Befunde bei Radikulopathie versus
Anteile betroffen sind. Eine Verlängerung der F-Wellen- Neuropathie
Latenzen findet sich sowohl bei Neuropathien als auch bei
Radikulopathien, lässt sich aber bei akuten Läsionen im (Poly)radikuläre Polyneuro-
Gegensatz zur Amplitudenminderung sofort nachweisen. Läsion pathie
Da die bei der Neurografie stimulierten Nerven immer
Neurografie
aus mehreren Nervenwurzeln gespeist werden, sind die
oben beschriebenen neurografischen Befunde in erster Sensible Amplitude n −
Linie bei polyradikulären Läsionen, z. B. im Rahmen einer Motorische Amplitude − −
schweren Lumbalkanalstenose, zu erwarten. Bei monora-
F-Wellen-Latenz + +
dikulären Läsionen sind sie dagegen meist nur gering aus-
geprägt oder können ganz fehlen. In diesen Fällen ist das Nadel-EMG Kennmuskeln/ Distale
paravertebral Muskeln
Nadel-EMG des Kennmuskels für die betroffene Nerven-
wurzel deutlich sensitiver. Durch den gleichzeitigen Nach- SEP-Latenzen + +
weis fehlender Veränderungen in anderen, nicht von der MEP
betroffenen Wurzel versorgten Muskeln lässt sich auch die
ZML + n
Spezifität der Untersuchung deutlich erhöhen. Besonders
sensitiv und spezifisch ist die Suche nach pathologischer Periphere Latenzen n +

Spontanaktivität in der autochthonen Rückenmuskulatur n normal; − reduziert; + verlängert


auf der betroffenen Höhe und Seite [4]. Die Untersuchung
paravertebraler Muskeln verliert allerdings deutlich an
Aussagekraft, wenn die Patienten auf dieser Höhe vorope-
riert sind. In diesen Fällen findet sich aufgrund der Schä- grafie in der von Schmerzausstrahlung oder neuro-
digung von Muskelästen im Rahmen der Operation fast logischen Defiziten betroffenen Region ausreichen. Evo-
immer eine pathologische Spontanaktivität, die auch Jahre zierte Potenziale sind nur in Ausnahmefällen notwendig.
danach noch vorhanden sein kann, ohne dass dies auf eine Sie können bei progredienten neurologischen Ausfällen
erneute radikuläre Läsion hinweisen muss. ohne Hinweise in der Neurografie und Elektromyografie
12 Die motorisch evozierten Potenziale (MEP) der ver- oder bei höhergelegenen Beschwerden (thorakal/zervikal)
schiedenen Kennmuskeln können im Einzelfall hilfreich mit Verdacht auf Läsion des Rückenmarks hilfreich sein
sein, da sie im Gegensatz zur reinen Nadelelektromyo- (. Abb. 12.5).
grafie eine relativ zuverlässige Aussage darüber erlauben,
ob eine periphere motorische Läsion proximal des Spinal-
nerven (radikulär) oder distal des Spinalnerven (Plexus Literatur
oder Nerv/Neuropathie) liegt (. Tab. 12.14).
Literatur zu Abschn. 12.1 und 12.2
Die sensibel evozierten Potenziale, insbesondere von
1. Niemier K, Seidel W (2009) Funktionelle Einflussfaktoren. In:
der unteren Extremität (N. tibialis), reagieren zwar sehr Niemier K, Seidel W (Hrsg) Funktionelle Schmerztherapie des
sensitiv auch auf leichtere polyradikuläre Irritationen Bewegungssystems. Springer, Heidelberg, S 5–36
bei Lumbalkanalstenosen [5]. Die Spezifität verlängerter 2. Casser HR, Emmerich J (2009) Morphologische Einflussfaktoren.
Tibialis-SEP ist aber gering, sodass eine Interpretation in In: Niemier K, Seidel W (Hrsg) Funktionelle Schmerztherapie des
Bewegungssystems. Springer, Heidelberg, S 37–61
der Regel nur im Zusammenhang mit den anderen, oben
3. Lewit K (2007) Untersuchungen des Beckens. In: Lewit K (Hrsg)
beschriebenen Elektrophysiologischen Befunden gelingt. Manuelle Medizin. Elsevier, München, S 114–121
Dermatom-SEP sind insbesondere bei monoradikulären 4. Janda V (1994) Manuelle Muskelfunktionsdiagnostik. Ullstein
Läsionen zwar deutlich spezifischer, aber technisch oft Mosby, Berlin
schwierig und häufig auch bei Normalprobanden nicht 5. Niemier K, Seidel W (2007) Einfluss muskuloskeletaler Funktions-
störungen auf chronische Schmerzsyndrome des Bewegungs-
sicher erhältlich.
systems. Schmerz 21:139–145
6. Grahame R, Bird HA, Child A (2000) The revised criteria fort he
diagnosis of benign joint hypermobility syndrome (BJHS).
12.3.6 Pragmatischer Einsatz der klinischen J Rheumatol 27:1585–1585
Neurophysiologie 7. Panjabi MM (1992) The stabilizing system of the spine. Part I.
Function, dysfunction, adaptation and enhancement. J spine diso
5:383–389
Besteht aufgrund der eingangs genannten Überlegungen 8. Panjabi MM (1992) The stabilizing system of the spine. Part II.
eine Indikation zur elektrophysiologischen Untersuchung, Neutral zone and instability hypothesis. J spine diso 5:
wird in aller Regel eine Neurografie und Nadelelektromyo- 390–397
Literatur
147 12
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of the lumbar spine associated with low back pain.
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Wirbelsäule. Frankfurter Workshop, 4.–5. Juli 2003. Manuelle
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behandlung der Extremitätengelenke. Technischer Leitfaden.
Ullstein Mosby, Berlin
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tologie, Rheumatoologie, Onkologie. Urban & Fischer

Literatur zu Abschn. 12.3


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thies. Ital J Neurol Sci 17:193–199
149 13

Psychosoziale Diagnostik
M.I. Hasenbring, M. Pfingsten

13.1 Einleitung – 150

13.2 Erstkontakt – 150


13.2.1 Reflexion der Kontaktaufnahme des Patienten – 151
13.2.2 Erfragen des Überweisungsmodus
und erste orientierende Edukation – 151
13.2.3 Schmerzanamnese – 152
13.2.4 Erstes Erfragen des subjektiven Krankheitsmodells – 153
13.2.5 Vorbereitung für den zweiten Kontakt (Schmerztagebuch) – 153

13.3 Erster Folgekontakt – 154


13.3.1 Einleiten der Folgekontakte – 154
13.3.2 Besprechen des Schmerztagebuchs – 154
13.3.3 Analyse der Schmerzverarbeitung: multidimensionale Aspekte – 155
13.3.4 Analyse der Schmerzverarbeitung: monodimensional – 156
13.3.5 Aktuelles Stressniveau und Stressverarbeitung – 157
13.3.6 Habituelle Personenmerkmale – 160
13.3.7 Allgemeine Stimmung: Angst, Depressivität – 160
13.3.8 Komorbide psychische Störungen – 160

13.4 Erfassung von Risikofaktoren – 161


13.4.1 Screeninginstrumente – 161
13.4.2 Fazit – 163

Literatur – 163

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
150 Kapitel 13 · Psychosoziale Diagnostik

Psychosoziale Faktoren wie z. B. chronischer Stress im Alltag,


eine depressive Stimmungslage oder eine ungünstige – Verhaltensbeobachtung
Schmerzverarbeitung können sowohl an der Entstehung als – Vertiefendes verhaltensanalytisches Interview
auch, und dies im Besonderen, an der Aufrechterhaltung – Psychologische Testverfahren
von Schmerzen beteiligt sein. Sie tragen dazu bei, dass 5 Zur Differenzialdiagnose
z. B. akute Kreuz- oder Nackenschmerzen trotz adäquater – Standardisierte Fragebogen und Interviews zur
medizinischer Maßnahmen nicht angemessen ausheilen, Abschätzung psychischer Komorbiditäten
d. h., Betroffene versäumen ihre Genesungsphase, ohne (u. a. Angststörungen, depressive Störungen)
dass sie dies bewusst erleben. Hinzu kommen Folgen an-
haltender Schmerzen wie z. B. Schlafstörungen, vermehrte
Konzentrationsprobleme, erhöhte muskuläre Anspannun- Psychosoziale Diagnostik bei Kreuz- und Nackenschmer-
gen, Ängste und weitere depressive Verstimmungen. Diese zen kann sich dabei einerseits an den empirisch validierten
Faktoren sollten niemals in Form einer Ausschlussdiagnostik biopsychosozialen Krankheitsmodellen orientieren
– d. h. wenn keine organischen Schädigungen feststellbar (7 Kap. 17), darüber hinaus an den speziell für Schmerz-
sind – »erfasst« werden, sondern immer anhand zuverlässi- patienten entwickelten psychosozialen Dimensionen der
ger diagnostischer Maßnahmen. Erste Orientierungen multiaxialen Schmerzklassifikation MASK-P (7 Kap. 26).
sollten in allen Stadien einer Schmerzerkrankung realisiert Wie differenziert wir psychosoziale Faktoren erfassen
werden, beim akuten Schmerz in der ärztlichen Praxis, im können, hängt entscheidend vom jeweiligen Versorgungs-
subakuten Stadium zudem im physiotherapeutischen kontext und den damit verbundenen Zeitkontingenten ab
Setting, im chronischen Stadium in der multiprofessionellen (. Tab. 13.1). Die Erfassung variiert, beginnend mit ersten
Zusammenarbeit von Arzt, Physiotherapeut und Psycho- orientierenden Fragen zu psychosozialen Belastungen in-
therapeut. Der vorliegende Beitrag gibt einen Einblick in nerhalb einer wenige Minuten dauernden ärztlichen Ana-
die verschiedenen diagnostischen Schritte psychosozialer mnese, über intensivierte Anamnesen während der ärztli-
Faktoren, die sich an den biopsychosozialen Krankheits- chen Schmerztherapie, intensivierte Interviews inkl. stan-
modellen sowie an der psychosozialen multiaxialen dardisierter Testverfahren im Rahmen eines multimoda-
Schmerzklassifikation (MASK-P) orientieren. len Assessments bis hin zur umfassenden psychosozialen
Diagnostik während probatorischer Sitzungen zur Prü-
fung der Indikation einer Psychotherapie (z. B. kognitiver
13.1 Einleitung
Verhaltenstherapie), für die bis zu 5 jeweils 50-minütige
13 Psychosoziale Faktoren, die an der Entstehung, Auslösung
Sitzungen zur Verfügung stehen.
Im Folgenden werden wir in 7 Abschn. 13.2 und
oder Aufrechterhaltung von Kreuz- und Nackenschmer-
7 Abschn. 13.3 ein Vorgehen beschreiben, wie es sich für
zen beteiligt sein können, sind in unterschiedlichem Diffe-
die Prüfung der Indikation zu einer kognitiven Verhaltens-
renzierungsgrad Bestandteil diagnostischer Maßnahmen
therapie im Setting der Einzeltherapie bewährt hat. Psy-
(7 Übersicht).
chosoziale Aspekte im Rahmen der ärztlichen Anamnese
sind in 7 Kap. 12 beschrieben, Verfahren zum Screening
Psychosoziale Faktoren als Bestandteil psychosozialer Risikofaktoren in 7 Abschn. 13.4 und bei
diagnostischer Maßnahmen subakutem Schmerz (»yellow flags«) in 7 Kap. 8. Die In-
5 Bei Akutschmerz dikation zu einer Psychotherapie im Einzelsetting wird vor
– Erste Fragen im Rahmen der ärztlichen allem bei chronischem Schmerz gesehen, daher beziehen
Anamnese sich unsere Ausführungen im Folgenden auf Schmerz-
– Verhaltensbeobachtung syndrome, die häufig bereits seit Jahren bestehen. Die
5 Bei subakutem Schmerz größte Überschneidung im Vorgehen besteht dabei mit der
– Vertiefendes Erfragen im Rahmen der ärztlichen psychosozialen Diagnostik im multimodalen Setting
Anamnese (7 Kap. 14 und [6]).
– Verhaltensbeobachtung
– Standardisiertes Screening psychosozialer
Risikofaktoren für eine Schmerzchronifizierung 13.2 Erstkontakt
(»yellow flags«).
5 Bei chronischem Schmerz Da die Realisierung evidenzbasierter Leitlinien in der kli-
– Differenzierte psychologische und biografische nischen Praxis vor allem bei der Integration psychosozia-
Anamnese ler diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen noch
in ihren Anfängen steckt, kommen Patienten mit chroni-
13.2 · Erstkontakt
151 13
gen zur Scherzanamnese mit, der ihnen nach dem ersten
. Tab. 13.1 Psychosoziale Diagnostik in verschiedenen
Versorgungskontexten
telefonischen Kontakt zugesandt worden war. Mögliche
Eingangsfragen des Therapeuten sind in allgemeiner Form
Kontext Inhalte/Form Zeitliche gehalten: »Was führt Sie zu mir?« Oder: »Sie kommen we-
Dauer gen Ihrer Rückenschmerzen?« Aus den ersten Antworten
lässt sich erkennen, ob Rücken- oder Nackenschmerz ak-
Ärztliche – Psychosoziale Anamnese Bis zu
tuell der Hauptgrund des Kommens ist (z. B.: »Ja, ich habe
Primärver- – Screening »yellow flags« 10 min
sorgung schon so viel wegen der Schmerzen versucht …«) oder ob
unmittelbar weitere Anliegen bestehen (z. B.: »Ja, auch, ich
Multimodales – Psychosoziale Anamnese Bis zu 1 h
Assessment – Screening »yellow flags«
fühle mich in letzter Zeit sehr schlecht, bin dauernd nie-
– Vertiefendes Interview dergeschlagen, bekomme Medikamente gegen meine De-
(z. B. Verhaltensanalyse) pression, die helfen aber nicht …«).
– Psychologische Test-
verfahren

Schmerz- – Psychosoziale Anamnese 5×50 min 13.2.2 Erfragen des Überweisungsmodus


psycho- – Screening »yellow flags« im Rahmen und erste orientierende Edukation
therapie – Vertiefendes Interview der
(z. B. Verhaltensanalyse) Probatorik
– Psychologische Test- Vor Beginn weiterer Fragen auf der Sachebene (z. B.
verfahren Schildern der Schmerzen) empfiehlt es sich, kurz den
Überweisungsmodus zu erfragen (Therapeut: »Bevor wir
weiter über Ihr Anliegen sprechen, würde ich Sie gern fra-
schen Schmerzen mit vielen Fragen und zum Teil ver- gen, wer Sie zu uns geschickt hat und ungefähr mit welchen
wundert bis entsetzt zu einem Erstkontakt mit einem Worten«). Hier haben Patienten Gelegenheit, sich einer-
Psychotherapeuten. Daher empfehlen sich folgende Inter- seits auf der Sachebene zu äußern (»Mein Hausarzt hat
ventionen auf der Sach- wie auf der Beziehungsebene: mich geschickt, er könne für mich nichts mehr tun« oder
4 Reflexion der Kontaktaufnahme vonseiten des »Mein Schmerztherapeut hat mich geschickt, meine Prob-
Patienten, leme seien wohl eher psychisch«), andererseits verbal oder
4 Erfragen des Überweisungsmodus, nonverbal zu kommunizieren, was sie selbst darüber den-
4 Schmerzanamnese, ken und wie sie diese Empfehlung empfunden haben. Der
4 Erfragen des subjektiven Krankheitsmodells. Therapeut reflektiert die von ihm vermuteten Gefühle
> Bereits in der ersten orientierenden Beratung bzw.
(»Das irritiert Sie zunächst?«) und gibt dem Patienten
als Ausgangspunkt für eine weiterführende psycho-
Raum, ggf. Ängste anzusprechen (»Ich bilde mir das doch
soziale Diagnostik sollten folgende Grundan-
nicht ein?«).
nahmen verdeutlich werden:
Diese Bemerkungen geben dem Therapeuten/der
1. Körperliche Schmerzen sind, auch wenn keine
Therapeutin Gelegenheit, zunächst eine erste orientieren-
strukturellen Schädigungen gefunden werden,
de Edukation vorzunehmen. Basierend auf dem Basis-
nicht eingebildet, sondern lassen sich ganz
modell psychosozialer Faktoren beim Schmerz (7 Kap. 17)
rational erklären.
können wir grob skizzieren, welche Einflussmöglichkei-
2. Wenn psychische Faktoren die Schmerzen (mit)
ten bei Rücken- oder Nackenschmerz infrage kommen.
auslösen oder aufrechterhalten, hat dies in der
Erste orientierende Edukation bei chronischem Rücken-
Regel nichts mit krankhaften psychischen Ver-
oder Nackenschmerz
änderungen zu tun. Es sind meistens normale
»Ich möchte Ihnen kurz unseren Ansatz erläutern. Rücken-
psychologische Prozesse, die Schmerzen un-
und Nackenschmerzen kommen in erster Linie durch ein-
günstig beeinflussen können und an denen wir
seitige körperliche Belastungshaltungen zustande, die wir
etwas ändern können.
im Alltag zu lange eingenommen haben, z. B. zu langes Sitzen
oder Stehen, zu häufige Wiederholungen bestimmter körper-
13.2.1 Reflexion der Kontaktaufnahme licher Bewegungen. Diese führen zu Überlastungen von
des Patienten Muskeln, Bändern und Gelenken, auch der Bandscheiben, was
zu Schmerzen führt.
In der Regel bringen Patienten, die wegen chronischer Aber auch psychische Belastungen im Alltag können
Schmerzen eine psychotherapeutische Schmerzambulanz Muskelverspannungen und Schmerzen auslösen, wie z. B.
aufsuchen, einen bereits ausgefüllten Fragebogen mit Fra- ständige Konflikte am Arbeitsplatz oder in der Familie.
152 Kapitel 13 · Psychosoziale Diagnostik

Manchmal kommt auch beides zusammen, z. B. wenn wir Lokalisation und Qualität der Schmerzen
pflegebedürftige Angehörige versorgen, die sich auch noch Erste anamnestische Fragen gelten auch beim chronischen
in ihrer Wesensart verändert haben. Schmerz einer genaueren Beschreibung der Lokalisation
Als dritten Einflussbereich möchte ich mögliche Folgen von (inkl. Schmerzzeichnung) und Qualität der Schmerzen.
Schmerzen nennen, wenn sie nicht angemessen auf medizi- Hinzu kommen Schilderungen der Beeinträchtigungen im
nische Behandlung ansprechen: Wir können nicht mehr so Alltag sowie schmerzverstärkender (z. B. langes Stehen/
gut schlafen, sind am nächsten Tag müde und verspannt. Wir Sitzen, bestimmte Jahreszeiten, Kälte, schweres Heben),
versuchen dennoch, unsere Arbeiten zu erledigen, brauchen aber auch abschwächender Einflüsse (z. B. Wärme, Ent-
aber mehr körperliche Anspannung und Anstrengung. Dies spannung, Lesen/Ablenkung).
führt leicht zu einem Teufelskreislauf zwischen Schmerz,
Schlafstörung, vermehrte Müdigkeit, verstärkter Muskelan- Beginn und Verlauf der chronischen
spannung und verstärkten Schmerzen. Schmerzen
Nicht zuletzt spielt auch eine Rolle, wie wir im Alltag auf un- Patientinnen und Patienten mit langjährigen Schmerzen
sere Schmerzen reagieren, welche automatischen Gedanken beginnen häufig mit einem gut erinnerbaren Ereignis, z. B.
uns durch den Sinn gehen und was wir tun, um sie zu lindern. einem Unfall oder einer Operation, nach der die chroni-
Da gibt es günstige und ungünstige Reaktionen. Erkennen schen Schmerzen eingesetzt haben. Für den Beginn emp-
Sie von den Dingen, die ich genannt habe, irgendetwas fiehlt es sich, etwas detaillierter nachzufragen, z. B.: »Wie
wieder? lange hatten Sie vorher bereits Ihre Rücken-/Nacken-
Wichtig sind für uns immer 2 Aspekte: (1) Ihre Schmerzen sind schmerzen?« Und: »Haben sie ursprünglich eher plötzlich/
damit nicht eingebildet, sondern lassen sich ganz rational er- heftig oder langsam/schleichend begonnen?« Will man
klären; (2) wenn psychische Faktoren beteiligt sind, hat dies in einen Eindruck von den ersten Rücken-/Nackenschmer-
der Regel nicht mit krankhaften psychischen Veränderungen zen im Lauf des Lebens gewinnen, eignet sich die Frage:
zu tun. Es sind normale psychologische Prozesse, die »Seit wann ‚wissen‘ Sie sozusagen, dass Sie einen Rücken
Schmerzen ungünstig beeinflussen können und an denen haben?«
wir etwas ändern können.
Sollten wir Ansätze für psychosoziale Einflüsse erkennen, Vorbehandlungen
können Sie in der Regel über eine entsprechende Therapie Bei dem Gespräch über Vorbehandlungen sollte u. a. er-
eine deutliche Schmerzlinderung erreichen, ein Schmerz- fragt werden, mit welchen therapeutischen Maßnahmen
niveau, mit dem Sie gut leben können. Dass Sie schmerzfrei evtl. kurzfristig gute Erfahrungen gemacht wurden und,
13 werden, können und wollen wir nicht versprechen. Wahr- falls aktive Maßnahmen wie Physiotherapie/Sport/Geräte-
scheinlicher ist, dass Sie leichte Schmerzen immer wieder als training genannt werden, welche Erfahrungen damit ge-
Signal dafür erleben werden, Ihren neu erlernten Umgang sammelt wurden. Falls diese abgebrochen wurden, sollten
mit Schmerz aufzufrischen. erste vorsichtige Fragen zu klären versuchen, was zu dem
Abbruch geführt haben könnte. Kommunikation und
Fragestil sollten dabei deutlich signalisieren, dass es nicht
13.2.3 Schmerzanamnese um Schuldzuschreibungen geht, sondern dass die Fragen
des Therapeuten die Patienten dazu anregen sollen,
Auch während der Probatorik zu einer möglichen sich selbst entsprechende Fragen zu stellen, sich und mög-
Schmerzpsychotherapie empfiehlt es sich, das persönliche liche Beweggründe eher neugierig und interessiert zu
Gespräch mit anamnestischen Fragen zur Schmerzproble- beobachten.
matik und ihrem zeitlichen Verlauf von Beginn bis zur > Bei »Misserfolgen« in der aktiven Therapie sollten
Gegenwart (zumindest in groben Zügen) zu beginnen. Kommunikation und Fragestil des Therapeuten/der
Dabei können wir den Patientinnen und Patienten zeigen, Therapeutin deutlich signalisieren, dass es nicht
dass wir einerseits die Schmerzen selbst ernst nehmen und um Schuldzuschreibungen geht, sondern dass die
an einer Klärung interessiert sind, dass wir andererseits Fragen die Patientin/den Patienten dazu anregen
aber auch das persönliche »In-Kontakt-Kommen« zum sollen, sich selbst entsprechende Fragen zu stellen,
Aufbau einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung ernst sich und mögliche Beweggründe eher neugierig
nehmen. Haben die Patienten eine bereits ausgefüllte und interessiert zu beobachten.
Schmerzanamnese mitgebracht, können wir uns wie folgt
erklären: »Ich habe mir Ihre Angaben schon einmal an-
gesehen. Ich würde dennoch gern selbst noch einmal Kurze biografische Anamnese
Ihre Geschichte direkt hören, da ich mir so besser ein Bild Im Rahmen der Anamnese (z. B. im Erstgespräch) können
machen kann.« erste biografische Faktoren im Sinne einer groben Schilde-
13.2 · Erstkontakt
153 13
Auf welche Ursachen führen Sie Ihre Schmerzen zurück?

Körperliche Ursachen:
0–––––––––––––––––––1–––––––––––––––––––2–––––––––––––––––––3
gar nicht teils überwiegend ausschließlich

Seelische Ursachen:
0–––––––––––––––––––1–––––––––––––––––––2–––––––––––––––––––3
gar nicht teils überwiegend ausschließlich

. Abb. 13.1 Standardisierte Erfassung expliziter Ursachenattribution

. Tab. 13.2 Bedeutsame Dimensionen laienhafter Krankheitsmodelle

Primärer Fokus Dimensionen Beispiele

Verursachung – Körperlich vs. psychosozial – Schlechtes Bindegewebe geerbt (körperlich, internal, stabil, spezifisch)
– Internal vs. external – Keine guten Gene (körperlich, internal, stabil, global)
– Stabil vs. variabel – Habe mich zu wenig bewegt (körperlich/psychisch, internal, variabel, spezifisch)
– Global vs. spezifisch – Habe mir zu viel Stress zugemutet (psychisch, internal, variabel, spezifisch)

Beeinfluss- – Körperlich vs. psychosozial – Schlechte Gene sind Schicksal, da kann man nichts machen
barkeit – Internal (external-fatalistisch)
– »External-powerful-others« – Mein Arzt muss mir die richtigen Übungen verordnen (»external-
– External-fatalistisch powerful-others«)
– Ich muss regelmäßig üben (internal)

rung von Kindheit und Jugend sowie beruflichem und pri- oder seelischen Ursachen der Patient/die Patientin denkt.
vatem Weg im Erwachsenenalter angesprochen werden – Die inhaltlichen Nennungen der Patienten können vom
dies mit speziellem Augenmerk auf ggf. kritische positive Therapeuten hinsichtlich der Ursachenattribution einge-
wie negative Lebensereignisse (Hochzeit, Geburt der Kinder, schätzt werden (. Tab. 13.2). Erfahren wir, dass ein Patient
Tod der Eltern, Scheidung, beruflicher Misserfolg), die mög- primär an den Einfluss schlechter Gene glaubt, wissen wir,
licherweise in einem zeitlichen Zusammenhang mit Exazer- dass die weitere Aufklärungsarbeit vor allem die veränder-
bationen der Schmerzerkrankung stehen können. lichen Aspekte der Beschwerden betonen muss. Optimale
Voraussetzungen bei Rücken- und Nackenschmerz sind
Ursachenattributionen, die teils körperliche, teils psycho-
13.2.4 Erstes Erfragen des subjektiven soziale Aspekte beinhalten, die darüber hinaus in der Ver-
Krankheitsmodells ursachung »internal und variabel« und hinsichtlich der
Kontrollattribution eine Kombination von »internal« und
Bereits im Erstkontakt empfiehlt es sich, Aspekte des sub- »external-powerful-others« aufweisen, d. h., das Vertrauen
jektiven Krankheitsmodells des Patienten/der Patientin zu in den Arzt bei gleichzeitigen eigenen Einflussmöglich-
erfassen. In . Abb. 13.1 finden sich bedeutsame Dimen- keiten betonen.
sionen laienhafter Krankheitsvorstellungen im Überblick. Zur standardisierten Erfassung medizinischer vs. psy-
Als erste Annäherung eignet sich die standardisierte Er- chosozialer Kausalattributionen kann als Fragebogenver-
fassung expliziter, d. h. der bewussten Wahrnehmung fahren der KAUKON (Verfahren zur Erfassung der »Kausal-
zugänglicher Aspekte. Im Kontext von Rücken-und und Kontrollattribution«) [31] herangezogen werden.
Nackenschmerz geht es hier um die Frage, inwieweit Be-
troffene glauben, dass ihre Beschwerden körperlich und/
oder psychisch verursacht sind. Eine solche Einschätzung 13.2.5 Vorbereitung für den zweiten Kontakt
kann über numerische Ratingskalen bereits während einer (Schmerztagebuch)
standardisierten Schmerzanamnese erhoben werden
(. Abb. 13.1). Basierend auf diesen Angaben der Patienten Ein Schmerztagebuch, in dem über den Zeitraum von
ist es leicht, diese unmittelbar »abzuholen«. einer Woche stündlich Angaben gemacht werden, z. B.
Ergänzen können wir die Angaben während der Ana- Schmerzintensität, die Einnahme eines Medikaments, kur-
mnese durch die offene Frage, an welche körperlichen und/ ze Nennung der aktuellen Situation (Büroarbeit, Sprechen
154 Kapitel 13 · Psychosoziale Diagnostik

Name:

Datum: Datum:
Uhr- Medika- Schmerz Uhr- Medika- Schmerz
Situation/Tätigkeit im Augenblick Situation/Tätigkeit im Augenblick
zeit: mente 0–10 zeit: mente 0–10
1h 1h
2h 2h
3h 3h
4h 4h
5h 5h
6h 6h
7h 7h
8h 8h
9h 9h
10h 10h
11h 11h
12h 12h
13h 13h
14h 14h
15h 15h
16h 16h
17h 17h
18h 18h
19h 19h
20h 20h
21h 21h
22h 22h
23h 23h
24h 24h

. Abb. 13.2 Schmerztagebuch stündlich

mit Chef, Staubsaugen, Fernsehen), gibt einen ersten Ein- Arbeitsbeziehung behindern. Andererseits ist es wichtig,
13 blick in die Varianzbreite der Schmerzproblematik sowie diese Phase empathisch und dennoch konsequent und
in die mögliche Abhängigkeit von spezifischen Stresssitu- deutlich zu begrenzen und den Patienten auf die in der
ationen (s. Beispiel in . Abb. 13.2). Es ist wichtig, bei der Diagnostik anstehenden Schritte zu verweisen.
Vergabe dieses Schmerztagebuchs deutlich zu machen, Konzentrieren sich die Schilderungen der Patienten auf
dass die stündliche Eintragung immer unmittelbar zur je- ihre Schmerzen, gibt dies Gelegenheit, das Schmerztage-
weiligen Stunde gemacht wird, nie aus der Erinnerung. buch anzusprechen. Dominieren die Erzählungen über
Sollten Eintragungen vergessen werden, sollen die Felder Geschehnisse im psychosozialen Bereich, sollten wir auf
frei bleiben. den nächsten Schritt in der Diagnostik verweisen, bei dem
wir uns ganz auf mögliche Belastungen im beruflichen
und/oder privaten Alltag konzentrieren. Bereits in der
13.3 Erster Folgekontakt psychosozialen Diagnostik ist es wichtig, die Patienten mit
einer gewissen Strukturierung vertraut zu machen, die
13.3.1 Einleiten der Folgekontakte auch später, im Laufe einer möglichen Schmerzpsycho-
therapie, ein wesentlicher Baustein sein wird.
Leitet man die Folgekontakte mit einer offenen Eingangs-
frage ein (»Wie geht es Ihnen, wie war die letzte Woche?«),
gibt dies die Möglichkeit, nicht nur das aktuelle Befinden 13.3.2 Besprechen des Schmerztagebuchs
des Patienten/der Patientin zu erfahren, sondern auch
einen Eindruck davon zu bekommen, wo der-/diejenige Explorieren der Erfahrungen mit dem
steht. Einige Patienten beginnen mit einem Schwall von Schmerztagebuch
Erzählungen über kritische psychosoziale Ereignisse in Für das Schmerztagebuch gilt wie für alle »Hausaufgaben«,
Familie, Beruf o. Ä., andere mit einem ausführlichen Be- die man im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie
richt ihrer zumeist wechselvollen Schmerzen. Würden wir vergibt, dass man es in der Folgestunde unmittelbar an-
dies ganz unterbinden, würde es den Aufbau einer guten spricht. Um einerseits die Selbstbeobachtung der Patien-
13.3 · Erster Folgekontakt
155 13
ten, andererseits aber auch die Arbeitsbeziehung zu för- hen. Diese können dann zunächst mit kurzen Erläuterun-
dern, empfiehlt es sich, mit entsprechenden einleitenden gen in das Basismodell, das eingangs vermittelt wurde,
Fragen zu beginnen. Diese sollten niemals darauf abzielen, eingebunden werden.
zu erfahren, ob der Patient/die Patientin das Schmerztage- Haben sich die Patienten ihr Tagebuch noch nicht
buch erfolgreich geführt hat, da wir Betroffene, die evtl. angesehen, kann dies entweder in der Stunde selbst ge-
Schwierigkeiten mit der Aufgabe hatten, in einen Recht- meinsam gemacht werden oder die Therapeutin verweist
fertigungsdruck bringen. auf die nächste Stunde mit dem Hinweis, es sich erst selbst
bis dahin anzusehen. Dies sollte dann möglichst auch
Tipp für die Beziehungsgestaltung eingehalten werden.

Um die Selbstbeobachtung, aber auch die persönliche


Beziehung zwischen Therapeut und Patient zu för-
13.3.3 Analyse der Schmerzverarbeitung:
dern, empfehlen sich Überleitungen wie folgt:
multidimensionale Aspekte
»Ich habe Ihnen letzte Woche ein Schmerztagebuch
mit nach Hause gegeben. Unabhängig davon, ob Sie
Ungünstige Formen der individuellen Schmerzverarbei-
es ausgefüllt haben, würde ich zunächst gern wissen,
tung im Alltag umfassen nach den in 7 Kap. 17 dargestell-
wie es Ihnen überhaupt mit dieser Aufgabe gegangen
ten biopsychosozialen Krankheitsmodellen
ist. Was haben Sie bei sich beobachtet? Haben Sie es
1. die Art des Umgangs mit körperlichen, psychischen
ganz gern oder nicht so gern gemacht?«
oder mentalen Anforderungen, wenn gleichzeitig
Schmerzen auftreten, und
Viele Patienten scheuen zunächst das Ausfüllen eines 2. die Art der Schmerzkommunikation.
stündlichen Tagebuchs, da sie es im Alltag vorziehen, sich
von den Schmerzen abzulenken, zumindest, bis »es nicht Um ein möglichst objektives und zuverlässiges Bild indivi-
mehr geht«. Es ist wichtig, dass wir diese Probleme ken- dueller Schmerzverarbeitungsformen zu gewinnen, soll-
nenlernen, da wir so bereits erste Hinweise auf günstige ten standardisierte Fragebogenverfahren herangezogen
oder ungünstige Formen der Schmerzverarbeitung be- werden. Diese können dann durch das Gespräch wie durch
kommen. Für die Beziehungsgestaltung ergibt sich die vertiefende Interviews ergänzt werden.
Möglichkeit zu weiteren Erläuterungen: »Wenn Sie es
gewohnt sind, sich weitestgehend von Ihren Schmerzen Zu Punkt 1 Nach dem Avoidance-endurance-Modell
im Alltag abzulenken, verstehe ich, dass Sie das Tagebuch (AEM) der Schmerzverarbeitung gelten sowohl ängstlich-
ungern (oder nicht) ausgefüllt haben. Für unsere Diagnos- meidende Formen als auch suppressive Formen der
tik ist es jedoch sehr wichtig, einmal einen direkten Ein- Schmerzverarbeitung als ungünstig. Sie haben sich als
druck Ihrer Schmerzprobleme im Alltag zu gewinnen. Prädiktoren für die Aufrechterhaltung sowohl von radi-
Können Sie sich vorstellen, dass Sie dieses Tagebuch bis kulären als auch von nichtspezifischen lumbalen Rücken-
zur nächsten Stunde noch einmal mitnehmen, evtl. nur an schmerzen Schmerzen [14, 17, 21] sowie von Nacken-
2–3 Tagen ausfüllen?« schmerzen gezeigt [5].
Eine in dieser Weise interessierte und akzeptierende
Haltung des Therapeuten, die, basierend auf einer Be- Zu Punkt 2 Hinsichtlich der Schmerzkommunikation ist
gründung, in der Aufforderung konsequent bleibt, ist un- seit Fordyce [9] akzeptiert, dass vor allem nichtverbale
serer Erfahrung nach keine Garantie dafür, dass Patienten Schmerzäußerungen, wie z. B. das Stöhnen, die schmerz-
das Tagebuch beim nächsten Mal gut oder besser ausge- verzerrte Mimik, der humpelnde Gang oder das demons-
füllt mitbringen. Diese Haltung erhöht jedoch deutlich trative Einnehmen von Medikamenten, die Aufrechter-
die Wahrscheinlichkeit einer konstruktiven Mitarbeit der haltung der Schmerzproblematik fördern. Wenn Ange-
Patienten. hörige, Freunde oder Kollegen sich angewöhnen, vor allem
bei solchen Schmerzäußerungen z. B. Hilfe und Unter-
Analyse der Tagebuchinhalte stützung im Alltag anzubieten, wollen sie helfen und ent-
Eine erste Frage kann sein: »Haben Sie sich vor unserem lasten. Sie nehmen dabei nicht wahr, dass sie operante
Termin heute selbst einmal Ihre Eintragungen angesehen? Lernprozesse im Sinne der positiven oder negativen Ver-
Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?« stärkung realisieren, die zu einer Stabilisierung von
Möglich ist, dass Patienten selbst bereits Zusammen- Schmerzverhaltensweisen führen, die sich verselbständi-
hänge zwischen bestimmten Situationen (»3 Stunden gen können.
Gartenarbeit« oder »Kaffeebesuch bei der Schwiegermut- Diese Prozesse setzen umso eher ein, je weniger ein
ter«) und einem – meist verzögerten – Schmerzanstieg se- Patient in der Lage ist, direkt und ohne Bezug zu den
156 Kapitel 13 · Psychosoziale Diagnostik

Schmerzen um Hilfe und Unterstützung zu bitten. Pros- 13.3.4 Analyse der Schmerzverarbeitung:
pektive Studien deuten an, dass mit der Fähigkeit oder Be- monodimensional
reitschaft, direkt, d. h. verbal, um Hilfe und Unterstützung
bei alltäglichen Aufgaben zu bitten, seltener Chronifizie- Zur Erfassung monodimensionaler Aspekte der Schmerz-
rungen stattfinden [14, 17]. verarbeitung liegt eine Reihe internationaler Fragebogen-
Sowohl ungünstige Formen des schmerzbezogenen verfahren vor, die bisher zum Teil ins Deutsche übertragen
Umgangs mit alltäglichen Anforderungen (ängstlich-mei- und validiert wurden. Sie können zu einem vertieften Bild
dend oder suppressiv) als auch die Schmerzkommunikation auffälliger Merkmale der Schmerzverarbeitung herange-
können zuverlässig und valide mit dem Kieler Schmerz- zogen werden. Kennzeichnend ist bisher für alle Instru-
inventar (KSI) [15] erfasst werden. Das KSI umfasst 3 Fra- mente, dass sie im Deutschen noch nicht für die Individu-
gebogenteile zur Erfassung emotionaler (3 Subskalen, aldiagnostik validiert wurden. Es existieren also noch
15 Items), kognitiver (7 Skalen, 34 Items) und behavioraler keine Normen zur Bestimmung von Grenzwerten, die
Reaktionen (8 Subskalen, 68 Items) auf Schmerzen. Eine festlegen, ab wann ein entsprechendes Merkmal als auffäl-
Kurzform zur Erfassung des schmerzbezogenen Umgangs lig zu bezeichnen ist. Allerdings existieren im englisch-
mit alltäglichen Anforderungen und der Differenzierung sprachigen Raum zahlreiche Studien, die für eine erste
ängstlich- meidender und suppressiver Schmerzverarbei- Orientierung Vergleichswerte an Stichproben mit unter-
tung existiert mit dem Avoidance-Endurance Question- schiedlichen Schmerzsyndromen liefern. Gemeinsam ist
naire (AEQ) [20]), der insgesamt 49 Items umfasst. diesen Instrumenten, dass sie schwerpunktmäßig kogni-
Unterlagen für eine Normierung, d. h. für die Bestim- tiv-affektive Aspekte der Schmerzverarbeitung erfassen.
mung der Abweichung individueller Werte von einer Pati- So dient der Fear-Avoidance Beliefs Questionnaire
entengruppe mit günstiger, adaptiver Schmerzverarbeitung (FABQ) [41] der Erfassung von Überzeugungshaltungen,
anhand von Stanine-Normen, liegen vor und können von die besagen, dass körperliche Aktivität oder die Arbeits-
der Autorin dieses Beitrags bezogen werden (. Abb. 13.3). situation Schmerzen verstärken bzw. dass eine Rückkehr
Weitere günstige Formen der Schmerzverarbeitung wie an den Arbeitsplatz nicht zu erwarten ist.
z. B. »Ruhe- und Entspannungstechniken«, »kognitive
Umstrukturierung«, »Kompetenzerleben« und »Hand- Katastrophisieren Katastrophisieren beschreibt in einem
lungsplanung« können standardisiert mit dem Frage- engeren Sinne die Überbewertung von Schmerzen als An-
bogen zur Erfassung der Schmerzverarbeitung (FESV) zeichen sehr bedrohlicher körperlicher Veränderungen/
[12] erfasst werden. Sie werden vor allem in kognitiv- Verletzungen – im Sinne der Theorie von Lazarus [32] eine
13 verhaltenstherapeutischen Interventionen thematisiert. unrealistische Bewertung von Schmerzen als einem Stimu-
Günstige Strategien, die vor allem in der Akzeptanz- und lus. In einem weiteren Sinne umfassen einige Konzepte
Commitment-Therapie (ACT) eingesetzt und gefördert auch Kognitionen der Hilfs- und Hoffnungslosigkeit, die
werden, können standardisiert mit dem Chronic Pain sich auf fehlende Handlungsmöglichkeiten konzentrieren
Acceptance Questionnaire (CPAQ) [38, 40] aufgenommen oder ganz allgemein auf das Grübeln. Die international
werden. Der CPAQ erfasst mit der Skala »Activity Engan- sehr gebräuchliche Pain Catastrophizing Scale (PCS) [47]
gement« die Bereitschaft, ungeachtet der Schmerzen wich- erfasst die letztere, weiter gefasste Komponente mit den
tige Lebensziele weiterzuverfolgen, mit der Skala »Pain 3 Subskalen »magnification« (Stimulusüberbewertung),
Willingness« die Überzeugung, dass Schmerzen angenom- »help/hopelessness« und »rumination«. Im KSI und auch
men werden sollten, dass sowohl Kontrolle als auch Ver- im AEQ gibt es die Skalen »Katastrophisieren« (im engeren
meidung von Schmerzen nicht möglich sind. Sinne) sowie »Hilf-/Hoffnungslosigkeit«. Mischformen
Während der Probatorik zu einer Schmerzpsycho- finden sich in der deutschsprachigen Fragebogenversion
therapie werden multidimensionale Aspekte der Schmerz- zur Erfassung schmerzbezogener Selbstinstruktionen
verarbeitung auch über das verhaltensanalytische Inter- (FSS) [8].
view, speziell mit dem Verfahren der Situationsanalyse,
dokumentiert. Die Patienten werden gebeten, eine Situati- Schmerzbezogene Angst – PASS Die affektiven Kompo-
on zu nennen, die (1) möglichst typisch für einen nenten der schmerzbezogenen Angst können vertieft mit
Schmerzanstieg im Alltag ist und (2) an die sie sich noch der Pain Anxiety Symptom Scale (PASS) [37, 30] ein-
lebhaft erinnern. Anhand einer solchen typischen Alltags- geschätzt werden, spezifische Furcht vor körperlichen
situation werden in offener Fragestellung automatische Bewegungen, die Schmerzen verursachen könnten, mit
Kognitionen, emotionale Reaktionen in dem Augenblick der Tampa Scale for Kinesiophobia TSK [44]. Für die
des Schmerzanstiegs sowie die konkreten Verhaltens- TSK existieren, zumindest in einigen europäischen und
weisen erfragt, mit denen der/die Betreffende auf den nordamerikanischen Ländern, erste Normierungen [43],
Schmerzanstieg reagiert hat. für den deutschsprachigen Raum steht dies noch aus.
13.3 · Erster Folgekontakt
157 13

Hoch-Risiko-Gruppe »depressiv-suppressive Schmerzverarbeitung«

geringe deutlich erhöhte


Stanine-Wert
Ausprägung Ausprägung
Summen-Rohwert/
Skalen-Rohwert* 1 2 3 4 5 6 7 8 9
54%
15 BDI Depressivität • • • • • • • • •

KSI-ERSS
3 1 Angst/Depressivität • • • • • • • • •
2,8 2 Gereizte Stimmung • • • • • • • • •
1,8 3 Gehobene Stimmung • • • • • • • • •

KSI-KRSS
4,2 1 Hilf-/Hoffnungslosigkeit • • • • • • • • •
3,5 2 Behinderung • • • • • • • • •
2,6 3 Katastrophisieren • • • • • • • • •
5,4 4 Durchhalteappell • • • • • • • • •
4,2 5 Coping-Signal • • • • • • • • •
1,2 6 Bagatellisieren • • • • • • • • •
0,9 7 Psychische Kausalattribution • • • • • • • • •

KSI-CRSS**
4,5 1 Vermeiden sozialer Aktivitäten • • • • • • • • •
5,0 2 Vermeiden körperlicher Aktivitäten • • • • • • • • •
3,1 3 Durchhaltestrategien • • • • • • • • •
5,2 4 Nichtverbal/motorischer Ausdruck • • • • • • • • •
0,8 5 Bitte um soziale Unterstützung • • • • • • • • •
1,5 6 Entspannungsfördernde Ablenkung • • • • • • • • •
2,5 7 Passive Maßnahmen • • • • • • • • •
2 8 Aktive Maßnahmen • • • • • • • • •

KSS-BELRES
2,0 Belastungen im Alltag • • • • • • • • •
* Für KSI- und KISS-Skalen itemstandardisierte Summenscores (Summenrohwert, dividiert durch Anzahl der Items pro Skala)
** CRSS-Skalen nur für die Antwortskala »starke Schmerzen«

Kurz-Screening (anhand der Skalen-Rohwerte)

Zuordnung des Patienten zu einer von 3 Hochrisikogruppen (1–3) bzw. einer Niedrig-Risiko-Gruppe (4)
(KSI-Skalenrohwert »starke Schmerzen«):

1. Depressiv-suppressive Schmerzverarbeitung BDI ≥ 9 und KSI-KRSS Skala 4 ≥ 3.0 [ x ]


oder KSI-CRSS Skala 3 ≥ 3.0
2. Depressiv-vermeidende Schmerzverarbeitung BDI ≥ 9 und KSI-KRSS Skala 4 < 3.0 [ ]
und KSI-CRSS Skala 3 < 3.0
3. Betont heiter-suppressive Schmerzverarbeitung BDI < 9 und KSI-CRSS Skala 3 ≥ 3.5 [ ]

4. Niedrig-Risiko BDI < 9 und KSI-CRSS Skala 3 < 3.5 [ ]

. Abb. 13.3 Beispielprofil zur Schmerzverarbeitung nach dem Avoidance-endurance-Modell

13.3.5 Aktuelles Stressniveau und sozialen Krankheitsmodellen (7 Kap. 17) und in der Achse
Stressverarbeitung 5 der MASK-P dargestellt, an der Auslösung und/oder
Verstärkung und damit Aufrechterhaltung von Rücken-/
Dauerhafte psychosoziale Belastungen Nackenschmerzen beteiligt sein. Eine standardisierte
im Alltag Erfassung des subjektiv erlebten Belastungsniveaus ist
Dauerhafte psychosoziale Belastungen im privaten und/ über Fragebogenverfahren (z. B. Trierer Inventar zum
oder beruflichen Alltag können, wie in den biopsycho- chronischen Stress, TICS [46]) oder über standardisierte
158 Kapitel 13 · Psychosoziale Diagnostik

Interviews möglich (z. B. Belastungen/Ressourcen im psychotherapie wird die Langform empfohlen, die Kurz-
Kieler Interview zur subjektiven Situation, KISS-BelRes form eignet sich für Forschungszwecke sowie für ein erstes
[19]). Das TICS erfasst chronische Stressoren in verschie- Screening.
denen Lebensbereichen über 12 Items. Reliabilität und
Validität wurden vielfach belegt [u. a. 42]. Individuelle Stressverarbeitung
Das KISS-BelRes ist ein semistrukturiertes Interview, in Zu zeitlich überdauernden Stressoren kann es einerseits
dem 15 verschiedene Lebensbereiche aus dem beruflichen durch objektive Situationsgegebenheiten kommen (z. B.
und privaten Alltag in einem ersten Schritt eingeschätzt Pflege eines Angehörigen über Monate bis Jahre, immer
werden, und zwar hinsichtlich des subjektiven Erlebens in wiederkehrende Bedrohung des Arbeitsplatzes), die dann
den zurückliegenden 6 Monaten als »wohltuend/stärkend« erhöhte Anforderungen an die individuelle Stressverar-
und/oder »belastend« (7-stufige numerische Selbstrating- beitung stellen. Andererseits können kognitiv-affektive
skalen, s. auch . Abb. 13.4). Es ist dabei möglich, einen und/oder behaviorale Mechanismen einer ungünstigen
Bereich, z. B. die Beziehung zum Ehepartner, sowohl als Stressverarbeitung an der Aufrechterhaltung chronischer
wohltuend/stärkend einzuschätzen, gleichzeitig aber auch Stresssituationen beteiligt sein. Ungünstige Formen der
als belastend (z. B. wenn der Partner/die Partnerin krank Stressverarbeitung werden im Rahmen von MASK-P auf
ist, pflegebedürftig). Die Möglichkeit, positive Ein- Achse 6 kodiert. 8 Ziffern stehen hier zur Verfügung, bei
schätzungen anzugeben, kommt vielen Patienten entgegen, denen die ersten 3 übermäßig ängstlich-meidende, resi-
gerade wenn sie Lebensbereiche als konflikthaft erleben. In gnativ- rückzugsbetonte oder ärgerbetonte Formen des
einem offenen Interviewteil werden dann einzelne Berei- Umgangs mit Alltagsstressoren beschreiben. 2 Ziffern um-
che (bei Bedarf auch alle) inhaltlich nach stärkenden und fassen mangelnde Wahrnehmung oder Bagatellisierung
belastenden Momenten erfragt. Erfahrungsgemäß spre- sowie einseitige und übermäßige körperliche Ablenkung
chen zahlreiche Patienten erst dann Belastungen an, z. B. als kognitive und behaviorale Formen, die verhindern,
mit dem Vorgesetzten oder Familienangehörigen, wenn dass es zu konstruktiven Lösungsansätzen kommen kann.
sie zunächst die positiven Seiten der Beziehung darstellen Die übrigen 3 Ziffern kodieren mangelnde Entspan-
konnten. Das Sprechen über belastende Momente löst nungsfähigkeit, ungünstige Formen der Emotionsregu-
nicht selten ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle lierung sowie mangelnde soziale Kompetenz; diese sind
aus (»Ich habe noch nie so kritisch über meinen Partner/ bei Patienten mit Rücken- oder Nackenschmerz häufig
meine Partnerin gesprochen«; »Sie denken doch jetzt nicht, auf Situationen bezogen, in denen es um die Kommunika-
dass ich meine Frau nicht liebe?«), die so abgemildert tion eigener Wünsche und Bedürfnisse bzw. um das Ein-
13 werden. treten für das eigene Recht geht.
In der Langform (KISS-BelRes-LF) folgen für jeden Während der Probatorik zu einer Schmerzpsycho-
Lebensbereich die Fragen, wie lange die jeweilige Belastung therapie können ungünstige Formen der Stressverarbei-
über den 6-Monats-Zeitraum hinaus besteht (zeitliche tung ebenfalls über das verhaltensanalytische Interview
Dauer), ob Belastungen Folge kritischer Lebensereignisse erhoben werden, wie oben zur Schmerzverarbeitung
sind und wann sich diese ereignet haben (»life events«). beschrieben. Hat man ein Interview wie z. B. das KISS-
Hiermit können einige Ziffern von Achse 6 der MASK-P BelRes vorangeschaltet und einen Eindruck von aktuell
(Traumata/Belastungen in der Lebensgeschichte) erhoben belastenden Lebensbereichen gewonnen, kann sich die
werden. Eine weitere Einschätzung dient der Beurteilung Analyse der Stressverarbeitung in Form konkreter Situa-
der Frage, ob Betroffene eine Belastung als Ursache tionsanalysen unmittelbar anschließen. Wichtig ist auch
oder Folge der Schmerzen ansehen, und erfragt darüber hier, dass die zu besprechenden Situationen (1) mög-
hinaus, was in den Augen der Betroffenen zu einer Ände- lichst typisch sind für einen Problembereich und dass sie
rung/Reduktion der Belastung beitragen könnte. Hiermit (2) möglichst lebendig noch erinnerlich sind. Solche
kann zum einen ein Eindruck von möglichen Ressourcen Situationen (z. B. »Gestern Nachmittag, als mein Chef
bzw. späteren Therapiezielen gewonnen werden (z. B. »Ich mich ins sein Büro bat …«) können analysiert werden
müsste es schaffen, mich häufiger gegen meinen Chef zu hinsichtlich impliziter, automatisch ablaufender Kognitio-
verteidigen«), zum anderen kann auch deutlich werden, nen, emotionaler Reaktionen, Formen der Emotions-
wenn Patienten stereotyp jede Art von Belastung als Folge regulierung, des allgemeinen Handlungsspielraums sowie
der Schmerzen ansehen und eine Lösung ausschließlich hinsichtlich konkret gezeigter Verhaltensweisen (mög-
von einer wirksamen Schmerztherapie erwarten. liche Therapeutenäußerung: »Ich würde gern in eine
In der Kurzform (KISS-BelRes-SR) wird primär mit typische Situation aus Ihrem Alltag sozusagen wie ‚mit
Selbstratings gearbeitet, die offenen Gesprächsanteile dem Mikroskop‘ hineinschauen«); dabei wiederum wird
können entfallen oder sind stark gekürzt. Für die Individu- die Selbstbeobachtung des Patienten/der Patientin an-
aldiagnostik während der Probatorik zu einer Schmerz- geregt. Mögliche auslösende (klassisch konditionierte
13.3 · Erster Folgekontakt
159 13

Verhältnis zu
dem/der Vorgesetzten

Die Situation in diesem Bereich war für mich in den letzten 6 Monaten …

gar nicht sehr


wohltuend/ 0 –––––––– 1 –––––––– 2 –––––––– 3 –––––––– 4 –––––––– 5 –––––––– 6 wohltuend/
stärkend stärkend

gar nicht sehr


0 –––––––– 1 –––––––– 2 –––––––– 3 –––––––– 4 –––––––– 5 –––––––– 6
belastend belastend

Wohltuend war:

Belastend war:

Seit wann besteht diese Belastung schon?

Geht sie auf ein bestimmtes Lebensereignis zurück? nein ja, nämlich:

Hängt die Belastung mit Ihrer Krankheit zusammen?


nein ja, Belastung ist Folge ja, Belastund ist Ursache

Ist für Sie ein Ende der Belastung abzusehen? nein ja

Bei »ja«: Wie lange, denken Sie, wird die Belastung noch andauern?

Welche Lösungsmöglichkeiten sehen Sie für diese Situation?

. Abb. 13.4 Interviewleitfaden BelRes: Belastungen und Ressourcen im Alltag – Beispielblatt


160 Kapitel 13 · Psychosoziale Diagnostik

Stimuli wie z. B. eine sehr fordernde Stimme des Chefs) Nackenschmerzen bei, sondern auch schmerzunab-
und aufrechterhaltende Faktoren (operante Verstärkungs- hängige Auffälligkeiten in Angst und Depressivität, die
prozesse wie z. B. die Reduktion von Angst, wenn eigene anhand von generischen Fragebogenverfahren mit wenig
Gefühle von Wut dem Chef gegenüber unterdrückt Aufwand und reliabel erfasst werden können. Verstärkte
werden) sowie ein möglicher Zusammenhang mit einer depressive Stimmungslagen, die noch nicht die Kriterien
Verstärkung von Muskelverspannung oder Schmerzen einer depressiven Störung erfüllen, sind seit Langem
komplettieren das verhaltensanalytische Vorgehen. In der als Risikofaktoren für die Aufrechterhaltung und Chroni-
gemeinsamen Besprechung und Erläuterung ungünstiger fizierung von Rückenschmerzen bekannt (7 Kap. 6,
Formen der Stressverarbeitung können auch Patienten eine »Risikofaktoren und psychobiologische Mechanismen der
erste Ahnung von möglichen Zusammenhängen zwischen Chronifizierung«). Häufig gebräuchliche Fragebogenver-
Stress, Stressverarbeitung und Schmerz bekommen, die fahren sind das 21 Items umfassende Beck-Depressions-
ursprünglich mit einem rein somatischen Krankheits- Inventar BDI [22] oder die Depressionsskala der HADS
modell in die Beratung kamen. Ein komplettes verhaltens- (Hospital Anxiety and Depression Scale) [25]. Für das
analytisches Interview kann bis zu 50 min in Anspruch 21-Item-BDI bilden Summenwerte zwischen 10 und
nehmen, eine darin enthaltene detaillierte Situations- 18 eine milde Depressivität ab und weisen auf ein erhöhtes
analyse bis zu 30 min. Risiko einer Chronifizierung hin. Das BDI liegt darüber
Ungünstige Formen der Stressverarbeitung können hinaus in einer 7-Item-Version für die primärärztliche
alternativ mit einer Reihe von Fragebogenverfahren Versorgung vor. Erhöhte allgemeine Angstwerte sind da-
erfasst werden (z. B. [7]), allerdings bietet das verhaltens- gegen im Chronifizierungsprozess weniger untersucht
analytische Vorgehen den Vorteil, dass einmal so detailliert und bestätigt worden. Die Arbeitsgruppe um Gordon
besprochene Situationen einen sehr guten Einstieg in Asmundson konnte zeigen, dass eine allgemeine Erhöhung
eventuelle spätere Therapiemodule bieten, an die immer von Angstsensitivität die Wahrscheinlichkeit von Schmerz-
wieder angeknüpft werden kann. Sie bleiben den Patienten angst, Katastrophisieren und Vermeidungsverhalten be-
in der Regel außerordentlich gut in Erinnerung. wirkt [1].

13.3.6 Habituelle Personenmerkmale 13.3.8 Komorbide psychische Störungen

Auffälligkeiten in der individuellen Schmerz- und Stress- Psychische Störungen von Krankheitswert können un-
13 verarbeitung können durch zahlreiche habituelle Perso- abhängig von einer Schmerzerkrankung vorliegen und/
nenmerkmale und spezifische, zeitlich überdauernde oder sich als Folge lang anhaltender, auf medizinische
Konfliktverarbeitungsstile begründet und aufrechterhal- Maßnahmen nicht oder nicht ausreichend ansprechende
ten werden. Hierzu zählen u. a. die in Achse 7 von chronische Schmerzen entwickeln. Im Rahmen einer
MASK-P kodierten Merkmale der habituellen Selbstüber- Diagnostik psychosozialer Faktoren bei chronischen
forderung bei exzessivem Leistungsanspruch, Selbst- Schmerzen dienen Fragebogenverfahren wie die oben
wertdefizite, starre Norm- und Wertvorstellungen, man- genannten BDI oder HADS einem ersten Screening mög-
gelnde Introspektions- und Interozeptionsfähigkeit, ein licher psychopathologischer Komorbiditäten. Dies kann
gewisses Maß an Abhängigkeitsverhalten sowie spezifi- ergänzt werden durch Selbstbeurteilungsinstrumente wie
sche psychophysische Reaktionsstereotypien. Unter den die SCL-90-R, die eine Aussage über das mögliche Vor-
Konfliktverarbeitungsstilen (s. Achse 10, MASK-P) liegen einer psychopathologischen Gesamtbelastung er-
können u. a. Auffälligkeiten im Sinne narzisstischer, de- laubt [10], sowie durch strukturierte Interviewverfahren
pressiver, zwanghafter oder histrionischer Verarbeitungs- wie das diagnostische Kurz-Interview bei psychischen
stile kodiert werden. Das Vorliegen eines oder mehrerer Störungen (Mini-DIPS) [36]. Mit Letzterem ist über eine
der genannten habituellen Merkmale führt mit hoher psychopathologische Gesamtbelastung hinaus abschätzbar,
Wahrscheinlichkeit zu einer verlängerten Dauer einer ob eine spezifische, nach DSM-IV oder ICD-10 zu klassi-
Schmerzpsychotherapie. fizierende Störung wahrscheinlich ist, z. B. eine Angst-
störung, eine posttraumatische Belastungsstörung, eine
Zwangsstörung oder depressive Erkrankung. Mit einer
13.3.7 Allgemeine Stimmung: Durchführungsdauer von ca. 30 min ist das Mini-DIPS
Angst, Depressivität geeignet für ein Screening im Rahmen psychosozialer
Diagnostik bei chronischen Schmerzpatienten.
Nicht nur schmerzbezogene Angst und depressive Ver-
stimmung tragen zur Chronifizierung von Rücken- und
13.4 · Erfassung von Risikofaktoren
161 13
> In einem zusammenfassenden Beratungsgespräch b. diejenigen Patienten zu identifizieren, die mit höherer
sollten die verschiedenen Befunde zur psychosozia- Wahrscheinlichkeit ein relevantes Chronifizierungs-
len Diagnostik erläutert werden, indem man den risiko aufweisen, was nicht nur die Sensibilität für
Leitfaden der ersten orientierenden Edukation das Zutreffen derartiger Merkmale für die weitere
(7 Abschn. 13.2.2) wieder aufgreift. Der Behandler Diagnositk erhöhen sollte, sondern den Arzt ggf. auch
kann so detailliert beschreiben, wo die eigenen in die Lage versetzt, gezielte Beratungsstrategien
therapeutischen Maßnahmen ansetzen können. einzusetzen (evtl. auch Hinzuziehen eines schmerz-
psychotherapeutisch versierten Kollegen).

13.4 Erfassung von Risikofaktoren Ein Screeninginstrument muss folgende Anforderungen


erfüllen: neben der Ökonomie eine hohe Zuverlässigkeit
Die ersten 12 Wochen nach Erstauftreten von Rücken- (Reliabilität), eine nachgewiesene Gültigkeit für die zu
schmerzen Schmerzen sind vor allem in gesundheitsöko- erfassenden Merkmale (konstrukt- und kriterienbezogene
nomischer Hinsicht ein kritischer Zeitraum, da danach die Validität) sowie eine hohe Sensitivität und Spezifität. Ins-
Wahrscheinlichkeit der Betroffenen, jemals wieder an besondere am letzten Punkt scheitern viele Verfahren, die
ihren Arbeitsplatz zurückkehren zu können, dramatisch zugunsten einer hohen Validität alle infrage stehenden
absinkt [48]. Merkmale, die primär schmerzunabhängig Faktoren möglichst vollständig erfassen wollen. Dieser
sind (Depressivität, Zufriedenheit am Arbeitsplatz), Anspruch konfligiert jedoch mit den Interessen der Ziel-
können theoretisch schon am ersten Tag erfasst werden, an gruppe, die das Verfahren einsetzen soll, nämlich die erst-
dem Patienten wegen akuter Rückenschmerzen ihren Arzt versorgenden Behandler, also Orthopäden und Allgemein-
aufsuchen. Insofern ist es erforderlich, dass aufseiten der mediziner, deren Praxisablauf eine aufwendigere Fragebo-
Erstbehandler eine Sensibilität für entsprechende Faktoren generhebung und Auswertung oftmals nicht zulässt.
besteht. Derartige Risikobereiche sollten in einem ausführ- In der englischsprachigen Literatur existiert bereits seit
lichen anamnestischen Gespräch angesprochen werden. Es Längerem eine Reihe von Vorschlägen für Screeningin-
gibt bisher dazu keinen strukturierten Anamneseleitfaden, strumente zur Erfassung psychosozialer Risikofaktoren
jedoch sollte ein solches exploratives Screening Fragen be- [u. a. 32, 11, 23, 28].
inhalten, die folgende Bereiche umfassen: Unter den englischsprachigen Instrumenten hat sich
4 Konflikte am Arbeitsplatz der von Linton und Hallden [34] 1998 entwickelte Örebro
4 Konflikte in der Familie/Partnerschaft Musculoskeletal Pain Screening Questionnaire (MPSQ)
4 Ängstliche Aufmerksamkeit für körperliche Prozesse bewährt, es liegt mittlerweile eine Reihe von Publikationen
4 Inadäquates Krankheitsverhalten (Vermeidung/ hierzu vor. Neben der schwedischen Originalversion und
Schonung oder rigides Durchhalten trotz starker einer englischen Übersetzung [27] existieren mittlerweile
Schmerzen) auch Übersetzungen in die norwegische [13] und nieder-
4 Andere Hinweise für das Vorliegen psychischer ländische Sprache [24]. Das Verfahren umfasst insgesamt
Störungen (z. B. Somatisierung) 25 Items und berücksichtigt neben einer Reihe von Items
4 Unsicherheit und Unklarheit bezüglich diagnosti- zur Erfassung von Schmerz und Beeinträchtigungserleben
scher, therapeutischer und prognostischer Informa- jeweils ein 1 Item zur Erfassung von depressiver und ängst-
tionen licher Stimmung, zur Arbeitszufriedenheit und zu
schmerzbezogenem Coping sowie 3 Items zur Erfassung
von »fear-avoidance-beliefs«. Der Fragebogen ist mehr-
13.4.1 Screeninginstrumente fach validiert, und es gibt mehrere Studien, die auf seine
prospektiven Testqualitäten hinweisen [33, 3, 26].
Der Einsatz von spezifischen Screeninginstrumenten ist In einer Studie von Boersma und Linton [2] konnten
eine andere Möglichkeit, die durchaus ökonomische Vor- durch die Verwendung von nur 8 Items aus dem MPSQ bei
teile bieten kann. Über die Sensibilisierung für bestimmte akuten Rückenschmerzpatienten nach Clusteranalyse (mit
problematische Lebensbereiche des Patienten hinaus bie- Reklassifikation) 4 unterschiedliche Risikogruppen identi-
ten sie mit entsprechenden »cut-offs« für ein bestehendes fiziert werden (»low risk«, »distressed fear-avoidant«, »fear
Chronifizierungsrisiko die Möglichkeit, avoidant«, »low risk depressed«). Aus der Zugehörigkeit zu
a. diejenigen Patienten zu identifizieren, die mit höherer einer der 4 Risikogruppen leiteten die Autoren jeweils
Wahrscheinlichkeit kein Chronifizierungsrisiko haben, fokussierte therapeutische Empfehlungen ab. Die Gruppe
sodass sich der behandelnde Arzt zunächst voll auf die der »Low-risk-Patienten« machte 60 % der Stichprobe aus,
normalen Maßnahmen der Beratung und Motivierung bei denen einfache bzw. unaufwendige Maßnahmen in der
zur körperlichen Aktivität konzentrieren kann; weiteren Behandlung ausreichen sollten. Für eine An-
162 Kapitel 13 · Psychosoziale Diagnostik

wendung in der Praxis mit Einzeldiagnostik fehlen hierzu Es gibt zu diesem Verfahren – im Vergleich zu den bei-
gegenwärtig jedoch definierte Cut-off-Scores. Die Thera- den anderen genannten – relativ wenige Untersuchungen,
pieindikationen wurden noch nicht im Rahmen einer ran- sodass die Validität des Verfahrens insbesondere bezüglich
domisierten Studie überprüft. Die Kürze des Verfahrens ist der prognostischen Validität und der daraus ableitbaren
hoch ökonomisch, allerdings kann bezweifelt werden, ob therapeutischen Maßnahmen noch nicht hinreichend ge-
die relevanten psychologischen Merkmale lediglich mit klärt ist. Darüber hinaus fehlt die Berücksichtigung des
nur einem einzigen Item reliabel und valide erfasst werden Beeinträchtigungserlebens, der Angst-/Vermeidungsüber-
können. In einer prospektiven Studie der Arbeitsgruppe zeugungen und der Arbeitszufriedenheit.
wurde diese Kritik insofern partiell relativiert, als eine
Replikation der Klassifizierung in nahezu vergleichbarem jRisikoscreening zur Schmerzchronifizierung
Umfang mit (Teilen der) »Originalverfahren« zur Identifi- bei Rückenschmerzen (RISC-R)
kation der betreffenden Risikobereiche gelang [4]. Die Das RISC-R wurde aus der oben genannten prospektiven
Validierung einer deutschsprachigen Version steht noch Validierungsstudie [17] entwickelt. Es misst die Merkmale
aus. Depressivität und Faktoren der Schmerzverarbeitung mit
Das STarT-Back-Tool [50] SBT ist ein noch kürzeres, bestehenden standardisierten, reliablen und validierten
9-Item-Instrument, das neben psychosozialem Distress Skalen des Kieler Schmerzinventars KSI [15] und die De-
und Fear-Avoidance (5 Items) auch einige physische pressivität über das Beck-Depressions-Inventar (BDI). Das
Aspekte (Schmerzbeeinträchtigung, Rotationsneigung) Verfahren umfasst insgesamt 36 Items. Die Durchfüh-
erfasst. Das SBT ist umfangreich validiert und hat sich vor rungsdauer des RISC-R inkl. automatisierter Befundung
allem in physio-/manualtherapeutischen Einrichtungen beträgt ca. 10 min. Gegenwärtig liegt das Verfahren sowohl
bewährt (u. a. [51]). in Papierform als auch als digitale Version vor, die mit ho-
Im deutschsprachigen Bereich liegen 2 Instrumente her Testökonomie auch online betrieben werden kann
vor, die im Wesentlichen auf dem Kieler Schmerzinventar [49]. Eine hohe prospektive Validität zeigte sich für die
von Hasenbring [15] basieren: das Risikoscreening zur Kriterien Schmerz und Arbeitsfähigkeit zum 6-Monats-
Schmerzchronifizierung bei Rückenschmerzen (RISC-R, Follow-up. Vorteilhaft erscheint am RISC-R, dass die Ska-
s. unten) und der Heidelberger Kurzfragebogen Rücken- len der psychosozialen Risikofaktoren in ihrer Ausgangs-
schmerz (HKF-R10) [39]. form erhalten geblieben sind, wodurch die theoretische
Einbettung und Interpretationsmöglichkeiten der Befunde
jHeidelberger Kurzfragebogen Rückenschmerz bei guter Vorhersagegenauigkeit gewährleistet bleiben.
13 (HKF) Eine hoch prospektive Validität zeigte sich an einer Stich-
Mit dem HKF soll es mithilfe von 27 Items möglich sein, probe von Patienten mit akuter und subakuter Ischialgie in
das Risiko einer Chronifizierung durch Zuweisung zu einem 6-Monats-Follow-up nach konservativer Therapie
5 verschiedenen Gruppen mit graduell zunehmendem [17]. In einer Reanalyse dieser Daten konnte durch ein
Chronifizierungsrisiko abzuschätzen [39]: künstlich-neuronales Netzwerk mit 3 Skalen (36 Items) in
A. vermutlich keine Chronifizierung, 83 % der Fälle eine korrekte Vorhersage anhaltender
B. zu 70 % kein Chronifizierungsrisiko, Schmerzen erreicht werden [52]. Eine weitere Validierung
C. keine Aussage möglich, an 177 Patienten mit subakuten nichtspezifischen Rücken-
D. Chronifizierungsrisiko 70 %, schmerzen bestätigte die Vorhersagevalidität [21].
E. sehr hohes Chronifizierungsrisiko. Alle hier genannten psychosozialen Screeningverfah-
ren liefern zunächst die Aussage dazu, ob ein Patient ein
Als Variablen sind Intensität und Dauer der Rücken- erhöhtes Chronifizierungsrisiko aufweist. Das RISC-R er-
schmerzen, Geschlecht, Schulabschluss, Ausmaß der möglicht darüber hinaus bei den identifizierten Risikopa-
Depressivität sowie kognitive Parameter aus dem Bereich tienten eine weitere Subgruppendifferenzierung hinsicht-
Katastrophisieren/Hilflosigkeit eingeschlossen; zusätzlich lich der Art der Schmerzverarbeitung: Basierend auf dem
hatte ein Item zur Wirksamkeit von Massagebehandlungen Avoidance-endurance-Modell (AEM, 7 Kap. 17, »Biopsy-
prognostische Bedeutung. Zur Auswertung ist ein Mi- chosoziale Krankheitsmodelle«) können Patienten mit ei-
crosoft-Office-Paket erforderlich, mit dem eine manuelle nem besonders ängstlich-meidenden, einem depressiv-
excelbasierte Auswertung erfolgen kann. Der Fragebogen suppressiven oder einem heiter-suppressiven Schmerzver-
ist in Deutschland bereits in einige lokale Disease-Manage- arbeitungsmuster identifiziert werden. Diese Subgruppen
ment-Programme eingebunden. Je nach identifizierter ermöglichen eine individualisierte Zuweisung zu speziel-
Zugehörigkeit zu einer der Risikogruppen sollen unter- len Modulen kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interven-
schiedliche diagnostische und therapeutische Empfehlun- tionen (7 Abschn. 26.2, »Kognitiv-verhaltenstherapeutische
gen/Veranlassungen erfolgen. Verfahren in der psychologischen Schmerztherapie«).
Literatur
163 13
jScreeninginstrument in laufender multizentrischer Literatur
Studie
1. Asmundson GG, Norton P, Vlaeyen J (2004) Fear-avoidance mod-
In einer noch laufenden multizentrischen deutschen Stu-
els of chronic pain: an overview. In: Asmundson GG, Vlaeyen J,
die wurde auf Grundlage des Örebro-Fragebogens ein kur- Crombez G (Hrsg) Understanding and treating fear of pain. Ox-
zes Screeninginstrument für das Chronifizierungsrisiko ford University Press, S 3–24
bei Rückenscherzen in der Allgemeinarztpraxis entwickelt. 2. Boersma K, Linton S (2005) How does persistent pain develop? An
Der Fragebogen enthält 9 Items mit Fragen zur aktuellen analysis of the relationship between psychological variables, pain
and function across stages of chronicity. Behav Res Ther 43:
Schmerzintensität (1 Item), zu depressiven Symptomen
1495–1507
(2 Items), zum subjektiven Beeinträchtigungserleben 3. Boersma K, Linton S (2006a) Expectancy, fear and pain in the
(4 Items) und zu Angst-/Vermeidungsüberzeugungen prediction of chronic pain and disability. Europ J Pain 10:551–557
(2 Items). Das Verfahren wurde Patienten mit einer neuen 4. Boersma K, Linton S (2006b) Psychological processes underlying
Episode von Rückenschmerzen bei ihrem Erstkontakt in the development of a chronic pain problem. Clin J Pain 22:
der Allgemeinarztpraxis vorgelegt und das Ergebnis in der 160–166
5. Bruls VEJ, Bastiaenen CHG, de Bie RA (2015) Prognostic factors of
Beratung berücksichtigt: Patienten, die einen bestimmten complaints of arm, neck, and/or shoulder: a systematic review of
Cut-off für das Chronifizierungsrisiko überschritten, wur- prospective cohort studies. PAIN 156:765–788
de vom Arzt die Teilnahme an einem kurzen verhaltens- 6. Casser HR, Arnold B, Gralow I, Irnich D, Klimczyk K, Nagel B,
therapeutisch orientierten Bewegungs- und Beratungsan- Pringsten M, Schiltenwolf M, Sittl R, Söllner W (2013) Inter-
gebot (8 Zeitstunden) empfohlen, das in Kombination von disziplinäres Assessment zur multimodalen Schmerztherapie.
Indikation und Leistungsumfang. Der Schmerz 27:363–370
Physiotherapeuten und Psychologen in Kleingruppen mit
7. Erdmann G, Janke W (2008) Stressverarbeitungsfragebogen.
je 4 Patienten durchgeführt wurde [45]. Die Ergebnisse Hogrefe, Göttingen
dieser Studie stehen noch aus. 8. Flor H (1991) Psychobiologie des Schmerzes. Hans Huber, Bern
9. Fordyce WE (1976) Behavioral methods for chronic pain and
illness. The C.V. Mosby Company, St. Louis
10. Franke GH (1995) SCL-90-R. Die Symptom-Checkliste von Deroga-
13.4.2 Fazit
tis, Manual. Deutsche Version. Beltz Verlag, Göttingen
11. Gatchel RJ, Polatin PB, Kinney RK (1995) Predicting outcome of
Zusammenfassend muss man konstatieren, dass es nach chronic back pain using clinical predictors of psychopathology:
dem aktuellen Stand der Literatur derzeit noch kein vali- A prospective analysis. Health Psych 14:415–420
diertes Instrument gibt, das bei allen Betroffenen in der 12. Geissner E (2000) Fragebogen zur Erfassung der Schmerzver-
arbeitung. Hogrefe, Göttingen
täglichen Praxis angewendet werden kann. Darüber hinaus
13. Grotle M, Vollestad NK, Brox JI (2006) Screening for yellow flags in
gibt es widersprüchliche Ergebnisse hinsichtlich des Nut- first-time acute low back pain: reliability and validity of a
zens von frühen Interventionen, die auf eine Änderung der Norwegian version of the Acute Low Back Pain Screening
psychosozialen Faktoren abzielen. Aus diesen Gründen Questionnaire. Clin J Pain 22:458–467
kann derzeit zum idealen Screeningzeitpunkt und zum 14. Hasenbring M (1993) Durchhaltestrategien – ein in Schmerz-
Einsatz eines bestimmten Screeningverfahrens, das für alle forschung und Therapie vernachlässigtes Phänomen?
Der Schmerz 7(4):304–313
Betroffenen validierte Kriterien erfasst, keine definitive 15. Hasenbring M (1994) Das Kieler Schmerzinventar. Manual. Hans
Empfehlung gegeben werden. Weitere auf Hochrisikositu- Huber, Bern
ationen abzielende Therapiestudien sind dringend gefor- 16. Hasenbring M (1997) Screening Psychosozialer Risikofaktoren
dert. SPR – für Patienten mit Rücken- und Beinschmerzen. Eine Aus-
wertungsanleitung. Ruhr-Universität Bochum
Tipp für die motivierende Gesprächsführung 17. Hasenbring M, Marienfeld G, Kuhlendal D, Soyka D (1994) Risk
factors of chronicity in lumbar disc patients. A prospective inves-
tigation of biologic, psychologic, and social predictors of therapy
Am Ende jeder Form von Diagnostik psychosozialer
outcome. Spine 19(24):2759–2765
Faktoren empfehlen sich folgende Fragen: Von all den 18. Hasenbring M, Ulrich HW, Hartmann M, Soyka D (1999) The
möglichen Einflüssen, die ich Ihnen gerade erläutert efficacy of a risk factor based cognitive behavioral intervention
habe: and electromyographic biofeedback in patients with acute sciatic
1. Welche erkennen Sie evtl. bei sich selbst wieder? pain. Spine 24:2525–2535
19. Hasenbring M, Klasen B, Schaub C, Hallner D (2003) KISS-BR.
2. Bei welchen Faktoren (u. a. Stress, Stressverarbei-
Kieler Interview zur subjektiven Situation – Belastungen/
tung, Schmerzverarbeitung) beobachten Sie selbst
Ressourcen. In: Schumacher J, Klaiberg A, Brähler E (Hrsg)
einen Zusammenhang mit Ihren Schmerzen? Diagnostische Verfahren zu Lebensqualität und Wohlbefinden.
3. An welchem dieser Einflüsse können Sie sich vor- Hogrefe, Göttingen, S 189–191
stellen, im Rahmen einer Therapie zu arbeiten, um 20. Hasenbring M, Hallner D, Rusu AC (2009) Fear-avoidance- and
diese zum Positiven zu wenden? endurance-related responses to pain: development and
validation of the Avoidance-Endurance Questionnaire (AEQ).
Eur J Pain 13(6):620–628
164 Kapitel 13 · Psychosoziale Diagnostik

21. Hasenbring MI, Hallner D, Klasen B, Streitlein-Böhme I, Willburger R, 40. Nilges P, Köster B, Schmidt CO (2007) Schmerzakzeptanz-Konzept
Rusche H (2012) Pain-related avoidance versus endurance in und Überprüfung einer deutschen Fassung des Chronic Pain
primary care patients with subacute back pain: psychological Acceptance Questionnaire. Schmerz 21:57–67
characteristics and outcome at a 6-month follow-up. 41. Pfingsten M, Kröner-Herwig B, Leibing E, Kronshage U,
Pain 153(1):211–217 Hildebrandt J (2000) Validation of the German version of the
22. Hautzinger M, Bailer M, Worall H, Keller F (1995) BDI Beck- Fear-Avoidance Beliefs Questionnaire (FABQ). Eur J Pain 4:
Depressions-Inventar, Testhandbuch, 2., überarb. Aufl. Hans 259–266
Huber, Bern 42. Pruessner M, Hellhammer DH, Pruessner JC, Lupien SJ (2003)
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Spine 21:945–951 ing. Psychosomatic Medicine 65:92–99
24. Heneweer H, Aufdemkampe G, Tulder MW van, Kiers H, 43. Roelofs J, van Breukelen G, Sluiter J, Frings-Dresen MHW,
Stappaerts KH, Vanhees L (2007) Psychosocial variables in Goossens M, Thibault P, Boersma K, Vlaeyen JWS (2011) Norming
patients with (sub)acute low back pain. Spine 32:586–592 the Tampa scale of kinesiophobia across pain diagnoses and
25. Herrmann-Lingen C, Buss U, Snaith RP (1995) HADS, Hospital various countries. Pain 152:1090–1095
Anxiety and Depression Scale. Dtsch. Version. Hans Huber, Bern 44. Rusu AC, Kreddig N, Hallner D, Hülsebusch J, Hasenbring MI
26. Hill JC, Dunn KM, Main CJ, Hay EM (2010) Subgrouping low back (2014) Fear of movement/(Re)injury in low back pain: confirma-
pain: a comparison of the STarT Back Tool with the Orebro tory validation of a German version of the Tampa Scale for
Musculoskeletal Pain Screening Questionnaire. Eur J Pain Kinesiophobia. BMC Musculoskelet Disord 15:280. doi:
14:83–89 10.1186/1471-2474-15-280
27. Hurley DA Dusoir TE, McDonough SM, Moore AP, Baxter GD 45. Schmidt CO, Chenot JF, Pfingsten M, Fahland RA, Lindena G,
(2001) How effective is the acute low back pain screening Marnitz U, Pfeifer K, Kohlmann T (2010) Assessing a risk tailored
questionnaire for predicting 1-year follow-up in patients with low intervention to prevent disabling low back pain. BMC Musculo-
back pain? Clin J Pain 17:256–263 skelet Disord 11:5
28. Kendall NA, Linton SJ, Main CJ (1997) Guide to assessing 46. Schulz P, Schlotz W, Becker P (2004) Trierer Inventar zum
psychosocial yellow flags in acute low back pain. Accident chronischen Stress. Manual. Hogrefe, Göttingen
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29. Klinger R, Hasenbring M, Pfingsten M, Hürter A, Maier C, Edinburgh
Hildebrandt J (2000) Die Multiaxiale Schmerzklassifikation MASK, 49. Hasenbring M, Hallner D (1999) Telemedizinisches Patienten-
Bd 1: psychosoziale Dimension MASK-P. Deutscher Schmerz- Diagnose-System (TPDS). Selbsterklärende PC-Lösung zur
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30. Kreddig N, Rusu AC, Burkhardt K, Hasenbring MI (2015) The schmerzen. Dtsch Arztebl 6:49–50
German PASS-20 in patients with low back pain: new aspects of 50. Hill JC, Dunn KM, Lewis M, Mullis R, Main CJ, Foster NE, Hay EM
13 convergent, divergent, and criterion-related validity. Int J Behav (2008) A primary care back pain screening tool: identifying
Med 22(2):197–205. doi: 10.1007/s12529-014-9426-2 patient subgroups for initial treatment. Arthrit Care Res
31. Kröner-Herwig B, Greis R, Schilkowsky J (1993) Kausal- und 59(5):632–641
Kontrollattributionen bei chronischen Schmerzpatienten – 51. Beneciuk JM, Bishop MD, Fritz JM, Robinson ME, Asal NR,
Entwicklung und Evaluation eines Inventars (KAUKON). Nisenzon AN, George S (2013) The STarT Back Screening Tool and
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patients? Clin J Pain 14:209–214 361:151–154
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distress and risk assessment method: A simple patient classifica-
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Spine 17:42–52
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psychischen Störungen. Springer, Berlin
37. McCracken LM, Dhingra L (2002) A short version of the Pain
Anxiety Symptoms Scale (PASS-20): preliminary development and
validity. Pain Res Manag 7(1):45–50
38. McCracken LM, Vowles KE, Eccleston C (2004) Acceptance of
chronic pain: component analysis and a revised assessment
method. PAIN 107:159–166
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(2006) Multimodal therapy patients with chronic cervical and
lumbar pain. Results of a comparative prospective study. Schmerz
20:210–218
165 14

Interdisziplinäres Assessment zur


multimodalen Schmerztherapie
Indikation und Leistungsumfang

H.-R. Casser, B. Arnold, I. Gralow, D. Irnich, K. Klimczyk, B. Nagel, M. Pfingsten,


M. Schiltenwolf, R. Sittl, W. Söllner, R. Sabatowski, T. Brinkschmidt

14.1 Aufgaben des Assessments – 167

14.2 Organisation – 167

14.3 Ärztliche Untersuchung – 169


14.3.1 Medizinische Vorgeschichte – 169
14.3.2 Ärztliche Untersuchung – 170

14.4 Physio-/moto-/ergotherapeutische Diagnostik – 170


14.4.1 Anamnese – 170
14.4.2 Untersuchung – 170

14.5 Psychologische und psychosomatische Diagnostik – 171


14.5.1 Anamnese – 171
14.5.2 Verhaltensbeobachtung und Erhebung
des psychopathologischen Status – 171
14.5.3 Testverfahren und standardisierte klinische Interviews – 172

14.6 Sozialdiagnostik – 172

14.7 Teambesprechung – 172

14.8 Abschlussgespräch mit dem Patienten – 173

14.9 Fazit für die Praxis – 173

Literatur – 174

H.-R. Casser, B. Arnold, I. Gralow, D. Irnich, K. Klimczyk, B. Nagel,


M. Pfingsten, M. Schiltenwolf, R. Sittl, W. Söllner (2013) Interdisziplinäres Assessment zur multimodalen Schmerz-
therapie. Indikation und Leistungsumfang. Schmerz 27:363–370. DOI 10.1007/s00482-013-1337-7, © Deutsche
Schmerzgesellschaft e. V. Published by Springer-Verlag Berlin Heidelberg – all rights reserved 2013

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
166 Kapitel 14 · Interdisziplinäres Assessment zur multimodalen Schmerztherapie

Nach den Empfehlungen der Nationalen VersorgungsLeit- Voraussetzung für gute Behandlungseffekte. Dafür gibt es
linie »Kreuzschmerz« sollte bei 6-wöchiger Schmerzdauer in der Literatur bereits deutliche Hinweise. Rothman et al.
trotz leitliniengerechter Therapie bei positivem Nachweis [33] untersuchten an 182 Patienten mit chronischen bewe-
von Risikofaktoren zur Chronifizierung ein umfassendes in- gungsbezogenen Schmerzen, ob die Durchführung eines
terdisziplinäres Assessment stattfinden, um die Indikation multimodalen Assessments vor der Behandlung einen
zu einem multimodalen Therapieprogramm zu prüfen. In positiven Einfluss auf den Therapieeffekt hat. Verglichen
diesem Beitrag werden die notwendigen Themenbereiche, wurde eine Patientengruppe, die ein solches Assessment
die Inhalte und die beteiligten Disziplinen sowie der Um- erhalten hatte, mit einer Gruppe, bei der nur die Routine-
fang eines interdisziplinären schmerztherapeutischen diagnostik stattgefunden hatte. Die Patientengruppe mit
Assessments beschrieben, die von der Ad-hoc-Kommission vorhergehendem multimodalem Assessment zeigte bei der
»Multimodale interdisziplinäre Schmerztherapie« der 15-Monats-Katamnese signifikant bessere Ergebnisse in
Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. erarbeitet wurden. verschiedenen Bereichen der Lebensqualität, ein geringe-
res Beeinträchtigungserleben und eine höhere Ergebnis-
> Die Ad-hoc-Kommission »Multimodale interdiszipli- zufriedenheit.
näre Schmerztherapie« hat es sich zur Aufgabe ge- Klar definierte Kriterien für Form und Inhalte eines
macht, den Begriff »multimodale Schmerztherapie« solchen multimodalen Assessments fehlen noch weit-
zu definieren und dafür notwendige Strukturen, gehend. Der Auftrag der Ad-hoc-Kommission »Multimo-
Organisationsformen und Inhalte zu beschreiben. dale interdisziplinäre Schmerztherapie« der Deutschen
Dieser Artikel ist Teil einer Serie, die die Ergebnisse Schmerzgesellschaft umfasst die Formulierung dieser
dieser Arbeit zusammenfasst. Kriterien. In einem konstruktiven Konsens von Mit-
gliedern verschiedener Berufsgruppen (Ärzte, Psycholo-
Bei chronisch Schmerzkranken liegt in der Regel ein viel- gen, Physiotherapeuten) wurden Vorgaben erarbeitet, die
schichtiges Wechselspiel zwischen somatischen, psychi- Inhalt der folgenden Ausführungen sind.
schen und sozialen Faktoren vor. Alle genannten Dimen-
sionen sind dabei als integrale Teile des Schmerzes und
Infobox: Kriterien des OPS-Codes 1-910
nicht nur als Folge der Nozizeption zu verstehen; in einem
»Multidisziplinäre algesiologische Diagnostik«
komplexen Geschehen bedingen, unterhalten und ver-
Patienten mit chronischen Schmerzzuständen,
stärken sie sich wechselseitig.
die mindestens 3 der nachfolgenden Merkmale
Aufgrund des multidimensionalen Geschehens haben
aufweisen:
sich in der Behandlung chronischer Schmerzen »multimo-
5 Manifeste oder drohende Beeinträchtigung der
dale Behandlungsprogramme«, in denen diese Einzelas-
Lebensqualität und/oder der Arbeitsfähigkeit
pekte wie auch ihr Zusammenspiel und übergeordnete
14 Chronifizierungsmechanismen differenziert angespro-
5 Fehlschlag einer vorherigen unimodalen Schmerz-
therapie, eines schmerzbedingten operativen Ein-
chen werden, als eine effektive Behandlungsmethode er-
griffs oder einer Entzugsbehandlung
wiesen.
5 Bestehende Medikamentenabhängigkeit oder
Abgesehen von der internationalen Situation (z. B. [8])
-fehlgebrauch
wurden sehr positive Ergebnisse übereinstimmend auch in
5 Gravierende psychische Begleiterkrankungen
schmerztherapeutischen Einrichtungen in Deutschland
5 Gravierende somatische Begleiterkrankungen
erreicht [5, 17, 25, 32, 34, 35]. Die grundsätzliche Defini-
tion der multimodalen Schmerztherapie wurde von der
Dieser Code erfordert
Ad-hoc-Kommission »Multimodale interdisziplinäre
5 die Mitarbeit von mindestens 2 Fachdisziplinen,
Schmerztherapie« der Deutschen Schmerzgesellschaft
davon eine psychiatrische, psychosomatische oder
2009 vorgelegt [2].
psychologische Disziplin;
In der Nationalen VersorgungsLeitline »Kreuz-
5 eine psychometrische und physische Funktions-
schmerz« (Bundesärztekammer 2010) wurde erstmals die
testung mit anschließender Teambesprechung zur
Notwendigkeit einer vielschichtigen Diagnostik vor
Erstellung eines Therapieplans.
Durchführung multimodaler Therapieprogramme formu-
liert. Diese Diagnostik soll die Indikation und Zuweisung
Die Anwendung dieses Codes setzt die Zusatzqualifi-
zur Behandlung sicherstellen und bereits differenzierte
kation »Spezielle Schmerztherapie« beim Verantwort-
Hinweise auf die spezifische Gestaltung und individuelle
lichen voraus.
Kombination von Maßnahmen geben. Eine solche Dia-
gnostik muss insofern bereits als erster Schritt des Behand-
lungsprozesses verstanden werden und ist vermutlich eine
14.2 · Organisation
167 14
14.1 Aufgaben des Assessments der Ad-hoc-Kommission »Multimodale interdisziplinäre
Schmerztherapie« der Deutschen Schmerzgesellschaft als
Ein interdisziplinäres schmerztherapeutisches Assessment notwendige Voraussetzungen definiert wurden.
erlaubt die fundierte Beurteilung bei 2 Gruppen von > Sinn und Zweck des multimodalen Assessments ist
Schmerzpatienten [2]: die möglichst umfassende, ganzheitliche Erfassung
4 Patienten mit rezidivierenden oder anhaltenden der Beschwerden des Patienten. Es stellt eine neue,
Schmerzen, die sich noch am Beginn des Chronifi- aktuelle und unabhängige interdisziplinäre Unter-
zierungsprozesses befinden, aber ein erhöhtes Risiko suchung und Befunderhebung dar, die nicht auf
zur Chronifizierung aufweisen der unkritischen Übernahme der Diagnosen und Be-
4 Patienten, die sich bereits in einem höheren Chroni- funde der Vorbehandler beruht. Gleichwohl fließen
fizierungsstadium befinden und bei denen eine bis- vorausgegangene Maßnahmen und Befunde in die
herige mono- oder multidisziplinäre Behandlung Gesamtbeurteilung ein.
nicht zum Erfolg geführt hat
Die Qualität des interdisziplinären Assessments ergibt sich
Im engeren Sinne stellt das interdisziplinäre Assessment aus der Zusammenschau, der Abstimmung und der gemein-
die Voraussetzung für die Indikationsstellung zu einer in- samen Wertung der Untersuchungsergebnisse durch die
terdisziplinären multimodalen Therapie dar. beteiligten Fachdisziplinen. Die daraus resultierende ge-
In den Empfehlungen der Nationalen Versorgungs- meinsame Einordnung der individuellen Schmerzstörung
Leitlinie »Kreuzschmerz« von 2010 wird mit hohem ist die Basis für das weitere therapeutische Vorgehen.
Empfehlungsgrad gefordert, dass die Indikation zu einer > Das Ergebnis des Assessments ist offen, d. h., dass
multimodalen Therapie möglichst durch ein umfassendes der Patient aufgrund des Ergebnisses entweder mit
interdisziplinäres Assessment spätestens nach 6 Wochen Empfehlungen zu seinen bisherigen Behandlern
Schmerzdauer und bei gleichzeitig bestehenden alltags- entlassen, dass eine weiterführende fachspezifische
relevanten Aktivitätseinschränkungen sowie positivem Behandlung empfohlen oder dass die Indikation für
Nachweis von Risikofaktoren zur Chronifizierung (»yel- ein interdisziplinäres Therapieprogramm ambulant,
low flags«) geprüft werden soll. Bestehen die Beschwerden tagesklinisch oder stationär gestellt wird.
und alltagsrelevanten Aktivitätseinschränkungen trotz
leitliniengerechter Versorgung bereits >12 Wochen, soll Lutz et al. [23] konnten anhand der Daten von >800 Pa-
generell die Indikation zu einer multimodalen Therapie, tienten mit Schmerzerkrankungen zeigen, dass nach einem
möglichst durch ein umfassendes interdisziplinäres intensiven multidisziplinären Assessment letztlich nur
Assessment, geprüft werden. Dabei soll die Zuweisung zum 54,3% der untersuchten Patienten gemäß der Ergebnisse
entsprechenden Versorgungsbereich in Abhängigkeit von des Assessments für eine (stationäre) multimodale
den Ergebnissen des Assessments und in Abhängigkeit von Schmerztherapie in Betracht kamen. Ein Anteil von 72,7%
der Prognose unter Berücksichtigung der individuellen Ge- dieser Patienten nahm das Angebot an; damit wurde in nur
gebenheiten erfolgen (Nationale VersorgungsLeitlinie 39% der eingangs untersuchten Fälle letztlich wirklich eine
»Kreuzschmerz« 2010). Hintergrund der engen zeitlichen multimodale Schmerztherapie durchgeführt. Dieses
Vorgaben ist die Erkenntnis, dass bei diesen Patienten eine Ergebnis zeigt sehr eindrucksvoll, dass multidisziplinäre
frühzeitige konsequente Zusteuerung in eine umfassendere Diagnostik nicht vorrangig dem Zweck dient, eine multi-
und dem Krankheitsbild der chronischen Schmerzerkran- modal ausgerichtete Behandlung zu indizieren, sondern
kung angemessenere Versorgung erforderlich ist. dass sie ergebnisoffen unterschiedliche Möglichkeiten der
Im OPS-Code 1-910 »Multidisziplinäre algesiologische für den Einzelfall sinnvollen Behandlungswege prüft.
Diagnostik« wird eine standardisierte interdisziplinäre Damit leistet die umfassende schmerztherapeutische
somatische, funktionelle, psychotherapeutische und psy- Diagnostik als eine von der eigentlichen Behandlung un-
chosoziale Diagnostik bei Patienten mit chronischen abhängige Leistung einen wichtigen Beitrag zur Steigerung
Schmerzzuständen aller Art beschrieben und neben Pa- der Versorgungseffizienz chronisch Schmerzkranker bei
tientenkriterien auch qualitative Kriterien dafür festgelegt gleichzeitig hoher Transparenz und verhindert auf diese
(7 Infobox). Die Vorgaben des OPS-Codes werden dem Weise kostenintensive Fehlbehandlungen.
hier beschriebenen Anspruch jedoch nicht oder nur z. T.
gerecht. In diesem Beitrag werden deshalb die notwen-
digen Themenbereiche, die Inhalte und die beteiligten 14.2 Organisation
Disziplinen sowie der Umfang eines multidisziplinären
schmerztherapeutischen Assessments vor umfassender Das Beschwerdebild chronischer Schmerzpatienten kann
multimodaler Schmerztherapie beschrieben, wie sie von nicht nach der in der Gesundheitsversorgung vorherr-
168 Kapitel 14 · Interdisziplinäres Assessment zur multimodalen Schmerztherapie

schenden diagnostischen Vorgehensweise mit symptom- rufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychothera-
bezogener Anamnese und Untersuchung sowie weitem peuten in der Schmerz- und Palliativmedizin (BVSD) mit
Überwiegen apparativ-technischer Diagnostik erfasst Nachdruck verfolgt. Einen ebenso hohen Stellenwert sehen
werden. Chronische Schmerzpatienten sind oftmals durch wir in der Ausbildung zur »Algesiologischen Fachassis-
dieses Versorgungsraster gefallen, das ihre Krankheitsent- tenz« für Pflegekräfte und in dem aktuell in Entwicklung
wicklung nicht aufhalten konnte und nicht selten sogar befindlichen Curriculum für den bewegungstherapeuti-
gefördert hat. Anders als die sonst übliche rein medizini- schen Bereich, z. B. Physio-, Ergo-, Sport- oder Moto-
sche bzw. monodisziplinäre Diagnostik muss das schmerz- therapie.
therapeutische Assessment breit aufgestellt sein, um mit > Die curricularen Weiterbildungen und Qualifikatio-
hoher interdisziplinärer Kompetenz möglichst alle Dimen- nen von Teammitgliedern, die bereits jetzt teilweise
sionen des Beschwerdebilds zu erfassen. Das schmerzthe- umsetzbar sind, stellen ein wichtiges Kriterium der
rapeutische Assessment wird daher regelhaft durch ein Strukturqualität multimodaler Einrichtungen dar.
interdisziplinäres Untersuchungsteam in engem zeitlichem
und räumlichem Zusammenhang gemeinsam erbracht. Als Voraussetzung für ein multimodales Assessment sind
> Das schmerztherapeutische Assessment beinhaltet
der vorausgehende möglichst vollständige Erhalt und die
die medizinische inklusive der körperlichfunktionel-
Durchsicht der vom Patienten einzureichenden Unter-
len Diagnostik, die psychotherapeutische Diagnos-
lagen wie Arzt- und Befundberichte, Bildgebung und
tik sowie die Sozialanamnese und wird nach inter-
Stellungnahmen bisheriger Therapeuten sowie ein mög-
disziplinärer Teambesprechung unter Einbeziehung
lichst vollständig ausgefüllter Basisfragebogen anzusehen.
aller beteiligten Disziplinen durch ein Patientenge-
Dafür ist der Deutsche Schmerzfragebogen (DSF) konzi-
spräch abgeschlossen. Die Inhalte der Untersuchun-
piert, ein konsentiertes Instrument der Deutschen
gen sind zwischen den einzelnen Disziplinen abge-
Schmerzgesellschaft, das eine schmerzrelevante struktu-
stimmt.
rierte Befragung mit gut validierten Instrumentarien
(DASS, SBL, Schwereindex nach von Korff, FW7, SF-12)
Teilnehmende Untersucher sind mindestens ein Facharzt erlaubt und in der Schmerztherapie breit eingesetzt wird.
unter enger Supervision eines Schmerztherapeuten mit Zur umfassenden Dokumentation der erhobenen Daten
Zusatzqualifikation »Spezielle Schmerztherapie«, der min- und Qualitätssicherung steht mit KEDOQ-Schmerz ein
destens in der Teamsitzung eingebunden ist, ein ärztlicher Datenerfassungs- und -auswertungssystem zur Verfügung,
oder psychologischer Psychotherapeut sowie ein Vertreter das neben den Strukturdaten der schmerztherapeutischen
aus der Sport- und Physiotherapie, möglichst jeweils mit Einrichtungen den Kerndatensatz enthält, der sich aus dem
entsprechender schmerztherapeutischer Qualifikation. DSF, der Bestimmung des Chronifizierungsgrads (MPSS),
Die beteiligten Personen und Disziplinen sollten zeitlich den Diagnosen sowie den relevanten diagnostischen und
14 und räumlich gemeinsam in einer Institution arbeiten und therapeutischen Maßnahmen zusammensetzt [7]. So lässt
zumindest eine enge, vertraglich definierte Zusammenar- sich die Qualität des durchgeführten Assessments transpa-
beit aufweisen, insbesondere bezüglich der Teamarbeit mit rent belegen, insbesondere auch gegenüber Kostenträgern
Festlegung regelmäßiger vorgeplanter Teamsitzungen. Die und Kassenärztlichen Vereinigungen (KV).
Arbeits- und Anwesenheitszeiten der einzelnen Team- Zudem werden von den einzelnen Einrichtungen in
mitglieder sollten auch kurzfristige Terminänderungen unterschiedlicher Konstellation weitere Instrumente ver-
zulassen. wendet, z. B. der Pain Disability Index (PDI, [9]), der
Wie unsere Kommission bereits an anderer Stelle aus- Funktionsfragebogen Hannover (FFbH, [18]), der Patient
geführt hat, wird eine spezifische schmerztherapeutische Health Questionnaire (PHQ-D, [21]) oder der Coping
Weiterbildung für alle Berufsgruppen als sinnvolle und Strategies Questionnaire (CSQ, [22]; vgl. 7 Abschn. 14.5.3,
langfristig notwendige Spezialisierung angesehen, um den »Testverfahren und standardisierte klinische Interviews«).
hohen qualitativen Anforderungen an die multimodale Die Einbestellung und der Ablaufplan des Assessments
Schmerztherapie auch bei zunehmender Verbreitung des müssen die häufig deutlich reduzierte psychische und
Angebots gerecht werden zu können. Bisher ist diese physische Belastbarkeit des Patienten berücksichtigen.
Bedingung lediglich für den ärztlich verantwortlichen Mit- Den Einschränkungen der Patienten muss ggf. auch wäh-
arbeiter mit der Zusatzbezeichnung »Spezielle Schmerz- rend des laufenden Assessments durch Pausen Rechnung
therapie« zwingend vorgegeben. Die offizielle Anerken- getragen werden. Ein Zeitaufwand von 3 Behandlungs-
nung etwa der »Speziellen Schmerzpsychotherapie« wird tagen für ein schmerzmedizinisches Assessment wurde
deshalb von der Deutschen Gesellschaft für psychologi- vor Kurzem seitens der Sozialgerichtsbarkeit für den sta-
sche Schmerztherapie und -forschung (DGPSF) gemein- tionären Sektor bestätigt (Sozialgericht Erfurt, Akten-
sam mit der Deutschen Schmerzgesellschaft und dem Be- zeichen S 38 KR 8795/10). Auch für den teilstationären
14.3 · Ärztliche Untersuchung
169 14
Sektor nimmt das Assessment insbesondere bei höher re und heutige Auswirkungen der Beschwerden. Besonders
chronifizierten Schmerzpatienten mit langer Vorgeschich- der vermutliche Zeitpunkt des Übergangs in eine chroni-
te in der Regel mindestens 2 volle Behandlungstage in An- sche Problematik, relevante Lebensumstände, auslösende
spruch. Ein kürzeres Verfahren kann ausreichend sein, und unterhaltende Faktoren und die sich daraus ergeben-
wenn Teile des Assessments zeitnah im Vorfeld in der zur den gesundheitlichen und psychosozialen Konsequenzen
Einrichtung gehörenden Schmerzambulanz erfolgen sind von Relevanz. Hierzu gehören auch die Wertung der
konnten. Dabei muss jedoch sicher gestellt sein, dass Beschwerden durch frühere Behandler und die Reaktion
die Untersucher ebenfalls zum therapeutischen Team ge- darauf, etwa die Verordnung von Schonung. Die Klärung
hören. der verschiedenen Punkte ist zeitintensiv und erfordert
Alle beteiligten Professionen führen eine bereichs- nahezu regelmäßig mehrfaches Nachfragen, um die not-
bezogene detaillierte Anamnese durch. Zwangsläufig wendige Explorationstiefe zu erreichen.
resultierende inhaltliche Überlappungen werden genutzt, Bei der Erfassung körperlicher, psychischer und sozia-
um die Konstanz der Angaben zu prüfen, aber auch als ler Chronifizierungsfaktoren und der Beurteilung der
mögliche erste Hinweise auf Veränderungen des patienten- Chronifizierungsgefährdung stellen z. B. der Heidelberger
eigenen Krankheitsmodells. Die Angaben des Patienten Kurzfragebogen oder der Örebro- Fragebogen wertvolle
werden dazu in der Teamsitzung thematisiert und abge- Hilfsmittel dar. Die Ermittlung des Chronifizierungsstadi-
glichen. ums (Mainzer Stadiensystem, MPSS [14]) ist obligatorisch.
Die Erkrankungsschwere nach von Korff [19] kann anhand
der Angaben des Patienten im DSF bestimmt werden.
14.3 Ärztliche Untersuchung Der bisherige Diagnostik- und Therapieverlauf wird in
der Regel von Fragebogen nicht detailliert erfasst. Er sollte
Der medizinischen Diagnostik geht ein sorgfältiges Akten- mit Angabe des Vorbehandlers inklusive Institution und
studium voraus, das die Sichtung sämtlicher relevanter Fachgebiet möglichst genau nachgezeichnet und doku-
Arztbriefe, Befunde, Schmerzfragebogen und Tester- mentiert werden. (Teil-)stationäre und ambulante konser-
gebnisse umfasst. Dies erleichtert die Vorbereitung sowohl vative, interventionelle und operative Maßnahmen, aber
für den Patienten als auch für den Untersucher und erlaubt auch Rehabilitations- und Kuraufenthalte, ggf. auch
ein problemzentriertes Gespräch mit dem Patienten. komplementäre Behandlungen bei Heilpraktikern werden
Die medizinische Diagnostik beinhaltet eine ausführ- erfragt. Unverzichtbar sind die Medikamentenanamnese
liche Anamnese, deren Umfang von der Komplexität der inklusive der Effekte bzw. Nebenwirkungen wie auch der
Vorgeschichte bestimmt wird. Chronische Schmerzpatien- aktuellen Medikation. Hier ergeben sich nicht selten bisher
ten sind in der Regel ausführlich vordiagnostiziert. Den- ungenutzte Therapieoptionen, häufiger aber auch Hin-
noch ist die erneute Abklärung potenziell bedrohlicher weise auf einen Fehlgebrauch. Schließlich ist auch die Be-
Erkrankungen, z. B. »red flags« beim Rückenschmerz, aber wertung des Patienten bezüglich Erfahrung, Erfolg und
auch von Hinweisen für symptomatische Kopfschmerzen, Wiederholung von Therapiemaßnahmen von Bedeutung.
Malignome, internistische Erkrankungen u. a. obligat. Bei den häufig jahre- und jahrzehntelangen Vorgeschich-
ten kann dieses Vorgehen mühsam sein, da den Patienten
viele Schritte ihrer »Schmerzkarriere« nicht mehr gegen-
14.3.1 Medizinische Vorgeschichte wärtig sind.
Die genaue Beschreibung der derzeitigen Beschwerden
Die schmerztherapeutische Anamnese geht immer über bezüglich Lokalisation, Ausstrahlung, Qualität, Auslöse-
eine rein symptombezogene Exploration hinaus. Es emp- und Verstärkungsfaktoren, z. B. bei bestimmten Körper-
fiehlt sich jedoch, zunächst die aktuellen Beschwerden positionen und Tätigkeiten, einschließlich der zirkadianen
anzusprechen und zu lokalisieren, bevor auf Details der Schmerzcharakteristik erlaubt eine erste Einordnung der
bei chronischen Schmerzpatienten zumeist sehr langen Beschwerden als strukturelle Schädigung – z. B. Neuro-
Vorgeschichte eingegangen wird. pathie – oder eher funktionelle Störung. Die endgültige
> Es sollten auch die Beweggründe des Patienten für
Einordnung erfolgt dann in der obligatorischen Teambe-
die Vorstellung zum Assessment und mögliche
sprechung.
Überweisungsgründe geklärt werden.
Weitere Körperbeschwerden und funktionelle sympto-
matische Syndrome, z. B. Palpitationen, Magenbeschwer-
Große Bedeutung für das Verständnis der Schmerzerkran- den, Colon irritabile und Schlafstörungen, sind aufzuneh-
kung hat die Krankheitsentwicklung bzw. Krankheits- men. Hinzu kommen die Erfassung von Komorbiditäten,
geschichte. Erfragt werden: Erstmanifestation, mögliche früher und auch aktuell, sowie familienanamnestische
Auslösesituationen, damalige Lebensumstände und frühe- Angaben.
170 Kapitel 14 · Interdisziplinäres Assessment zur multimodalen Schmerztherapie

Das subjektive Krankheitsmodell und die Erklärung 14.4 Physio-/moto-/ergotherapeutische


des Patienten zu Ursachen und Verlauf seiner Beschwer- Diagnostik
den stehen in engem Kontext mit den Therapieerwartun-
gen des Patienten, aber auch mit der Bereitschaft zur Ver- 14.4.1 Anamnese
haltensänderung.
> Nicht selten ist im Verlauf des Assessments über die
Auch für diesen Bereich können Arztberichte wertvolle In-
einzelnen Stationen hinweg eine Modifikation des
formationen bieten, z. B. Angaben zu aktiven und passiven
subjektiven »Schmerzmodells« inklusive der Ein-
Behandlungsverfahren sowie Hinweise auf die Verträg-
stellung zu aktiven bzw. passiven Therapiemaß-
lichkeit und Effekte der Maßnahmen. Im Mittelpunkt der
nahmen zu beobachten.
Anamnese steht ebenfalls zunächst das aktuelle Beschwer-
debild, aber auch die bisherige Entwicklung und insbeson-
dere die Auswirkungen auf Funktionsstatus und Aktivitäts-
grad sowie die Teilhabe am täglichen Leben (z. B. ADL,
14.3.2 Ärztliche Untersuchung auch berufsspezifische Befragung). Neben der Schmerz-
qualität und Lokalisation werden Auslöse- und Entlas-
Die ärztlich-schmerztherapeutische Untersuchung erfolgt tungssituationen erfragt, abhängig von Körperpositionen,
ebenfalls nicht nur symptombezogen, sondern sehr viel Belastungen und dem Zeitpunkt des Auftretens. Außerdem
umfassender. Neben der Erfassung schmerzhafter Struktu- gibt die Frage nach lindernden Maßnahmen, Bewegungen
ren und, sofern möglich, deren Ursachen zielt sie auch auf und Positionen hilfreiche Hinweise für die erforderliche
die Diagnostik von schmerzbedingten Folgeveränderun- Therapie. Die Behandlungsanamnese liefert Informationen
gen und schmerzunabhängigen Komorbiditäten ab. Weiter zu Anzahl, Frequenz und Art durchgeführter Maßnahmen,
dient sie der Klärung, ob die Patienten körperlich dazu in ob aktive oder passive Maßnahmen bzw. kombinierte Pro-
der Lage sind, umfassende multimodale Therapie- gramme zum Einsatz kamen, im Rahmen eines Gesamt-
programme zu absolvieren. behandlungskonzepts oder als Einzelmaßnahme. Wie
Es erfolgt deshalb eine orientierende orthopädische, wurden die Behandlungsmaßnahmen vertragen, welche
neurologische und internistische Untersuchung durch den Effekte traten auf, Linderung oder Verstärkung, und wie
Schmerzmediziner. Die orthopädische Untersuchung soll- nachhaltig wurden sie vom Patienten empfunden? Fand
te auf jeden Fall die Körperstatik, die Beweglichkeit der eine Umsetzung des Übungsprogramms zu Hause oder im
Wirbelsäule und auch der Gelenke, den Zustand der täglichen Leben statt und, wenn ja, in welcher Form?
Muskulatur sowie Funktionsuntersuchungen umfassen,
was manualmedizinische Grundkenntnisse voraussetzt.
Neurologisch werden Motorik und Sensibilität, Hirn- 14.4.2 Untersuchung
14 nerven, Koordination, Muskeleigenreflex, grobe Kraft,
Nervenkompressionszeichen und auch die vegetative Der Schwerpunkt der physio-/moto-/ergotherapeutischen
Symptomatik geprüft. Untersuchung ist weniger schadens- als vielmehr funk-
Schwerpunkte der orientierenden internistischen Un- tionell orientiert. Dabei geht es nicht nur um die Beschrei-
tersuchung stellen eine Herz-Kreislauf-Basisuntersuchung bung von Funktionsminderungen bei Affektionen des
mit Blutdruck und Puls sowie eine Auskultation von Lunge Bewegungsapparats, sondern auch um Auswirkungen
und Herz, eine Abdomenbefundung und der Gefäßstatus sonstiger chronischer Schmerzen auf Haltung, Be-
dar. wegungsverhalten und Aktivitätsniveau. Weiter liegt das
Eine weitergehende Diagnostik, die möglicherweise in Augenmerk darauf, bisher ungenutzte Bewegungsoptio-
Abhängigkeit vom Beschwerdebild erforderlich wird, z. B. nen als mögliche Ressourcen zu identifizieren.
mit Laboruntersuchungen von Entzündungsparametern Im Einzelnen wird die Diagnostik abhängig von den
oder zur Rheumaabklärung, spezielle Organuntersuchun- Hauptbeschwerden durch die Erfassung der Wirbelsäulen-
gen, bildgebende und elektroneurografische Verfahren, und Gelenkbeweglichkeit, die Durchführung von Funk-
aber auch die konsiliarische Zuziehung weiterer Fach- tionstests, die manuelle Diagnostik und die Bewertung der
disziplinen erfolgen fakultativ. Insbesondere die invasive Muskelkraft, der muskulären wie kardiovaskulären Aus-
Diagnostik, z. B. mit Liquorpunktionen, diagnostischen dauerfähigkeit (z. B. Ergometer) sowie der Koordination
Punktionen, Infiltrationen und Blockaden ist nicht primä- erweitert. Bei speziellen Fragestellungen sind auch Aktivi-
rer Inhalt des schmerztherapeutischen Assessments, tätstests wie die »progressive isoinertial lifting evaluation«
sondern erfolgt erst nach kritischer Indikationsstellung. (PILE; Hebekapazität) oder Handfunktionstests, etwa in
der Ergotherapie, hilfreich. Auch dieser Fachbereich profi-
tiert von eingesetzten Fragebogen wie dem FFbH [18].
14.5 · Psychologische und psychosomatische Diagnostik
171 14
Falls vorhanden, ist auch eine gerätegestützte isometrische Krankheit und Schmerzen) sowie Informationen zur per-
oder dynamische Funktionstestung der Rumpf- und sönlichen Entwicklung und zur aktuellen Lebenssituation
Nackenmuskulatur quantitativ auswertbar. Gleichgewichts- (einschließlich Partnerschaft und Beruf). In der biografi-
störungen sind ebenfalls zu erfassen, nicht zuletzt um ein schen Anamnese sollte dem früheren Schmerzerleben
mögliches Gefährdungspotenzial oder Sturzrisiko des Pa- (z. B. als Folge von Verletzungen, Unfällen und Krank-
tienten während körperlicher Übungen abzuschätzen. heiten, Schmerzen bei nahen Angehörigen), traumatisch
> Die Beurteilung der Körperwahrnehmung ist einer-
erlebten Ereignissen, aktuellen Konflikten mit wichtigen
seits für die Gestaltung des Therapieplans von Be-
Bezugspersonen oder in der Arbeit sowie überdauernden
deutung, andererseits lässt sie auch Rückschlüsse
Konfliktmustern besondere Aufmerksamkeit geschenkt
auf den Umgang des Patienten mit Körpersignalen
werden. Hinzu kommen die Erhebung von Ressourcen,
wie etwa das Ignorieren erster Überlastungssignale
Bewältigungsansätzen, instrumentellen Funktionen chro-
beim Durchhalten oder die Überbewertung von
nischer Schmerzen sowie deren Einfluss auf die Bezie-
Schmerz bei Vermeidungsverhalten zu und gibt so
hungsgestaltung des Patienten im Alltag. Neben den
den psychotherapeutischen Untersuchern nützliche
schmerzrelevanten Informationen werden auch psycholo-
Hinweise.
gische Besonderheiten wie eine Persönlichkeitsakzentuie-
rung und psychopathologische Besonderheiten erfasst, die
den Behandlungsverlauf beeinflussen können.
Gegebenenfalls früher aufgetretene psychische Be-
14.5 Psychologische und psychoso- schwerden oder Störungen und psychotherapeutische,
matische Diagnostik psychiatrische und psychosomatische Vorbehandlungen
sollten erfasst und daraufhin geprüft werden, ob ein
Die psychologische Diagnostik ist bei chronischen Zusammenhang zur aktuellen Krankheitssituation bzw.
Schmerzen Teil der Basisdiagnostik, gerade für den Über- Beschwerdesymptomatik besteht.
gang des akuten oder subakuten zum chronischen Schmerz Fremdanamnestische Daten können von Bedeutung
sind psychologische Kriterien besonders relevant. sein. Der Schwerpunkt der Anamnese sollte nicht auf den
Für eine differenzierte psychologische Diagnostik ste- historischen Aspekten der Erkrankung, sondern vielmehr
hen die psychologische Anamnese (ausführlich in [27]), auf dem Chronifizierungsprozess und den dabei bedeut-
die biografische Anamnese für Schmerzpatienten [1, 10], samen Faktoren liegen.
die Verhaltensbeobachtung, psychologische Testverfahren > Ähnlich wie bei der ärztlichen Anamnese ist eine
(ausführlicher in [17]) sowie standardisierte Instrumente Kategorisierung in psychogene vs. somatische
zur Erhebung psychischer Komorbiditäten (PHQ-D, Beschwerden zu vermeiden.
SKID; DIPS, DIA-X) zur Verfügung. Ziel der psychologi-
schen Diagnostik ist die Identifikation prädisponierender,
auslösender und aufrechterhaltender Bedingungen [28].
Hinzu kommt die Diagnostik psychischer Komorbiditäten. 14.5.2 Verhaltensbeobachtung
Grundlage des diagnostischen Prozesses ist ein sorgfäl- und Erhebung des psychopatho-
tiges Aktenstudium, das – abgesehen von seinem informa- logischen Status
tiven Gehalt – auch die Beziehungsaufnahme zum Patien-
ten erleichtern kann. Parallel zur Anamneseführung werden Informationen zu
Schmerzverhalten, Stimmung, Kontakt und sozialen Fä-
higkeiten erhoben. Wie bereits in den historischen Arbei-
14.5.1 Anamnese ten von W. Fordyce [12] dargestellt, kommt dem Schmerz-
verhalten im Kontext der Genese bzw. Aufrechterhaltung
Die psychologische Anamnese ist ein diagnostisches von Schmerzerkrankungen eine besondere Bedeutung zu.
Routineverfahren ohne verbindliche Standardisierung. Gerade für das partnerschaftliche Interaktionsverhalten ist
Für die Untersuchung von Schmerzpatienten wird die Er- dies immer wieder bestätigt worden [11, 37]. Die schmerz-
hebung folgender Aspekte der Lebens- und Krankheitsge- therapeutische Untersuchung ist zwar ein Sonderfall der
schichte des Patienten empfohlen: aktuelle Beschwerden, sozialen Interaktion, dennoch können sich Interaktions-
Entwicklung der Chronifizierung, Einflussfaktoren, Be- stile und Verhaltensmuster auch dort manifestieren und
dingungen und Folgen chronischer Schmerzen im Alltag, erkennbar werden. Parallel zur verbalen Anamnese-
Krankheitskonzept, sonstige körperliche oder seelische führung werden daher auch Informationen zum Schmerz-
Beschwerden, eine ausführliche Familienanamnese (auch verhalten und zum Sozial- und Interaktionsverhalten des
unter Berücksichtigung von Erfahrungen hinsichtlich Patienten in der Anamnese bzw. Exploration erhoben, um
172 Kapitel 14 · Interdisziplinäres Assessment zur multimodalen Schmerztherapie

daraus ggf. Hypothesen über Funktionen des Schmerz- berufsbezogener (»blue flags«) und sozioberuflicher
verhaltens im sozialen Kontext ableiten zu können. Faktoren (»black flags«) und ihre Relevanz für die
> Es empfiehlt sich eine sorgfältige Berücksichtigung
Schmerzchronifizierung hinaus.
der Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den
Beginnend mit der Familienstruktur (Partner, Kinder,
3 Untersuchungsebenen Arzt, Psychologe und
Eltern, Geschwister) und innerfamiliären Belastungen, wie
Physiotherapeut. Diese fließen in die Hypothesen-
der Pflege Angehöriger oder chronischen Erkrankungen in
bildung zur Aufrechterhaltung der aktuellen
der Familie, werden die Wohnsituation sowie Beruf,
Beschwerden ein; sie können auch Anhaltspunkte
Ausbildung und Erwerbsstatus erfragt. Die wirtschaftliche
für prädisponierende bzw. auslösende Faktoren
Situation – Einkommen und eventuell Belastungen, auch
bilden. Die regelmäßige Erhebung des psychopa-
die Arbeitsunfähigkeit – gibt in Zusammenschau mit sozi-
thologischen Status erfolgt nach den dafür
alrechtlichen Aspekten wie dem Versichertenstatus, sozia-
bestehenden Kriterien.
len Kompensationen oder anhängigen Rechtsverfahren
wichtige Hinweise auf mögliche Zielkonflikte oder auch
nur terminliche Zwänge. Die ethnische Zugehörigkeit, der
Migrantenstatus und die sprachlichen Fähigkeiten zeigen
14.5.3 Testverfahren und standardisierte fallbezogen mögliche Therapiehindernisse auf. In engerem
klinische Interviews Bezug zum Schmerzgeschehen stehen die Ausgestaltung
und Häufigkeit sozialer Kontakte, die ebenso wie die
Testverfahren sind in der Schmerzdiagnostik inzwischen noch bestehenden Freizeitaktivitäten und die verbliebene
Standard, wobei sie nicht dazu verwendet werden können, Mobilität Hinweise auf sozialen Rückzug geben.
Diagnosen zu stellen [28]. Sie können allenfalls den
Eindruck aus Anamnese und Aktenstudium ergänzen
bzw. neue Anhaltspunkte liefern, die aber anhand der 14.7 Teambesprechung
Anamnese abgeklärt bzw. gesichert werden müssen. Einige
der Instrumente sind standardmäßig im Fragebogen der Nach Abschluss der getrennt durchgeführten Unter-
Deutschen Schmerzgesellschaft enthalten, andere können suchungen in den einzelnen Bereichen finden sich die
auch nach Hinweisen aus dem Aktenstudium ergänzend beteiligten Untersucher möglichst im unmittelbaren zeit-
herangezogen werden. lichen Zusammenhang zu einer Teambesprechung zusam-
Die im Folgenden angeführten Instrumente sind bei men. Diese ist das Herz des interdisziplinären Assessments.
entsprechender Indikationsstellung zu empfehlen: Hin- Die anamnestischen Daten sowie die erhobenen Befunde
weise zur psychischen Komorbidität können z. B. mithilfe werden von den beteiligten Untersuchern vorgestellt und
des PHQ-D [21] erhoben werden. Testverfahren stehen je gegeneinander abgeglichen. Das Ergebnis der Besprechung
14 nach Zielsetzung zur Erhebung von Schmerzerleben bzw. ist ein gemeinsames Modell zur Erklärung der Entstehung
Schmerzqualität (SES [13]), maladaptiven Kognitionen und Aufrechterhaltung der Schmerzsymptomatik und die
(z. B. CSQ [22]; FESV [13, 13a]; FABQ [30]), gefühlsmäßi- Formulierung einheitlicher (Verdachts-)Diagnosen. Be-
gen Beeinträchtigungen (DASS [28]; HADS [16]; ADS sondere Bedeutung hat die Erörterung der Therapie-
[15]), zur Erfassung von Beeinträchtigungserleben (PDI motivation des Patienten, auch vor dem Hintergrund sich
[9]; FFbH [18]) und Schmerzkatastrophisierung [Pain ergebender Zielkonflikte. Nicht selten zeigen sich hier
Catastrophizing Scale (PCS)] sowie der Lebensqualität unterschiedliche Sichtweisen der einzelnen Untersucher,
(SF-12 [6]) zur Verfügung. Eine ausführliche Einführung wodurch ein Konsens im Team erschwert werden kann.
zu psychometrischen Testverfahren in der Diagnostik von Ebenso kann sich aber auch eine Entwicklung seitens des
Schmerzpatienten geben Kröner-Herwig u. Lauterbacher Patienten im Verlauf des Assessments hin zu einer günsti-
[20] bzw. Pioch [31]. geren Therapieeinstellung abbilden.
Bei geriatrischen Patienten sollte sich die Diagnostik Ein weiteres Thema der Teambesprechung ist die Ab-
an Empfehlungen der Arbeitsgruppe »Schmerz und Alter« stimmung über das weitere Vorgehen inklusive der Frage
orientieren [4]. der Organisationsform: ambulant, tagesklinisch oder
stationär. Erörtert werden ggf. noch erforderliche diagnos-
tische Maßnahmen, Umstellung oder Beendigung der
14.6 Sozialdiagnostik Medikation, Art und Umfang interdisziplinärer multimo-
daler Therapieprogramme, psychotherapeutische Verfah-
Die Sozialanamnese kann im Rahmen der medizinischen ren und auch der Einsatz interventioneller Maßnahmen.
wie auch der psychologischen Anamnese, aber auch ge- Wird die Indikation für eine multimodale Therapie ge-
trennt davon erfasst werden. Sie geht über die Erfassung stellt, sollte ein individuelles Therapieprogramm erstellt
14.9 · Fazit für die Praxis
173 14
und die Therapieplanung festgelegt werden. Dabei ist auch Auf dieser Erkenntnis aufbauend können adäquate Be-
zu klären, ob vor diesem Therapieprogramm noch vor- handlungsmaßnahmen eingeleitet sowie Behandlungsin-
bereitende Maßnahmen zu ergreifen sind. Diese können halte individuell angepasst werden. Nicht selten führt die
auch zur Abklärung der Therapieerwartung und Therapie- vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Erkrankungs-
motivation des Patienten eingesetzt werden. verlauf bereits während des Assessments zu einer Verände-
> Sollte keine Indikation für ein interdisziplinäres
rung des Krankheitsmodells des Patienten mit zunehmen-
multimodales Therapieprogramm bestehen, sollten
der Offenheit gegenüber einem multifaktoriellen biopsy-
die Empfehlungen für die Weiterbehandler und
chosozialen Geschehen. Früher erhobene klinische,
auch die Dringlichkeit weiterer Therapiemaßnah-
apparative und bildgebende Befunde dürfen dabei nicht
men abgestimmt werden, z. B. bei möglicher Opera-
kritiklos übernommen werden, zumal sie häufig Wider-
tionsindikation.
sprüche aufweisen und ebenso häufig eine einseitige
Krankheitsinterpretation des Patienten induziert haben.
Die Interpretation vorausgegangener Untersuchungser-
gebnisse, die in die abschließende Bewertung einbezogen
14.8 Abschlussgespräch mit dem Patienten werden, erfordert in Abhängigkeit vom Krankheits- und
Beschwerdebild möglicherweise die Hinzuziehung eines
Das Assessment wird durch ein zeitnah zu führendes ab- fachspezifischen Arztes bzw. Therapeuten, insbesondere
schließendes Gespräch mit dem Patienten abgeschlossen. zum sicheren Ausschluss möglicher spezifischer Ursachen.
Dabei werden dem Patienten das Beschwerdebild in seiner Bei aller diagnostischen Intensität darf nicht die Grund-
gesamten Breite sowie mögliche Ursachen und Aus- regel außer Acht gelassen werden, dass der Ausschluss
wirkungen erläutert und die im Team gefundene diagnos- potenziell gefährlicher und kausal therapierbarer Krank-
tische Einordnung erklärt. Wichtig ist dabei, die Ausgangs- heitsverläufe einer Schmerztherapie zwingend voraus-
situation des Patienten, wie sie sich bei der Anamnese gehen muss. Die Nationale VersorgungsLeitlinie »Kreuz-
ergeben hat, und seine eigenen Vorstellungen mit zu be- schmerz« fordert nach spätestens 6 Wochen therapieresis-
rücksichtigen bzw. ihn dort »abzuholen«. Weiter werden tenter Schmerzen trotz leitliniengerechter Therapie ein
mögliche Therapieansätze und Therapieangebote erläutert interdisziplinäres Assessment zur Klärung der Indikation
und ggf. ein Therapieangebot konkretisiert, für das sich multimodaler Therapie mit dem Ziel, eine Chronifizie-
der Patient dann eigenständig und motiviert entscheiden rungsgefährdung zu erkennen und ein intensives, interdis-
kann. Andernfalls können Bedenkzeit oder ein weiteres ziplinäres Therapieprogramm mit verbesserter Prognose
Aufklärungsgespräch eingeräumt werden. Auch ein einzuleiten. Grundsätzlich kann diese Anforderung für
zeitlich befristeter Therapieversuch kann erfolgen. Zum jede Art von Schmerzerkrankung bereits im Chronifizie-
Abschlussgespräch gehören auch die organisatorischen rungsprozess gelten, zwingend jedoch bei bereits chroni-
Aspekte der Behandlung und die konkrete Therapie- schen Schmerzzuständen. Das hier beschriebene struktu-
planung mit Terminierung. rierte Assessment hilft, die bekannten Odysseen von
Schmerzpatienten zugunsten eines abgestuften schmerz-
therapeutischen Angebots zu vermeiden bzw. zu beenden.
14.9 Fazit für die Praxis Die dargestellten Forderungen sind aus Sicht eines ambu-
lant tätigen Schmerztherapeuten in der Regelversorgung
Das vielschichtige und für den chronischen Schmerz prä- des KV-Systems schwierig umzusetzen, werden aber im
gende Wechselspiel zwischen somatischen, psychischen Rahmen von Selektivverträgen bereits berücksichtigt [38].
und sozialen Faktoren, die sich in einem komplexen Ge- > Die Übertragung dieser Strukturen in die Regelver-
schehen wechselseitig bedingen, unterhalten und ver- sorgung ist Bestandteil des Qualitätsanspruchs der
stärken, erfordert ein gemeinsames, abgestimmtes multi- Schmerzmedizin. Eine entsprechende Honorierung
disziplinäres Vorgehen zu einem frühestmöglichen Zeit- ist allerdings erforderlich, zumal das Assessment
punkt der Krankheitsentwicklung. Dieses teamorientierte, hohe Kompetenz und Erfahrung vom Team verlangt.
interdisziplinäre diagnostische Update beinhaltet eine
neue detaillierte Anamnese unter besonderer Berücksich-
tigung des Krankheitsverlaufs und eine unvoreingenom- Einhaltung der ethischen Richtlinien
mene Untersuchung, beides aus somatisch-strukturellem, Interessenkonflikt H.-R. Casser, B. Arnold, I. Gralow,
funktionellem, schmerzpsychologischem und psychothe- D. Irnich, K. Klimczyk, B. Nagel, M. Pfingsten, M. Schiltenwolf,
rapeutischem sowie sozialem Blickwinkel. Damit lässt sich R. Sittl, W. Söllner, R. Sabatowski und T. Brinkschmidt geben
die Krankheitsentwicklung für alle Beteiligten – auch für an, dass kein Interessenkonflikt besteht. – Dieser Beitrag be-
den Patienten! – transparent und nachvollziehbar machen. inhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.
174 Kapitel 14 · Interdisziplinäres Assessment zur multimodalen Schmerztherapie

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175 V

Edukation und
Patientenperspektive
Kapitel 15 Information und Edukation des Patienten – 177
H.-G. Nobis, A. Pielsticker

Kapitel 16 Gesprächsführung – 195


C. Leonhardt

Kapitel 17 Biopsychosoziale Krankheitsmodelle – 205


M. I. Hasenbring
177 15

Information und Edukation


des Patienten
H.-G. Nobis, A. Pielsticker

15.1 Einleitung – 179

15.2 Information und Edukation in ihrer wissenschaftlichen


Bedeutung – 180
15.2.1 Stand der Forschung – 180
15.2.2 Anmerkungen – 180

15.3 Ziele und Inhalte von Edukation – 180


15.3.1 Zielbereiche der Informationsvermittlung – 181
15.3.2 Inhalte von Edukation – 181
15.3.3 Vermittlung der Edukationsinhalte – 182

15.4 Standardisierte Edukationsprogramme – 182


15.4.1 Manual: Psychologische Therapie bei Kopf-
und Rückenschmerzen – 183
15.4.2 Manual: Chronische Kopf- und Rückenschmerzen – 183
15.4.3 Manual: Interaktionelle Gruppenpsychotherapie für somatoforme
Schmerzstörung – 184
15.4.4 Manual: Göttinger Rücken-Intensiv-Programm (GRIP) – 184
15.4.5 Manual: Therapiemanual für die operante Schmerzbehandlung – 185
15.4.6 Sonstige Rückenschmerzprogramme – 186
15.4.7 Anmerkungen und Kritik – 186

15.5 Information und Edukation in den Medien – 187


15.5.1 Informationen in Printmedien – 187
15.5.2 Internet/»e-mental-health« – 187
15.5.3 Computerprogramme – 188
15.5.4 Anmerkungen – 188

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
15.6 Informationsvermittlung –
eine pädagogische Herausforderung – 189
15.6.1 Patient-Behandler-Interaktion – 189
15.6.2 Sprachebene – 190
15.6.3 Lernen/Begreifen – 190
15.6.4 Anmerkungen – 191

15.7 Fazit für die Praxis – 191

Literatur – 192
15.1 · Einleitung
179 15
Patienten mit Schmerzen wünschen sich nachvollziehbare land die »Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz«
Informationen über ihr Beschwerdebild sowie Wertschät- veröffentlicht (7 http://www.versorgungsleitlinien.de) [3],
zung, Ermutigung und eine Beteiligung an Entscheidungs- die eine adäquate, individuelle Information und Beratung
prozessen. Edukation bedeutet, Patienten und ihre An- bei akutem/subakutem Kreuzschmerz und Schulungs-
gehörigen über die Krankheit und ihre Behandlung zu maßnahmen bei chronischem Kreuzschmerz ausdrücklich
informieren. Wissenschaftliche Studien und klinische empfiehlt und diese Maßnahmen als Bestandteile einer
Erfahrungen bestätigen, dass die Vermittlung sachgerechter Regelversorgung ausdrücklich einfordert. Im neuen Pa-
Informationen über Krankheits- oder Beschwerdebild be- tientenrechtegesetz, das im Februar 2013 in Kraft trat, wird
reits für sich genommen eine therapeutisch wirksame Inter- der Arzt verpflichtet, den Patienten in einem persönlichen
vention ist. Die Erklärung biospsychosozialer Zusammen- Gespräch verständlich und umfassend zu informieren
hänge stellt auch eine pädagogische Herausforderung dar. [11].
Als Orientierungshilfe werden daher Informationsbausteine Für den überwiegenden Teil der Patienten mit Rücken-
in der Schmerzedukation und zentrale Strategien zur Ver- schmerz gilt aber zunächst: »Sich auf bisher unbekannte
mittlung der Edukationsinhalte vorgestellt. Weiterführend Therapiekonzepte einzulassen, zumal auch solche, die
werden ausführliche Empfehlungen zur zielgerichteten Ver- eigene Anteile am Zustandekommen und der Aufrechter-
mittlung schmerzrelevanter Informationen gegeben. Eine haltung von Schmerzen ansprechen, heißt für die meisten
gelungene Kommunikation und Informationsvermittlung Patienten ‚Neuland‘ zu betreten. Ein solcher Schritt
fördert auf beiden Seiten Motivation, Compliance und löst immer ein grundlegendes Bedürfnis nach Orientie-
die therapeutische Effektivität. rung aus, dem Rechnung getragen werden muss, bevor
man mit konkreten Aufgaben, Interventionen beginnen
kann« [23].
15.1 Einleitung Auch Hildebrandt et al. [27] weisen auf den Zusam-
menhang hin, »… dass eine Veränderung des individuellen
» Gesagt ist nicht gehört. Gehört ist nicht verstanden. Schmerzkonzeptes der Therapie jeweils vorgeschaltet
Verstanden ist nicht einverstanden. Einverstanden werden sollte, um Therapiemotivation und -effizienz zu
ist nicht angewendet. Und angewendet ist noch erhöhen«.
lange nicht beibehalten. (Konrad Lorenz, Nobelpreis- Somit wird erst die Vermittlung eines »auf Höhe des
träger) Patienten« ausgerichteten Modells über Entstehung, Aus-
lösung und Chronifizierung von Rückenschmerzen dem
Unter dem Begriff Edukation werden systematisch-didak- Grundsatz ganzheitlicher, leitliniengemäßer Behandlung
tische (didaktisch: die Kunst der geeigneten Wissens- gerecht und entspricht dem Geist der Deklaration von
vermittlung) Maßnahmen zusammengefasst, die dazu ge- Montreal.
eignet sind, Patienten und ihre Angehörigen über die Angesichts der Fülle an mehr oder weniger differen-
Krankheit und ihre Behandlung zu informieren, das zierten Informationsquellen ist nicht verwunderlich, wie
Krankheitsverständnis und den selbstverantwortlichen verbreitet noch Fehlinformationen über die Ursachen,
Umgang mit der Krankheit zu fördern und sie bei der Folgen und Therapieoptionen von und bei chronischen
Krankheitsbewältigung zu unterstützen [39]. Rückenschmerzen sind [8, 13].
Wissenschaftliche Studien und klinische Erfahrungen Sowohl die Dramatisierung – »Wenn Sie so weiterma-
bestätigen, dass die Vermittlung sachgerechter Informa- chen landen Sie im Rollstuhl« – als auch die Bagatellisie-
tionen über ein Krankheits- oder Beschwerdebild bereits rung – »Nie wieder Rückenschmerzen« –, wie man sie in
für sich genommen eine therapeutisch wirksame Interven- nicht wenigen Überschriften von Broschüren findet, füh-
tion ist. Oft sogar scheint gerade die Modifikation des sub- ren den Patienten in eine therapeutische Sackgasse. Die
jektiven Krankheitsmodells beim Patienten der kleinste Erklärung biopsychosozialer Zusammenhänge »auf Höhe
gemeinsame Nenner zu sein, auf den der Therapieerfolg des Patienten« ist für den behandelnden Arzt und Thera-
zurückzuführen ist. peuten nicht nur eine Frage des eigenen Wissensstands,
Die grundlegende Bedeutung von Informationen für sondern auch eine Frage von »was und wie« vermittelt wer-
Schmerzkranke wird auch durch die Forderung der »Inter- den soll und stellt somit für nicht wenige eine »pädagogi-
national Association for the Study of Pain« (IASP) [30] sche Herausforderung« dar.
unterstrichen, die auf ihrem 13. Welt-Schmerzkongress
2010 in Kanada mit der »Declaration of Montreal« im
Artikel 2 das weltweite Recht auf Informationen über
Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten festschrieb
(7 http://www.iasp-pain.org). Zeitgleich wurde in Deutsch-
180 Kapitel 15 · Information und Edukation des Patienten

15.2 Information und Edukation in ihrer Die Bedeutsamkeit von spezifischen Informationen in
wissenschaftlichen Bedeutung der Edukation wurde von Moseley et al. [38] untersucht.
Die individuelle Edukation durch Physiotherapeuten war
15.2.1 Stand der Forschung der allgemeinen Edukation bei Rückenschmerzen signifi-
kant überlegen. In einer weiteren Studie belegt Moseley
Die Notwendigkeit von Edukation für den Behandlungs- [37] einen positiven Effekt zwischen der Vermittlung
verlauf scheint unbestritten. Briggs et al. [9] weisen nach, schmerzphysiologischer Zusammenhänge und physischen
dass Patienten mit ausgeprägter Beeinträchtigung bei Verbesserungen und einer Veränderung kognitiver Über-
chronischen Rückenschmerzen über weniger funktio- zeugungen bei Patienten mit chronischem Rückenschmerz.
nale  schmerzbezogene Überzeugungen, stärkere »fear- Der Effekt wird auf die Relativierung ihrer Beschwerden
avoidance-beliefs«, einen passiven Bewältigungsstil und und den damit verbundenen Abbau von Katastrophisie-
ein eher biologisch ausgerichtetes Krankheitsmodell ver- rungstendenzen zurückgeführt.
fügen.
Die Wirksamkeit von Edukation konnte in zahlreichen
empirischen Studien belegt werden. In einer evidenzorien- 15.2.2 Anmerkungen
tierten Überblicksarbeit der American Geriatrics Society
[1] kamen die Autoren nach Auswertung von 2.500 Studi- Die Wirksamkeit von Edukation für den Behandlungs-
en zur Effektivität von Behandlungsmaßnahmen bei erfolg gilt als belegt. Behandlungen mit informierten Pa-
chronischem Schmerz hinsichtlich Edukation zu der Be- tienten sind nachweislich erfolgreicher. Der Einbeziehung
wertung, dass der Edukation angesichts ihrer belegten von edukativen Informationsbausteinen bewirkt größere
Wirksamkeit eine zentrale Stellung in der Behandlung von und nachhaltigere Therapieeffekte. Nach aktuellem For-
chronischen Schmerzen gegeben werden muss. So heißt es schungsstand profitieren Patienten mit akuten Rücken-
dort: »The importance of patient education cannot be schmerzen mehr von Edukation als Patienten mit chroni-
overemphasized«. Hinsichtlich der Forschungsqualität schen Rückenschmerzen. Die angebotenen Informationen
und nachgewiesenen therapeutischen Wirkung erreichten sind möglicherweise noch zu wenig auf bereits langjährig
edukative Maßnahmen die höchste Evidenz. chronifizierte Schmerzsyndrome ausgerichtet. Erste
Engers et al. [20] untersuchten die Wirksamkeit von Hinweise auf eine Überlegenheit von Edukation, die an
subgruppenorientierter Edukation bei unspezifischen Subgruppen ausgerichtet ist, müssen empirisch noch
Rückenschmerzen. Inhaltlich bezog sich die Edukation auf weiter abgesichert werden.
die Beibehaltung der körperlichen Aktivität, das Vermeiden
von Grübeln, Schmerzbewältigungsstrategien und Mög-
lichkeiten zur Vermeidung von Anspannung und 15.3 Ziele und Inhalte von Edukation
Rückenverletzungen. Basierend auf einem Review von
24 randomisierten kontrollierten Studien zeigten die Er- Die Anerkennung von biopsychosozialen Wirkfaktoren
15 gebnisse, dass bei Patienten mit (sub)akutem Rücken- führte zu neuen Behandlungsprämissen. Nachemson
schmerz bereits eine 2,5-stündige mündliche edukative [40] formulierte seine neuen Therapieprinzipien zur Be-
Sitzung ausreicht, um die Chancen auf eine Rückkehr an handlung chronischer Rückenschmerzen 1985 mit den
den Arbeitsplatz zu verbessern. Dagegen konnte der Funk- Schlagworten: »education« (Aufklärung), »exercise«
tionsstatus von Patienten mit chronischen Rückenschmer- (Übungen) und »encouragement« (Ermutigung). Mayer
zen wirksamer von einer multimodal angelegten Behand- und Gatchel entwickelten daraus [34] den »Functional-
lung beeinflusst werden (z. B. kognitive verhaltensthera- restoration-Ansatz«. Zentrales Behandlungsziel bei die-
peutische Gruppenbehandlung, Physiotherapie, manuelle sem Ansatz ist die Wiederherstellung der objektiven und
Therapie, Yoga und Rückenschule) als durch eine »reine« subjektiven biopsychosozialen Funktionsfähigkeit; in der
Wissensvermittlung. Die Cochrane Collaboration zieht die Behandlung werden sport-, ergo-, physio- und verhaltens-
Schlussfolgerung, dass für Patienten mit (sub)akuten therapeutische Interventionen unter einem standardisier-
Rückenschmerzen eine intensive Edukation noch effektiver ten Gesamtkonzept angewendet.
ist als für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. Nur inhaltlich und organisatorisch aufeinander abge-
Die Bedeutung von Edukation bei (sub)akuten stimmte, multimodal angelegte Behandlungsverfahren
Rückenschmerzen in einem möglichst frühen Stadium der haben langfristig positive Effekte. Die Edukation, hier im
Krankheitsentwicklung zur Verhinderung einer Chroni- engeren Sinne die »Informationsvermittlung«, ist dabei ein
fizierung ist hingegen unbestritten. So konnten Gräwe et zentraler Baustein.
al. [24] belegen, dass präoperative Patienteninformationen
den postoperativen Schmerzverlauf begünstigen.
15.3 · Ziele und Inhalte von Edukation
181 15
15.3.1 Zielbereiche der Informations-
vermittlung 5 Abbau der Angst vor Aktivität und Motivation zu
körperlicher Aktivität
In den folgenden Übersichten sind empfohlene, in der 5 Adäquater Umgang mit Ärzten und sozialmedizini-
Vergangenheit bewährte und schulübergreifend zusam- schen Sicherungssystemen
mengefasste Zielbereiche der Informationsvermittlung 5 Arbeitsplatzprobleme und -konflikte benennen
aufgelistet [5, 6, 21, 28, 35, 41]: und Lösungsperspektiven entwickeln

Aufklärung über Diagnose und Behandlungs-


Multimodal konzipierte Edukationskonzepte (7 Ab-
prinzipien
schn.  15.4) gehen über eine reine Wissensvermittlung
5 Erläuterung der Diagnose
hinaus und stellen Handlungskompetenzen und motivatio-
5 Erklärung der Ursachen, der Entstehungsbedin-
nale Aspekte in den Vordergrund. Mit dem Patienten sollen
gungen und des zu erwartenden Verlaufs der
Kenntnisse, Fertigkeiten und Lösungsstrategien erarbeitet
Erkrankung
werden, mit denen er sein Selbstmanagement hinsichtlich
5 Hinweise auf Besonderheiten spezieller Schmerz-
Krankheitsbewältigung, Gesundheit und Lebensstil opti-
syndrome (z. B. Ungefährlichkeit von unspezifi-
mieren kann. Alle aktuellen Konzepte und Leitlinienemp-
schen Rückenschmerzen)
fehlungen fordern inzwischen auch die direkte Einbe-
ziehung von Aspekten des beruflichen Alltags [48, 18].

Vermittlung störungsbezogener Informationen 15.3.2 Inhalte von Edukation


5 Erweiterung des subjektiven Schmerzkonzepts um
biopsychosoziale Aspekte Trotz allumfassender Medienpräsenz haben Patienten mit
5 Bedeutung der Lebensgeschichte hinsichtlich chronischen Rückenschmerzen immer noch ein erheb-
frühkindlicher Schmerzerfahrungen und trauma- liches Informationsdefizit. In einer kanadischen Studie
bedingter Stressvulnerabilität [25] äußerte die Mehrheit der Befragten eine überwiegend
5 Einsatz von Tagebüchern zu Schmerzempfinden, pessimistische und negative Einstellung zu Rückenschmer-
Stimmungen und Aktivität zen und hielt Schonung für die beste Behandlungsstrategie.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn Patienten, die
körperliche Anstrengung in ihrem Fall für »gefährlich«
halten, körperbezogene Trainingsmaßnahmen als »schäd-
Vermittlung therapierelevanter Informationen lich« zurückweisen.
5 Aufklärung über die medizinisch-therapeutische Die typischen »Krankheitsvorstellungen« [23] von
Ausrichtung Rückenschmerzpatienten zu Beginn einer Behandlung
5 Darstellung verschiedener Behandlungsmöglich- sind:
keiten mit eventuellen Risiken und Nebenwirkun- 1. Schmerz ist nur ein lokales Geschehen.
gen 2. Schmerz weist immer auf einen körperlichen
5 Erläuterung von alternativen Therapieverfahren Defekt.
(z. B. Akupressur) 3. Skepsis bis Ablehnung gegenüber psychosozialen
5 Informationen zur Wirkungsweise von Medika- Mitwirkungsfaktoren.
menten und zu selbstkritischem Umgang mit 4. Ich kann selbst nichts machen.
Medikamentenkonsum
Daraus ergeben sich folgende Erwartungen an den medi-
zinischen Behandler:
1. Der Arzt ist der Experte.
Unterstützung des Patienten bei der Entwicklung 2. Erwartung gründlichster medizinischer Diagnostik.
allgemeiner Selbstmanagement- und Bewälti- 3. Erwartung ausschließlich medizinischer Behandlung.
gungskompetenzen
5 Motivation zu selbstständigem Handeln im Alltag Angesichts dieser »Vorurteile« auf Patientenseite wird
5 Erlernen von Selbstverstärkungsmaßnahmen noch einmal der Stellenwert einer Informationsver-
5 Vermitteln von Entspannungsverfahren mittlung zu Behandlungsbeginn nachvollziehbar. Die In-
formationsbausteine in der folgenden Übersicht sind eine
182 Kapitel 15 · Information und Edukation des Patienten

Zusammenfassung üblicher, je nach therapeutischer Aus- 4 Was dem Schmerzkranken vermittelt werden soll,
richtung unterschiedlich akzentuierter Informations- muss auch der Behandler wissen. Auch hier liegt die
schwerpunkte und bieten dem klinisch Tätigen eine erste Notwendigkeit einer spezifischen Weiterbildung,
Orientierungshilfe über die zu vermittelnden Themen so wie sie für die Ärzte, Psychotherapeuten und
[5, 6, 21, 28, 35, 41], entsprechend dem zur Verfügung Pflegekräfte schon in Form von Zertifikaten realisiert
stehenden Zeitbudget: ist.
4 Informationen über die Wirkung biografischer
Vulnerabilität (u. a. traumatischer Erfahrungen, früh-
Informationsbausteine in der Schmerzedukation
kindlicher Schmerzerfahrungen), zurückgehaltener
5 Physiologie des Schmerzes
Emotion, gestörten Schlafs und iatrogener Schädi-
5 Körpereigenes Schmerzhemmsystem (Gate-
gung auf Schmerz werden in der Informationsver-
control-Theorie)
mittlung oft vernachlässigt.
5 Akuter Schmerz – chronischer Schmerz
4 Je nach medizinisch-therapeutischer Ausrichtung
5 Bedeutung von »Schmerzgedächtnis« und Neuro-
werden Ziele und Inhalte entweder unterschiedlich
plastizität
akzentuiert oder nicht berücksichtigt.
5 Zusammenhang Kognition–Emotion–Körper
4 Die ausdrückliche Nennung der »Gate-control-
5 Biografische Vulnerabilität und chronischer
Theorie« ist nur noch dann sinnvoll, wenn Patienten
Schmerz
die Theorie als historisch bedeutsamen Schritt zur
5 Biopsychosoziales Krankheitsmodell
Entwicklung eines biopsychosozialen Schmerzver-
5 Informationen zum Krankheitsbild
ständnisses und für die Erkenntnis eines körpereige-
5 Stresskonzept: Schmerz-Muskel-Befinden
nen Schmerzhemmsystems nachvollziehen sollen. In
5 Zusammenhang von Gedanken, Befinden,
Ausbildungscurricula für Ärzte gelten die von
Aufmerksamkeit und Schmerz
Melzack und Wall eingebrachten neurophysiologi-
5 Informationen zu Schlaf und Schmerz
schen Mechanismen inzwischen als »überholt« oder
5 Einführung in die operante Schmerztheorie
sogar als »falsch« [52]; deswegen müssen Nutzer der
5 Informationen zu Haltung und Bewegung
Theorie nicht nur damit rechnen, dass ihnen infor-
5 »Prinzipien des Genießens«
mierte Patienten (z. B. durch Wikipedia) wider-
5 Emotions- und Schmerztagebuch
sprechen, sondern auch, dass die Frage körpereigener
5 Arbeits-, Renten- und Versicherungsrecht,
Schmerzhemmung (»Schmerztore«) in einem
sozialmedizinische Leistungsbeurteilung
Glaubenskonflikt enden kann.
5 Medikamentöse Schmerzbehandlung/
Medikamentenmissbrauch

15.4 Standardisierte
Edukationsprogramme
15
15.3.3 Vermittlung der Edukationsinhalte Es gilt als gesichert, dass Patientenschulungen die Er-
gebnisse medizinischer Behandlungen bedeutend verbes-
Das zu vermittelnde Wissen sollte »proaktiv« gegeben sern und eine Unterstützung bei der Schmerzbewältigung
werden und sich zunächst am Informationsbedürfnis des sind.
Patienten ausrichten. Dieser Aspekt ist besonders in der Die hier vorgelegte Übersicht erhebt nicht den An-
Anfangsphase der Behandlung wichtig, wenn die »Ver- spruch auf Vollständigkeit. Vielmehr besteht die Absicht,
wirrung« und das Klärungsbedürfnis des Patienten am dem Behandler einen Überblick über die Manuals zu
größten sind. Dabei sollten die subjektiven Krankheitsvor- ermöglichen, die als Grundlage vieler danach erfolgter
stellungen des Patienten stärker miteinbezogen werden – Weiterentwicklungen herangezogen wurden. So wird
»den Patienten da abholen, wo er steht« heißt, seinen nachvollziehbar, warum einzelne Manuals bestimmte Be-
Schmerz als anatomische Tatsache anerkennen. Der handlungsaspekte herausstellen und gemeinsame Inhalte
Patient hat ja mit seiner Vorstellung eines körperlich be- unterschiedlich betonen. Auch wenn sich nicht alle im
dingten Schmerzes nicht unrecht. deutschen Sprachraum veröffentlichten Therapiemanuals
Einfach nur zu lernen, was zu tun ist, ohne zu lernen, auf die ausdrückliche Behandlung von Rückenschmerzen
warum, kann man als »oberflächliches« Lernen bezeich- beziehen, so ist allen der Fokus auf chronischen Schmerz
nen. Informationen müssen verstanden werden, damit sie gemeinsam.
in bestehende Einstellungen und Überzeugungen inte- Im Folgenden werden standardisierte Edukations-
griert werden können. manuals vorgestellt.
15.4 · Standardisierte Edukationsprogramme
183 15
15.4.1 Manual: Psychologische Therapie nis und Neuroplastizität wird im Rahmen der Schmerz-
bei Kopf- und Rückenschmerzen physiologie nicht thematisiert. Ausdrücklich positiv
hervorzuheben sind die edukativen Bausteine zum Medi-
Das von Basler und Kröner-Herwig [5] erstmals 1995 her- kamentengebrauch und die »Prinzipien des Genießens«.
ausgegebene Programm, auch als »Marburger Schmerz- Die thematische Einbeziehung von Angehörigen, die Arzt-
bewältigungstraining« bekannt, ist das erste im deutsch- Patient-Interaktion sowie die besondere Bedeutung der
sprachigen Raum in Buchform veröffentlichte Manual zur Lebensgeschichte hinsichtlich frühkindlicher Schmerz-
Behandlung von Rückenschmerzen auf dem Hintergrund erfahrungen und traumabedingter Stressvulnerabilität
eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses. Es ist fehlen. Obwohl die Autoren betonen, dass die Nutzung des
auch für die Behandlung von Patienten mit Spannungs- Manuals von entsprechend fortgebildeten Therapeuten
kopfschmerz und Migräne gedacht. In dem Manual wer- erfolgen sollte, ermöglicht gerade die differenzierte Aus-
den 12 Sitzungen à 130 min beschrieben, die – bis auf die arbeitung und die enge didaktische Führung eine ideale
Informationsbausteine »Medikamentengebrauch und Anleitung für den therapeutischen und medizinischen Be-
Schmerzsyndrom« – nicht weiter zwischen Kopf- und ginner. Das Therapieprogramm ist nicht zur Behandlung
Rückenschmerzpatienten differenzieren. Die Autoren von emotionalen Störungen geeignet, die dem Schmerz
empfehlen den Einsatz für die Gruppenarbeit im Rahmen möglicherweise zugrunde liegen. Eine aktualisierte Neu-
eines interdisziplinären Behandlungsteams. Der Hinweis auflage liegt nicht vor.
auf die Nutzung in der Einzeltherapie wird im Manual
nicht weiter konkretisiert. Konzept, Inhalte und Übungen
beziehen sich auf das »Selbstmanagement-Verfahren« 15.4.2 Manual: Chronische Kopf-
nach Kanfer, das »Diathese-Stress-Modell« nach Flor und Rückenschmerzen
und auf die theoretischen Annahmen eines kognitiv-
behavioralen Erklärungsmodells zur Schmerzchronifizie- Das von Basler und Mitarbeiter veröffentlichte Trainings-
rung mit ergänzenden psychophysiologischen Techniken programm für Kopf- und Rückenschmerzpatienten [6]
(PMR, Imagination, Bewegungsübungen). Schwerpunkte war als Weiterentwicklung des letztmalig 1998 von ihm
der Behandlung sind das Erkennen und Ändern dys- und Kröner-Herwig (7 Abschn. 15.4.1) aufgelegten Manu-
funktionaler Kognitionen, die Verringerung der psycho- als gedacht. Das von vielen klinischen Einrichtungen
physischen Stressreaktion und die Stärkung von Selbst- adaptierte »Schmerzbewältigungstraining« verstand sich
aktivierung zu mehr Lebensfreude trotz vorhandener ausdrücklich als konzeptionelle Antwort auf die spezifi-
Beschwerden. schen Ansprüche von Schmerzambulanzen und niederge-
lassenen Schmerztherapeuten. Gedacht ist das psychologi-
jKritik sche Trainingsprogramm für Patienten, deren Schmerzen
Das Manual richtet sich ausschließlich an psychologisch in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Muskelver-
arbeitende Therapeuten und beschreibt sehr detailliert das spannungen stehen, und es fokussiert das therapeutische
methodische und inhaltliche Vorgehen in den jeweiligen Ziel auf die »Hilfe zur Selbsthilfe« (Selbstkontrollansatz)
Sitzungen. So werden zu allen inhaltlichen Schwerpunkten auf der Basis kognitiv-behavioraler Methoden. Der zeit-
»patientengerechte« Erklärungen, umfangreiche Folien- liche Umfang wurde von 12 auf 7 Sitzungen à 120 min
vorlagen, prozessbegleitende Evaluationsbögen und minu- reduziert. Jeder Behandlungsbaustein wurde didaktisch so
tiöse Regieanweisungen angeboten. Das Manual in seiner aufgebaut, dass sich nach einer reinen Informationsphase
2. Auflage berücksichtigte den Stand der Forschung bis psychologische und physiotherapeutische Übungen an-
1993. Ansätze wie »Functional-restoration-Ansatz« nach schließen, denen dann Gespräche über den Transfer in den
Mayer und Gatchel [34] , »fear-avoidance-beliefs« nach Alltag folgen.
Waddell [49] und die Grundzüge der späteren »Akzep-
tanz- und Commitment-Therapie« (ACT) sind in den jKritik
Behandlungszielen impliziert, werden aber nicht aus- Das Manual beschränkt sich hinsichtlich Information und
drücklich thematisiert. Später entwickelte Konzepte wie Therapiekonzept auf ausschließlich muskulär bedingte
das »Avoidance-endurance-Modell« von Hasenbring sind Schmerzsyndrome und differenziert nicht mehr zwischen
nicht berücksichtigt. Die Informationen zu Körperhaltung/- Kopf- und Rückenschmerzpatienten. Fokussiert wird auf
bewegung beinhalten Ansätze klassischer Rückenschul- die Vermittlung von Informationen über biopsychosoziale
konzepte, die auf einem biomedizinischen Ansatz basieren Zusammenhänge von chronischem Schmerz und auf die
und mit Richtig-falsch-Dichotomien arbeiten. Im Fall des Förderung von Entspannungsfähigkeit, Lebensqualität,
vorliegenden Manuals spricht man von »natürlicher« und Aufmerksamkeitslenkung und Schmerzbewältigungsstra-
»richtiger« Haltung. Die Bedeutung von Schmerzgedächt- tegien. Einen nicht unwesentlichen Teil der Zeit nehmen
184 Kapitel 15 · Information und Edukation des Patienten

körperliche Übungen ein, die sich am Konzept der natür- schrieben wird ein Konzept über 40 Gruppensitzungen à
lichen Aufrechthaltung nach Brügger orientieren und von 90 min, die verteilt über einen Zeitraum von 6 Monaten in
Nichtphysiotherapeuten nicht ohne Weiteres angeleitet einem ambulanten Setting durchgeführt werden. Die
werden können. Die vorgestellten Übungen vermitteln ein Autoren untergliedern in eine Vorphase zur Abklärung von
Konzept von »richtiger« und »falscher« Haltung. Durch Diagnose und Therapiemotivation, eine Informations- und
die Reduzierung auf 7 Sitzungen fehlen edukative Bau- Motivationsphase zur Vermittlung eines biopsychosozialen
steine zu Medikamentengebrauch, die thematische Einbe- Krankheitsverständnisses und zur Förderung der Motivati-
ziehung von Angehörigen, die Arzt-Patient-Interaktion on, eine Arbeitsphase mit der Entwicklung von Lösungswe-
sowie die besondere Bedeutung der Lebensgeschichte gen bei verbesserter Selbstwahrnehmung psychischer Me-
hinsichtlich frühkindlicher Schmerzerfahrungen und chanismen und gelebter Beziehungsgestaltung und schließ-
traumabedingter Stressvulnerabilität. Die aufwendige lich eine Transferphase, die das Ende der Therapie und die
Ausarbeitung der Behandlungsbausteine mit umfang- gemachten Entwicklungsschritte thematisieren soll. Thera-
reichem Lehrmaterial und die differenzierte didaktische pieziele fokussieren auf eine Verringerung der körperlichen
Anleitung ermöglichen auch einem weniger erfahrenen Symptomatik sowie auf eine Verbesserung der intrapsychi-
ärztlichen und psychologischen Therapeuten eine erste schen Verfassung und der zwischenmenschlichen Bezie-
Ausgangsbasis. Auf die therapeutisch nützlichen Effekte hungsgestaltung.
der Arbeit in Gruppen wird hingewiesen. Ausdrücklich
wird angemerkt, dass dieses Gruppenprogramm nicht zur jKritik
Behandlung einer dem Schmerz zugrunde liegenden emo- Das Manual richtet sich an erfahrene Gruppenpsycho-
tionalen Störung geeignet ist. Das Manual berücksichtigt therapeuten und sieht ein spezielles Training vor, das jähr-
den Stand der Forschung bis 2000. Die Bedeutung von lich von der Interdisziplinären Gesellschaft für Psychoso-
Schmerzgedächtnis und Neuroplastizität wird im Rahmen matische Schmerztherapie (IGPS) angeboten wird. Das
der Schmerzphysiologie nicht thematisiert. Der psycholo- Gruppenkonzept wurde zunächst für ein ambulantes
gische Teil kann auch heute noch wertvolle Anregungen Setting konzipiert, inzwischen aber auch auf stationäre
geben, die physiotherapeutischen Übungs- und Erklä- Rahmenbedingungen übertragen [19]. Das Behandlungs-
rungsansätze sind aber überarbeitungswürdig, weil klassi- konzept wird theoretisch differenziert hergeleitet und
sche Rückenschulkonzepte mit einem biomedizinischen bietet eine Fülle didaktischer Hinweise zu Therapeuten-
Ansatz angewendet werden. und Patientenverhalten sowie zu schwierigen Gruppen-
Die oben genannten Informationen wurden dem dynamiken. Die Informationen für Patienten zum bio-
Trainerhandbuch [6] entnommen. Darüber hinaus wurde psychosozialen Schmerz entsprechen den Inhalten verhal-
vom gleichen Herausgeber eine Mappe mit Arbeitsmateri- tenstherapeutischer Konzepte, werden aber um das Thema
alen (Arbeitsbögen, Folien, CD), ein Patientenhandbuch der »biografischen Vulnerabilität« erweitert. Die Bedeu-
und ein Schmerztagebuch angeboten. Eine aktualisierte tung von Schmerzgedächtnis und Neuroplastizität wird im
Neuauflage liegt nicht vor. Rahmen der Schmerzphysiologie nicht thematisiert. Die
15 Rolle von Angehörigen und die Arzt-Patient-Interaktion
werden durch die Thematisierung von Bindungsmustern
15.4.3 Manual: Interaktionelle Gruppen- während der gesamten Gruppentherapie ausreichend pro-
psychotherapie für somatoforme blematisiert. Das Gruppenprogramm ist zur Behandlung
Schmerzstörung einer dem Schmerz zugrunde liegenden emotionalen Stö-
rung geeignet, setzt aber, so die Autoren, Kenntnisse und
Bei dem von Nickel und Egle veröffentlichte Manual [41] Erfahrungen mit psychodynamischer Theorie und Thera-
handelt es sich um einen »psychodynamisch-interaktio- pie voraus.
nellen« Behandlungsansatz für Patienten mit einer soma- Das Manual in seiner 1. Auflage berücksichtigt den
toformen Schmerzstörung. Dazu können auch Patienten Stand der Forschung bis 1999. Eine überarbeitete Fassung
mit chronischem Rücken- oder Ganzkörperschmerz des Konzepts wurde im »Lehrbuch Psychotherapie« von
(Fibromyalgiesyndrom) gehören. Konzeptionelle Grund- Strauß et al. [47] veröffentlicht.
annahmen beziehen sich auf das »Bindungskonzept« von
Bowlby, das biopsychosoziale Krankheitsverständnis nach
G.L. Engel und auf die »interaktionelle Gruppentherapie« 15.4.4 Manual: Göttinger Rücken-Intensiv-
nach dem Göttinger Modell von Streek und Heigl-Evers. Programm (GRIP)
Zum einen hat der Ansatz einen störungsspezifischen
Fokus, zum anderen ein psychodynamisches Vorgehen mit Das von Hildebrand und Pfingsten [28] veröffentlichte
dem Schwerpunkt Selbstwert- und Bindungskonflikte. Be- Manual beschreibt die Behandlung von Patienten mit sub-
15.4 · Standardisierte Edukationsprogramme
185 15
akuten und chronischen Rückenschmerzen in der Gruppe Schmerzerkrankungen ausgeweitet – mit entsprechender
und beinhaltet zum einen ein berufsbegleitendes Behand- Adaption des Programms.
lungskonzept über 20 Sitzungen à 2,5 h, zum anderen Eine aktualisierte Neuauflage mit den oben angefrag-
einen detaillierten Behandlungsplan für Schmerzpatienten ten Änderungen liegt nicht vor.
in einem tagesklinischen Konzept über 20 Tage à 6 h. Das
Konzept beruht auf dem »Functional-restoration-Ansatz«
nach Mayer und Gatchel [34] und akzentuiert im Rahmen 15.4.5 Manual: Therapiemanual für
eines multimodalen Therapieansatzes die funktionale die operante Schmerzbehandlung
Wiederherstellung des Patienten auf verschiedenen
Ebenen. Dabei steht nicht mehr die symptomatische Das von Flor bisher nur in einem Fachartikel [21] und als
Schmerzbehandlung im Vordergrund der therapeutischen unveröffentlichtes Manuskript (gepl. Veröff. 2016) vorge-
Zielsetzung, sondern die Verminderung oder Wiederher- stellte Konzept zur Behandlung chronischer Schmerzen
stellung gestörter körperlicher, psychischer und sozialer beruht auf den Prinzipien des operanten Konditionierens
Funktionen. nach Skinner und auf der Übertragung des Konzepts auf
Die Annahmen zur Chronifizierung von Schmerzen das Verhalten von Schmerzpatienten durch den Schmerz-
erfolgen auf der Basis eines verhaltensmedizinischen An- forscher Fordyce. Schmerzverhalten, wie z. B. Stöhnen,
satzes. Dieser beinhaltet lerntheoretische Grundlagen des Humpeln, Schonung, unterliegt den Gesetzen des operan-
»Folgen-Modells« und der »fear-avoidance-beliefs«. ten Lernens und wird bei »Belohnung« (Verstärkung) häu-
figer gezeigt. Diese Zusammenhänge werden auch beim
jKritik missbräuchlichen Medikamentengebrauch angenommen.
Das GRIP-Manual beschreibt medizinische Untersuchungs- Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei sowohl die
standards, prozessbegleitende psychometrische Test- sozialen Beziehungen als auch die sozialmedizinischen
verfahren, die psychotherapeutischen Interventionen, die Sicherungssysteme als mögliche Verstärkerfaktoren ein.
physiotherapeutische Trainingstherapie und die praktische Das Manual für die operante Schmerzbehandlung
Umsetzung des »work-hardenings«, in dem u. a. realis- wurde als ambulantes Gruppentraining konzipiert und hat
tische körperliche Arbeitsplatzbedingungen simuliert einen Umfang von 12 Sitzungen á 90 min. In 3 dieser
werden. Die Besonderheit dieses Manuals liegt in der dif- Sitzungen ist der Sozialpartner miteinbezogen. In den
ferenzierten biopsychosozialen Ableitung des Konzepts Gruppensitzungen sollen durch systematische Verhaltens-
und der ausführlichen Darstellung körperlicher und psy- übungen Schmerzverhalten abgebaut und gesundes Ver-
chologischer Interventionen in Wort und Bild. Didaktische halten aufgebaut werden. Die Betonung liegt dabei auf
Hinweise ergänzen die Anleitungen. Ein multiprofessio- der Verhaltensänderung und nicht auf Kognitionen oder
nelles Team wäre anhand des Manuals in der Lage, ein für Konzepten wie Selfefficacy. Wichtigste Grundregel des
Rückenschmerzpatienten angemessenes Behandlungskon- operanten Trainings ist die Betonung des »Übens«. Infor-
zept umzusetzen. Die Autoren weisen zu Recht darauf hin, mationen werden nur zum operanten Lernmodell und zu
dass sich ihr Manual an erfahrene Behandler wendet und Zusammenhängen von Muskelspannung und Schmerz
somit von Anfängern nicht eins zu eins übernommen gegeben; die Bedeutung des »Schmerzgedächtnisses« für
werden kann. Therapeuten profitieren besonders von den die Chronifizierung wird kurz erwähnt. Sonstige Inhalte
differenzierten Folienvorlagen zu diagnostischen und zu physiologischen, psychologischen und psychosoma-
edukativen Aspekten. tischen Zusammenhängen werden nicht vermittelt. Ange-
Das Manual in seiner ersten Auflage berücksichtigte leitete Rollenspiele und differenzierte Hausaufgaben zielen
den Stand der Forschung bis 2000. Neue Ansätze, wie die darauf ab, das maladaptive Schmerzverhalten durch zu-
»Akzeptanz- und Commitment-Therapie« (ACT) sind nehmende körperliche Aktivitäten und gesundes Verhal-
deshalb nicht ausdrücklich erwähnt, aber in den Zielen ten in sozialen Interaktionen zu »löschen«. Ausdrücklich
impliziert. Es fehlen allerdings Informationen zum wird die positive Unterstützung von Gruppenteilnehmern
Schmerzmittelgebrauch, die thematische Einbeziehung für den Veränderungsprozess des Einzelnen hervorge-
von Angehörigen, die Arzt-Patient-Interaktion sowie die hoben.
besondere Bedeutung der Lebensgeschichte hinsichtlich
frühkindlicher Schmerzerfahrungen und traumabedingter jKritik
Stressvulnerabilität. Das Therapieprogramm ist nicht zur Das Manual richtet sich an einen erfahrenen, psycholo-
Behandlung von emotionalen Störungen geeignet, die dem gisch arbeitenden Gruppentherapeuten und beschreibt in
Schmerz möglicherweise zugrunde liegen. Mittlerweile ist seiner bisher unveröffentlichten Fassung sehr detailliert
das Konzept nicht mehr nur auf Rückenschmerzpatienten das methodische Vorgehen. Gedacht ist das Konzept für
beschränkt, sondern wurde auf weitere chronische die Behandlung chronisch Schmerzkranker ohne Diffe-
186 Kapitel 15 · Information und Edukation des Patienten

renzierung nach Schmerzsyndromen. Obwohl nicht aus- nastischen Übungen bestehen. Die engeren Definitionskri-
drücklich beschrieben, ist es für Schmerzpatienten, bei terien für Patientenschulung im Sinne eines standardisier-
denen eine emotionale Störung zugrunde liegt, nicht ge- ten Gruppenprogramms unter professioneller Anleitung
eignet. Zu den vermittelten Inhalten und thematisierten und unter Einbeziehung biopsychosozialer Komponenten
Lebensbereichen werden »patientengerechte« Erklärun- werden durch diese Angebote nicht erfüllt.
gen, prozessbegleitende Evaluationsbögen und didaktische
Hinweise geboten. Die Informationen zu den gymnasti-
schen Übungen beschränken sich auf reine Anweisungen 15.4.7 Anmerkungen und Kritik
zum Bewegungsablauf und setzen beim Therapeuten vor-
aus, dass er diese Übungen kennt, selbst beherrscht und am 4 Grundsätzliches Problem von multimodalen
Patienten korrigieren kann. Das operante Konzept ver- Gruppenprogrammen ist die nicht ausreichende Ein-
mittelt an theoretischem Wissen nur sehr kurze Einfüh- beziehung individueller Bedingungen von Patienten.
rungen zu den Aspekten von »Schmerz und Lernen« und Diese müssten, um auch langfristige Therapieeffekte
»Muskelspannung und Schmerz«. Nicht der Aufbau eines sicherstellen zu können, in Form von begleitenden
neuen kognitiven Modells steht im Fokus, sondern die Ver- oder nachfolgenden Einzelgesprächen berücksichtigt
haltensänderung, weshalb Erklärungen auf ein Minimum werden.
reduziert wurden. 4 Gruppenkonzepte, die zu Beginn mit Informations-
Hervorzuheben ist die ausdrückliche Thematisierung blocks eine eher passiv-rezeptive Teilnahme erlauben,
des Umgangs mit Ärzten und Kliniken, des Medikamen- bieten einem »abgewehrten« Patienten die Möglich-
tengebrauchs und der Einbeziehung von Angehörigen. keit, die neuen Zusammenhänge von Schmerz erst
Das Manual berücksichtigt den Stand der Forschung bis »diskret« zu prüfen und deren Wirkung auf andere
2003. Es wird in der Institutsambulanz angewendet und Teilnehmer wahrzunehmen. Klinische Erfahrungen
kann in seiner ausführlichen Form über die Autorin ange- bestätigen, dass erst so eine nachhaltige Verände-
fordert werden. rungsbereitschaft initialisiert werden konnte.
4 Die Behandlung in der Gruppe kann vom Teilnehmer
als soziale Unterstützung erlebt werden. Somit
15.4.6 Sonstige Rückenschmerzprogramme können besonders die Patienten von einer Gruppen-
behandlung profitieren, die in ihrem Alltag eher
Das Münchner Rücken-Intensiv-Programm (MRIP) ist in sozial isoliert leben.
Anlehnung an das GRIP-Konzept entwickelt worden und 4 Viele der oben genannten Gruppenkonzepte
wird jeweils für die Dauer von 4 Wochen im Rahmen eines repräsentieren den wissenschaftlichen Stand von vor
ganztägigen, teilstationären und multimodalen Settings 10 Jahren und bedürfen somit einer Überarbeitung.
angeboten [35].
Das Back-to-Balance-Konzept ist ein kognitiv-verhal- Bis auf das Behandlungskonzept von Nickel und Egle [41]
15 tenstherapeutisches Schulungsprogramm für Patienten (7 Abschn. 15.4.3) sehen alle aufgeführten Manuals ein
mit chronischen Rückenschmerzen und ist konzipiert für zum Teil intensives Bewegungs- und Haltungstraining vor.
eine 3-wöchige stationäre orthopädische Rehabilitation Dabei ist unzweifelhaft, dass dieses Training zur Reduktion
u. a. nach erster Bandscheibenoperation [35]. Die Be- von Bewegungsangst und Beeinträchtigungserleben führt
sonderheit dieses Programms ist die ausdrückliche und somit zu den festen Bestandteilen multimodaler
Thematisierung von Arbeitszufriedenheit und Rentenpro- Schmerztherapie gehört. Besonders weil Gehirn und
blematik in einer eigenen Unterrichtseinheit; ansonsten Körper eine untrennbare funktionelle Einheit bilden, kön-
orientiert sich das Konzept an den Inhalten und Methoden nen Veränderungen auf der Körperebene auch Umbaupro-
der Manuals von Basler [6] und Hildebrandt [28]. zesse im Gehirn aktivieren [29]. Die besonders in einigen
Das Interventionsprogramm Rückenfit [35] ist für die Manuals empfohlenen »Körperübungen« [5, S. 112–113; 6,
orthopädische stationäre Rehabilitation entwickelt worden S. 28] beziehen sich ausdrücklich auf klassische Rücken-
und bietet nach multiprofessioneller Eingangsdiagnose schulkonzepte oder krankengymnastische Haltungs-
eine Einteilung der Patienten nach »Subgruppen«, die lehren, die kritisch hinterfragt werden müssten, weil sie
dann unterschiedliche Behandlungspfade durchlaufen. über Begriffe wie »natürliche« (unnatürliche) Haltung,
Angemerkt sei, dass es eine Unzahl von Veröffent- »korrekter« (unkorrekter) Beckenstand oder »gesunde«
lichungen gibt, von denen nicht wenige das Wort »Rücken- (ungesunde) Körperhaltung Bewegungsangst und zwang-
schule« im Titel tragen. Sehr häufig handelt es sich dabei hafte Selbstkontrolle zusätzlich triggern könnten (»Ich
allerdings um Selbsthilfebücher zur Prävention, die in den habe mich falsch bewegt«; »Ich habe beim Heben nicht
meisten Fällen aus Anleitungen zu rückenbezogenen gym- aufgepasst«). Eine Studie [16] zur Effektivität von Rücken-
15.5 · Information und Edukation in den Medien
187 15
schulungen in den USA (n = 2.534) mit 3 h Unterricht in 5 evidente Hauptpunkte als notwendige Bestandteile von
Heben, Tragen und Haltung, mit Bildmaterial und prak- Patienteninformationen zur Prävention von Rücken-
tischen Übungen, Arbeitsbeobachtungen durch KGs und schmerzen erachtet:
Korrektur durch angeleitete Kollegen über 6 Monate ergab 1. Hinweise auf die Ungefährlichkeit von unspezifischen
eine geringere Auftretensrate von Rückenschmerzen bei Rückenschmerzen
denen, die nicht unterrichtet und trainiert worden waren. 2. Abbau der »Angst vor Aktivität«
Die vom Therapeuten zwar nicht gewollte, aber vom 3. Motivation zu körperlicher Aktivität
Patienten oft gelebte Reduzierung auf »falsch und richtig 4. Motivation zum selbstständigen Handeln im Alltag
bewegt/gehalten« verdeckt den Blick auf den ganzheit- 5. Hinweise auf seelische Belastung als Risikofaktor
lichen Zusammenhang von Lebensgeschichte und Körper-
haltung (Bewegungsmuster). Letztlich trägt eine falsche Die Recherche der Autoren erfolgte anhand von Such-
Bewegung nur so wenig Schuld am Rückenschmerz, wie ein begriffen wie z. B. Rückenschmerz, Lumbago oder chroni-
letzter Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. sche Schmerzen, die mit Begriffen wie Vorbeugung, Prä-
Im Experten-Panel »Rückenschmerz« der Bertels- vention, Behandlung usw. verknüpft wurden. Insgesamt
mann Stiftung [33] kommt man zu dem Schluss: Rücken- wurden 79 Schriftbeiträge ausgewertet.
schulen sind nur dann empfehlenswert, wenn sie auf den Davon stammten z. B. 22 % von Krankenversicherun-
beschriebenen biopsychosozialen Prinzipien basieren und gen, 15 % von Fachgesellschaften, 23 % von Zeitschriften,
einem verhaltens- und bewegungsbezogenen Ansatz 11 % von Internetportalen und 29 % von Sonstigen, u. a.
folgen. von der Pharmaindustrie (5 %), aus Büchern (3 %) und
dem Rundfunk (6 %). Die Untersuchung kam zu dem
Ergebnis, dass insgesamt nur 34 % von ihnen gute bis sehr
15.5 Information und Edukation gute präventive Informationen vermitteln. Für die Primär-
in den Medien prävention lag der Anteil nur bei 22 %. Was häufig fehlt,
sind Hinweise auf die Schädlichkeit von Bettruhe (69 %),
15.5.1 Informationen in Printmedien der Hinweis auf die nicht notwendige Röntgenaufnahme
(77 %) und der Hinweis auf die häufige Ungefährlichkeit
Es hat sich in Untersuchungen gezeigt, dass Patienten von Rückenschmerzen (71 %). Höchste Punktzahlen er-
mit Rückenschmerzen von schriftlichen Informationen reichen vor allem Bücher und Informationen von Kran-
profitieren können. Eine Studie [12] untersuchte die Wirk- kenversicherungen und Fachgesellschaften. Hier sei auf die
samkeit einer spezifischen Broschüre im Vergleich mit offizielle Informationsschrift dreier großer Schmerzfach-
herkömmlichen Schriften zur Edukation bei Rücken- gesellschaften [45] verwiesen, für die 37 Schmerzexperten
schmerz. Die Anwendung von »The Back Book« ergab einen Beitrag zu allen Aspekten des Schmerzes schrieben.
signifikant größere Veränderungen bezogen auf die Be-
fürchtung, dass sich Schmerz bei körperlicher Aktivität
verstärken könnte (»fear-avoidance-beliefs«), und bedeut- 15.5.2 Internet/»e-mental-health«
same Veränderungen im Funktionsstatus. Die erreichten
Veränderungen waren auch über die Dauer eines Jahres Moderne Informations- und Kommunikationstechnologi-
stabil. Ein Effekt auf Schmerzparameter war nicht nach- en wie z. B. das Internet durchdringen immer mehr den
weisbar. Da in dieser Studie sorgfältig ausgewählte und Alltag und ermöglichen die Erreichbarkeit von Personen
präsentierte Informationen zum Rückenschmerz nach- weitgehend unabhängig von Ort und Zeit. Diese Entwick-
weislich positive Veränderungen hinderlicher Grundüber- lung macht auch vor der Gesundheitsversorgung nicht
zeugungen bewirkt haben, liegt die untersuchte Broschüre halt. Gesunde wie Kranke, Profis wie Laien nutzen das In-
inzwischen auch in deutscher Übersetzung vor [42]. Auch formationsangebot im Internet. Die Inhalte der Angebote,
eine japanische Studie [31] bestätigte eine signifikante Ver- oft als »e-mental-health« bezeichnet, reichen von allge-
besserung der Patientencompliance, nachdem vor dem meinen Informationen über Erkrankungen bis hin zu
eigentlichen Behandlungsbeginn eine »Bildungsbroschü- Informationen über Störungen und deren Therapieverfah-
re« über Krankheitsüberzeugungen und die Bereitschaft ren. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Patientenforen/-
zur Medikamenteneinnahme überreicht worden war. Chats zum Austausch von Informationen und Erfahrun-
Butzlaff et al. [13] untersuchten die Qualität medizinischer gen mit anderen Betroffenen.
Informationsmaterialien über Rückenschmerzen für Eine australische Studie [14] fand allerdings heraus,
Laien. Das Ziel war, Inhalte zu identifizieren, mit denen dass nur 23,8 % der erfassten chronisch Schmerzkranken
schriftliche Patienteninformationen primär- oder sekun- das Internet als Informationsquelle zu Schmerzthemen
därpräventive Wirksamkeit erreichen können. Es wurden nutzten. Die aktive Nutzung stieg mit dem Bildungsgrad
188 Kapitel 15 · Information und Edukation des Patienten

der Patienten. 41,4 % fanden die gefundenen Informatio- fangreichste Metaanalyse schließt 92 Studien ein. Barak et
nen nützlich, 6,9 % fanden sie »beängstigend« und 10,3 % al. [4] belegten für internetbasierte Psychotherapie bei
»verwirrend«. 44 % wünschten sich weitergehende Infor- allen untersuchten Störungsbildern und Interventions-
mationen im Internet, und nur 6,9 % planten, die über das formen einen mittleren Behandlungseffekt. Kognitive Ver-
Internet gewonnenen Informationen mit ihrem Behandler haltenstherapie erzielte verglichen mit ausschließlicher
zu besprechen. Die Autoren überraschte die geringe Zahl Edukation oder der reinen Verhaltenstherapie den größten
aktiver Internetsucher, die sich zum Teil auch mit der Ver- Behandlungseffekt. Das systematische Review von Cuijpers
fügbarkeit eines Internetzugangs erklären ließ. Generell et al. [15] schließt 3 randomisierte kontrollierte Studien
weisen die Autoren der Studien darauf hin, dass Ange- zur internetunterstützten kognitiven Verhaltenstherapie
hörige von Gesundheitsberufen versuchen sollten, das bei chronischen Schmerzen ein, eine Studie bezieht sich
Potenzial des Internets als Informationsquelle »zu maxi- auf chronischen Rückenschmerz [10]. Beim chronischen
mieren« und Patienten aktiv über Möglichkeiten im Netz Rückenschmerz ergab sich im Vergleich zu den anderen
zu informieren. beiden Schmerzgruppen der größte Behandlungseffekt.
> Es ist zu beachten, dass viele Internetportale zum
Die Behandlungseffekte bezogen sich auf die Katastrophi-
Thema Rückenschmerz oft weder kontinuierlich
sierungstendenz und die Schmerzbewältigung und waren
aktualisiert werden noch einer kritischen wissen-
mit einer herkömmlichen ambulanten Therapie vergleich-
schaftlichen Qualitätssicherung unterliegen.
bar. Möglicherweise ist der große Effekt bei der Behand-
lung der chronischen Rückenschmerzen durch die zusätz-
Laiengerechte, neutrale und auf dem aktuellen Stand auf- lich erfolgte telefonische Beratung zu erklären, die durch-
gearbeitete Informationen zu Schmerz sind über die jewei- aus Ähnlichkeiten mit einer »Face-to-Face-Situation« hat.
ligen Homepages von DGPSF (7 http://www.dgpsf.de), Dennoch deuten die Ergebnisse darauf hin, dass kurzfristig
DGSS (7 http://www.dgss.org), DMKG (7 http://www. bzw. bis zu einem Zeitraum von 3 Monaten offenbar gute
dmkg.de), Deutsche Schmerzliga (7 http://www.schmerz- Erfolge mit internetgestützen Interventionen erreichbar
liga.de) und Forum-Schmerz des Deutschen Grünen sind, der langfristige Effekt bleibt noch zu überprüfen.
Kreuzes (7 http://www.forum-schmerz.de) abzurufen. Es ist davon auszugehen, dass zukünftig auch multidiszip-
Darüber hinaus stellt der »AK-Patienteninformation« der linäre Ansätze zum chronischen Schmerz im Internet zu
Deutschen Schmerzgesellschaft (DGSS) geprüfte und finden sein werden.
kommentierte Listen von nützlichen Internetlinks und Patientenumfragen zeigen, dass computergestützte
Schmerzratgebern zur Verfügung (7 http://www.dgss.org/ Selbsthilfeprogramme eher mit Skepsis betrachtet werden.
diegesellschaft/arbeitskreise/patienteninformation). In jedem Fall bieten sie die Möglichkeit, herkömmliche Be-
handlungsformen zu unterstützen und zu verbessern [51].

15.5.3 Computerprogramme
15.5.4 Anmerkungen
15 Computerprogramme werden schon seit einigen Jahren in
der medizinischen Behandlung eingesetzt. Allerdings be- Angesichts der Diskrepanz zwischen »öffentlichem Glau-
ziehen sich diese Angebote zumeist auf psychotherapeuti- ben« und aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen hin-
sche Angebote und sind als »Internettherapie« bekannt. sichtlich Entstehung, Aufrechterhaltung und Behandlung
Unter Internettherapie werden Überbrückungsangebote chronischer Rückenschmerzen ist eine sachlich-neutrale,
bei Therapieunterbrechungen, Nachsorge von stationären aber engagierte Öffentlichkeitsarbeit erforderlich, in der
oder zeitlich begrenzten ambulanten Maßnahmen, Ange- alle medialen Informationsmöglichkeiten einbezogen
bote therapeutischer Hilfe in isolierten Lebenslagen (z. B. werden sollten. Allerdings können sie nur eine Ergänzung
humanitäre Einsätze in Konfliktregionen) sowie »thera- der Möglichkeiten sein, Patienten zu informieren, zu
peutische« Selbsthilfe subsumiert. Internettherapie in motivieren und zu beraten. Sie können aber nicht als
diesem Sinne geht damit weit über Edukation durch Infor- Schmerztherapie im Sinne von Heilbehandlung gelten und
mationswebseiten hinaus. diese auch nicht ersetzen.
Von reinen Computerprogrammen unterscheidet sich
die individualisierte Behandlung durch eine stark struktu- > Anbieter medialer Hilfen sollten die Grenzen beach-
rierte Website, deren Patientenbereich Informationen, ten, ab wann es sich bei ihrem Internetangebot um
Übungen, Hausaufgaben und die individuelle Rückant- ein Therapie-, Beratungs- oder Selbsthilfeangebot
wort des Therapeuten enthält [50]. handelt, weil sich daraus unterschiedliche Rechts-
Zur Wirksamkeit von internetbasierten Therapien lie- räume mit unterschiedlichen Haftungsverantwort-
gen bereits zahlreiche Metaanalysen vor. Die bislang um- lichkeiten ergeben [26]. Grundsätzlich bleibt ein
15.6 · Informationsvermittlung – eine pädagogische Herausforderung
189 15
Problem ungelöst: Da die entsprechenden Krank- Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass diese Dimen-
heitsbilder in den Medien zumeist »monosympto- sionen interagieren und Defizite in der einen oder anderen
matisch« beschrieben werden, müssen Rücken- Richtung kompensieren können.
schmerzpatienten entscheiden, ob die beschriebene Die Kommunikationserfolge sind im Rahmen eines
Beschwerdesymptomatik nun ihrem subjektiven Er- stationäres Settings noch nachvollziehbar, werden aber auf
leben entspricht oder widerspricht, was im Fall einer der ambulanten Ebene – angesichts hausärztlicher Konsul-
Fehleinschätzung zu kritischen Krankheitsverläufen tationszeiten von unter 10 min – eher zu einem »Glücks-
führen kann (Beispiel: Schulter/Arm-Beschwerden spiel« [17].
als Vorboten einer Herzproblematik statt einer Ungeachtet zeitlicher und empathischer Aspekte bei
HWS-Bandscheibenproblematik). guter Kommunikation sind gemeinsame Krankheits-
vorstellungen für eine gelungene Behandler-Patient-Inter-
aktion ausschlaggebend. So führt ein von beiden Seiten
15.6 Informationsvermittlung – eine vertretenes monokausales, somatisch orientiertes Krank-
pädagogische Herausforderung heitsverständnis, das die Trennung von Soma und Psyche
impliziert, zu einer überbetonten Suche nach Organab-
Wer die Arbeit mit chronisch Schmerzkranken kennt, weiß weichungen, der Ausblendung psychosozialer Risikofakto-
um die besondere Herausforderung, Informationen so zu ren und zur Fixierung auf das Ziel »Schmerzfreiheit«.
vermitteln, dass der Patienten sie auch »richtig« verstehen Mögliche Gefahren, die sich aus einem vorrangig
und auf seine eigene Situation übertragen kann. Die oft in somatisch orientierten Krankheitsverständnis ergeben
der Supervision von ärztlichen und psychologischen könnten, sind, dass sich der Arzt angesichts ausbleibender
Kollegen thematisierten Schwierigkeiten und Frustra- Therapiefortschritte fragt, ob der Schmerz nicht doch psy-
tionen in der Arbeit mit Schmerzpatienten bzw. Schmerz- chisch bedingt sein könnte. Da auch immer belastende
gruppen deuten auf die Notwendigkeit hin, Schmerzedu- Lebenserfahrungen gefunden werden, ist der »Beweis«
kation nicht nur unter inhaltlichen und therapeutischen einer Psychogenese schnell erbracht. Aus dem Gefühl des
Gesichtspunkten zu betrachten, sondern auch unter päda- Arztes, »nicht zuständig zu sein«, kann eine »innere
gogisch-didaktischen Aspekten [43]. Distanziertheit« resultieren mit Konsequenzen für die
Zum »pädagogischen Prozess« gehören darüber hin- künftige Beziehungsgestaltung: verkürzte Gesprächszeit,
aus nicht nur die zu vermittelnden Inhalte (7 Abschn. hinausgeschobene Terminzusagen und eine gespannte
15.3), sondern auch Aspekte von Interaktion, Sprachebene Gesprächsatmosphäre.
und Lernprozessen. Umgekehrt kann – trotz erheblicher psychosozialer
Belastung des Patienten – die geäußerte Absicht des behan-
delnden Arztes, einen Psychologen oder Psychiater mit
15.6.1 Patient-Behandler-Interaktion einzubeziehen, missverstanden werden, da psychosoziale
Belastungen vom Patienten oft nicht bewusst wahrgenom-
Eine Reihe neuerer Studien konnte belegen, dass die un- men oder in ihrer Tragweite unterschätzt werden. Der
mittelbare Qualität der Interaktion zwischen Behandler Wechsel des Diagnose- und Behandlungskonzepts ist für
und Patient einen erheblichen Einfluss auf das Behand- den Patienten dann oft nicht nachvollziehbar und oben-
lungsergebnis hat. So konnten Dibbelt et al. [18] in einer drein kränkend. In der Folge geht der Patienten in eine
Untersuchung an Schmerzpatienten in einem stationären Abwehrhaltung, die sich z. B. gegen jeden angedeuteten
Reha-Setting signifikant verbesserte Behandlungser- Zusammenhang von Schmerz und Psyche richtet [22, 23].
gebnisse hinsichtlich Schmerzrückgang, Verminderung An dieser Stelle sei auf die ausführliche Darstellung
depressiver Symptome und reduzierter Krankheitstage und Analyse weiterer Arzt-Patient-Interaktionsprobleme
bei Patienten nachweisen, die die Qualität des Kontakts verwiesen, die in der Literatur [22] unter den Begriffen
zum Arzt als hoch einschätzten, gegenüber Patienten mit »Schmerzspiele« (»pain games«) und »Koryphäenkiller-
weniger positiven Bewertungen. syndrom« beschrieben werden. Allerdings sind die dort
In dieser Untersuchung wurde das Interaktionsver- beschriebenen Verhaltenskonstrukte kritisch zu hinterfra-
halten von Behandlern nach Bensing [7] bewertet. Bensing gen, u. a. weil sich der Fokus von Interaktionsproblemen
definiert die Qualität des Interaktionsverhaltens mithilfe einseitig auf den Patienten richtet.
von 3 Dimensionen: Den Rückenschmerzpatienten da abzuholen, wo er
1. Realisierung von Empathie und Wertschätzung; steht, heißt, seine tiefe kognitive Verunsicherung und
2. effektiver Informationsaustausch und Ermutigung; emotionale Kränkung anzusprechen und aufzulösen. Die
3. aktive Beteiligung des Patienten an Entscheidungs- Erläuterungen über das Warum einer interdisziplinären
prozessen. Diagnostik und multimodalen Schmerztherapie sind dabei
190 Kapitel 15 · Information und Edukation des Patienten

entscheidend für die weitere Beziehungsgestaltung und für fen.« Es ist eine didaktische Notwendigkeit, wissenschaft-
die Akzeptanz eines erweiterten Krankheitsverständnisses liche Modelle auf der Sprachebene nicht eins zu eins zu
(»Compliance«). vermitteln.
Schon in der frühen Phase der Zusammenarbeit soll- Die Empfehlungen eines Kommunikationsexperten
ten deshalb klärende und entlastende »Grundbotschaften« [46] lauten:
vermittelt werden. Eine der zentralsten Botschaften an den 4 Die einfachste Sprache hat die größte Wirkung.
Patienten ist der Satz: »Jeder Schmerz ist echt«. Weitere 4 Ersetzen Sie jeden Fachbegriff durch ein
Botschaften, die sich bei chronisch Schmerzkranken in be- anschauliches Wort.
ruflichen und sozialmedizinischen Problemlagen bewährt
haben, sind in der folgenden 7 Übersicht angeführt [44]: Mangelnde kognitive Fähigkeiten des Patienten werden als
Ausschlusskriterien für die Teilnahme an einer Schmerz-
edukation aufgeführt [2]. Argumentiert wird, dass wegen
Entlastende Grundbotschaften
der komplexen Zusammenhänge und differenzierten In-
5 »Jeder Schmerz ist echt.«
halte eine Teilnahme unproduktiv erscheint. Nach Unter-
5 »Die Größe des Leids richtet sich beim akuten
suchungsergebnissen von Moseley [36–38] kann jeder
Schmerz oft nach seiner Stärke, beim chronischen
Mensch medizinische und biologische Fakten und
Schmerz oft nach seiner Dauer.«
schmerzphysiologische Zusammenhänge verstehen. Es
5 »Schmerzen können auch ohne Schädigungen
wird festgestellt, dass dies von Vertretern verschiedener
sehr heftig sein.«
Gesundheitsberufe oft nicht geglaubt wird und dass Be-
5 »Die in einem therapeutischen Rahmen zugelasse-
handler selbst oft nur über unzureichendes Wissen ver-
ne körperliche Aktivität ist nicht automatisch
fügen. Bei guter didaktischer Herleitung von biopsychoso-
gleichzusetzen mit beruflicher Leistungsfähigkeit.«
zialen Zusammenhängen geht der Ausschluss von Patien-
5 »Krankschreibung und Berentung sind sozial-
ten wegen mangelnden Verständnisses in der rehabilitati-
medizinisch legitime Lösungen, aber nicht die ein-
ven Praxis gegen null.
zigen.«
5 »Das Aussprechen eines Rentenwunsches verwirkt
nicht das Recht auf Behandlung.«
15.6.3 Lernen/Begreifen
5 »Informationen sind ein sehr wirksames Mittel
gegen Schmerzen.«
In der Behandlung von Menschen mit Rückenschmerzen
haben wir es oft nicht nur mit chronifizierten Schmerzen
zu tun, sondern auch mit chronifizierten Denk-, Gefühls-
und Handlungsmustern, die einen schnellen Behand-
15.6.2 Sprachebene lungserfolg erschweren. So wird der durch biografische
Hintergründe zwanghaft gewordene und auf 150%-ige
15 Eine Rückenschmerzpatientin erzählte beim Aufnahmege- Ordnung bestehende Schmerzpatient nicht einfach damit
spräch über eine vorausgegangene Behandlungserfahrung: aufhören können, immer wieder Ordnung zu schaffen,
»Der Schmerztherapeut war nett, aber ich habe ihn oft selbst wenn er sich dadurch – nun wissentlich – in eine
nicht verstanden.« Sie übergab einen Text, der ihr im andauernde, schmerzprovozierende Selbstüberforderung
Rahmen einer Schmerzinfostunde auf einer Folie gezeigt begibt. Es bedarf schon eines außerordentlichen Verände-
worden war. Der Text lautete: »… dass man eine Schmerz- rungswillens, um Denk-, Gefühls- und Handlungsmuster
besserung durch Interventionen auf verbal-subjektiver, nach jahrzehntelanger »Verankerung« zu wandeln.
psycho-physiologischer, motorisch-verhaltensmäßiger Hürther schreibt [29]: »Es müsste ein wichtiges, positiv
Ebene erreichen kann.« Diese Textstelle findet man im besetztes und sehr tief sitzendes inneres Bedürfnis in ei-
Manual von Basler und Kröner-Herwig [5, S. 10], sie gilt nem Menschen geweckt werden, um ihn dazu zu bringen,
»… als Ordnungsschema für die Klassifikation psycholo- eine schlechte Angewohnheit freiwillig aufzugeben.« Nicht
gischer Therapieverfahren« und ist nicht Bestandteil der selten berichten Patienten, dass erst schwere gesundheit-
Patienteninformation. liche Krisen oder psychosoziale Umbrüche ihre tiefe Ver-
Nickel und Egle schreiben [41]: »Das Erklären in ein- änderung bewirkt hätten.
fachen, für den jeweiligen Patienten nachvollziehbaren Für die Praxis heißt das, dass die in einem Behand-
Worten kann Schwellenängste abbauen helfen.« Hilde- lungskonzept vermittelten Inhalte, Erfahrungen und Zu-
brandt und Pfingsten [28, S. 51) fordern, »… dass die sammenhänge nur dann substanziell verändern, wenn sie
Erklärungen für den Patienten verständlich sind und über Lebensnähe und Plausibilität zu einem »Persönlich-
möglichst viele ihrer (alltäglichen) Erfahrungen aufgrei- betroffen-Sein« führen und die »neuen Alternativen« sich
15.7 · Fazit für die Praxis
191 15
im Alltag umsetzen lassen. Diese Zusammenhänge stellen einen Menschen beziehen, der mit 7 Jahren beinahe er-
an den Behandler besondere Anforderungen. Dazu gehö- trunken ist und heute noch Angst vor dem Wasser hat. Der
ren nicht nur die Auswahl und Gestaltung von Inhalten, Zusammenhang von Gefühl und Schmerz lässt sich gut
sondern auch eine interessante und lernfreundliche Unter- über das Beispiel »Lachen« erklären, bei dem die Freude
richtsgestaltung. mit starker körperlicher Erregung einhergeht und mit
Um etwas Neues zu lernen, ist es nach Hüther [29] einer damit verbundenen muskulären Spannung (Zwerch-
wichtig, dass fell); diese ist ab einer gewissen Intensität als Schmerz zu
4 die Aufmerksamkeit geweckt wird, spüren, ohne dass willentliche Auslöser zum Tragen
4 viele Sinneskanäle mit einbezogen werden, kommen.
4 Lernleistungen positive Erfahrungen ermöglichen, Die leider oft noch benutzten Bilder von Fakiren oder
4 das Gelernte eine persönliche Bedeutung hat, Menschen bei selbstverletzenden, rituellen Handlungen
4 der Lernstoff an bereits Vorhandenes anknüpfen trennen den Patienten von seiner Erlebenswelt und brin-
kann, gen ihn eher in die Rolle eines Jahrmarktbesuchers.
4 Überreizung und Druck vermieden werden, Weitere Empfehlungen [41] lauten:
4 ausreichende Wiederholungen stattfinden. 4 Das Gehirn der Zuhörer glaubt Ihnen, sobald Sie ein
Beispiel liefern.
Eine besondere Herausforderung in der Edukation ist die 4 Projizieren Sie durch Beispiele einen Film auf die
Vermittlung von Zusammenhängen zwischen Schmerz geistige Leinwand Ihres Gegenübers.
und Lebensgeschichte, Emotion und Kognition. Die vom 4 Nicht der transportierte Inhalt ist für die Wirkung
Schmerzpatienten erlebte Realität sieht den Schmerz als entscheidend, sondern das Gefühl, das dieser Inhalt
ein lokales Geschehen, das auf einen körperlichen Defekt bei den Menschen auslöst.
weist. Die simplifizierte Bemerkung einiger Behandler, 4 Zeigen Sie sachliche Zusammenhänge/Diagramme
dass es »vom Kopf kommen müsse«, wenn keine organi- niemals komplett. Bauen Sie sie Stück für Stück auf.
sche Normabweichung festgestellt werden kann, bedeutet
für den medizinischen Laien die Unterstellung, dass sein
Schmerz einbildet oder ausgedacht (simuliert) sei, da der 15.6.4 Anmerkungen
»Kopf« synonym für »Denken und Absicht« steht. Ver-
ständlicherweise löst dies heftigste Empörung aus, die 4 Die Zusammenstellung möglichst vieler Informati-
nicht immer offen gezeigt wird. onsbausteine, psychologischer Techniken und physio-
Dies bewirkt beim Patienten eine Abwehrhaltung, die logischer Bewegungsübungen ist keine Voraussetzung
sich z. B. gegen jeden angedeuteten Zusammenhang von für einen Behandlungserfolg – im Gegenteil kann es
Schmerz und Psyche richtet und sich in dem Satz »zemen- wegen zu hoher Lern- und Wissensverdichtung zu
tiert«, »dass man außer Schmerzen keine Probleme habe«. einer Überforderung einzelner Teilnehmer kommen.
Gleichzeitig werden vom Patienten die bisherigen medizi- 4 Die kommunikativen Aufgaben des Behandlers sind
nischen Bemühungen im wütenden Unterton als unzurei- anspruchsvoll und erfordern gezieltes und praktisches
chend abgewertet. Training, wie es in Form von Train-the-Trainer-
Im klinischen Alltag hat es sich bewährt, nicht gleich Seminaren (TTT-Seminaren), Workshops oder
mit der Vermittlung des biopsychosozialen Schmerzver- Balint-Gruppen reflektiert und eingeübt werden
ständnisses zu beginnen, sondern mit Wechselwirkungen kann. Der von der Deutschen Rentenversicherung
von Körper-Geist-Seele als natürliche, selbstverständliche Bund initiierte Verein »Zentrum Patientenschulung«
und für jeden Menschen erlebbare Wirklichkeit, in der in Würzburg (7 http://www.zentrum-patienten-
auch das noch (nach-)wirkt, was einmal war. Dieser Zu- schulung.de) bietet differenzierte Train-the-Trainer-
sammenhang sollte mit vielen konkreten Geschichten, Schulungen an und unterhält eine bundesweite TTT-
»wie das Leben sie schrieb«, vermittelt werden, sodass es Börse.
dem Patienten möglich wird, aus der Distanz heraus einen
erinnerten Nachbarn in diesen Geschichten zu erkennen
und später dann sich selbst. »Habe mich in dem Beispiel 15.7 Fazit für die Praxis
wiedergefunden« oder »Genau so kenne ich das bei mir
auch« sind dann die ersten vorsichtigen Anmerkungen aus Edukation über das Warum einer interdisziplinären
der »Deckung« heraus. Wieweit das, was war, noch heute Diagnostik und multimodalen Schmerztherapie hat eine
auf unser Erleben wirkt, lässt sich gut über den Schlüssel- zentrale Bedeutung für das therapeutische Outcome. Be-
satz »Das steckt dem Peter heute noch in den Knochen« sonders ausgeprägte monokausale Krankheitsvorstellun-
einleiten. Die vermittelte Geschichte könnte sich z. B. auf gen aufseiten des Patienten führen in der multimodalen
192 Kapitel 15 · Information und Edukation des Patienten

und interdisziplinären Vorgehensweise oftmals zu Kom- 5. Basler HD, Kröner-Herwig B (1998) Psychologische Schmerz-
munikationsproblemen. Deshalb sollten die typischen therapie bei Kopf- und Rückenschmerzen. Ein Schmerzbewälti-
gungsprogramm zur Gruppen- und Einzeltherapie, 2. Aufl.
»Krankheitsvorstellungen« von Schmerzpatienten zu Be-
Quintessenz, München
ginn einer Behandlung erfragt und zum Ausgangspunkt 6. Basler HD et al (2001) Chronische Kopf- und Rückenschmerzen.
der Edukation gemacht werden. Der Arzt sollte dies »aktiv« Psychologisches Trainingsprogramm – Trainerhandbuch.
initiieren. V&R-Verlag, Göttingen
Den Schmerzpatienten da abzuholen, wo er steht, 7. Bensing JM (1990) Doctor patient communication and the quality
of care. Nivel, Utrecht
heißt, seine tiefe kognitive Verunsicherung und seine mög-
8. Bertelsmann-Stiftung (2007) Gesundheitspfad Rücken. Innovative
licherweise empfundene Kränkung anzusprechen und Konzepte zur Verbesserung der Versorgung von Patienten mit
durch eine patientengerechte »Aufklärung« aufzulösen. Rückenschmerzen, Experten-Panel »Rückenschmerz«. http://
Voraussetzungen für eine effektive Informationsver- www.bertelsmann-stiftung.de
mittlung sind ein tragfähiges Arbeitsbündnis und die 9. Briggs AM et al (2010) Health literacy and beliefs among a
Möglichkeit, biopsychosoziale Zusammenhänge so zu ver- community cohort with and without chronic low back pain. Pain
150(2):275–283
mitteln, dass der Patient sie auch »richtig« verstehen und
10. Buhrman M, Faltenhag S, Strom L, Andersson G (2004) Controlled
auf seine eigene Situation übertragen kann. Darüber trial of internet-based treatment with telephone support for
hinaus bestimmen auch Wertschätzung, Ermutigung und chronic pain. Pain 111:368–377
eine Beteiligung des Patienten an Entscheidungsprozessen 11. Bundesministerium für Gesundheit (2013) Patientenrechtegesetz.
die Qualität der Arzt-Patient-Beziehung. Somit ist die http://www.bmg.bund.de/glossarbegriffe/p-q/patientenrech-
tegesetz.html. Zugegriffen: 23. November 2015
Informationsvermittlung nicht nur unter didaktischen
12. Burton AK et al (1999) Information and advice to patients with
(»pädagogischen«), sondern auch unter kommunikativen back pain can have a positive effect. A randomized controlled
Aspekten zu betrachten. trial of a novel educational booklet in primary care. Spine
Schmerzpatienten sind oftmals nicht nur bezüglich 24(23):2484–2491
ihrer Schmerzen chronifiziert, sondern auch in ihren 13. Butzlaff M, Floer B, Isfort J (2003) Informationsmaterial und
-medien zur Prävention von Rückenschmerzen, Abschlussbericht
Denk-, Gefühls- und Handlungsmustern. Für die Praxis
der Bertelsmann-Stiftung. http://www.bertelsmann-stiftung.de/
heißt das, dass die in der Edukation vermittelten Inhalte fileadmin/files/BSt/Presse/imported/downloads/xcms_bst_
und Erfahrungen nur dann substanziell verändernd wir- dms_15339__2.pdf. Zugegriffen: 15. Juli 2015
ken, wenn sie über Lebensnähe und Plausibilität zu einem 14. Corcoran TB et al (2010) A survey of patients‘ use of the internet
»Persönlich-betroffen-Sein« führen. for chronic pain- related information. Pain Med 11(4):512–517
Die dem Arzt zur Verfügung stehenden »Unterrichts- 15. Cuijpers P, van Straten A, Andersson G (2008) Internet-adminis-
tered cognitive behavior therapy for health problems: a system-
materialien« in Form von Therapiemanualen oder Patien-
atic review. J Behav Med 31(2):169–177
tenratgebern mit zum Teil differenzierten didaktischen 16. Daltroy LH, Iversen MD, Larson MG, Lew R, Wright E, Ryan J,
Anleitungen und aufgearbeiteten Informationsbausteinen Zwerling C, Fossel AH, Liang MH (1997) A controlled trial of an
bieten eine erste nützliche Grundlage zur Edukation. Da educational program to prevent low back injuries. N Engl J Med
Schmerzpatienten auch von Informationsschriften, Inter- 337(5):322–328
15 net und interaktiven computerbasierten Beratungssyste- 17. Deveugele, M, Derese A, van den Brink-Muinen A, Bensing J,
De Maeseneer D (2002) Consultation length in general practice:
men profitieren können, sollten diese besonders dann cross sectional study in six European countries. BMJ 325:1–6
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tionen für Betroffene und Angehörige, SpringerMedizin
195 16

Gesprächsführung
C. Leonhardt

16.1 Patientenzentrierte Gesprächsführung – 196


16.1.1 Aktive patientenzentrierte Gesprächsführung – 196
16.1.2 Die vier Ebenen einer Nachricht – 197

16.2 Motivierende Beratung – 198


16.2.1 Ablauf einer motivierenden Beratung – 199
16.2.2 Prinzipien des Motivational Interviewing – 200
16.2.3 Strategien bei geringer Änderungsmotivation – 201
16.2.4 Strategien bei bestehender Änderungsmotivation – 202

16.3 Die 5-A-Strategie – 202

16.4 Fazit – 204

Literatur – 204

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
196 Kapitel 16 · Gesprächsführung

Bei chronischen Schmerzpatienten ist eine patientenzen- schränkungen und Auswirkungen auf die Lebensführung
trierte Gesprächsführung bedeutsam, um eine gute Bezie- einschätzen zu können. Psychosoziale Faktoren sollten von
hung zwischen Arzt bzw. Therapeut und Patient wachsen zu Beginn an im Rahmen eines biopsychosozialen Schmerz-
lassen. Das folgende Kapitel beschreibt notwendige Haltun- modells mit in die Diagnostik einbezogen werden. Spätere
gen und Techniken einer solchen Gesprächsführung. Sollte Wechsel in den Erklärungsansätzen einer Schmerzerkran-
es zu Störungen in der Kommunikation kommen, ist es hilf- kung (»Krankheitsmodell«) können sich sonst ungünstig
reich, die von Schulz-von-Thun beschriebenen vier Ebenen auf die Interaktion und Beziehungsgestaltung auswirken.
einer Nachricht zu reflektieren und sensibel dafür zu sein, Hilfreich ist hierfür eine innere Haltung, die sich am
was Patienten »zwischen den Zeilen« mitteilen möchten. Als Konzept der humanistischen Psychologie nach C. Rogers
Beratungskonzept wird das Motivational Interviewing vorge- anlehnt. Ein nondirektiver Gesprächsstil, der dem Pa-
stellt sowie die sog. 5-A-Strategie, die sich vor allem in der tienten viel Raum gibt und ihm das Beziehungsangebot
primärärztlichen Versorgung als Rahmenkonzept für die Ver- vermittelt – »Sie sind jetzt hier der Experte, Sie wissen um
sorgung und Lebensstilberatung chronisch Kranker eignet. Ihre Probleme und haben jetzt Zeit, mir diese zu schil-
Je nach Motivation des Patienten sollten unterschiedliche dern« –, zeichnet sich durch folgende Grundhaltungen
Strategien genutzt werden, um sie zu Verhaltensänderungen aus und ist besonders zu Beginn eines Gespräches günstig,
im Alltag oder zu besserer Therapiemitarbeit zu ermutigen. um den Patienten zu öffnen:
4 Empathie: ein Sichhineinversetzen in die Gefühlslage
des Patienten, ohne davon überwältigt zu werden,
16.1 Patientenzentrierte aber mit der Fähigkeit, ihm das Nachfühlen auch
Gesprächsführung1 mitteilen zu können
4 Wertschätzung/Akzeptanz: eine grundsätzlich
Schmerzpatienten gelten oft als schwierige Patienten. Eine akzeptierende Haltung dem Gesprächspartner gegen-
gelungene Kommunikation mit ihnen ist ein erster wichti- über, auch wenn dieser Fehler und Schwächen mit-
ger Schritt für eine gute Therapeut-Patient-Beziehung und bringt oder mir unsympathisch ist
kann den Informationsaustausch erleichtern, die diagnos- 4 Echtheit/Kongruenz: ein authentisches Auftreten
tische und therapeutische Entscheidungsfindung voran- dem Patienten gegenüber, d. h. inneres Erleben und
treiben und das Selbstmanagement fördern. Eine patien- äußeres Verhalten stimmen überein
tenzentrierte Gesprächsführung zeichnet sich durch eine
empathische, authentische und wertschätzende Haltung Diese Haltungen werden im Sprechen mit einem Schmerz-
aus sowie durch öffnendes Fragen und aktives Zuhören patienten durch bestimmte Gesprächstechniken unter-
aufseiten des behandelnden Therapeuten. Eine partner- stützt, die sich vor allem durch aktives Zuhören und
schaftliche Beziehungsgestaltung ist anzustreben, die von offenes Fragen auszeichnen.
Beginn an von einem biopsychosozialen Schmerzmodell Aktives Zuhören drückt sich verbal, paraverbal und
ausgeht. Bei kommunikativen Störungen mit Patienten ist nonverbal aus durch folgende Techniken:
es lohnend, die vier möglichen Ebenen einer Nachricht des 4 Zugewandte Körperhaltung, Blickkontakt, Kopf-
Patienten zu analysieren. nicken, »Hmm…«
16 4 Keine Fremdwörter nutzen, möglichst Sprache des
Patienten aufgreifen
16.1.1 Aktive patientenzentrierte 4 Gelegentliches Paraphrasieren, d. h. Zusammenfassen
Gesprächsführung dessen, was sachlich angesprochen wurde (dient auch
der Strukturierung)
Patientenzentrierte Gesprächsführung ist für alle Berufs- 4 Spiegeln des emotionalen Befindens – dies wird auch
gruppen bedeutsam, die langfristig mit (chronischen) »Verbalisieren emotionaler Erlebnisinhalte« genannt,
Schmerzpatienten arbeiten. Gerade bei Erstgesprächen und d. h. Aufgreifen dessen, was ich implizit zwischen den
Anamnesen ist es wichtig, genaue Informationen vom Pati- Zeilen des Patienten als Gefühl erspüre. Eine gute
enten über alle Aspekte des Schmerzerlebens zu bekommen, Verbalisierung ist kurz, in bildhafter Sprache und
um individuelle Belastungsfaktoren, funktionelle Ein- wird als Hypothese dem Patienten angeboten, z. B.:
»Es ist, als ob sich eine unsichtbare Mauer zwischen
Sie und Ihren Partner geschoben hätte?«
1 Das Kapitel richtet sich an alle, die mit Rückenschmerzpatienten
arbeiten, seien es Ärzte, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten,
Ergotherapeuten u. Ä. Im Folgenden wird daher nur kurz von
Offene Fragen ermutigen den Patienten, etwas in eigenen
»Therapeut« gesprochen, wenn nicht ausdrücklich eine bestimmte Worten ausführlicher zu schildern, und nicht nur mit »ja«
Berufsgruppe genannt wird. oder »nein« zu antworten, z. B: »Wie fühlen sich Ihre
16.1 · Patientenzentrierte Gesprächsführung
197 16
Schmerzen an?« oder »Was haben Sie selbst unternom- »4-Ohren-Modell« nach Schulz-von-Thun [13] erwiesen,
men, wenn Ihre Rückenschmerzen stärker wurden?«. besonders, wenn es gilt, Störungen in der Kommunikation
Im Sinne eines Trichtermodells der Gesprächsführung aufzudecken.
ist manchmal zum Ende eines Gesprächs ein direktiverer Schulz-von-Thun geht davon aus, dass jede Nachricht
Gesprächsstil nötig, bei dem geschlossenere Fragen für 4 Botschaften enthält – dies wird auch als »vier Ebenen
eine konkrete Diagnose oder Therapieplanung gestellt einer Nachricht« bezeichnet.
werden müssen (z. B. »Wie häufig haben Sie im Monat
Rückenschmerzen?«). Mehrfach-, Suggestiv- oder Floskel- Beispiel Patient sagt zum Arzt: »Das Medikament, was Sie
fragen gehören als unproduktive Fragen nicht zu einer mir verschrieben haben, war nicht gerade das, was ich mir
patientenzentrierten Gesprächsführung. vorgestellt hatte.«
Beachtet werden sollte, dass ein patientenzentrierter 4 Auf der Sachebene sagt der Patient: Sie haben mir ein
Gesprächsstil außer der Informationserhebung immer anderes Medikament gegeben, als ich dachte.
auch der Beziehungsgestaltung dient und daher Grundlage 4 Auf der Beziehungsebene sagt der Patient: Sie
einer guten Mitarbeit des Patienten ist (s. unten). erscheinen mir nicht kompetent, ich hätte Besseres von
> Für eine patientenzentrierte Gesprächsführung gilt
Ihnen erwartet.
die Regel: so nondirektiv wie möglich, so direktiv
4 Auf der Selbstoffenbarungsebene sagt der Patient:
wie nötig.
Ich bin empört/verärgert/enttäuscht über dieses
unmögliche Medikament.
Die Beziehungsgestaltung durch offene Kommunikation 4 Als Appell des Patienten ist zu hören: Verschreiben Sie
und Zuhören ist bedeutsam, gerade bei chronischen Pa- mir ein wirkungsvolleres Medikament!
tienten mit unspezifischen Rückenschmerzen. Das Fehlen
eines eindeutigen pathologischen Befunds verunsichert Als Nachrichtenempfänger (hier ein Arzt) gilt es zu ver-
viele Patienten, lässt sie emotional häufig hilflos oder stehen, was der Patient vordringlich sagen möchte. Bei
aggressiv werden. Offenes Fragen, mitgehendes Zuhören Störungen in der Kommunikation (ich ärgere mich, Pa-
und Verbalisieren (wo es passend ist) hilft, eine gute tient wird wütend, Patient arbeitet nicht mit) ist es nütz-
Therapeut-Patient-Beziehung zu schaffen. lich, Antworten auf diesen vier Ebenen zu entschlüsseln.
Ursula Frede, Psychotherapeutin und selbst Schmerz- Dafür kann es z. B. hilfreich sein, zu spiegeln, was bei
patientin, weist eindrücklich darauf hin [3], dass Etikettie- einem selbst angekommen ist:
rungen und Psychopathologisierung ebenso ungünstig 4 Zum Beispiel auf der Selbstoffenbarungsebene: »Mir
sind wie eine rein organmedizinische Sichtweise beim scheint, Sie sind verärgert, dass das Medikament nicht
Schmerz. Für eine gute Therapeut-Patient-Beziehung soll- wie erhofft gewirkt hat?«
ten nach ihrer Einschätzung bei Schmerzpatienten fol- 4 Oder auf der Appellebene: »Möchten Sie, dass ich
gende Aspekte in der Kommunikation beachtet werden: Ihnen ein anderes Medikament verschreibe?«
4 Allein das Eingeständnis, dass ohne Befund immer > Eine Störung auf der Beziehungsebene kann
noch Schmerzen erlebt werden, ist oft schambesetzt. durch eine Kommunikation rein auf der Sachebene
4 Schmerzpatienten leiden oft unter sozialem Rückzug nicht geklärt werden. Daher ist es wichtig zu
und Einsamkeit. überlegen, auf welchem Ohr der Patient hört,
4 Häufig erleben oder befürchten Patienten Autono- oder auch, auf welchem Ohr man selber als Arzt
mieverlust, der auch in den Rahmenbedingungen des oder Therapeut eine Botschaft des Patienten
Gesundheitssystems begründet liegt. wahrnimmt (»persönliches 4-Ohren-Profil«).
4 Mit Unkontrollierbarkeitserfahrungen beim chroni- Höre ich z. B. sehr stark mit dem Sachohr oder
schen Schmerz sollte je nach Kontext unterschiedlich nehme ich in übertriebener Weise vieles mit dem
umgegangen werden (günstig ist eine differenzierte Beziehungsohr wahr, kann dies zu Schwierigkeiten
Wahrnehmung von Einflussmöglichkeiten). führen.
4 Der Verzicht auf einfache Lösungen für ein
Schmerzproblem und Anerkennung des Leidens Chancen und Gefahren ausgeprägter »Ohren« können wie
kann für Patient und Therapeut entlastend wirken. folgt beschrieben werden:

jPersönliches 4-Ohren-Profil
16.1.2 Die vier Ebenen einer Nachricht Starkes Sachohr (Wie ist der Sachinhalt zu verstehen?)
4 Chancen:
Als hilfreich hat sich in der Kommunikation mit Patienten 5 Sachliche Klärungen sind möglich, ohne gereizt,
auch das Modell der quadratischen Nachrichten sowie das beleidigt, aggressiv aneinander zu geraten.
198 Kapitel 16 · Gesprächsführung

4 Gefahren:
5 Die gefühlsmäßigen Aspekte eines Themas bleiben Patienten das Gefühl vermittelt, verstanden zu wer-
häufig ohne Resonanz, der Gesprächspartner fühlt den. Dies bedeutet, dass ich nicht nur sachlich richtig
sich unverstanden mit dem, wie es ihm geht. das sage, was therapeutisch notwendig ist, sondern
5 Bei starker »Versachlichung« besteht die Gefahr, mir auch Gedanken darüber mache, wie ich es sage –
kühl zu wirken. um die Beziehungsebene einzubeziehen. Dies moti-
viert zur Mitarbeit und hilft, z. B. Patientenedukation
Starkes Beziehungsohr (Wie redet der mit mir, persönlicher und dadurch überzeugender zu gestal-
für wen hält der mich?) ten. Ein Therapeut sollte sich dessen bewusst sein,
4 Chancen: dass seine Botschaften auch auf unterschiedliche
5 Gute Sensibilität für Beziehungen und Qualität in »Ohren« beim Patienten treffen können. Bei Störun-
Beziehungen. gen in der Kommunikation mit Patienten kann es hilf-
5 Hilft Konflikte in Beziehungen anzusprechen. reich sein zu überlegen, auf welcher Ebene »gesen-
4 Gefahren: det« und gehört wurde. Nützlich ist dieser Ansatz
5 Sachauseinandersetzungen kann ausgewichen auch für die Kommunikation beim interdisziplinären
werden. Arbeiten im Team.
5 Auch beziehungsneutrale Botschaften führen
dazu, dass der Nachrichtenempfänger sich an-
gegriffen fühlt, beleidigt ist (dies kann die Selbst-
offenbarung des anderen behindern). 16.2 Motivierende Beratung

Starkes Selbstoffenbarungsohr (Was sagt mir dein Für Beratungsgespräche mit Schmerzpatienten eignet sich
Gesprochenes über Dich?) das Konzept des Motivational Interviewing (MI) nach
4 Chancen: Miller und Rollnick [10]. Dieser klientenzentrierte, aber
5 Ein »diagnostisch sinnvolles Ohr«, da verstanden direktive Beratungsansatz wurde ursprünglich für den
wird, was den anderen emotional bewegt – Suchtbereich entwickelt und hat sich seit Längerem in ver-
notwendig, um beim aktiven Zuhören emotional schiedenen Einsatzbereichen als effektiv erwiesen [1, 6].
spiegeln zu können. Beratungsgespräche nach diesem Ansatz versuchen Pa-
4 Gefahren: tienten dort abzuholen, wo sie stehen und die Eigenmoti-
5 Durch zu starkes Fokussieren auf den anderen vation des Patienten für eine Verhaltensänderung zu
werden eigene Bedürfnisse womöglich ignoriert. stärken. Das MI-Konzept grenzt sich von konfrontativen
5 Ständiges »Psychologisieren« kann Abwehr Verfahren ab, versucht aber durch Direktivität Impulse für
provozieren (»Ich bin doch nicht auf der Couch!«) eine Verhaltensänderung zu setzen und geht damit über
und Distanz vergrößern. empathische Reflexion auch in den Gesprächstechniken
hinaus.
Starkes Appellohr (Was soll ich tun, denken, Eine Anwendung gerade auch für den Umgang mit
16 fühlen aufgrund seiner Mitteilung?) chronischen Schmerzpatienten scheint sinnvoll, da auch
4 Chancen: hier häufig Ambivalenz gegenüber Veränderungen des
5 Verhilft zu einem Verständnis darüber, was von Lebensstils und dem Erproben neuer Schmerzbewälti-
einem erwartet wird, und kann daher lösungs- gungsstrategien besteht [6]. Die Betonung der Entschei-
orientiertes Vorangehen erleichtern. dungsfreiheit des Patienten hilft darüber hinaus vielen
4 Gefahren: Patienten, sich überhaupt für neue Verfahren zu öffnen,
5 Jede Aussage wird als Aufforderung verstanden. z. B. für psychologische Therapieansätze.
5 In der Ausrichtung auf die Erwartung des anderen Das MI ist nicht primär theoretisch entwickelt worden,
bleibt die eigene Position undeutlich (Gefahr des steht jedoch einem gesundheitspsychologischen Stufen-
vorauseilenden Gehorsams). modell nahe: dem transtheoretischen Modell der Ver-
haltensänderung (TTM, siehe [12]). Darüber hinaus be-
Tipp rücksichtigt es in seinem »Spirit« und den empfohlenen
Techniken Aspekte der Selbstbestimmungstheorie nach
Beim Umgang mit chronischen Schmerzpatienten Ryan und Deci [9] sowie die Theorie der kognitiven Dis-
sollten alle vier Ebenen in der Kommunikation ge- sonanz nach Festinger [15]. Es wird angenommen, dass
nutzt werden, da dies die Beziehung stärkt und dem Menschen ein inneres Bedürfnis nach Wachstum haben,
dabei Kompetenz, Autonomie und hilfreiche Beziehungen
16.2 · Motivierende Beratung
199 16
anstreben. Entsprechend der Theorie Festingers geht man 16.2.1 Ablauf einer motivierenden Beratung
beim MI davon aus, dass (entlockte) änderungsbezogene
Äußerungen des Patienten in ihm kognitive Dissonanz Zu Beginn sollten der Therapeut und der Patient gemein-
(d. h. einen unangenehmen Gefühlszustand durch wider- sam überlegen, an welchem Thema sie zuerst arbeiten
sprüchliche Gedanken oder Einstellungen) erzeugen. Dies wollen. Es sollte Interesse und Neugier an allen Themen
soll beim Patienten den Wunsch stärken, das neue Ver- des Patienten gezeigt werden und nicht zu schnell eine
halten zu zeigen, um das störende Gefühl zu reduzieren thematische Eingrenzung erfolgen. Der Patient sollte mit-
(7 Abschn. 16.2.3, »change talk«). entscheiden können, mit welchem Thema er beginnen
> Es ist das Ziel motivierender Beratung in allen
möchte. Dies wird »Agenda-Setting« genannt.
Gesundheitskontexten (z. B. beim Hausarzt, Physio-
In der Beratungssituation mit einem Rückenschmerz-
therapeuten, Psychologen), die intrinsische Motiva-
patienten könnte dies folgendermaßen aussehen:
tion des Patienten zu stärken, Neues gegen den
– Therapeut: »Für Patienten mit Rückenschmerzen
Schmerz auszuprobieren oder ungünstige Ver-
kann es wichtig sein, darauf zu achten, wie sie mit Stress-
haltensweisen zu ändern. Beratungen müssen für
situationen bei der Arbeit umgehen. Es könnte aber auch
Patienten die Fragen klären: (Wozu) sollte ich
wichtig sein zu schauen, wie Sie mehr körperliche Aktivität
(therapeutisch gilt es, die Wichtigkeit einer Ände-
in ihren Alltag bringen oder sich regelmäßiger einmal
rung zu erhöhen) und (wie) kann ich (Therapeut
Pausen einplanen können. Was meinen Sie, welches Thema
sollte die Zuversicht stärken).
wäre für Sie bedeutsam?«
Ein guter Gesprächseinstieg ist dann über die »Typi-
MI basiert auf der Annahme, dass Motivation veränderlich scher-Tag-Technik« zu erreichen, um zu sehen, welchen
und Verhaltensänderung ein Prozess ist. Menschen unter- Stellenwert ein bestimmtes Problemverhalten im Tages-
scheiden sich darin, inwieweit sie bereit sind, angestrebte ablauf des Patienten hat.
Verhaltensänderungen voranzutreiben. Bevor Verände- – Therapeut: »Schildern Sie mir doch mal, wie ein
rungen im Verhalten sichtbar werden, müssen »Verände- typischer Tag bei Ihnen aussieht und welche Auswirkun-
rungen im Kopf« erfolgen. Entsprechend dem TTM gen die Rückenschmerzen dabei in Ihrem Alltag haben …
werden dabei 5 Phasen unterschieden. Ein Therapeut soll- welchen Stellenwert körperliche Aktivität dabei im Laufe
te phasenspezifisch unterschiedlich vorgehen, um dem des Tages hat.«
Patienten zu helfen, im Prozess der Verhaltensänderung Danach wäre ein unterschiedliches Vorgehen, je nach
voranzuschreiten. Rückfälle werden als normaler Teil eines Bereitschaft zur Verhaltensänderung/Motivationsstufe,
Veränderungsprozesses angesehen und sollten konstruktiv günstig. Siehe hierfür die Übersicht in . Tab. 16.1.
genutzt werden. Dem Therapeuten sollte für die diagnostische Ein-
Folgende Grundannahmen sind förderlich für eine schätzung der individuellen Motivationsstufe immer sehr
motivierende Gesprächsführung in Beratungssituationen: klar sein, um welches Zielverhalten es geht. Dies kann bei
4 Der Patient ist autonom in seiner Entscheidung für Rückenschmerzpatienten aus Sicht des Physiotherapeuten
oder gegen eine Verhaltensänderung (dies bedeutet z. B. die Motivierung zur Steigerung der Alltagsaktivität
nicht resignativer Fatalismus). sein, aus Sicht des Psychotherapeuten das Erproben
4 Die Entscheidung des Patienten verdient Respekt. bestimmter Schmerzbewältigungsstrategien oder beim
4 Der Berater ist ehrlich darum bemüht, die Perspektive ärztlichen Berater ein anderer Umgang mit der Schmerz-
des Patienten zu verstehen. medikation. Eine Einschätzung, welches Verhalten adaptiv
4 Die Beratung soll dem Patienten helfen, informierte für den Schmerzpatienten ist, kann dabei immer nur sehr
Entscheidungen zu treffen und ggf. effektive Hand- individuell erfolgen [5].
lungen zu unternehmen. Es sollte besonders in den frühen Stufen der Motiva-
4 Der Berater bietet dem Patienten sein Wissen an und tion zur Verhaltensänderung immer wieder betont werden,
zeigt Handlungsoptionen auf. dass der Therapeut nur ein Angebot macht, die Entschei-
4 Konfrontation ist ein Ziel, nicht Stil der Beratung dungsfreiheit und Verantwortung jedoch beim Patienten
(s. oben, kognitive Dissonanz). liegt. Das Betonen der Wahlfreiheit und Eigenverant-
wortung des Patienten entlastet den Berater und macht
Zusammenfassend bedeutet dies: Beratung ist kein Kampf; Verhaltensänderungen des Patienten wahrscheinlicher, da
vielmehr steht der Berater auf der Seite des Patienten. (Ein kein Druck erzeugt wird.
Patient mit chronischen Rückenschmerzen mag z. B. gute
Gründe dafür haben, dass er bisher keinen Sport mehr ver-
sucht hat.)
200 Kapitel 16 · Gesprächsführung

. Tab. 16.1 Ablauf einer motivierenden Beratung – Kurzanleitung

Beachte Grundhaltung: Beratung wird angeboten und ist kein Aufgabe des Therapeuten + Techniken:
Kampf

Einstieg in Beratung – Agenda-Setting


p – Typischer-Tag-Technik (»Wie sieht ein typischer Tag bei Ihnen aus,
welche Rolle spielt dabei xy?«)

Diagnostik der – »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, ein


Veränderungsbereitschaft Entspannungsverfahren auszuprobieren …?«
p – Wichtigkeit und Zuversicht bezüglich einer Verhaltensänderung
erfragen

p Danach stufenspezifisch unterschiedliches Vorgehen: p

Veränderungsphase/Stufe Kennzeichen der Stufe Aufgabe des Therapeuten + Techniken:

Absichtslosigkeit Patient ist nicht bereit, über Wecke Problembewusstsein!


Veränderungen nachzudenken, Gib Informationen und versuche emotionalen Bezug
zeigt Widerstand oder weicht herzustellen!
Auseinandersetzungen aus – Triple-I-Strategie:
1. Interesse wecken (»Wissen Sie bereits etwas über den Zusam-
menhang von Rückenschmerz und körperlicher Aktivität?«)
2. Informationen sachlich anbieten
3. Integration anregen (»Was bedeutet das nun für Sie
persönlich?«)

Absichtsbildung Patient sieht Veränderungsnot- Stärke den Wunsch nach Änderung!


wendigkeit, es besteht aber Versuche, Ambivalenz progressiv aufzulösen (»change talk«!)
starke Ambivalenz gegenüber – Offenes Fragen nach Besorgnis
neuen Handlungen – Vor- und Nachteile des Status quo und einer Änderung sammeln
und gewichten
– Zuversicht stärken durch Rückgriff auf positive Erfahrungen aus
der Vergangenheit, positive Vorbilder (»Welche schwierigen Dinge
haben Sie bereits gemeistert?«)

Handlungsvorbereitung Eine Intention ist gebildet, Stärke die Zuversicht und Selbstverpflichtung des Patienten!
Patient ist hochmotiviert und – Konkreten Plan mit ersten Schritten besprechen
unternimmt erste Schritte – Soziale Unterstützung aktivieren

Handlung Patient erprobt neue Ver- Hilf, die Veränderung im Alltag zu verankern!
haltensweisen im Alltag – Loben für erste Erfolge
– Selbstverstärkung fördern (»Was gönnen Sie sich als Ausgleich
Aufrechterhaltung Patient zeigt seit Längerem neues
für die zusätzlichen Anstrengungen?«)
Zielverhalten und kann auch mit
– Auf Ausrutscher vorbereiten, ggf. konstruktiv besprechen
16 Rückfällen aktiv umgehen

16.2.2 Prinzipien des Motivational 3. Auseinandersetzungen oder Beweisführungen


Interviewing vermeiden: Argumentieren und Beweisführungen
überzeugen nicht, sondern fördern Reaktanz und
Motivational Interviewing als eigene Technik ist besonders Abwehr beim Patienten.
für Patienten in frühen Motivationsstufen geeignet und 4. Widerstand aufnehmen: Widerstand sollte als Signal
geht von folgenden 5 Prinzipien aus: dafür verstanden werden, die Gesprächsstrategie zu
1. Empathie ausdrücken: Aktives Zuhören, Paraphra- verändern, um zu demonstrieren, dass man die
sieren und Verbalisieren sind unerlässlich, um dem Ambivalenz versteht.
Patienten zu zeigen, dass man seine Perspektive ver- 5. Selbstwirksamkeit fördern: Der Glaube, sich ver-
steht. ändern zu können, wirkt motivierend und sollte
2. Diskrepanz entwickeln lassen: Aufzeigen von gestärkt werden.
Dissonanzen zwischen Lebenszielen und aktuellem
Verhalten fördert die Veränderungsbereitschaft.
16.2 · Motivierende Beratung
201 16
16.2.3 Strategien bei geringer
Änderungsmotivation 5 Inwieweit hat Ihr Schmerz Auswirkungen auf Ihren
Partner?
Die zentrale TTM-Technik in den Motivationsstufen der 5 Was sind nach Ihrer Ansicht Ursachen für Ihren
Absichtslosigkeit und Absichtsbildung ist vor allem der Schmerz?
sog. »change talk«, der durch geschickte Gesprächsführung
selbstmotivierende Äußerungen des Patienten hervorlo-
cken soll. Dies sind Aussagen des Patienten, die für eine Chronische Schmerzen verändern viele Patienten, machen
Veränderung, für Erprobung von etwas Neuem sprechen. sie oft verzweifelt, grübelnd und passiv. Im Gespräch wer-
Folgende Möglichkeiten bestehen bei Patienten mit den sie dann oft als schwierig und widerständig erlebt. Aus
Rückenschmerzen, selbstmotivierende Äußerungen Sicht der Patienten gibt es aber oft Gründe, warum sie sich
hervorzulocken (z. T. in Anlehnung an [5]): Änderungsvorschlägen widersetzen oder scheinbar un-
4 Offenes Fragen nach Besorgnis, z. B.: günstige Bewältigungsstrategien wählen.
5 Worüber machen Sie sich am meisten Sorgen Widerstand wird im Rahmen des Motivational Inter-
bezüglich Ihrer Schmerzen? viewing als »Teil des Jobs« verstanden. Oft sind hierfür
4 Frage nach möglichen Vorteilen, z. B.: interaktionelle Gründe zwischen Berater und Patient ver-
5 Wenn die Schmerzen weniger würden, wie würde antwortlich – womöglich wird zu stark gedrängt oder ein
das Ihr Leben positiv verändern? Ambivalenzkonflikt wurde nicht genügend berücksichtigt.
Anmerkung: Ausführliches Besprechen möglicher Ein Berater sollte zunächst einmal innerlich durchatmen
Nachteile ist für konstruktives Auflösen von und sich wieder bemühen, sich empathisch auf die Seite
Ambivalenz ebenfalls sinnvoll und sollte vor den des Patienten zu stellen (»Ich kann mir gut vorstellen, dass
Vorteilen geschehen. Sie da skeptisch sind/misstrauisch sind/sich das erst einmal
4 Blick zurück, z. B.: gut überlegen müssen, ob …«)
5 Können Sie sich an eine Zeit erinnern, als Sie Um im Beratungsgespräch mit spürbarem Widerstand
schmerzfrei waren? Was haben Sie damals gerne umzugehen, eignen sich folgende Strategien (s. auch
unternommen …? [10]):
4 Blick nach vorn (Vision für ein Leben ohne 4 Spiegeln (einfach oder überzogen, ggf. die
Schmerzen), z. B.: Ambivalenz), z. B.:
5 Wie sähe Ihr Leben aus, wenn Sie ohne Schmerzen Ich verstehe Sie so, dass Sie sich ein Leben ohne
wären, was wären Ihre Ziele? Schmerzmedikamente überhaupt nicht vorstellen
4 Frage nach Zuversicht, z. B.: könnten.
5 Was gibt Ihnen die Kraft zu glauben, dass Sie auch 4 Den Fokus verschieben, z. B.:
ohne Schmerzmedikamente einen Tag aus- Lassen wir die Statistik einfach mal ruhen. Was mich
kommen können? wirklich interessiert, ist, wie Sie heute über Ihre
5 Welche Dinge in Ihrem Leben gehen gut, trotz der Arbeitssituation denken …
Schmerzen? 4 Zustimmung mit einer Wendung, z. B.:
4 Extremszenarien ansprechen, z. B.: Ja, Sie haben da Recht. Ganz auf die Medikamente zu
5 Was wäre das Schlimmste, was passieren könnte, verzichten würde Sie jetzt überfordern. Und vielleicht
wenn Sie jetzt nichts verändern? hilft Ihnen ja auch bereits eine Reduzierung am
5 Was befürchten Sie, wäre das Schlimmste, was Abend …« (Anmerkung: Eine Anfügung mit »und«
passieren könnte, wenn Sie jetzt nach der Wirbel- ist besser als ein »Aber«!)
säulenoperation wieder mit Spaziergängen 4 Reframing (Bedeutung verändern), z. B.:
beginnen würden? Ihre bisherigen erfolglosen Versuche sind kein Grund
zur Resignation. Im Gegenteil: Das wird Sie jedes Mal
Tipp ein Stück weiter nach vorne bringen …
4 Persönliche Entscheidungsfreiheit und Selbstkon-
Empfehlenswerte, den Patienten öffnende Fragen trolle betonen, z. B.:
sind nach Jensen [5] folgende: Sie sind hier der Kapitän und bestimmen, wohin die
5 Was scheint Ihren Schmerz zu verschlimmern? Reise geht!
5 Was verringert Ihren Schmerz? 4 Advocatus diaboli (bewusst gewählte Ironie, auch
5 Welchen Effekt hat tiefe Entspannung auf Ihr paradoxe Intervention), z. B.:
Schmerzerleben? Sie können gar nichts an Ihrer Arbeitssituation
ändern, das ist zu schwer für Sie.
202 Kapitel 16 · Gesprächsführung

4 Metakommunikation, z. B.: sowie Ideen, wie damit umgegangen werden könnte (sog.
Mein Eindruck ist, dass wir jetzt aneinander vorbei antizipatorisches Barrierenmanagement).
reden …
4 Verbalisieren aktueller Gefühle, z. B.: Tipp
Es scheint mir, dass Sie jetzt sauer sind …«
Um Verhaltensänderungen langfristig umzusetzen
und Erfolgserlebnisse zu haben, brauchen Patienten
mit bestehender Änderungsmotivation gut formu-
16.2.4 Strategien bei bestehender
lierte Ziele – am besten schriftlich! Notiert werden
Änderungsmotivation
sollte zusätzlich der Umgang mit möglichen Hinder-
nissen sowie Personen/Institutionen, die soziale
Zunehmende selbstmotivierende Äußerungen, konkrete
Unterstützung leisten können. Der Patient sollte
Fragen nach dem »Wie« einer Verhaltensänderung (»Wie
diesen Handlungsplan am Ende mit Datum unter-
kann ich denn xy machen …?«) oder auch Zukunftsphan-
schreiben und mit nach Hause nehmen.
tasien sind Anzeichen dafür, dass eine konkrete Hand-
lungsabsicht gebildet wurde (Stufe der Vorbereitung und
Handlung im TTM). Patienten sind dann bereit, konkret Es ist wichtig, immer wieder die Entscheidungsfreiheit
etwas zu ändern, und bedürfen daher anderer Hilfestellung des Patienten beim Erproben neuer Verhaltensweisen zu
im Beratungsgespräch als nur »change talk«. betonen und auch in dieser Phase nicht zu drängen.
Günstig ist nun, bisherige Gesprächsergebnisse zu- Um Verhaltensänderungen schließlich im Alltag zu
sammenzufassen, vor allem auch selbstmotivierende verankern (Stufe der Aufrechterhaltung im TTM) und
Äußerungen, die vom Patienten gekommen sind. Befunde neues Verhalten zu automatisieren, sind folgende Strate-
und auch mögliche Ambivalenzen können als Einstieg gien sinnvoll:
zurückgemeldet werden. 4 Aufmerksamkeit auf Vorteile des neuen Verhaltens
Notwendig sind nun Zielklärungen, das Ausloten lenken
sozialer Unterstützungsmöglichkeiten, Handlungs- 4 Fortschritte erkennen und verstärken (loben!)
planung und ein Barrierenmanagement, um von der 4 Tipps für den Umgang mit Ausrutschern vermitteln
Änderungsbereitschaft zur konkreten Handlung zu kom-
men. Ziel ist dabei stets, das Commitment zu erhöhen, MI-Strategien lassen sich gut im Kontext multimodaler
d. h. die Selbstverpflichtung. Programme von allen beteiligten Berufsgruppen an-
Für die Zielklärung können Ergebnisziele und wenden. Entscheidend für die Wirksamkeit ist vor allem
Handlungsziele besprochen werden, ggf. ist ein schrift- der »Spirit«, d. h. die innere Haltung im Gespräch. Dies ist
licher Plan mit Aufschreiben erster konkreter Schritte nicht leicht zu erlernen, wie eigene Studien mit Rücken-
günstig. schmerzpatienten gezeigt haben [8]. Schulungen mit
Ergebnisziele sollten positiv und konkret formuliert praktischen Übungen sind günstig, um das Auswählen
sein (was der Patient erreichen möchte). Die Formulierung verschiedener Beratungsstrategien nach den unterschied-
der Handlungsziele sollte auf die Wirksamkeit der Hand- lichen Motivationsstufen zu lernen und diese zu erproben.
16 lung für das Ergebnis ausgerichtet sein (was der Patient tun Der Gesprächsstil und die innere Haltung dabei erfordern
wird), realistisch sein und zum Patienten als Person pas- jedoch viel Übung und Selbstreflexion.
sen. Günstig ist es, die Beratung z. B. mit einem konkreten
ersten Schritt zu beenden (was tue ich, wann, mit wem und
wo). Expertenwissen über Handlungsoptionen ist nun ge- 16.3 Die 5-A-Strategie
fragt. Von Vorteil sind dafür mehrere Angebote (»Andere
Patienten mit Rückenschmerzen haben mir berichtet, dass Das Beratungskonzept der »5-A-Strategie« ist insbesonde-
es ihnen viel geholfen hat, …«) – immer mit der Wahl- re für die Raucherentwöhnung im primärärztlichen Set-
möglichkeit durch den Patienten. ting entwickelt worden [4, 14]. Es setzt sich aber als
Ungünstig wären hier Formulierungen mit »Sie müss- ein Rahmenkonzept für verschiedene Anwendungen
ten …«. Kurze, klare persönliche Stellungnahmen können vor allem in der hausärztlichen Beratung von chronisch
auch sinnvoll sein (z. B.: »Ich denke, Sie sollten sich für das kranken Patienten zur Lebensstilberatung und in der Prä-
Sporttreiben mit etwas belohnen, was Ihnen ganz per- vention durch [7]. Der Fokus liegt auf der Unterstützung
sönlich Freude macht …«). des Patienten-Selbstmanagements.
Ein konkreter Plan, der wie ein »Vertrag mit sich Unter den 5 »A« sind 5 Maßnahmen zusammengefasst,
selbst« auch vom Patienten unterschrieben wird, sollte die systematisch nacheinander (z. B. beim Hausarzt-
antizipatorisch bereits mögliche Hindernisse benennen besuch) abgearbeitet werden sollen:
16.3 · Die 5-A-Strategie
203 16
für Rückenschmerzpatienten müssen meist sehr individu-
Fünf Maßnahmen der 5-A-Strategie alisiert erfolgen und lassen sich nicht in kurze Formeln
1. »Assess/ask« (erheben): Bestandsaufnahme der Ist- bringen wie bei einer Raucherentwöhnung.
Situation; Erhebung der Faktoren, die Verhaltens- Die NVL spricht sich für Folgendes allgemein aus:
änderung beeinflussen 4 Die gute Prognose, die Bedeutung körperlicher
2. »Advise« (beraten): individuelle Beratung, ggf. Aktivität und der geringe Diagnostikbedarf bei
Risikokommunikation, Selbstvertrauen stärken akutem Kreuzschmerz sollten angesprochen
3. »Agree/assess« (sich einigen): gemeinsames Fest- werden.
legen der Ziele, die an Veränderungsbereitschaft 4 Patienten mit chronischem Kreuzschmerz sollten
des Patienten angepasst sind ermutigt werden, zu normalen Aktivitäten zurück-
4. »Assist« (unterstützen): anbieten von Hilfestellun- zukehren.
gen (Nachfragen, positive Verstärkung etc.)
Tipp
5. »Arrange« (vereinbaren): treffen von Folgeverein-
barungen, kontinuierliche Langzeitbetreuung
Ratschlagformulierungen wie »Als Arzt würde ich
Ihnen empfehlen …« oder »Vielen Rückenschmerz-
patienten hilft es, wenn sie …« sind günstiger als »Sie
Die Anwendung bei Rückenschmerzpatienten soll im
sollten mehr Sport treiben!«. Ratschläge sollten nicht
Folgenden kurz erläutert werden:
»billig verschleudert«, sondern »teuer verkauft«
j1. Assess (erheben) werden – dann können sie (sparsam und mit innerer
Überzeugung vorgebracht) Wirkung entfalten.
Hierzu gehört die Erfassung des möglichen Problemver-
Manchmal helfen auch sog. Nicht-Vorschläge, um
haltens sowie der Faktoren, die darauf Einfluss nehmen.
damit implizit und in relativierter Form Patienten auf
Auch die individuellen Voraussetzungen für eine Verhal-
Dinge aufmerksam zu machen. Ein Beispiel wäre:
tensänderung sollen mit erhoben werden, siehe hierzu den
»Und Sie müssen sich jetzt noch nicht vorstellen, wie
obigen Abschnitt zum TTM (. Tab. 16.1). Im Kontext des
es wäre, wenn sich dieses angenehme Gefühl bei
Rückenschmerzes bedeutet dies, dass ähnlich wie beim
Ihnen verstärken würde …« (siehe [11]).
»Agenda-Setting« im MI-Ansatz (7 Abschn. 16.2.1) geklärt
werden muss, an welchen Risikofaktoren einer Chronifi-
zierung gearbeitet werden sollte/kann. Dabei kann man
sich an bekannten Risikofaktoren und entsprechenden j3. Agree (sich einigen)
Kurzfragebögen orientieren (s. hierzu 7 Kap. 6, »Risikofak- Bei diesem Schritt geht es darum, gemeinsam Behand-
toren und psychobiologische Mechanismen der Chronifizie- lungs- und Verhaltensziele zu formulieren und zu beschlie-
rung«). Folgende Aspekte könnten relevant sein: ßen. Dies kann bei Rückenschmerzpatienten bedeuten,
4 Komorbiditäten (Angst, Depression, Persönlichkeits- sich für bestimmte Behandlungsstrategien zu entscheiden
störungen), oder auch bestimmte Umgangsweisen mit dem Schmerz
4 Gedanken und Einstellungen (z. B. bezüglich zu erproben (»Schmerzbewältigungsstrategien«). Ebenso
Bewegung, Arbeit, Behandlungserfolg), kann hier überlegt werden, was der Patient in Selbsthilfe
4 Emotionen (z. B. Angst, Sorgen, Hilflosigkeit, tun kann oder wofür er professionelle Unterstützung benö-
Trauer), tigt (z. B. selbstständiges Suchen eines Fitness-Centers
4 Verhaltensweisen (gegenüber Partner, in der Familie, oder die Verschreibung von Physiotherapie, um Bewe-
bei der Arbeit), gungsveränderungen herbeizuführen).
4 soziale Aspekte und Kontextfaktoren (z. B. Renten-
wünsche, Arbeitssituation). j4. Assist (unterstützen)
Hierunter fallen alle unterstützenden Maßnahmen, die
j2. Advise (beraten) den Weg zur Verhaltensänderung erleichtern sollen. Dies
Hier geht es um eine individualisierte Beratung, wie sie können Pläne und Belohnungen im Rahmen operanter
bereits oben im Rahmen des MI-Konzepts beschrieben Therapiemethoden sein, Informationsbroschüren, medi-
wurde. Persönliches Feedback wird als ein wichtiges kamentöse Hilfestellungen, Tipps für Selbsthilfegruppen,
Element angesehen. Eine reine Risikokommunikation ist Angebote für telefonische Beratungen u. Ä. Eine Orientie-
beim Rückenschmerz nicht sinnvoll, da es nur wenig ein- rung am MI-Ansatz sowie an den TTM-Stufen ist hierbei
deutige Befunde gibt (regelmäßige körperliche Aktivität ist günstig, um eher kognitive (bei geringer Änderungsbereit-
z. B. prophylaktisch sinnvoll, geringes Aktivitätsniveau schaft) oder verhaltensorientierte Strategien (bei bestehen-
aber nicht immer ein Risikofaktor.) Konkrete Ratschläge der Änderungsbereitschaft) auszuwählen.
204 Kapitel 16 · Gesprächsführung

Eine Patientenleitlinie zur NVL Kreuzschmerz ist un- Literatur


ter 7 http://www.patienten-information.de/patientenleit-
1. Burke BL, Arkowitz H, Menchola M (2003) The efficacy of motiva-
linien/patientenleitlinien-nvl im Internet zu finden. Bro-
tional interviewing: a meta-analysis of controlled clinical trials. J
schüren oder Informationsblätter sollten auf Qualität Consult Clin Psychol 71(5):843–861
geprüft sein, bevor sie Patienten ausgehändigt werden. 2. Caiata Zufferey M, Schulz PJ (2009) Self-management of chronic
Empfehlenswert sind z. B. Patienteninformationen (ge- low back pain: an exploration of the impact of a patient-centered
druckt oder auch online), die den DISCERN-Kriterien website. Patient Educ Couns 77(1):27–32
genügen ( 7 www.discern.de). 3. Frede U (2007) Herausforderung Schmerz. Psychologische Beglei-
tung von Schmerzpatienten. Pabst Science Publishers, Lengerich
4. Glasgow RE, Funnell MM, Bonomi AE et al (2002) Self-manage-
j5. Arrange (vereinbaren) ment aspects of the improving chronic illness care breakthrough
Hierbei geht es um Etablierung einer patientenangepassten series: implementation with diabetes and heart failure teams.
Langzeitbetreuung. Weil davon ausgegangen wird, dass Ann Behav Med 24:80–87
Verhaltensänderungen einen Prozess darstellen, helfen oft 5. Jensen MP (2002) Enhancing motivation to change in pain
treatment. In: Turk DC, Gatchel RJ (Hrsg) Psychological approach-
kurze Kontakte schon, um weiter zu neuen Schritten zu
es to pain management. The Guilford Press, New York, London,
motivieren. Dies können demnach auch Kontakte mit gut S 71–93
geschultem Praxispersonal sein, Telefonerinnerungen 6. Knight KM, McGowan L, Dickens C, Bundy C (2006) A systematic
oder Kontakte per E-Mail. Im Bereich des Rückenschmer- review of motivational interviewing in physical health care
zes können auch Besuche am Arbeitsplatz sinnvoll sein. settings. Br J Health Psychol 11(2):319–332
7. Küver C, Becker A, Ludt S (2008) Beratung und Schulung von
Individualisierte interaktive Computerprogramme oder
Menschen mit chronischen Krankheiten. DEGAM-Serie:
Internetseiten sind ebenfalls eine Möglichkeit, das Selbst- Betreuung von Menschen mit chronischen Krankheiten. Z Allg
management zu unterstützen (z. B. [2]). Die Kommunika- Med 84:471–476
tionsstrategien können sich dabei wiederum am MI- 8. Leonhardt C, Keller S, Chenot JF et al (2008) TTM-based motiva-
Ansatz und an der TTM-Stufe der Aufrechterhaltung an- tional counselling does not increase physical activity of low back
lehnen, wie es für Menschen beschrieben wurde, die ledig- pain patients in a primary care setting – a cluster-randomized
controlled trial. Patient Educ Couns 70(1):50–60
lich das Verhalten stärker im Alltag verankern müssen 9. Markland D, Ryan RM, Tobin VJ, Rollnick S (2005) Motivational
(7 Abschn. 16.2.4 und . Tab. 16.1). interviewing and self-determination theory. J Soc Clin Psychol
Gerade für die hausärztliche Langzeitbetreuung eignet 24(6):811–831
sich als Rahmenkonzept die »5-A-Strategie«, um Selbst- 10. Miller WR, Rollnick S (2009) Motivierende Gesprächsführung.
management und Empowerment beim Rückenschmerz- Lambertus, Freiburg i. Breisgau
11. Prior M (2009) MiniMax-Interventionen. Carl-Auer, Heidelberg
patienten zu fördern. Die Schritte »erheben – beraten –
12. Prochaska JO, DiClemente CC (1984) The transtheoretical ap-
sich einigen – unterstützen – vereinbaren« sollten dabei proach: Crossing the traditional boundaries of therapy. Dow
eingehalten werden. Konkrete Hilfestellungen müssen Jones/Irwin, Homewood, IL
dabei jedoch sehr individuell erfolgen, da es im Unter- 13. Schulz-von Thun F (2004) Miteinander reden: Störungen und
schied zur Raucherentwöhnung kein allgemeingültiges Klärungen, 40. Aufl. Rowohlt, Reinbek
14. Whitlock EP, Orleans CT, Pender N, Allan J (2002) Evaluating
positives Zielverhalten gibt.
primary care behavioral counseling interventions: an evidence-
based approach. Am J Prev Med 22(4):267–84
16 15. Festinger L (1957) Theory of cognitive dissonance. Stanford
16.4 Fazit University Press, Stanford, CA

Eine patientenzentrierte Gesprächsführung ist besonders


für die Langzeitbetreuung chronischer Rückenschmerz-
patienten wichtig. Sie erlaubt eine umfassende Bestands-
aufnahme im Rahmen eines biopsychosozialen Schmerz-
modells und dient einer partnerschaftlichen Beziehungs-
gestaltung. Eine Beratung im Sinne des Motivational-
Interviewing-Ansatzes möchte Patienten Mut machen,
Neues beim Umgang mit dem Schmerz zu erproben, ohne
zu drängen. Dabei wird die Selbstverantwortung des
Patienten betont, was auch den Therapeuten entlastet. Er-
lebter »Widerstand« in Beratungssituationen sollte als
Signal verstanden werden, die Gesprächsstrategie zu än-
dern, und nicht einseitig der inneren »Psychodynamik«
des Patienten angelastet werden.
205 17

Biopsychosoziale
Krankheitsmodelle
M.I. Hasenbring

17.1 Einleitung – 206

17.2 Vom Basiskonzept zu detaillierten Prozessen – 206


17.2.1 Basismodell biopsychosozialer Wechselwirkungen – 207
17.2.2 Erweiterte Modelle biopsychosozialer Wechselwirkungen – 208

17.3 Heiter-suppressiver Pfad (EER)


der Schmerzchronifizierung – 212
17.3.1 Einfluss psychosozialer Stressoren – 213
17.3.2 Einfluss der individuellen Schmerzkommunikation – 214

17.4 Zusammenfassung – 214

Literatur – 214

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
206 Kapitel 17 · Biopsychosoziale Krankheitsmodelle

Die Bedeutung psychologischer und sozialer Anteile an der kürzlich auf, dass auch die Aus- und Weiterbildung von
Aufrechterhaltung von Rücken- und Nackenschmerzen Gesundheitsberufen, die mit diesen Schmerzproblemen zu
wurde in den vergangenen 30 Jahren eindrucksvoll belegt. tun haben, noch immer primär biomedizinisch ausgerich-
Dennoch werden selbst bei Patienten, bei denen psycho- tet ist [34].
soziale Befunde festgestellt werden können, primär organ- Einer Entwicklung plausibler, leicht verständlicher und
bezogene Inhalte angesprochen. Der fehlende Transfer in damit gut vermittelbarer Modellvorstellungen zu den
die klinische Praxis gilt ebenso für die Aus- und Weiterbil- Wechselwirkungen biomedizinischer, psychologischer
dung verschiedener Gesundheitsberufe, die an der breiten und sozialer Komponenten kommt auf der Sachebene eine
Versorgung beteiligt sind. Wichtig scheint uns hier zunächst herausragende Bedeutung zu [10] – neben der Vermittlung
auf der Sachebene, dass die Vielfalt möglicher psycho- geeigneter Strategien der Gesprächsführung auf der Bezie-
sozialer Faktoren in plausible, leicht verständliche und damit hungsebene (s. auch 7 Kap. 16). Die Forschung zur moti-
gut vermittelbare Modellvorstellungen integriert wird und vierenden Gesprächsführung sowie zur partnerschaftli-
Wechselwirkungen mit biomedizinischen Befunden ver- chen Entscheidungsfindung hat gezeigt, wie wichtig es
deutlicht werden. Im folgenden Beitrag schlagen wir ein gerade bei chronischen Erkrankungen ist, dass Behandler
Basismodell vor, das einheitlich von verschiedenen Gesund- die subjektiven Krankheitsmodelle ihrer Patienten ken-
heitsberufen in kurzen Gesprächsabschnitten vermittelt nen, ernst nehmen und ggf. durch alternative, evidenzba-
und, bei Bedarf, durch spezifische Modelle ergänzt werden sierte Modellvorstellungen korrigieren. Chronische Er-
kann. Basierend auf einer zuverlässigen psychosozialen krankungen erfordern in hohem Maße die Eigeninitiative
Diagnostik sollten, vor allem beim chronischen Schmerz, der Patienten, wenn es darum geht, therapeutische Maß-
Anbieter eines multiprofessionellen Behandlungsverbunds nahmen und Empfehlungen im Alltag dauerhaft umzuset-
möglichst identische Krankheitsmodelle verwenden, um zen. In einem multidisziplinären Behandlungsverbund,
sich gegenseitig sinnvoll ergänzen zu können. wie es beim chronischen Rücken- und Nackenschmerz
vorgesehen ist, kommt die Notwendigkeit hinzu, dass
verschiedene Behandler möglichst identische Krankheits-
17.1 Einleitung modellvorstellungen verwenden [1]. So können sie auf
unterschiedlichen, optimalerweise sich gegenseitig ergän-
Basierend auf den bahnbrechenden Arbeiten von George zenden Wegen (z. B. physiotherapeutisch, medikamentös
Engel [5] und John D. Loeser [18] aus dem Jahr 1982 zu und ggf. psychologisch) einheitliche Ziele verfolgen.
einem Krankheitsverständnis, das biologische, psychische > Plausible, leicht verständliche und damit gut ver-
und soziale Einflussfaktoren berücksichtigt, hat Gordon mittelbare Modellvorstellungen zu den Wechsel-
Waddell ein biopsychosoziales Modell in die Erforschung wirkungen biomedizinischer, psychologischer und
und Behandlung von Rückenschmerzen eingeführt [33]. sozialer Komponenten sind eine zentrale Grundlage
Damit hat er das Verständnis dieses vormals ausschließlich für einen gelungenen Transfer wissenschaftlicher
organisch verstandenen Gesundheitsproblems revolutio- Erkenntnisse in die Versorgung von Patienten mit
niert. Die Bedeutung psychologischer und sozialer Anteile Kreuz- und Nackenschmerzen.
an der Aufrechterhaltung (Chronifizierung) von Rücken-
und Nackenschmerzen wurde in den vergangenen 30 Jah-
ren eindrucksvoll belegt (s. auch 7 Kap. 6, »Risikofaktoren
und psychobiologische Mechanismen der Chronifizierung«) 17.2 Vom Basiskonzept zu detaillierten
17 und hat dazu geführt, dass sie von allen evidenzbasierten Prozessen
nationalen und internationalen Leitlinien als Risikofakto-
ren (»yellow flags«) in die Früherkennung möglicher chro- In der Literatur wurden in den vergangenen Jahren
nischer Krankheitsverläufe einbezogen wurden (NVL zahlreiche verschiedene Fassungen biopsychosozialer
2013 [2], DEGAM-Leitlinie Nr. 13 [4]). Dennoch zeigen Krankheitsvorstellungen vorgestellt, die sich zwar in den
erste kontrollierte Studien, dass Gesundheitsversorger ver- grafischen Darstellungen und im Grad ihrer Detailliert-
schiedener Professionen auch bei Patienten, bei denen psy- heit unterscheiden, im Kern allerdings übereinstimmend
chosoziale Risikofaktoren festgestellt wurden, überwie- die Rolle biomedizinischer, psychologischer und sozialer
gend organbezogene Befunde thematisieren [26]. Wobei Befunde zusammenfassen (s. im Überblick: [8]). Für die
wichtig ist, dass diese Erhebung in einem arbeitsmedizini- klinische Umsetzung empfiehlt sich dabei ein gradueller
schen Kontext in den USA erfolgte, in dem nicht, wie in Aufbau wie folgt:
Deutschland, die Berücksichtigung psychosozialer Aspek- 4 Biopsychosoziales Basiskonzept
te an einer mangelnden Vergütung scheitern kann. In ei- 5 Es kann von allen Professionen geteilt und
nem kritischen Review zeigten Foster und Mitarbeiter vertreten werden
17.2 · Vom Basiskonzept zu detaillierten Prozessen
207 17
5 Angebot an den Patienten bei erster Kontaktauf- adäquat auf eine medizinische Erstbehandlung anspre-
nahme chen. Individuelle Formen der Schmerzverarbeitung, z. B.
5 Grundlage für die Auswahl und Erläuterung ein ängstliches Schon- und Vermeidungsverhalten, zählen
erster diagnostischer Schritte, z. B. in Form anam- zu den Folgeerscheinungen akuter Schmerzen, die vor
nestischer Fragen allem an der Aufrechterhaltung beteiligt sein können.
4 Spezifische biopsychosoziale Wechselwirkungen Im Rahmen eines Erstkontakts bei einem Patienten
5 Neurophysiologische Schwerpunktsetzung (peri- mit Rücken- oder Nackenschmerz geht es darum, diese
pherphysiologische Faktoren wie z. B. spezifische möglichen Einflussfaktoren sehr kurz im Überblick zu er-
Belastungshaltungen und nachfolgende Muskel- läutern und zu klären,
verkürzung, zentralnervöse Mechanismen bei 4 welche der möglichen Einflussfaktoren der Betroffene
chronischem Schmerz) selbst bei sich wahrnimmt,
5 Psychobiologische Schwerpunktsetzung (z. B. 4 ob bei dem Betroffenen selbst sehr einseitige organbe-
Wechselwirkung zwischen psychosozialem Stress zogene oder auch psychische Krankheitsvorstellungen
am Arbeitsplatz und ungünstigen Belastungs- vorliegen.
haltungen, Einfluss ungünstiger Schmerzverarbei-
tung über Prozesse der Minder- oder Über- Patienten, bei denen in subjektiven Krankheitskonzepten
lastung von Muskeln, Bändern und Gelenken) z. B. organpathologische Vorstellungen vorherrschen (z. B.
Rückenschmerz sei durch »ein ererbtes schwaches Binde-
Zeigt sich in der Diagnostik eines Patienten, dass z. B. spe- gewebe« verursacht), sind nicht nur hinsichtlich neuro-
zifische biomechanische Belastungshaltungen mit nach- physiologischer Mechanismen aufzuklären, sie sollten
folgenden Störungen der neuromuskulären Balance beste- auch eher vorsichtig an biopsychosoziale Betrachtungswei-
hen, können dem Patienten detailliertere neurophysiologi- sen herangeführt werden. Ebenso sollten auch Patienten,
sche Modellvorstellungen begründet erläutert werden – die primär psychisch attribuieren (»Das kommt alles nur
sowohl die zu vermittelnden Behandlungsmaßnahmen von meinem Stress mit meinem Ehepartner«), die Bedeu-
(z. B. spezifische physiotherapeutische Übungen) als auch tung biomechanischer Belastungsfaktoren (z. B. mangeln-
die Notwendigkeit von Übungen für den häuslichen Alltag. de Bewegung im Alltag) erkennen.
Zeigt sich z. B. im Rahmen einer Screeningdiagnostik, dass . Abb. 17.1 zeigt ein biopsychosoziales Basismodell,
zudem psychosoziale Risikofaktoren vorliegen, z. B. in der das sowohl vom Hausarzt als auch vom Physiotherapeu-
individuellen Schmerzverarbeitung, können diese in ihrer ten oder auch von einem Psychotherapeuten zu Beginn
Wechselwirkung mit biomechanischen und allgemein einer Behandlung umrissen werden kann.
neurophysiologischen Prozessen ebenfalls vertieft erläu-
tert werden. Jede an der Behandlung beteiligte Profession Erläuterungen zum biopsychosozialen Basismodell
wird so die jeweiligen Prozesse vertiefend erklären, ohne können wie folgt vorgenommen werden:
damit Gefahr zu laufen, ein monokausales Verständnis 4 Es gibt gegenwärtig keinen Verdacht auf eine schwer-
aufzubauen. wiegende Erkrankung, die Ihren Rücken-/Nacken-
schmerzen zugrunde liegt. Dennoch sollten Sie die
Schmerzen, die ja nun schon seit 3 Wochen andauern,
17.2.1 Basismodell biopsychosozialer ernst nehmen und darauf bedacht sein, dass sie sich
Wechselwirkungen wieder vollständig zurückbilden. Ich möchte Ihnen kurz
erläutern, wodurch Ihre Schmerzen ausgelöst oder auch
Bestehenden biopsychosozialen Krankheitsmodellen im aufrechterhalten werden können. Ich beziehe mich da-
Zusammenhang mit muskuloskeletalen Schmerzen ist bei auf die Pfade »a« bis »f« aus dem biopsychosozialen
nicht nur gemeinsam, dass sie die 3 Dimensionen der Krankheitsmodell (. Abb. 17.1).
biomedizinischen, psychologischen und sozialen Fakto- a. In erster Linie kommen körperliche Dauerbelastungen
ren umfassen, sondern dass sie im Prozess der Chroni- infrage (Rücken: z. B. langes Stehen oder Sitzen im
fizierung auslösende und aufrechterhaltende Einflüsse un- Alltag, körperlich anstrengende Tätigkeiten, aber
terscheiden. Biomechanische, aber auch psychosoziale auch scheinbar wenig anstrengende, sich sehr häufig
Stressoren kommen als auslösende wie auch als aufrecht- wiederholende Bewegungsmuster (z. B. Computer-
erhaltende Faktoren für Rücken- und Nackenschmerzen maus bedienen).
infrage. Schlafstörungen zum Beispiel, nachlassende Kon- Mögliche Frage: Haben Sie in Ihrem Alltag Körper-
zentrationsfähigkeit und depressive Grundstimmungen haltungen (Stehen, Sitzen), die Sie lange Zeit am
werden häufiger als aufrechterhaltende denn als auslösende Stück oder aber mit häufigen Wiederholungen (z. B.
Faktoren anhaltender Schmerzzustände erlebt, die nicht Computermaus) ausführen müssen?
208 Kapitel 17 · Biopsychosoziale Krankheitsmodelle

Schmerzfolgen:
Körperliche Belastungen:
Schlafstörungen,
langes Stehen, Sitzen, e Konzentrationsstörungen,
stereotype Bewegungen a c vermehrte Anstrengung

Rücken- oder
Nackenschmerz

Psychosoziale Belastungen: b d Schmerzverabeitung:


Konflikte am Arbeitsplatz, f einseitges Meiden
Konflikte in der Familie, oder forciertes Durchhalten
Ärger mit Freunden in Schmerzsituationen

. Abb. 17.1 Biopsychosoziales Basismodell

b. Genauso können aber auch anhaltende psychische > Für die klinische Praxis empfiehlt sich die Nutzung
Belastungen, z. B. Konflikte am Arbeitsplatz, mit eines allgemeinen Basiskonzepts biopsychozialer
Kollegen oder Vorgesetzten, aber auch in der Familie Wechselwirkungen neben spezifischen Modellen
oder mit wichtigen Freunden Rücken-/Nacken- zur weiteren Vertiefung. Das Basiskonzept kann und
schmerzen auslösen. sollte von allen Professionen in einem multidiszipli-
Mögliche Frage: Haben Sie in Ihrem Alltag Stress, nären Team geteilt werden, es ist ein konkretes An-
z. B. Konflikte am Arbeitsplatz oder in der Familie? gebot an Patienten bei der ersten Kontaktaufnahme
Können Sie sich vorstellen, dass diese Ihre Schmerzen und kann Grundlage für die Erläuterung der ersten
mit verursachen? diagnostischen Schritte sein.
c. Wenn Schmerzen länger andauern und nicht wie
erwartet auf medizinische Maßnahmen ansprechen,
beeinträchtigen sie häufig unseren Schlaf (Einschla- 17.2.2 Erweiterte Modelle biopsychosozialer
fen, Durchschlafen). Verstärkte Müdigkeit und Kon- Wechselwirkungen
zentrationsstörungen am nächsten Tag bewirken, dass
wir uns vermehrt anstrengen, körperlich oder geistig; Bei den erweiterten biopsychosozialen Krankheitsmodel-
dies geht (siehe Pfad »e«) mit vermehrter Muskel- len geht es darum, einzelne Komponenten auszudifferen-
aktivität einher, diese wiederum verstärkt die zieren; dazu steht in der Regel mehr Zeit und Raum zur
Schmerzen. Das bedeutet, dass hier ein Teufelskreislauf Verfügung während multimodaler Rehabilitationsmaß-
entsteht, der die Schmerzen aufrechterhalten kann. nahmen sowie in der psychologischen oder ärztlichen
Mögliche Frage: Haben Sie wegen Ihrer Schmerzen Schmerztherapie. Einen besonderen Stellenwert hat hier-
Schlafprobleme und verstärkte Müdigkeit und/oder bei die Erläuterung der psychobiologischen Stressachse
Konzentrationsstörungen? mit ihren muskulären und hormonellen Veränderungen.
d. Schließlich ist wichtig, wie wir im Alltag auf unsere Im Rahmen der Schmerzverarbeitung lassen sich Strate-
Schmerzen reagieren, welche Gedanken uns dabei au- gien unterscheiden, die sich in der Auseinandersetzung
tomatisch durch den Sinn gehen, wie wir uns fühlen mit alltäglichen Aufgaben ausprägen (Umgang mit
17 und verhalten. Es gibt ungünstige Reaktionsweisen, Schmerz bei spezifischen physischen, mentalen oder sozi-
z. B. wenn wir sehr ängstlich allen möglichen Situatio- alen Anforderungen). Hier stehen Schmerzen immer in
nen aus dem Weg gehen, sobald wir Schmerzen spü- Konkurrenz mit gerade ablaufenden Aktivitäten des
ren, aber auch, wenn wir trotz starker Schmerzen sehr Alltags und verursachen intrapsychische Konflikte, die auf
forciert versuchen, in den Alltagsaktivitäten durchzu- unterschiedlichste Weise gelöst werden [9]. Zur Schmerz-
halten (z. B. bei langem Stehen). Auch hier können ver- verarbeitung zählen weiterhin kommunikative Strategien,
schiedene Teufelskreisläufe entstehen (siehe Pfad »f«). mit denen Betroffene ihre Umgebung wissen lassen, dass
Mögliche Frage: Sehen Sie bei sich selbst evtl. ungüns- sie Schmerzen haben. Auch hier gibt es adaptive und
tiges Vermeiden oder übermäßiges Durchhalten im maladaptive Formen, die lernpsychologischen Gesetz-
Umgang mit Ihren Schmerzen? mäßigkeiten unterstehen (. Abb. 17.2).
4 Abschließende Frage: Welche dieser möglichen Einflüsse Sowohl die neurobiologische Stressachse als auch
(körperliche Belastungen, psychosoziale Belastungen, maladaptive Formen der Schmerzverarbeitung – hier be-
Schmerzfolgen oder der alltägliche Umgang mit den sonders die verschiedenen Strategien des Umgangs mit
Schmerzen) erkennen Sie bei sich selbst wieder? physischen, mentalen oder sozialen Anforderungen – kön-
17.2 · Vom Basiskonzept zu detaillierten Prozessen
209 17

Distress Maladaptive
Depression Schmerzverarbeitung

Umgang mit physischen/mentalen/ Kommunikation


sozialen Anforderungen

Fear- Depressiv- Heiter-


Avoidance suppressiv suppressiv

Muskuläre
Hyperaktivität
Underuse Overuse Overuse Operante
Stresshormone Mechanismen

Schmerzchronifizierung

. Abb. 17.2 Erweitertes biopsychosoziales Krankheitsmodell

nen an peripher-physiologischen Schmerzkomponenten eine zu erwartende Chronifizierung wirksam werden [20]


(z. B. Entzündungsprozesse, suboptimale motorische Kon- (s. auch 7 Kap. 6). Im Fall chronischer Schmerzen sind sie
trolle mit peripheren Gewebeverletzungen als Folge) und aufrechterhaltende Faktoren. Zahlreiche, leicht voneinan-
auch an Prozessen der zentralen Sensitivierung beteiligt der abweichende Modellvorstellungen, zusammengefasst
sein (7 Kap. 2; 7 Kap. 3; 7 Kap. 5). Demgegenüber gehen wir unter dem Begriff des Fear-avoidance-Modells (FAM
heute davon aus, dass maladaptive Formen der Schmerz- [32]), beschreiben maladaptive Pfade der Schmerzver-
kommunikation primär das individuelle Schmerzver- arbeitung: Diese beginnen bei maladaptiven Kognitionen
halten beeinflussen. des Katastrophisierens und führen über dadurch aus-
gelöste Furcht/Angst vor weiteren Schmerzen zu einem
Organphysiologische Komponenten Vermeidungs- und Schonverhalten, das schließlich in
Chronische Rücken- und Nackenschmerzen gehören zu einem körperlichen Disusesyndrom resultiert, einher-
den Formen des sog. »mixed pain«, bei denen sowohl gehend mit defizitärer Muskulatur und mangelnder
Mechanismen der peripheren als auch der zentralen kardiovaskulärer Fitness [30]. Das Avoidance-endurance-
Sensitivierung wirksam werden. Sie sind in 7 Kap. 2 und Modell (AEM) (. Abb. 17.3) beschreibt wiederum entge-
7 Kap. 3 eingehend beschrieben. Aktuell besteht ein großer gengesetzte Formen der Schmerzverarbeitung mit kogni-
Bedarf, diese Schmerzkomponenten in Krankheits- tiver Suppression und ausgeprägtem Durchhalteverhalten;
modellen darzustellen, die auch für Laien gut verständlich dieses Verhalten, das trotz starker Schmerzen gezeigt wird,
sind. Erste Studien berichten bereits über Erfolge in ist ebenfalls an der Chronifizierung beteiligt – vermittelt
der Vermittlung solcher Modelle im Rahmen physiolo- über langanhaltendes oder repetitives Overload körper-
gischer Edukation bei Rückenschmerz und bei anderen licher Strukturen des Bewegungsapparats [13] (s. auch
Formen muskuloskeletaler Schmerzen, wie Fibromyalgie . Abb. 17.1).
[29]. In der weiteren Ausarbeitung der einzelnen Pfade
werden sowohl kurz- als auch mittel- und langfristige
Individuelle Schmerzverarbeitung Effekte unterschieden. Dabei tragen kurzfristig wirk-
Forschungsarbeiten in den vergangenen 20 Jahren haben same Mechanismen der operanten Konditionierung
überzeugend gezeigt, dass komplexe Abfolgen kognitiver, zur Aufrechterhaltung auch solcher Reaktionsweisen bei,
affektiv-emotionaler und verhaltensbezogener Formen der die mittel- und langfristig ungünstig wirken. Mechanis-
Verarbeitung von Schmerzen sowohl im experimentellen men der klassischen Konditionierung bewirken vor
Setting als auch im klinischen Alltag Einfluss nehmen auf allem eine Generalisierung reflektorischer Prozesse –
die Aufrechterhaltung und damit Chronifizierung von z. B. von Schutzreflexen mit begleitender Furchtempfin-
Kreuz- und Nackenschmerzen [8]. Im Fall akuter und dung – in Situationen, die ehemals nicht schmerzassoziiert
subakuter Schmerzen können sie als Risikofaktoren für waren.
210 Kapitel 17 · Biopsychosoziale Krankheitsmodelle

Akuter Schmerz
bei physischer/mentaler/sozialer
Anforderung

Katastrophisieren Kognitive Suppression Ignorieren/Ablenkung Coping-Signal

Furcht/Angst Depressiv/gereizte Stimmung Positive Stimmung

Vermeidungsverhalten Suppressives Verhalten Suppressives Verhalten Flexibler Wechsel


Schonung/Belastung

Muskuläre Muskuläre Hyperaktivität Overload


Insuffizienz Overload Muskeln/Gelenke Muskeln/Gelenke

Schmerzchronifizierung Schmerzchronifizierung Schmerzchronifizierung Schmerzchronifizierung

Fear-Avoidance Depressiv-suppressiv Heiter-suppressiv Niedrig-Risiko

. Abb. 17.3 Avoidance-endurance-Modell der Schmerzverarbeitung

> Die häufigste Form ungünstiger Schmerzverarbei- ansehen, z. B. als Zeichen einer möglicherweise schweren
tung ist das Unterdrücken von Schmerzen, um Verletzung oder Erkrankung (. Abb. 17.2). Eine ausgepräg-
Alltagsaktivitäten aufrechtzuerhalten (suppressive te Neigung zum »Katastrophisieren« ist hoch korreliert mit
Schmerzverarbeitung). Patienten führen kurze erhöhter Furcht vor Aktivitäten, die Schmerzen auslösen
Erholungspausen gar nicht oder zu spät in den könnten. Im Prozess der Genesung, der bei leichten Verlet-
Alltag ein, d. h. wenn die Schmerzen zu stark gewor- zungen möglicherweise nur wenige Tage andauert, kommt
den sind (»Heute Abend kannst du dich ausruhen«). es bei hochängstlichen Menschen eher zu Prozessen der
Die Folgen: (1) es kommt nicht zu einer spürbaren klassischen Konditionierung mit einer Ausweitung der
Schmerzlinderung, (2) die Kontrolle wird an den Furcht auf Aktivitäten, die normalerweise nicht zu Schmer-
Schmerz »übergegeben«, das verursacht Missmut zen führen. Erschwerend wirken sich darüber hinaus
und Gereiztheit. Prozesse der operanten Konditionierung aus. Erleben die
Betroffenen, dass ihre Furcht reduziert wird, wenn sie früh-
jDer Fear-avoidance-Pfad in die zeitig Aktivitäten vermeiden, die in ihnen Furcht vor
Schmerzchronifizierung Schmerzen auslösen, tragen diese Prozesse der negativen
Schmerzen sind zunächst ein Warnsignal für eine körperli- Verstärkung zu einer Stabilisierung über die Zeit bei. Es
17 che Schädigung. Sie lösen in der Regel unmittelbare wich- wird auf diese Weise für die Betroffenen unmöglich zu be-
tige Schutzreflexe aus, z. B. den Reflex, die Hand von einer urteilen, ob eine Verletzung als eigentliche Ursache der
heißen Herdplatte zu nehmen. Problematisch würde dieser Schmerzen noch eine Rolle spielt. Erschwerend kommt bei
Reflex, wenn er später bei Konfrontation mit jeder Herd- muskuloskeletalen Schmerzen hinzu, dass es ohnehin einen
platte ausgelöst würde, auch wenn sie nachweislich nicht gewissen Timelag gibt zwischen z. B. biomechanischen
eingeschaltet ist. Genau dies passiert bei klinischen Schmer- Überlastungen und dem Auftreten von Schmerzen.
zen, die in Verbindung mit einer spezifischen Bewegung Mittelfristig zeigen die Betroffenen eine erhöhte Nei-
auftreten (z. B. beim Bücken). Wenn es z. B. beim Rücken- gung zur Hypervigilanz. Sie scannen bewusst ihre Umge-
schmerz im Laufe allmählich zunehmender degenerativer bung nach möglichen schmerzauslösenden Situationen
Veränderungen der wirbelsäulennahen Strukturen in oder Aktivitäten, um rechtzeitig Vermeidungsverhalten
einem spezifischen Moment des Bückens zu einer schmerz- planen zu können. Je mehr sie dadurch ihre Aktivitäten
haften Verletzung kommt, z. B. der Faszien oder der Mus- einschränken, desto eher kommt es langfristig zu einer
kulatur, kann dies zu einer Schmerzchronifizierung führen, Rückbildung der Muskulatur, die dann aufgrund neuro-
wenn die Betroffenen diese Verletzung als sehr bedrohlich naler Prozesse der Sensibilisierung bereits bei normaler
17.2 · Vom Basiskonzept zu detaillierten Prozessen
211 17

Neuronale
Sensitivierung

Rückbildung Biomechanische
der Muskulatur Belastung
Verringerung
der Schmerzen

Hypervigilanz,
Meiden der Aktivitäten
Escape Flexible
Abbrechen der Aktivität Be- und Entlastung

Furcht vor der Bewegung Schmerz

Coping-Signal
Katastrophisieren »Mach jetzt eine kurze Pause
»Wie ist das bloß – eine Lähmung?« und setz dann fort.«

. Abb. 17.4 Fear-avoidance-Pfad (FAR) der Schmerzchronifizierung

Suboptimale
motorische Kontrolle

Durchhaltestrategien Biomechanische/
mentale Belastung
Verringerung
Erhöhung von der Schmerzen
Distress

Erfolglose
Konzentration/Rebound
Reduktion von Flexible
Distress Be- und Entlastung

Erfolgreiche Konzentration
Schmerz
auf tägliche Aktivität

Coping-Signal
Kognitve Suppression »Mach jetzt eine kurze Pause
»Denk an etwas anderes! und setz dann fort.«
Mach erst einmal weiter«

. Abb. 17.5 Depressiv-suppressiver Pfad (DER) der Schmerzchronifizierung

Belastung vorschnell schmerzhaft reagiert. Diese Prozes- dem bewussten kognitiven Versuch beginnen, die
se führen mit der Zeit zu deutlicher Beeinträchtigung Schmerzen zunächst aus der Wahrnehmung zu verdrän-
des alltäglichen Aktivitätsumfangs, was sich auch in län- gen bzw. trotz Schmerzen Aktivitäten des Alltags fortzuset-
geren Zeiten der Arbeitsunfähigkeit sowie in häufigeren zen (depressiv-suppressiv oder »distress-endurance«
Frühberentungen niederschlägt (. Abb. 17.4). DER). Betroffene, die z. B. beim Bücken plötzlich Schmer-
zen erleben, ermuntern sich in Gedanken, eine Pause auf-
jDer depressiv-suppressive Pfad in die Schmerz- zuschieben, die durch die Schmerzen suggeriert wird, und
chronifizierung vielleicht mit einer leicht veränderten Körperhaltung fort-
. Abb. 17.5 zeigt links im Bild verschiedene positive Rück- zufahren. Kognitive Suppression ist ein Mechanismus der
koppelungskreisläufe der Schmerzverarbeitung, die mit eher unspezifischen Suche nach Ablenkungsmöglich-
212 Kapitel 17 · Biopsychosoziale Krankheitsmodelle

keiten, der in der experimentellen Forschung nachweislich Die Betroffenen machen auf diese Weise 2 problema-
häufiger erfolglos als erfolgreich verläuft. Die Betroffenen tische Erfahrungen:
erleben, dass es ihnen zeitweise gelingt, die Schmerzen 1. Sie warten so lange mit entspannungsfördernden
nicht oder weniger zu spüren, häufig gelingt dies jedoch Maßnahmen, bis sie sich vom Schmerz zur Been-
nicht. Die Fälle des Nichtgelingens führen zu Gefühlen dung der jeweiligen Aktivität gezwungen fühlen.
des Misserfolgs, des Scheiterns oder zu allgemeinen Hiermit geben sie, ohne es zu beabsichtigen, die
Gefühlen von Schwäche, die mit einer Mischung aus nie- Kontrolle an eine externe Quelle ab. Die resultieren-
dergeschlagener und gereizter Stimmung einhergehen. den Gefühle von Kontrollverlust erhöhen bekannter-
Lernpsychologisch gesehen, befinden sich die Betroffe- maßen den durch den Schmerz bereits verursach-
nen in einem Prozess der intermittierenden Verstärkung, ten Stresspegel.
der ein Verhalten über die Zeit hinweg massiv stabili- 2. Sie führen Pausen deutlich zu spät in ihren Alltag
siert. Man versucht es auf diesem Wege wieder und wieder, ein, sodass vor allem kurze Unterbrechungen nicht
allerdings ohne dauerhaften Erfolg. mehr zu einer Schmerzlinderung führen können.
Darüber hinaus wurde für kognitive Suppression ge- Mögliche Gewebeschäden durch physisches Overload
zeigt, dass es zum sog. Reboundphänomen kommt, d. h., können nicht regenerieren, zudem werden in diesen
nach Abschluss einer Tätigkeit drängen die unerwünsch- passiv erzwungenen Unterbrechungen Phasen des
ten Gedanken und Empfindungen »unfreiwillig« ins Be- Grübelns sowie niedergeschlagener und gereizter
wusstsein, was den emotionalen Distress weiterhin erhöht. Stimmung intensiver bzw. bewusster wahrgenommen.
Negative emotionale Zustände führen u. a. über die
hormonelle Stressachse (u. a. vermehrte Freisetzung von Damit schließt sich für die Betroffenen ein Circulcus
Cortisol) zu einer verstärkten Schmerzempfindung. vitiosus mit dem Versuch, in Gedanken und im Verhal-
Zeigen die Betroffenen zudem suppressives Verhalten, ten die Signalfunktion des Schmerzes zu unterdrücken,
führt dies zu einem Overload wirbelsäulennaher Struktu- was mittel- und langfristig in verstärktem Schmerz und
ren durch biomechanische Belastungshaltungen wie z. B. Beeinträchtigung im Alltag mündet.
zu lang dauernde statische Belastungshaltungen oder zu
häufige Wiederholungen dynamischer Bewegungsabläufe.
Eine jüngere Studie an Patienten mit Rückenschmerzen 17.3 Heiter-suppressiver Pfad (EER)
nach einer Bandscheibenoperation konnte mithilfe objek- der Schmerzchronifizierung
tiver Accelerometermessungen der körperlichen Aktivität
im Alltag zeigen, dass diese Subgruppe die höchste Zunächst nur klinisch beobachtet, konnte in den ver-
Schmerzintensität aufwies und gleichzeitig die höchste gangenen Jahren auch mit standardisierten Fragebogen-
Anzahl an biomechanischen Belastungshaltungen [24]. verfahren ein weiterer maladaptiver Pfad der Schmerz-
Andere Autoren fanden ähnliche Subgruppen mit hohem verarbeitung bei Patienten mit Rücken- oder Nacken-
Aktivitätslevel bei hohem Schmerzniveau [15, 22]. schmerzen identifiziert werden [14]. Für Patienten mit
Neben hohen Werten im suppressiven Verhalten zei- Rückenschmerzen konnten diese Befunde auch über ob-
gen Patienten mit einem DER-Pfad auch vermehrtes Ver- jektive Accelerometermessungen bestätigt werden [24]. In
meidungsverhalten, möglicherweise primär im sozialen der kognitiven Verarbeitung der Schmerzen finden sich
Kontext [14]. Auch Huijnen et al. [15] und McCracken vermehrt Formen der fokussierten Ablenkung, die mit
et al. [22] beschreiben diese Kombination in einem Muster einer erhöhten positiven Stimmung trotz der vorhandenen
17 der »extreme cycler«, d. h., die Betroffenen zeigen so lange Schmerzen einhergeht. Im Verhalten zeigen diese Pa-
suppressives Verhalten, bis ein sehr hohes Schmerzniveau tienten erhöhte Aktivität trotz Schmerzen, im Selbst-
erreicht ist, das sie dann zwingt, verschiedene Aktivitäten bericht das geringste Maß an Beeinträchtigung. Im AEM
aufzugeben. Dies deckt sich mit unseren klinischen Beob- wird dieses Muster als heiter-suppressive Schmerz-
achtungen, wonach die Betroffenen beginnen – allerdings verarbeitung (»eustress-endurance responses« EER,
meist erst in einem chronischen Stadium –, ihr Aktivitäts- . Abb. 17.6) bezeichnet.
niveau zunächst im Freizeitbereich aufzugeben, erst später Auch McCracken et al. [22] beschrieben eine Sub-
im beruflichen Kontext. Obwohl lernpsychologisch in die- gruppe von Patienten mit einem hohen Maß an schmerz-
sen Fällen mit denselben operanten Mechanismen zu rech- konfrontativem Verhalten ohne begleitendes Vermeiden
nen ist (negative Verstärkung des Aufgebens durch (Gruppe der »Doer«), die ein geringes Maß an schmerzbe-
Schmerzlinderung), bezeichnen wir diese Form des späten zogener Angst und geringe Beeinträchtigung aufweist. Das
Aufgebens als passive Form der Vermeidung, die wir der AEM geht davon aus, dass diesen Patienten die kognitive
aktiven oder antizipativen Vermeidung im FAR-Pfad ge- Ablenkung vom Schmerz besser gelingt als Patienten mit
genüberstellen [11]. vorrangigem DER-Muster. Diese Hypothese wird durch
17.3 · Heiter-suppressiver Pfad (EER) der Schmerzchronifizierung
213 17

Suboptimale
motorische Kontrolle

Biomechanische
Belastung
Verringerung
der Schmerzen

Suppressives Verhalten

Positive Flexible
Stimmung Be- und Entlastung

Erfolgreiche Ablenkung Schmerz

Coping-Signal
Fokussierte Ablenkung »Mach jetzt eine kurze Pause
»Konzentrier dich auf die und dann erst weiter«
spannende Sache hier!«

. Abb. 17.6 Heiter-suppressiver Pfad (EER) der Schmerzchronifizierung

eine Reihe laborexperimenteller Humanstudien gestützt, logischen Homöostase, die den Organismus motiviert, die
die zeigen, dass fokussierte Ablenkung wirksamer den Balance wiederherzustellen. Ebenso bewirken auch andere
Schmerz und emotionalen Distress reduziert als das un- Bedrohungen – z. B. Konflikte mit anderen Menschen,
fokussierte Suchen nach Distraktoren, gekoppelt mit Ver- etwa am Arbeitsplatz, in der Familie oder im Freundes-
suchen, unangenehme Empfindungen zu unterdrücken kreis, Sorgen um die eigene Gesundheit oder um nahe
(»thought suppression«). Möglicherweise verfügen Patien- Angehörige – eine Störung sowohl der physiologischen
ten mit einem EER-Muster aber auch über mehr belohnen- Homöostase als auch des mentalen Gleichgewichts. Un-
de Aspekte in ihren Aktivitäten, die mit dem Schmerz abhängig von der Art der Stressoren führen diese zu einer
konkurrieren. So konnten Verhoeven et al. [31] im Labor- Aktivierung physiologischer Systeme, wie z. B. des sympa-
experiment zeigen, dass Personen, die sich mit einer spezi- thischen Nervensystems, der neurohumoralen Stressachse
fischen Aufgabe von einem Schmerzstimulus ablenken sowie zu einer Aktivierung des neuromuskulären Systems
sollten, erfolgreicher waren, wenn sie für die Aufgabener- [16]. Gleichzeitig werden mental und behavioral Prozesse
füllung finanziell belohnt wurden. Dies galt vor allem für der Stressverarbeitung eingeleitet, die sich in ihrer Adap-
Personen, die hohe Werte im Katastrophisieren zeigten. tivität sehr unterscheiden können. Im Fall adaptiver Stress-
Das AEM nimmt an, dass die Form der kognitiven Ver- verarbeitung oder auch – aufgrund äußerer Bedingungen
arbeitung im EER-Pfad kurzfristig eher mit negativer Ver- – nur kurzzeitig wirksamer Stressoren bewirkt die Aktivie-
stärkung einhergeht, d. h., dass eine Schmerzreduktion rung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-
durch Ablenkung erlebt wird. Einen indirekten Beleg fin- rinden-Achse (HHNA) eine verstärkte Freisetzung des
det man in Studien, die eine negative Korrelation zwischen Stresshormons Cortisol. Dieses Hormon mobilisiert über
suppressivem Verhalten, positiver Stimmung und dem die Aktivierung zahlreicher metabolischer Faktoren
Stresshormon Cortisol fanden [27, 28]. Mittel- und lang- Energiereserven des Körpers, die eine erfolgreiche Stress-
fristig kommt es allerdings über einen anhaltenden oder bewältigung und Wiederherstellung der Homöostase zum
repetitiven Overload wirbelsäulenassoziierter Strukturen Ziel haben. Problematisch wird es, wenn Stressoren chro-
zu wiederholten Verletzungen des Gewebes, die an der nisch anhaltend oder repetitiv auf den Organismus ein-
Aufrechterhaltung der Schmerzen beteiligt sind. wirken, sodass nach Selye [25] eine Erschöpfungsphase
erreicht wird. Negative Effekte schließen Störungen des
Immunsystems, muskuläre Insuffizienz sowie Störungen
17.3.1 Einfluss psychosozialer Stressoren der Gewebeheilung ein, die ihrerseits an der Aufrechter-
haltung von Schmerzsyndromen beteiligt sein können
Schmerz stellt, wie auch Hunger und Durst, selbst eine Be- [21]. Es kommt auf diesem Weg zu sich selbst unterhalten-
drohung und damit einen Stressor für den Organismus dar. den positiven Rückkoppelungskreisläufen zwischen
Zustände dieser Art führen zu einer Störung der physio- Schmerz und Stress.
214 Kapitel 17 · Biopsychosoziale Krankheitsmodelle

In der Stressbewältigung gibt es eine Reihe möglicher nonverbalen Verhaltensweisen eher gesunde Verhaltens-
Störungen, u. a. in der sozialen Kompetenz (z. B. beim weisen zu verstärken.
adäquaten Ausdruck von Wünschen gegenüber anderen, Zu den als gesund eingestuften Verhaltensweisen
bei der adäquaten Eigenverteidigung in rechtlichen Fra- zählt im Rahmen der Kommunikation, andere Menschen
gen  oder beim Ablehnen von Wünschen anderer, wenn direkt, d. h. verbal, um Unterstützung zu bitten. Es gibt
man sich ihnen nicht gewachsen fühlt), der Verarbei- Hinweise, dass die Fähigkeit oder Bereitschaft dazu ne-
tung  von Ärger, von Ängsten oder von Trauerprozessen gativ mit künftigen Schmerzproblemen korreliert, d. h.,
[19]. Liegen Störungen in der Stress- und Emotionsregu- sie reduziert das Risiko zukünftiger Schmerzen [12]. Es
lation vor, ist mit fließenden Übergängen von normal- wird vermutet, dass dies mit einer allgemeinen Fähigkeit
psychologischen Prozessen zu psychischen Störungen zu oder Bereitschaft zusammenhängt, im Sinne der sozialen
rechnen, die einer gesonderten Diagnostik und Therapie Kompetenz (s. oben) andere Menschen direkt um Hilfe zu
bedürfen [17]. bitten, eigene Wünsche angemessen zu vertreten wie auch
Wünsche anderer ggf. abzulehnen.

17.3.2 Einfluss der individuellen Tipp


Schmerzkommunikation
Patienten mit chronischen Schmerzen drücken diese
oft nonverbal aus, z. B. über Stöhnen, durch Reiben
Individuelle Formen des Schmerzausdrucks und der
der schmerzenden Stelle oder Humpeln. Diese
Schmerzkommunikation zählen neben psychosozialem
Schmerzsignale werden vom Partner unbewusst oft
Stress und Schmerzverarbeitung zu den wesentlichen
ungünstig verstärkt. Es bedarf einer sehr tragfähigen
psychologischen Faktoren, die an der Aufrechterhaltung
Beziehung zwischen Therapeut und Patient, bevor
von Schmerzen beteiligt sein können. Nach unserer
diese Zusammenhänge thematisiert werden können.
klinischen Erfahrung bedarf es allerdings einer sehr trag-
fähigen Beziehung zwischen Therapeut und Patient,
bevor diese Einflüsse erfolgreich thematisiert werden
können, da Patienten häufig wenig Einsicht in die
Maladaptivität ihrer Form des Schmerzausdrucks haben. 17.4 Zusammenfassung
Schon früh wurde im operanten Lernmodell der
Zusammenhang zwischen nonverbalen Formen des Leicht verständliche biopsychosoziale Krankheitsmodelle
Schmerzausdrucks (z. B. Stöhnen, die schmerzende Stelle können eine rationale Basis für die Aufklärung von Patien-
reiben, Humpeln) und den Reaktionen z. B. von Ange- ten mit akuten wie chronischen Rücken- und Nacken-
hörigen thematisiert [7]. Reagieren z. B. Angehörige mit schmerzen sein. Im Rahmen komplexer Versorgungs-
vermehrter Zuwendung, dem Spenden von Trost oder pfade, an denen verschiedene Disziplinen beteiligt sind
dem Abnehmen unangenehmer Aufgaben auf solche (7 Kap. 9; 7 Kap. 10), sollte ein biopsychosoziales Basis-
nonverbalen Schmerzäußerungen, können sich diese mit konzept von jeder beteiligten Profession als Grundlage für
der Zeit verstetigen. Reagieren Bezugspersonen, zu de- Diagnostik und Therapie herangezogen werden. Die
nen auch Freunde oder Kollegen am Arbeitsplatz gehö- Nutzung eines einheitlichen Grundkonzepts ist u. E. eine
ren,  in unregelmäßigen Abständen auf diese Weise, so der Voraussetzungen dafür, dass ein häufiger und ungeziel-
realisieren sie Formen einer intermittierenden Verstär- ter Arztwechsel (»Doktor-Hopping«) verhindert wird. Je
17 kung, die sich besonders nachhaltig auf die Stabilität eines nach eingeschlagenem Behandlungsweg kann ein solches
Verhaltens auswirkt. In der Regel haben weder die Basiskonzept dann ausdifferenziert werden. Entscheidend
Schmerzbetroffenen noch die Bezugspersonen unmittel- ist, dass ein Patient und seine im multiprofessionellen
bar Einsicht in diese lernpsychologischen Zusammen- Team agierenden Therapeuten in gegenseitigem Einver-
hänge, noch werden diese Abfolgen bewusst angesteuert. ständnis handeln.
Bis heute sind die interaktionellen Aspekte des chroni-
schen Schmerzes noch wenig erforscht [3]. Lediglich für
die Maladaptivität des nonverbalen Schmerzausdrucks Literatur
gibt es experimentelle Belege [6] sowie Befunde aus
prospektiven Längsschnittstudien an Patienten mit Rü- 1. Arnold B, Brinkschmidt T, Casser HR et al (2014) Multimodale
Schmerztherapie für die Behandlung chronischer Schmerz-
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syndrome. Ein Konsensuspapier der Ad-Hoc-Kommission Multi-
verbalen Schmerzverhaltens mit zukünftigen Schmerz- modale interdisziplinäre Schmerztherapie der Deutschen
problemen hinweisen [12]. Nach dem operanten Modell Schmerzgesellschaft zu den Behandlungsinhalten. Der Schmerz
empfiehlt es sich, dass Bezugspersonen lernen, statt dieser 28:459–472
Literatur
215 17
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217 VI

Behandlung
Kapitel 18 Medikamente – 219
I. Cascorbi

Kapitel 19 Physiotherapie – 229


U. Wolf

Kapitel 20 Nackenschmerzen und sensomotorische Kontrolle – 251


D. Falla

Kapitel 21 Physikalische Verfahren – 263


U. Lange

Kapitel 22 Manuelle Medizin – 271


W. F. Beyer

Kapitel 23 Orthopädische Hilfsmittel – 277


S. Middeldorf

Kapitel 24 Ergotherapie – 283


P. Higman

Kapitel 25 Potenzial des analgetischen Placeboeffekts


in der Rückenschmerztherapie – 287
R. Klinger, H. Flor

Kapitel 26 Psychologische Verfahren – 297


J. A. Glombiewski, M. I. Hasenbring, C. G. Levenig, Z. Karimi

Kapitel 27 Injektionstherapie und Injektionstechniken


an der Wirbelsäule – 311
T. Theodoridis

Kapitel 28 Anästhesiologische Schmerztherapie


bei Rückenschmerzen – 319
W. Hoerster

Kapitel 29 Neuromodulation – 325


V. Tronnier
Kapitel 30 Operative und minimal-invasive Verfahren
bei Rücken- und Nackenschmerz – 331
T. Koy, M. J. Scheyerer, P. Eysel

Kapitel 31 Akupunktur bei Rückenschmerzen – 351


A. Molsberger

Kapitel 32 Multimodale Schmerztherapie – 359


B. Arnold, T. Brinkschmidt, H.-R. Casser, I. Gralow,
D. Irnich, K. Klimczyk, G. Müller, B. Nagel, M. Pfingsten,
M. Schiltenwolf, R. Sittl, W. Söllner

Kapitel 33 Bewegungsthreapie in der Behandlung


von Rückenschmerz – 369
J. Semrau, W. Geidl, K. Pfeifer
219 18

Medikamente
I. Cascorbi

18.1 Einleitung – 220

18.2 Nichtopioide Analgetika – 220


18.2.1 Nichtsaure antipyretische Analgetika – 220
18.2.2 Traditionelle NSAR (tNSAR) – 222
18.2.3 Coxibe – 224
18.2.4 Analgetika ohne antipyretisch-antiphlogische Wirkung – 224

18.3 Opioide – 224


18.3.1 Schwach wirksame Opioide – 225
18.3.2 Stark wirksame Opioide – 226

18.4 Muskelrelaxanzien – 226


18.4.1 Tizanidin – 226
18.4.2 Methocarbamol – 227
18.4.3 Weitere Muskelrelaxanzien – 227

18.5 Antidepressiva – 227


18.5.1 Spezifische Serotonin-/Noradrenalin-
Wiederaufnahmehemmer (SSNRI) – 227
18.5.2 Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) – 228

18.6 Antikonvulsiva – 228

Literatur – 228

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
220 Kapitel 18 · Medikamente

Entsprechend der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuz- mittelt wird, kann eine Hemmung der COX-2 die Bildung
schmerz wird für die medikamentöse Therapie des nicht- schmerzfördernder Prostaglandine verhindern.
spezifischen Kreuzschmerzes ein gestuftes medikamentöses
Vorgehen empfohlen. In erster Linie sollen peripher wirksame
Analgetika wie Paracetamol und traditionelle nichtsteroi- 18.2.1 Nichtsaure antipyretische Analgetika
dale Antiphlogistika/Antirheumatika wie Ibuprofen oder
Diclofenac zur Therapie herangezogen werden. Erst bei Zu dieser Gruppe zählen Paracetamol und Metamizol. Die
Nichtansprechen wird der Einsatz von schwachen Opioid- Effekte auf periphere Cyclooxygenasen sind eher schwach,
analgetika wie z. B. Tramadol empfohlen und erst bei Not- sodass es nicht zur Hemmung der peripheren Prostaglan-
wendigkeit auf stark wirksame Opioide verwiesen, die im dinsynthese kommt und Paracetamol und Metamizol folg-
Rahmen eines multimodalen Therapiekonzepts angewendet lich keine antiphlogistischen Eigenschaften aufweisen.
werden sollen. Zusätzlich kommt kurzfristig der Einsatz von Metamizol spielt in der Therapie des Rückenschmerzes
zentral wirksamen Muskelrelaxanzien in Betracht, wenn keine Rolle.
nichtopioide Analgetika keine Besserung bewirken. Ferner
kann der Einsatz noradrenerg-serotonerg wirksamer Anti- Paracetamol
depressiva erwogen werden. Dieses nichtsaure Analgetikum findet breite Anwendung,
vor allem als nicht verschreibungspflichtiges Medikament.
Originalpackungen bis 20×500 mg sind in der Regel
18.1 Einleitung rezeptfrei erhältlich, größere Abpackungen unterliegen der
Rezeptpflicht.
Entsprechend der Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuz- Die analgetische Wirkung beruht auf einer Hemmung
schmerz [2] wird für die medikamentöse Therapie des zentraler Cyclooxygenasen, möglicherweise trägt aber
nichtspezifischen Kreuzschmerzes ein gestuftes medika- auch die Beeinflussung serotoninerger Rezeptoren zur
mentöses Vorgehen empfohlen (. Tab. 18.1). In erster Linie analgetischen Wirkung bei.
werden peripher wirksame Analgetika wie Paracetamol Die Dosierung orientiert sich in erster Linie am
und traditionelle nichtsteroidale Antiphlogistika herange- Lebensalter und dem Gewicht des Patienten, Erwachsene
zogen. Erst bei Nichtansprechen wird der Einsatz von sollten bei Rückenschmerzen nicht mehr als 3 g einneh-
schwachen Opioidanalgetika empfohlen und erst bei Not- men, die zugelassene Tageshöchstdosis beträgt 4 g. Schon
wendigkeit auf stark wirksame Opioide verwiesen, die im Dosen von mehr als 6 g täglich gelten als lebertoxisch. Bei
Rahmen eines multimodalen Therapiekonzepts angewen- nicht ausreichender analgetischer Wirkung sollte daher
det werden sollen. Zusätzlich kommt der Einsatz von zen- nicht die Dosis weiter erhöht werden, sondern als nächste
tral-wirksamen Muskelrelaxanzien und von Antidepres- Stufe auf traditionelle nichtsteroidale Antiphlogistika aus-
siva in Betracht. gewichen werden.
Die Lebertoxizität beruht auf der Bildung reaktiver
Stoffwechselprodukte in der Leber, die durch anschließende
18.2 Nichtopioide Analgetika Konjugation mit Glutathion detoxifiziert werden können.
Reichen die Glutathionvorkommen der Leber jedoch nicht
Die nichtopioiden Analgetika wirken überwiegend peri- aus, wirkt Paracetamol dosisabhängig lebertoxisch.
pher und nur mit wenigen Ausnahmen auch zentral. Zu Die hepatotoxische Wirkung von Paracetamol kann
ihnen gehören nichtsaure antipyretische Analgetika (z. B. durch gleichzeitige Gabe bestimmter Arzneistoffe erhöht
Paracetamol), saure antipyretisch-antiphlogistische An- werden. Dies gilt insbesondere für das Tuberkulostatikum
18 algetika (z. B. Ibuprofen) und Analgetika ohne antipyre- Rifampicin, für Antikonvulsiva vom Barbiturattyp und
tisch-antiphlogistische Wirkung (z. B. Flupirtin). durch Phenytoin und Carbamazepin. Diese induzieren
Wesentlicher Angriffspunkt der peripher wirksamen metabolische Enzyme der Leber, die die Bildung reaktiver
Analgetika ist die Hemmung der Prostaglandin-E2- Paracetamolmetaboliten befördern. Bekanntermaßen ver-
Synthese (PEG2-Synthese). Die schmerzsignalverstärken- stärkt Alkoholmissbrauch die Leberschädigung.
de Wirkung dieses Prostaglandins beruht auf einer erleich- Metoclopramid beschleunigt die Aufnahme und den
terten Aktivierung des oberflächig gelegenen Hitzerezep- Wirkungseintritt von Paracetamol, die Verzögerung der
tors TRPV1 sowie tetrodotoxinresistenter Natriumkanäle. Magenentleerung wirkt dem entgegen. Die dauerhafte
Gleichzeitig hemmt PGE2 im Hinterhorn des Rücken- Einnahme von Paracetamol kann die Wirkung von Vita-
marks die Schmerzweiterleitung, indem die hemmende min-K-Antagonisten wie Phenprocoumon verstärken, ge-
Wirkung von Glycinrezeptoren aufgehoben wird. Da die legentliche Einnahme führt jedoch nicht zu Änderungen
Synthese von PEG2 durch Cyclooxygenase-2 (COX-2) ver- der Blutgerinnung.
18.2 · Nichtopioide Analgetika
221 18

. Tab. 18.1 Medikamentöse Therapie des nichtspezifischen Kreuzschmerzes entsprechend den Empfehlungen der Nationalen
Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz [2]

Empfehlungsgrad

Positiv Negativ

Analgetika (nichtopioide)

Paracetamol

Bei leichtem bis moderatem akutem nichtspezifischem Kreuzschmerz kann ein Behandlungsversuch mit l
Paracetamol bis zu einer maximalen Tagesdosis von 3 g unternommen werden. Der Behandlungserfolg ist
kurzfristig zu überprüfen

Der Einsatz von Paracetamol kann bei subakutem und chronischem nichtspezifischem Kreuzschmerz nur nach l
einer ausführlichen Medikamentenanamnese und nur zur Behandlung kurzer Exazerbationen des chronischen
nichtspezifischen Kreuzschmerzes eingesetzt werden. Die Einnahme sollte dann nur für kurze Zeit und in
möglichst niedriger Dosis erfolgen

Traditionelle nichtsteroidale Antirheumatika/Antiphlogistika (tNSAR))

Bei akutem nichtspezifischem Kreuzschmerz sollten tNSAR zur Schmerzlinderung in limitierter Dosierung n
eingesetzt werden. Evidenz liegt vor für bis zu 1,2 g Ibuprofen, 100 mg Diclofenac oder 750 mg Naproxen
täglich. Bei unzureichender Wirkung kann die Dosis unter Beachtung und ggf. Prophylaxe der möglichen
Nebenwirkungen auf Tagesdosen von bis zu 2,4 g Ibuprofen, 150 mg Diclofenac oder 1,25 g Naproxen erhöht
werden

Bei tNSAR-Behandlung und gleichzeitig existenten gastrointestinalen Risiken sollte die prophylaktische Gabe n
eines Protonenpumpenhemmers erfolgen

tNSAR sollten nur in der niedrigsten wirksamen Dosierung und so kurzzeitig wie möglich eingesetzt werden. n

tNSAR sollen nicht parenteral verabreicht werden pp

COX-2-Hemmer können unter Berücksichtigung der Warnhinweise bei akutem und chronischem nicht- l
spezifischem Kreuzschmerz eingesetzt werden, wenn tNSAR kontraindiziert sind oder nicht vertragen werden
(»off label use«)

Andere Analgetika

Flupirtin soll zur Behandlung von akutem und chronischem nichtspezifischem Kreuzschmerz nicht pp
angewendet werden

Opioidanalgetika

Bei fehlendem Ansprechen auf Analgetika (wie Paracetamol, tNSAR) können schwache Opioide (z. B. Tramadol, l
Tilidin/Naloxon) bei nichtspezifischem Kreuzschmerz eingesetzt werden

Eine Reevaluation der Opioidtherapie soll bei akutem nichtspezifischem Kreuzschmerz nach spätestens nn
4 Wochen, bei chronischem nichtspezifischem Kreuzschmerz nach spätestens 3 Monaten erfolgen. Tritt die
gewünschte Schmerzlinderung/Funktionsverbesserung nicht ein, ist die Fortsetzung der Opioidtherapie
kontraindiziert

Wenn Opioide zum Einsatz kommen, sind zur Reduktion des Suchtrisikos Opioide mit langsamem Wirkungs- Statement
eintritt den schnell wirksamen Opioiden vorzuziehen. Sie sollten nach festem Zeitschema gegeben werden
(»rund um die Uhr«). Versuchsweise durchgeführte Dosiserhöhungen, die nicht zu einer anhaltend ver-
besserten Wirkung führen, sollen grundsätzlich wieder rückgängig gemacht werden

Starke Opioide (BTM-pflichtig) sind möglichst nur im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzepts und in Statement
Zusammenarbeit mit schmerztherapeutischen Fachleuten einzusetzen

Bei akutem oder subakutem nichtspezifischem Kreuzschmerz sollen transdermale Opioide nicht eingesetzt pp
werden

Muskelrelaxanzien

Muskelrelaxanzien können bei akutem und chronischem nichtspezifischem Kreuzschmerz angewendet l


werden, wenn nichtmedikamentöse Maßnahmen oder die alleinige Gabe von nichtopioiden Analgetika keine
Besserung bewirken
222 Kapitel 18 · Medikamente

. Tab. 18.1 (Fortsetzung)

Empfehlungsgrad

Positiv Negativ

Muskelrelaxanzien sind jedoch aufgrund ihrer Nebenwirkungen wie Benommenheit oder Abhängigkeit, Statement
wegen allergischer Nebenwirkungen, der reversiblen Beeinträchtigung der Leberfunktion und gastrointestinaler
Komplikationen mit Bedacht einzusetzen. Sie sollten bei akutem, subakutem und chronischem nichtspezifischem
Kreuzschmerz nicht länger als 2 Wochen fortlaufend eingenommen werden

Obwohl bestimmte Benzodiazepine in klinischen Studien schmerzlindernde Effekte bei nichtspezifischem Statement
Kreuzschmerz zeigten, ist die Anwendung zu vermeiden, da das Abhängigkeitspotenzial dieser Medikamenten-
gruppe sehr hoch ist und die chronische Einnahme eine aktive multimodale Therapie erheblich erschwert

Antidepressiva und andere Psychopharmaka

Noradrenerge oder noradrenerg-serotonerge Antidepressiva können als Nebenmedikation im Rahmen eines l


therapeutischen Gesamtkonzepts zur Schmerzlinderung für Personen mit chronischem nichtspezifischem
Kreuzschmerz in Betracht gezogen werden. Dabei sind Kontraindikationen und mögliche Nebenwirkungen zu
beachten

Antidepressiva vom SSNRI-Typ sollten bei Personen mit nichtspezifischem Kreuzschmerz nicht routinemäßig p
und nur bei indikationsrelevanter Komorbidität (schwere Depression, Angststörung) eingesetzt werden

Antiepileptika/Antikonvulsiva

Gabapentin, Pregabalin und Carbamazepin sollten bei nichtspezifischem Kreuzschmerz nicht eingesetzt p
werden

Phytotherapeutika

Phytotherapeutika sollten zur Schmerztherapie bei akutem und chronischem nichtspezifischem Kreuzschmerz p
nicht angewendet werden

Perkutan applizierbare Medikamente

Perkutan applizierbare Medikamente sollten zur Behandlung des akuten, subakuten und chronischen p
nichtspezifischen Kreuzschmerzes nicht angewendet werden

Weitere intravenös verabreichte Medikamente

Intravenös oder intramuskulär applizierbare Schmerzmittel, Glukokortikoide und Mischinfusionen sollen für pp
die Behandlung des akuten und chronischen nichtspezifischen Kreuzschmerzes nicht angewendet werden

Paracetamol ist bei schwerer Leberinsuffizienz kontra- lebertoxische Potenzial deutlich limitiert. Bei der
indiziert. Eine relative Kontraindikation besteht bei hepa- Therapie von Rückenschmerzen ist kurzfristig der
tozellulärer Insuffizienz (Child-Pugh <9), chronischem Erfolg zu überprüfen.
Alkoholmissbrauch sowie schwerster Niereninsuffizienz
mit einer Kreatininclearance von weniger als 10 ml/min.
18 Das erblich bedingte Gilbert-Syndrom (Morbus Meulen- 18.2.2 Traditionelle NSAR (tNSAR)
gracht) gilt ebenfalls als relative Kontraindikation, da Trä-
ger dieses Merkmals Paracetamol nur eingeschränkt glu- Nichtsteroidale Antiphlogistika bzw. Antirheumatika
kuronidieren und damit detoxifizieren können. (engl.: »non-steroidal antiinflammatory drugs«, NSAIDs)
Unter normalen Anwendungsbedingungen kann Para- sind die am häufigsten eingesetzten analgetisch-antiphlo-
cetamol während der gesamten Schwangerschaft (jedoch gistischen Medikamente überhaupt [13]. Ihr wesentliches
nicht über einen längeren Zeitraum) nach Abwägung des Wirkprinzip beruht auf einer Hemmung der Cyclooxy-
Nutzen-Risiko-Verhältnisses eingenommen werden. genasen 1 und 2 und der daraus für die Analgesie wesent-
lichen Suppression der Prostaglandinsynthese. Die
> Paracetamol ist nur zur Therapie leichterer Schmer- antiphlogistisch-analgetische Wirkung der tNSAR beruht
zen geeignet und in niedrigen Dosierungen verträg- auf der überwiegenden Hemmung der in entzündlichem
lich. Die Steigerung der Dosis ist jedoch durch das Gewebe exprimierten induzierbaren COX-2 bei therapeu-
18.2 · Nichtopioide Analgetika
223 18
tischen Konzentrationen. Die Nebenwirkungen lassen sich von COX-1 und COX-2. Für die analgetische Wirkung bei
teilweise aus der Hemmung der COX-1 ableiten. Diese Rückenschmerzen sind bis zu 1,2 g täglich erforderlich.
wird konstitutiv im Magen, der Niere und in Thrombozy- Die Abgabe von Ibuprofen erfolgt in der Bundesrepublik
ten exprimiert. Folgen einer langfristigen Behandlung sind Deutschland bei Einzeldosen von 100–400 mg rezeptfrei.
daher vor allem gastrointestinale COX-1-vermittelte Ero- Ibuprofen wird in der Leber vollständig mit einer Halb-
sionen und Ulzerationen sowie – mit geringerer Häufigkeit wertszeit von 2 bis 3 h verstoffwechselt, die Metaboliten
– Nierenschäden. Acetylsalicylsäure zählt nicht zu den werden überwiegend renal ausgeschieden. Im Vergleich zu
traditionellen NSAR (tNSAR), da hier die Hemmung der anderen NSAR sind die gastralen Nebenwirkungen eher
COX-1 stärker als die von COX-2 ist und somit hohe gering. Bei langfristiger Einnahme von mehr als 1,2 g
Dosen von mehr als 2 g für eine antiphlogistische Wirkung täglich steigt das kardiovaskuläre Risiko, bei niedrigeren
notwendig sind. Von den tNSAR sind die spezifischen Dosen dagegen kaum [5].
COX-2-hemmenden Coxibe (z. B. Etirocoxib) zu unter- Bei der Einnahme von Ibuprofen ist auf eine spezifi-
scheiden. sche Interaktion mit Acetylsalicylsäure (ASS) zu achten.
Als Folge der COX-1-vermittelten Thrombozytenag- Wie ASS kann Ibuprofen die Thromboxan-A2-Synthese
gregationshemmung kann es bei chirurgischen Eingriffen hemmen, im Unterschied zu ASS erfolgt die Hemmung
zu Blutungskomplikationen kommen, weshalb ein präope- aber reversibel und lässt rasch nach. Ibuprofen hindert
ratives Absetzen insbesondere bei neurochirurgischen jedoch ASS, den Serinrest an Position 529 des COX-1-
Eingriffen entsprechend der Halbwertzeit ratsam ist [7]. Proteins zu azetylieren, die irreversible und lang anhalten-
Alle NSAR und Coxibe können Nierenfunktions- de Inhibition der Thromboxan-A2-Synthese wird somit
störungen mit nachfolgender Ödembildung und Blut- verhindert, das kardiale Risiko von Patienten mit korona-
druckerhöhung um 5–10 mmHg bedingen. Dies beruht rer Herzerkrankung steigt [3]. Ibuprofen sollte daher bei
auf einer lokalen Hemmung der Cyclooxygenasen der Nie- KHK-Patienten erst 2–3 h nach ASS-Gabe eingenommen
re, wodurch es zur Natriumionen- und Wasseretention werden.
kommen kann. Im Einzelfall können Druckerhöhungen > Ibuprofen ist bei akutem nichtspezifischem Kreuz-
um 30–40 mmHg auftreten. Bei bereits bestehender einge- schmerz zur Schmerzlinderung in Dosen von bis zu
schränkter Nierenfunktion ist besondere Zurückhaltung 1,2 g/d geeignet. Es sollte nur in der niedrigsten
geboten. wirksamen Dosierung und so kurzzeitig wie möglich
An der Haut können Überempfindlichkeitsreaktionen eingesetzt werden. Bei unzureichender Wirkung
zu Ekzemen, Erythemen, Photosensibilisierung bis hin kann die Dosis unter Beachtung möglicher gastro-
zum Steven-Johnson- und Lyell-Syndrom führen. intestinaler Nebenwirkungen auf bis 2,4 g Ibuprofen
In jüngerer Zeit wurde die Aufmerksamkeit auf kardio- erhöht werden, ggf. ist eine Prophylaxe mit
vaskuläre und zerebrovaskuläre Risiken nach langfristiger Protonenpumpenhemmern vorzunehmen. Die
Einnahme von NSAR gelenkt. Dies gilt nicht nur für zeitgleiche Gabe von ASS ist zu vermeiden.
Coxibe, wie das vom Markt genomene Rofecoxib, sondern
auch für tNSAR [5]. Als Mechanismus wird eine durch die
COX-2-Hemmung verursachte Dysbalance vermutet. Diclofenac
Dem Mangel an antithrombogenen und gefäßdilatieren- Die Potenz dieses Arylessigsäurederivats ist deutlich höher
den Endoperoxiden Prostacyclin PGI2 und Prostaglandin als bei Ibuprofen. Durch eine 3-fach höhere Affinität
E2 steht die Expression des thrombogenen Thromboxan zur COX-2 als zur COX-1 ist es stärker antiphlogistisch
A2 gegenüber [3]. wirksam und somit u. a. auch zur Behandlung akuter und
Allgemein ist zu beachten, dass die gleichzeitige chronischer Arthritiden und des entzündlichen Weichteil-
Einnahme von tNSAR und Glukokortikoiden das Risiko rheumatismus indiziert. Bei der Behandlung von Rücken-
gastrointestinaler Blutungen erhöht, die gleichzeitige Ein- scherzen liegt Evidenz bei Dosen bis zu 100 mg/d vor.
nahme von Antikoagulanzien verstärkt die Blutungsnei- Im Einzeldosisbereich 12,5–25 mg ist Diclofenac
gung. Zusätzlich können tNSAR die diuretische und blut- rezeptfrei erhältlich. Die Tageshöchstdosis beträgt als
drucksenkende Wirkung von Diuretika sowie die antihy- rezeptfreies Arzneimittel jedoch nur 75 mg über 4 Tage.
pertensive Wirkung von ACE-Hemmern und Betablo- Für die Behandlung stärkerer Schmerzen sollte auf ver-
ckern vermindern. schreibungspflichtige Einzeldosen von 50–100 mg zurück-
gegriffen werden. Die absolute Tageshöchstdosis beträgt
Ibuprofen jedoch lediglich 150 mg. Bei Nachlassen der Wirkung (die
Für Ibuprofen gibt es eine gute Evidenz zur Behandlung Plasmahalbwertzeit beträgt lediglich 1,5 h) sollte die Dosis
von Rückenschmerzen. Es handelt sich um ein Arylpropi- nicht weiter erhöht werden, da Diclofenac ein hohes Risiko
onsäurederivat mit relativ niedriger Potenz der Inhibition gastrointestinaler Blutungen aufweist (s. oben). Es wird
224 Kapitel 18 · Medikamente

daher bei längerem Einsatz die gleichzeitige Gabe von sind denen der NSAR vergleichbar. Die Dosierung erfolgt
Protonenpumpenhemmern zur Vermeidung von Ulzera- mit 200 mg bis max. 400 mg pro Tag.
tionen empfohlen. In sehr seltenen Fällen (1:12.500) kann
Diclofenac Leberschäden verursachen. Etoricoxib
> Diclofenac ist bei akutem nichtspezifischem Kreuz-
Bei entzündlichen Gelenkerkrankungen ist die analge-
schmerz zur Schmerzlinderung in Dosen von bis zu
tisch-antiphlogistische Potenz dieses Coxibs mit der von
100 mg/d geeignet. Es sollte nur in der niedrigsten
Diclofenac vergleichbar, Studien zu Kreuzschmerzen
wirksamen Dosierung und so kurzzeitig wie möglich
liegen nicht vor. Die Dosierung erfolgt mit 30 mg bis
eingesetzt werden. Bei unzureichender Wirkung
max. 90 mg täglich. Bei schwerer Leber- oder Nierenin-
kann die Dosis unter Beachtung möglicher gastroin-
suffizienz sowie bei Kindern und Jugendlichen unter
testinaler Nebenwirkungen auf 150 mg/d erhöht
16 Jahren ist die Einnahme kontraindiziert.
werden, ggf. ist eine Prophylaxe mit Protonenpum- > Coxibe (spezifische COX-2-Inhibitoren) wie Celecoxib
penhemmern vorzunehmen. oder Etoricoxib sind bislang nicht zur Behandlung
chronischer Rückenschmerzen indiziert. Jedoch kann
unter bestimmten Umständen – z. B. bei gastrointes-
Naproxen
tinaler Unverträglichkeit von tNSAR – ihr Einsatz als
Naproxen weist ähnliche Eigenschaften wie Ibuprofen auf, Off-label-Präparat sinnvoll sein.
unterscheidet sich aber in seiner Eliminationshalbwerts-
zeit, die 10–18 h beträgt. Hierdurch ist das Nachblutungs-
risiko verlängert. Das Indikationsspektrum entspricht dem
von Diclofenac. Seine geringe Spezifität zur COX-1 geht 18.2.4 Analgetika ohne antipyretisch-
aber mit erhöhtem Risiko gastrointestinaler Blutungen antiphlogische Wirkung
und Ulzerationen einher, ein kardiovaskuläres Risiko
konnte bislang nicht nachgewiesen werden. Oral wirksame Analgetika wie Flupirtin und Nefopam, die
Bis zu einer Tageshöchstdosis von 600 mg und in Ein- nicht antiphlogistisch wirken, haben sich nicht als hilfreich
zeldosen von 200 mg ist Naproxen rezeptfrei erhältlich. bei der Behandlung von Rückenschmerzen erwiesen.
> Naproxen ist bei akutem nichtspezifischem Kreuz-
Zudem darf Flupirtin nur bei Vorliegen von Kontra-
schmerz zur Schmerzlinderung in Dosen von bis zu
indikationen gegen andere Analgetika wie z. B. NSAR
750 g/d geeignet. Es sollte nur in der niedrigsten
oder Opioide verschrieben werden. Nach zunehmenden
wirksamen Dosierung und so kurzzeitig wie möglich
Berichten über Fälle von Lebertoxizität muss bei Gabe
eingesetzt werden. Bei unzureichender Wirkung
von Flupirtin die Leberfunktion wöchentlich überprüft
kann die Dosis unter Beachtung möglicher gastro-
werden.
intestinaler Nebenwirkungen auf bis 1,2 g Naproxen
erhöht werden, ggf. ist eine Prophylaxe mit Proto-
nenpumpenhemmern vorzunehmen.
18.3 Opioide

Bei Patienten mit akuten Rückenschmerzen ist die Wirk-


samkeit von Opioiden erwiesen, sodass bei Patienten mit
18.2.3 Coxibe dieser Schmerzart ein Behandlungsversuch empfohlen
wird. Auch bei Behandlung chronischer Kreuzschmerzen
Coxibe weisen eine besonders hohe Selektivität zur COX-2 können schwache Opioide zum Einsatz kommen, wenn die
18 auf. Ziel der Entwicklung dieser Medikamentengruppe Wirkung von nichtopioiden Analgetika wie tNASR nicht
war es, hierdurch das Ausmaß gastrointestinaler Neben- ausreichend ist oder nicht vertragen wird [12, 8]. Soge-
wirkungen zu senken. Er später erkannte man das erhöhte nannte schwach wirksame Opioide zeichnen sich durch
Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen nach langfristiger eine geringere Effizienz aus als hochpotente Opioide wie
Einnahme [11]. Coxibe haben bei der antiphlogistischen Morphin und sollen ein geringeres Abhängigkeitspoten-
Behandlung derzeit nur eine nachrangige Bedeutung. zial entfalten. Sie unterliegen nicht der Betäubungsmittel-
verschreibungsverordnung.
Celecoxib Opioide sind in erster Linie Agonisten des μ-Opioid-
Die höhere Selektivität zu COX-2 senkt das gastrointesti- rezeptors (OPRM1). Hierdurch werden einerseits präsyn-
nale Ulzerationsrisiko, vorbestehende Ulzera oder ent- aptische Kalziumkanäle inaktiviert, andererseits wird
zündliche Magen-Darm-Erkrankungen gelten jedoch postsynaptisch eine Öffnung von Kaliumkanälen bewirkt.
auch als Kontraindikation. Die weiteren Nebenwirkungen Die Hemmung der Kalziumkanäle verhindert die Frei-
18.3 · Opioide
225 18
setzung des erregenden Neurotransmitters Glutamat und 18.3.1 Schwach wirksame Opioide
verursacht entsprechend eine verminderte Erregung der
postsynaptischen NMDA-Rezeptoren, die Öffnung der Tramadol
Kaliumkanäle bedingt eine Hyperpolarisation. Beide Tramadol gehört zu den schwachen μ-Opioidrezeptor-
Mechanismen führen zur Verminderung der Nozizeption. agonisten, weist zusätzlich aber auch Effekte an sero-
Opioide wirken zentral durch Hemmung spinaler toninergen Rezeptoren auf und führt zu einer Hemmung
nozizeptiver Signale und aktivieren das endogene schmerz- der Noradrenalinwiederaufnahme. Für die Behandlung
hemmende System; sie wirken auch über periphere Opio- akuter Schmerzen sollte eine schnell freisetzende Formu-
idrezeptoren analgetisch. Die Nebenwirkungen lassen sich lierung, bei chronischen Schmerzen nur die retardierte
in erster Linie durch zentrale Effekte erklären, sie sind Zubereitung verwendet werden.
unmittelbar abhängig von der Potenz des Opioids und von Jugendliche über 12 Jahre und Erwachsene erhalten als
dessen Dosis. Die wiederholte Gabe führt zu Toleranzent- Anfangsdosis 100 mg, auf 2 Gaben pro Tag verteilt. Die
wicklung, hiervon ist nur die Obstipation ausgenommen. Dosis kann auf 400 mg alle 12 h gesteigert werden.
Die wichtigsten unerwünschten Wirkungen sind: Zu beachten ist, dass die mithilfe von Tramadol be-
zentrale Hemmung des Atemzentrums, Sedation, Übelkeit wirkte zentrale Sedierung durch Alkohol verstärkt werden
und Obstipation. Im weiteren Verlauf wird das Brechzent- kann. Umgekehrt kann die Wirkung bei gleichzeitiger
rum gehemmt, und es resultiert eine antiemetische Wir- Gabe von Carbamazepin oder Rifampicin abnehmen.
kung. Weiterhin kommt es zur Miosis, Kontraktion der Diese Medikamente induzieren den Abbau von Tramadol
Sphinktere im Bereich der Gallenwege und Steigerung des in der Leber. Bei gleichzeitiger Einnahme von Substanzen,
Tonus der Harnblasenmuskulatur und des Blasenschließ- die das serotoninerge System verstärken – zu diesen zählen
muskels mit der Gefahr des Harnverhalts. Durch Vermin- Antidepressiva vom Typ der Monoaminoxidasehemm-
derung des Tonus arterieller Blutgefäße besteht die Gefahr stoffe (z. B. Moclobemid), selektive Serotoninwieder-
der Orthostase. Ferner können Opioide peripher durch aufnahmehemmstoffe (z. B. Fluoxetin) oder vom Typ der
Histaminfreisetzung Hautrötung, Urtikaria und Juckreiz trizyklischen Antidepressiva (z. B. Amitriptylin) –, besteht
bis hin zu Asthmaanfällen bei disponierten Patienten die Gefahr, dass ein Serotoninsyndrom ausgelöst wird.
hervorrufen. Die Gefahr der physischen und psychischen Auch kann Tramadol die Krampfschwelle senken oder die
Abhängigkeit ist gegeben, bei sachgerechter Anwendung Wirkung gleichgerichteter anderer Medikamente ver-
von Opioiden ist das Risiko bei chronischen Schmerz- stärken.
patienten jedoch eher gering. Tramadol darf daher nicht angewendet werden: bei
Die langfristige Gabe kann aber auch zu paradoxen akuten Vergiftungen mit Alkohol, Schlafmitteln, Analge-
Wirkungen im Sinne einer Schmerzverstärkung führen. tika, Opioiden und Psychopharmaka, bei Patienten, die
Dieses als opioidinduzierte Hyperalgesie bezeichnete MAO-Hemmer erhalten oder innerhalb der letzten
Phänomen beruht auf einer Aktivierung pronozizeptiver 14 Tage angewendet haben, sowie bei Epilepsie, die durch
Systeme, die insbesondere zu einer Heraufregulierung des Behandlung nicht ausreichend kontrolliert werden kann.
NMDA-Rezeptorsystems führt [4]. Aber auch schon die Wie bei allen Opioiden gilt es, besonders sorgfältig die
kurzzeitige Anwendung kann Sensibilisierungsprozesse Dosierung auf das Alter und die Organfunktion abzustim-
induzieren, die einen Teil der analgetischen Wirkung des men. So soll Tramadol nicht bei schwerer Einschränkung
Opioids maskieren und noch viele Tage nach dem Ab- der Nieren- und Leberfunktion angewendet werden. Bei
setzen nachweisbar sein können. Die Konsequenz ist, dass älteren Patienten (über 75 Jahre) sollte das Dosisintervall
Opioide möglichst in Kombination mit anderen Anal- verlängert werden, da mit einer Verminderung der Aus-
getika angewendet und das gewählte Opioid gewechselt scheidungsrate zu rechnen ist.
werden sollte. In der Schwangerschaft ist die Anwendung auf Einzel-
dosen zu beschränken. Eine chronische Anwendung von
> Die Wirksamkeit von schwach wirksamen Opioiden Tramadol ist in der gesamten Schwangerschaft zu vermei-
ist bei Patienten mit akuten Rückenschmerzen erwie- den, da Tramadol die Plazenta passiert und aufgrund von
sen. Auch chronisch Erkrankte können von einer Be- Gewöhnung nach der Geburt Entzugserscheinungen beim
handlung profitieren. Bei akutem nichtspezifischem Neugeborenen auftreten können. Tramadol sollte nicht
Kreuzschmerz sollte eine Überprüfung der Opioid- während der Stillzeit angewendet werden.
therapie nach spätestens 4 Wochen, bei chronischem
nichtspezifischem Kreuzschmerz nach spätestens > Die Wirkung von Tramadol ist bei Kreuzschmerz
3 Monaten erfolgen. Tritt die gewünschte Schmerz- erwiesen. Die Dosis beträgt bei Erwachsenen
linderung/Funktionsverbesserung nicht ein, ist die 100–400 mg alle 12 h. Tritt keine Besserung ein,
Fortsetzung der Opioidtherapie kontraindiziert. sollte das Präparat abgesetzt werden.
226 Kapitel 18 · Medikamente

Dihydrocodein als Einzeldosis nicht weniger als 7,5 mg Tilidinhydrochlo-


Dihydrocodein (DHC) ist ein halbsynthetisches Opium- rid gegeben werden sollten.
alkaloid, das als reiner Agonist am μ-Opioidrezeptor Die übliche Anfangsdosierung für das Retardpräparat
wirksam ist. Neben der analgetischen Wirkung hat Dihydro- beträgt für Erwachsene und Jugendliche ab 14 Jahren
codein eine ausgeprägte antitussive Wirkung, die bereits 2-mal täglich 100 mg. Dabei sollte ein Zeitintervall von
in Dosierungen einsetzt, die nur sehr schwach analgetisch 12 h eingehalten werden. Bei opioidnaiven Patienten ist
wirken. Erwachsene und Jugendliche ab 16 Jahren erhalten ggf. die Anfangsdosis auf 2-mal täglich 50 mg zu reduzie-
2-mal täglich 60–120 mg einer Retardformulierung bis ren. Bei Beendigung der Behandlung sollte die Dosis pro
höchstens 240 mg pro Tag. Bei Einschränkung der Nieren- Woche um 50 % reduziert werden.
und Leberfunktion sollte eine Verringerung der DHC- Als Kontraindikation ist zu beachten, dass Tilidin/
Dosis oder Verlängerung des Dosisintervalls vorgenom- Naloxon nicht bei Opioidabhängigen angewendet werden
men werden. DHC (90–120 mg) darf bei Kindern und darf, da eine akute Entzugssymptomatik entstehen kann.
Jugendlichen unter 16 Jahren nicht angewendet werden, Während der Schwangerschaft sollte es nur nach strengster
auch die Anwendung niedrigerer Dosen wird nicht emp- Nutzen-Risiko-Abschätzung gegeben werden. Es sind In-
fohlen. In der Schwangerschaft ist DHC kontraindiziert. teraktionen im Sinne einer Verstärkung von Vitamin-K-
Bezüglich der Interaktion mit anderen Medikamenten Antagonisten beobachtet worden, die eine engmaschige
gilt spezifisch für DHC, dass es nicht während einer INR-Kontrolle erfordern.
Therapie oder innerhalb von 14 Tagen nach Beendigung > Die Wirkung von Tilidin/Naloxon ist bei Kreuz-
einer Therapie mit MAO-Hemmern angewendet werden schmerz erwiesen. Die Dosis beträgt bei Erwachse-
sollte, da es zur Verstärkung von zentralnervösen Wirkun- nen 50 mg/4 mg Tilidin-HCl/Naloxon bis zu 6-mal
gen kommen kann. Wie bei Tramadol kann die Kombina- am Tag. Tritt keine Besserung ein, sollte das Präparat
tion mit gemischten Opioidagonisten/-antagonisten oder abgesetzt werden. Das Präparat darf nicht bei
partiellen Agonisten zu einer Wirkungsabschwächung von Opiatabhängigen angewendet werden.
Dihydrocodein führen.
> Die Wirkung schwach wirksamer Opioide wie
Dihydrocodein (DHC) ist bei Kreuzschmerz erwiesen.
18.3.2 Stark wirksame Opioide
Die Dosis für DHC beträgt bei Erwachsenen
60–120 mg alle 12 h. Tritt keine Besserung ein, sollte
Bei Patienten mit akuten Rückenschmerzen ist die Wirk-
das Präparat abgesetzt werden.
samkeit von Opioiden erwiesen, sodass bei dieser Patien-
tengruppe ein Behandlungsversuch empfohlen wird. In
allen Fällen, insbesondere bei starken chronischen
Tilidin/Naloxon Schmerzen, wird ein multimodales Setting in Zusammen-
Tilidin wird stets in fixer 50-zu-4-Kombination mit arbeit mit schmerztherapeutischen Fachleuten empfohlen.
dem μ-Opioidrezeptorantagonisten Naloxon verabreicht. Dies ist insbesondere beim Einsatz stark wirksamer Opio-
Tilidin selbst ist kaum wirksam und wird erst in der Leber ide wie Morphin oder Oxycodon zu beachten [8]). Bei aku-
zu dem mittelstarken μ-Opioidagonisten Nortilidin tem oder subakutem nichtspezifischem Kreuzschmerz
metabolisiert. Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch wird sollen transdermale Opioide nicht eingesetzt werden.
Naloxon nahezu vollständig präsystemisch metabolisiert
und kann seine antagonisierende Wirkung nicht entfalten.
Bei hohen Dosen verursacht aber das dann systemisch ver- 18.4 Muskelrelaxanzien
fügbare Naloxon antagonisierende Wirkung und Entzugs-
18 symptomatik. Durch die Kombination von Tilidin mit Bei akutem und chronischem nichtspezifischem Kreuz-
Naloxon soll der Missbrauch von Tilidin vermieden schmerz kann die Gabe von zentral-wirksamen Muskel-
werden. relaxanzien sinnvoll sein, wenn nichtmedikamentöse
Als Dosierung für Erwachsene und Jugendliche ab Maßnahmen oder die alleinige Gabe von nichtopioiden
14 Jahren werden 20–40 Tropfen (entsprechend 50 mg Analgetika keine Besserung bewirken. Bislang hat sich
Tilidinhydrochlorid und 4 mg Naloxonhydrochlorid) bis kein Muskelrelaxans als überlegen erwiesen [10].
zu 6-mal täglich empfohlen. Die Tageshöchstdosis kann
bis zu 60 mg Tilidinhydrochlorid betragen. Kinder unter
14 Jahren erhalten bis zu 4-mal täglich 0,5 mg Tilidinhyd- 18.4.1 Tizanidin
rochlorid pro Kilogramm Körpergewicht (bei einem
Körpergewicht <20 kg) bzw. 0,7 mg Tilidinhydrochlorid Tizanidin ist ein zentralwirksamer D2-Agonist mit Haupt-
pro Kilogramm Körpergewicht (bei mehr als 20 kg), wobei angriffspunkt im Rückenmark, der bei peripher bedingten,
18.5 · Antidepressiva
227 18
schmerzhaften Muskelverspannungen wie z. B. statischen iden Analgetika keine Besserung bewirken. Die
und funktionellen Wirbelsäulenbeschwerden indiziert ist. Nachteile sind jedoch insbesondere Müdigkeit und
Es hemmt vorwiegend die für den übermäßigen Muskel- Benommenheit. Sie sollten daher nicht länger als
tonus verantwortlichen polysynaptischen Mechanismen. 2 Wochen fortlaufend eingenommen werden
Das Medikament hat keinen Einfluss auf die neuromusku-
läre Übertragung. Die Dosierung beträgt 3-mal 2–4 mg
Tizanidin täglich. Das entspricht Tagesdosen von 6–12 mg. 18.5 Antidepressiva
In schweren Fällen kann abends eine zusätzliche Tablette
mit 2–4 mg eingenommen werden. Der analgetische Effekt der Antidepressiva beruht zu
Die Nebenwirkungen sind klassentypisch. Häufig einem großen Teil auf einer Verstärkung absteigender
treten Müdigkeit, Schwindel, Bradykardie, Hypotonie und inhibitorischer Neurone von Schmerzfasern durch eine
Mundtrockenheit auf. Diese sind in der Regel jedoch mild präsynaptische Wiederaufnahmehemmung des Neuro-
und vorübergehend. Seltener wird über Kopfschmerzen transmitters Nordrenalin und in geringerem Maße auch
und allergische Reaktionen berichtet. Serotonin. Daher werden noradrenerg oder noradrenerg-
serotoninerg wirksame Antidepressiva als Koanalgetika
zur Schmerzlinderung für Patienten mit chronischem
18.4.2 Methocarbamol nichtspezifischem Kreuzschmerz herangezogen [1].
Die Dosierungen der Antidepressiva liegen in der
Wie Tizanidin entfaltet Methocarbamol seine muskel- Regel unterhalb der bei Depression empfohlenen Mengen.
relaxierende Wirkung über eine Hemmung der polysynap- In Abhängigkeit von Wirkung und Nebenwirkungen ist
tischen Reflexleitung im Rückenmark und in den subkor- eine individuelle Titration erforderlich. Insbesondere bei
tikalen Zentren. Unter einer therapeutischen Dosierung älteren Patienten sollte eine einschleichende Dosierung,
werden der physiologische Tonus und die Kontraktilität beginnend mit 10 mg/d retardiert, gewählt werden, die alle
der Skelettmuskulatur sowie die Motilität der glatten 4 Tage um 10–25 mg bis zur Zieldosis 25 und 75 mg/d er-
Muskulatur durch Methocarbamol nicht beeinträchtigt. höht werden kann. Höhere Dosierungen sind nur not-
Das Präparat ist zur symptomatischen Behandlung wendig, wenn zusätzlich antidepressive Effekte erwünscht
schmerzhafter Muskelverspannungen, insbesondere des sind.
unteren Rückenbereichs (Lumbago), indiziert. Aufgrund der niedrigeren Dosierung fallen die typi-
Der genaue Wirkungsmechanismus von Methocarba- schen unerwünschten Wirkungen moderater aus bzw.
mol ist nicht bekannt. Die Dosierung beträgt für Erwach- treten seltener auf. Zu diesen zählen Müdigkeit und anti-
sene 3-mal täglich 750 mg, zu Beginn erfolgt eine Aufdo- cholinerge Störungen wie Schlafstörungen, Vergesslich-
sierung mit 4-mal 1.500 mg. In schweren Fällen können bis keit, Gewichtszunahme, Mundtrockenheit, Obstipation,
zu 10 Filmtabletten à 750 mg verabreicht werden. Die Be- Schwindel, orthostatische Dysregulation, Erektions-
handlungsdauer sollte 30 Tage nicht überschreiten. Selten störungen, Miktionsbeschwerden und seltener Brechreiz,
treten Nebenwirkungen wie Kopfschmerz, Fieber, Schwin- Tremor und kardiale Nebenwirkungen. Vor der Behand-
del bzw. Überempfindlichkeitsreaktionen auf. lung sollte bei allen Patienten mit kardialem Risiko und ab
einem Alter von 65 Jahren ein EKG abgeleitet werden.
Relative Kontraindikationen von Trizyklika und spezi-
18.4.3 Weitere Muskelrelaxanzien fischen Nordrenalin/Serotin-Wiederaufnahmehemms-
toffen sind Glaukom, Prostatahypertrophie, Miktions-
Unter die zentral wirksamen Muskelrelaxanzien fallen störungen, ein gesteigertes Anfallsrisiko, Thrombose/
weiterhin Medikamente wie Baclofen und Tolperison, die Thrombophlebitis, kardiale Reizleitungsstörungen sowie
aber insbesondere für die Behandlung neuromuskulärer Herzinsuffizienz und erhöhtes Sturzrisiko.
Spastiken indiziert sind. Die Evidenzlage für die Behand-
lung von Kreuzschmerzen mit Tolperison ist jedoch nicht
ausreichend. Die Zulassung von Tolperison ist auf die sym- 18.5.1 Spezifische Serotonin-/Noradrenalin-
ptomatische Behandlung der Spastizität nach einem Wiederaufnahmehemmer (SSNRI)
Schlaganfall bei Erwachsenen beschränkt.
SSNRI weisen aufgrund der höheren Spezifität ein geringes
> Muskelrelaxanzien wie Tizanidin können bei akutem anticholinerges Nebenwirkungsprofil auf als trizyklische
und chronischem nichtspezifischem Kreuzschmerz Antidepressiva. Laut den Empfehlungen der Nationalen
angewendet werden, wenn nichtmedikamentöse Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz werden SSNRI jedoch
Maßnahmen oder die alleinige Gabe von nichtopio- nur zur Behandlung von Rückenschmerzen empfohlen,
228 Kapitel 18 · Medikamente

wenn zusätzlich Zeichen einer Depression vorliegen [2]. Literatur


Die oftmals auftretende unspezifische chronische
1. Briley M, Moret C (2008) Treatment of comorbid pain with
Schmerzsymptomatik depressiver Patienten läst sich mit
serotonin norepinephrine reuptake inhibitors. CNS Spectr 13:-
SSNRI nachweislich behandeln [9]. 22–26
Die Dosierung für Venlafaxin beträgt zum Beginn 2. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung
37,5 mg und wird über 7–14 Tage auf eine Zieldosis von (KBV), and Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen
75–225 mg retard als Einmaldosis morgens gesteigert. Die Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (2013) Nationale
Tageshöchstdosis beträgt 375 mg. Bei Nierenfunktions- Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz – Kurzfassung. http://www.
awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/nvl-007l_S3_
störungen ist eine Dosisanpassung erforderlich. Für Kreuzschmerz_2013-08.pdf. Zugegriffen: 9. Juli 2015
Duloxetin beträgt sie Startdosis 30 mg, die ebenfalls über 3. Funk CD, FitzGerald GA (2007) COX-2 inhibitors and cardiovascu-
7–14 Tage auf die Zieldosis von 60 mg als Einmaldosis lar risk. J Cardiovasc Pharmacol 50:470–479
morgens gesteigert wird. Die Maximaldosis beträgt 4. Crofford LJ (2010) Adverse effects of chronic opioid therapy for
120 mg. chronic musculoskeletal pain. Nat Rev Rheumatol 6:191–197
5. Fosbol EL, Kober L, Torp-Pedersen C, Gislason GH (2010) Cardio-
Wie oben erwähnt, weisen SSNRI weniger anticho-
vascular safety of non-steroidal anti-inflammatory drugs among
linerge Nebenwirkungen auf. Zu Beginn der Behandlung healthy individuals. Expert Opin Drug Saf 9(6):893–903. doi:
können jedoch Übelkeit und Erbrechen auftreten. Der 10.1517/14740338.2010.501331
Blutdruck ist regelmäßig zu kontrollieren. 6. Mayyas F, Fayers P, Kaasa S, Dale O (2010) A systematic review of
oxymorphone in the management of chronic pain. J Pain
Symptom Manage 39:296–308
7. Moiniche S, Romsing J, Dahl JB, Tramer MR (2003) Nonsteroidal
18.5.2 Selektive Serotonin- antiinflammatory drugs and the risk of operative site bleeding
Wiederaufnahmehemmer (SSRI) after tonsillectomy: a quantitative systematic review. Anesth
Analg 96:68–77, table
Die Wirksamkeit von selektiven Serotonin-Wiederauf- 8. Morlion B (2011) Pharmacotherapy of low back pain: targeting
nociceptive and neuropathic pain components. Curr Med Res
nahmehemmern wie z. B. Fluoxetin, Citalopram oder
Opin 27:11–33
Paroxetin konnte bei der Behandlung von Rückenschmer- 9. Perahia DG, Quail D, Desaiah D, Montejo AL, Schatzberg AF (2009)
zen nicht nachgewiesen werden. Sie werden daher nicht Switching to duloxetine in selective serotonin reuptake inhibitor
empfohlen [1]. non- and partial-responders: effects on painful physical
symptoms of depression. J Psychiatr Res 43:512–518
> Noradrenerge oder noradrenerg-serotoninerge
10. See S, Ginzburg R (2008) Choosing a skeletal muscle relaxant. Am
Antidepressiva können als Nebenmedikation im Fam Physician 78:365–370
Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzepts zur 11. Shi S, Klotz U (2008) Clinical use and pharmacological properties
Schmerzlinderung für Personen mit chronischem of selective COX-2 inhibitors. Eur J Clin Pharmacol 64:233–252
nichtspezifischem Kreuzschmerz in Betracht 12. Smith H, Bruckenthal P (2010) Implications of opioid analgesia for
medically complicated patients. Drugs Aging 27:417–433
gezogen werden. Dabei sind Kontraindikationen
13. Vonkeman HE, van de Laar MA (2010) Nonsteroidal anti-inflam-
und mögliche Nebenwirkungen zu beachten. matory drugs: adverse effects and their prevention. Semin
Antidepressiva vom SSNRI-Typ sollten bei Personen Arthritis Rheum 39:294–312
mit nichtspezifischem Kreuzschmerz nicht routine-
mäßig und nur bei indikationsrelevanter Komorbi-
dität (schwere Depression, Angststörung) einge-
setzt werden.

18 18.6 Antikonvulsiva

Die bei neuropathischen Schmerzen indizierten Anti-


konvulsiva haben sich bei der Behandlung von Rücken-
schmerzen als nicht wirksam erwiesen. Koanalgetika wie
Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin, Gabapentin,
Pregabalin oder Phenytoin sollten daher nicht verwendet
werden.
229 19

Physiotherapie
U. Wolf

19.1 Einleitung – 231

19.2 Physiotherapeutische Maßnahmen und ihre Evidenz – 231


19.2.1 Edukation und Instruktion – 231
19.2.2 Thermo-, Hydro- und Elektrotherapie – 232
19.2.3 Massage – 232
19.2.4 Progressive Muskelrelaxation – 232
19.2.5 Manuelle Therapie – 233
19.2.6 Aktive Übungen/Bewegungstherapie/Training – 233
19.2.7 Rückenschule – 234
19.2.8 Kognitive Verhaltenstherapie – 234
19.2.9 Biopsychosoziale Rehabilitation – 235

19.3 Klassifizierung – 235

19.4 Physiotherapie im interdisziplinären Assessment – 235


19.4.1 Zusammenfassung – 239

19.5 Weitere physiotherapeutische Optionen – 239


19.5.1 Fazilitation der Mm. multifidi
und des M. transversus abdominis – 239
19.5.2 Feedbackverfahren zur Muskelentspannung – 241
19.5.3 Wiederholte Bewegungen nach McKenzie – 241
19.5.4 Osteopathie – 241
19.5.5 Therapeutische Ganzkörper vibrationen – 241
19.5.6 Kinesiotape – 241
19.5.7 Spezielle Kissen und Matratzen – 241
19.5.8 Akupunktur – 242
19.5.9 Konfrontation/»exposure in vivo« – 242
19.5.10 Graded Activity – 242

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
19.6 Physiotherapie in
der interdisziplinären Behandlung – 242
19.6.1 Akuter Rückenschmerz – 242
19.6.2 Subakuter Rückenschmerz – 243
19.6.3 Chronischer Rückenschmerz – 244
19.6.4 Akuter Nackenschmerz – 244
19.6.5 Subakuter Nackenschmerz – 245
19.6.6 Chronischer Nackenschmerz – 245
19.6.7 »Whiplash associated disorders« in
der physiotherapeutischen Praxis – 245

19.7 Irrwege und Probleme der Physiotherapie – 245

19.8 Perspektiven und Forderungen – 246

Literatur – 247
19:2 · Physiotherapeutische Maßnahmen und ihre Evidenz
231 19
Der physiotherapeutischen Behandlung geht ein gezieltes der Umsetzung der Leitlinien und der inhaltlichen Ausge-
Assessment voraus, das sich an den Kategorien der ICF für staltung der Physiotherapie geben. Er soll dazu beitragen,
Erkrankungen des Bewegungsapparats orientiert. Dabei Subgruppen zu identifizieren, die von Physiotherapie
werden weitestgehend überprüfte Fragebögen und Tests profitieren können, und Optionen aufzeigen, die bei Per-
genutzt, deren vorrangiges Ziel der Ausschluss von Risiko- sistenz der Beschwerden oder zur Unterstützung evidenter
faktoren, die Klassifizierung der betroffenen Patienten und therapeutischer Konzepte angewendet werden können.
die Zuordnung relevanter Befunde zu evidenten Therapie-
maßnahmen ist. Dieses Kapitel beschreibt ferner Optionen,
die nicht Gegenstand aktueller Leitlinien sind, und definiert 19.2 Physiotherapeutische Maßnahmen
Subgruppen, die von solchen Maßnahmen profitieren und ihre Evidenz
können. Neben der Darstellung der physiotherapeutischen
Maßnahmen im Einzelnen wird deren Bedeutung zusätzlich 19.2.1 Edukation und Instruktion
in den Kontext des jeweiligen Chronifizierungsstadiums ge-
stellt. Neben dem unspezifischen Nacken- und Rücken- Der Physiotherapeut unterstützt die Aufklärung des Pa-
schmerz wird auch der Symptomenkomplex »whiplash tienten durch den behandelnden Arzt und erläutert bzw.
associated disorders« angesprochen. Am Ende des Kapitels ergänzt diese bei Bedarf. Dabei wird insbesondere die
steht eine kritische Betrachtung der aktuellen Situation der Harmlosigkeit des Rückenschmerzes betont und der Pa-
Physiotherapie und der sich abzeichnenden Entwicklungen. tient bei der schnellstmöglichen Wiederaufnahme bzw. der
Aufrechterhaltung seines gewohnten Tagesablaufs und
seiner beruflichen Tätigkeit unterstützt. Dies kann verbal,
19.1 Einleitung durch schriftliche Information oder durch Zeigen und
Üben von relevanten Bewegungen – auch in Kleingruppen
Spätestens seit Veröffentlichung der niederländischen – geschehen. Es können unspezifische Bewegungen in-
Leitlinie für Rückenschmerz vor mittlerweile fast 20 Jahren struiert, ferner Tipps für die Ausführung erforderlicher
[25] ist die Physiotherapie auch in Deutschland Gegen- Alltagsaktivitäten gegeben werden. Das Phänomen des
stand intensiver Fachdiskussionen und in der Folge zentra- chronischen Schmerzes wird erläutert [10], um die Selbst-
ler Bestandteil zahlreicher interdisziplinärer Forschungs- wirksamkeitserwartung der Betroffenen zu fördern. Die
projekte. Dies wurde nicht zuletzt durch die Einrichtung Vermittlung von Copingstrategien spielt dabei eine bedeu-
der ersten forschungsorientierten Masterstudiengänge tende Rolle. Ferner wird das transtheoretische Modell [63]
begünstigt. Mittlerweile existieren mehrere Leitlinien, die zur Verhaltensänderung angewendet, um die Motivation
aufzeigen, welche Patienten mit Rücken- und Nacken- zur Verhaltensänderung in Bezug auf körperliche Aktivität
schmerzen in welcher Phase ihrer Erkrankung von Physio- zu fördern. Die psychosozialen Risikofaktoren werden im
therapie profitieren. Widersprachen sich diese anfänglich Sinne eines Screenings erfasst und in ihrer Entwicklung
noch in wesentlichen Inhalten [53], so zeichnet sich heute beobachtet. Von Bettruhe ist abzuraten. Der behandelnde
ein Konsens ab, der in den aktuellen Empfehlungen auch Arzt ist dahingehend zu unterstützen, dass zunächst keine
abgebildet ist. Dennoch herrscht große Unsicherheit darü- bildgebende Diagnostik durchgeführt wird; diese hat keine
ber, welche Maßnahmen aus einem ständig wachsenden therapeutische Konsequenz, ist aber eine vermeidbare
Pool physiotherapeutischer Techniken konkret angewen- Strahlenbelastung.
det werden sollen. Wie der Patient in der Praxis schließlich
untersucht und behandelt wird, scheint weiterhin über- jEvidenz
wiegend von der Präferenz der Betroffenen und der ver- Bettruhe ist in keiner Phase der Erkrankung indiziert [9].
ordnenden Ärzte, dem Weiterbildungshintergrund der Die Ermutigung zur Aufrechterhaltung normaler körper-
aufgesuchten Therapeuten und nicht zuletzt vom ver- licher Aktivität ist aufgrund der hohen Evidenz Bestandteil
fügbaren Budget abhängig zu sein. Aufgrund mangelnder aller Leitlinien für Rückenschmerz. Die Instruktion von
professioneller Standardisierung und interdisziplinärer aktiven Übungen ist vor allem bei chronischem Rücken-
Vernetzung können Ärzte, Betroffene und Kostenträger schmerz und bei denjenigen akuten Patienten sinnvoll, die
zum Zeitpunkt der Verordnung nicht absehen, nach bereits vor Beginn der Erkrankung ein niedriges Aktivi-
welchem Therapieplan in der Physiotherapie tatsächlich tätslevel aufwiesen oder die aufgrund der Beschwerden
verfahren werden wird [79]. Das Physiotherapierezept ver- ihre Aktivität bereits erheblich reduziert haben [12]. Die
schwindet aus Sicht der Verordnenden bildlich gesprochen schriftliche Information und Instruktion ist wirksam [23].
in einer Blackbox. Bei Nackenschmerzen sollte zusätzlich auf den güns-
Dieser Beitrag soll den an der Versorgung von Rücken- tigen Einfluss einer frühen Aktivierung (anstelle einer
patienten beteiligten Berufsgruppen eine Hilfestellung bei Immobilisation), eventuell auch einer allgemeinen sport-
232 Kapitel 19 · Physiotherapie

lichen Aktivitäten hingewiesen werden. Dabei soll zur täg- unmittelbar nach der Anwendung [31]. TENS-Anwen-
lichen Durchführung von Übungen geraten werden, die dungen können ebenfalls eher bei chronischen als bei aku-
Ausdauertraining (mind. 30 min), Muskelkräftigung und ten Patienten angewendet werden. Insgesamt ist die Litera-
Dehnung beinhalten. Einflussfaktoren wie Übergewicht, turlage nicht ausreichend für klare Empfehlungen zur
die subjektive Gesundheitseinstellung der Betroffenen und Elektrotherapie. Eine relevante Schmerzreduktion oder
chronischer Stress sollten erläutert werden, um die Patien- Funktionsverbesserung durch Wärmeanwendungen an
ten zu einer hilfreichen Verhaltensänderung zu motivie- der Halswirbelsäule konnte nicht nachgewiesen werden.
ren. Gleichzeitig sollte aber im Dialog eine realistische
Prognose für den Krankheitsverlauf vermittelt werden. Die
limitierenden Einflüsse einer bestehenden Schwanger- 19.2.3 Massage
schaft, unvermeidlicher schwerer körperlicher Arbeit (be-
sonders bei Bauarbeitern und Krankenschwestern), eines Massage ist die passive mechanische Behandlung palpato-
höheren Lebensalters und bestehender Komorbiditäten risch erreichbarer Gewebsschichten. Dabei werden die klas-
sollten dabei berücksichtigt werden. sischen Techniken Streichungen, Knetungen, Reibungen,
Vibrationen und Schüttelungen eingesetzt mit dem Ziel,
mechanische, biochemische, reflektorische, psychologische
19.2.2 Thermo-, Hydro- und Elektrotherapie und immunmodulierende Effekte auszulösen [55]. Die Son-
derformen der Massage sowie die Reflexzonentherapie sind
Aus diesem Bereich der physikalischen Therapie werden nicht Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und
bei Patienten mit Rückenschmerzen überwiegend Wärme folglich auch nicht in den Empfehlungen abgebildet.
und elektrotherapeutische Verfahren angewendet. Letztere
lösen im nieder- und mittelfrequenten Bereich einzelne jEvidenz
oder tetanische Muskelkontraktionen aus, sollen auf Massage soll bei akutem Rückenschmerz nicht ange-
diesem Wege Mechanorezeptoren aktivieren und so die wendet, kann jedoch bei subakutem und chronischem
Schmerzleitung auf spinaler Ebene hemmen. Alle Verfah- Rückenschmerz in Verbindung mit Bewegungstherapie [9]
ren zielen zudem auf eine Hemmung der Reizleitung in eingesetzt werden. Sie sollte mit aktiven Übungen und
den peripheren Axonen sowie auf eine Anhebung des Re- Edukation kombiniert werden [35].
zeptorpotenzials ab. Infolge der Histaminausschüttung Bei Nackenschmerz kann die Anwendung von
kommt es ferner zu einer Mehrdurchblutung und konse- Massagetherapie allein nicht empfohlen werden. In Ver-
kutiver Wärmeentwicklung im Gewebe. Dies wird vor bindung mit Lymphdrainage, aktiven Übungen, Traktion
allem mit den hochfrequenten Verfahren aus dem Spek- und Mobilisation sowie im Rahmen multimodaler Pro-
trum der Elektrotherapie, aber auch durch direkte Wärme- gramme ist sie jedoch wirksam [21].
zufuhr mit Packungen oder Wärmepflastern bewirkt. Über
die Durchblutungssteigerung und den Haut-Muskel-
Reflex kommt es zu einer Entspannung der Muskulatur. 19.2.4 Progressive Muskelrelaxation

jEvidenz Bei der progressiven Muskelrelaxation werden einzelne


Bei Rückenschmerz sollen nicht angewendet werden: Muskeln in einer bestimmten Reihenfolge zunächst iso-
Interferenztherapie, perkutane elektrische Nervenstimula- metrisch angespannt, die Muskelspannung dann kurz ge-
tion (PENS) und transkutane elektrische Nervenstimula- halten und anschließend die Spannung gelöst. Die
tion (TENS), Kurzwellendiathermie, Laser- und Magnet- Aufmerksamkeit der Person wird dabei auf den Wechsel
feldtherapie. Als alleinige Therapieoptionen sind sie nicht zwischen An- und Entspannung gerichtet und auf die
wirksam. Bei bestimmten Patienten können Maßnahmen Wahrnehmungen, die mit den unterschiedlichen Span-
der Elektrotherapie jedoch optional eingesetzt werden, um nungszuständen einhergehen. Ziel des Verfahrens ist eine
19 körperliche Aktivität zu ermöglichen oder ihre Aufrecht- Absenkung des Muskeltonus. Wirksam ist dabei die posti-
erhaltung zu erleichtern [9]). Wichtig ist dabei jedoch sometrische Relaxation, die jeder Anspannung folgt. Der
keine Fokussierung auf passive Maßnahmen, um damit Patient soll lernen, jederzeit Entspannung und auf diesem
eine Minderung der Selbstwirksamkeitserwartung zu ver- Wege Schmerzlinderung herbeizuführen.
hindern. Wärmepflaster sind ebenso wirksam wie Parace-
tamol [17]. jEvidenz
Bei chronischem Nackenschmerz verspricht die An- Die Leitlinien empfehlen progressive Muskelrelaxation bei
wendung pulsierender Magnetfelder (»pulsed electro mag- drohender Chronifizierung und bei chronischem nicht-
netic fields«, PEMF) eine kurzfristige Schmerzlinderung spezifischem Rückenschmerz [9].
19:2 · Physiotherapeutische Maßnahmen und ihre Evidenz
233 19
Eine generelle Aussage zur Anwendung von progres- jEvidenz
siver Muskelrelaxation bei Nackenschmerz ist aufgrund Mobilisation und Manipulation können optional bei
der aktuellen Literaturlage nicht möglich. Die postiso- akutem und subakutem Rückenschmerz als alleinige Maß-
metrische Relaxation wird dagegen bei schmerzhafter Ein- nahme angewendet werden, bei chronischem Rücken-
schränkung der Lateralflexion empfohlen. schmerz in Kombination mit Bewegungstherapie [9]. Beim
spezifischen Rückenschmerz können bei allen nicht-
radikulären Dysfunktionen, die mit einer schmerzhaften
19.2.5 Manuelle Therapie Bewegungseinschränkung einhergehen, Mobilisations-
techniken angewendet werden [7]. Manuelle und appara-
Unter dem Begriff manuelle Therapie ist eine Vielzahl von tive Traktion ist als alleinige Maßnahme bei nichtspezifi-
Konzepten subsummiert, denen unterschiedliche Theori- schem Rückenschmerz unwirksam [15]. Um einschätzen
en zugrunde liegen. Das Maitland-Konzept beeinflusst in zu können, ob eine zervikale Radikulopathie vorliegt,
erster Linie durch passive Bewegungen von Gelenken und wird im Rahmen einer »clinical prediction rule« [98] emp-
Nerven die Symptome der Patienten. Das McKenzie- fohlen, den neuralen Spannungstest, den Spurling-Test
Konzept zielt mit wiederholten (meist Extensions-) Be- (Kompression der Foramina intervertebralia), die Be-
wegungen auf eine Zentralisierung des Schmerzes ab. Das weglichkeit in ipsilateraler Rotationsrichtung und die zer-
Cyriax-Konzept behandelt sog. weiche Protrusionen vikale Traktion zu prüfen. Als sicherer Hinweis auf eine
(Bandscheibe) mit Traktion, die harten Protrusionen radikuläre Symptomatik wird es gewertet, wenn die beiden
(Facette) mit Manipulationen. Das Kaltenborn-Evjenth- genannten Provokationstests zum Auftreten oder einer
Konzept wendet nach biomechanischen Prinzipien gerad- Verstärkung der Symptome führen, die Rotation einge-
linige passive (translatorische) Bewegungen an, um die schränkt ist und gleichzeitig die Traktion eine Linderung
normale Gelenkfunktion wieder herzustellen, und integ- bewirkt. Daher sollte die therapeutische Nutzung der Trak-
riert die Prinzipien des Cyriax-Konzepts. Die Therapie tion bei unspezifischem Nackenschmerz nicht kategorisch
nach Mulligan kombiniert die passiven translatorischen ausgeschlossen werden. Unter bestimmten Voraussetzun-
Techniken mit aktiven Bewegungen. Muskeldehnungen gen und in Kombination mit anderen Maßnahmen kann
und -kräftigungen werden in den meisten Konzepten der sie – wie auch bei spezifischem Rückenschmerz – wirksam
manuellen Therapie angewendet. Die Wirksamkeit aller sein.
etablierten Verfahren ist gut belegt, wobei im Lichte Bei subakutem und chronischem Nackenschmerz ist
wissenschaftlicher Literatur bislang keines der Konzepte die manuelle Therapie (Mobilisation und Manipulation) in
seine Überlegenheit nachweisen konnte. Inwieweit die Verbindung mit physiotherapeutischen Maßnahmen wirk-
Techniken in Bezug auf die Richtung, die Ausrichtung auf sam [21]. Dabei bleibt unklar, welches der wirksam(st)e
eine anatomische Struktur und die Begrenzung der ein- Teil dieser Kombinationsform ist. Angesichts des Kompli-
wirkenden Kraft auf ein Gelenk spezifisch sein müssen, ist kationsrisikos sollten Mobilisationstechniken den Mani-
ebenfalls unklar. Die Belege für die von den unterschied- pulationstechniken vorgezogen werden. Wirkungsnach-
lichen Schulen zitierten Wirkungsmechanismen fehlen weise für Traktionsbehandlungen fehlen.
weitestgehend.
Im Wesentlichen nutzt die manuelle Therapie ein
weites, aber gut definiertes Spektrum von Techniken, die 19.2.6 Aktive Übungen/Bewegungstherapie/
mit oder ohne Impuls als Mobilisation oder Manipulation Training
ausgeführt werden können, um das Bewegungsausmaß zu
erweitern. Unabhängig davon, ob eine Mobilisationstech- Hier müssen nach der Intensität der Behandlung ver-
nik auf den Kapselbandapparat (Gelenkmobilisation), schiedene Formen aktiver dynamischer Übungen unter-
das intramuskuläre Bindegewebe – die Faszikel – (Endo-, schieden werden. Als aktive Übungen bezeichnet man
Epi- oder Perimysium) und die Faszien der Muskulatur prinzipiell zunächst alle Anwendungen, bei denen unter
(Muskeldehnung), auf neurale Strukturen (Endo-, Epi- Einfluss der quergestreiften Muskulatur eine sichtbare Be-
und Perineurium ) und Meningen oder deren Grenz- wegung entsteht.
flächen (Neuralmobilisation) abzielt – es wird prinzipiell Die unterschwelligen Formen aktiver Übungen – be-
auf kollagenes Bindegewebe Einfluss genommen, um eine zogen auf die Adaptationsvorgänge im Sinne einer Hyper-
Verbesserung der Beweglichkeit und eine Schmerzlinde- trophie – werden im Allgemeinen als Bewegen im
rung zu erreichen. Dabei kommt es durch die im Gewebe schmerzfreien Bereich bezeichnet. Die wirksamen Prinzi-
erzeugte Spannung zu einer Freisetzung von Kollagenase pien sind dabei vor allem der Gate-control-Mechanismus
und hierdurch zum Lösen von pathologischen Cross- und die Aktivierung des antinozizeptiven Systems, das von
links [3]. hemmenden Zentren des Mittelhirns absteigt. Mit dieser
234 Kapitel 19 · Physiotherapie

Übungsform werden in erster Linie die Ziele der Schmerz- jEvidenz


linderung und des Erhalts vorhandener Beweglichkeit Aktive Übungen (und klassische Krankengymnastik) sind
verfolgt. bei akutem Rückenschmerz nicht zu empfehlen, bei
Unter Ausnutzung propriozeptiver Reize, verbaler chronischem unspezifischem Rückenschmerz sind sie je-
Instruktion und geeigneter Feedbacksysteme können ge- doch wirksam [9].
hemmte oder inaktive lokal wirksame Muskeln reaktiviert Bei Nackenschmerz werden aktive Übungen im
und im Dienste der Stabilisierung von Wirbel- oder Ex- Rahmen der Physiotherapie nach einer 4-wöchigen Per-
tremitätengelenken wieder in die entsprechenden Be- sistenz der Beschwerden empfohlen. In der chronischen
wegungsmuster integriert werden. Durch diese sog. fazili- Phase der Erkrankung zeigen sie in Kombination mit
tierenden Übungen wird die muskuläre Kontrolle von manueller Therapie eine mindestens 3 Monate anhaltende
Gelenken ermöglicht und die Voraussetzung für Übungen Wirkung. Insgesamt ist die Anwendung aktiver Maß-
zur Verbesserung der Kraftausdauer und Maximalkraft nahmen wirksamer als die Anwendung passiver [21].
geschaffen.
Zur gezielten Kräftigung ansteuerbarer Muskeln wer-
den in verschiedenen Ausgangsstellungen, mit variablen 19.2.7 Rückenschule
Hebeln und Unterstützungsflächen, manuellen Wider-
ständen und durch den Einsatz von Kleingeräten Übungen Die Konföderation deutscher Rückenschulen hat die In-
instruiert, um durch eine zu ermittelnde Anzahl von halte dieser Maßnahme 2006 im Lichte des biopsycho-
Wiederholungen (Wiederholungsmethode) oder Ge- sozialen Krankheitsmodells neu definiert. Danach sollen
wichten den optimalen Trainingsreiz für die Kräftigung die teilnehmenden Patienten Bewegungstechniken, Bewe-
der Muskulatur zu setzen. Derartige Übungen sind in der gungsabläufe und Bewegungskontrolle kennenlernen,
Regel Bestandteil jeder Behandlung und bedürfen keiner Selbststeuerungskompetenzen und bewegungsbezogene
besonderer Ausstattung oder Qualifikation. Diese Leis- Selbstwirksamkeit aufbauen, Bewegungsfreude und posi-
tung kann folglich in jeder physiotherapeutischen Praxis tive Körpererfahrung erleben. Sie sollen weiterhin befähigt
erbracht werden. werden, die Inhalte der Rückenschule stärker in den Alltag
Werden spezielle Geräte genutzt, so ist die Verordnung und als Ausgleich oder Ergänzung zu beruflichen Be-
von Krankengymnastik mit Gerät erforderlich. Hierfür lastungen zu integrieren, soziale Unterstützung aufzu-
benötigen die behandelnden Therapeuten eine gesonderte bauen und Barrieren gegen die Umsetzung zu erkennen
Zulassung. Bei dieser Form der medizinischen Trainings- und zu überwinden. Ferner soll die Rückenschule zusätz-
therapie kommen entweder mechanische Geräte zum liche Bewegungsangebote, z. B. Walking- und Lauftreffs,
Einsatz, wobei das eingestellte Gewicht den Reiz dosiert initiieren bzw. zur Nutzung von Angeboten bestehender
(auxotonisch). Alternativ kann der Widerstand des Trai- oder aufzubauender Netzwerke ermutigen [30].
ningssystems gegen die Bewegung auf elektronischem
Wege über die Festlegung der Winkelgeschwindigkeit (iso- jEvidenz
kinetisch) gesteuert werden. Dadurch wird ein gezieltes Rückenschule ist bei chronischem und rezidivierendem
Krafttraining nach den Prinzipien der Trainingslehre Rückenschmerz wirksam, wenn sie zeitlich befristet und
möglich. in Verbindung mit dem oder am Arbeitsplatz eingesetzt
Steht die Verbesserung der Kraft- und allgemeinen wird [9, 43]. Zur Wirksamkeit der Rückenschule bei
Ausdauer im Vordergrund der Behandlung, so werden im Nackenschmerzen liegen keine Daten vor. Aufgrund des
Rahmen der oben beschriebenen Trainingstherapie Zusammenhangs zwischen der Position der Brust- und
niederschwellige Reize mit hohen Wiederholungszahlen Lendenwirbelsäule und der Aktivität der Nackenmuskula-
für die Muskulatur gesetzt und zusätzlich ein gezieltes tur [11] kann man jedoch bei chronischem Nackenschmerz
Ausdauertraining für das kardiopulmonale System ein- analog zum Rückenschmerz diese Option in Erwägung
bezogen. ziehen – vor allem bei überwiegend sitzend tätigen Pa-
19 Eine besondere Form aktiver Übungen ist das »work tienten.
hardening«. Hier werden Bewegungsabläufe aus dem
Arbeitsalltag der Patienten simuliert und mit hoher
Wiederholungszahl und Belastung geübt. Derartig ausge- 19.2.8 Kognitive Verhaltenstherapie
stattete Behandlungsstätten sind nur an wenigen Stellen im
Bundesgebiet vorhanden. Sie müssen spezifisch auf die Das Ziel der Verhaltenstherapie ist vor allem bei Beeinflus-
Ausübung bestimmter Berufstätigkeiten ausgerichtet sein. sung krankheitsförderlicher »maladaptiver« Gedanken,
Gefühle und Verhaltensweisen und damit eine Modulation
des Schmerzerlebens sowie pathologischer Empfindungen
19.4 · Physiotherapie im interdisziplinären Assessment
235 19
[42]. Prinzipiell unterscheidet man den operanten, den 19.3 Klassifizierung
kognitiven und den konfrontativen Ansatz. Bei der
operanten Konditionierung erlernt der Patient Reiz- Die biochemischen Prozesse, die bei Persistenz der Be-
Reaktions-Muster. Bei der kognitiven Verhaltenstherapie schwerden zum Vollbild des chronischen Rückenschmer-
werden zunächst Gedanken bewusst gemacht. Dann wird zes mit körperlicher, psychischer und sozialer Beeinträch-
logisch überprüft, ob die Schlussfolgerungen berechtigt tigung führen, laufen bereits wenige Stunden nach Auftre-
sind, um schließlich unangemessene Bewertungen zu ten des Schmerzes an. Welchen Verlauf die Erkrankung
korrigieren. Mit dieser neu gewonnen Einstellung soll nimmt, wird von mehreren Faktoren beeinflusst und ist
künftiges Verhalten moduliert werden. Die Konfronta- interindividuell variabel. Die etablierten Klassifizierungs-
tionstherapie besteht darin, dass der Patient zur Desensi- modelle basieren überwiegend auf der anamnestischen
bilisierung wiederholt der angstauslösenden Situation, den Feststellung der Beschwerdedauer und können das Sta-
Bewegungen, Gegebenheiten oder auch Gegenständen, die dium der Erkrankung und das Vorliegen einer Chronifi-
diese Angstzustände jeweils auslösen, ausgesetzt wird [95]. zierung sowie deren Ausprägungsgrad daher lediglich nä-
Dies ist primär Aufgabe des psychologischen Schmerz- herungsweise erfassen. Wenngleich sich die Empfehlungen
therapeuten, sollte aber durch den Physiotherapeuten der aktuellen Leitlinien auf klinische Untersuchungen
unterstützt werden. Insofern soll dieser während der Be- stützen, die genau diese Klassifizierung nutzten, sollte je-
handlung seine Patienten dahingehend unterstützen, dass doch bei der Auswahl konkreter physiotherapeutischer
sie nichthilfreiche Strategien (z. B. verleugnen oder beten Maßnahmen eine differenziertere Betrachtung versucht
und hoffen) möglichst nicht nutzen und stattdessen aktive werden. Insbesondere die Identifizierung subakuter Pa-
und hilfreiche Strategien (z. B. umbewerten oder eine tienten ist von großer Bedeutung, da diese Personengruppe
Strategie entwickeln) erlernen und vermehrt einsetzen. am deutlichsten von einer spezifischen Behandlung durch
qualifizierte Physiotherapeuten profitiert [9]. Im Sinne der
jEvidenz Überlegungen von Raspe ist daher zu fordern, dass neben
Die Verhaltenstherapie ist wirksam bei chronischem zeitlichen und räumlichen auch körperliche und psychi-
Rückenschmerz. Dabei können die verschiedenen Me- sche Aspekte in die klinische Präsentation der Patienten
thoden prinzipiell als gleich wirksam angesehen werden einbezogen werden [52]. Aus pragmatischen Gründen
[9, 42]. empfiehlt sich vor allem die Einbeziehung des Mainz Pain
Für die Anwendung bei Nackenschmerz gibt es aktuell Staging Systems (MPSS) sowie die Schmerzmessung bei
keine ausreichende Evidenz. der Beweglichkeitsprüfung (. Abb. 19.1).
Alle Personen, die seit mehr als 4 Wochen unter
Rückenbeschwerden leiden, jedoch auf den Achsen 2–4 des
19.2.9 Biopsychosoziale Rehabilitation MPSS nur die Mindestpunktzahl erreichen und somit keine
sicheren Zeichen der Chronifizierung im engeren Sinne
Persistierender Rückenschmerz führt zu Beeinträchtigun- aufweisen, sollten mit spezifischen Maßnahmen behandelt
gen im körperlichen und psychischen Bereich sowie im werden, die bei subakuten Patienten indiziert sind. Rücken-
sozialen Umfeld und am Arbeitsplatz. Die Physiotherapie patienten, die bei der Beweglichkeitsprüfung keine Schmer-
im Setting der psychosozialen Rehabilitation sollte daher zen angeben, werden als rezidivierend eingestuft. Hier soll-
über die für chronischen Schmerz beschriebenen physika- ten prinzipiell die Behandlungsprinzipien und Maßnahmen
lischen Interventionen hinaus psychologische und ver- für chronische Patienten und zusätzlich spezifische Techni-
haltenstherapeutische Elemente sowie Schulungsmaßnah- ken wie bei subakuten Patienten angewendet werden.
men beinhalten und auf einer ganzheitlichen Betrachtung
des Patienten fußen. Diese Rehabilitation wird in Tages-
kliniken, in Schmerzzentren oder -kliniken sowie in Reha- 19.4 Physiotherapie im interdisziplinären
bilitationszentren angeboten und bedarf einer umfang- Assessment
reichen interdisziplinären Vernetzung.
Es existieren keine verbindlichen Standards für die physio-
jEvidenz therapeutische Untersuchung von Patienten mit Rücken-
Die biopsychosoziale Rehabilitation ist wirksam bei sub- beschwerden. In den verschiedenen Schulen und Einrich-
akutem [50] und chronischem Rückenschmerz [9], die tungen der Krankenversorgung wird eine Vielzahl von
Evidenz ist jedoch nur bei chronischem Rückenschmerz Befundschemata genutzt, die aber in der Regel nicht auf die
sicher. Gütekriterien für Tests überprüft sind, sondern vielmehr
Für den Einsatz bei Nackenschmerz gibt es keine aus- die Philosophie des jeweils angewendeten physiotherapeu-
reichende Evidenz. tischen Konzepts widerspiegeln.
236 Kapitel 19 · Physiotherapie

Schmerz-
< 4 Wochen Akut
beginn

≥ 4 Wochen MPSS

Achse 1 > 3
Achse 2 = 1
Subakut
Achse 3 = 2
Achse 4 = 4

Schmerz
Chronisch
>0

Achse 1 > 3
und Summe der ROM
Achse 2 bis 4 > 7

Schmerz
Rezidivierend
=0

. Abb. 19.1 Klassifizierung zur Identifikation von Personengruppen, die mit spezifischen Techniken behandelt werden sollten

Die Grundlage der physiotherapeutischen Unter- zwischenzeitlich eine Beeinträchtigung des Nervensystems
suchung ist das ICF-Core-Set »low back pain« (ICF = (s120) aufgetreten ist. So sind Paresen inspektorisch, anam-
International Classification of Functioning, Disability, and nestisch und durch Prüfung der Kennmuskeln und Reflexe
Health) [13]. Die individuelle Auswahl der infrage kom- auszuschließen. Das Lasègue-Zeichen ist ebenfalls zu prü-
menden Inhalte und der daraus resultierende Umfang die- fen. Anzeichen auf weitere »red flags« wie Infektionen,
ses Assessments richten sich vor allem nach dem Setting, Tumoren und Frakturen (s760) sind gezielt zu erfragen
in dem der Patient aktuell versorgt wird, nach dem Sta- (NVL [9]). Eine ursächliche oder zusätzliche Beteiligung der
dium der Erkrankung und seinen Alltags-, Berufs- und Hüft- oder Iliosakralgelenke am Rückenschmerz ist durch
Freizeitaktivitäten. Im Akuthaus (bei akuten Patienten) eine valide manuelle Untersuchung auszuschließen (s770).
steht meist die Beurteilung der Körperstrukturen und Hierfür eignen sich besonders Provokationstests. Entspre-
-funktionen im Vordergrund, im ambulanten Sektor (sub- chend der Untersuchung von Laslett sollten zum Ausschluss
akute und chronische Patienten) die Beurteilung von Kör- des Iliosakralgelenks der Sacral-thrust-Test (. Abb. 19.2),
perfunktionen und Aktivitäten sowie der Partizipation. Im der Tight-thrust-Test (. Abb. 19.3), Distraction-Test
Rehabilitationsbereich (akute und chronische Patienten) (. Abb. 19.4), Compression-Test (. Abb. 19.5) und der Ga-
wird der Schwerpunkt auf der Beurteilung von Aktivitäten enslen-Test (. Abb. 19.6) durchgeführt werden [57].
und Partizipation sowie auf Umweltfaktoren liegen. Um- Solange nicht mindestens 3 dieser Tests den beklagten
weltfaktoren werden in der Regel von anderen Berufsgrup- Rückenschmerz reproduzierbar auslösen, ist eine Beteili-
pen (z. B. Pflege-, Sozial- oder ärztlicher Dienst) beurteilt. gung des Iliosakralgelenks unwahrscheinlich [57], bei
Aufgrund des zeitintensiven und engen Kontakts erhalten einem negativen Faber- oder Innenrotationstest (aus 90°
19 Physiotherapeuten von ihren Patienten jedoch aussage- Flexion; . Abb. 19.7) die Beteiligung des Hüftgelenks [64].
fähige Informationen über Aspekte, die die Interaktion mit Weiterhin wird die Anwendung des Oswestry-disabili-
der Familie (ICF-Code e310 und e410, siehe . Tab. 19.1) ty-Index (ODI) empfohlen. Dadurch können valide und
und anderen an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen reliable Informationen zur Fähigkeit zu schlafen (b134),
(e355 und e450) betreffen. sich zu waschen (d530) und zu kleiden (d540) erhoben
Zwischen der Erstvorstellung eines Rückenpatienten werden; ferner über die Schmerzempfindung (b280), die
beim Arzt und beim Physiotherapeuten liegen oft mehrere Fähigkeit zu sitzen und zu stehen (d415), zu gehen (d450),
Tage. Aus diesem Grunde sollte in der ersten physiothera- Gegenstände zu heben und zu tragen (d430) und familiäre
peutischen Sitzung zunächst ausgeschlossen werden, dass Beziehungen zu unterhalten (d760). Je nach Setting und
19.4 · Physiotherapie im interdisziplinären Assessment
237 19

. Abb. 19.2 Sacral-thrust-Test. (Aus Wolf [97]; mit freundlicher . Abb. 19.3 Tight-thrust-Test. (Aus Wolf [97]; mit freundlicher
Genehmigung) Genehmigung)

. Abb. 19.4 Distraction-Test. (Aus Wolf [97]; mit freundlicher . Abb. 19.5 Compression-Test. (Aus Wolf [97]; mit freundlicher
Genehmigung) Genehmigung)

. Abb. 19.6 Gaenslen-Test. (Aus Wolf [97]; mit freundlicher . Abb. 19.7 Innenrotationstest. (Aus Wolf [97]; mit freundlicher
Genehmigung) Genehmigung)

Chronifizierungsrisiko kann auch die Hospital Anxiety Der Örebro-Fragebogen dient insbesondere der Ein-
and Depression Scale (HADS) zu Einsatz kommen: Hier schätzung des Chronifizierungsrisikos und kommt daher
werden Antrieb und Energie (b130) sowie die für die Chro- besonders in der subakuten Phase zum Einsatz. Er greift
nifizierung relevanten Risikofaktoren Depressivität und die genannten Items des ODI (mit Ausnahme des Sich-
Ängstlichkeit (b152) erfasst. Waschens und -Kleidens) ebenfalls auf, screent aber
238 Kapitel 19 · Physiotherapie

zusätzlich den Umgang mit Stress und psychologische An- physiotherapeutische Praxis der Sorensen-Test an, sofern
forderungen (d240), die Fähigkeit, Hausarbeit (d640) und der Patient in der Lage ist, ihn auszuführen [16, 19]. Die für
eine Berufstätigkeit auszuüben (d640-659), sowie die die medizinische Trainingstherapie (Gebührenposition
Übungstoleranz (b455). Für Letzteres eignet sich die Back Krankengymnastik am Gerät) vorhandene Ausstattung
Performance Scale als Instrument zur Fremdtestung [62]. kann genutzt werden, um die Maximalkraft zu bestimmen.
Die Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule (b710) kann Bei der lumbalen Stabilität spielen der Transversus
besonders zuverlässig in der sagittalen Ebene ermittelt abdominis und die Mm. multifidi eine besondere Rolle.
werden. Zur Bestimmung der Flexion kann der Finger- Deren Kraft und Ausdauer (b740) können überprüft
Boden-Abstand gemessen und der modifizierte Schobert- werden, indem der Patient auf einer modifizierten Blut-
Test [76] verwendet werden. Letzterer erlaubt auch eine druckmanschette einen Druck von 40 mmHG aufbaut und
Aussage über die Beweglichkeit in Extensionsrichtung. Zur während dieser Anspannung die Hüftgelenke von 70° auf
Messung der Rotation und Lateralflexion empfiehlt sich 90° und wieder auf 70° Hüftbeugung bewegt, ohne dass der
die Verwendung eines einfachen Inklinometers [24]. Die Druck dabei um mehr als 2 mmHG schwankt [46].
passive segmentale Beweglichkeit der Wirbelsäule kann Der Muskeltonus wird palpatorisch beurteilt (b735).
mit Techniken der manuellen Therapie überprüft werden. Schmerzbedingt findet man meist einen erhöhten Tonus
Derartige Tests sind zwar an der Lendenwirbelsäule nicht der oberflächlichen Muskulatur, wohingegen die tieferen
ausreichend zuverlässig [90], die Güte lässt sich jedoch Schichten (der Palpation dann meist nicht zugänglich) im
durch die Verwendung mehrerer Tests [57], durch Üben Tonus herabgesetzt sind. Klinisch erklärt sich hieraus das
mit Feedback [18] und durch die Anwendung in Kombi- Phänomen der sog. steilgestellten oder entlordosierten
nation mit Provokationstests verbessern [8]. Die Erfahrung Lendenwirbelsäule.
des Untersuchers ist ebenfalls ausschlaggebend für die Zu- Neben Selbstbeurteilungen ist auch eine Funktionstes-
verlässigkeit [67]. tung durch einen Untersucher erforderlich. Ein geeignetes
Bei der aktiven und passiven Beweglichkeit der Instrument stellt hier die Back Performance Scale [62] dar.
Lendenwirbelsäule imponieren Hypermobilitäten und Mit ihr werden 5 relevante Alltagsfunktionen (im Sitz die
Instabilitäten. Um die Stabilität der Wirbelsäulensegmente eigenen Zehen ergreifen, sich aus Rückenlage zum Lang-
(b715) jedoch gezielter zu beurteilen, kann der Prone- sitz aufsetzen, der Finger-Boden-Abstand bei maximaler
Instability-Test angewendet werden [32]. Dabei wird über- Flexion der Lendenwirbelsäule im Stand, ein Papierknäuel
prüft, ob ein schmerzhaftes Gleiten eines Wirbels nach von Boden aufheben, 5 kg während einer Minute so oft wie
anterior muskulär kompensiert werden kann. Bei hohen möglich auf Hüfthöhe anheben) beurteilt und anhand
Schmerzintensitäten ist der Test jedoch nicht durchführbar. eines Punktescores bewertet (d410).
Einen ungefähren Eindruck über die generelle Beweg- Für die Halswirbelsäule existiert kein ICF-Core-Set.
lichkeit eines Patienten vermittelt die Beighton-Skala [84]. Andelic hat jedoch durch Befragung von 249 ambulanten
Dabei wird die Überstreckbarkeit beider Zeigefinger, Patienten mit Nackenschmerz erhoben, welches die rele-
Grundgelenke, der Daumen, Sattelgelenke, sowie der vantesten Beeinträchtigungen für diesen Personenkreis
Ellenbogen- und Kniegelenke und die übermäßige Bewe- sind [1]. Danach spielt die Funktion des Schlafs beim
gung der Lendenwirbelsäule in Flexion (die Handflächen Nackenschmerz eine wesentlich größere Rolle als beim
berühren beim stehenden Patienten den Boden) mit einem Rückenschmerz. Ergänzend müssen ferner die Nutzung
Punkt bedacht. Werte ab 4 von 9 Punkten weisen auf eine von Kommunikationsmedien, die Fähigkeit zur Erholung
generalisierte Überbeweglichkeit hin, die im Rahmen be- und Freizeitgestaltung sowie das Autofahren beurteilt
stimmter Erkrankungen (z. B. Kollagenosen) auftreten werden. Wenig häufig beklagt werden dagegen Beeinträch-
oder antrainiert sein können (z. B. bei Turnerinnen). tigungen bei der Körperpflege sowie beim An- und Aus-
Die Überprüfung der Muskelkraft (b730) ist bei be- kleiden. Anamnestisch kann daher in gleicher Weise vor-
stehendem Rückenschmerz ebenfalls nur eingeschränkt gegangen werden wie beim Rückenschmerz.
möglich. Zudem ist unklar, ob Patienten mit schwacher Beim Nackenschmerz ist analog zum Rückenschmerz
19 Muskulatur gefährdeter sind, Rückenschmerz zu ent- bei der Erstvorstellung zunächst eine Kompressionssymp-
wickeln, oder ob die Abschwächung erst durch die reflek- tomatik des Nervensystems (s120) auszuschließen. Ent-
torische Hemmung der Muskulatur nach dem Auftreten sprechend wären die Kennmuskeln und Reflexe der oberen
des Schmerzes entsteht. Insbesondere bei Kindern wird Extremität zu prüfen. Ferner die »clinical prediction rule«
der Matthiass-Test häufig angewendet. Dieser ist jedoch in für eine radikuläre Symptomatik [94]: Sind der ULNNT 1
Bezug auf seine Reliabilität unzureichend. Ferner besteht (»upper limb neural tension test«) und der Spurling-Test
kein sicherer Zusammenhang zwischen den Ergebnissen positiv und die Rotation zur betreffenden Seite auf unter
dieses Tests und der tatsächlichen Kraft der Rücken- 60° eingeschränkt und gibt der Patient eine Erleichterung
muskulatur. Aus Sicht der Gütekriterien bietet sich für die durch manuelle Traktion an, so besteht der dringende Ver-
19.5 · Weitere physiotherapeutische Optionen
239 19
dacht auf eine radikuläre Symptomatik. Anderenfalls gilt Schritten. Es wird der erreichte maximale Druckwert
diese Diagnose als unwahrscheinlich. Der Ausschluss wei- notiert, der entsprechend lange gehalten werden konnte.
terer »red flags« (s720) erfolgt anamnestisch. Anstelle des Zur Beurteilung der passiven Stabilität kann für den Kopf-
Iliosakral- und Hüftgelenks beim Rückenschmerz ist bei gelenkbereich die Kombination aus dem Test für das
Nackenbeschwerden die Schulter (s770) als mögliche Ligamentum transversum und die Ligamenta alaria sowie
Quelle der Beschwerden auszuschließen. Hierzu eignet dem Traktionstest verwendet werden [96]. Die Bestim-
sich für Affektionen der Rotatorenmanschette vor allem mung der groben Kraft der Nacken- und Halsmuskulatur
der Painful Arc, der Widerstandstest für die Außenrotato- kann mittels einfacher Dynamometrie (»hand-held dyna-
ren sowie der Empty-can-Test. Führt man zusätzlich zu mometers«) erfolgen [36]. Der Muskeltonus wird palpato-
diesen 3 Tests den Kennedy-Hawkins- und Neer-Test risch beurteilt (b735).
durch, so gilt die Diagnose eines subakromialen Impinge- Zur Bestimmung der Funktionskapazität sollte der
ments als wahrscheinlich, wenn mindestens 3 Tests positiv zervikale PILE-Test (d410) eingesetzt werden. Dabei wird
sind [66]. beurteilt, welches Gewicht der Patient von Hüft- auf
Relevante Funktionen sowie partizipationsbezogene Schulterhöhe anheben kann [56].
Aktivitäten werden beim Nackenschmerz idealerweise mit- . Tab. 19.1 gibt einen Überblick über geeignete Tests
hilfe der deutschen Version der Neck Pain and Disability zur Beurteilung der relevanten ICF-Kriterien.
Scale [21] erfasst, da dieser Fragebogen den größten Teil der
in der Kurzversion des ICF-Core-Sets genannten Fähigkei-
ten erfragt. Erhoben werden die Schmerzintensität (b280), 19.4.1 Zusammenfassung
die Fähigkeit zu schlafen (b134), zu stehen (b415), zu gehen
(b450) und Auto zu fahren (d475); ferner die Fähigkeit, den Aus dem Assessment, das mithilfe der genannten Tests
Alltag (d640), Erholung (d920) und Arbeit (d845) zu gestal- durchgeführt wurde, werden gezielt Behandlungsmaßnah-
ten, zu essen (d550) und die Körperpflege selbstständig men abgeleitet. Sofern zur Wiederherstellung der beein-
durchzuführen (Waschen d510, An- und Auskleiden d540). trächtigten Fähigkeiten keine Evidenzen für physiothera-
Beeinträchtigungen bei der Arbeit (d845), von persönli- peutische Maßnahmen untersucht oder nachgewiesen
chen Beziehungen zu Familienmitgliedern (d760) und wurden, erfolgt die Behandlung nach den Erkenntnissen
Freunden (d710) sowie in der Sexualität (d770) werden und Prinzipien der »best practice«.
ebenfalls beschrieben. Zur Erfassung der höchst relevanten Die beschriebene Vorgehensweise wird durch die gel-
Faktoren Ängstlichkeit und Depressivität (b152) empfiehlt tenden Rahmenverträge für die Leistungserbringung
sich auch bei Patienten mit Nackenschmerz der HADS-D durch Physiotherapeuten in der GKV sowie durch den
[45], ggf. ergänzt durch den Örebro-Fragebogen [59] zur Heilmittelkatalog massiv behindert, wenn nicht gar ver-
Erfassung des Chronifizierungsrisikos. hindert. Aufgrund der gedeckelten Anzahl von Behand-
Die Beweglichkeitsprüfung (b710) sollte routinemäßig lungen und der kurzen Behandlungsdauer, die sich aus der
mit dem Cervical-Range-of-Motion-Instrument (CROM) geringen Vergütung ergibt, ist im ambulanten Setting eine
erfolgen. Es misst die aktive Beweglichkeit höchst zuver- Untersuchung des Patienten lege artis schlichtweg nicht
lässig in allen Ebenen [99] und ist auch für passive Be- möglich. Im Heilmittelkatalog, der die Versorgung in die-
wegungen gut einsetzbar. Alternativ kann die Messung sem Bereich regelt, ist die Untersuchung zudem überhaupt
auch mithilfe spezieller Apps für Androids [73] und iPhones nicht vorgesehen. In Akuthäusern limitiert die unzurei-
[89] erfolgen. Die passive segmentale Beweglichkeit wird chende personelle Ausstattung die Möglichkeiten der Be-
mit Techniken der manuellen Therapie durchgeführt. Die funderhebung.
zur Verfügung stehenden Tests sind an der Halswirbelsäule
deutlich zuverlässiger als an der Lendenwirbelsäule [90].
Insbesondere der Lateral-gliding-Test ist valide zum Auf- 19.5 Weitere physiotherapeutische
finden segmentaler Bewegungseinschränkungen in der Optionen
unteren und mittleren Halswirbelsäule [28].
Zur Beurteilung der Kraft (b730) und funktionellen 19.5.1 Fazilitation der Mm. multifidi
Stabilität wird der kraniozervikale Flexionstest (CCFT) und des M. transversus abdominis
empfohlen [26]. Dabei wird der auf dem Rücken liegende
Patienten instruiert, auf einer Manschette zur Druck- Diese beiden lokal wirksamen Muskeln spielen vermutlich
messung zunächst über eine selektive Anspannung des eine Rolle bei der Entstehung und Chronifizierung von
M. longus colli und des M. longus capitis einen Druck von Rückenschmerzen, da sie wesentlich für die muskuläre
20 mmHG aufzubauen. Sofern diese Spannung mindes- Kontrolle der Lendenwirbelsäule verantwortlich sind.
tens 10 sec halten kann, erfolgt die Steigerung in 2-mm- Kann der M. transversus abdominis erst verzögert ange-
240 Kapitel 19 · Physiotherapie

. Tab. 19.1 Tests zur Beurteilung relevanter ICF-Kriterien

Domäne ICF-Code Rückenschmerz (»low back pain«) Nackenschmerz (»neck pain«)


Kategorie

Struktur

Nervensystem s120 Prüfung der Kennmuskeln und Reflexe Prüfung der Kennmuskeln und Reflexe
Lasègue-Zeichen CPR-Radikulopathie

Rumpf s760 Anamnese (»red flags«) Anamnese (»red flags«)

Bewegungsapparat (andere s770 Provokationstests (ISG) Painful Arc und


Strukturen) Faber-Test, pass. IR-Test (Hüfte) Widerstandstest AR (Schulter)

Funktion

Beweglichkeit b10 Inklinometer, Finger-Boden-Abstand CROM, Lateral-gliding-Test


Modifizierter Schober-Test Apps für iPhone oder Android

Stabilität b715 PIT (und BLLS) (Lateral-gliding-Test)

Kraft b730 Sörensen-Test Dynamometrie

Ausdauer b740 Lumbo-pelvic-stability-Test (LPST) Kraniozervikaler Flexionstest CCFT

Tonus b735 Palpation Palpation

Antrieb, Energie b130 HADS HADS

Depressivität, Ängstlichkeit b152

Psychologische Anforderungen ÖMPQ

Übungstoleranz b455 ÖMPQ

Schmerz b280 ODI ÖMPQ NPAD

Aktivitäten und Partizipation

Heben, Tragen d430 ODI ÖMPQ

Hausarbeit d640 ÖMPQ NPAD

Positionen halten d415 ODI ÖMPQ NPAD

Gehen d450 ODI ÖMPQ NPAD

Beziehungen d760 ODI ÖMPQ NPAD

Schlafen b134 ODI ÖMPQ NPAD

Sich waschen d530 ODI NPAD

Sich kleiden d540 ODI NPAD

Auto fahren d475 NPAD

Arbeit d845 NPAD

Erholung d920 NPAD

Essen d550 NPAD


19 Sexualität d770 NPAD

Funktionskapazität d410 Back Performance Scale Zervikaler PILE-Test

CPR Clinical Prediction Rule, ISG Iliosakralgelenk, IR Innenrotation, AR Außenrotation, CROM Cervical Range of Motion (device), IT Prone
Instability Test, BLLS Beightons´s Ligamentuous Laxity Status, CCFT Craniocervical Flexion Test, HADS Hospital Anxiety and Depression
Scale, ÖMPQ Örebro Musculoskeletal Pain Questionnaire, ODI Oswestry Disability Index, NPAD Neck Pain and Disability Scale, PILE
Progressive Isoinertial Lifting Evaluation, BPS Back Performance Scale
19.5 · Weitere physiotherapeutische Optionen
241 19
steuert werden und weisen die Mm. multifidi eine Kraft- (viszerale Osteoapthie) sowie die rhythmischen Pulsatio-
minderung auf, so hat dies einen ungünstigen Einfluss auf nen des Liquors und dessen Übertragung auf andere
die Entstehung von Rückenschmerzen und auf deren Ver- Gewebe (kraniosakrale Osteopathie) beurteilt und thera-
lauf. Therapeutische Übungen, die diese Muskeln wieder peutisch beinflusst. Bei Erkrankungen des Bewegungs-
aktivieren und in die Bewegungsmuster reintegrieren, sind apparats wird der Begriff oft synonym zu manueller
wirksam bei chronischem Rückenschmerz [26]. Der Therapie, manueller Medizin und Chirotherapie benutzt.
M. longus colli und der M. longus capitis wiederum [27] Für die Behandlung mit umfassender osteopathischer
spielen eine Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhal- Medizin bei Rücken- und Nackenschmerz gibt es keine
tung von Nackenschmerz. sichere Evidenz. In ihrer Wirkung sind mobilisierende und
Manipulationstechniken und die der manuellen Therapie
gleichwertig [69].
19.5.2 Feedbackverfahren
zur Muskelentspannung
19.5.5 Therapeutische Ganzkörper-
Man unterscheidet biomechanische Methoden zur Be- vibrationen
einflussung von Bewegungen, Haltung und Kraft und
physiologische Methoden zur Beeinflussung des neuro- Die therapeutische Anwendung von Ganzkörpervibra-
muskulären Systems, des Atmungs- und Herz-Kreislauf- tionen auf einer entsprechenden Vibrationsplatte wird bei
Systems [37]. Bei Beschwerdezuständen des Bewegungs- verschiedenen Indikationen angewendet. Beispielhaft
apparats zeichnen Oberflächenelektroden das emg-Signal seien nur die Verbesserung der Propriozeption bei älteren
auf und machen die Muskelaktivität dem Patienten visuell Menschen, die Behandlung von Osteoporose, die Präven-
oder akustisch bewusst. Er wird dann angeleitet, die tion von Muskelatrophie sowie die Inkontinenzbehand-
Spannung zu erhöhen (Stabilität und Kräftigung) oder zu lung genannt. Bei chronischem Rückenschmerz gibt es
reduzieren (Entspannung, Tonussenkung). Bei Rücken- dezente Hinweise auf die Wirksamkeit der Methode [75].
schmerz wird die Methode auch mittels sonografischer In Fällen, in denen die willkürliche Anspannung der
Darstellung der Muskeln angewendet, die stimuliert wer- Muskulatur erschwert ist, scheint das Verfahren hilfreich.
den sollen. Sie ist in Verbindung mit der lokalen Stabilisie- Für die Anwendung bei Nackenschmerz liegen noch keine
rung (7 Abschn. 19.2.6) wirksam. Bei Nacken- und Span- Daten vor.
nungskopfschmerz werden in der Regel emg-Ableitungen
zur Entspannung genutzt. Die Wirksamkeit ist nicht nach-
gewiesen. 19.5.6 Kinesiotape

Die Wirkungsweise von Kinesiotape ist nicht erforscht. Es


19.5.3 Wiederholte Bewegungen wird jedoch vermutet, dass es durch Aktivierung von
nach McKenzie Mechanorezeptoren auf spinaler Ebene zu einer Hem-
mung der Schmerzleitung und einer Hemmung oder Ak-
Die Voraussetzung für die Anwendung dieses Konzepts ist tivierung der Muskelaktivität kommen kann. Bei Rücken-
das Vorliegen eines mechanischen Rückenschmerzes, des- schmerz hat es eine kurzfristig schmerzlindernde Wirkung
sen Ausstrahlung sich durch Extensions- oder Flexionsbe- und kann zur Normalisierung der Muskelfunktion beitra-
wegungen – ggf. auch unter Zunahme des lokalen Schmer- gen, wenn es in Verbindung mit anderen Maßnahmen, die
zes – verändern lässt. Die Abnahme der Ausstrahlung das gleiche Ziel verfolgen, eingesetzt wird [70].
durch wiederholte Bewegungen wird als Zentralisierungs-
phänomen bezeichnet. Die Übungen werden therapeu-
tisch angeleitet und dann von Patienten selbstständig aus- 19.5.7 Spezielle Kissen und Matratzen
geführt. Liegt ein Zentralisierungsphänomen vor, ist die
Therapie wirksam gegen akuten Rückenschmerz [60]. Es liegen keine Daten vor, die die Empfehlung spezieller
Hilfsmittel wie Kissen und Matratzen rechtfertigen könn-
ten [9, 21]. In Einzelfällen kann jedoch das Krankheits-
19.5.4 Osteopathie geschehen günstig beeinflusst werden.

In der Osteopathie werden das Bindegewebe, die Musku-


latur und Gelenkstrukturen (parietale Osteopathie), die
inneren Organe und deren Bandstrukuren und Faszien
242 Kapitel 19 · Physiotherapie

19.5.8 Akupunktur Zeiten vereinbart, mit denen der Patient dann trotz Schmer-
zen weiterübt. Es finden regelmäßige Abstimmungen statt
Die Akupunktur als Teil der traditionellen chinesischen mit dem Ziel, höhere Quoten zu vereinbaren [58]. Dieses
Medizin kann nur von Physiotherapeuten ausgeführt Konzept kann bei chronischem Rückenschmerz genutzt
werden, die eine Zulassung als Heilpraktiker besitzen. Die werden [61]. Bei Nackenschmerz ist es als gleichwertig im
verschiedenen Konzepte der Akupressur oder Akupunkt- Vergleich mit anderen aktiven Übungsformen [72].
massage sind jedoch Gegenstand des physiotherapeuti-
schen Behandlungsspektrums, sofern eine entsprechende
Zusatzqualifikation vorliegt. Dabei werden je nach genutz- 19.6 Physiotherapie in
tem Mikrosystem [38] Bahnen am Körper oder Punkte an der interdisziplinären Behandlung
den Händen oder Füssen, den Ohren oder am Kopf manu-
ell stimuliert, um auf energetischem Wege eine Schmerz- In diesem Abschnitt wird die leitliniengestützte Therapie
linderung zu bewirken. um Therapieoptionen erweitert, für deren Wirksamkeit
Diese Techniken kommen optional bei chronischem Hinweise in der Literatur existieren, was jedoch nicht als
unspezifischem, jedoch nicht bei akutem unspezifischem sichere Evidenz gewertet werden kann. Sie werden den
Rückenschmerz infrage [34]. Bei chronischem Nacken- einzelnen Subgruppen von Rücken- und Nackenschmerz
schmerz können sie ebenfalls empfohlen werden [93]. zugeordnet.

19.5.9 Konfrontation/»exposure in vivo« 19.6.1 Akuter Rückenschmerz

Am Anfang der Konfrontations- oder Exposure-in-vivo- In dieser frühen Phase der Erkrankung geht es vor allem
Therapie steht ein Screening des Angst-/Vermeidungs- darum, Patienten mit hohem Chronifizierungsrisiko zu
verhaltens. Es wird erfasst, für wie rückenschädlich der identifizieren und ggf. über die Empfehlungen der Leit-
Patient bestimmte Aktivitäten hält. Hierzu bedient man linien hinaus gezielt bei der Aufrechterhaltung oder Wie-
sich überprüfter Erhebungsinstrumente wie z. B. der Tam- dererlangung normaler körperlicher Aktivität zu unter-
pa Scale for Kinesiophobia (TSK) [78], der Photograph stützen. Dabei sind die Daten des psychosozialen Scree-
Series Of Daily Activities (PHODA) [91] oder bei älteren nings zu nutzen. Bei Patienten mit einem stark erhöhten
Menschen der Skala für alte Menschen in körperlicher Ak- Body-Mass-Index, belastungsrelevanten Komorbiditäten,
tivität (AMIKA) [74]. Der Behandlung geht eine Erläute- niedrigem Aktivitätslevel bereits vor Beginn der Erkran-
rung der chronischen Beschwerden und des Angst-/Ver- kung oder starker schmerzbedingter Immobilisation ist
meidungsmodells voraus. Dann führt der Patient die Be- der Rat zur Aufrechterhaltung körperlicher Aktivität in der
wegungen aus, die dahingehend gesteigert werden, dass er Regel allein nicht ausreichend. Hier ist zunächst zu ermit-
zunächst wenig beängstigende Übungen durchführt und teln, was das adäquate Aktivitätslevel für die betroffenen
später stärker angstbesetzte. Zusätzlich wird er vor der Personen ist. Die Beeinträchtigung kann standardisiert
Übung aufgefordert, die Wahrscheinlichkeit zu beurteilen, durch Fragebogen erfasst werden. Hier bietet sich neben
dass er durch die Bewegung eine schwere Schmerzattacke den in 7 Abschn. 19.4 erwähnten Instrumenten der Funk-
erfahren wird. Wenn die Beschwerden geringer sind als tionsfragebogen Hannover Rücken (FfbH-R) [54] oder der
erwartet, wird die nächst »schwierigere« Übung durch- Pain Disability Questionnaire (PDI) [22] an, bei positiven
geführt. »yellow flags« die Tampa Skala for Kinesiophobia [78] bei
Dieses Konzept kann angewendet werden, wenn der jüngeren und die AMIKA (ältere Menschen in körper-
Patient beim Assessment erhöhte Punktwerte (Cut-off: licher Aktivität) bei älteren Patienten [74]. Der Therapeut
19 Punkte) im Angst-/Vermeidungsverhalten aufweist. Es kann stattdessen aber auch die im Fragebogen benannten
existieren Wirkungsnachweise für die Anwendung bei Bewegungen instruieren und überprüfen, ob und wie oft
19 chronischem Rücken- [58] und Nackenschmerz [48]. der Patient diese ausführen kann. Insgesamt eignen sich
auch einfache Zeitangaben, um zu bestimmen, in welchen
Umfang der Patient Aktivitäten des täglichen Lebens,
19.5.10 Graded Activity sportliche Aktivitäten oder Bewegungsabläufe bei der
Arbeit normalerweise und aktuell jetzt in der Schmerz-
Zunächst werden die Patienten aufgefordert, die Schonung situation ausführt.
aufzugeben und alle relevanten körperlichen Aktivitäten Entsprechend sind Bewegungsabläufe auszuwählen, zu
so häufig auszuführen, bis der Schmerz dies verhindert. demonstrieren, zu üben und für den Rückenschmerz un-
Dann werden Quoten von Wiederholungszahlen oder spezifische Aktivitäten zu empfehlen (z. B. Spazierenge-
19.6 · Physiotherapie in der interdisziplinären Behandlung
243 19

. Tab. 19.2 Klassifizierung subakuter Patienten und daraus resultierende Zuordnung der Therapieoptionen

Ursache Gelenk – Muskel Bandscheibe – Nerv Haltung

Befund Schmerz bei endgradigen Bewegungen Zentralisierungsphänomen mit Haltungsabhängiger Schmerz


oder in Ruhe und beim längeren Ver- oder ohne radikuläre Zeichen. mit verminderter Kraftausdauer
harren in Positionen, oft mit Durchbrech- Meist Reaktion auf Kompression
gefühl und lokalen Weichteilreaktionen und Traktion

Leitsymptom Hypomobilität Positive neurale Spannungstests Symptome bei Fehl- oder


Hypermobilität Belastungshaltung

Diagnose Dysfunktion Derangement oder radikuläres Haltungssyndrom


Syndrom

Maßnahme Mobilisation oder Fazilitation/ Wiederholte Bewegungen Haltungs-/Rückenschule


Stabilisation Neuralmobilisation Kraftausdauertraining

hen, Nordic Walking, Joggen, Ausdauertraining). Die An- 19.6.2 Subakuter Rückenschmerz
leitung sollte durch den Therapeuten geschehen und die
selbstständige Ausführung überwacht werden. Gelingt die In der subakuten Phase sind zusätzlich zu den Phäno-
Aktivierung nicht, so werden kurzfristig schmerzlindern- menen, die beim akutem Rückenschmerz beschrieben
de Maßnahmen aus dem Bereich der manuellen Therapie wurden, Dysfunktionen der Wirbelsäulensegmente zu
sowie der Thermo- und Elektrotherapie angewendet. Ins- lokalisieren. Dabei ist durch globale und spezifische Be-
besondere bei Rückfällen auf ein niedrigeres Aktivitätsni- weglichkeitstests in Verbindung mit Provokations- und
veau sind kurze physiotherapeutische Interventionen sinn- Linderungstests festzustellen, ob eine vermehrte oder ver-
voll. Edukative und motivationsfördernde Elemente wer- minderte Beweglichkeit im betroffenen Segment vorliegt.
den eingesetzt. Die Muskulatur ist auf Kraft hin zu testen. Prinzipiell ist
Ferner sind Patienten zu identifizieren, die im Sinne das Assessment so zu gestalten, dass auf allen Ebenen der
einer Subgruppe des akuten Rückenschmerzes eine gute ICF, inkl. der Kontextfaktoren, die zur Therapieplanung
Prognose für bestimmte physiotherapeutische Interven- relevanten Daten erhoben werden.
tionen haben. Dies ist insbesondere die Gruppe von Patien- Patienten mit subakutem Rückenschmerz werden mit
ten, die bei Bewegungen in eine Richtung eine Zunahme spezifischer Physiotherapie behandelt. Als Maßnahmen
und bei wiederholtem Bewegen in die Gegenrichtung eine kommen in Abhängigkeit von der jeweiligen »Schule«,
Abnahme der Schmerzausstrahlung angeben. Liegt dieses in der sich der Therapeut weitergebildet hat, ein breites
sog. Zentralisierungsphänomen vor, so können die Be- Spektrum von Techniken infrage. In Anlehnung an die
schwerden nach McKenzie ursächlich einer Bandscheibe Klassifizierung von McKenzie [41] werden dabei Subgrup-
zugeschrieben werden. Sie sind durch wiederholtes Bewe- pen gebildet, die dazu dienen, die Patienten definierten
gen in die Richtung, in der die Abnahme der Schmerzaus- Therapieoptionen zuzuordnen (. Tab. 19.2). Das Behand-
strahlung (Zentralisierungsphänomen) erfolgte, gut beein- lungsziel und die Maßnahmen werden dabei festgelegt,
flussbar. Der Therapeut wird daher eine aktive Bewegungs- jedoch nicht die anzuwendenden Techniken.
prüfung in Flexion, Extension, Lateralflexion und Rotation In diesem Stadium ist von einem peripher nozizeptiven
durchführen. Dabei achtet er auf Fehlhaltungen und Aus- Schmerz mit reproduzierbarer mechanischer Beeinfluss-
weichbewegungen sowie auf die Bewegungsgeschwindig- barkeit auszugehen. Unter dieser Voraussetzung wird die
keit und -koordination. Die Bewegungen werden mehr- für die Beschwerden verantwortliche Struktur identifiziert
mals ausgeführt, dabei wird das Auftreten und die eventu- und gezielt behandelt. Dabei werden überwiegend Maß-
elle Veränderung der Schmerzausstrahlung erfragt [29]. nahmen aus den verschiedenen manual- und trainingsthe-
Weiterhin ist unter Berücksichtigung möglicher Kon- rapeutischen Konzepten angewendet [6] (. Tab. 19.2).
traindikationen die manipulative Behandlung von Blockie- Derangements mit nachfolgender Beeinträchtigung
rungen der kleinen Wirbelgelenke durch Therapeuten mit des Spinalnervs gehen in der Regel mit einer Hypermobi-
entsprechender Zusatzqualifikation indiziert. lität, Haltungssyndrome mit Hypo- oder Hypermobili-
Die erforderlichen Verordnungen sind auf der Grund- täten einher, das Dysfunktionssyndrom kann die Folge
lage des Heilmittelkatalogs möglich und können bereits einer degenerativen Bandscheibenerkrankung sein. Somit
auf der primärärztlichen Versorgungsebene durch den werden selten nur Maßnahmen aus einer Diagnosegruppe
Hausarzt erfolgen. angewendet. Begleitende schmerzlindernde Maßnahmen
244 Kapitel 19 · Physiotherapie

werden in allen 3 Gruppen, insbesondere in der Anfangs- Therapie kommen Elemente der kognitiven Ver-
phase der Erkrankung, in der die Schmerzintensität noch haltenstherapie sowie Copingstrategien und Maß-
relativ hoch sein kann, appliziert. Weichteiltechniken nahmen zur Motivationssteigerung hinzu, um be-
stehen dabei im Vordergrund. Prinzipiell sind aktive Maß- lastende psychische und soziale Faktoren positiv zu
nahmen und Eigenübungen passiven Behandlungsformen beeinflussen [49].
vorzuziehen. Die Veränderung der Symptome wird durch 4 Überwiegen die Zeichen körperlicher Dekonditionie-
reliable und valide Tests im Laufe der Behandlungsserie rung (»disability«), werden Rehabilitationsprogram-
überprüft, sodass bei Persistenz der Beschwerden die Aus- me durchgeführt, die mittels eines gezielten Kraft-
wahl der Techniken und die Dosierung angepasst werden und Ausdauertrainings auf eine Rekonditionierung
können. Im einfachsten Fall kann dieses Monitoring an- abzielen [83, 80].
hand einer visuellen Analogskala zur Schmerzmessung
erfolgen. Gegebenenfalls können auch standardisierte Die Therapie sollte möglichst in Gruppen durchgeführt
Provokations- und Beweglichkeitstest oder überprüfte werden. Dabei ist darauf zu achten, dass gruppendynami-
Funktionsfragebögen (7 Abschn. 19.4, Assessment) ver- sche Maßnahmen integriert sind, um die Motivation zusätz-
wendet werden. lich zu erhöhen. Zudem ermöglicht es dieser Ansatz, die
Zuwendung durch den Therapeuten in Grenzen zu halten
[20]. Entstehen im Zuge des Trainings zusätzliche Funk-
19.6.3 Chronischer Rückenschmerz tionsstörungen, die im Sinne eines peripher nozizeptiven
Schmerzes gut lokalisierbar sind, kann eine vorübergehende
Bei chronischem Rückenschmerz ist die physiotherapeu- Einzelbehandlung wie beim subakuten Rückenschmerz er-
tische Behandlung als Teil der multimodalen Therapie forderlich werden, bis der Patient wieder in der Gruppe oder
durchzuführen. Die Auswahl der aktiven Maßnahmen, die allein weitertrainieren kann. Insgesamt jedoch ist die spezi-
der Physiotherapeut mit dem Patienten durchführt, richtet fische Physiotherapie in diesem Stadium nicht mehr indi-
sich nach dem jeweils dominanten psychosozialen Risiko- ziert. Behandlungsziel ist jetzt anstelle von Schmerzfreiheit
faktor: die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit durch Steigerung
4 Bei ausgeprägtem Angst-/Vermeidungsverhalten der Funktionskapazität trotz bestehender Schmerzen.
sollte die aktive Übungsbehandlung als Konfrontation
in vivo durchgeführt werden. Der Behandlung geht
eine Erläuterung der chronischen Beschwerden und 19.6.4 Akuter Nackenschmerz
des Angst-/Vermeidungsmodells voraus. Dann führt
der Patient die Bewegungen aus, die dahingehend Bei dieser Patientengruppe ist es sinnvoll, diejenigen
gesteigert werden, dass er zunächst wenig beängsti- Personen zu identifizieren, die von einer manipulativen
gende Übungen durchführt und später stärker angst- (oder auch mobilisierenden) Behandlung profitieren.
besetzte [58]. Für die Erfassung von Angst-/Ver- Tseng [92] beschreibt, dass ein Rückgang auf weniger als
meidungsüberzeugungen wird für Physiotherapeuten die Hälfte der initialen Schmerzintensität, eine mindestens
der Fear-Avoidance Beliefs Questionnaire – deutsche moderate Funktionsverbesserung und eine hohe Patien-
Version FABQ-D [71] empfohlen. tenzufriedenheit dann zu erwarten sind, wenn mindestens
4 Ist Stress der dominante Risikofaktor, so sind aktive 4 der folgenden 6 Variablen zutreffen [92]:
Entspannungsmaßnahmen und Körperwahrneh- 1. Die Betroffenen erreichen beim Neck Disability [22]
mungsschulung mit psychologischer Unterstützung weniger als 11,5 Punkte.
indiziert [44]. 2. Sie weisen eine Beeinträchtigung der Bewegungen in
4 Liegen krankheitsunterhaltende Arbeitsplatzfakto- beide Richtungen auf.
ren vor, so ist ein aktives Funktionstraining sinnvoll. 3. Sie verrichten täglich weniger als 5 h sitzende
Dabei richtet sich die Intensität der Behandlung nach Tätigkeiten.
19 der körperlichen Belastung, der der Patient am jewei- 4. Sie geben subjektiv eine Erleichterung durch
ligen Arbeitsplatz ausgesetzt ist. Von Rückenschule Bewegung an.
[100] bei überwiegend sitzender Bürotätigkeit über 5. Sie erfahren keine Verschlimmerung bei Extensions-
medizinische Trainingstherapie bei mittleren Be- bewegungen.
lastungen bis hin zum Göttinger Rücken-Intensiv- 6. Sie zeigen degenerative Veränderungen der Hals-
Programm (GRIP) und »work hardening« [44] bei wirbelsäule ohne Radikulopathie.
schwerer körperlicher Arbeit wird den Anforderun-
gen an den jeweiligen Arbeitsplätzen Rechnung getra- Da eine bestehende Vorschädigung der Arteria vertebralis
gen. Im Rahmen der interdisziplinären multimodalen klinisch nicht sicher ausgeschlossen werden kann, sollte
19.7 · Irrwege und Probleme der Physiotherapie
245 19
insbesondere bei Patienten mit Schwindel keine Manipu- von Tagen zwischen dem Unfall und dem ersten Arzt-
lation der Halswirbelsäule durchgeführt werden. Die ma- besuch, eine möglichst geringe Intensität des Nacken- und
nipulative Behandlung erfordert eine spezielle Ausbildung, Rückenschmerzes, keine Beschwerden abgesehen vom
Untersuchung und Dokumentation [4], auf die im Rahmen Wirbelsäulenschmerz, das Fehlen von Kopfschmerz
dieses Beitrags nicht eingegangen werden kann. Patienten, vor dem Unfall sowie die Zuversicht, einen schnellen
die bei wiederholten Bewegungen ein Zentralisierungs- Heilungsverlauf zu erfahren. Die Untersuchung sollte den
zeichen zeigen, sollten nach dem McKenzie-Konzept be- oben genannten Empfehlungen (. Tab. 19.1, rechte Spalte)
handelt werden [14]. folgen. Ergänzend ist die Funktion des Temporomandibu-
largelenks zu prüfen [39].
Der Paradigmenwechsel in der Behandlung des WAD
19.6.5 Subakuter Nackenschmerz wurde durch eine Studie von Schnabel eingeleitet [81]. Er
konnte nachweisen, dass die frühfunktionelle Behandlung
Beim subakuten Nackenschmerz ist eine Klassifizierung der Immobilisation überlegen ist. Teasell konnte [86–88]
wie beim subakuten Rückenschmerz (7 Abschn. 19.6.2) darüber hinaus zeigen, dass die Verwendung einer Hals-
sinnvoll. Danach werden entsprechend den Befunden krause die Heilung sogar behindert. Als effektiv zeigten
Stabilisation (M. longus colli und capitis) [47] und Mobili- sich dagegen die Aufrechterhaltung der körperlichen
sationsbehandlungen [82] vorgenommen sowie wieder- Aktivität sowie aktive Mobilisationstechniken [86]. Beim
holte Bewegungen beim Vorliegen eines Zentralisierungs- subakuten WAD können interdisziplinäre Programme und
phänomens [14]. Patienten, die beim Test von einer Trak- die manipulative Behandlung der Halswirbelsäule emp-
tionsbehandlung profitieren, können ggf. mit intermittie- fohlen werden [87]. Beim chronischen WAD sind aktive
render manueller Traktion behandelt werden, die mit Übungen und interdisziplinäre Interventionen wirksam, in
aktiven Übungen kombiniert sein sollte [33]. begrenztem Umfang auch Manipulationen und Übungen
zur Muskelentspannung mithilfe von Feedbackverfahren
[88].
19.6.6 Chronischer Nackenschmerz Als Prädiktoren für das Behandlungsergebnis haben
sich die bewegungsbezogene Angst, die initiale Schmerz-
Die Muskulatur im Schultergürtelbereich und in der obe- intensität und die initiale Funktionsbeeinträchtigung er-
ren Extremität sollte gekräftigt und gedehnt werden [51]. wiesen [68]. Dies unterstützt die Empfehlung zur früh-
Die Schwerpunkt der Behandlung kann – analog zum zeitigen aktivierenden Behandlung und legt nahe, die akti-
Rückenschmerz – entsprechend den Risikofaktoren gesetzt ven Übungen durch angstreduzierende Maßnahmen [77]
werden. Bei Patienten mit bewegungsbezogener Angst und zu unterstützen und selbst die geringe Evidenz für Magnet-
Katastrophisierungstendenzen profitieren deutlich und feldtherapie [88] zur frühzeitigen Schmerzlinderung zu
nachhaltig von Konfrontationstherapie [48]. nutzen.
Angesichts der geringen Effektstärken, sie sich sowohl
durch aktive als auch passive Maßnahmen erreichen las-
19.6.7 »Whiplash associated disorders« sen, wird die Rolle der Physiotherapie insbesondere beim
in der physiotherapeutischen Praxis akuten und subakuten WAD als unklar angesehen [65].

Die Quebec Task Force hat den Begriff »whiplash associa-


ted disorders« (WAD; HWS-Distorsion) eingeführt [85] 19.7 Irrwege und Probleme
und 4 Typen definiert: der Physiotherapie
4 Typ 0: Whiplash-Ereignis ohne Symptome;
4 Typ 1: subjektive Beschwerden; Lange Zeit wurde eine sinnvolle Weiterentwicklung der
4 Typ 2: objektivierbare muskuloskeletale Symptome; nach skandinavischem Vorbild stark biomechanisch ge-
4 Typ 3: objektivierbare neurologische Befunde; prägten deutschen Physiotherapie durch den Anspruch
4 Typ 4: radiologischer Nachweis von Frakturen oder einzelner Therapiekonzepte, teilweise nicht zuletzt durch
Dislokationen. deren vermeintliche Urheber, behindert. Dies ist durch die
Vielzahl an Eigennamen in den Konzeptbezeichnungen,
Insbesondere für die WAD-Typen 2 und 3 eignet sich die die im europäischen Ausland weitestgehend unbekannt
»clinical prediction rule« nach Bohmann für die Indika- sind, eindrucksvoll dokumentiert. Jedes Konzept bemühte
tionsstellung zur Physiotherapie [5]. Danach sind An- sich darum, zu zeigen, dass es für die Behandlung der häu-
zeichen für eine gute Prognose bei physiotherapeutischer figen Krankheitsbilder am Bewegungsapparat als alleinige
Behandlung: ein niedriges Lebensalter, eine geringe Zahl Maßnahme geeignet und vergleichbaren Ansätzen über-
246 Kapitel 19 · Physiotherapie

legen ist. So rieten auch Physiotherapeuten regelmäßig von therapeutischen Behandlungsspektrums (diese Vor-
der Einnahme von Schmerzmedikamenten ab. Erst im gehensweise würde auch in anderen Fächern, z. B. in der
Zuge der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wurde konservativen Orthopädie, dieselben Folgen haben).
für viele Krankheitsbilder und die diesbezüglichen physio- Wirksame Techniken, die nicht untersucht wurden oder
therapeutischen Behandlungsziele die Gleichwertigkeit eventuell gar nicht ohne Weiteres überprüfbar sind,
indizierter Therapieformen erkannt und mittlerweile zu- würden nicht mehr angewendet. Für Einzelfälle, die expli-
nehmend akzeptiert. Die aktuelle Literatur belegt indessen ziert abseits der wenigen existierenden Leitlinien behan-
zunehmend, dass Behandlungsansätze, die mehrere The- delt werden müssen, stünden keine Maßnahmen mehr zur
rapieformen miteinander kombinieren, überlegen sind. Verfügung. Hier ist dringend ein maßvoller Umgang anzu-
Dennoch werden nach wie vor die Unterschiede statt der raten. Die EBM stellt lediglich eine Momentaufnahme der
Gemeinsamkeiten zwischen den Schulen hervorgehoben. aktuell verfügbaren wissenschaftlichen Literatur dar und
Ähnliches gilt auch für den Stellenwert spezifischer soll als Entscheidungshilfe in klinischen Fragestellungen
Techniken in der Physiotherapie. Gerade für den chroni- genutzt werden. Dass beispielsweise die manuelle Therapie
schen Rückenschmerz musste in vielen Konzepten reali- in den ersten Leitlinien für chronischen Rückenschmerz
siert werden, dass unspezifische Übungen hochwirksam [25] nicht empfohlen wurde und sie sich seitdem zunächst
sind, spezifische Übungen dagegen in den Leitlinien meist für subakute und chronische Patienten [2] und jetzt auch
nicht empfohlen werden. In diesem Zusammenhang wird für akute als wirksam erwiesen hat [9], ist sicherlich nicht
zudem deutlich, dass die Ausführung der Behandlung einer inhaltlichen Weiterentwicklung der manuellen
durch spezialisierte Therapeuten nicht prinzipiell er- Therapie geschuldet, sondern vielmehr dem Fortschreiten
forderlich ist. Vielmehr sollte die Instruktion aktiver des Forschungsprozesses und einer veränderten Bewer-
Übungen im Vordergrund stehen, sodass der Patient zur tung der Literatur.
Eigenbehandlung befähigt wird. Der Boden für diese Ent-
wicklung wurde vor allem in den 1970er Jahren mit der
Integration der medizinischen Trainingstherapie in die 19.8 Perspektiven und Forderungen
manuelle Therapie und durch die Entwicklung von Weiter-
bildungscurricula für die Sportmedizin bereitet. Prinzipiell ist der Begriff der Physiotherapie künftig weiter
Ein weiteres, weitestgehend ungelöstes Problem ist die zu fassen, als dies in der Berufsordnung bislang verankert
Bewertung des Behandlungserfolgs durch Physiotherapie. ist. Die Kenntnisse in den Disziplinen, mit denen eine ziel-
Noch immer ist es Standard, den Patienten zu Beginn der führende Zusammenarbeit erfolgen soll, müssen vertieft
Behandlung nach seinem Befinden zu fragen und daraus werden. Die aktuellen Anforderungen sind zu definieren
die Verbesserung im Verhältnis zur letzten Behandlung und in den Curricula der Aus- und Weiterbildung fest-
abzuleiten. Ein Standard für die Verwendung objektiver zuschreiben. Die zu vermittelnden Kompetenzen und
Parameter zur Verlaufs- und Ergebniskontrolle und damit Fertigkeiten sollten bereits während der Primärqualifika-
auch zur Therapiesteuerung fehlt. Dieser Missstand wird tion erworben werden. Eine Verankerung der Ausbildung
durch die Vertrags- und Vergütungsstruktur in Deutsch- als grundständiges Studium an den Hochschulen kann
land zementiert, da sich insbesondere seit Einführung des unter Wahrung eines starken Praxisbezugs sicherstellen,
Heilmittelkatalogs die meisten Praxen gezwungen sehen, dass die Physiotherapie den Erfordernissen einer zeit-
ihre Leistungen auf 15–20 min je Sitzung zu kürzen. Assess- gemäßen Krankenversorgung im interdisziplinären Team
ment und Dokumentation können in einer Behandlungs- künftig besser gerecht wird. Insbesondere in den Bereichen
serie von insgesamt 90 bis 120 min nur eine untergeordne- der Psychologie und Soziologie sowie der Pharmakologie
te Rolle spielen. In einem durch die widrigen Rahmen- ist ein grundlegendes Verständnis zu vermitteln. So sollen
bedingungen in Gang gesetzten Circulus vitiosus verurteilt Physiotherapeuten in die Lage versetzt werden, während
sich die Physiotherapie damit selbst zur Unwirksamkeit, da ihres Assessments Informationen aus dem Tätigkeitsbe-
die erforderliche Mindestintensität nicht mehr erreicht reich dieser Disziplinen zu gewinnen, zu interpretieren
19 wird. Ohne eine gezielte Befunderhebung kann die Thera- und in die physiotherapeutische Behandlung zu integrie-
pie kaum mehr bewirken als die Selbstheilung. ren. Kompetenzen anderer Berufsgruppen, die im Sinne
Eine extreme Gegenbewegung zur ursprünglich intui- von Poolkompetenzen delegierbar sind, sind zu erwerben
tiven und konzeptgeprägten Physiotherapie des letzten und zielführend einzusetzen.
Jahrhunderts ist jetzt die Bewegung der evidenzbasierten Um eine effektive Zusammenarbeit im interdisziplinä-
Medizin (EBM). Wenn künftig nur noch Techniken unter- ren Team sicherzustellen, sind differenzierte und anwen-
richtet und angewendet werden sollen, die einer wissen- dungsorientierte Standards für die Untersuchung, Be-
schaftlichen Überprüfung standhalten, so führt dies handlung und die diesbezügliche Dokumentation für die
zwangsläufig zu einer extremen Ausdünnung des physio- relevanten Krankheitsbilder zu entwickeln und zu imple-
Literatur
247 19
mentieren, damit sinnvolle Schnittstellen definiert und sind die rechtlichen und vertraglichen Voraussetzungen,
gepflegt werden können. vor allem aber die fachliche Qualifikation dafür zu schaf-
Ferner sind die Forschungsschwerpunkte den aktuel- fen, dass diese Aufgaben verantwortungsvoll und zum
len Erfordernissen und Entwicklungen anzupassen. So Nutzen der Patienten wahrgenommen werden können.
sollten bei der Überprüfung von Tests – bei kritischer Aus- Eine ökonomische oder standespolitische Betrachtung
wahl geeigneter Goldstandards – vorrangig Testkombina- allein darf nicht die Grundlage für politische Entscheidun-
tionen anstelle von Einzeltests auf ihre Güte untersucht gen sein.
werden. Das Spektrum der Outcome-Parameter sollte im
Sinne einer ganzheitlichen medizinischen Betrachtung des
Patienten überdacht und erweitert werden. Literatur
Immer wieder zeigen systematische Übersichts-
arbeiten, dass Physiotherapie zwar wirksam ist, dass es 1. Andelic N, Johansen JB, Bautz-Holter E, Mengshoel AM, Bakke E,
Roe C (2012) Linking self-determined functional problems of
aber von nachgeordneter Bedeutung zu sein scheint,
patients with neck pain to the International Classification of
welche Form von Physiotherapie eingesetzt wird. Unspezi- Functioning, Disability, and Health (ICF). Patient Pref Adherence
fische Übungen scheinen immer wieder spezifischen Tech- 6:749–755
niken überlegen zu sein. Dies verwundert nicht, da sich 2. Becker A, Chenot JF, Niebling W, Kochen MM (2004) Deutsche
dieses Ergebnis zwangsläufig aus dem gewählten Studien- Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Guide-
design ergibt. Wenn physiotherapeutische Maßnahmen lines for back pain. Z Orthop Ihre Grenzgeb 142:716–719
3. Berg F van den (2007) Angewandte Physiologie, Bd 3. Georg
verschiedenen Personengruppen nach dem Zufallsprinzip
Thieme, Stuttgart
(randomisiert) zugewiesen werden, ist dies zwar wissen- 4. Berg F van den, Wolf U (2001) Manuelle Therapie. Sichere und
schaftsmethodisch korrekt, spiegelt aber nicht die Vor- effektive Manuelle Therapie. Sichere und effektive Manipulation-
gehensweise der Praxis wider. Vielmehr müssen spezielle stechniken. Springer, Heidelberg
Voraussetzungen erfüllt sein, damit eine spezifische Be- 5. Bohman T, Côté P, Boyle E, Cassidy JD, Carroll LF, Skillgate E (2012)
Prognosis of patients with whiplash-associated disorders consult-
handlung erfolgreich sein kann. Eine zufällige Zuweisung
ing physiotherapy: development of a predictive model for recov-
von Patienten auf 2 unterschiedliche Interventionsgrup- ery. BMC Musculoskelet Disord 13:264
pen, die diese Voraussetzungen ignoriert, führt zwangs- 6. Brennan GP, Fritz JM, Hunter SJ, Thackeray A, Delitto A, Erhard RE
läufig zu einer Normalverteilung dieser Merkmale in bei- (2006) Identifying subgroups of patients with acute/subacute
den Gruppen. Es werden also in beiden Gruppen etwa »nonspecific« low back pain: results of a randomized clinical trial.
Spine 31(6):623–31
genauso viele Personen mit einer Therapie behandelt, für
7. Bronfort G, Haas M, Evans R, Leininger B, Triano J (2010) Effective-
deren Anwendung sie die Voraussetzungen erfüllen, wie ness of manual therapies: the UK evidence report. Chiropractic &
Patienten, die das nicht tun. Dass sich die Ergebnisse dann Osteopathy 18:3
kaum unterscheiden, verwundert nicht. 8. Bruno PA, Millar DP, Goertzen DA (2014) Inter-rater agreement,
Leider fehlen größtenteils noch die Daten, mit deren sensitivity, and specificity of the prone hip extension test and
Hilfe vorhergesagt werden kann, anhand welcher Merk- active straight leg raise test. Chiropr Man Therap 16:22–23
9. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung
male man Personen identifizieren kann, die von einem
(KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinis-
bestimmten Ansatz wahrscheinlich profitieren werden. chen Fachgesellschaften (AWMF) (2010) Nationale Versorgung-
Die Entwicklung von »clinical prediction rules« (CPR) ist sleitlinie Kreuzschmerz – Langfassung. Version 1.X. 2010. http://
daher von größter Bedeutung. Wenngleich mittlerweile www.versorgungsleitlinien.de/themen/kreuzschmerz. Zugegrif-
einige CPRs erarbeitet wurden, fehlt in der Regel noch die fen: 24. Juli 2015
10. Butler D, Moseley GL (2005) Schmerzen verstehen. Springer,
klinische Überprüfung durch Phase-4-Diagnostikstudien.
Heidelberg
Mithilfe valider CPRs ließe sich das Prinzip des RCT (»ran- 11. Caneiro JP, O´Sullivan P, Burnett A, Barach A, O´Neil D, Tveit O,
domized controlled trial«) sinnvoll in der Physiotherapie Olafsdottier K (2010) The influence of different sitting postures on
anwenden: Von denjenigen Personen, die die CPR erfüllen, head/neck posture and muscle activity. Man Ther 15:54–60
würde dann eine Hälfte die indizierte Therapie erhalten, 12. Casser HR, Chenot JF, Dreinhöfer K, Giehl J, Götte S, Gottberg A,
KLetzko H, Kohlmann T, LIndena G, Niebling W, Pfingsten M,
die andere die nicht indizierte. Bei denjenigen Personen,
Strohmeier M, Sunder-PLasmann D, Wolf U (2007) Kurative Ver-
auf die die CPR nicht zutrifft, könnte man ebenso ver- sorgung – Schnittstellenmanagement und Therapiegrundsätze
fahren. im Versorgungsprozess von Patienten mit Rückenschmerzen.
Bertelsmann, Gütersloh, S 9–12, 19–20
> In Bereich der Physiotherapie besteht enormer
13. Cieza A, Stucki G, Weigl M, Disler P, Jäckel W, van der Linden S,
Forschungsbedarf!
Kostanjsek N, de Bie R (2004) ICF Core Sets for low back pain.
J Rehabil Med 4:69–74
Bevor man der Forderung nach mehr Autonomie für die
14. Clare HA, Adams R, Maher CG (2004) A systematic review of
Physiotherapie nachkommen kann oder Physiotherapeu- efficacy of McKenzie therapy for spinal pain. Aust J Physiother
ten gar als Primärkontakt für Patienten fungieren können, 50(4):209–216
248 Kapitel 19 · Physiotherapie

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251 20

Nackenschmerzen
und sensomotorische Kontrolle
D. Falla

20.1 Einleitung – 252

20.2 Sensomotorische Anpassungen – 252


20.2.1 Sensorische Anpassungen – 252
20.2.2 Motorische Anpassungen – 253
20.2.3 Strukturelle Veränderungen – 254
20.2.4 Bewegung und Funktion – 254
20.2.5 Variabilität sensomotorischer Anpassungen – 256
20.2.6 Einsetzen der sensomotorischen Anpassung – 256
20.2.7 Langfristige Konsequenzen – 257

20.3 Auswirkungen auf die Behandlung – 257


20.3.1 Effizienz von Motoriktraining – 257
20.3.2 Maßgeschneidertes Eingreifen – 258

20.4 Fazit – 259

Literatur – 259

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
252 Kapitel 20 · Nackenschmerzen und sensomotorische Kontrolle

Nackenschmerzen sind oft eine stark beeinträchtigende und Kraftumfang voraus als Folge einer systematischen Reduk-
rezidivierende Störung, die von Phasen der Remission und tion der Erregbarkeit der Muskeln, die eine schmerzhafte
Exazerbation charakterisiert ist. Es ist evident, dass Schmerz Bewegung hervorrufen, zusammen mit gesteigerter Erreg-
oder eine Verletzung initiale Trigger für Veränderungen der barkeit des entgegengesetzten Muskels (Schmerzanpas-
neuromuskulären Kontrolle sein können – Veränderungen, sungstheorie) [10]. Zum anderen prognostizierten sie eine
die auch jenseits der akuten Schmerzphase erhalten bleiben systematische Steigerung der Muskelaktivität, womit ein
und zum Wiederauftreten der Symptome beitragen können. schmerzhafter Bereich vor weiteren Schmerzen geschützt
Zudem haben Studien gezeigt, dass sich die veränderte würde, die wiederum von einer dem »Muskelspasmus«
Muskelaktivität trotz Abmilderung der Symptome nicht folgenden Muskelischämie ausgelöst würden (Teufelskreis-
automatisch mit der Zeit zurückbildet. Das unterstreicht den theorie) [11]. Diese Modelle versagen bei der Erklärung
Bedarf für eine hochwertige und spezifische Rehabilitation, der Komplexität sensomotorischer Anpassungen, die mit
insbesondere wenn die veränderten Muskelaktivitätsmuster Schmerz oder Verletzung einhergehen. In jüngster Ver-
weniger effiziente Kombinationen von Muskelsynergien gangenheit entwickelte Theorien berücksichtigen die
beinhalten, was die Anfälligkeit der zervikalen Region für Vielschichtigkeit und Komplexität der individuellen Ver-
Verspannungen und weiteren Schmerz erhöht. – Dieses änderungen bezüglich sensomotorischer Kontrolle [18,
Kapitel untersucht Studienergebnisse, die Änderungen der 19] und erklären die große Vielfalt von sensomotorischen
zervikalen sensomotorischen Kontrolle bei Patienten mit Anpassungen besser, die wir bei Patienten mit Nacken-
Nackenschmerzen beschreiben, und hebt die Bedeutung schmerzen beobachten, wie wir später zeigen werden.
dieser Erkenntnisse für die Behandlung von Halswirbel-
säulenstörungen hervor.
20.2.1 Sensorische Anpassungen

20.1 Einleitung Größere Fehler beim Positionieren des Kopfs nach willent-
licher Bewegung wurden bei Patienten mit sowohl heim-
Menschen mit Nackenschmerzen zeigen verringerte tückischem [20] als auch traumatischem Anfall [21–23]
Nackenstärke [1, 2] und Belastbarkeit [3, 4], gesteigerte beobachtet. Die propriozeptive Wahrnehmungsschärfe
Kräfteschwankungen während statischen Zusammen- scheint bei Menschen mit Nackenschmerzen, die von
ziehens [5–7] und einen begrenzten Umfang an aktiven einem Schleudertrauma verursacht wurden, stärker beein-
Halswirbelbewegungen [8, 9]. Zusätzlich bedingt die Kom- trächtigt zu sein [22] – insbesondere bei Patienten, die von
plexität der Halswirbelsäule, dass Schmerzempfindung stärkeren Schmerzen, Arbeitsunfähigkeit und Schwindel-
einen starken Einfluss auf die sensomotorische Kontrolle anfällen berichten [24, 25]. Zusätzlich zu größeren Repo-
von Kopfbewegungen, Stabilität und posturaler Orientie- sitionierungsfehlern bei Kopfbewegungen weisen Patien-
rung hat. Obwohl frühe Theorien über die Anpassung des ten, deren Nackenschmerzen von einem Schleudertrauma
sensomotorischen Systems relativ stereotype Veränderun- verursacht wurden, verminderte Propriozeption an Schul-
gen beim Auftreten von Schmerzen voraussagten [10, 11], tern und Ellenbogen auf [26, 27]. Veränderungen in der
weisen viele klinische und experimentelle Beobachtungen Propriozeption können mehrere Faktoren widerspiegeln,
auf ein komplexeres Phänomen hin [12–14]. einschließlich ungewöhnlicher afferenter Spindelent-
Dieses Kapitel untersucht Anhaltspunkte, die Ände- ladungen aufgrund der Aktivierung chemo- und nozizep-
rungen der motorischen Kontrolle des Halses bei Patienten tiver sensorischer Fasern [28–31], direkter Traumata der
mit Nackenschmerzen beschreiben, und unterstreicht die zervikalen Strukturen oder eines verstärkten Antriebs des
Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen für die Behand- Sympathikus [32]. Unter diesen Faktoren legt die Beobach-
lung von Halswirbelsäulenstörungen. tung, dass die Propriozeption beeinträchtigt ist in Be-
reichen, die weit vom Nacken entfernt sind, zumindest
einen teilweise systemischen Grund des Problems nahe. In
20.2 Sensomotorische Anpassungen der Tat vermindert die Aktivierung des sympathischen
Nervensystems durch den Cold-pressure-Test bei gesun-
20 Sensomotorische Veränderungen bei Nackenschmerzen den Menschen die propriozeptive Wahrnehmungsschärfe
und/oder -verletzungen umfassen ein breites Spektrum: des Nackens während der aktiven zervikalen Drehung
von fast unmerklichen Veränderungen in der Verteilung [33].
der Aktivitäten innerhalb eines Muskels [15, 16] bis hin zur Gestörte posturale Stabilität ist ein weiteres Charakte-
Vermeidung von Bewegungen oder Funktionen [17, 1]. ristikum von Nackenschmerzen, einschließlich größeren
Frühere Theorien zur motorischen Anpassung an Schmer- posturalen Schwankens bei ruhigem Stehen und dynami-
zen sagten zum einen einen verringerten Bewegungs- oder schen Tätigkeiten wie z. B. Treppensteigen [34–36] sowie
20.2 · Sensomotorische Anpassungen
253 20

Gesunde Kontrollperson Patient mit Nackenschmerzen


0° 0°

Rechter M. sternocleidomastoideus
330 30 330 30

300 60 300 60

270 90 270 90

240 120 240 120

210 150 210 150


a 180 180

0 ° 0°
330 30 330 30
Rechter M. splenius capitis

300 60 300 60

270 90 270 90

240 120 240 120

210 150 210 150


b 180 180

0° 0 °
330 30 330 30
Rechter M. semispinalis cervicis

300 60 300 60

270 90 270 90

240 120 240 120

210 150 210 150


c 180 180

. Abb. 20.1 Repräsentative Richtungsaktivierungsdiagramme des rechten (A) M. sternocleidomastoideus, (B) M. splenius capitis und (C)
M. semispinalis cervicis während einer mit 15 N ausgeführten zirkulären Kontraktion – jeweils bei einer gesunden Kontrollperson und einem
Patienten mit chronischen Nackenschmerzen. Man beachte die begrenzte Aktivierung der 3 Muskeln beim Gesunden mit minimaler Aktivie-
rung während der antagonistischen Phase der Aufgabe. Im Gegensatz dazu zeigen die Richtungsaktivierungskurven beim Patienten gleich-
mäßigere Aktivierungsniveaus aller Muskeln für alle Richtungen. (Adaptiert nach Falla et al. [5], Schomacher et al. [44], Lindstrom et al. [45];
mit freundl. Genehmigung)

verringerter Stabilität als Antwort auf vorhersehbare wie 20.2.2 Motorische Anpassungen
unvorhersehbare Störungen [35]. Defizite in der postura-
len Kontrolle und Propriozeption können auch durch ge- Nackenschmerzen können die aufgabenbezogene Modula-
störte Verarbeitung der propriozeptiven Signale bedingt tion der Nackenmuskelaktivität dergestalt verändern, dass
sein. Jüngste Untersuchungen legen nahe, dass Verände- die motorische Kontrolle der Halswirbelsäule durch alter-
rungen in der zentralen Verarbeitung propriozeptiver native, vermutlich weniger effiziente Kombinationen
Signale eine Schlüsselrolle bei den sensorischen Störungen synergistischer Muskelaktivitäten erreicht wird. Elektro-
in Zusammenhang mit Schmerzen spielen [37–40]. myografische Tuningkurven (EMG-Tuningkurven), die
Muskelaktivität über eine Variationsbreite von Kraft- und
Schwungrichtungen abbilden, wurden verwendet, um die
Aktivierungsstrategien der Nackenmuskeln zu studieren
254 Kapitel 20 · Nackenschmerzen und sensomotorische Kontrolle

[41, 5, 42, 43]. Die Nackenmuskeln von symptomfreien wohl in den Nackenextensoren als auch in den Nacken-
Gesunden weisen eindeutig definierte, bevorzugte Akti- flexoren vorkommt [62, 63], finden diese Veränderungen
vierungsrichtungen während multidirektionaler isometri- in besonderem Maße bei Muskeln statt, die einen größeren
scher Kontraktionen auf, die in Einklang mit ihrer anato- Anteil an Typ-I-Fasern und eine höhere Dichte an Muskel-
mischen Position im Verhältnis zur Wirbelsäule stehen spindeln aufweisen (z. B. der tiefe M. longus colli/capitis,
[41, 5, 42–44]. Wenn hingegen Patienten entweder mit subokzipitale Muskeln und M. multifidus) [64, 65]. Ver-
schleudertraumabedingten oder mit idiopathischen änderungen im Querschnittsbereich (Atrophie) wurden
Nackenschmerzen die gleichen multidirektionalen Kon- auch beim M. multifidus beobachtet [61], aber solche
traktionen ausführen, zeigen sie eine verringerte Spezifizi- strukturellen Veränderungen können auch bei oberfläch-
tät von Aktivität im Musculus sternocleidomastoideus, licheren Muskeln auftreten, wie z. B. beim M. semispinalis
M. splenius capitis und M. semispinalis cervicis [5, 45, 44] capitis [50].
(. Abb. 20.1). Die verminderte Spezifizität der Nacken- Eine Reihe potenzieller Mechanismen könnte die Ver-
muskeln ist weitgehend bedingt durch die verstärkte änderungen der Muskelstrukturen erklären, darunter ge-
Aktivierung der Muskeln, wenn sie als Gegenspieler neralisierte Nichtnutzung [66], chronische Denervierung
agieren [5, 45], und steht in Verbindung mit reduzierter [67], systemische oder entzündliche Myopathie infolge des
Modulation der Durchflussrate individueller motorischer Traumas [68] oder Beteiligung des sympathischen Nerven-
Einheiten mit Kraftrichtung [5]. systems [69]. Jedoch können wir bis jetzt die genauen
Mehrere Studien haben verstärkte oberflächliche zugrunde liegenden Mechanismen dieser beobachteten
Nackenmuskelaktivität bei Menschen mit Nackenschmer- Veränderungen der Muskelstrukturen und ihre exakte Be-
zen während verschiedener Aufgaben dokumentiert, ein- ziehung zu den funktionellen und physischen Beeinträch-
schließlich isometrischer Kontraktionen [46–51] und tigungen, die charakteristisch für Patienten mit Nacken-
funktioneller Aktivitäten der vorderen Extremitäten störungen sind, nicht vollständig nachvollziehen [62].
[52–55]. Im Gegensatz dazu zeigen Beobachtungen Zum Beispiel korreliert eine Verfettung des Halsextensors
verminderte Aktivität der tiefen Halsflexoren (M. longus nur schwach mit sensorischen, physischen, kinästhe-
colli, M. longus capitis) [56] und der tiefen Extensoren tischen und psychologischen Merkmalen, wobei die
(M. semispinalis cervicis und M. multifidus) [57, 58, 44] thermische Schmerzschwelle im Kältebereich die stärkste
bei Nackenschmerzen. Außerdem ist das Einsetzen der tie- Korrelation besitzt [70]. Der Zusammenhang von Verfet-
fen zervikalen Flexoren bei Patienten mit Nackenschmer- tung und größerem Schmerz, Beeinträchtigung sowie
zen während rascher Armbewegungen verzögert, was eine Symptomen von posttraumatischen Stressstörungen weist
posturale Instabilität auslöst [59], was wiederum Beobach- darauf hin, dass derartige Muskelveränderungen An-
tungen einer Dysfunktion der tiefen spinalen Muskeln ver- zeichen einer unzureichenden funktionellen Erholung sein
stärkt. Die Aktivierung der tiefen Nackenmuskeln ergibt können [71].
auch eine spezifische Rückmeldung bei Nackenschmerzen Biopsien der Nackenflexoren und -extensoren bei Pa-
[59], was im Gegensatz zu dem steht, was man bei Ge- tienten mit Nackenschmerzen wiesen einen signifikanten
sunden beobachtet. Anstieg des Anteils an Typ-IIC-Fasern auf, was auf eine
Jüngste Arbeiten zeigen, dass Patienten mit Nacken- präferenzielle Atrophie der langsamen oxidativen Typ-I-
schmerzen – wenn sie mit dem ganzen Körper schnellen Muskelfasern hindeutet [72]; dies ist vereinbar mit der
posturalen Perturbationen ausgesetzt sind – eine ver- verminderten Belastbarkeit der Halsmuskulatur bei Pa-
ringerte Fähigkeit aufweisen, ihre Nackenmuskeln auto- tienten mit Nackenschmerzen [3, 7]. Außerdem zeigen
matisch und angemessen zu aktivieren, wie man es bei Patienten mit Nackenschmerzen größere myoelektrische
gesunden Kontrollpersonen kennt, was zu einer verzöger- Manifestationen von Halsmuskelerschöpfung während
ten Aktivierung ihrer Muskeln führt [60] (. Abb. 20.2). anhaltender Kontraktionen [73, 74], dazu einen größeren
Diese Befunde unterstützen die Ansicht, dass bei Patienten Abfall der oberen Trapezmuskelfaser-Erregungsgeschwin-
mit chronischen Nackenschmerzen ein Verlust vordefi- digkeit während wiederholten Schulterhebens [75], was
nierter Muskelaktivierungsmuster vorliegt. indirekt im Einklang mit diesen histologischen Beobach-
tungen steht.
20
20.2.3 Strukturelle Veränderungen
20.2.4 Bewegung und Funktion
Eine Verfettung der Nackenmuskeln wurde bei Patienten
mit hartnäckigem mittlerem bis schwerem Schmerzniveau Mehrere biomechanische Störungen werden bei Nacken-
nach einem Schleudertrauma beobachtet, was womöglich schmerzen beobachtet, darunter ein verringerter Be-
eine Degeneration widerspiegelt [61–3]. Während das so- wegungsumfang [76–78] und reduzierte gleichzeitige
20.2 · Sensomotorische Anpassungen
255 20

. Abb. 20.2 (A) Patienten mit chronischen Nackenschmerzen sowie eine gesunde Kontrollgruppe standen auf einer beweglichen Platt-
form und wurden zufälligen posturalen Störungen des gesamten Körpers ausgesetzt: 8 cm vorwärts, 8 cm rückwärts, 10° Vorwärtsneigung,
10° Rückwärtsneigung. (B) Repräsentative EMG-Aufzeichnungen für den rechten (R) und linken (L) M. sternocleidomastoideus (SCM) und
M. splenius capitis (SC) im Verhältnis zum Impuls der posturalen Störung (gestrichelte Linie). Die gemessenen Einsätze sind mit Dreiecken
markiert. (C) Mittelwerte und Standardabweichungen der Reaktionen von M. sternocleidomastoideus und M. splenius capitis auf die
Störungen. Man beachte das signifikant (*P<0,05) spätere Einsetzen der Nackenmuskelaktivität bei Patienten mit Nackenschmerzen,
unabhängig von der Richtung der Störung. (Aus Boudreau und Falla [60])

Bewegungen in dazugehörigen Ebenen [79], erhöhte lich bei allen Drehrichtungen [1]. Große Schwankungen
Variabilität des Bewegungsumfangs [77, 80] verringerte bezüglich des Verlusts von Nackenstärke wurden gemes-
Bewegungsgeschwindigkeit [81, 82] und verminderte Ge- sen, und zwar mit Werten, die von 13,3 % bei Nacken-
schmeidigkeit der Bewegungen [81, 77]. Jüngste Arbeiten schmerzpatienten [84] bis zu 90 % [85] bei symptomfreien
beschreiben auch verringerte Rumpfbewegungen bei Pa- Gesunden reichen. Die durchschnittliche Nackenstärke
tienten mit chronischen Nackenschmerzen während von Patienten mit chronischen Nackenschmerzen ist in
des Gehens, insbesondere beim Gehen mit gedrehtem etwa umgekehrt proportional zum Schmerz, den sie
Kopf [83]. während der maximalen Kontraktion erlitten, außerdem
Patienten mit Nackenschmerzen sind dafür bekannt, zu Angst vor Bewegung und Aspekten der Nackenbe-
eine beeinträchtigte Nackenstärke zu haben, augenschein- einträchtigung [1], was einen Teil dieser Schwankungen
256 Kapitel 20 · Nackenschmerzen und sensomotorische Kontrolle

Gesunde Kontrollperson Patient mit Nackenschmerzen

0° 0°
330 30 330 30

300 60 300 60

270 90 270 90

240 120 240 120

210 150 210 150


180 180

. Abb. 20.3 Repräsentative Kraftdiagramme für eine Kontrollperson und einen Patienten, die jeweils eine zirkuläre Kontraktion von 15 N
ausführen. Man beachte, dass der Patient die zirkuläre Kontraktion im Vergleich zum Gesunden weniger genau ausführt, was sich in einem
vergleichsweise größeren Kraftabweichungskoeffizienten widerspiegelt. In diesem Beispiel ist der Kraftabweichungskoeffizient 7,4 % für
den Gesunden und 17,5 % für den Patienten. (Aus Schomacher et al. [44] mit freundl. Genehmigung)

erklärt. Patienten mit Nackenschmerzen weisen dazu fahrungen oder gewohnten Körperhaltungs- und Be-
Defizite auf, was die Belastbarkeit bei einer Reihe von wegungsmustern zusammenhängen. Unsere kürzlich
Kontraktionsintensitäten angeht [3, 7, 4]. Ein Verlust der erschienene Arbeit [89] zeigt, dass einige Patienten die
Belastbarkeit in den kraniozervikalen Flexoren spiegelt gleichen Muskelsynergien unter schmerzfreien wie
sich in schlechterer posturaler Belastbarkeit wider. Zum schmerzreichen Bedingungen verwenden, was mit der
Beispiel gleiten Leute mit Nackenschmerzen in eine vor- Beobachtung übereinstimmt, dass einige Menschen eine
geneigtere Kopfhaltung während längeren Sitzens [86]. bestimmte Muskelaufgabe in einer mehr stereotypen Art
Patienten mit Nackenschmerzen besitzen nur eine und Weise ausführen als andere [90]. Diejenigen Patienten
beeinträchtigte Fähigkeit, eine dauerhafte Nackenkontrak- mit weniger variablen motorischen Abläufen scheinen
tion um einen Zielkraftwert beizubehalten [5–7]. Zum anfälliger zu sein, Schmerzen zu entwickeln, denn sie
Beispiel zeigt . Abb. 20.3 repräsentative Kraftlinien verwenden zu oft die gleiche Strategie, anstatt den Vorteil
während einer zirkulären Kontraktion von 15 N für eine der Redundanz des motorischen Systems zu nutzen.
Kontrollperson und für einen Patienten mit Nacken-
schmerzen. In diesem Beispiel führt der Patient die zirku-
läre Kontraktion weniger akkurat aus, verglichen mit der 20.2.6 Einsetzen der sensomotorischen
Kontrollperson, was sich beim Patienten in größeren Vari- Anpassung
ationskoeffizienten der Kraft widerspiegelt, verglichen mit
der Kontrollperson [5]. Verringerte Kraftbereitschaft Modifikationen der sensomotorischen Kontrolle können
wurde Veränderungen im Ia-Afferenzen-Input zuge- dem Einsetzen von Schmerzen/Verletzung vorausgehen
schrieben, da Patienten größere Kraftleistung im Niedrig- oder folgen. Experimentelle nozizeptive Stimulation führt
frequenzbereich des Kraftsignals aufweisen, verglichen mit zu Veränderungen bei der Aktivierung der tiefen wie ober-
symptomfreien Gesunden [6]. flächlichen Muskeln, ähnlich denen, die bei klinischen
Schmerzen beobachtet werden [15, 91–94], was darauf
hinweist, dass motorische Veränderungen eine Folge von
20.2.5 Variabilität sensomotorischer Schmerzen sein können. Jedoch weisen andere Daten dar-
Anpassungen auf hin, dass motorische Anpassung Schmerzen/Verlet-
zungen vorausgeht. Ungeachtet des initialen Stimulus für
Sensomotorische Anpassungen wurden bei Patienten mit die Anpassung: Wenn Schmerzen erst einmal eintreten,
20 schwankenden Schmerzschweregraden, schwankenden wird sich das motorische System zukünftig wahrscheinlich
Schmerzdauern und unterschiedlichen Schmerzätiologien anders verhalten, und dies kann relevant für die Hart-
beobachtet. Jedoch gibt es erhebliche Schwankungen zwi- näckigkeit der Schmerzen sein [95].
schen den individuellen Patienten. Diese Schwankungen
stehen teilweise in Beziehung zum Ausmaß ihrer Nacken-
schmerzen [54, 87, 88]. Schwankungen können außerdem
mit unterschiedlichen Funktionshistorien, Schmerzer-
20.3 · Auswirkungen auf die Behandlung
257 20
20.2.7 Langfristige Konsequenzen charakterisiert wird. Diese Veränderungen erscheinen
frühzeitig und bleiben lange bestehen [24, 98, 46]. Es gibt
Obwohl sensomotorische Anpassung potenziell kurz- Nachweise, die nahelegen, dass anderweitige Behand-
fristige Vorteile bietet (z. B. die Belastung zu verändern lungsmöglichkeiten, die den Schmerz lindern (z. B. manu-
und das verletzte/potenziell verletzte Gewebe zu schüt- elle Therapie), nicht automatisch die sensomotorischen
zen), können sich potenziell langfristige Konsequenzen Störungen mit einbeziehen [99, 100] (. Abb. 20.4). Dies
ergeben. Sensomotorische Anpassung kann als Ergebnis verstärkt die Notwendigkeit einer spezifischen Rehabilita-
von Belastungsänderung des lädierten Gewebes oder der tion, insbesondere wenn die veränderten Muster der
Belastung anderer Gewebe zu weiteren Gewebebeschädi- Muskelverwendung weniger effiziente Kombinationen
gungen beitragen. Dies könnte auftreten, wenn die An- von Muskelsynergien ergeben, was die Anfälligkeit der
passung – um schmerzerregende Partien zu schützen – zu Halswirbelregion für Belastung und weiteren Schmerz
erhöhter Belastung führt (z. B. kann eine umfangreichere erhöht. Zweifellos können psychosoziale Faktoren und
Koaktivierung der Nackenmuskulatur während der Akti- sensomotorische Veränderungen sich wechselseitig beein-
vitäten des Nackens [96, 45] und der vorderen Gliedmaßen flussen. Zum Beispiel beeinflussen Selbsteinschätzungen
[97] die Druckbelastung der Halswirbelsäule erhöhen). der Beeinträchtigung den Umfang der Nackenbewegun-
Darüber hinaus könnte es auftreten, wenn ein erhöhtes gen bei Patienten mit chronischen Nackenschmerzen [17].
Risiko von Gewebeverletzungen besteht; z. B. kann die ver- Somit können psychosoziale Faktoren motorische Ver-
zögerte Aktivierung der Nackenmuskeln bei Störungen änderungen verstärken, und diese Wechselbeziehung kann
wie Ausrutschen und Stolpern [60] die Nackenstrukturen in beide Richtungen gehen. Das zeigt, dass effektive Reha-
zusätzlichen Belastungen und Verletzungen aussetzen. bilitation einen kombinierten Ansatz notwendig macht,
Die Neuverteilung der Aktivitäten zwischen Muskeln der beide Aspekte einbezieht.
könnte auch zu Problemen führen, wenn die angepassten
Lösungen zur Nichtnutzung spezifischer Muskeln führen,
die einen besonderen Beitrag zur gemeinsamen Kontrolle 20.3.1 Effizienz von Motoriktraining
leisten. Ein wichtiges Beispiel ist, dass – obwohl verstärkte
Aktivierung größerer und oberflächlicherer Nacken- Spezifisches Training der Motorik [101] kann die Selbst-
muskeln bei Schmerzen üblich ist und den Schutz ver- kontrolle der tiefen und oberflächlichen Muskeln bei Pa-
bessern kann – diesen Muskeln generell Sehnenansätze zur tienten mit Nackenschmerzen verändern. Wenn Patienten
Wirbelsäule fehlen und dass sie nur begrenzt die Kontrolle z. B. lernen, die tiefen Halswirbelflexoren unabhängig zu
der Bewegungen zwischen den Wirbeln fein abstimmen aktivieren, erhöht das ihre Aktivierung während einer iso-
können. Die Neuverteilung der Aktivitäten dieser Muskeln metrischen Aufgabe [102], verbessert die Geschwindigkeit
auf Kosten der tieferen Muskeln, deren Aufgabe diese ihrer Aktivierung, wenn sie durch posturale Störungen
Kontrolle ist, könnte langfristig problematisch sein. gefordert werden [102, 103] und verbessert den Grad der
Potenziell kann geänderte sensomotorische Kontrolle zu Richtungsgenauigkeit der Nackenmuskelaktivität während
sekundären Anpassungen der Muskelstrukturen beitragen. multidirektionaler isometrischer Kontraktionen des
Wie oben beschrieben, wurde ein signifikanter Anstieg des Nackens [104]. Die Aktivität der oberflächlichen Nacken-
Anteils von Typ-IIc-Fasern – was eine präferenzielle Atro- muskeln kann auch mit gezieltem Motoriktraining redu-
phie der langsamen oxidativen Typ-I-Fasern nahelegt [72] ziert werden [102, 104], sogar nach einer einzigen Sitzung
– bei Patienten mit chronischen Nackensymptomen beob- [100]. Studien bezüglich Nacken- wie auch Rückenschmer-
achtet. Die Präsenz verfetteten Gewebes an der Streckmus- zen bestätigen, dass die Kontrolle über die tiefen Muskeln
kelgruppe, die man bei Patienten mit mittelschweren bis nicht durch allgemeine Übungsformen verändert werden
starken Schmerzen nach einem Schleudertrauma vorfindet, kann [105, 102, 106, 107, 86].
ist erst 3 Monate nach der Verletzung feststellbar [71], was Motoriktraining für Nackenschmerzen hat auch er-
nahelegt, dass eine veränderte motorische Kontrolle des folgreich zu Verminderung von Schmerzen und Beein-
Streckmuskels zu dieser Beobachtung beitragen kann. trächtigungen sowie zu verbesserter Muskelfunktion bei-
getragen [108, 86, 102, 99, 109, 104, 110, 111]. Allerdings
ist es wichtig, anzumerken, dass eine Reduktion von
20.3 Auswirkungen auf die Behandlung Schmerzen und Beeinträchtigung bei verschiedenen
Typen von Trainingsprogrammen beobachtet wurde [99,
Wie bereits oben besprochen, zeigen klinische und experi- 109, 112, 113], darunter Motoriktraining [86, 99, 113] und
mentelle Studien, dass sensomotorische Dysfunktion von Krafttraining [108, 109, 113]. Folglich können verschiede-
einer komplexen Reihe neuromuskulärer Anpassungen im ne Trainingsansätze für die Behandlung von Schmerzen
Halsbereich sowie von der Morphologie der Muskeln geeignet sein. Dennoch können Patienten auf verschiedene
258 Kapitel 20 · Nackenschmerzen und sensomotorische Kontrolle

Übung Mobilisierung
*
4.00 4.00
Schmerzintensität (0–10) *
3.00 3.00
Vorher
Nachher
2.00 2.00

1.00 1.00

a 0.00 0.00

25.00 25.00
*
EMG-Amplitude (RMS; mV)

20.00 * * 20.00

15.00 15.00

10.00 10.00

5.00 5.00

b 0.00 0.00

25.00 * 25.00
*
EMG-Amplitude (RMS; mV)

20.00 20.00
*
*
15.00 * 15.00

10.00 10.00

5.00 5.00

0.00 0.00
22 24 26 28 30 22 24 26 28 30
c Verlauf des CCFT Verlauf des CCFT

. Abb. 20.4 (A) Der Schmerz, gemessen vor und nach aktiver Übung (2 min aktiv unterstützte kraniozervikale Flexionsübung, gefolgt von
1 min aktiver Übung) und Mobilisierungsintervention (2 min passive Mobilisierung der oberen Halswirbelsäule, gefolgt von 1 min unterstütz-
ter Halswirbelsäulenflexionsbewegung), angewendet auf die obere Halswirbelsäule von Patienten mit chronischen Nackenschmerzen. Man
beachte, dass beide Gruppen unmittelbar nach den Interventionen eine Verringerung der Schmerzaktivität bei aktiven Bewegungen aufwie-
sen. Die Effektivwerte (RMS) des EMG, gemessen für M. sternocleidomastoideus (B) und M. scalenus anterior (C) während kraniozervikaler
Flexionstests (CCFT) vor und nach der Übung oder Mobilisierungsintervention. Man beachte den nur in der Übungsgruppe auftretenden
signifikanten Rückgang der Aktivität der oberflächlichen Flexoren (*P<0,05). (Aus Lluch et al. [100] mit freundl. Genehmigung)

Übungsformen positiv reagieren, je nach Grad der Funk- 20.3.2 Maßgeschneidertes Eingreifen
tionsstörung und Faktoren wie Stärke der Schmerzen,
20 körperliche und sensomotorische Beeinträchtigungen Nackenschmerzen sind verschiedenartig, sowohl im Sinne
[114]. Zum Beispiel bewirken sanfte Nackenbelastungs- der damit verbundenen Schmerzmechanismen als auch
übungen einen höheren sofortigen schmerzlindernden körperlicher und psychologischer Faktoren [101]. Daher
Effekt als Krafttraining [115]. Dementsprechend er- überrascht es nicht, dass es große Schwankungen bezüg-
scheinen Niedrigbelastungsübungen in den anfänglichen lich Art und Ausmaß der sensomotorischen Dysfunktion
Stadien der Rehabilitation angemessener, wenn Schmerzen zwischen verschiedenen Patienten mit Nackenschmerzen
das grundlegende Problem für den Patienten sind [101]. gibt. Solche Schwankungen können teilweise den unter-
Literatur
259 20
schiedlichen symptomatischen Nutzen erklären, den Pa- 5. Falla D, Lindstrom R, Rechter L, Farina D (2010) Effect of pain on
tienten von Übungsprogrammen mit Behandlungser- the modulation in discharge rate of sternocleidomastoid motor
units with force direction. Clin Neurophysiol 121:744–753
folgen von exzellentem Ergebnis bis zu minimalem Nutzen
6. Muceli S, Farina D, Kirkesola G, Katch F, Falla D (2011) Force
gezogen haben [102, 99]. Zum Beispiel wurde das Training steadiness in women with neck pain and the effect of short term
bei Patienten mit chronischem Schleudertrauma, die eine vibration. J Electromyogr Kinesiol 21:283–290
zentrale Sensibilisierung aufwiesen (weitverbreitete me- 7. O’Leary S, Jull G, Kim M, Vicenzino B (2007) Cranio-cervical flexor
chanische und Kälteschmerzüberempfindlichkeit), als muscle impairment at maximal, moderate, and low loads is a
feature of neck pain. Man Ther 12(1):34–39
nicht erfolgreich empfunden (25 % der Kohorte), ver-
8. Zwart JA (1997) Neck mobility in different headache disorders.
glichen mit Patienten ohne solche Anzeichen [116]. Headache 37(1):6–11
Jüngste Arbeiten legen nahe, dass der Grad der senso- 9. Dall’Alba P, Sterling M, Treleaven J, Edwards S, Jull G (2001)
motorischen Beeinträchtigung der Patienten vor Beginn Cervical range of motion discriminates between asymptomatic
des Trainings ein bestimmender Faktor für die Symptom- persons and those with whiplash. Spine 26:2090–2094
linderung ist. Zum Beispiel reduziert ein bestimmtes 10. Lund JP, Donga R, Widmer CG, Stohler CS (1991) The pain-adapta-
tion model: a discussion of the relationship between chronic
Training der tiefen Halsflexoren bei Patienten mit chroni-
musculoskeletal pain and motor activity. Can J Physiol Pharmacol
schen Nackenschmerzen den Schmerz und erhöht die 69(5):683–694
Aktivierung dieser Muskeln, insbesondere bei Patienten 11. Roland M (1986) A critical review of the evidence for a pain-
mit der geringsten Aktivierung der Halsflexoren vor dem spasm-pain cycle in spinal disorders. Clin Biomech 1:102–109
Training [103]. Ähnliche Beobachtungen wurden auch bei 12. Falla D (2004) Unravelling the complexity of muscle impairment
in chronic neck pain. Man Ther 9:125–133
Kreuzschmerzen gemacht [117, 118]. Diese Befunde legen
13. Falla D, Farina D (2007) Neural and muscular factors associated
nahe, dass die Auswahl der Übungen – basierend auf einer with motor impairment in neck pain. Curr Rheumatol Rep
präzisen Einschätzung der sensomotorischen Kontrolle – 9:497–502
und ihr gezielter Einsatz Patienten mit Nackenschmerzen 14. Falla D, Farina D (2008) Neuromuscular adaptation in experimen-
wahrscheinlich den meisten Nutzen bringen. tal and clinical neck pain. J Electromyogr Kinesiol 18:255–261
15. Falla D, Andersen H, Danneskiold-Samsøe B, Arendt-Nielsen L,
Farina D (2010) Adaptations of upper trapezius muscle activity
during sustained contractions in women with fibromyalgia. J
20.4 Fazit Electromyogr Kinesiol 20(3):457–464
16. Falla D, Arendt-Nielsen L, Farina D (2008) Gender-specific adapta-
Es gibt eine immer größer werdende Anzahl an Studien, tions of upper trapezius muscle activity to acute nociceptive
die sensomotorische Störungen bei Patienten mit Nacken- stimulation. Pain 138:217–225
17. Vernon H, Guerriero R, Kavanaugh S, Soave D, Puhl A (2013)
schmerzen erkennen. Die Anpassungen geschehen bei Self-rated disability, fear-avoidance beliefs, nonorganic pain
den Patienten unterschiedlich, was zeigt, wie wichtig behaviors are important mediators of ranges of active motion in
maßgeschneiderte Interventionen für das Management chronic whiplash patients. Disabil Rehabil 35:1954–1960
sensomotorischer Beeinträchtigungen sind. Spezifische 18. Hodges PW, Tucker K (2011) Moving differently in pain: A new
motorische Interventionen zur Behandlung der sensomo- theory to explain the adaptation to pain. Pain 152:S90–S98
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torischen Dysfunktion haben sich als effektiv erwiesen,
activity: a new model. J Orofac Pain 21:263–278
sowohl zur Linderung der Symptome als auch zur Verbes- 20. Revel M, Andre Deshays C, Minguet M (1991) Cervicocephalic
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260 Kapitel 20 · Nackenschmerzen und sensomotorische Kontrolle

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262 Kapitel 20 · Nackenschmerzen und sensomotorische Kontrolle

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115. O’Leary S, Falla D, Hodges P, Jull G, Vicenzino B (2007) Specific
therapeutic exercise of the neck induces immediate local
hypoalgesia. J Pain 8:832–839
263 21

Physikalische Verfahren
U. Lange

21.1 Epidemiologische Einordnung von Rückenschmerzen – 264

21.2 Klassifikation von Rückenschmerzen [1–3, 5, 6] – 264

21.3 Physikalisch-therapeutische Optionen bei nichtspezifischen


Rückenschmerzen – 265
21.3.1 Physikalische Therapieverfahren und ihre Evidenzlage – 266
21.3.2 Patientenberatung – 268

21.4 Zusammenfassung der empfohlenen physikalischen


Therapiemaßnahmen – 269

Literatur – 269

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
264 Kapitel 21 · Physikalische Verfahren

Der frühzeitige Einsatz physikalischer Therapiemaßnahmen publiziert, auf nationaler Ebene sind die Leitlinien der
bei Rückenschmerzen fördert die rasche Besserung und ver- Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft,
meidet eine Chronifizierung. Vor dem differenzialindikativen AkdÄ, 3. Auflage 2007 [1], und die Leitlinie der Deutschen
Einsatz physikalischer Therapieoptionen ist jedoch eine Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin,
Klassifikation der Rückenschmerzen sowie eine Aktualitäts- DEGAM, erschienen 2003 [3], zu nennen. Am 30. Novem-
diagnostik unabdingbar. Der folgende Beitrag fokussiert auf ber 2014 wurde die nationale Versorgungsleitlinie als
evidenzbasierte Empfehlungen von physikalischen Therapie- Konsensusleitlinie des Ärztlichen Zentrums für Qualität in
maßnahmen für den nichtspezifischen Rückenschmerz im der Medizin (ÄZQ) und der Leitlinienkommission der
akuten, subakuten und chronischen Stadium. Ergänzend Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizini-
werden Verfahren, für die derzeit keine ausreichende wissen- schen Fachgesellschaften (AWMF) verabschiedet [6], wo-
schaftliche Evidenz besteht, aufgeführt. bei es sich um eine evidenzbasierte Leitlinie handelt.

Tipp
21.1 Epidemiologische Einordnung
Im Praxisalltag empfiehlt sich aufgrund der Vielzahl
von Rückenschmerzen
von Ursachen beim Rückenschmerz folgendes Vor-
gehen: Explizite Anamnese, klinische Untersuchung
Gordon Waddell formulierte in seiner Volvo-Award-ge-
und adäquate Bildgebung helfen die Symptomatik
krönten Arbeit Ende der 1980er Jahre [8]: »Die herkömm-
und insbesondere den Schmerz differenzialdiagnos-
liche schulmedizinische Behandlung hat beim Rücken-
tisch einzuordnen und stellen zentrale Faktoren für
schmerz versagt. Die Rolle der Medizin muss in diesem
eine spezifische, dem Leiden angepasste Therapie dar.
Zusammenhang kritisch hinterfragt werden.« Bestätigung
Denn: Generell können trotz gleicher Diagnose unter-
findet diese Aussage inzwischen durch die Tatsache, dass
schiedliche Krankheitsstadien und Funktionsdiagno-
Rückenschmerzen in Deutschland und anderen Industrie-
sen vorliegen.
ländern schon seit langer Zeit zu den größten Gesund-
heitsproblemen zählen, man findet sie in allen Bevölke-
rungsschichten, und sie erzeugen neben einer immensen
Krankheitslast mit erheblichem Umfang für medizinische
Leistungen auch konsekutiv enorme gesamtwirtschaftliche 21.2 Klassifikation von Rückenschmerzen
Kosten [7]. Hierfür werden diverse Faktoren verantwort- [1–3, 5, 6]
lich gemacht, wobei die klinische Überbewertung der
strukturellen Diagnose ein dominierender Faktor sein jKlassifikation nach Ursache und Klinik
könnte. Viele Publikationen belegen, dass über 90 % der 4 Nichtspezifische Kreuzschmerzen (Syn.: nicht klas-
Betroffenen mit sog. Bandscheibenproblemen in der Bild- sifizierte »einfache« Kreuzschmerzen, nichtradikuläre
gebung auch tatsächlich pathologische Veränderungen Kreuzschmerzen) sind Kreuzschmerzen, die auf eine
aufweisen. Dennoch gibt es auch bei asymptomatischen nicht erkennbare Pathologie zurückgehen.
Menschen einen hohen Anteil falsch-positiver Verände- 4 Spezifische Kreuzschmerzen (komplizierte Kreuz-
rungen [Übersicht bei 4]. schmerzen) haben eine spezifische Schmerzursache
> Rückenschmerzen sind ein häufiges Symptom in der
wie z. B. Infektionen, Entzündungen, Tumoren,
Praxis und nach wie vor ein individualmedizinisches
Frakturen, Nervenwurzelreizung.
wie auch sozioökonomisches Problem. Die Bildge-
jKlassifikation nach Dauer und Verlauf
bung allein zeichnet sich zwar bei der Identifizie-
rung von Bandscheibenveränderungen wie auch
4 Akute Rückenschmerzen: Dauer kürzer als 6 Wochen.
von sonstigen degenerativen Manifestationen an
4 Subakute Rückenschmerzen: Dauer länger als
der Wirbelsäule durch eine hohe Sensitivität aus, bei
6 Wochen.
jedoch gleichzeitig niedriger Spezifität.
4 Rezidivierende Rückenschmerzen: akute oder sub-
akute Kreuzschmerzen, die nach einer symptomfreien
Ursprünglich als ein rein orthopädisches Krankheitsbild Phase von mindestens 6 Monaten wieder auftreten.
angesehen, beschäftigen sich inzwischen viele verschiede- 4 Chronische bzw. chronisch rezidivierende Rücken-
21 ne medizinische und angrenzende Fachbereiche mit dieser schmerzen: bestehen länger als 12 Wochen. Die
Thematik. Hieraus resultierte u. a. die Entwicklung von Schmerzintensität kann während dieser Periode
Leitlinien zur Diagnostik und Therapie dieses Sympto- variieren.
menkomplexes. Im März 2006 wurden die »European
Guidelines for the Management of Low Back Pain« [2]
21.3 · Physikalisch-therapeutische Optionen bei nichtspezifischen Rückenschmerzen
265 21
jAkuter und subakuter Rückenschmerz lung bringt und die volkswirtschaftliche Bedeutung hier
Bei der Anamnese sind die Prädiktoren für eine Chronifi- am größten ist, wurde in den letzten Jahren das Augen-
zierung (s. unten) zu berücksichtigen. Neben der sympto- merk auf dieses Phänomen gelegt.
morientierten klinischen Untersuchung sind insbesondere > Kreuzschmerzen sind definiert als Schmerzen oder
gravierende Erkrankungen (»red flags«: Tumoren, Ent- Beschwerden unterhalb des Rippenbogens und
zündungen, Frakturen) auszuschließen. Bildgebende Ver- oberhalb der Gesäßfalte, mit oder ohne Bein-
fahren sind stets bei »red flags« indiziert, ansonsten nur schmerzen. Die Lebensprävalenz von Kreuzschmer-
bei einer zu erwartenden Behandlungskonsequenz. Bei zen liegt bei bis zu 84 %, die Mehrzahl der Patienten
Vorliegen eines »einfachen« Kreuzschmerzes empfiehlt es (80–90 %) leidet unter unspezifischen, unkompli-
sich, den Patienten angemessen aufzuklären und zu be- zierten Rückenbeschwerden. Bei chronischen
ruhigen. unspezifischen Kreuzschmerzen nimmt man eine
Prävalenz von 23 % an.
jRezidivierender Rückenschmerz
Hier werden die gleichen physikalischen Therapieop-
tionen wie beim akuten Kreuzschmerz angewendet. Es 21.3 Physikalisch-therapeutische
empfiehlt sich jedoch eine zeitnahe, konsequente Trai- Optionen bei nichtspezifischen
ningstherapie mit Muskelaufbau, Förderung der Proprio- Rückenschmerzen
zeption und Koordination. Die Erwartungen des Patienten
müssen ärztlicherseits relativiert werden, da eine Schmerz- Die physikalische Schmerztherapie muss als Teil eines
freiheit oft kein realistisches Ziel darstellt. Neben einer therapeutischen Gesamtkonzepts betrachtet werden.
Verhaltensschulung (Rückenschule) sollte sich zudem eine Mechanisch bedingte akute und chronische Dorsalgien
Beratung über die Lebensführung anschließen, wobei die werden primär kausal behandelt, indem man die Struktu-
Prädiktoren für eine Chronifizierung beachtet werden raffektion normalisiert. Dorsalgien anderer Genese bzw.
sollten. Auch die Möglichkeit einer begleitenden Psycho- im Rahmen anderer Erkrankungen sistieren meist durch
therapie (»Schmerzverarbeitungsstrategien«) sollte in Er- eine erfolgreiche Behandlung der Primärerkrankung.
wägung gezogen werden. Chronische Rückenbeschwerden imponieren im Praxi-
salltag häufig durch Therapieresistenz und sind daher
jChronischer Rückenschmerz meist nur polypragmatischen Therapieansätzen zugäng-
Bei Vorliegen einer Chronifizierung existieren meist neben lich.
den chronischen Rückenproblemen auch noch andere Rückenschmerzen ohne nervale Ursache werden eben-
Schmerzlokalisationen. Das sog. chronische Schmerz- falls primär konservativ behandelt. Ziel ist dabei die Resti-
syndrom geht häufig auch mit psychischen und sozialen tution der pathologischen Strukturaffektionen. Je nach
Begleiterscheinungen einher und mit einer Verminderung Befund, so z. B. allgemeine Bewegungseinschränkung,
der Partizipation durch Störung der Aktivität im Sinne der segmentale Hypo- oder Hypermobilität, Bewegungs-, Be-
ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, lastungsschmerz, schmerzhafte muskuläre Verspannung,
Behinderung und Gesundheit). In solchen Fällen ist eine Triggerpunkte, Nervendehnungsschmerz, kann durch den
multimodale, interdisziplinäre Behandlung indiziert mit Einsatz differenzialindikativer physikalischer Maßnahmen
der Zielsetzung einer langfristigen positiven Veränderung gezielt behandelt werden [5].
auf körperlicher, psychologischer und sozialer Ebene. Das Grundprinzip der physikalischen Schmerzthera-
Die Ursachen für eine Chronifizierung sind vielfältig: pie – Dämpfung der Nozizeption bei gleichzeitiger Stimu-
Nicht ausreichend behandelter Akutschmerz resultiert in lation der Propriozeption – sollte dabei beachtet werden.
einer Schmerzgedächtnisbildung mit primärer und sekun- Das bedeutet, je chronifizierter der Rückenschmerz impo-
därer Hyperalgesie sowie physischer und psychischer niert, umso mehr muss die Schulung der Propriozeption
Dekonditionierung. Prädiktoren der Chronifizierung im Vordergrund der Behandlung stehen.
(»yellow flags«) sind: geringe berufliche Qualifikation, be- Das Arsenal der physikalischen Schmerztherapie bei
rufliche Unzufriedenheit, psychosoziale Überforderung, Rückenschmerzen beinhaltet Thermotherapie (Wärme,
Depression, Angst, Katastrophisieren, passive Grundein- Kälte), Elektrotherapie, mechanische Reizungen (Massa-
stellung, Durchhaltestrategien vs. Vermeidungsverhalten, gen), Hydrotherapie, Krankengymnastik, manuelle Thera-
inadäquate Krankheitsvorstellungen, Krankheitsge- pie, Hilfsmittel und Orthesen.
winnaspekte, geringe körperliche Kondition und neben Bei Rückenbeschwerden ist meist zu Beginn eine be-
Dorsalgien noch andere Schmerzen. gleitende symptomatische analgetische/antiphlogistische
Da gerade der chronische bzw. der chronisch rezidivie- Schmerzmedikation indiziert, bevor differenzialindikative
rende Kreuzschmerz die meisten Probleme in der Behand- physikalische Therapiemaßnahmen eingesetzt werden.
266 Kapitel 21 · Physikalische Verfahren

Eine vorübergehende (kurzzeitige) Ruhigstellung bis hin schmerz (NSK) im akuten und chronischen Krankheits-
zur Verordnung von Bettruhe kann besonders bei akuten stadium [5, 6].
Störungen zur Schmerzinhibition notwendig werden. Es
ist jedoch unbedingt darauf zu achten, dass Funktions- Akupunktur
defizite durch Immobilisation vermieden werden. Eine Die Evidenzlage von Akupunktur ist beim akuten NSK
Korsettversorgung kann beispielsweise bei einer osteopo- unzureichend, daher sollte dieses Verfahren nicht ange-
rotischen Wirbelkörperfraktur durch eine Erhöhung des wendet werden. Bei chronischem NSK wird die Akupunk-
intraabdominalen Drucks eine Stabilisierung der Wirbel- tur aufgrund der widersprüchlichen Studiendatenlage nur
säule bewirken, mit konsekutiver Verbesserung des Akti- empfohlen. Unklar ist, über welche Wirkmechanismen
onsradius beim Patienten. Oberstes Ziel ist, möglichst der Therapieeffekt resultiert (Ort der Nadelung? Andere
rasch ohne stabilisierende bzw. entlastende Maßnahmen Faktoren? Arzt-Patient-Interaktion?).
auszukommen. > Akupunktursitzungen bewirken bei akutem NSK
> Von elementarer Bedeutung bei der differenzialin- nur eine unzureichende Wirkung und sind nicht
dikativen Auswahl physikalischer Therapiemaß- praktikabel. Es handelt sich um ein gering-invasives
nahmen sind eine Topodiagnostik (pathomorpholo- Verfahren mit der Gefahr von Nebenwirkungen
gisch) und eine Funktionsdiagnostik (pathofunkt- (Infektionen, Hämatome, geringe Blutungen).
ionell), deren Wirkungsphysiologie kongruent zur
Pathogenese der Symptomatik sein sollte. Erst
Bettruhe
durch eine adäquate Aktualitätsdiagnostik kann die
jeweilige Priorität festgelegt werden: ein kausal-
In Einzelfällen kann aufgrund einer ausgeprägten
symptomatischer neben einem befundorientierten
Beschwerdesymptomatik beim akuten NSK kurzzeitig
Therapieansatz. Parallel dazu sind neben der
Bettruhe (wenige Stunden bis Tage) notwendig sein. Vor-
Erhebung des Lokalbefunds auch Kompensations-
dergründiges Ziel ist jedoch, durch eine adäquate Schmerz-
leistungen und Anpassungsvorgänge des Organis-
medikation schrittweise die körperliche Aktivität wieder
mus und Begleiterkrankungen mit entsprechenden
zu ermöglichen. Studien belegen, dass Bettruhe kaum
Kontraindikationen zu überprüfen.
einen Effekt entfaltet und eher zur Schmerzzunahme führt,
der Wiederaufnahme von Alltagsaktivitäten entgegenwirkt
Für die folgenden physikalischen Therapieoptionen be- und die Arbeitsunfähigkeit verlängert. Daher sollte Bett-
stehen je nach Dauer der Symptomatik unterschiedlich ruhe beim akuten NSK möglichst vermieden werden. Zur
starke Wirksamkeitsnachweise, weshalb sich die Empfeh- Bettruhe beim chronischen NSK existieren keinerlei
lungen auf die Krankheitsstadien akut und subakut/chro- Untersuchungen, sodass hier ebenfalls keine Empfehlung
nisch beziehen. ausgesprochen werden kann.
Generell sollte beim nichtspezifischen Kreuzschmerz > Bettruhe sollte beim akuten und chronischen NSK
die körperliche Aktivierung im Vordergrund stehen, um möglichst nicht angewendet werden, da hierdurch
eine Chronifizierung zu vermeiden. Hierzu bedient man möglicherweise das passive Krankheitsverhalten
sich so früh wie möglich multimodaler und interdiszipli- gestärkt wird und Komplikationen (Muskelatrophie,
närer Therapiepläne, die sich insbesondere an der thrombembolische Ereignisse) auftreten können.
Schmerzsymptomatik und dem vorhandenen Funktions-
defizit orientieren. Auch sollten Präferenzen der Patienten
und Patientinnen in der Therapieplanung mit berücksich- Bewegung und Bewegungstherapie
tigt werden. Manche Versorgungseinrichtungen bieten Bei akutem NSK sollte die körperliche Aktivität – soweit
strukturierte multimodale/rehabilitative Therapiekon- möglich – beibehalten werden bzw. schrittweise wieder
zepte an. aufgebaut werden. Zusätzliche Verordnung von Be-
Oberste Priorität kommt der ärztlichen Aufklärung zu, wegungstherapie hat sich bisher als nicht sinnvoll erwiesen.
gerade zu Beginn der Therapie sollten Betroffene zur Beim chronischen NSK hat sich die Bewegungsthera-
körperlichen Aktivität ermutigt werden. pie als effektiv in der Besserung von Schmerz und Funk-
tionsfähigkeit erwiesen (. Abb. 21.1; . Abb. 21.2).

21 21.3.1 Physikalische Therapieverfahren > Die Intensität der Bewegung sollte sich an der
und ihre Evidenzlage jeweiligen Belastbarkeit orientieren. Kontrollierte
Bewegungstherapie (mobilisierende und stabilisie-
Die Empfehlungen der folgenden physikalischen Ver- rende Techniken) dient der Verbesserung der Funk-
fahren beziehen sich auf den nichtspezifischen Kreuz- tionalität, Koordination, Kraft und Ausdauer.
21.3 · Physikalisch-therapeutische Optionen bei nichtspezifischen Rückenschmerzen
267 21

. Abb. 21.1 Bewegungstherapie bei chronischem nichtspezi- . Abb. 21.2 Bewegungstherapie auf dem Pezzi-Ball bei chro-
fischen Kreuzschmerz nischem nichtspezifischen Kreuzschmerz

Elektrotherapie werden. Liegt eine Chronifizierung vor, sollte das


Interferenz (mittelfrequenter Wechselstrom bis 150 Hz) Verfahren angewendet werden.
Die wissenschaftliche Studienlage empfiehlt keine An-
wendung bei akutem wie chronischem NSK. Ergotherapie
Während es für den akuten NSK keine Evidenz für die Er-
Perkutane elektrische Nervenstimulation (PENS; Stimula- gotherapie gibt und sie daher nicht empfohlen wird, sieht
tion von perkutan applizierten Akupunkturnadeln) Weder die Lage beim chronischen NSK anders aus: Hier empfeh-
beim akuten noch beim chronischen NSK gibt es für dieses len sich ergotherapeutische Maßnahmen (physische
Verfahren Evidenznachweise, und es wird daher nicht Konditionierung, Übungen zur Verbesserung/Wiederher-
empfohlen. stellung der Alltagsaktivitäten).
> Bei chronischem NSK sollten ergotherapeutische
Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) Bisher
Maßnahmen zur Verbesserung der Partizipation im
liegen keine Untersuchungen zur Wirkung beim akuten Alltag stattfinden.
NSK vor. Beim chronischen NSK ist die Datenlage in-
konsistent und widersprüchlich, sodass auch hier keine
Empfehlung ausgesprochen wird. Lasertherapie
> Die elektrotherapeutischen Verfahren Interferenz,
Sowohl für den akuten als auch den chronischen NSK gibt
PENS und TENS erbringen keinen Wirksamkeits-
es keinen Evidenznachweis für die Lasertherapie (ober-
nachweis und fördern eher die Passivität, womit sie
flächliche Laseranwendung in einer Wellenlänge von
im Widerspruch zum primären Therapieziel der
632–904 nm), weshalb keine Empfehlung existiert.
körperlichen Aktivierung stehen. > Laser sollte nicht angewendet werden aufgrund
fehlenden Wirksamkeitsnachweises und Förderung
der Passivität.
Entspannungsverfahren – progressive
Muskelrelaxation (pM) nach Jacobson
Beim akuten/subakuten NSK kann die progressive Magnetfeldtherapie
Muskelrelaxation angeboten werden, wenn ein erhöhtes Bis dato liegen keine Wirksamkeitsnachweise beim akuten
Chronifizierungsrisiko besteht. Aufgrund der Datenlage und chronischen NSK vor.
ist bei chronischem NSK ein eindeutiger Wirksamkeits- > Magnetfeldtherapie wird nicht empfohlen, da es
nachweis gegeben. keine positiven Beweise für eine Analgesie gibt.

> Bei Zeichen muskulärer Verspannungen, Stress-


belastungen und/oder vegetativen Störungen kann
durch den Einsatz der pM chronischen Schmerzen
effektiv vorgebeugt oder eine Linderung erzielt
268 Kapitel 21 · Physikalische Verfahren

jAndere »Tiefenerwärmungsverfahren«: Kurzwelle,


therapeutischer Ultraschall
Die wissenschaftlichen Studien belegen weder für die
Kurzwelle noch für den therapeutischen Ultraschall einen
Wirksamkeitsnachweis, weshalb beide Verfahren nicht an-
gewendet werden sollten.

Tipp

Sollte bei akuten NSK Wärme eine Schmerzver-


stärkung auslösen, rasch eine Diagnoseüberprüfung
durchführen (evtl. bei Tumoren oder Entzündungen
Schmerzverstärkung durch die resultierende Hyper-
ämie!). Von der Selbstverordnung von Wärme und
. Abb. 21.3 Klassische Massage im subakuten und chronischen Kälte muss nicht abgeraten werden, wenn sie zur
Stadium des nichtspezifischen Kreuzschmerzes
Schmerzreduktion und zum Wohlbefinden beiträgt.

Manipulation/Mobilisation
Traktionstherapie mit Gerät
(manuelle Therapie – MT)
Weder für die Behandlung des akuten noch des chroni-
Sowohl bei akutem als auch chronischem NSK kann dieses
schen NSK gibt es eine eindeutig positive Evidenz, sodass
Physiotherapeutikum aufgrund der wissenschaftlichen
diese Behandlungsform nicht empfohlen wird.
Datenlage angewendet werden. Die positiven Effekte
fokussieren auf eine Schmerzreduktion.
> Die MT kann eine Schmerzreduktion bewirken, 21.3.2 Patientenberatung
z. T. mit lang anhaltendem Effekt. Kurzfristig positive
Effekte sind insbesondere in Kombination mit der Im Praxisalltag empfiehlt sich ärztlicherseits eine früh-
Bewegungstherapie zu erwarten. zeitige, angemessene Beratung/Edukation betroffener
Patienten. Bei akutem NSK sollte insbesondere darauf hin-
Klassische Massage (KM) gewiesen werden, dass die Prognose in der Regel gut ist,
um möglichst rasch die körperliche Aktivität zurückzuer-
Während der Wirksamkeitsnachweis der KM beim akuten
langen. Zunächst besteht kein Bedarf an Bildgebungsver-
NSK aufgrund fehlender Studien nicht gegeben ist, kann
fahren (Röntgen, MRT, CT), nur bei Beschwerdepersistenz
das Verfahren beim subakuten und chronischen NSK auf-
bzw. -verschlechterung ist eine weiterführende Diagnostik
grund der wissenschaftlichen Datenlage angewendet
indiziert. Auch bei chronischem NSK sollten Schulungs-
werden (. Abb. 21.3).
maßnahmen (Beratung/Edukation) ärztlicherseits statt-
> Klassische Massage bewirkt eine Analgesie im finden, die insbesondere zur Rückkehr normaler Alltags-
subakuten und chronischen Stadium des NSK, aktivitäten führen.
wobei die Wirkung am stärksten in Kombination mit Rückenschulprogramme mit Fokussierung auf einen
Bewegungstherapie ist, insbesondere auch die biopsychosozialen Ansatz werden aufgrund der Studien-
Langzeitwirkung. datenlage bei akutem/subakutem NSK empfohlen und
sollten bei chronischem NSK angewendet werden, da ins-
Orthesen besondere hier ein Wirksamkeitsnachweis besteht.
Ein Wirksamkeitsnachweis für Orthesen ist bisher nicht Tipp
gegeben. Zur Behandlung des akuten und chronischen
NSK wird der Einsatz daher nicht empfohlen. Die Patientenberatung ist ein wichtiger Baustein bei
nichtspezifischen Rückenschmerzen. Der Patient
Thermotherapie (Wärme/Kälte) sollte gezielt aktiv in die Behandlung einbezogen
21 Wärmetherapie kann zur Behandlung des akuten/subaku- werden und möglichst rasch zu einer Wiederauf-
ten NSK empfohlen werden, Kältetherapie hingegen nicht. nahme der üblichen Aktivitäten motiviert werden.
Beim chronischen NSK liegen sowohl für die Wärme- als Nur so werden Beschwerden rascher gelindert und
auch Kältetherapie keine Wirksamkeitsnachweise vor, da- Arbeitsunfähigkeit reduziert.
her sollten diese Verfahren nicht verordnet werden.
Literatur
269 21
21.4 Zusammenfassung der empfohlenen Literatur
physikalischen Therapiemaßnahmen
1. AKDÄ (2007) Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft.
Empfehlungen zur Therapie von Kreuzschmerzen, 3. Aufl. http://
Folgende differenzialindikative physikalische Therapie- www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/TE/A-Z/PDF/Kreuzschmerz.
maßnahmen werden aufgrund ihrer guten Evidenzlage pdf. Zugegriffen: 31. Juli 2015
empfohlen: 2. COST B13 Working Groups on European Guidelines of Acute Low
1. Beratung/Edukation der Patienten im Hinblick Back Pain, Chronic Low Back Pain, Prevention in Low Back Pain
auf die Harmlosigkeit der Beschwerden und die Be- (2004) European guidelines for the management of chronic
non-specific low back pain u. a. http://www.backpaineurope.org/
deutung körperlicher Aktivität für die Prävention und
index.html. Zugegriffen: 31. Juli 2015
Kuration. 3. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmediz-
2. Rasche, möglichst frühzeitige Wiederaufnahme der in (DEGAM) (2003) Kreuzschmerzen. http://www.degam.de/files/
Alltagsaktivitäten. Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Dokumente/DEGAM-S3-Leitlinien/
3. Bei Hinweisen für einen chronischen Verlauf früher LL-03_Kreuz_mod-007.pdf. Zugegriffen: 31. Juli 2015
4. Hämmerle G (2008) The non-operative treatment of the degen-
Einsatz von multimodalen Behandlungskonzepten
erative lumbar spine. Arthritis und Rheuma 28:81–88
mit verhaltenstherapeutischen Anteilen. 5. Lichti G (2012) Kreuzschmerz. In: Lange U (Hrsg) Physikalische
4. Bei akutem NSK werden aufgrund der Evidenzlage Medizin in der Rheumatologie unter Berücksichtigung evidenz-
folgende Verfahren empfohlen: Bewegungstherapie, basierter Daten, 2. Aufl. Rheuma+Wissen, ISBN: 97839838289,
progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, manuel- S 187–196
le Therapie, Wärme und Rückenschule. 6. AWMF (2010) Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz.
http://www.kreuzschmerz.versorgungsleitlinien.de. Zugegriffen:
5. Bei subakutem/chronischem NSK werden aufgrund 31. Juli 2015
der Evidenzlage folgende Verfahren empfohlen: 7. Schmidt CO, Raspe H, Pfingsten M, Hasenbring M, Basler HD,
Akupunktur, Bewegungstherapie, progressive Eich W, Kohlmann T (2007) Back pain in the German adult popula-
Muskelrelaxation nach Jacobson, Ergotherapie, tion: prevalence, severity, and sociodemographic correlates in a
manuelle Therapie, klassische Massage und Rücken- multiregional survey. Spine 32(18):2005–2011
8. Waddell G (1987) Volvo award in classical sciences. A new clinical
schule.
model for the treatment of low-back paine. Spine 12:634–644
6. Obsolet sind Bettruhe von mehreren Tagen und alle
Verfahren, die zu einer Deaktivierung oder Schmerz-
verstärkung führen.
7. Keine Empfehlung besteht aufgrund der wissen-
schaftlichen Datenlage für: Interferenz, perkutane
elektrische Nervenstimulation (PENS), transkutane
elektrische Nervenstimulation (TENS), Lasertherapie,
Magnetfeldtherapie, Orthesen, Kältetherapie und
Traktion mit Gerät.

Multimodale, interdisziplinäre Schmerzbehand-


lung bei Rückenbeschwerden
5 Intensive Patientenschulung
5 Konsequentes körperliches Training (Bewegungs-
therapie)
5 Verhaltenstherapeutische Behandlungsmaßnah-
men zur Veränderung eines maladaptiven, auf
Ruhe und Schonung ausgerichteten Krankheits-
verhaltens und Reduktion von Muskelent-
spannung
5 Ergotherapeutische Maßnahmen (»work
hardening«)
271 22

Manuelle Medizin
W.F. Beyer

22.1 Definition – 272


22.1.1 Befunderhebung mit der Hand – 272
22.1.2 Therapie mit der Hand – 272
22.1.3 Mobilisation und Manipulation – 273

22.2 Indikationen und Kontraindikationen – 273

22.3 Risiken und Komplikationen – 274

22.4 Evidenzbasierte Medizin – 275


22.4.1 Akuter nichtspezifischer Kreuzschmerz – 275
22.4.2 Chronischer nichtspezifischer Kreuzschmerz – 275
22.4.3 Massage bei akutem Rückenschmerz – 275
22.4.4 Massage bei chronischem und subakutem Rückenschmerz – 275

Literatur – 276

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
272 Kapitel 22 · Manuelle Medizin

Die manuelle Medizin hat sich in den letzten Jahrzehnten Allein diese beiden sehr umfassenden Definitionen
erheblich weiterentwickelt. Ursprünglich verstand sie sich zeigen das gesamte Dilemma der manuellen Medizin im
als eine von der Erfahrungsmedizin geprägte eigene Entität. Kontext der evidenzbasierten Medizin, insbesondere beim
Geprägt von einem naturwissenschaftlichen Verständnis ist Rücken- und Nackenschmerz.
sie heute ein wesentlicher und nicht mehr wegzudenken-
der Bestandteil der Untersuchung von Haltungs- und Be-
wegungssystem. Sie erweitert und ergänzt die üblichen 22.1.1 Befunderhebung mit der Hand
anamnestischen, klinischen und bildgebenden Befunde.
Neben strukturellen Veränderungen werden insbesondere Legt man den Fokus auf die Befunderhebung mit der
auch Funktionsstörungen von Gelenken und Muskeln er- Hand, wäre nach diesen Definitionen die klinische Unter-
fasst. Therapeutisch umfasst sie weit mehr als die bekannte suchung durch einen Abdominalchirurgen manuelle
Manipulation von Gelenken; viele Weichteiltechniken an Medizin; Gleiches gilt für einige Bereiche der HNO-Heil-
Muskeln, Sehnen, Faszien und bindegewebigen Strukturen kunde, der inneren Medizin und für andere Fachgebiete.
haben in den letzten Jahren das Spektrum wesentlich er- Danach wäre die manuelle Medizin ein nicht wegzuden-
weitert. Eingebunden in ein therapeutisches Gesamtkon- kender, essenzieller Bestandteil jeder klinischen Unter-
zept ist sie eine Bereicherung jeglicher Schmerztherapie. suchung. Argumentiert man damit, dass die manuelle
Medizin (MM) zwar ein Bestandteil jeder klinischen Un-
tersuchung sei und lediglich wesentlich exakter und diffe-
22.1 Definition renzierter vorgehe als die »Standardmedizin«, gilt dies
auch nur sehr begrenzt. Untersuchungsprinzipien und
Weder in Deutschland noch weltweit gibt es eine einheit- klinische Testverfahren, die vor wenigen Jahren lediglich
liche und verbindliche Definition von manueller Medizin. in der MM eingesetzt wurden, sind heute Standard, er-
Die Bundesärztekammer definierte 2003 die manuelle wähnt seien hier nur Impingementtests der Hüfte und der
Medizin in ihrem Kursbuch wie folgt [3]: »Manuelle Medi- Schulter. Hält man hingegen den Untersuchungstests der
zin ist die medizinische Disziplin, in der unter Nutzung der MM eine Pseudogenauigkeit und Scheinobjektivität (»da
theoretischen Grundlagen, Kenntnisse und Verfahren hat ja jeder etwas!«) – sprich: ungenügende Reliabilität und
weiterer medizinischer Gebiete die Befundaufnahme am Validität – vor, trifft das ebenfalls nicht (mehr) zu. Für viele
Bewegungssystem, dem Kopf, an viszeralen und binde- dieser Testverfahren liegen exakte Untersuchungen bei-
gewebigen Strukturen sowie die Behandlung ihrer Funk- spielsweise zum Kappa-Wert vor, nach denen sie anderen
tionsstörungen mit der Hand unter präventiver, kurativer klinischen Untersuchungsverfahren völlig ebenbürtig
und rehabilitativer Zielsetzung erfolgt.« sind. Kurz gefasst sind die Untersuchungsverfahren der
Die Verbindung der Schweizer Ärzte FMH Manuelle MM nicht besser, aber auch nicht schlechter als andere
Medizin erweiterte und ergänzte diese Definition 2012 wie bewährte und allgemein akzeptierte klinische Unter-
folgt: »Die Manuelle Medizin ist eine fächerübergreifende suchungsverfahren.
medizinische Disziplin, welche Diagnostik, Prävention so-
wie kurative und rehabilitative Behandlung der Funktions-
störungen des Bewegungsorgans inklusive myofaszialer 22.1.2 Therapie mit der Hand
und neuromeningealer Strukturen mittels manueller Tech-
niken umfasst. Die Manuelle Medizin wird von Fachärzten Stellt man jedoch die Therapie mit der Hand in den Mittel-
im Rahmen der ganzheitlichen individuellen Betreuung punkt, ergeben sich andere wesentliche und insbesondere
von Patientinnen und Patienten in der ambulanten und unter wissenschaftlichen Aspekten bedeutsame Probleme.
stationären Gesundheitsversorgung angewandt. Diagnos- Während früher – und auch heute noch im angloamerika-
tik und Therapie beruhen auf biomechanischen und neu- nischen Sprachraum üblich – unter manueller Therapie
rophysiologischen Prinzipien. Die Manuelle Medizin um- ausschließlich sog. Gelenktechniken verstanden wurden,
fasst im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes werden heute (s. auch hierzu die Definitionen) auch und
die interdisziplinäre Anwendung ihrer diagnostischen und zunehmend sog. Weichteiltechniken subsummiert
therapeutischen Techniken zur Erkennung und Behand- (. Abb. 22.1). Hier erfolgt die »Krafteinwirkung« nicht auf
lung gestörter Funktionen des Bewegungssystems und der Gelenke, sondern auf Muskeln, Faszien, neuromeningeale
davon ausgehenden Beschwerden. Dabei finden auch Strukturen, Viszera etc. Neurophysiologische Betrach-
komplexe Funktionsstörungen innerhalb des Bewegungs- tungsweisen haben die biomechanischen Erklärungs-
systems, vertebroviszeral und viszerovertebral, sowie psy- modelle weitgehend verdrängt, von Subluxation, Blockie-
22 chosoziale Einflüsse und auch Chronifizierungsvorgänge rung etc. spricht heute kein ernst zu nehmender Manual-
ihre angemessene Berücksichtigung« (zit. nach [2]). therapeut mehr. Die insbesondere in englischsprachigen
22.2 · Indikationen und Kontraindikationen
273 22
angenommen. Die hier zum Einsatz kommenden Kräfte
sind viel geringer als von Laien und Gegnern der manuel-
len Medizin oftmals vermutet oder angegeben (bspw. im
Zusammenhang mit sog. Kunstfehlerprozessen). So be-
trägt die notwendige Maximalkraft für eine Separation der
Gelenkflächen im Bereich der HWS 100–150 Newton und
für die LWS 300–500 Newton [5, 6]. Dies entspricht einem
Auflagedruck von etwa 12–15 bzw. 30–50 Kilopond.
> Weder in Deutschland noch weltweit gibt es eine
einheitliche und verbindliche Definition. Die
manuelle Medizin erweitert die klinische Diagnostik
und liefert wichtige zusätzliche Informationen. Die
MM unterscheidet Weichteil- und Gelenktechniken,
. Abb. 22.1 Weichteilbehandlung mittels Triggerpunkttherapie der
Muskulatur des zervikothorakalen Übergangs und der unteren Hals- bei Letzteren kann vereinfachend in solche mit
wirbelsäule (© Christoph Löhr, Orthopädiezentrum Bad Füssing; mit Impuls (Manipulation) und solche ohne Impuls
freundl. Genehmigung) (Mobilisation) differenziert werden.

Publikationen getroffene Gleichsetzung von manueller 22.2 Indikationen


Therapie mit Manipulationen ist deshalb nicht nur un- und Kontraindikationen
zutreffend, sondern führt bei der Bewertung der wissen-
schaftlichen Evidenz einer Therapie auch zu falschen Er- In der Diagnostik ist die manuelle Medizin bei allen
gebnissen bzw. Interpretationen. Krankheiten des Haltungs- und Bewegungssystems indi-
ziert, sie ist obligater Teil jeder klinischen Untersuchung.
Lediglich in wenigen Ausnahmefällen ist die Untersuchung
22.1.3 Mobilisation und Manipulation mit der Hand nicht erforderlich oder gar kontraindiziert
(z. B. bei psychiatrischen Krankheitsbildern). Ziel ist es
Insbesondere im deutschsprachigen Raum werden bis immer, die betroffene bzw. für die Funktionsstörung und
heute die Begriffe Mobilisation und Manipulation oftmals den Schmerz verantwortliche Struktur zu differenzieren.
als klassische Therapieverfahren der MM betrachtet. Die Dies gilt gleichermaßen für Funktions- als auch für Struk-
Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz definiert die turstörungen. Eine ausschließlich topografisch definierte
Begriffe Manipulation und Mobilisation als das direkte Diagnose wie Lumbal- oder Zervikalsyndrom ist für einen
Einwirken mit den Händen auf den Körper der Erkrankten Manualmediziner zwar im klinischen Alltag bisweilen er-
mit therapeutischer Zielsetzung. Der Manipulation/Mobi- forderlich, genügt jedoch weder seinen Ansprüchen noch
lisation liegt eine definierte Verfahrensweise zugrunde, die seinem Krankheitsverständnis. Die Differenzierung in
ein schnelles oder langsames, einmaliges oder repetitives spezifisch und nichtspezifisch kann ebenfalls nur im Sinne
Bewegen von Gelenkpartnern, ganzen Teilen der Wirbel- einer Arbeitshypothese akzeptiert werden. Ziel ist es im-
säule oder der Iliosakralgelenke zum Ziel hat. Für die mer, eine genauere Zuordnung z. B. zu einem Muskel,
therapeutische Wirkung werden zum Teil mechanische, einer Sehne, einer Faszie etc. vornehmen zu können. Dies
überwiegend aber neuroreflektorische Vorgänge verant- ist aber oftmals nicht mit ausreichender Sicherheit mög-
wortlich gemacht. lich, umgekehrt ist aber auch bei Vorliegen der Diagnose-
Bei der Mobilisation handelt es sich um eine weiche, kriterien des spezifischen Rückenschmerzes meist nur eine
federnde, meist rhythmische oder repetitive Bewegung Sensitivität und Spezifität von höchstens 90 % gegeben. Bei
eines Gelenks zur Verbesserung der Beweglichkeit des Strukturstörungen kann die manuelle Therapie ebenfalls
Gelenks, aber auch zur Schmerzreduktion. Neben direkten erfolgreich angewandt werden, wenn auch nicht im Sinne
mechanischen Einflüssen werden auch eine Reduktion des einer Heilung oder kausalen Therapie, sie kann aber auch
Sympathikotonus, damit verbunden eine Detonisierung hier zu einer klinisch relevanten Funktionsverbesserung
sowie eine Entstauung als Wirkmechanismen angesehen. und/oder Schmerzreduktion beitragen.
Bei der Manipulation (auch Mobilisation mit Impuls, Nach einer Empfehlung der FIMM im Jahr 2013 [8]
MMI, oder »spinalmanipulative therapy«, SMT, genannt) bestehen einige Kontraindikationen (7 Übersicht).
wird neben einer Separation der Gelenkflächen eine vor-
wiegend propriozeptive Stimulation (A-beta-Afferenzen)
mit spinalen und supraspinalen detonisierenden Effekten
274 Kapitel 22 · Manuelle Medizin

sation vor Manipulation ist das Risiko einer Verletzung als


Kontraindikationen nach FIMM extrem gering einzustufen.
5 Fehlendes Einverständnis des Patienten
5 Unzureichende Ausbildung des Therapeuten
5 Wirbelfraktur und -dislokation 22.3 Risiken und Komplikationen
5 Bakterielle Entzündungen an der Wirbelsäule ein-
schließlich Diszitis, Osteomyelitis und Meningitis Risiken und Komplikationen der manuellen Therapie sind
5 Tumoren der Wirbelsäule – primär wie sekundär zwar selten, werden jedoch sowohl in der Laienpresse als
5 Insuffizienz der Aa. carotides und vertebrales auch bei Nichtmanualmedizinern oftmals spektakulär und
5 Myelopathie; Kompression oder Irritation des unsachlich dargestellt. Es existieren aber typische metho-
Rückenmarks (positives Kernig- und Lhermitte- denabhängige und zum Teil auch schwerwiegende Risiken,
Zeichen) die deshalb in Deutschland zu Recht klaren juristischen
5 Kaudasyndrom Vorgaben unterliegen, insbesondere solchen zu Dokumen-
5 Neurologische Erkrankungen mit möglicher tation und Aufklärungspflicht. Die Manipulation an der
Kompression des Rückenmarks, z. B. Syringomyelie Wirbelsäule wird als ärztlicher Heileingriff gewertet und
ist deshalb in Deutschland Ärzten vorbehalten. Leider gilt
dieser Vorbehalt nicht für Heilpraktiker, und er wird in
Besondere Vorsicht ist geboten bei letzter Zeit zunehmend auch von Physiotherapeuten mit
4 Spondylolyse mit Spondylolisthesis, begrenzter Zulassung als Heilpraktiker infrage gestellt.
4 erheblicher Instabilität und deutlicher Hypermobilität, Die Häufigkeit von Komplikationen wird auf weniger
4 Aneurysmen, als einen ernsten Zwischenfall bei 6 Mio. Manipulationen
4 Fehlbildungen des zervikookzipitalen Übergangs, geschätzt. Diese Zwischenfälle werden häufig mit den
4 Spinalstenose, schnellen Manipulationsimpulsen in Verbindung ge-
4 rheumatoider Arthritis, rheumatoiden und Binde- bracht, die oft auch aus (aus)rotierter Stellung heraus vor-
gewebserkrankungen, genommen werden. Eine umfassende Ausbildung ist daher
4 anderen neurologischen Krankheiten, z. B. Spina verpflichtend, insbesondere vor Manipulationen an der
bifida, Halswirbelsäule.
4 Zustand nach operativer Fixation/Stabilisierung, Die Schätzungen beschreiben die Inzidenz ernster
4 Schmerz bei der Lagerung und Einstellung zur neurovaskulärer Zwischenfälle in einem Bereich von
Manipulation, 1:50.000 bis 1:5.000.000 zervikaler Manipulationen (zit.
4 Schmerz bei der Bewegung in Richtung des geplanten nach [8]). In einer Literaturübersicht für den Zeitraum
Manipulationsimpulses, 1925–1993 ergaben sich 185 spezifische, schwerwiegende
4 Ängstlichkeit des Patienten gegenüber einer Mani- Komplikationen. Etwa 66 % betrafen zerebrovaskuläre
pulation, Zwischenfälle, 12 % Bandscheibenvorfälle, 8 % patho-
4 Mangel an erforderlicher Ausrüstung (z. B. Be- logische Frakturen oder Dislokationen und 3 % eine
handlungsliege, Notfallausstattung, Wahrung der deutliche Schmerzzunahme.
Privatsphäre, Mitwirkung des Patienten, Sprachver- Zu den lebensbedrohlichen Komplikationen gehören:
ständnis). 4 Todesfälle als Folge einer Stammhirnschädigung nach
> Weichteil-, Muskelenergie-, indirekte und myofaszi-
einer Manipulation bei einer nicht erkannten Fraktur
ale Techniken haben wenige Kontraindikationen.
der oberen Halswirbel oder als Folge einer Gefäßver-
Vorsichtsmaßnahmen sind jedoch erforderlich und
letzung speziell im vertebrobasilären Gefäßsystem
sollten beachtet werden, darüber hinaus müssen
nach einer Manipulation an Patienten mit einer vor-
die Patienten ausreichend informiert und aufgeklärt
her unerkannten Gefäßverletzung oder -erkrankung;
werden.
4 Rückenmarkverletzungen, die, abhängig von der
Höhe der Schädigung, bei einer hochzervikalen Ver-
Manipulationen sind bei Vorliegen von »red flags« oder letzung zu einer Quadriplegie, bei einer lumbosakra-
einer radikulären Symptomatik im betroffenen Segment len Verletzung zu einer Inkontinenz und sexuellem
kontraindiziert. Funktionsverlust und bei einer lumbalen Schädigung
Eine routinemäßige Röntgenuntersuchung vor ma- zu einer Lähmung der unteren Extremität führen
nualtherapeutischen Eingriffen an der lumbalen Wirbel- können;
säule oder den Iliosakralgelenken ist nicht notwendig. Bei 4 zerebrovaskuläre Zwischenfälle mit entsprechenden
22 sorgfältiger Indikationsstellung und Beachtung der Kon- neurologischen Ausfällen je nach Lokalisation bis hin
traindikationen sowie Durchführung einer Probemobili- zum Tod (Stammhirn, Kleinhirn, Kortex etc.).
22.4 · Evidenzbasierte Medizin
275 22
Zu den ernsthaften Komplikationen zählen:
. Tab. 22.1 Spontanverlauf von nichtspezifischen akuten
4 Frakturen oder Luxationen, und chronischen Kreuzschmerzen im Kurzeit- und Langzeit-
4 Ausbreitung von Tumoren oder Entzündungen, verlauf (nach Menke [9])
4 Zunahme von Schmerzen oder Funktionsverlust.
Weniger bedeutsame unerwünschte Wirkungen sind: Erwartete Verbesserung im Spontanverlauf nichtspezi-
4 lokalisiertes Unwohlsein, fischer akuter und chronischer Kreuzschmerzen
4 Taubheitsgefühl,
Kurzzeitverlauf Langzeitverlauf
4 Kribbeln in den oberen Extremitäten, (<6 Wochen) (>6 Wochen)
4 Gleichgewichtsstörungen, kurze Bewusstlosigkeit,
Gefühl des Schwebens, Akuter Kreuzschmerz 0,65 0,90
4 Kopfschmerz. Chronischer 0,10 0,40
Kreuzschmerz

22.4 Evidenzbasierte Medizin

Auch wenn bei vielen Medizinern – insbesondere bei 22.4.2 Chronischer nichtspezifischer
Manualmedizinern und Praktikern – am Konzept der Ein- Kreuzschmerz
teilung von Rückenschmerzen in spezifische und nicht-
spezifische einerseits und akute und chronische anderer- Nach Auffassung der NVL erzielen bei chronischen Kreuz-
seits erhebliche Bedenken bestehen, handelt es sich dabei schmerzen Manipulationen und Mobilisationen in Kom-
um das derzeit einzige verfügbare und international akzep- bination mit einer Form von Bewegungstherapie die besten
tierte Arbeitsmodell zur Beurteilung der Wirksamkeit kurzfristigen Effekte [12]. Langfristige Erfolge konnten
einzelner Therapieformen. ebenfalls nachgewiesen werden [10]. Sie können deshalb
Bei der Beurteilung der Evidenz der manuellen Medi- zur Behandlung von chronischen nichtspezifischen Kreuz-
zin ergeben sich einige Besonderheiten und Schwierig- schmerzen in Kombination mit Bewegungstherapie ange-
keiten. Zum einen wird manuelle Medizin zu Unrecht wendet werden. Explizit wird darauf hingewiesen, dass
häufig mit Manipulation gleichgesetzt (7 Abschn. 22.1.2). zwar ein klinisches Screeninginstrument entwickelt und
Zum anderen ist der Spontanverlauf zu berücksichtigen evaluiert wurde zur Identifikation von Betroffenen, die mit
(. Tab. 22.1); Scheinmanipulationen sind, wenn über- höherer Wahrscheinlichkeit von Manipulationen oder
haupt, nur schwer darzustellen. Die meisten Studien Mobilisationen profitieren könnten, dass dies jedoch keine
weisen nur kurz- und mittelfristige Ergebnisse auf, als Ziel- besseren Effekte in einer besonderen Zielgruppe (u. a. be-
kriterium wird meist die Schmerzstärke bestimmt. Nicht sonders ausgeprägte Schmerzen, mit Ausstrahlung) ergab.
zuletzt wird die manuelle Therapie meist in ein multidis-
ziplinäres Therapiekonzept mit eingebunden und nur in
Einzelfällen für sich allein angewandt. 22.4.3 Massage bei akutem Rückenschmerz

Wenn man möchte, kann man die Massage als Teilelement


22.4.1 Akuter nichtspezifischer Kreuz- der manuellen Therapie (Weichteilbehandlung) ansehen.
schmerz Beim akuten Kreuzschmerz existiert in der Literatur kein
ausreichender Wirksamkeitsnachweis. Entsprechend soll
Die Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz (NVL) die Massage nach den Empfehlungen der NVL hier auch
[4] kam zur zusammenfassenden Beurteilung, dass Mani- nicht angewandt werden.
pulationen und Mobilisationen lediglich für die Schmerz-
reduktion von besonders ausgeprägten Schmerzen (mit
Ausstrahlungen) positive Effekte hätten. Diese Behandlun- 22.4.4 Massage bei chronischem
gen könnten deshalb bei akuten nichtspezifischen Kreuz- und subakutem Rückenschmerz
schmerzen angewendet werden. Zwischenzeitlich wurde
von einer deutschen Arbeitsgruppe eine vielbeachtete pla- Bei chronischen (und subakuten) Rückenschmerzen exis-
cebokontrollierte, randomisierte Doppelblindstudie publi- tieren mittlerweile mehrere randomisierte kontrollierte
ziert, in der die Placebogruppe aus ethischen Gründen vor- und auch methodisch hochwertige Studien. Diese spre-
zeitig geschlossen werden musste. Nach 12 Wochen waren chen dafür, dass Massage in Bezug auf Schmerzlinderung
die Ergebnisse der Manipulationsgruppe signifikant besser und Funktionsfähigkeit kurzfristig wirksamer ist als z. B.
als die der Patienten, die Diclofenac erhalten hatten [7]. Akupunktur, physikalische Therapie, Schulungsmateria-
276 Kapitel 22 · Manuelle Medizin

lien oder Entspannungstherapie, aber in Kombination mit 5. Forand D (2004) The forces applied by female and male chiro-
Schulung und Übungstherapie wirksamer und in Kombi- practors during thoracic spine manipulation. J Manipulative
nation mit Bewegungsprogrammen auch langfristig am Physiol Ther 27:49–56
6. Herzog W (2010) The biomechanics of spinal manipulation. J
wirkungsvollsten ist. Bodyw Mov Ther 14:280–286
Die Wirksamkeit von Impulsmanipulationen bei 7. Heymann W von, Schloemer P, Timm J, Muehlbauer B (2013)
Nackenschmerz wurde in vielen systematischen Reviews Spinal high-velocity low amplitude manipulation in acute
hoher Qualität wie auch in evidenzbasierten Leitlinien und nonspecific low back pain. Spine 38:540–548
Berichten über die Bewertung der Gesundheitstechnologie 8. Heymann W von, Terrier B (2014) Leitlinien über die Grundlagen
der Aus- und Weiterbildung und der Sicherheit in manueller/
untersucht. Die Evidenz für manuelle Therapie ist bei
muskulosletaler Medizin – Version 3.1. Angenommen durch die
Nackenschmerzen höher einzustufen als bei lumbalen FIMM-Generalversammlung am 15.10.2013. Manuelle Medizin
Rückenschmerzen. Bei akutem einfachen HWS-Trauma 52:229–236
gilt sie ebenfalls als wirksam [13]. In Verbindung mit den 9. Menke M (2014) Do manual therapies help low back pain? Spine
jüngsten Ergebnissen randomisierter kontrollierter Stu- 39:E463–E472
10. Muller R, Giles LG (2005) Long term follow up of a randomised
dien soll den Patienten mit normalem Nackenschmerz
clinical trial, assessing the efficacy of medication, acupuncture
zunächst zur schnellen Erleichterung eine nichtmanipula- and spinal manipulation for chronic mechanical spinal pain
tive Behandlung angeboten werden, bevor eine zervikale syndroms. J Manipul Physiol Ther 28(1):3–11
Manipulation erwogen wird. Diese sollte zusammen mit 11. Schneider M, Haas M, Glick R, Stevans J, Landsittel D (2015)
Beratung über Eigenaktivität und Übungen erfolgen. Comparison of spinal manipulation methods and usual medical
Wenn allerdings Risiko, Nutzen und der Patientenwunsch care for acute and subacute low back pain. Spine 40:209–217
12. United Kingdom Backpain Exercise and Manipulation (UK BEAM)
bedacht werden, gibt es gegenwärtig (2012) keine be- Trial Team (2004) Randomised trial: Effectiveness of physical
vorzugte Therapieoption [8]. treatments for backpain in primary care. BMJ 329(7479):1377
> Sowohl beim akuten als auch beim chronischen 13. Vincent K, Maigne JY Fischhoff C et al (2012) Systematic review of
manual therapies for nonspecific neck pain. Joint Bone Spine
nichtspezifischen Rückenschmerz sowie beim ein-
16:1297–1319
fachen Nackenschmerz ist die manuelle Therapie
eine sinnvolle, wichtige, effektive und neben-
wirkungsarme Therapieoption. Unklar ist bis heute,
welche Patientensubgruppen besonders von dieser
Therapie profitieren können. Die manuelle Therapie
sollte insbesondere bei chronischen Schmerzen in
ein multidisziplinäres Therapiekonzept eingebun-
den werden.

Literatur

1. Beyer L, Geipel E, Heymann W von, Klett R, Locher H, Nitz E,


Psczolla M, Weidinger P (2015) Einsatz von Röntgennativauf-
nahmen in der manuellen Medizin. Manuelle Medizin 3:209–212
2. Böhni U, Lauper M, Locher H (2015) Manuelle Medizin 1. Fehl-
funktion und Schmerz am Bewegungsorgan verstehen und
behandeln. Georg Thieme, Stuttgart
3. Bundesärztekammer (BÄK) (2003) (Muster-)Kursbuch manuelle
Medizin/Chirotherapie. Methodische Empfehlungen, Lehr- und
Lerninhalte für den Grund- und Aufbaukurs der Zusatz-Weiter-
bildung »Manuelle Medizin/Chirotherapie«. http://www.bundes-
aerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/MKB_
Manuelle_Medizin_Chirotherapie.pdf. Zugegriffen: 12. Oktober
2015
4. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung
(KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizini-
schen Fachgesellschaften (AWMF) (2011) Nationale Versorgung-
sLeitlinie Kreuzschmerz, Langfassung. http://www.kreuzschmerz.
versorgungsleitlinien.de. Zugegriffen: 7. Oktober 2015

22
277 23

Orthopädische Hilfsmittel
S. Middeldorf

23.1 Einleitung – 278

23.2 Rumpforthesen und ihre Funktionsprinzipien – 279

23.3 Einsatz bei Schmerzsyndromen der Wirbelsäule – 279


23.3.1 Hilfsmittel bei osteoporotischen Wirbelsäulenschmerzen – 280
23.3.2 Hilfsmittel im Bereich der Halswirbelsäule – 281

Literatur – 282

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_23, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
278 Kapitel 23 · Orthopädische Hilfsmittel

Orthopädische Hilfsmittel sind eine wichtige Therapieoption lungsgrad wird mit »B« angegeben. Auch die aktuell gültige
23 bei Erkrankungen der Stütz- und Bewegungsorgane, insbe- Leitlinie zur Rehabilitation nach Frakturen der Brust- und
sondere der Wirbelsäule; entsprechende Empfehlungen sind Lendenwirbelsäule führt aus, dass die Orthesenbehand-
auch aktuellen Leitlinien zu entnehmen. Ziel muss es sein, lung kontrovers diskutiert werde, sie könne nur bei be-
die orthopädietechnischen Hilfsmittel patientenindividuell stimmten Konstellationen in Erwägung gezogen werden.
in ein Behandlungskonzept zu integrieren, idealerweise in So könne bei einer konservativen Primärbehandlung einer
der Zusammenarbeit eines medizinischen Spezialisten- Wirbelkörperfraktur eine 8-wöchige Orthesenversorgung
teams, bestehend aus Arzt, Physiotherapeut und Orthopä- erfolgen, dann ab der 9. Woche Entwöhnung mit Abschluss
dietechniker. Dabei reicht das Behandlungsspektrum der der Behandlung möglichst bis zur 12. Woche. Bei Grenzin-
technischen Orthopädie von unspezifischen Rückenschmer- dikationen zu operativen Maßnahmen könne eine indivi-
zen bis hin zu degenerativen Veränderungen der Wirbel- dualisierte Versorgung durch eine Rahmenstütz- oder eine
körper, Osteoporose und traumatischen Frakturen. Die Ver- Vollkontaktorthese erwogen werden [3]. Die nationale
ordnung muss das Stadium der Erkrankung bzw. Heilung Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz bewertet den Einsatz
(akut, subakut, chronisch) ebenso berücksichtigen wie den von Orthesen dahingehend, dass Orthesen zur Behand-
Krankheitsverlauf, von besonderer Bedeutung ist auch die lung des akuten und chronischen nichtspezifischen Kreuz-
Compliance der Patienten. schmerzes nicht angewendet werden sollen [4]. Diese Ein-
schätzung berücksichtigt die Tatsache, dass der sinnvollen
und zielführenden Verordnung von Hilfsmitteln, insbe-
23.1 Einleitung sondere von Orthesen für die Wirbelsäule, als Indikation
immer ein zum Schmerz- und Behinderungserleben kor-
Entsprechend den Rechtsgrundlagen der Hilfsmittel- respondierender struktureller Körperschaden besteht und
versorgung in Deutschland gehören zu den Hilfsmitteln zugrunde gelegt wird – beispielsweise eine muskulär nicht
sog. sachliche medizinische Leistungen, die dazu dienen, ausreichend kompensierbare Instabilität oder muskuläre
Arzneimittel oder andere Therapeutika, die zur inneren Schwäche, Dysbalance, Haltungsverfall oder Schmerzen
Anwendung bestimmt sind, in den Körper zu bringen, z. B. bei konservativer Behandlung osteoporosebedingter Frak-
Körperersatzstücke, orthopädische oder andere Hilfsmit- turen. Fehlen bedeutsame strukturelle Veränderungen der
tel, Sehhilfen, Hörhilfen oder technische Produkte. Hilfs- Stütz- und Bewegungsorgane oder sind diese nicht aufzu-
mittel sollen durch ersetzende, unterstützende Wirkungen spüren, so lässt sich die Verordnung und Indikation zur
den Erfolg der Krankenbehandlung sichern. Sie gehören Versorgung mit Orthesen nicht begründen. Dabei sollten
zum Bereich der sog. technischen Orthopädie, die im Jahr Wirbelsäulenorthesen niemals nur als »letzte Möglichkeit«
1741 von Nicolas Andry mit einem krummen Bäumchen, der Behandlung angesehen werden, sondern auch frühzei-
gehalten durch Pfahl und Seil, dargestellt wurde. tig als Teil einer multimodalen und aktiv ausgerichteten
Im Kontext der Behandlung von Rückenschmerzen Therapie verstanden werden.
denkt man bei Hilfsmitteln und Methoden der technischen Die schlechte Datenlage zur Evidenz von Hilfsmitteln
Orthopädie natürlich zunächst an Orthesen für die Wir- ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass es wegen der
belsäule. In zweiter Annäherung sind es darüber hinaus fehlenden Möglichkeit zur Verblindung naturgemäß nur
z. B. Mobilitätshilfen, Greifhilfen und auch orthopädische in beschränktem Maße möglich ist, Studien zur Evaluation
Schuhzurichtungen, die im Alltag des Schmerzpatienten der Wirksamkeit externer Applikationen durchzuführen.
zur Verbesserung der Lebensqualität, Kompensation und Dies gilt insbesondere für so komplexe Themen wie den
Steigerung der Selbsthilfe hilfreich sein können. Schmerz als multidimensionales Phänomen. Zudem sind
Die aktuelle Literatur zur Behandlung chronischer Hilfsmittel in der Regel in ein multimodales Konzept ein-
Schmerzen, insbesondere im Bereich der Stütz- und Be- gebettet, das zusätzlich einen isolierten Wirkungsnachweis
wegungsorgane, gibt wenig bis keine Hinweise zum Einsatz nur unzureichend möglich macht.
von Hilfsmitteln als mögliche Therapieoptionen. Dieses Dabei verfügen Hilfsmittel, insbesondere im Vergleich
gilt auch für nationale und internationale Leitlinien. So zu Operationen und Medikamenten, über ein gutes Ver-
sieht z. B. die EU-Leitlinie Rückenschmerz (COST B13 träglichkeits- und Sicherheitsprofil sowie über eine teils
Working Group on Guidelines for the Management of jahrhundertealte Empirie . So wird über den Einsatz eines
Acute Low Back Pain in Primary Care) als Ergebnis einer Baumrindenkorsetts ca. 900 v. Chr. berichtet. Nichtsdesto-
Metaanalyse den Einsatz von Hilfsmitteln nicht vor. Auch trotz hat die technische Orthopädie ihren festen Platz in
der DVO-Leitlinie Osteoporose 2009 [1, S. 322] ist zum den Fächern Orthopädie, Unfallchirurgie und Schmerz-
Thema chronische Schmerzen nach Wirbelsäulenfraktu- therapie. Sie bietet ein breites Spektrum an Möglichkeiten,
ren lediglich zu entnehmen, dass ggf. eine wirbelsäulena- die sich positiv auf die oft nicht unerheblichen Einschrän-
ufrichtende Orthese eingesetzt werden solle. Der Empfeh- kungen der Aktivitäten, Funktionen sowie der Teilhabe
23.3 · Einsatz bei Schmerzsyndromen der Wirbelsäule
279 23
(aufgrund struktureller Veränderungen der Stütz- und angestrebte biomechanische Einfluss gilt primär der
Bewegungsorgane) auswirken kann. Dabei ist darauf zu Weichteilunterstützung und der Lagebeeinflussung von
achten, dass immer auch die subjektive Bewertung der inneren Organen. Bewegungseinschränkungen im lum-
Hilfsmittel durch den Patienten zwingend von Anfang bosakralen Wirbelsäulenbereich sind jedoch mit dieser
an mit einzubeziehen ist. Die berühmte »Bandage im Art des Hilfsmittels kaum erzielbar.
Schrank« des Patienten ist letztlich Hinweis für eine feh- Mieder nach Maß oder Formmodell sind Rumpfor-
lende Wirksamkeit oder Akzeptanz, die immer im Vorfeld thesen, die speziell ohne Beckenkorb und somit ohne Be-
durch Beratung und ggf. auch probatorischen Einsatz be- ckenkammprofilierung oder -fassung konzipiert sind. Sie
rücksichtigt werden sollte, vor allem angesichts der in der wirken zirkulär und oft punktuell auf die Becken-Rumpf-
Regel nicht unerheblichen Kosten für Hilfsmittel. Regionen ein und können zur teilweisen Bewegungs-
einschränkung oder zur Teilfixierung in einigen Be-
wegungsebenen des lumbosakralen und des thorakolum-
23.2 Rumpforthesen und balen Wirbelsäulenbereichs beitragen.
ihre Funktionsprinzipien Rumpforthesen oder Korsette, nach Maß oder
Körperformmodell angefertigt, sind grundsätzlich alle or-
Grundsätzlich werden heute Orthesen nach der interna- thopädietechnische Hilfsmittel, die im Becken- und
tionalen Bezeichnung der Rumpforthesen benannt, die Rumpfbereich angewendet werden. Es werden damit
jeweils Wirkbereichen zugeordnet sind. Zu wesentlichen Orthesen für die Wirbelsäule erfasst, die mit Beckenkorb
Funktionsprinzipien gehört es, Fehlstellungen vorzu- und somit mit Beckenkammprofilierung oder -fassung
beugen, zu reduzieren oder zu halten, darüber hinaus Ge- konzipiert sind. Sie wirken zirkulär und meist flächig auf
lenkbeweglichkeit zu verbessern oder zu begrenzen, die Becken-Rumpf-Region ein und haben fixierende, rekli-
schlaffe Lähmungen zu kompensieren und zu kontrollie- nierende, distrahierende und, soweit möglich, redressie-
ren, zudem Belastungen auf das Gewebe zu reduzieren und rende Zielsetzungen.
umzuverteilen. Am Rumpf werden Bandagen, Mieder im Eindeutig muss an dieser Stelle darauf hingewiesen
Sinne von Leibbinden und Kreuzstützmieder sowie werden, dass Mieder und Bandagen, anders als Korsette,
Korsette eingesetzt. nicht zu einer Atrophie der Muskulatur führen, wie oft
Üblicherweise werden Orthesen aus Metall oder fälschlicherweise behauptet wird, sondern gerade im
Kunststoffmaterialien, darüber hinaus aus elastischen Ge- Gegenteil zu einer Effektivitätssteigerung der Rumpf-
weben bzw. Drell hergestellt. Im Hinblick auf die Metall- muskulatur führen.
körper werden Aluminium und Stahl verwendet, Letzteres Die orthopädietechnische Versorgung gewinnt dann
insbesondere dann, wenn eine stabile Abstützung bei insbesondere an Bedeutung, wenn z. B. im höheren Alter
höheren Kräften nötig ist. Zu den wesentlichen biomecha- aktive Behandlungsprinzipien nicht mehr voll umfänglich
nischen Funktionen gehört die kinästhetische Erinnerung. realisiert werden können.
So stimuliert Druck durch die Orthese das Sensorium und > Grundsätzlich sind Orthesen und Bandagen immer
erinnert den Patienten an eine möglichst korrekte und an- in ein möglichst funktionelles Therapiekonzept
gepasste Haltung; man verwendet hier auch den Begriff der (Physiotherapie, medizinische Trainingstherapie)
»Mahnwirkung«. Eine der Hauptwirkungen von Orthesen einzubinden, soweit möglich.
mit Bauchhebezügen ist die Erhöhung des intraabdomi-
nellen Drucks, der sog. Zahnpastatubeneffekt, bei dem der
intrakavitäre Druck der Bauchhöhle die Wirbelsäule von
vorn abstützt. Andere Orthesen arbeiten nach dem 23.3 Einsatz bei Schmerzsyndromen
3-Punkt-Prinzip und erreichen hierdurch Korrekturen der Wirbelsäule
und Immobilisationen im Sinne von Lordosierung,
Kyphosierung und Derotation. Andere Orthesen sind dazu Zu den im Wirbelsäulenbereich eingesetzten Hilfsmitteln
geeignet, über eine Extension zwischen 2 fixierenden gehören insbesondere Leibbinden als körperumschlie-
Knochenpunkten, z. B. dem Beckenkamm und dem ßende Orthesen nach Maß aus Stoff (Drell) und elasti-
Rippenbogen, darunterliegende Segmente aufzurichten. Je schen Materialien, oft mit elastischen Einsätzen, teilweise
nach Bauart sind Orthesen geeignet, bestimmte Bewegun- mit Stabilisierung durch Federstäbe, sowie Korsett- und
gen in den Endpunkten einzuschränken, diese zu kontrol- Rumpforthesen nach Maß oder Gipsabdruck, ganz oder
lieren und damit schmerzhafte Bewegungen zu vermeiden. teilweise aus festen Materialien hergestellt und oft mit
Leibbinden nach Maß sind medizinische Hilfsmittel Beckenkorb.
aus Gewebe oder Elastikmaterialien. Sie umfassen flächig- Bei bandscheibenbedingten Erkrankungen kann es
zirkulär vorwiegend die Becken- und Leibregionen. Der sinnvoll sein, mit einer Orthese eine Extensionsbehand-
280 Kapitel 23 · Orthopädische Hilfsmittel

lung (Traktion) durchzuführen. Diese gelingt zum einen teil muss der nach dorsal ausweichenden LWS ausreichend
23 durch Übungen und Geräte; zur Extension der Lenden- Platz bieten und darf der Haut nicht anliegen. Die Bauch-
wirbelsäule kann aber auch im Hilfsmittelbereich eine pelotte muss hingegen unmittelbar über dem Schambein
Streckbandage eingesetzt werden. ansetzen und einen gleichmäßigen Andruck gegen den
Leitgedanke für diese Entwicklung war die Beobach- unteren Teil des Abdomens ausüben. Mit dieser dynami-
tung von Krämer, dass Patienten mit Bandscheibenleiden schen Flexionsorthese erreicht man nach dem 3-Punkt-
nach längerer Belastung versuchen, ihre Hände am Prinzip eine Abflachung der Lendenlordose.
Beckenkamm abzustützen, um die Wirbelsäule zu exten- Das Prinzip ähnelt dabei auch der Entlordosierung
sieren. Sinnvollweise erfolgt vor der Verordnung der und Druckentlastung, wie sie bei der entlastenden Stufen-
Streckbandage ein Extensionstest. Hierbei wird durch eine lagerung genutzt wird. Es kommt zu einer Erweiterung der
kurzfristige Extension der Lendenwirbelsäule der Kontakt Zwischenwirbellöcher und Abflachung der dorsalen Vor-
zwischen den gereizten Nervenwurzeln und der Band- wölbung des Anulus fibrosus. Die elastische Zuggurtung
scheibenvorwölbung so reduziert, dass sich Intensität und der suprapubischen Bauchpelotte für den Bereich der
Ausstrahlungsweise der Ischialgie oder einer Neuralgie des lumbalen Bandscheibe führt zu einer deutlichen Senkung
N. femoralis ändern. Berichtet der Patient dabei von einer des intradiskalen Drucks um ca. 30 %. Die abdominelle
Schmerzerleichterung, so kann die Verordnung der Ban- Kompression verwandelt den Bauchzylinder in eine prall-
dage als gerechtfertigt angesehen werden. Die Indikation elastische Blase, die die Tragefunktion für den Rumpf
wird insbesondere bei jüngeren Patienten mit intradiska- übernimmt. Eine ähnliche Wirkung entfalten gut trainier-
len Bandscheibenmassenverschiebungen gesehen. Dabei te Bauchmuskeln, deren Effektivität man durch das Anle-
ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass Wirkungen insbe- gen fester Bauchgurte noch steigern kann.
sondere bei akuten bandscheibenbedingten Beschwerden
gesehen werden, nicht aber bei einem chronischen Lum-
balsyndrom [5]. 23.3.1 Hilfsmittel bei osteoporotischen
Forderungen an Rumpforthesen bei degenerativen Wirbelsäulenschmerzen
Erkrankungen der Wirbelsäule sind die Druckentlastung
der Bandscheibe, die Abflachung der Lendenlordose, die Bei der Osteoporose der Wirbelsäule werden als Hilfs-
Unterstützung der Rumpfmuskeln und die Ausschaltung mittel außer Orthesen Pufferabsätze und Ballenrolle am
beschwerdeauslösender Bewegungen. Der zuletzt genann- Konfektionsschuhwerk zur Dämpfung axialer Stöße und
ten Aufgabenstellung liegt auch die Entwicklung des sog. zum leichteren Abrollen eingesetzt.
»back support« zugrunde, einem insbesondere in den USA In der Therapie der Osteoporose hat die Behandlung
verbreiteten Hilfsmittel zur Prophylaxe. des akuten und chronischen Schmerzes Priorität, gefolgt
Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen starren von der funktionellen Rehabilitation und dem Erhalt bzw.
Orthesen (Apparate, Korsett), die abstützende Funktionen dem Aufbau von Knochenmasse. Schmerzen – in Ruhe
der Stütz- und Bewegungsorgane übernehmen bzw. aus- und bei Bewegung – führen zu Inaktivität der betroffenen
schalten und somit entlastend wirken, und dynamischen Patienten, ein Circulus vitiosus beginnt. Eine länger an-
Orthesen, die durch ihre Funktion insbesondere korrigie- haltende Immobilisierung muss daher in jedem Fall ver-
rend wirken. Bei verschleißbedingten Wirbelsäulener- mieden werden. Die Verordnung einer Orthese im Rahmen
krankungen nutzt man die stützende und korrigierende der Schmerztherapie (auch primär) kann insbesondere
Funktion von Rumpforthesen gleichermaßen. Die Verord- darum angezeigt sein, weil die osteoanabole medikamen-
nung richtet sich somit nach der Schwere der vorausgegan- töse Therapie in der Regel zunächst eine längere Laufzeit
genen Erkrankung und der im Vordergrund stehenden benötigt, ehe nennenswerte Effekte erzielt werden können.
Störung im Bewegungssegment. Wenn auch eine weitere Kompression von Wirbelkörpern
Um eine konsequente Entlordosierung zu erreichen, durch die Orthesen für gewöhnlich nicht vollständig ver-
bei der es zu einer Erweiterung und somit Druckentlastung mieden werden kann, werden doch kritische Bewegungs-
im Bereich der Lendenwirbelsäule kommt, wird das Wirk- und Belastungsspitzen eingeschränkt; gesichert wird eine
prinzip der Flexionsorthesen mit Einsatz einer Pelotte, eher physiologische Lastübertragung auf die Wirbel-
die ventral angebracht ist, verwendet. Eine suprapubische körperteilbereiche. Grundsätzlich gilt natürlich auch hier,
elastische Bauchpelotte drückt das Abdomen in Richtung dass die Versorgung so umfassend wie nötig und so gering
der Lendenwirbelsäule. Als Gegenhalt dient ein gerades wie möglich ausfallen sollte. Neuentwicklungen von
Rückenteil, das am oberen und unteren Ende der Lenden- Orthesen, die für die Indikation der Osteoporose geschaf-
wirbelsäule ansetzt, entsprechend dem Hohmann-Über- fen wurden, haben daher insbesondere einen verbesserten
brückungsmieder. Der gerade oder sogar, je nach Situa- Tragekomfort und das erleichterte An- und Ausziehen in
tion, im Sinne der Kyphose etwas ausgebogene Rückenan- den Mittelpunkt gestellt.
23.3 · Einsatz bei Schmerzsyndromen der Wirbelsäule
281 23
Im Wesentlichen ergeben sich 3 Indikationsbereiche: haltungsunterstützend wirken kann. Die Rückenschiene,
Bei Wirbelfrakturen und Sinterungen kann ein Teil der die in die vorgesehene Tasche im Mieder eingeschoben
Tragefunktion im Sinne eines Funktionsersatzes durch wird, liegt auf einem großen Teil der Wirbelsäule auf,
eine Orthese übernommen werden. Bei Frakturen im wodurch eine großflächige Verteilung des Drucks erreicht
thorakolumbalen Übergang kann die Überbrückungsor- wird. Die Zuggurtung im Hüftbereich stabilisiert die
these die Last des Oberkörpers – unter Umgehung des tho- Lendenwirbelgegend, am Schultergürtel werden durch den
rakolumbalen Wirbelsäulenabschnitts – vom Thorax auf Gurtzug die Schultern zurückgeführt. Die gewünschte
das Becken überleiten. Typische Vertreterinnen dieser in korrigierende Wirkung kann sich natürlich nur dann
der Regel nach akuten Wirbelkörperfrakturen eingesetzten entfalten, wenn auch die Fähigkeit der Aufrichtung im
Orthesen sind die 3-Punkt-Hyperextensionsorthese nach Wirbelsäulenbereich besteht, was im Vorfeld abgeprüft
Bähler und Vogt und die Hyperextensionsorthese in werden muss. Vorteile dieser neuen Generation von
Rahmenbauweise. Sie werden insbesondere bei stabilen Rückenorthesen zur Behandlung osteoporosebedingter
Wirbelkörperkompressionsfrakturen der mittleren und Schmerzen und des Haltungsverfalls liegen neben der
unteren Brustwirbelsäule sowie der oberen Lendenwirbel- Biomechanik insbesondere im verbesserten Tragekomfort,
säule eingesetzt. Sie können darüber hinaus aber auch nach durch den man auch eine bessere Compliance und Akzep-
operativen Behandlungen zur temporären Versorgung in- tanz des Patienten erwarten darf. Hinweise für positive
stabiler Wirbelkörperfrakturen benutzt werden oder zur Effekte in Bezug auf Reduktion lumbaler Schmerzen
dauerhaften orthetischen Versorgung bei instabilen Wir- liefern auch die Forschungsarbeiten von Pfeifer, Begerow
belsäulentumoren und -metastasen. und Minne [5] sowie Gutenbrunner und Hildebrandt [6].
Die bei höhergradiger Osteoporose typische Ver-
änderung der Körperstatik mit Verlagerung des Körper-
schwerpunkts nach ventral infolge einer zunehmenden 23.3.2 Hilfsmittel im Bereich
Kyphosierung, Insuffizienz der Abdominalmuskulatur der Halswirbelsäule
und Überlastung der Rückenstreckmuskulatur kann in den
seltensten Fällen durch Muskeltraining allein beseitigt Im Bereich der Halswirbelsäule kommen aus der
werden. Hier können Orthesen zur Stellungskorrektur und Produktgruppe Orthesen/Schienen insbesondere HWS-
Stabilisation, zur Aktivierung der Muskulatur, temporären Orthesen zur Stabilisierung – auch mit Brustbeinauflage
Kompensation muskulärer Schwächen und passiven oder als sog. Halskrawatte – zum Einsatz. Orthesen zur
Korrektur der Körperstatik eingesetzt werden. Dabei Stabilisierung der Halswirbelsäule mit Brustbeinauflage
werden Orthesen auch zum Schutz bestimmter Wirbel- sind einstellbare, anatomische Zervikalorthesen. Bei den
säulenabschnitte während Phasen erhöhter körperlicher HWS-Stabilisierungsorthesen mit Brustbeinauflage
Belastung oder während eines erhöhten Knochenumsatzes handelt es sich um Kunststoff- oder feste Schaumstoffzer-
eingesetzt. vikalorthesen. Diese Zervikalorthesen sind zirkulär mit
Auch im Fall der Behandlung von Osteoporose mit Klettverschluss zu schließen und weisen Abpolsterungen
Orthesen wird häufig vermutet, dass das Tragen zu einer an den Rändern auf. Zu den Indikationen gehören gemäß
weiteren Verschlechterung der muskulären Situation Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbands [7] alle
führe. Die Argumentation, aufgrund einer drohenden Krankheitsbilder, bei denen eine Stabilisierung der HWS
Muskelatrophie sei keine Rückenorthese zu verordnen, ist mit oder ohne Brustbeinauflage notwendig ist, z. B. bei der
jedoch nicht schlüssig, da die Ursache einer Muskelatro- Behandlung von radikulären Schmerzzuständen im HWS-
phie gerade im Fall der Osteoporose die mangelnde Be- Bereich oder bei schwerem Schleudertrauma.
wegung bzw. Belastung sein kann. Verharrt der Patient Die leitlinienorientierte Betrachtung des Beschleuni-
immobil im Bett oder Sessel, bildet sich die Muskulatur gungstraumas der Halswirbelsäule hingegen empfiehlt
und damit auch die Knochenmasse zurück, unabhängig nicht die Anlage eines Schanz-Kragens oder anderer
davon, ob eine Orthese getragen wird oder nicht. Wird er mechanisch ruhigstellender Vorrichtungen; eine Außnah-
hingegen durch ein Hilfsmittel unterstützt oder erhält da- me besteht bei Instabilität oder massivstem Bewegungs-
durch eine Schmerzreduktion sowie eine verbesserte schmerz [8]. Langfristige Immobilisationen der Hals-
Gangsicherheit, entstehen erst die Voraussetzungen für die wirbelsäule sollen nur bei schwerwiegenden knöchernen
notwendige Bewegung und Aktivität. Verletzungen erfolgen.
Interessante Neuentwicklungen im Bereich aktiver
Rückenorthesen bestehen aus einem Mieder mit eingeleg-
ter Rückenschiene, die individuell an Körpermaße und
Rückenverkrümmung angepasst wird. In den textilen
Bestandteilen ist eine Gurtzügelung eingearbeitet, die
282 Kapitel 23 · Orthopädische Hilfsmittel

Literatur
23
1. Dachverband Osteologie e. V. (2009) DVO-Leitlinie 2009 zur
Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose bei
Erwachsenen – Langfassung. Osteologie 18:304–328
2. Arbeitsgemeinschaften der wissenschaftlichen medizinischen
Fachgesellschaften (AWMF) (2010) Rehabilitation nach Frakturen
der Brust- und Lendenwirbelsäule. Leitlinie der Deutschen
Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie und
des Berufsverbandes der Ärzte für Orthopädie. AWMF-Leitlinien-
Registernummer 033/043, Entwicklungsstufe 1. http://www.
awmf.org/leitlinien/detail/ll/033-043.html. Zugegriffen:
4. November 2015
3. Middeldorf S (2010) Hilfsmittel. In: Casser H-R, Locher H-A,
Strohmeier M, Grifka J (Hrsg) Spezielle Schmerztherapie. Georg
Thieme, Stuttgart, S 221
4. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung
(KBV) und Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer
fachgesellschaften (AWMF) (Hrgs) (2011) Nationale Versorgung-
sleitlinie Kreuzschmerz, Version 1.2, August 2011, AWMF Register:
nvl/007. http://www.leitlinien.de/nvl/kreuzschmerz/. Zugegriffen:
4. November 2015
5. Pfeifer M, Begerow B, Minne HW (2004) Die Wirkung einer neu
entwickelten Rückenorthese auf Körperhaltung, Rumpfmuskel-
kraft und Lebensqualität bei Frauen mit postmenopausaler
Osteoporose: Eine randomisierte Studie. Am J Phys Med Rehabil
83:177–186
6. Gutenbrunner C, Hildebrandt HD (2001) Untersuchungen zur
Wirksamkeit funktioneller Orthesen auf lumbale Schmerzen –
Ergebnisse einer patientenseitigen Outcome-Studie. Or-
thopädie-Technik 10/01:727–735
7. GKV-Spitzenverband (2004) Hilfsmittelverzeichnis. https://
hilfsmittel.gkv-spitzenverband.de/hmvAnzeigen_input.action.
Zugegriffen: 30. Oktober 2015
8. Diener H-C, Putzki N (Hrsg) (2008) Leitlinien für Diagnostik und
Therapie in der Neurologie, Kommission »Leitlinien« der
Deutschen Gesellschaft für Neurologie, 4., überarb. Aufl. Georg
Thieme, Stuttgart
283 24

Ergotherapie
P. Higman

24.1 Einführung – 284

24.2 Befunderhebung – 284

24.3 Interventionen – 284


24.3.1 Pacing – 284
24.3.2 Hilfsmittelanpassung, -versorgung, -beratung, -training – 285
24.3.3 Berufliche (Wieder-)Eingliederung – 285
24.3.4 Edukation/Beratung – 285
24.3.5 Rückenschule – 286

Literatur – 286

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
284 Kapitel 24 · Ergotherapie

Ergotherapie hilft Menschen mit chronischen Rücken- oder in der ICF beschrieben – und unterstützt Betroffene darin,
Nackenschmerzen, die Aktivitäten, die sie durchführen ihren individuell erreichbaren physischen und psychi-
wollen und müssen, zufriedenstellend durchzuführen. Einer schen Gesundheitszustand wiederzuerlangen und lang-
24 umfassenden Befunderhebung auch anhand von Anamnese, fristig aufrechtzuerhalten. Dabei werden bei Bedarf unter-
Assessementinstrumenten und persönlichen Gesprächen schiedliche Maßnahmen eingesetzt. Wichtig für eine er-
folgt eine individuell angepasste Intervention. Diese Behand- folgreiche Intervention ist die Compliance des Klienten.
lung beinhaltet Beratung zur Lebensgestaltung in allen Viele Menschen mit chronischen Schmerzen verbrauchen
Bereichen, wie z. B. Produktivität, Selbstversorgung und viel Energie mit der Suche nach Heilung und Schmerzlin-
Freizeit, außerdem Edukation zu Gesundheitszustand und derung, das ist sehr verständlich. Aber wenn der Schmerz
Ergonomie, Training in der Pacingtechnik, um eine möglichst schon chronisch geworden ist und keine spezifische Ursa-
schmerzfreie Ausdauer aufzubauen, Handlungsbalance, eine che zu erkennen ist, müssen sich die Ziele verändern, und
Hilfsmittelberatung wo notwendig, eine individuelle beruf- der Umgang mit dem Schmerz bzw. das Schmerzmanage-
liche Wiedereingliederung und eine Rückenschulung. ment steht im Vordergrund. Ein geeignetes Instrument für
die Beratung und Edukation zur Situation von chronischen
Schmerzen ist die handlungsorientierte Beratung für
24.1 Einführung Schmerzpatienten (HOBS) von Krohn und Spiekermann
[9]. Mithilfe dieses Instruments können Klienten mehr
In der Ergotherapie erhalten Klienten mit chronischen Rü- über ihren Zustand erfahren, und sie lernen, warum und
cken- bzw. Nackenschmerzen eine Hilfestellung dabei, die wie sie ihr Leben anders gestalten können, um eine bessere
Aktivitäten, die für sie wichtig sind, weiterhin durchzufüh- Lebensqualität zu erlangen.
ren bzw. wieder aufzunehmen. Es gibt Belege, die zeigen,
dass trotz Rückenschmerz eine Beibehaltung oder Wieder-
aufnahme von Aktivität für die Rehabilitation wichtig ist 24.3.1 Pacing
(NVL [AWMF, S 68]). Schulung und Unterstützung wer-
den auf einer individuellen Basis durchgeführt, damit die Pacing ist eine Strategie für das Management von Aktivitä-
Aktivitäten, die für den Klienten wichtig sind, keinen ten. Es ist dynamisch und für alle Aktivitäten anzupassen.
Schmerz provozieren. Dabei werden Übungen und Infor- Die Aktivität wird in Einzelschritte zerteilt und mit Pausen
mationsveranstaltungen ggf. in Gruppen abgehalten. über einen bestimmten Zeitraum verteilt. Wichtig dabei
ist, dass sich der Klient an die Pausen hält, um sich von der
Betätigung zu »erholen«, noch bevor er einen stärkeren
24.2 Befunderhebung Schmerz empfindet. Die Pausen sollten nach Zeit und
nicht nach Befindlichkeit eingesetzt werden. Wird die Aus-
In der Regel ist Ergotherapie bei Patienten mit chroni- dauer besser, werden die Pausen verkürzt. Schmerz soll bei
schem Kreuzschmerz oder Nackenschmerz Teil einer mul- der Betätigung nicht provoziert werden [6, 4].
timodalen Behandlung, daher steht ein interdisziplinäres Pacing ist der Schlüssel zu einer verbesserten Ausdauer
Assessment am Anfang des Prozesses. Den ergotherapeu- und daher auch zu einer Erweiterung möglicher Aktivitä-
tischen Teil betreffen nicht nur Informationen zum Rü- ten. Es setzt die Akzeptanz des Klienten voraus, dass er mit
cken- oder Nackenschmerz, sondern auch zum Ablauf ei- dem Schmerz umgehen muss und nicht nur nach einer
nes »normalen« Tages, zur Situation bei der Arbeit und zu einfachen Linderung sucht.
weiteren üblichen Aktivitäten, die diese Person durchfüh-
ren muss oder möchte. Das evidenzbasierte Assessment-
Pacingregeln
instrument Canadian Occupation Performance Measure
5 Positionswechsel nach Zeit, nicht nach Komfort
(COPM) [11] und das Occupational Self Assessment
5 Häufig kleine Pausen machen
(OSA) [3] sind neben einer ausführlichen Anamnese für
5 Gezielte Planung von Aktivitäten
die Erhebung dieser Informationen geeignet. Allerdings
5 Aufgaben in Teile stückeln, die machbar sind
sollten weitere Instrumente für spezifische Fragen, z. B. zur
5 Langsamer/schneller werden – immer die gleiche
Arbeitsfähigkeit, eingesetzt werden.
Zeit in Anspruch nehmen
5 Reduktion von Anstrengung
5 Langsame Zunahme von Aktivitätsmengen
24.3 Interventionen

Der Fokus der ergotherapeutischen Intervention liegt auf Wenn die Ausdauer verbessert ist und der Klient in der
der Aktivität, der Teilhabe und den Kontextfaktoren – wie Lage ist, die meisten ihm wichtigen Aktivitäten wieder auf-
24.3 · Interventionen
285 24
gesetzt werden. Falls Hilfsmittel gebraucht werden, dann ist
. Tab. 24.1 Einteilung von Aktivitäten
es Aufgabe der Ergotherapie, sicherzustellen, dass sie kor-
Energiezehrend Energiegebend rekt eingesetzt werden, und falls nötig ein Training für ih-
ren Gebrauch durchzuführen. Hilfsmittel könnten u. a.
Ungeliebte Pflichten (Haushalt, Schwimmen Geräte zur Entlastung beim Heben und Tragen, Haushalts-
z. B. Bügeln, Putzen) geräte, Stehhocker oder unterschiedliche Sitzmöglichkeiten
Kompromisse einhalten Spazierengehen sein, so z. B. Kniehocker und Ballkissen, oder Anziehhilfen,
Arbeit/Produkte termingerecht Musik hören, entspannen
wie z. B. Strumpfanzieher. Auch eine Wohnraumanpassung
erledigen/erstellen muss in Betracht gezogen werden, siehe hierzu 7 Kap. 35,
»Ergonomie«. Viele Patienten brauchen eine Beratung, um
ihre Umwelt so zu gestalten, dass sie ihre gewünschten
Aktivitäten ergonomisch durchführen können.
zunehmen, kann es sein, dass das subjektive Gefühl von > Hilfsmittel nur so viel wie absolut notwendig
Schmerz weniger ist, weil der Schmerz nicht mehr das anwenden!
Dominanteste im Leben ist. Solange der Schmerz das
Leben des Betroffenen kontrolliert, dreht sich alles darum.
Wenn er oder sie mehr Kontrolle über den Schmerz be-
kommt, steht er nicht mehr im Mittelpunkt, und es kann 24.3.3 Berufliche (Wieder-)Eingliederung
eine Handlungsbalance entstehen. »Unter dem Element
Handlungsbalance ist der Fokus auf Ausgewogenheit von Behandlungsprogramme, die ergotherapeutische Maß-
Aktivitäten gerichtet. Der Klient soll eine ausgeglichene nahmen im Rahmen von arbeitsorientierten Trainings und
Regelmäßigkeit an sich ergänzenden Aktivitäten finden. kognitiven Verhaltenstherapien einbeziehen, reduzieren
Dabei ist eine Kongruenz zwischen gewünschten und ge- nachweislich die Arbeitsunfähigkeitstage, die aufgrund
lebten Aktivitäten erstrebenswert« [1]. von chronischem Kreuzschmerz entstehen [2, 10, 13].
Zuerst ist eine Analyse des Arbeitsplatzes notwendig.
> Pacing ist ein Schlüssel zu verbesserter Ausdauer.
Falls möglich, sollte der Ergotherapeut/die Ergotherapeu-
tin dem Arbeitsplatz einen Besuch abstatten. Dabei sind
jHandlungsbalance nicht nur die Haupttätigkeiten und das Sitzen am Compu-
Als Hilfe zur Erstellung einer Handlungsbalance sind die ter oder Schreibtisch zu berücksichtigen, sondern auch
Aktivitäten in 2 Gruppen einzuteilen: zum einen die Akti- weitere Aufgaben, die anfallen, z. B. das Tragen von Ord-
vitäten, die energiezehrend sind, und zum anderen die, nern vom Regal zum Schreibtisch, das Einsortieren von
die energiegebend sind. Hier geht es um subjektive Emp- Gegenständen in Schränke, Botengänge usw. Zusammen
findungen, deshalb muss die Einteilung immer von den mit der Analyse sollte mit dem Klienten ein »normaler«
Betroffenen selbst vorgenommen werden. Beispiele gibt Arbeitstag durchgesprochen und die Hauptbelastungen
. Tab. 24.1. herausgefunden werden. Daraufhin ist es notwendig, in
Eine Verbesserung der Ausdauer wird erreicht, wenn der Therapie die Ausdauer bei ähnlichen Tätigkeiten
konsequent nach Zeit gearbeitet wird. Dabei soll am An- (»graded activity«) zu erhöhen. Hierbei sollten die Regeln
fang der Ausgangswert sehr niedrig gehalten werden, um des Pacing (7 Abschn. 24.3.1) beachtet werden. Eine lang-
tatsächlich unter der Schmerzgrenze zu bleiben. Die same Steigerung auf die gewünschte Dauer der Tätigkeit
Steigerung soll nur so schnell vorangehen, wie der Schmerz kann Wochen oder sogar Monate dauern. Es ist wichtig,
es erlaubt. Sobald die Tätigkeit Schmerz verursacht, ob geduldig zu bleiben und nicht zu früh aufzugeben. Die
direkt oder vielleicht mit einer Verzögerung, z. B. am Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit [7] ist eine
nächsten Tag, ist sie zu viel. Möglichkeit zu überprüfen, ob der Klient leistungsfähig ist
> Zwischen energiegebenden und energiezehrenden
bzw. wie leistungsfähig er ist und ob er seinen gewohnten
Aktivitäten ist eine Balance notwendig.
Beruf wieder ausführen kann. Eine Wiedereingliederungs-
maßnahme am echten Arbeitsplatz sollte die Intervention
dann beenden.

24.3.2 Hilfsmittelanpassung, -versorgung,


-beratung, -training 24.3.4 Edukation/Beratung

Hilfsmittel sollten eine Entlastung bringen und unter dem Edukation und Beratung gehören als ständige Inhalte der
Motto »so wenig wie möglich, so viel wie notwendig« ein- Ergotherapie in alle Interventionsstunden. Anhand des
286 Kapitel 24 · Ergotherapie

Eingangsassessments sollte in allen Bereichen des Alltags 10. Lambeek L, Mechelen W van, Knol D, Loisel P, Anema J (2010)
gearbeitet werden, um eine möglichst effiziente und ergo- Randomised controlled trial of integrated care to reduce
disability from chronic low back pain in working and private life.
nomische Betätigung mit einer Handlungsbalance zu er-
BMJ 340:c1035. doi: 10.1136/bmj.c1035
24 reichen. Dazu gehört das Stress- und Zeitmanagement 11. Law M, Baptiste S, Carswell A, McColl M, Polatajko H, Pollock N
sowie Training im Bereich Spiel, Freizeit und Erholung. (2009) COPM Canadian Occupational Performance Measure, 4.
Aufl. Schulz-Kirchner, Idstein
12. Pfingsten M, Hildebrandt J, Saur P, Franz C, Seeger D (1997) Das
Göttinger Rücken Intensiv Programm (GRIP) Ein multimodales
24.3.5 Rückenschule
Behandlungsprogramm für Patienten mit chronischen Rücken-
schmerzen. Der Schmerz 11(1):30–41
Es gibt keine festen Vorgaben, welche Inhalte die Rücken- 13. Schornstein E Kenny D Keating J Koes B (2008) Work conditoning,
schule aufweisen sollte. Allerdings gibt es Evidenz dafür work hardening and functional restoration for workers with back
[12], dass eine Rückenschulung, die Ergotherapie, Physio- and neck pain. Cochrane Dateabase Syst Rev. CD001822
therapie sowie medizinische Informationen enthält, die
Rückkehr zur Arbeit vereinfacht. Das gilt insbesondere
dann, wenn die berufsbezogenen Inhalte auf die individu-
elle Person zugeschnitten sind (7 Kap. 33.3.6).

Empfehlenswerte Inhalte der Rückenschule [8]


5 Informationen zu Rücken- bzw. Nackenschmerz
5 Haltungs- und Bewegungsanalyse
5 Techniken der Entspannung
5 Schmerzverarbeitung und Schmerzbewältigung
5 Erarbeitung neuer, veränderter Verhaltensweisen
5 Vorstellung und Erprobung sinnvoller bzw.
notwendiger Hilfsmittel

Literatur

1. Aegler B und Heigl F (2008) Die Rolle der ET bei Menschen mit
chronischen Schmerzen – ein Modell. Ergotherapie: Fachzeit-
schrift des ET-Verbandes Schweiz 10:23–27
2. AWMF (2010) Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz,
Langfassung. http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/
nvl-007l_S3_Kreuzschmerz_2013-08.pdf. Zugegriffen: 7. August
2015
3. Baron K, Kielhofner G, Goldhammer V, Wolenski J (2011)
Benutzerhandbuch für das Occupational Self Assessment.
Schulz-Kirchner, Idstein
4. Butler D, Moseley G (2009) Schmerzen verstehen, 2. Aufl.
Springer, Heidelberg
5. Higman P (2002) Der Schmerz – Welche Bedeutung hat er für die
Ergotherapie? Ergotherapie und Rehabilitation 4:15–19
6. Higman P (2005) Schmerz. In: Habermann C, Wittmershaus C
(Hrsg) Ergotherapie im Arbeitsfeld Geriatrie. Thieme, Stuttgart
7. Kaiser H, Kersting M, Schian M-H, Jacobs A, Kasprowski D (2000)
Der Stellenwert des EFL Verfahrens nach Susan Isernhagen in
der medizinischen beruflichen Rehabilitation. Rehabilitation
39:287–306
8. Koesling C, Müller C (2008) Rückenschule. In: Koesling C,
Bollinger-Herzka T (Hrsg) Ergotherapie in der Orthopädie,
Tramatologie und Rheumatologie. Thieme, Stuttgart
9. Krohn K, Spiekermann H (2008) Handlungsorientierte Beratung
für Schmerzpatienten. Verlag Modernes Lernen, Dortmund
287 25

Potenzial des analgetischen


Placeboeffekts in der
Rückenschmerztherapie
R. Klinger, H. Flor

25.1 Placeboeffekte in der Therapie von Rückenschmerzen – 288

25.2 Was ist ein analgetischer Placebo- und Noceboeffekt? – 288

25.3 Wie entsteht der analgetische Placeboeffekt? – 289


25.3.1 Placeboanalgesie und Erwartungsprozesse – 289
25.3.2 Placeboanalgesie und Konditionierungsprozesse – 289
25.3.3 Zusammenhang zwischen Konditionierung und Erwartung
bei der Placeboanalgesie – 289
25.3.4 Placeboanalgesie und soziales Lernen – 290

25.4 Wie wird der analgetische Placeboeffekt


aufrechterhalten? – 291

25.5 Neurobiologie der Placeboanalgesie – 291

25.6 Klinischer Einsatz von Placeboeffekten – 291

25.7 Placeboeffekte in der Schmerzbehandlung:


praktische Implikationen – 292
25.7.1 Placeboffekte und Lernen – 292
25.7.2 Noceboeffekte und Lernen – 293
25.7.3 Placeboeffekte und Erwartung – 293
25.7.4 Noceboeffekte und Erwartung – 294
25.7.5 Empfehlung der S3-Leitlinie: Placeboeffekte nutzen –
Noceboeffekte vermeiden! – 294

Literatur – 295

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
288 Kapitel 25 · Potenzial des analgetischen Placeboeffekts in der Rückenschmerztherapie

Die Forschung zur Placebowirksamkeit gewinnt in den auf welchem Weg dieser hohe Placeboeffekt zustande
letzten Jahren eine zunehmende klinisch-praktische Be- kommt, wodurch er ausgelöst werden kann und wie er
deutung. Es wird nicht mehr nur von einem allgemeinen, klinisch verwertbar ist.
unspezifischen Placeboeffekt ausgegangen, sondern es
konnte gezeigt werden, dass es viele, krankheitsspezifische
Placeboeffekte gibt. Die Erkenntnisse auf diesem Gebiet, 25.2 Was ist ein analgetischer
25 insbesondere auch der verschiedenen zugrundeliegenden Placebo- und Noceboeffekt?
Mechanismen, machen den Placeboeffekt zu einem pote-
nziell nachvollziehbaren Prozess, der klinische Therapien, Mit dem analgetischen Placeboeffekt wird das Auftreten
medikamentöse wie auch psychotherapeutische, effektiver eines schmerzlindernden Effekts bezeichnet, nachdem
gestalten kann. Der analgetische Placeboeffekt nimmt hier- eine pharmakologisch wirkstofffreie, inaktive Substanz
bei eine zentrale Position ein, er ist am weitesten erforscht. (Placeboagens) unter bestimmten Bedingungen im Labor
Die psychologische und neurobiologische Grundlagen- oder in klinischen Studien verabreicht wurde. Dabei wird
forschung zu diesem Thema reicht schon über 30 Jahre die Substanz mithilfe einer schmerzlindernden Instruk-
zurück. Der analgetische Placeboeffekt wird in der S3- tion und/oder durch bestimmte Lernerfahrungen erläutert/
Leitlinie der AWMF zur »Behandlung akuter und perioper- eingeführt. In Studien, die speziell die Wirkmechanismen
ativer Schmerzen« zur klinischen Nutzung empfohlen. des Placeboeffekts untersuchen, werden mit diesem Vor-
Die Empfehlung ist eine bedeutsame Innovation in der gehen zum Teil sehr hohe Effektstärken (d=2,29) erreicht
Anwendung medikamentöser Schmerztherapie. Diese [54, 52]. In klinischen Studien mit Analgetika, in denen
Perspektive eröffnet auch innovative Wege zur Behandlung Placebos in der Kontrollbedingung eingesetzt werden,
chronischer Rückenschmerzen. Im folgenden Beitrag zeigen sich geringere Effekte (durchschnittliche Effekt-
werden die Mechanismen und Wirkprinzipien des analge- stärke d=0,15–0,27) [24, 25, 52], mit denen der analge-
tischen Placeboeffekts auf psychologischer und neurobio- tische Placeboeffekt aber trotzdem als klinisch relevante
logischer Ebene beschrieben. Auf dieser Grundlage wird Größe eingestuft werden kann.
dargestellt, wie der Placeboeffekt klinisch sinnvoll in In einem erweiterten Sinn bezeichnet der Begriff »an-
der Therapie des akuten und auch chronischen Rücken- algetischer Placeboeffekt« nicht nur Schmerzlinderungen,
schmerzes eingesetzt werden kann. die durch Substanzen erzeugt wurden. Brody [10] bezeich-
net jegliche positive schmerzlindernde Veränderung als
Placeboeffekt, die aufgrund einer symbolischen Bedeu-
25.1 Placeboeffekte in der Therapie tung entstanden ist, die einem Ereignis oder einem Objekt
von Rückenschmerzen in einem heilenden Kontext zugeschrieben wird. Mit die-
ser Erweiterung kommt dem Kontext bzw. der Umgebung,
In ihrem Cochrane Review zeigen Staal et al. [48], dass es in dem ein pharmakologisch wirkungsvolles Analgetikum
weder für noch gegen die Anwendung von Injektions- oder eine anderweitige schmerztherapeutische Behand-
therapien (Corticosteroide, Lokalanästhetika und andere lung (z. B. psychologische Schmerztherapie) angewendet
Medikamente) oder Denervierungen bei subakuten und wird, eine entscheidende Rolle zu. So ist die Art und Weise
chronischen Rückenschmerzen eine ausreichende empiri- einer Informationsvermittlung über eine bestimmte
sche Evidenz gibt. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Schmerzbehandlung von besonderer Bedeutung: Der so
Henschke et al. [23] in ihrem systematischen Übersichts- entstandene Kontext kann additiv die Wirkung der
artikel. Die Mehrheit der von ihnen ausgewählten Studien Schmerzbehandlung erhöhen.
vergleicht eine Injektionsbehandlung mit einer Placebobe- Analog werden sog. nichtspezifische und unerwünsch-
dingung. Eine große Anzahl dieser Studien zeigt, dass die te Wirkungen bzw. Nebenwirkungen eines Verums, die
Placebobedingung zu ähnlichen Ergebnissen führt, d. h., durch ein wirkstofffreies Agens ausgelöst werden, als
Patienten mit Rückenschmerzen erreichen mithilfe von Noceboeffekt bezeichnet. Hier gibt es noch keine klare
Placeboinjektionen eine vergleichbare Schmerzlinderung Definition. Im Fall eines Analgetikums sollte der »hyper-
wie diejenigen mit Corticoidinjektionen. Wahrscheinlich algetische Noceboeffekt« im Sinne einer Schmerzverstär-
kann durch eine verbesserte Selektion von Patienten eine kung von negativen Nebenwirkungen (wie z. B. Übelkeit,
bessere Indikation und damit eine höhere Erfolgsrate des Erbrechen, Schwitzen) unterschieden werden. Eine solche
Verums erreicht werden, trotzdem sollten diese Ergebnisse erhöhte Schmerzempfindlichkeit lässt sich experimentell
dazu anregen, die Placebobedingung genauer zu beleuch- erzeugen. Dieser Noceboeffekt scheint ähnlichen Mecha-
ten. Wenn es möglich ist, durch eine Placebobedingung nismen zu folgen wie der Placeboeffekt [15]. Die zugrunde
einen vergleichbaren analgetischen Effekt zu erzielen wie liegenden neurobiologischen Mechanismen sind jedoch
durch eine Verumbedingung, dann sollte geprüft werden, vermutlich unterschiedlich [21].
25.3 · Wie entsteht der analgetische Placeboeffekt?
289 25

Instruktion Erwartung Effekt


»Schmerztablette wird Rückenschmerzen Placeboeffekt
Ihre Rückenschmerzen werden reduziert (tatsächliche Reduktion
reduzieren« der Rückenschmerzen)

»Schmerztablette wird Rückenschmerzen Noceboeffekt


Ihre Rückenschmerzen werden verstärkt (Verstärkung
verstärken« der Rückenschmerzen)

. Abb. 25.1 Placeboanalgesie und Noceboeffekte durch Erwartung

25.3 Wie entsteht der analgetische tients« (FOR 1328). Es ist davon auszugehen, dass diese
Placeboeffekt? vorbestehenden Einstellungen einen starken Einfluss auf
die Aufnahme der Information haben, die ein Patient über
Für die Placeboanalgesie werden im Wesentlichen 2 psy- sein Medikament erhält. Eine positive Voreinstellung
chologische Mechanismen der Entstehung und Aufrecht- sollte den Placeboeffekt, eine negative den Noceboeffekt
erhaltung diskutiert: verstärken.
1. Erwartung [2, 5, 6, 7, 8, 27, 28, 30, 39, 41, 42, 43, 53],
2. klassische Konditionierung [1, 46, 47, 56, 57, 58, 62].
25.3.2 Placeboanalgesie
In aktuellen Studien wird neuerdings auch das Modelller- und Konditionierungsprozesse
nen [3] als psychologischer Wirkmechanismus für Place-
bo-/Noceboeffekte herangezogen [12]. Nach dem Modell der klassischen Konditionierung führt
die wiederholte Assoziation eines zunächst neutralen
Stimulus (NS; Aussehen, Farbe, Geschmack des Präparats)
25.3.1 Placeboanalgesie mit dem unkonditionierten Stimulus (US; pharmakologi-
und Erwartungsprozesse sche Wirkung des Präparats) zu einer konditionierten
Reaktion (CR; Placeboeffekt). Der neutrale Stimulus wird
Der Placeboeffekt kann durch Instruktionen und die da- so zum konditionierten Stimulus (CS; wirkstofffreies
durch ausgelösten Erwartungen (»response expectancies« »Vehikel« eines Medikaments, z. B. Aussehen, Farbe und
[26, 29] im Hinblick auf eine Substanz vermittelt werden. Geschmack einer Tablette). Es löst eine konditionierte
Ein Placebo löst eine Erwartung bezüglich eines bestimm- Reaktion aus, den Placeboeffekt, die der ursprünglichen
ten positiven Effekts aus, und die Erwartung produziert pharmakologischen Wirkung des entsprechenden Verums
genau diesen Effekt (. Abb. 25.1). (unkonditionierte Reaktion, UR) ähnlich ist. Sie wird nach
Was genau sich theoretisch hinter dem Modell »Er- dieser Assoziation allein durch das wirkungsstofffreie
wartung« verbirgt, ist noch weitgehend unerforscht. Nach Agens (das Placebo) ausgelöst (. Abb. 25.2).
Turner et al. [51] könnte die Erwartung einer Schmerz- Analog dazu ist beim Noceboeffekt die UR die un-
linderung: erwünschte Nebenwirkung eines Medikaments, die sich
1. Angst-/Stress reduzieren, über Assoziation an das Agens, in diesem Falle das
2. die eigene Kontrollüberzeugung erhöhen, »Nocebo«, koppelt.
3. die Aufmerksamkeit selektiv auf eine positive Ent-
wicklung des Schmerzes lenken, von einer negativen
ablenken und auf diesem Weg zu einer Placebo- 25.3.3 Zusammenhang zwischen
analgesie führen. Konditionierung und Erwartung
bei der Placeboanalgesie
Welche Rolle dabei vorbestehende Einstellungen Medika-
menten gegenüber spielen, ist bislang nur wenig erforscht Bei der Konditionierung werden Zusammenhänge zwi-
[11] und sollte zukünftig in den Fokus gestellt werden. Dies schen Ereignissen gelernt, sodass der Organismus anti-
ist Gegenstand eines von der Deutschen Forschungsge- zipiert, wie seine Umwelt funktioniert. Konditionierung
meinschaft geförderten Projekts im Rahmen der Forscher- setzt Informationen und Relationen voraus, die der CS
gruppe »Psychobiological mechanisms of placebo and über den US bereitstellt. Erforderlich ist hierfür die Be-
nocebo effects in the treatment of chronic back pain pa- teiligung kognitiver Prozesse.
290 Kapitel 25 · Potenzial des analgetischen Placeboeffekts in der Rückenschmerztherapie

Neutraler Stimulus (NS)

Tablettenhülse Anblick der Schmerztablette

Unkonditionierter Stimulus (US) Unkonditionierte Reaktion (UR)


25
Schmerztablette Wirkung der Schmerztablette Schmerzlinderung

Assoziation
Tablettenhülse
Koppelung Anblick + Wirkung
Schmerztablette

Konditionierter Stimulus (CS) Konditionierte Schmerzlinderung (CR)

Placebo Anblick der Schmerztablette, allein Analgetischer Placeboeffekt

. Abb. 25.2 Placeboeffekt und klassische Konditionierung

Bei der Placeboanalgesie stellt die positive Vorer- gang), die durch Vermeidung negativ verstärkt, also auf-
fahrung mit einem Medikament (US, Schmerzlinderung) rechterhalten werden. Eine zentrale Aufgabe der Therapie
eine Verbindung zwischen dem äußeren Erscheinungsbild von chronischen Rückenschmerzen ist es, diese Über-
des Medikaments (z. B. Aussehen, Geschmack, Geruch) zeugung (Erwartung) zu revidieren und die Patienten an-
und der Reaktion (UR, Schmerzlinderung) her. Die »Um- zuleiten, trotz ihrer Rückenschmerzen körperlich aktiv zu
gebungsreize« des Medikaments werden zum CS konstitu- werden. In diesem Modell lassen sich wichtige Ansatz-
iert (»Placebo«) und stellen die Information (Erwartung) punkte für den klinischen Einsatz von Placeboeffekten
bereit, um bei erneuter Einnahme einen vergleichbaren integrieren. Ein Placebo kann z. B. dazu dienen, eine neue
Effekt (Schmerzlinderung) erzielen zu können. Erwartun- positive Assoziation zu Bewegung aufzubauen, z. B. durch
gen, die durch verbale Instruktionen aufgebaut werden, die Instruktion »Dieser Wirkstoff lindert ihre Schmerzen
können als konditionierte Stimuli betrachtet werden, die und führt zu einer besseren Beweglichkeit«.
die Repräsentanz früherer Lernerfahrungen reaktivieren.
Natürlich spielen beim Placeboeffekt neben bewussten Er-
wartungen auch unbewusste oder implizite Lernprozesse 25.3.4 Placeboanalgesie und soziales Lernen
eine Rolle, was dazu führt, dass Personen zwar anders auf
ein Placebo reagieren, aber nicht unbedingt Auskunft Wie bereits oben erwähnt, spielen auch Prozesse des
darüber geben können, dass oder wie sie es tun. sozialen Lernens bei der Ausbildung von Placeboeffekten
Für den Bereich der Entstehung und Aufrechter- eine bedeutende Rolle. Die Beobachtung eines positiven
haltung von Rückenschmerzen wird insbesondere das Behandlungseffekts bei einer anderen Person erzeugt bei
»Fear-avoidance-beliefs-Modell« (Angst-Vermeidungs- dem Beobachter eine substanzielle Placeboanalgesie. Diese
Überzeugungsmodell [55]) herangezogen, in das sich sehr ist wiederum mit der Ausprägung von Empathie korreliert
gut Placeboeffekte als Gegensteuerung integrieren lassen. [12]. Beobachtungslernen produziert Placeboeffekte, die
Zentrale Annahme ist hier, dass allein die Überzeugung, genauso hoch sind wie die Effekte, die durch Konditionie-
Aktivität, Belastung und Bewegung schade dem Rücken, rung erzeugt werden. Placeboeffekte durch Erwartung
zu einer ausgeprägten körperlichen Vermeidung führt. Die sind signifikant geringer. Neben Placeboeffekten können
damit verknüpfte Deaktivierung mündet in eine weiter- auch Noceboeffekte durch Beobachtung erworben wer-
gehende körperliche Dekonditionierung. Auf diesem den. So zeigte sich z. B., dass eine Placebobehandlung, die
Wege entstehen kognitiv und auch nicht kognitiv ver- darin bestand, in einer Gruppe über Schmerz und die da-
mittelte (gelernte) Assoziationen zwischen Schmerz und mit assoziierten Probleme zu sprechen, zu einer Schmerz-
körperlicher Aktivität (klassisch konditionierter Lernvor- verstärkung führte [50].
25.6 · Klinischer Einsatz von Placeboeffekten
291 25
25.4 Wie wird der analgetische vierung, die insbesondere in der Phase der Erwartung des
Placeboeffekt aufrechterhalten? Schmerzes auftritt, korreliert mit der nachfolgenden
Schmerzreduktion durch ein Placebo [19, 59, 61]. Es kann
Um den Placeboeffekt klinisch zu nutzen, ist es wichtig, davon ausgegangen werden, dass bei der Placeboanalgesie
seine Aufrechterhaltung zu verstehen. In einer experimen- das sog. absteigende schmerzmodulierende System akti-
tellen Studie untersuchten Klinger et al. [34] den Wirk- viert wird, wobei eine erhöhte Aktivität im präfrontalen
mechanismus des Placeboeffekts von Salben an einer Kortex die afferenten nozizeptiven Informationen hemmt
Gruppe chronisch Hautkranker (Patienten mit atopischer [38]. Es kommt damit zu einer Reduktion der tatsächlichen
Dermatitis, AD) im Vergleich zu Gesunden (gesunde Schmerzerfahrung. Werden Schmerzstimuli in der Place-
Kontrollgruppe, KG). Die zentralen Fragen dieser Studie bobedingung appliziert, zeigt die Mehrzahl der funktionel-
betrafen die Mechanismen der Entstehung eines Placebo- len Bildgebungsstudien eine verminderte Aktivität in
effekts (klassische Konditionierung vs. Erwartung) und schmerzrelevanten Arealen [40, 59]. Neueste Studien
dessen Aufrechterhaltung sowie die Interaktion zwischen funktioneller Bildgebung des Spinalmarks untermauern
Konditionierungs- und Erwartungsprozessen. Es zeigte die Hypothese, dass kognitive Faktoren bereits auf Höhe
sich, dass analgetische Placeboeffekte sowohl durch des Spinalmarks zu einer Veränderung der nozizeptiven
Erwartungsmanipulation als auch Konditionierung aufzu- Signalverarbeitung führen können [20].
bauen waren. Bei der Aufrechterhaltung spielte jedoch die Auch pharmakologische und Positronenemissionsto-
Konditionierung eine entscheidende Rolle, hier war der mografie-Untersuchungen (PET-Untersuchungen) bele-
Effekt bei den Patienten deutlich größer. Wenn der Erwar- gen, dass das endogene Opiatsystem eine wesentliche Rolle
tung auf Analgesie langfristig keine positive Erfahrung bei der Placeboanalgesie spielt. [11C]carfentanil-PET
folgte, dann reduzierte sich der erwartungsbedingte Place- konnte die Verstärkung der opioidergen Neurotransmis-
boeffekt wieder, sogar weitaus stärker als bei den Ge- sion in cingulofrontalen Arealen und subkortikalen Über-
sunden. Das heißt, dass für Patienten eine Lernerfahrung tragungsstationen während der Placeboanalgesie abbilden
offensichtlich erforderlich ist, will man den Placeboeffekt [59, 63]. Wie bereits erwähnt, kann die Placeboanalgesie
aufrechterhalten. durch Verabreichung des Opiatantagonisten Naloxon auf-
gehoben oder deutlich abgeschwächt werden [5, 19, 20, 37,
60]. Benedetti et al. [5] konnten mithilfe einer pharmako-
25.5 Neurobiologie der Placeboanalgesie logischen Intervention mit Naloxon opiatabhängige und
nicht opiatabhängige Mechanismen der Placeboanalgesie
Neurobiologisch betrachtet steht die Placeboanalgesie in unterscheiden. Das Opiatsystem scheint nicht das einzige
einem engen Zusammenhang mit dem endogenen Opiat- relevante Neurotransmittersystem für die Placeboanalge-
system [17]. Levine et al. [37] konnten erstmals einen in- sie zu sein. Interessante Systeme für zukünftige Unter-
direkten Hinweis dafür finden, dass es sich bei der Place- suchungen wären z. B. das dopaminerge, das serotonerge
boanalgesie um einen sehr komplexen neuropsychobio- oder das endogene Cannabinoidsystem.
logischen Vorgang handelt, der zur Ausschüttung von
Endorphinen führt. Dieser Nachweis gelang den Autoren
bereits 1978, indem sie die schmerzlindernde Wirkung 25.6 Klinischer Einsatz
eines Placebos auf den postoperativen Schmerz nach von Placeboeffekten
Zahnextraktion untersuchten und diese Schmerzlinde-
rung durch Gabe von Naloxon, einem Opiatantagonisten, Die klinischen Implikationen der Placeboanalgesie werden
wieder aufheben konnten [37]. zunehmend diskutiert [36, 33]. Von besonderer Relevanz
Placebos aktivieren ähnliche Hirnzentren, wie dies ist dabei die additive Komponente des Behandlungs-
durch eine Opiatanalgesie der Fall ist. Der erste Nachweis kontextes, der die Effektivität eines Schmerzmittels be-
hierzu gelang Petrovic et al. [40]. Die Autoren applizierten deutsam steigern kann. Im sog. Open-hidden-Paradigma
bei gesunden Probanden Hitzeschmerzreize und ver- der Arbeitsgruppe von Benedetti [4, 14, 22] wird die Wirk-
abreichten entweder das Opiat Remifentanyl oder ein samkeit von Medikamenten in ihrer sog. offenen und
Placebo (i.v.-NaCl mit der Instruktion »potentes Analge- verdeckten Vergabe verglichen. In der offenen Medika-
tikum« [40]). In beiden Bedingungen waren Bereiche des mentengabe erhalten die Patienten bzw. Probanden ihre
rostralen anterioren Cingulums (rACC) aktiviert. Zudem Medikamente sichtbar. Sie nehmen sie mit all ihren Sinnen
trat eine verstärkte Kopplung zwischen rACC und dem wahr (z. B. Sehen, Riechen, Schmecken). In der verdeckten
periaquäduktalen Grau (PAG) auf. Dabei ist der dorsolate- Gabe wissen sie nicht, ob und, wenn ja, wann sie ein
rale präfrontale Kortex (DLPFC) für die Placeboanalgesie Medikament verabreicht bekommen. Die Applikation er-
ebenfalls ein entscheidendes Areal. Die Stärke seiner Akti- folgt verdeckt, z. B. über eine computergesteuerte Infusion,
292 Kapitel 25 · Potenzial des analgetischen Placeboeffekts in der Rückenschmerztherapie

–3

Schmerzreduktion (Skala 0–10) –2

25 –1
Psychologischer
Effekt

Pharmakologischer
Effekt
0
Morphine Buprenorphine Tramadol Ketorolac Metamizol
Opioid NSAID

Offene Medikamentengabe Verdeckte Medikamentengabe


mit Kontext ohne Kontext
Perfusor

. Abb. 25.3 Open-hidden-Modell

wobei der Patient lediglich den intravenösen Zugang sieht 25.7 Placeboeffekte in der Schmerz-
und der Infusiomator, der die Gabe steuert, hinter einer behandlung: praktische Implikationen
Wand hinter dem Bett des Patienten versteckt ist. Ein Ver-
gleich dieser beiden Vergabebedingungen zeigt, dass eine Aus den beschriebenen Wirkmechanismen des Placebo-
offene Applikation von Analgetika eine deutlich bessere effekts lassen sich Ansatzpunkte für seine praktische
schmerzreduzierende Wirkung erzielt als eine verdeckte. Nutzung ableiten (vgl. auch [36, 33]).
Die Forschungsgruppe um Benedetti [14, 41, 2] konnte
nachweisen, dass selbst hochpotente Analgetika (z. B.
Opioide) durch die offene Gabe in ihrer Wirksamkeit sig- 25.7.1 Placeboffekte und Lernen
nifikant gesteigert werden (. Abb. 25.3). Bei der analgeti-
schen Wirkung spielt neben der pharmakologischen Seite Eine Schmerzlinderung ist immer an bestimmte Kontext-
also auch eine psychologische Komponente (Placeboan- variablen gekoppelt. Ein Patient mit chronischen Rücken-
teil) eine Rolle. Der analgetische Placeboeffekt kann als schmerzen erhält z. B. eine schmerzlindernde Infusion in
»Additiv« zur rein pharmakologischen Wirkkomponente einer Krankenhausambulanz. Sie führt zu einer deutlichen
verstanden werden. Er kann jedes wirksame Schmerzme- Linderung seiner Schmerzen. Der Kontext, in dem die In-
dikament bzw. jede wirksame Schmerztherapie über die fusion gegeben wurde, wird von ihm mit Schmerzlinde-
jeweilige rein pharmakologische oder psychologische rung assoziiert, z. B. wird er sich an die Ärztin, die ihm die
Wirkung hinaus optimieren, ohne dass ethische Grenzen Infusion angelegt und erläutert hat, erinnern, er wird sich
verletzt werden (vgl. auch [22, 45]). Vor diesem Hinter- ggf. an die medizinischen Gerüche erinnern, an die Ge-
grund ist die klinische Anwendung der analgetischen räusche des Behandlungszimmers und an das Gefühl, wie
Placebokomponente ethisch sogar zu fordern, um den die Infusionsnadel gelegt wurde. Die Medikamentengabe
Patienten die volle Wirksamkeit ihres Schmerzmittels be- sollte im klinischen Alltag so offen wie möglich praktiziert
reitzustellen. werden (vgl. [8, 41]) und dabei darauf geachtet werden,
dass der Patient die Wirkungsweise versteht und sehr
> Neue Forschungsparadigmen unterstützen die
bewusst den Kontext wahrnimmt. Diese gelernten Assozi-
Nutzung von Placeboeffekten im klinischen Alltag.
ationen werden auch in anderen Kontexten (z. B. Patient
erhält eine schmerzlindernde Spritze vom Hausarzt) eine
25.7 · Placeboeffekte in der Schmerzbehandlung: praktische Implikationen
293 25
Schmerzlinderung reaktivieren. Die Grundlage bildet hier 25.7.2 Noceboeffekte und Lernen
das Prinzip der klassischen Konditionierung.
Lerneinflüsse können auch gezielt im häuslichen Be- Zur Vermeidung »gelernter« Noceboeffekte ist es wichtig,
reich genutzt werden. Ein Patient kann z. B. angeleitet die negativen Erfahrungen mit Medikamenten so gering
werden, seine Schmerzmittel ganz bewusst und in be- wie möglich zu halten. Additive negative Wirkungen
stimmten angenehmen Kontexten einzunehmen. Er kann eines Verums können die Wirksamkeit des Medikaments
die Schmerzmittel auch mit bestimmten Getränken kom- reduzieren. In diesem Zusammenhang erscheint es auch
binieren, die dann später als konditionierter Stimulus die wichtig, dem Patienten falsche Zuschreibungen von
analgetische Wirkung verstärken können. Nebenwirkungen auf seine Medikamente aufzuzeigen.
> Offene Medikation erhöht die Effektivität von
Ihm kann z. B. erläutert werden, dass korrelative Zusam-
Analgetika.
menhänge zwischen dem Einsatz eines neuen Schmerz-
medikaments mit einem unerwünschten Ereignis, z. B.
Eine vorausgehende effektive Schmerzbehandlung kann ausgeprägte Müdigkeit, nicht zwangsläufig auch kausale
im Sinne eines »pre-conditioning« (Vorabkonditionie- Zusammenhänge sind. Diese Information kann dann dem
rung) verstanden werden und führt zu einer positiven Patienten helfen, sein Medikament und seine körperlichen
Wirkungserwartung vergleichbarer nachfolgender Reaktionen anders in Zusammenhang zu bringen und
Schmerzbehandlungen. Sie kann damit deren Placebo- andere Zuschreibungen für unerwünschte Ereignisse zu
effektivität maximieren [16]. Ebenso kann eine effektive finden.
Schmerzbehandlung auch eine frühere (Placebo-)Erwar- Im Fall eines erforderlichen Entzugs bei Medikamen-
tung bestätigen und aufrechterhalten [34]. In beiden Fällen tenabhängigkeit kann der Noceboeffekt auch positiv ein-
spielt die reale schmerzlindernde Erfahrung eine Rolle für gesetzt werden, z. B. kann der Patient das Schmerzmittel,
das Ausmaß des Placeboeffekts. Klinisch bedeutsam ist das er entziehen muss, mit einem unangenehm schme-
dies insofern, als ein hochwirksames (effektives) Schmerz- ckenden Getränk koppeln und sich auf diesem Weg eine
mittel damit auch einen hohen Anteil zusätzlicher Place- leichtere Ablehnung gegen das Medikament verschaffen.
boeffektivität erzeugen kann. Diesen Effekt könnte man Der Einfluss von Beobachtungslernen sollte im Hin-
z. B. bei Medikamenten nutzen, denen es droht, wegen zu blick auf Noceboeffekte insbesondere in Behandlungs-
hoher Nebenwirkung abgesetzt zu werden. Die abwech- gruppen von Patienten mit Rückenschmerzen kontrolliert
selnde Gabe von Verum und Placebo und die damit werden. Zum Beispiel sollte in den Gruppen Schmerz nicht
einhergehende (pharmakologische) Dosisreduktion kann zu sehr im Vordergrund stehen und statt dessen schmer-
bei Aufrechterhaltung der (Placebo-)Wirkung die Neben- zinkompatibles Verhalten verstärkt werden.
wirkungen reduzieren. Dieses Prinzip lässt sich auch als
»intermittierende Verstärkung« des Placeboeffekts be-
trachten. 25.7.3 Placeboeffekte und Erwartung
Die Frage der Aufrechterhaltung des Placeboeffekts
sollte zukünftig einen höheren Stellenwert in der For- Der additive Placeboeffekt von Analgetika und auch ande-
schung einnehmen. Auch Beobachtungslernen spielt hier ren therapeutischen Maßnahmen kann dadurch voll aus-
eine wichtige klinische Rolle, z. B. in Behandlungsgruppen geschöpft werden, dass die positive Wirkung eines Präpa-
von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. So wie rats bzw. der Intervention realistisch hervorgehoben wird.
über Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den Schmerz Die Information, die ein Schmerztherapeut dazu vergibt,
in der Gruppe Noceboeffekte entstehen, können auch sollte dabei möglichst nah an dem voraussichtlich zu er-
Placebowirkungen maximiert werden, indem die positiven wartendem Wirkspektrum liegen, um die Glaubwürdig-
Effekte der Behandlung bei anderen Patienten hier direkt keit zu erhalten und Enttäuschungen über den erwarteten
beobachtet werden und so zu einer Steigerung der Effek- Erfolg zu vermeiden (vgl. [34]).
tivität führen. Für die Behandlung von Rückenschmerzen erscheint
> Der analgetische Placeboeffekt wird in der S3-Leit-
der gezielte Einsatz von spezifischen positiven Instruktio-
linie der AWMF zur »Behandlung akuter periopera-
nen über Analgetika zur Veränderung der »fear-avoidance-
tiver und posttraumatischer Schmerzen« [18, 32] zur
beliefs« als sehr hilfreich (vgl. . Abb. 25.4). Dem Patienten
klinischen Nutzung empfohlen. Diese Empfehlung
kann erläutert werden, dass das gewählte Schmerzmittel
ist eine bedeutsame Innovation in der Anwendung
die Schmerzen während der Beweglichkeit reduziert und
medikamentöser Schmerztherapie.
die Beweglichkeit wieder verbessern kann. Der Patient
kann hierdurch z. B. seine Überzeugung »Bewegung
schadet mir« ersetzen durch die förderlichen Gedanken
»Ich werde während der Bewegung weniger Schmerzen
294 Kapitel 25 · Potenzial des analgetischen Placeboeffekts in der Rückenschmerztherapie

Placebo und »fear-avoidance-beliefs«

Placebo induziert den »positiven« Gedanken:

»Ich werde während der Bewegung weniger Schmerzen haben.«


»Ich kann mich besser bewegen.«
25
»Daily activities« werden ausgeübt

Zusätzliche Habituation der Angst vor Bewegung

Steigerung der Bewegung

Verbesserung der körperlichen Funktionskapazität

Langfristig:
Restrukturierung der FAB-Gedanken

(»Bewegung verstärkt Schmerz.« »Ich kann mich besser bewegen.« )

. Abb. 25.4 Placebo und »fear-avoidance-beliefs«

haben« und »Ich kann mich besser bewegen«. Diese an das mindestens ähnlich problematisch wie das Weglassen die-
Analgetikum gekoppelte Selbstinstruktion sollte dann ser negativen Informationen.
tatsächlich dazu führen, dass der Patient sich auch mehr Eine weitere Möglichkeit zur Reduktion von Nocebo-
bewegt, auf diesem Wege zu vermehrter Bewegung kommt effekten ist das sog. Authorized-concealment-Vorgehen
und darüber seine körperliche Verfassung verbessert. [13]. Hier geht es um die Einwilligung des Patienten, ihn
nicht in der üblichen, juristisch vorgegebenen Weise über
mögliche negative Wirkungen der Medikamente bzw.
25.7.4 Noceboeffekte und Erwartung Behandlungen zu informieren. Stattdessen werden die
negativen Effekte dieser sonst üblichen Aufklärungsge-
Negative Erwartungen bezüglich eines Analgetikums spräche erläutert, und es wird vereinbart, in der Auf-
können dessen analgetischen Effekt reduzieren (Nocebo- klärung die unwahrscheinlichen und eher sehr negativen
effekt). Klinisch relevant ist in diesem Zusammenhang Aspekte wegzulassen und stattdessen auch positive Wir-
wieder die Art und Weise der Informationsvermittlung, kungen zu benennen.
mit der die jeweilige analgetische Behandlung eingeführt
wird. Negative und ängstigende Informationen sollten da-
bei so gering wie möglich gehalten werden, z. B. durch 25.7.5 Empfehlung der S3-Leitlinie:
Vermeidung negativer oder unnötig angsterzeugender Placeboeffekte nutzen –
Informationen. Dies ist auch möglich, wenn man seiner Noceboeffekte vermeiden!
sog. Aufklärungspflicht Genüge tun will. Das Wichtigste
hierbei ist die Ausgewogenheit positiver und negativer Mit Empfehlung der AWMF-Leitlinie »Behandlung akuter
Informationen. Betrachtet man die handelsüblichen Bei- perioperativer und posttraumatischer Schmerzen« hat der
packzettel, dann überwiegen hier negative Informationen. Placeboeffekt offiziellen Eingang in die klinische Ver-
Verständliche Informationen darüber, was das Medika- sorgung gefunden. Diese S3-Leitlinie der AWMF (Arbeits-
ment Positives bewirken soll, sind kaum auffindbar. Der gemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Überhang negativer Informationen ist ethisch sicherlich Fachgesellschaften; [18] hat evidenzbasiert erstmals die
Literatur
295 25
Empfehlung aufgenommen, Placeboeffekte aktiv zu nut- 7. Benedetti F, Maggi G, Lopiano L, Lanotte M, Rainerao I, Vighetti S
(2003) Open versus hidden medical treatments: the patient’s
zen und Noceboeffekte zu vermeiden (vgl. [32, 35]). Sie ist
knowledge about therapy affects the therapy outcome.
damit eine innovative Perspektive der Schmerztherapie. Prevention Treatment. doi:10.1037/1522-3736.6.1.61a
8. Benedetti F, Pollo A, Lopiano L, Lanotte M, Vighetti S, Rainero I
(2003) Conscious expectation and unconscious conditioning in
AWMF-S3-Leitlinie »Behandlung akuter analgesic, motor, and hormonal placebo/nocebo responses. J
perioperativer und posttraumatischer Neurosci 23(10):4315–4323
Schmerzen« [18] 9. Benedetti F, Arduino C, Costa S, Vighetti S, Tarenzi L, Rainero I et al
5 »Der Placeboeffekt in der Schmerztherapie soll (2006) Loss of expectation-related mechanisms in Alzheimer’s
disease makes analgesic therapies less effective. Pain 121
durch positive und realistische Informationen so
(1–2):133–144
weit wie möglich ausgeschöpft werden; der
10. Brody HBD (2002) Der Placebo-Effekt. Die Selbstheilungskräfte
Noceboeffekt soll durch Vermeidung negativer unseres Körpers. DTV, München
oder angsterzeugender Informationen so weit wie 11. Colloca L, Benedetti F (2006) How prior experience shapes
möglich reduziert werden. GoR: A (Grade of placebo analgesia. Pain 124:126–133
Recommandation A). 12. Colloca L, Benedetti F (2009) Placebo analgesia induced by social
observational learning. Pain 144(1–2):28–34
5 Sofern eine aktive Schmerztherapie möglich ist,
13. Colloca L, Miller FG (2011) The Nocebo Effect and Its Relevance
sind medikamentöse Placeboverabreichungen, for Clinical Practice. Psychosomatic Medicine 73: 598–603
über die der Patient nicht informiert und auf- 14. Colloca L, Lopiano L, Lanotte M, Benedetti F (2004) Overt versus
geklärt wurde, ethisch nicht vertretbar. Sie sollen covert treatment for pain, anxiety, and Parkinson’s disease. Lancet
außerhalb von Studien nicht zur postoperativen Neurol 3(11):679–684
15. Colloca L, Sigaudo M, Benedetti F (2008a) The role of learning in
Schmerztherapie genutzt werden.«
nocebo and placebo effects. Pain 136(1–2):211–218
16. Colloca L, Tinazzi M, Recchia S, Le Pera D, Fiaschi A, Benedetti F et
al (2008b) Learning potentiates neurophysiological and be-
Es ist an dieser Stelle sehr wichtig, nochmals hervorzu-
havioral placebo analgesic responses. Pain 139(2):306–314
heben, dass sich der klinische Gebrauch von Placebo- 17. Colloca L, Klinger R, Flor H, Bingel U (2013) Placebo analgesia:
effekten auf den Nutzen von Placebomechanismen im psychological and neurobiological mechanisms. Pain 154:
Rahmen der medikamentösen oder psychologischen 511–514
Schmerztherapie bezieht und definitiv nicht gleichzu- 18. DIVS (2008) S3-Leitlinie Behandlung akuter perioperativer und
setzen ist mit dem Einsatz von Placebos anstelle einer ver- posttraumatischer Schmerzen (Bd AWMF-Reg.-Nr. 041/001).
Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
fügbaren aktiven Schmerztherapie. Dies würde ethische 19. Eippert F, Bingel U, Schoell ED, Yacubian J, Klinger R, Lorenz J et al
Fragen berühren. Der Placeboeffekt ist als Additiv zur (2009) Activation of the opioidergic descending pain control
medikamentösen oder psychologischen Therapie bei system underlies placebo analgesia. Neuron 63(4):533–543
Schmerzpatienten zu verstehen. Hierdurch kann jedes 20. Eippert F, Finsterbusch J, Bingel U, Buchel C (2009) Direct evi-
wirksame Schmerzmedikament bzw. jede wirksame dence for spinal cord involvement in placebo analgesia. Science
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297 26

Psychologische Verfahren
J.A. Glombiewski , M.I. Hasenbring, C.G. Levenig, Z. Karimi

26.1 Entspannungstechniken bei chronischen


Rückenschmerzen – 298
26.1.1 Progressive Muskelentspannung – 298
26.1.2 Biofeedback – 299
26.1.3 Autogenes Training – 300
26.1.4 Weitere Entspannungsverfahren – 300
26.1.5 Fazit – 301

26.2 Kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren


in der psychologischen Schmerztherapie – 301
26.2.1 Einleitung – 301
26.2.2 Struktur kognitiv-verhaltenstherapeutischer Verfahren – 302
26.2.3 Maßnahmen kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen – 303
26.2.4 Kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen (KVI) in
verschiedenen medizinischen Settings – 307
26.2.5 Wirksamkeit kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen – 308
26.2.6 Indikation kognitiv-verhaltenstherapeutischer Interventionen
bei Kreuz- und Nackenschmerz – 308
26.2.7 Fazit – 308

Literatur – 308

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_26, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
298 Kapitel 26 · Psychologische Verfahren

Psychologische Verfahren sind zu einem zentralen Baustein gesehen sind. Nach dem Erlernen der generellen Ent-
im Rahmen multimodaler Therapieansätze bei chronischen spannung kann die »differenzielle Entspannung« geübt
Kreuz- und Nackenschmerzen geworden. Dazu zählen werden. Dabei werden die in Therapie unter »Idealbedin-
neben kognitiv-verhaltenstherapeutischen Ansätzen auch gungen« erlernten Techniken bei verschiedenen Aktivitä-
Entspannungsverfahren. Ihre Wirksamkeit ist vielfach belegt, ten im Alltag eingesetzt, z. B. bei der Hausarbeit oder am
dennoch zeigen Effektstärkenanalysen, dass die Effekte eher Arbeitsplatz.
marginal sind, vor allem im Hinblick auf die Intensität der Für die klinische Praxis wurden inzwischen viele, meist
erlebten Schmerzen. Eine Reduktion der Schmerzen ist deutlich kürzere Varianten der progressiven Muskelent-
26 jedoch das primäre Anliegen des Patienten und sollte daher spannung entwickelt. Bernstein und Borkovec [1] z. B.
zum Motor für Verbesserungsansätze in der Entwicklung verringerten die Anzahl der trainierten Muskelgruppen
therapeutischer Strategien werden. Neben einem möglichst auf 16 und empfahlen, kürzere Anspannungsphasen (ca.
frühen Einsetzen dieser Maßnahmen, z. B. bereits wenige 6 sec) und Entspannungsphasen (ca. 1 min) pro Muskel-
Wochen nach (Wieder-)Auftreten eines Schmerzproblems, gruppe mehrfach zu wiederholen. In der Praxis werden
lassen individualisierte Ansätze eine höhere Wirksamkeit häufig die Muskelgruppen im Verlauf der Therapie weiter
erwarten. Eine Möglichkeit der Individualisierung besteht zusammengefasst, z. B. auf 7 und später 4 größere Muskel-
darin, nur solchen Patienten eine entsprechende Behand- gruppen, was die Dauer der Durchführung von ca. 30 auf
lung anzubieten, die tatsächlich psychosoziale Risiko- ca. 5 min verkürzt.
faktoren aufweisen. Eine weitere berücksichtigt darüber In der Version »Angewandte Entspannung« von Öst
hinaus die persönlichen Muster der Schmerzverarbeitung – [14] durchlaufen die Patienten mehrere Teilschritte, be-
z. B. ob jemand auch leichte Schmerzen ängstlich vermeidet stehend aus:s
oder ob er zunächst ein ausgesprochen suppressives Muster 4 Selbstbeobachtung mittels Tagebüchern,
zeigt. Erste randomisierte Studien, in denen z. B. das An- 4 progressiver Muskelentspannung,
gebot kognitiv-verhaltenstherapeutischer Verfahren auf 4 Entspannungstraining ohne vorherige Anspannung
Befunden einer standardisierten Risikodiagnostik beruht, der Muskeln,
sind hier sehr vielversprechend. 4 Verknüpfung der Entspannungsreaktion mit einem
Schlüsselwort, z. B. »Ruhe«, oder einem visuellen
oder anderen Hinweisreiz, z. B. einem grünen Punkt
26.1 Entspannungstechniken bei (»Hinweisreiz-gesteuerte Entspannung« bzw.
chronischen Rückenschmerzen »konditionierte Entspannung«),
4 differenzieller Entspannung,
J.A. Glombiewski 4 schneller Entspannung und schließlich
4 Einsatz der Entspannung in belastenden Situationen.
26.1.1 Progressive Muskelentspannung > In der modernen Praxis werden verschiedene
Elemente der PMR-Versionen nach Bernstein und
Progressive Muskelentspannung (oder progressive Mus- Borkovec und nach Öst beliebig kombiniert.
kelrelaxation, »PMR«) nach Jacobson ist die am häufigsten
angewandte Entspannungsmethode zur Behandlung Eine Schwierigkeit in der Durchführung von PMR ist, dass
chronischer Rückenschmerzen. Entwickelt wurde sie vom Rückenschmerzpatienten sehr regelmäßig üben müssen,
Physiologen Edmund Jacobson im Jahr 1929 [10]. Das Ziel um die Schmerzintensität dadurch spürbar zu reduzieren.
der progressiven Muskelentspannung ist es, den Muskel- Gelegentliches Ausprobieren bringt keinen Effekt und
tonus zu reduzieren, um eine Dämpfung der Aktivierung kann somit zu der voreiligen Schlussfolgerung führen,
des zentralen Nervensystems zu erreichen. Außerdem sol- PMR sei nicht hilfreich. Des Weiteren finden nicht alle so-
len die Patienten lernen, ihre Verspannungen bewusst fort einen Zugang zu dieser Methode und erleben z. B. die
wahrzunehmen und willentlich zu beeinflussen. Anspannungsphasen als unangenehmen und schmerzhaft.
Die Grundidee besteht darin, nacheinander einzelne Es bedarf geschulter Therapeuten, um auf diese Schwierig-
Muskelgruppen für 1–2 min anzuspannen, die Anspan- keiten und Hürden gezielt einzugehen.
nung gezielt wahrzunehmen und anschließend für die Trotz der Beliebtheit der PMR für Rückenschmerz-
Dauer von 3 bis 4 min zu entspannen. Zum Beispiel wird patienten ist die Wirksamkeit umstritten [19]. Auf der
eine Hand zur Faust geballt und die Anspannung bewusst einen Seite ist PMR nachweislich effektiver als keine Be-
wahrgenommen. Daraufhin wird die Faust wieder ge- handlung. Auf der anderen Seite haben Studien aber auch
öffnet, und die sich einstellende Entspannung bewusst gezeigt, dass PMR als alleinige Methode einer Kombination
wahrgenommen. In der Originalversion finden sich 30 von verschiedenen kognitiv-verhaltenstherapeutischen In-
solche Einzelübungen, für die 50 Trainigssitzungen vor- terventionen unterlegen ist [16]. Aus diesem Grund sollte
26.1 · Entspannungstechniken bei chronischen Rückenschmerzen
299 26
PMR zur Behandlung von Rückenschmerzen stets in ein Zusammenspiel von psychologischen, biologischen
Kombination mit anderen Methoden durchgeführt werden. und sozialen Faktoren entstehen und aufrechterhalten
werden. Ein weiteres Einsatzgebiet ist das Erlernen von
genereller Entspannung. Hierbei ist es sinnvoll, neben oder
26.1.2 Biofeedback statt EMG-Biofeedback auch Hautleitwertbiofeedback
oder Temperaturbiofeedback einzusetzen.
Biofeedback ist eine psychotherapeutische Methode, bei
der körperliche Vorgänge wie z. B. Atmung oder Herzrate Tipp
dem Patienten visuell oder akustisch zurückgemeldet
Biofeedback kann aufgrund der visuellen oder
werden. So soll der Patient lernen, diese Vorgänge wahrzu-
akustischen Rückmeldung erfolgreich bei Patienten
nehmen und bewusst zu verändern. Biofeedback hat eine
eingesetzt werden, die Probleme mit anderen
lange Tradition in der Behandlung von Schmerzen. Es gibt
Entspannungsverfahren haben. Außerdem hat sich
zahlreiche Biofeedbackmodalitäten, die zurückgemeldet
Biofeedback als »Eisbrecher« für Psychotherapie bei
und trainiert werden können. Dazu gehören Muskelspan-
Patienten mit stark somatisch orientierten Krankheits-
nung, Atmung, Herzrate, Hautleitwert, Körpertemperatur
modellen bewährt. Bei diesen Patienten sollte
und Hirnströme. Bei Letzteren spricht man auch von EEG-
Biofeedback vor allem in den ersten Sitzungen zur
Biofeedback oder »Neurofeedback«.
Informationsvermittlung eingesetzt werden.
Bei Rückenschmerzen kommt vor allem das Elektro-
myografiebiofeedback (EMG-Biofeedback) zum Einsatz,
das an der Hautoberfläche die elektrophysiologischen Im- Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Rückenschmerz-
pulse der unter und zwischen den Elektroden liegenden patienten auf Stress mit erhöhter Muskelanspannung
Muskeln erfasst. Das sog. Oberflächen-EMG misst reagieren [3, 5]. Biofeedback wird bei Rückenschmerz-
die summierte Aktivität aller unter den Messelektroden patienten daher in erster Linie zur Muskelentspannung
liegenden motorischen Einheiten. Die EMG-Elektroden eingesetzt. Trotzdem gibt es Hinweise darauf, dass Biofeed-
werden in der Regel entlang der Wirbelsäule im unteren back nicht über Muskelentspannung, sondern vor allem
(Lendenwirbelsäule, »LWS«), mittleren (Brustwirbelsäule über eine Steigerung der Selbstwirksamkeit zur Schmerz-
»BWS«) oder oberen (Halswirbelsäule, »HWS«) Rücken- reduktion führt [17]. Das beutetet, dass Patienten durch
bereich angebracht. Dabei bekommen die Patienten z. B. Biofeedback lernen, wieder Kontrolle über ihren Körper zu
eine visuelle Rückmeldung über ihre Muskelspannung in erlangen und ihre Schmerzerkrankung besser zu verstehen
Form von z. B. Balken oder Kurven auf dem Computer- – unabhängig davon, wie erfolgreich sie tatsächlich ihre
bildschirm. Mithilfe dieser Rückmeldung lernen sie, ihre Muskelspannung reduzieren konnten. Aus diesem Grund
Muskelspannung schrittweise zu verändern. Dies geschieht sollte Biofeedback von geschulten Psychotherapeuten
entweder mithilfe von Techniken wie der progressiven durchgeführt werden, die zusätzlich zum Biofeedback mit-
Muskelentspannung oder mit individuellen, unspezifi- hilfe sog. kognitiver Interventionen ihre Patienten gezielt
schen Entspannungsstrategien. Im nächsten Schritt lernen darin unterstützen können, mehr Selbstwirksamkeit zu
Pateinten muskuläre Entspannung unter verschiedenen erlangen.
Stressoren und in verschiedenen Körperhaltungen. Die Wirksamkeit von EMG-Biofeedback zur Behand-
Schließlich wird das Feedback ausgeschlichen, damit die lung chronischer Rückenschmerzen ist empirisch gesichert
Patienten im Alltag ohne Biofeedbackgeräte jederzeit [7, 15]. Hoffman et al. [8] stellten aufgrund metaanalytisch
muskuläre Entspannung durchführen können. Eine weite- zusammengefasster Daten fest, dass Biofeedback eine sehr
re, bei Rückenschmerzen wichtige Biofeedbackmodalität vielversprechende Methode zur Schmerzreduktion und
ist die Atementspannung. Mittels am Brustkorb und Stimmungsaufhellung bei Rückenschmerzpatienten ist.
am Bauch angebrachter Bewegungssensoren lernen die Hermann und Flor [7] schlussfolgerten anhand 15
Patienten Bauchatmung als Strategie zur Bewältigung kontrollierter Studien, dass EMG-Biofeedback mit ande-
von Schmerzen (insbesondere von stärkeren Schmerz- ren verhaltenstherapeutischen Methoden vergleichbare
attacken). Effektstärken aufweist und im Vergleich zu Placebobedin-
Mithilfe von Biofeedback können außerdem psycho- gungen und Warteliste signifikant wirksamer ist. Obwohl
physiologische Zusammenhänge besonders gut vermittelt Flor und Birbaumer [3] sogar eine Überlegenheit der
werden. Dabei wird den Patienten demonstriert, wie sich Biofeedbackbehandlung gegenüber der kognitiven Ver-
bestimmte Stressoren (z. B. dysfunktionale Gedanken) haltenstherapie im Langzeitverlauf feststellten, konnte das
direkt auf den Körper (z. B. den Hautleitwert oder die Ergebnis in Folgestudien nicht repliziert werden. Newton-
Muskelspannung) auswirken. So kann man den Patienten John et al. [13] bestätigten die Wirksamkeit von Biofeed-
verständlich machen, dass Schmerzerkrankungen durch back bei Rückenschmerzen im Vergleich zu einer Warte-
300 Kapitel 26 · Psychologische Verfahren

kontrollgruppe, fanden allerdings keine Unterschiede 26.1.3 Autogenes Training


zwischen einer Biofeedbackbehandlung und der kognitiven
Verhaltenstherapie. Zu einem ähnlichen Schluss kamen Autogenes Training (AT) wurde vom Nervenarzt
Glombiewski et al. [6]. Diese Ergebnisse sind vor dem Hin- J-H. Schulz in den 1920er Jahren entwickelt. Das autogene
tergrund der Wirkmechanismen von Biofeedback nicht Training basiert auf dem Prinzip der Autosuggestion und
überraschend: Biofeedback scheint vor allem die Annah- lässt sich in die 3 Bereiche unterteilen: psychophysiologi-
men der Patienten über sich selbst und ihre Erkrankungen sche Standardübungen (»Unterstufenübungen«), meditati-
zu verändern und wirkt somit über ähnliche Mechanismen ve Übungen (»Oberstufenübungen«) und weitere, speziel-
26 wie die kognitive Verhaltenstherapie bei Rückenschmerzen. le Übungen [9]. In der klinisch-psychologischen Praxis
Aus diesem Grund sollte Biofeedback als eine Variante kommen vor allem die Unterstufenübungen vor. Dies
kognitiver Verhaltenstherapie angesehen werden. sind 6 Übungen, bei denen die Patienten still eine Formel
Da die Anschaffung der Biofeedbackgräte mit Kosten aufsagen, die sich jeweils auf den erwünschten psycho-
verbunden ist und Therapeuten in der Bedienung dieser Ge- physiologischen Effekt bezieht. Die 6 Formeln sind:
räte sowie in der Durchführung der Biofeedbackbehandlung 1. »Der (z. B.) linke Arm ist schwer« (Schwereübung),
speziell geschult werden müssen, ist der Einsatz von Bio- 2. »Der (z. B.) linke Arm ist warm« (Wärmeübung),
feedback in der therapeutischen Praxis relativ selten. 3. »Das Herz schlägt ruhig und gleichmäßig«
Biofeedback bei Rückenschmerzen ist – trotz nachge- (Herzübung),
wiesener Effektivität – aufgrund der komplexen Symptome 4. »Es atmet mich« (Atemübung),
vieler Patienten als alleinige Methode wahrscheinlich nicht 5. »Das Sonnengeflecht ist strömend warm«
ausreichend und sollte deswegen als eine von verschiede- (Sonnengeflechtübung),
nen Interventionen im Rahmen einer kognitiven Ver- 6. »Die Stirn ist angenehm kühl« (Stirnkühleübung).
haltenstherapie oder einer multimodalen Therapie durch-
geführt werden. Die Dauer der Übungen ist flexibel und individuell. Generell
sind kurze Übungseinheiten mehrmals am Tag empfohlen.
Fallbeispiel: Biofeedback als Einstieg in die kognitive Es gibt Hinweise darauf, dass autogenes Training bei
Verhaltenstherapie Schmerzen generell wirksam ist [12, 18]. Es gibt zu wenig
Herr R., ein 45-jähriger Bauarbeiter, wurde von seinem randomisierte kontrollierte Studien, um zu beurteilen,
Anästhesisten überwiesen. Er leide seit 5 Jahren trotz erfolg- wie autogenes Training in Vergleich zu anderen Ent-
reicher Bandscheibenoperation unter Rückenschmerzen im spannungsverfahren bzw. kognitiver Verhaltenstherapie
Lendenwirbelbereich. Der Patient sei arbeitsunfähig und abschneidet. Es ist anzunehmen, dass autogenes Training
habe Sorge, in finanzielle Not zu geraten. Er habe seine ebenso wenig wie andere Entspannungsverfahren als
sozialen Kontakte aufgegeben und würde oft Konflikte mit alleinige Methode zur Behandlung von Rückenschmerzen
seiner Familie haben. Er wünsche sich eine Schmerzlinde- ausreicht. Für Patienten, die Schwierigkeiten mit PMR
rung und bräuchte keine Psychotherapie. Er habe sich nur haben, ist autogenes Training eine gute Alternative.
aus Interesse an »Biofeedback« gemeldet. – Nach der Anam-
nese wurden bei ihm der Hautleitwert sowie die Muskel-
spannung im unteren Rücken abgeleitet, während er über 26.1.4 Weitere Entspannungsverfahren
seine Schmerzen erzählte. Im Anschluss zeigte die Thera-
peutin, dass Herr R.s Muskeln und Hautleitwert auf den Neben progressiver Muskelrelaxation, autogenem Training
Stressor reagiert haben. Die Therapeutin erklärte dabei die und Biofeedback werden noch weitere häufig als »Entspan-
Psychobiologie des Schmerzes. Die individuellen Stressoren nungsverfahren« definierte Therapien zur Bewältigung
wurden als schmerzverstärkende Faktoren identifiziert. Herr von Rückenschmerzen eingesetzt, nämlich imaginative
R. wirkte überrascht und nahm sich vor, an der Muskel- Verfahren, Hypnose und Meditation. Diesen 3 Verfahren
spannung als Reaktion auf Stress zu arbeiten. Er erzählte zu sind zwar keine Entspannungsmethoden, aber einzelne
Hause und in der Nachbarschaft, er würde eine »Biofeed- Techniken daraus werden trotzdem häufig zur Ent-
backtherapie« machen, was nach seinen Aussagen allge- spannung eingesetzt. Bei chronischen Schmerzen werden
mein akzeptiert wurde. Es folgten 5 Sitzungen, in denen Imaginationsstrategien vor allem zur sog. inneren Ablen-
Herr R. übte, in verschiedenen Situationen und Körper- kung eingesetzt. Hier gibt es z. B. die Möglichkeit, mentale
haltungen seine Muskelspannung zu kontrollieren. Er mach- Bilder hervorzurufen, die mit der Schmerzerfahrung in-
te schnelle Fortschritte, wodurch seine Stimmung besser kompatibel sind, z. B. den »Ort der Ruhe und der Kraft«.
wurde. Danach war Herr R. bereit, im Anschluss eine kogniti- Eine weitere zur Behandlung von Schmerzen häufig ein-
ve Verhaltenstherapie zur weiteren Bewältigung der gesetzte imaginative Methode ist die sog. Schmerzfokus-
Schmerzstörung aufzunehmen. sierung. Dabei konzentrieren sich die Patienten auf be-
26.2 · Kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren in der psychologischen Schmerztherapie
301 26
stimmte Aspekte des Schmerzes und versuchen, diese im Menschen in Problemsituationen reagieren, nicht durch
Geiste zu verändern. Hypnose kann als Entspannungs- objektive Situationsgegebenheiten per se determiniert ist,
verfahren eingesetzt werden, wenn sie als reines Induk- sondern dass es eine grundlegende Rolle spielt, ob sie diese
tionsverfahren mit entsprechenden Suggestionen ver- tatsächlich wahrnehmen und wie sie sie interpretieren.
knüpft wird. Ähnlich verhält es sich mit Meditation. Zur Gedankliche Interpretationen können dabei in Form be-
Behandlung von Schmerzen hat sich insbesondere das wusster, expliziter Überzeugungen (sog. Metakognitionen)
Programm »Mindfulness Based Stress Reduction« (MBSR) auftreten oder in Form impliziter, »automatischer« Gedan-
von Jon Kabat-Zinn [11] bewährt. Im Vordergrund dieses ken. Während in früheren Ansätzen vor allem die steuern-
Trainings steht das Erlernen von Achtsamkeit durch Yoga, de Rolle dysfunktionaler Kognitionen in den Mittelpunkt
Meditation und therapeutische Gespräche. Die Wirksam- von Forschung und Therapiekonzepten gerückt war, wer-
keit von Hypnose und MBSR bei Schmerzen ist gut belegt den in gegenwärtigen Ansätzen emotionale Prozesse und
[2, 11], allerdings gilt das für die kompletten Programme Formen der Emotionsregulierung stärker betont [3]. Dar-
und weniger für einzelne Interventionen zur reinen über hinaus sind, wie bereits in den Anfängen der KVT,
Entspannungsinduktion. Rückenschmerzpatienten, die zu die Verhaltensebene [17] oder auch die Prozesse der in-
imaginativen Verfahren, Hypnose oder Meditation einen dividuellen Wahrnehmung, Bewertung und Sinngebung
Zugang finden, können von positiven Effekten dieser von Bedeutung [9].
Verfahren auf das Schmerzerbleben berichten. Basierend auf einer Definition körperlicher Schmerzen
der International Association of the Study of Pain [14], die
emotionale Prozesse einschließt, finden Ansätze der KVI
26.1.5 Fazit bereits seit mehr als 30 Jahren Eingang in die Versorgung
von Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen
Zur Behandlung von chronischen Rückenschmerzen [18]. Seitdem darüber hinaus gezeigt werden konnte, dass
stehen viele verschiedene Entspannungsmethoden zur psychosoziale Faktoren bereits in frühen Stadien auf die
Auswahl. Am besten wissenschaftlich belegt ist Bio- Gefahr von chronischen Schmerzzuständen hinweisen
feedback. Es gibt auch Hinweise darauf, dass progressive (▶ Kap. 13, »Psychosoziale Diagnostik«), werden KVI bereits
Muskelrelaxation wirksam ist. Aufgrund der Komplexität in prächronischen Phasen eingesetzt. Da hier die Anforde-
der Rückenschmerzsymptomatik ist keine der Entspan- rung besteht, Patienten in der Breite zu erreichen, werden
nungsmethoden als Monotherapie empfohlen. Entspan- zunehmend Kurzformen von KVI entwickelt, die von
nungsverfahren bei chronischen Rückenschmerzen sollten Berufsgruppen angeboten werden können, die in frühen
im Rahmen von kognitiver Verhaltenstherapie oder multi- Phasen körperlicher Schmerzen tätig werden. Dazu zählen
modalen Programmen eingesetzt werden. Da Patienten zu in erster Linie Professionen der physikalischen Therapie
manchen Verfahren schlecht Zugang finden, ist es günstig, und Physiotherapie [16].
verschiedene Alternativen anzubieten. Entspannungsver- Kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren folgen
fahren sind nur wirksam, wenn sie regelmäßig angewandt einer spezifischen Struktur, die unabhängig vom Vorliegen
werden. Daher sollten Patienten motiviert werden, Ent- der individuellen Störung folgende Phasen umfasst:
spannung täglich durchzuführen. 4 Durchführung einer psychosozialen Diagnostik,
4 Edukation mit Aufbau eines biopsychosozialen
Modells von Krankheit und Gesundheit,
26.2 Kognitiv-verhaltenstherapeutische 4 Motivierung zur Änderung des eigenen Erlebens und
Verfahren in der psychologischen Verhaltens,
Schmerztherapie 4 Konkretisierung der Therapieziele,
4 Durchführung spezifischer Maßnahmen der KVI und
M.I. Hasenbring, C.G. Levenig, Z. Karimi Transfer in den Alltag,
4 individuelle Rückfallprophylaxe.
26.2.1 Einleitung
Im Folgenden werden zunächst die verschiedenen An-
Kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen (KVI) satzpunkte kognitiv-verhaltenstherapeutischer Verfahren
im weiteren, kognitive Verhaltenstherapie (KVT) im enge- beschrieben, ihre Indikation besprochen sowie abschlie-
ren Sinne basieren auf der gemeinsamen Grundannahme, ßend Befunde zur Effektivität beleuchtet.
dass psychischen Leidenszuständen Formen von Fehl-
regulationen im engen Zusammenspiel von kognitiven,
emotionalen und verhaltensbezogenen Prozessen zugrun-
de liegen. Dabei gilt zunächst, dass die Art und Weise, wie
302 Kapitel 26 · Psychologische Verfahren

26.2.2 Struktur kognitiv-verhaltensthera- ist [13]. Werden kognitiv-verhaltenstherapeutische Inter-


peutischer Verfahren ventionen in die Behandlung einbezogen, sollten Auf-
klärung und Edukation den Patienten (▶ Kap. 17) vor allem
Maßnahmen der psychosozialen Diagnostik umfassen darüber informieren, dass das Arbeiten am eigenen Ver-
das Anamnesegespräch, ein standardisiertes Interview, halten in kleinen Schritten vonstatten geht. Dieses Vor-
Fragebogenverfahren, Methoden der Verhaltensbeobach- gehen überlässt dem Betroffenen in jedem Moment selbst
tung sowie ggf. psychophysiologische Untersuchungen. In die Entscheidung, ob er/sie diesen Schritt gehen möchte
Abhängigkeit von der verfügbaren Zeit und vom Unter- oder nicht. Das heißt, von Beginn an sollte der Befürch-
26 suchungssetting kommen diese Verfahren in unterschied- tung nach einer ungewollten Persönlichkeitsveränderung
lichem Umfang zum Einsatz (▶ Kap. 13, »Psychosoziale entgegengewirkt werden, um Raum zu schaffen für eine
Diagnostik«). Sie zielen zum einen auf die Erfassung psy- positive Motivation und Veränderungsbereitschaft.
chosozialer Einflussfaktoren bei unterschiedlichsten
Schmerzproblemen ab, andererseits auf die Erhebung des Tipp
individuellen Krankheits- und Genesungsmodells.
Aufklärung und Edukation sollten den Patienten da-
Patienten mit körperlichen Schmerzen haben häufig
rüber informieren, dass das Arbeiten am Verhalten in
einseitig somatische Ursachenvorstellungen, d. h., sie glau-
kleinen Schritten vor sich geht, die in jedem Moment
ben, die Schmerzen seien durch eine körperliche Schädi-
dem Betroffenen selbst die Entscheidung darüber
gung (z. B. Bandscheibenvorfall) verursacht und nur durch
lassen, ob er diesen Schritt gehen möchte oder nicht.
eine Behandlung entsprechender körperlicher Strukturen
(z. B. Operation des Vorfalls) wieder zu beheben. Daher
wird die Behandlung auch primär in die Hände des Arztes Vor allem im Rahmen der Vermittlung adäquater Vor-
oder Physiotherapeuten gelegt, bei entsprechender Zu- stellungen zur Genesung ist die Reflexion individueller
weisung auch in die des Psychotherapeuten (»Machen Sie Therapieziele von besonderer Bedeutung. Auch hier gilt
etwas, damit meine Schmerzen weggehen!«). Die Einsicht, es, mögliche Vorurteile und einseitig überzogene Vor-
dass das eigene Erleben der Schmerzen sowie erlernte stellungen aufseiten der Patienten (»Ich möchte endlich
Muster der Schmerzverarbeitung an der Aufrechterhaltung absolut schmerzfrei werden!«) zu korrigieren. Es sollte
der Beschwerden beteiligt sein können, ist für viele nicht eine Akzeptanz für realistische Ziele bezüglich der
nur neu, sondern wird auch als bedrohlich erlebt. Die Schmerzreduktion geschaffen werden, die z. B. im Fall
Erkenntnis weckt Ängste, ggf. selbst Schuld zu tragen an von Rücken- und Nackenschmerzen darin bestehen kann,
dem gegenwärtigen Zustand, sie weckt Scham (»Andere mögliche Dauerschmerzen zu reduzieren, die Frequenz
halten mich für ‚verrückt‘ oder denken, die Schmerzen und Intensität rekurrierender Schmerzen zu verringern
seien eingebildet«) und nicht zuletzt Befürchtungen, eine und den individuellen Umgang mit den Schmerzen und
entsprechende Therapie könne zu bedrohlichen Persön- damit die individuelle Lebensqualität zu verbessern. Dar-
lichkeitsveränderungen führen (»Bin ich hinterher ein über hinaus sollten Therapieziele konkret und ver-
ganz anderer Mensch?«). haltensnah definiert werden.
> Die Erkenntnis des Patienten, dass das eigene
Für das Ziel der Schmerzreduktion bei subakuten
Erleben und die eigene Art der Schmerzverarbeitung
Schmerzzuständen bedeutet dies z. B., dass 1- bis 2-mal im
an der Aufrechterhaltung der Schmerzen beteiligt
Jahr auftretende, leichte Schmerzzustände von einer maxi-
sein können, ist für viele nicht nur neu, sondern
mal 2-wöchigen Dauer als akzeptabel angesehen werden
wird auch als bedrohlich erlebt. Sie weckt Ängste,
sollten, vergleichbar mit einem leichten Erkältungsinfekt.
Schuldgefühle und Scham sowie Befürchtungen,
Entscheidend ist, dass die Betroffenen im Fall des Ein-
eine Psychotherapie könnte zu unerwünschten
tretens von Schmerzen über adäquate Formen der Ver-
Persönlichkeitsveränderungen führen.
arbeitung verfügen, um eine Chronifizierung zu ver-
meiden. Im Fall chronischer Schmerzerkrankungen sollte
Die Vermittlung eines biopsychosozialen Modells von das individuell angestrebte und akzeptable Maß hinsicht-
Krankheit und Genesung ist daher basaler Bestandteil lich Intensität und Frequenz zwischen Patient und Be-
aller Interventionen in der Schmerztherapie und sollte so handler möglichst konkret vereinbart werden.
früh wie möglich und von allen Beteiligten eines multi- Die Forderung konkreter, verhaltensnaher Therapie-
professionellen Teams vermittelt werden (▶ Kap. 17, »Bio- ziele gilt darüber hinaus für alle Maßnahmen, die im
psychosoziale Krankheitsmodelle«). Erst wenn alle Behand- Rahmen einer kognitiv-verhaltenstherapeutischen Inter-
ler denselben biopsychosozialen Bezugsrahmen ver- vention durchgeführt werden, so z. B. für die Frequenz
wenden, erlangt dieser für den Patienten ein Maß an dysfunktionaler Kognitionen, ungünstiger Formen der
Glaubwürdigkeit, das für eine Neuattribution notwendig Emotionsregulation oder ungünstiger Verhaltensweisen
26.2 · Kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren in der psychologischen Schmerztherapie
303 26
im Umgang mit den Schmerzen, ebenso für die Frequenz Vor allem Patienten, die zu dysfunktionalen Kogni-
individueller Stresssituationen, die mit vermehrten tionen neigen, zeigen zunächst eine Furcht oder Ableh-
Schmerzen einhergehen. Das Erreichen dieser Therapie- nung gegenüber gezielten Formen der Selbstbeobachtung,
ziele ist durch entsprechende Maßnahmen der psychoso- da diese damit verbunden ist, dass das Belastende ins Zen-
zialen Diagnostik zu überprüfen, die nicht nur eingangs, trum der Aufmerksamkeit rückt. Nicht selten wird daher
sondern auch im Therapieverlauf wiederholt eingesetzt das Ausfüllen eines Schmerztagebuchs »vergessen«, oder
werden. es fällt den Betroffenen schwer, sich an typische Situa-
Grundlage kognitiv-verhaltenstherapeutischer Inter- tionen des Alltags zu erinnern. Der therapeutische Umgang
ventionen, insbesondere der KVT, ist das Erkennen aus- mit diesen Momenten, die auf Widerstände in der KVT
lösender und aufrechterhaltender Bedingungen für ein hinweisen können [vgl. 13], wird ausführlicher in ▶ Kap. 13,
Problemverhalten sowie das Erproben und spätere Ein- »Psychosoziale Diagnostik«, beschrieben.
üben funktionaler Bewältigungsformen. Dies wird zu-
nächst im geschützten Therapiesetting, z. B. in Form von Modifikation impliziter, automatischer
Situationsanalysen und konkreten Rollenspielen, bearbei- dysfunktionaler Bewertungen von Schmerz
tet. KVI bemühen sich darüber hinaus, u. a. über die Ein- und Stress
führung von Hausaufgaben gezielt den Transfer in den Implizite, automatisiert ablaufende Bewertungen sind
Alltag zu erreichen. Ein abschließender Baustein ist die nach Lazarus und Folkman [12] die ersten kognitiven
gezielte Rückfallprophylaxe, in der schwierige Situatio- Reaktionen, die dem Betroffenen nach Gewahrwerden
nen, z. B. im beruflichen Bereich, vorweggenommen wer- eines Schmerzes oder einer Stresssituation in Bruchteilen
den mit dem Ziel, Schmerzen als wichtiges Signal dafür von Sekunden in den Sinn kommen. Die neu in die Auf-
ansehen zu können, eingeübte Bewältigungsstrategien merksamkeit gerückten Ereignisse werden im Sinn primä-
auch in schwierigem Kontext zu erproben. rer Bewertungen hinsichtlich ihrer Valenz als angenehm,
Transfer in den Alltag sowie Rückfallprophylaxe sind unangenehm oder irrelevant sowie in ihrer Qualität als
primär im ambulanten Bereich gut zu erreichen, weshalb Bedrohung, Schaden/Verlust oder als eine Herausforde-
es unbedingt notwendig ist, KVI, die während eines sta- rung bewertet. Gegenstand von KVI sind dysfunktionale
tionären Aufenthalts erlernt wurden, ambulant weiterzu- Muster der Schmerzbewertung, wenn z. B. nichtspezifi-
führen. Multimodale Disease-Management-Programme sche Rückenschmerzen, die auf muskuläre Verspannungen
(DMPs) müssen hier realisierbare Konzepte entwickeln. zurückzuführen sind, als Zeichen einer bedrohlichen Er-
krankung angesehen, d. h. katastrophisiert werden.
Katastrophisieren und Hilf-/Hoffnungslosigkeit, also
26.2.3 Maßnahmen kognitiv-verhaltens- die eher resignative Annahme, dass gar nichts mehr hilft,
therapeutischer Interventionen zählen zu den zentralen aufrechterhaltenden und schmerz-
verstärkenden Kognitionen bei chronischen Schmerz-
Wahrnehmung und Selbstbeobachtung erkrankungen. Sie gehen mit verstärkter Schmerzangst,
Ausgangspunkt jeder kognitiv-verhaltenstherapeutischen Furcht vor schmerzassoziierten Bewegungen sowie depres-
Intervention ist die gezielte, unvoreingenommene Selbst- siven Stimmungslagen einher. In der KVT wurden zahl-
beobachtung. Die bewusste Wahrnehmung der Frequenz reiche kognitive Techniken entwickelt, um dem entgegen-
und Intensität aller Vorgänge, die wir unter dem Begriff zuwirken. Techniken der Ablenkung, z. B. das gezielte
»Problem- bzw. anzustrebendes Zielverhalten« subsum- Konzentrieren auf externe (Rechenaufgabe) oder interne
mieren (z. B. Schmerzen, belastende Gedanken, Gefühle Reize (schmerzinkompatible körperliche Empfindungen),
oder Verhaltensweisen), hilft Patient wie Therapeut fest- werden gezielt eingeübt. Dazu kommen Formen der
zustellen, inwieweit Therapieziele erreicht werden. Die kognitiven Umbewertung, wie z. B. die Neuinterpretation
bewusste Wahrnehmung möglicher Kontingenzen zwi- des Schmerzes als wichtiges, aber nicht bedrohliches
schen Schmerzverstärkung und situativen Veränderungen Zeichen, eine Verhaltensänderung einzuleiten (z. B. Ent-
in der Außenwelt (z. B. Krankheit von Angehörigen, Be- spannung oder körperliche Bewegung). So enthalten
drohung des Arbeitsplatzes) oder Innenwelt (z. B. Ge- Manuale für gruppentherapeutische Interventionen eine
danken, Gefühle, Müdigkeit, muskuläre Anspannungen) Reihe von kognitiven Interventionen, die über Ablenkung
validiert einen biopsychosozialen Behandlungsansatz und und Umbewertung dysfunktionales Katastrophisieren ab-
hilft konkrete Schritte der Veränderung einzuleiten. bauen sollen [1].
Zu den häufigsten Methoden der Selbstbeobachtung In der Forschung zur Chronifizierung von Rücken-
zählen das Schmerztagebuch sowie die Durchführung schmerz wurden darüber hinaus automatisierte Kognitio-
einer Situationsanalyse im Rahmen des verhaltensanaly- nen im Sinne des Bagatellisierens (»Schmerz hat keinerlei
tischen Interviews. Bedeutung«) sowie des Durchhalteappells (»Reiß dich
304 Kapitel 26 · Psychologische Verfahren

zusammen!«) als ebenso bedeutsam für die Aufrechter- spürt verstärkte Anspannung und eine Verstärkung der
haltung der Schmerzen nachgewiesen [4, 7]. Dies hat zum Schmerzen. Es kommt zu einer ersten bedrohlichen Be-
einen zur Formulierung des Avoidance-endurance- wertung der Schmerzen selbst (»Was ist, wenn ich wieder
Modells beigetragen (▶ Kap. 17, »Biopsychosoziale Krank- eine Blockade kriege?«) und reagiert im inneren Dialog
heitsmodelle«), zum anderen zu den risikofaktorenbasier- mit Kognitionen des Bagatellisierens und Durchhaltens
ten kognitiv-behavioralen »Graded-balance-Interven- (»Wird schon nicht so schlimm sein. Reiß dich mal zusam-
tionen« (GBI) [16]. Im Graded-balance-Ansatz wird zu- men!«). Nach 2 h kommt es zu einer weiteren Schmerzver-
nächst dem Phänomen Rechnung getragen, dass die stärkung auf »9«, die sie zur Aufgabe zwingt. Sie fühlt sich
26 genannten dysfunktionalen Kognitionen nie allein Be- auch nicht mehr in der Lage, ihre Tochter abzuholen, muss
wertungen des Schmerzes selbst sind, sondern immer auch sich hinlegen und ruft ihren erwachsenen Sohn an, damit
eine Bewertungen gleichzeitig ablaufender Aktivitäten des dieser die Tochter abholt. Dies ist die Schmerzstärke, die
Alltags. So kann ein hohes Maß an Katastrophisieren be- Frau AB normalerweise motiviert, sich einen Termin bei
deuten, dass, wie oben dargestellt, der Schmerz selbst als ihrem Arzt geben zu lassen. Ihm gegenüber klagt sie auch
Zeichen einer bedrohlichen Erkrankung angesehen wird. darüber, dass sie kaum noch eine alltägliche Arbeit durch-
Die bedrohliche Interpretation kann aber auch eine zeit- halten könne.
gleich ablaufende Aktivität betreffen (»Was ist, wenn ich es In der therapeutischen Situationsanalyse wird diese
wegen der Schmerzen nicht schaffe, mein Referat pünkt- Situation bis auf ihre Anfänge zurückverfolgt. Mit welcher
lich zu Ende zu bringen?«). Zum anderen gehen wir in den Schmerzintensität hat Frau AB begonnen, zu bügeln?
GBI davon aus, dass die oben genannten Kognitionen in Wann hat sie erstmals einen leichteren Schmerzanstieg
einem ständigen Widerstreit auftreten und damit eine verspürt (z. B. von »3« auf »4«). . Tab. 26.1 macht deutlich,
funktionale Bewertung verhindern. dass dies nach ca. 30 min Bügeln der Fall war.
> Graded-balance-Interventionen beschreiben einen
Die von der Patientin berichteten automatischen Ge-
Ansatz kognitiv-verhaltenstherapeutischer Ver-
danken werden zunächst einzeln nacheinander danach
fahren, die versuchen, gesundheitsfördernde
eingeschätzt, wie viel Anspannung sie jeweils auslösen
funktionale Gedanken und Verhaltensweisen zu
(0–100, »0« keine Anspannung, »100« maximale Anspan-
mehren bei einer gleichzeitigen Schmerzlinderung.
nung). Das Notieren auf einer Flipchart erleichtert das ge-
meinsame Betrachten von Patient und Therapeut sowie
Funktionale Bewertungen leiten sich als konkrete Therapie- das weitere gemeinsame Suchen nach Lösungsansätzen.
ziele aus einem adaptiven biopsychosozialen Genesungs- Im nächsten Schritt werden Gedanken gesucht, die die
modell ab. Beim nichtspezifischen Rücken- oder Nacken- momentane Anspannung lindern könnten. Falls der Pa-
schmerz geht es darum, den Schmerz und seine Konsequen- tientin keine Alternativen einfallen, macht der Therapeut
zen im Alltag nicht als Katastrophe zu bewerten, sondern als Angebote. Alle Ideen werden auf der Flipchart notiert und
ein zwar ernst zu nehmendes, aber bewältigbares Signal (im nun hinsichtlich wahrgenommener Effektivität zur Linde-
Sinne einer Herausforderung), das (a) eine affektneutrale rung von Anspannung (»0« gar nicht effektiv, »100« sehr
Wachsamkeit bewirken sowie (b) spannungs-und/oder effektiv), hinsichtlich der individuellen Passung (… die-
schmerzlindernde Aktivitäten einleiten soll. GBI haben zum ser Gedanke passt zu mir: »0« gar nicht, »100« vollkom-
Ziel, gesundheitsfördernde Gedanken und Aktivitäten zu men) sowie des individuellen Schwierigkeitsgrads (… so
mehren bei gleichzeitiger Schmerzlinderung. Damit un- zu denken, würde mir gar nicht [»0«], würde mir extrem
terscheiden sie sich von zahlreichen kognitiv-verhaltens- schwer fallen [»100«]) eingeschätzt.
therapeutischen Verfahren, deren Ziel in der Aktivitätsstei- In einer weiteren Übung, »Analyse des inneren Dialo-
gerung trotz Schmerzen besteht. ges«, folgt eine Betrachtung der widerstreitenden Kognitio-
Ein Therapiemodul der GBI besteht zunächst im Auf- nen im Rollenspiel. Im Rahmen von Gruppentherapien
bau entspannungsfördernder Kognitionen. Basierend können in Anlehnung an Elemente des Psychodramas [11]
auf der Situationsanalyse einer typischen, gut erinnerten Mitpatienten es übernehmen, jeweils einen Gedanken aus-
schmerzverstärkenden Situation (siehe Beispiel des Bügelns zusprechen. Die Chronologie des Auftretens der Gedanken
in . Tab. 26.1) wird ein alltäglicher Ablauf im Leben eines wird vom Patienten vorgegeben, ebenso Wortwahl, Tonlage
Patienten rekonstruiert. Patientin AB z. B. nennt einen An- und Laustärke, wie sie vom Patienten in typischen Situatio-
stieg ihrer Rückenschmerzen von »5« auf »7« (auf einer nen empfunden wird. Im Rahmen einer Einzeltherapie kann
numerischen Selbstratingskala 0–10) nachdem sie ca. 1,5 h der Patient den einzelnen Gedanken jeweils einem Stuhl
hat. Ihre ersten automatischen Gedanken entsprechen dem zuordnen, selbst auf diesem Platz nehmen und den Ge-
Katastrophisieren (»Das schon wieder! Wenn ich nicht danken laut aussprechen (ebenfalls so nah wie möglich am
rechtzeitig fertig werde, schaffe ich es nicht mehr, meine tatsächlichen Erleben in typischen Alltagssituationen). Hier
Tochter aus der Kita zu abholen …«). Sie bügelt weiter, geht es darum, dass dem Betroffenen deutlich wird, (1.) dass
26.2 · Kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren in der psychologischen Schmerztherapie
305 26

. Tab. 26.1 Situationsanalyse zur Schmerzverstärkung durch körperliche Aktivität. Fallbeispiel Frau AB (42 Jahre, halbtags Sekretärin,
verheiratet, 2 Kinder, 3 und 15 Jahre). In der letzten Tabellenzeile ist der Bereich des Schmerzanstiegs angeführt (7 o 9), der Frau AB
normalerweise dazu führt, ihren Arzt aufzusuchen. Hier beklagt sie vor allem ihre Einschränkungen im Alltag

Situation: Bügeln am einem freien Tag

Ungefähre Welchen Welche Gedanken kamen mir in Was habe ich Wie habe ich mich gefühlt?
Uhrzeit Schmerzanstieg den Sinn? getan?
habe ich gespürt?

11:00 Beginn 3 Ist das wieder viel heute! Angefangen zu Etwas müde
bügeln

11:30 3o4 Ach mein Rücken, na, macht Weitergebügelt Müde, gelangweilt
nichts

12:00 4o5 Wird das jetzt schlimmer? Na, reiß Weitergebügelt Ängstlich, angespannt
dich mal zusammen!

12:30 5o7 Was ist, wenn ich wieder eine Mit einiger Angst vor Blockade, aber auch
Blockade bekomme? Wenn ich Anstrengung Angst, K. nicht rechtzeitig
nicht rechtzeitig fertig werde, weitergebügelt abholen zu können
schaffe ich es nicht mehr, K. von
der Kita abzuholen!

13.00 7o9 Die Schmerzen sind ja uner- Auf das Sofa gelegt, Niedergeschlagen, gereizte
träglich! Unmöglich, K. jetzt ab- Beine auf ein Kissen Stimmung, Angst vor Blockade
zuholen. Das muss B. machen. (Stufenbett)

Gedanken des Katastrophisierens meist mit hoher Laut- Da diese meist körperliche Bedürfnisse zum Ausdruck
stärke und Durchsetzungskraft auftreten, entspannungs- bringen (z. B. nach einer Pause, Entspannung und oder
fördernde Gedanken (»Ich könnte mal eine kleine Pause auch körperlicher Aktivierung), können die Übungen
machen …«) dagegen mit sehr geringer Lautstärke, (2.) wie direkt den Regeln des sozialen Kompetenztrainings folgen.
viel Anspannung diese Form des inneren Dialogs auslöst Häufig werden den widerstreitenden Kognitionen vom
sowie (3.) dass es wichtig ist, entspannungsfördernden Ge- Patienten aus bestimmte Rollen oder Funktionen zuge-
danken mehr Durchsetzungskraft zu verleihen. Das Rollen- schrieben (z. B. Körperstimme gegenüber Pflichtstimme),
spiel kann an der Flipchart weitergeführt werden, indem die die vom Therapeuten aufgegriffen werden können.
jeweiligen Gedanken hinsichtlich Lautstärke/Durch- Ziel ist es, für Situationen des Schmerzanstiegs ent-
setzungskraft ebenfalls von 0–100 eingeschätzt werden. spannungsfördernde Kognitionen zu festigen, die ohne
inneren Widerstreit (»Ruhe im Kopf«) ablaufen. Damit soll
Tipp zum einen das unmittelbare Anspannungsniveau gesenkt
werden, zum anderen sollen die automatischen Gedanken
In der therapeutischen Situationsanalyse wird ein
eine handlungsleitende Funktion für die Einleitung adap-
Schmerzanstieg bis auf seine Anfänge zurückverfolgt.
tiver Schmerzbewältigung bekommen.
Mit welcher Schmerzintensität hat ein Patient eine
schmerzauslösende Aktivität begonnen, was waren Modifikation dysfunktionalen
die ersten automatischen Gedanken und Verhaltens- Schmerzverhaltens
weisen? Neu zu erlernendes funktionales Verhalten
Katastrophisieren und Gedanken der Hilf-/Hoffnungs-
sollte systematisch im Hinblick auf den individuellen
losigkeit leiten häufig Flucht- oder Vermeidungsverhalten
Schwierigkeitsgrad, die individuelle Passung sowie
ein. Schmerzen, die als bedrohlich wahrgenommen
auf die wahrgenommene Effektivität eingeschätzt
werden, führen zu unmittelbarem Schonverhalten (z. B.
werden.
Humpeln) bzw. dazu, dass Aktivitäten, die mit diesen
Schmerzen assoziiert sind (Bücken, Eine-Kiste-Heben),
Es folgt eine Reihe von Übungen der »sozialen Kompetenz frühzeitig gemieden werden. Ebenso werden soziale Situ-
im inneren Dialog«, die darauf abzielen, entspannungs- ationen, die mit Schmerzen assoziiert waren oder sind
fördernde Kognitionen in ihrer handlungsleitenden Funk- (z. B. Essengehen mit Freunden) gemieden, um keine
tion gegenüber dysfunktionalen Gedanken zu stärken. bedrohliche Schmerzverstärkung aufkommen zu lassen.
306 Kapitel 26 · Psychologische Verfahren

Im Avoidance-endurance-Modell werden die physiolo- 4 Sie beenden oder vermeiden schmerzassoziierte


gisch ungünstigen Langzeitfolgen ausgeprägten Vermei- Aktivitäten entsprechend früh (präventives Meiden).
dungsverhaltens dargelegt (▶ Kap. 17, »Biopsychosoziale 4 Dadurch nehmen sie sich die Möglichkeit, alternative
Krankheitsmodelle«). Katastrophisieren kann aber auch, Kognitionen und Verhaltensweisen zu erproben und
vermittelt über Kognitionen des Durchhalteappells, mit ihre Funktionalität wahrzunehmen.
suppressivem Schmerzverhalten beantwortet werden [20]. 4 Das extreme Vermeidungsverhalten führt zu musku-
Vor allem wenn es sich um ein Katastrophieren der lärer Insuffizienz und damit zu einer Aufrechter-
Schmerzfolgen im Alltag handelt, kommt es dazu, dass haltung der Schmerzen.
26 Schmerzen einer gewissen Intensität toleriert werden, um
anstehende Aufgaben zunächst zu Ende zu führen. Patien- Ein weiteres Therapiemodul im Graded-balance-Ansatz
ten mit Rücken- oder Nackenschmerzen zeigen häufig ein bezieht sich auf den Auf- oder Ausbau entspannungs-
Überwiegen primär ängstlichen Vermeidungsverhaltens fördernden Verhaltens. Gefördert werden sollen:
(Fear-avoidance-Reaktionen, FAR), depressiv-suppre- 4 die Fähigkeit und Bereitschaft, entspannungsfördern-
ssiven Durchhalteverhaltens (Distress-endurance-Reak- des Verhalten in den Alltag zu integrieren;
tionen, DER) oder aber auch ein eher heiter-suppressives 4 die Fähigkeit zur Flexibilität, auf Schmerzen sowohl
Muster (Eustress-endurance-Reaktionen, EER), bei dem mit einem »gesunden« Durchhalteverhalten als auch
Kognitionen des Bagatellisierens und eine positive Stim- mit einem »gesunden« Schon- und Vermeidungs-
mungslage vorherrschen. verhalten, beides im Sinne einer funktionalen Be-
Im Graded-balance-Ansatz gehen wir davon aus, dass und Entlastung, reagieren zu können;
Patienten mit einem suppressiven Schmerzverarbeitungs- 4 die Fähigkeit, diese Flexibilität bereits bei leichteren
muster folgende Dysfunktionalität aufweisen: Schmerzanstiegen (z. B. von »3« auf »4«) einsetzen zu
4 Sie reagieren im Prozess der Schmerzverstärkung zu können, (a) um selbst die Kontrolle über die Ver-
spät, d. h. erst bei einer zu hohen Schmerzintensität, haltensalternativen zu behalten und (b) um vor allem
mit einer Verhaltensänderung (z. B. Hinlegen). beim Einleiten von Pausen etc. noch eine schmerz-
4 Dies hat zur Folge, dass eine kurzzeitige Pause keine lindernde Wirkung zu erreichen, was wiederum die
effektive Schmerzlinderung bringt, daher Pausen wahrgenommene Selbstwirksamkeit steigert.
nicht als hilfreich erlebt werden.
4 Es bedeutet auch, dass die Betroffenen sich vom Für die Übungen entspannungsfördernden Verhaltens
Schmerz zur Passivität »zwingen« lassen. eignen sich ebenfalls sowohl Rollenspiele in der Therapie-
4 Mangelnde wahrgenommene Effektivität und Ab- situation als auch konkrete Hausaufgaben für die Zeit
hängigkeit vom Schmerz fördern negative Selbst- zwischen den Therapiesitzungen. Die Übungen können an
bewertungen, kognitive Hilf- und Hoffnungslosigkeit den oben genannten Situationsanalysen (z. B. Bügeln) an-
sowie eine geringe Selbstwirksamkeit. knüpfen und diese fortsetzen. Der Graded-balance-Ansatz
4 Durchhalteverhalten bewirkt eine Überlastung bereits sieht dabei eine grobe Klassifikation von Situationsberei-
geschädigter körperlicher Strukturen und damit eine chen vor: intrapsychische (Patientin ist mit sich allein),
Aufrechterhaltung der Schmerzen. interpersonelle I (ein oder mehrere andere Menschen sind
im Sinne von potenziellen Betrachtern anwesend) sowie
Es ist bisher unklar, wie es Patienten mit einem EER-Muster interpersonelle II (ein anderer Mensch ist als direkter In-
gelingt, ihre positive Stimmung lange Zeit aufrechtzuerhal- teraktionspartner involviert). Sie gehen jeweils mit unter-
ten. Es wird der Einfluss besonderer Persönlichkeitseigen- schiedlichen Schwierigkeitsgraden einher. In intrapsychi-
schaften (hohes Maß an »Resilience«) diskutiert, ebenfalls schen Situationen sind die neuen Verhaltensschritte in der
operante Mechanismen der positiven oder negativen Ver- Regel am leichtesten zu erlernen. Der wahrgenommene
stärkung. Positive Verstärkung liegt vor, wenn die schmerz- Schwierigkeitsgrad steigert sich bis zu den direkten Inter-
assoziierten Aktivitäten dieser Patienten z. B. einen sehr aktionen, in denen es im Sinne der sozialen Kompetenz
hohen Belohnungswert haben, Spaß machen oder einen darum geht, anderen gegenüber »nein« zu sagen bzw.
großen Erfolg versprechen. Negative Verstärkung weist da- eigene Wünsche zu äußern.
rauf hin, dass schmerzassoziierten Aktivitäten der Wegfall In der Therapiesituation werden, ähnlich wie in der Ar-
negativer Konsequenzen (z. B. Tadel) folgt. beit an den Kognitionen, am Flipchart Verhaltensschritte
Patienten mit einem vorherrschenden FAR-Muster gesammelt, die hinsichtlich Effektivität, Passung und
zeigen eher folgende Dysfunktionalität: Schwierigkeitsgrad eingeschätzt werden. Für Rollenspiele
4 Sie reagieren im Prozess der Schmerzverstärkung sehr und Hausaufgaben werden von Patient und Therapeut
früh mit Kognitionen des Katastrophisierens (»Wenn gemeinsam die Schritte ausgesucht, die das beste Kosten-
sie jetzt schlimmer werden, ist das eine Katastrophe!«). Nutzen-Verhältnis aufweisen. Sehr entscheidend ist dabei,
26.2 · Kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren in der psychologischen Schmerztherapie
307 26
einen Schwierigkeitsgrad von 3 nicht deutlich zu über- Modelle für funktionales Schmerzverhalten bzw. zeigten
schreiten, da dies den Patienten überfordern würde etwa Vater wie Mutter ausgeprägt suppressives Schmerz-
(s. oben). Freizeit und berufliche Situation unterscheiden verhalten, finden sich beim Patienten häufig vollkommene
sich ebenfalls in der Regel im individuellen Schwierigkeits- Verhaltensdefizite, die in den Rollenspielen sehr gut zum
grad, daher sollten Übungen zu Verhaltensänderungen Ausdruck kommen können. Hier geht es um das Neuler-
zunächst im freizeitlichen Bereich beginnen und für den nen funktionalen Schmerzverhaltens. Wurden dagegen
beruflichen Bereich erst nach Fortschritten in der Freizeit funktionale Verhaltensweisen (z. B. eine frühzeitige Pause
weitergeführt werden. bei der Hausarbeit machen) direkt bestraft (durch Tadel
o. Ä.), finden sich beim Patienten eher kognitiv/affektive
Analyse und Modifikation expliziter Barrieren im Umgang mit funktionalem Schmerzver-
Metakognitionen halten, die sich im Sinne der SMKs äußern.
Explizite Metakognitionen beziehen sich auf generalisier-
te, situationsübergreifende Einschätzungen der eigenen
Situation, der Schmerzen, eigener Verhaltensweisen sowie 26.2.4 Kognitiv-verhaltenstherapeutische
von Reaktionen der Umgebung. Als Risikofaktoren für die Interventionen (KVI) in verschiedenen
Schmerzchronifizierung sind bei Rücken- und Nacken- medizinischen Settings
schmerzen vor allem sog. »fear-avoidance-beliefs« (FABs)
nachgewiesen worden. FABs beziehen sich u. a. auf Über- KVI wurden als kognitive Verhaltenstherapie (KVT) für
zeugungen bezüglich der schmerzverstärkenden Wirkung die Behandlung psychischer Störungen im einzel- oder
körperlicher Aktivitäten (»Körperliche Aktivitäten schaden gruppentherapeutischen Setting entwickelt. Im nieder-
mir im allgemeinen«), der beruflichen Arbeit (»Meine be- gelassenen Bereich können, abhängig vom Schweregrad
rufliche Tätigkeit verstärkt meine Schmerzen«) oder auf der Störung und dem Fortschreiten des Therapieerfolgs,
die zukünftige Situation (»Mit diesen Schmerzen werde ich zwischen 10 und 80 jeweils 50-minütige Therapieeinheiten
nicht wieder arbeiten können«). FABs können Ausdruck im Einzelsetting angesetzt werden. Gruppentherapeu-
einer depressiven Entwicklung im Zuge der Schmerz- tische Angebote sehen in der Regel zwischen 6 und 12
chronifizierung sein und sind meist positiv mit Angst und Therapiesitzungen vor, deren Dauer im Schnitt auf 90 min
Depressivität korreliert. erhöht wird. Dies gilt ebenso für Patienten mit chroni-
Im Zuge des Arbeitens an entspannungsfördernden schen Kreuz-/Nackenschmerzen, deren Beschwerden über
Kognitionen oder des konkreten Verhaltens werden da- psychische Faktoren aufrechterhalten werden oder als
rüber hinaus suppressive Metakognitionen (SMKs) ge- Begleiterscheinung oder Folge einer primär psychischen
äußert. SMKs beziehen sich meist auf Situationen des All- Störung auftreten [2].
tags und treten auf, wenn z. B. frühzeitige Pausen eingeübt Einem jüngeren Ansatz zufolge werden KVI bei Pa-
werden. Auch sie stellen Generalisierungen über zukünf- tienten mit Kreuz- und Nackenschmerz zunehmend auch
tige Ereignisse dar (»Wenn ich so weitermache, verwahr- in körperbasierte Therapieangebote integriert und z. B.
lost mein ganzer Haushalt, und ich entwickle mich zu einer von geschulten Physiotherapeuten durchgeführt [16].
Schlampe!«, »Wenn ich jetzt schon eine Pause mache, fühle Diese Entwicklung geht auf die Erkenntnis zurück, dass
ich mich ja wie eine alte Frau/ein alter Mann!«) oder chronische Kreuz- und Nackenschmerzen schon relativ
äußern sich in Form von kognitiven Schemata (»Eine frühzeitig über psychosoziale Risikofaktoren angezeigt
Schneiderin lässt die Hände niemals ruhen!«). SMKs ge- werden und damit in der Breite Angebote bereitgehalten
hen in der Regel mit starken Angstgefühlen einher. werden sollten. Diese Angebote variieren in ihren Inhalten
Die therapeutische Situation dient dazu, diese Meta- und ihrer Dauer sehr stark von wenigen Minuten bis hin
kognitionen zu hinterfragen sowie ihre individuelle Lern- zu etwa 6 Einheiten von bis zu 20 min. Die Interventionen
geschichte zu eruieren. umfassen dabei meist hochstandardisierte Vorgehens-
weisen mit überwiegend edukativen Inhalten. Sie werden
Analyse der individuellen Lerngeschichte gegenwärtig primär im Rahmen von Forschungsarbeiten
Bestandteil jeder KVT ist eine immer wieder zwischenge- umgesetzt, um deren Wirksamkeit abschätzen zu können.
schaltete Analyse der individuellen Lerngeschichte, die Ein Transfer in die alltägliche Praxis steht im deutsch-
sich auf dysfunktionale implizite wie explizite Kognitionen sprachigen Raum noch aus.
sowie auf konkrete habituelle Verhaltensmuster bezieht.
Bedeutsam sind dabei potenzielle Verhaltensmodelle in
Kindheit und Jugend sowie konkrete Verstärkungsmus-
ter für das eigene Schmerzverhalten sowie für den Umgang
mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen. Fehlten z. B.
308 Kapitel 26 · Psychologische Verfahren

26.2.5 Wirksamkeit kognitiv-verhaltens- det werden sollen, ist aktuell eine große Herausforderung
therapeutischer Interventionen für die schmerzpsychotherapeutische Forschung. Psycho-
soziale Diagnostik muss einerseits Komorbiditäten mit
Kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen chroni- affektiven psychischen Störungen klären [2], zum anderen
scher Schmerzen haben sich in einer Vielzahl randomisier- sollte sie dazu dienen, dysfunktionale Muster der Schmerz-
ter, kontrollierter klinischer Studien (»randomized cont- verarbeitung festzustellen, die ggf. inhaltlich unterschied-
rolled trials«, RCTs) als wirksam erwiesen, Schmerzinten- liche therapeutische Ansatzpunkte und Verfahren indizie-
sität und Frequenz, Beeinträchtigung im Alltag sowie ren. So hebt das Verfahren des »graded exposure« vor
26 schmerzaufrechterhaltende psychosoziale Faktoren selbst allem darauf ab, Patienten über einen konfrontativen
zu verbessern. Während allerdings frühe Metaanalysen zu Zugang an körperliche Aktivitäten heranzuführen, die sie
Verfahren der KVT bei chronischen Schmerzpatienten aus starker Schmerz- und Bewegungsangst heraus dauer-
noch zufriedenstellende Effektstärken (Cohens d=.50) haft gemieden haben [19]. Der oben beschriebene Graded-
berichteten, kamen jüngere Metaanalysen nur noch zu ge- balance-Ansatz wendet sich sowohl an Patienten mit
ringeren Werten. Morley et al. [15] kritisieren an Letzteren, ausgeprägtem Angst-/Vermeidungsverhalten als auch an
dass zu viele heterogene RCTs einbezogen wurden; so un- Patienten mit suppressiver Schmerzverarbeitung und hebt
terschieden sich die berücksichtigten Studien vor allem in auf die Förderung eines flexiblen Umgangs mit Schmerz
der Dauer, Frequenz und den Inhalten von KVI. Die Auto- und schmerzassozierten körperlichen wie sozialen Aktivi-
ren fordern zudem eine stärkere Berücksichtigung der täten ab.
Einschlusskriterien vor allem hinsichtlich komorbider
affektiver Störungen. Es ist schlichtweg nicht zu erwarten,
dass ein Patient mit Kreuz- oder Nackenschmerz, der an 26.2.7 Fazit
einer komorbiden sozialen Angststörung leidet, von einem
3-stündigen edukativen Angebot innerhalb einer Physio- Bei der Beurteilung von Studien zur Wirksamkeit von KVI
therapie profitiert. In Zukunft werden kontrollierte Thera- sollte zunächst berücksichtigt werden, in welchem Setting
piestudien mit einer eindeutigeren Indikationsstellung sie umgesetzt wurden, da diese, wie oben beschrieben, sehr
hinsichtlich der psychosozialen Faktoren benötigt. Eine heterogen sind hinsichtlich zeitlicher Dauer, struktureller
Durchführung von Metaanalysen macht erst dann Sinn, und inhaltlicher Merkmale, die verwirklicht wurden, so-
wenn eine genügend große Zahl homogener RCTs vorliegt. wie des Schulungsgrads der Therapeuten.
Ein relativ junger Ansatz besteht im Angebot von KVI
an Patienten mit Kreuzschmerz, das in einer relativ frühen
Phase der Schmerzchronifizierung realisiert wird. So Literatur
wurde der oben beschriebene Graded-balance-Ansatz ei-
ner in sich relativ homogenen Gruppe von Patienten mit Literatur zu Abschn. 26.1
1. Bernstein DA, Borkovec TD (1992) Entspannungstraining. Pfeiffer,
subakutem Rückenschmerz (inkl. Ausstrahlung in die
München
Beine) angeboten, die (a) eine medizinische Indikation zu 2. Elkins G, Jensen MP, Patterson DR (2007) Hypnotherapy for the
konservativer Therapie und (b) die psychologische Indika- management of chronic pain. Int J Clin Exp Hypn 55(3):275–287
tion zu einer KVT aufwiesen. Letztere bestand in der test- 3. Flor H, Birbaumer N (1993) Comparison of the efficacy of electro-
psychologischen Feststellung psychosozialer Risikofakto- myographic biofeedback, cognitive-behavioral therapy, and
ren, u. a. eines ausgeprägten Furcht-/Vermeidungs- oder conservative medical interventions in the treatment of chronic
musculoskeletal pain. J Consult Clin Psychol 61(4):653–658
suppressiven Schmerzverhaltens [6]. Die Studie berichtet 4. Flor H, Turk DC (1989) Psychophysiology of chronic pain: do
hohe Effektstärken für das Verfahren einer risikofaktoren- chronic pain patients exhibit symptom-specific psycho-
basierten KVT gegenüber einer Treatment-as-usual- physiological resonses? Psychological Bulletin 105(2) 215–259
Kontrollgruppe, eine hohe klinische Signifikanz sowie das 5. Glombiewski JA, Tersek J, Rief W (2008) Muscular reactivity and
Fehlen von Befundverschlechterungen. specificity in chronic back pain patients. Psychosomatic Medicine
70(1):125–131
6. Glombiewski JA, Hartwich-Tersek J, Rief W (2010) Two psycho-
logical interventions are effective in severely disabled, chronic
26.2.6 Indikation kognitiv-verhaltens- back pain patients: a randomised controlled trial. Int J Behav Med
therapeutischer Interventionen bei 17(2):97–107
Kreuz- und Nackenschmerz 7. Hermann C, Flor H (2009) Chronische Rückenschmerzen. In:
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Bern, S 125–137
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311 27

Injektionstherapie
und Injektionstechniken
an der Wirbelsäule
T. Theodoridis

27.1 Einleitung – 312

27.2 Behandlungsprinzip – 312

27.3 Bildsteuerung – 313

27.4 Voraussetzungen und Kontraindikationen – 313

27.5 Injektionstechniken – 313


27.5.1 Lumbale Spinalnervanalgesie (LSPA) – 313
27.5.2 Lumbale Facetteninfiltration – 314
27.5.3 Ligamentäre Infiltration am Iliosakralgelenk (ISG-Block) – 315
27.5.4 Lumbale epidurale Schmerztherapie – 315
27.5.5 Zervikale Spinalnervanalgesie (CSPA) – 317
27.5.6 Zervikale Facetteninfiltration – 318

Literatur – 318

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
312 Kapitel 27 · Injektionstherapie und Injektionstechniken an der Wirbelsäule

Die Injektionstherapie hat einen hohen Stellenwert bei der > Die segmentnahe Injektionsbehandlung wirkt
Behandlung der degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen. direkt am »Ort der Schmerzentstehung«.
Wenn alle konservativen Maßnahmen auch nach konse-
quentem Einsatz kein befriedigendes Resultat erzielen, Wenige Milliliter [17] eines niedrig konzentrierten (0,5 %)
sollte nicht gleich operiert werden. Es ist sinnvoll zu prüfen, Lokalanästhetikums, ggf. unter Zusatz von Steroiden,
ob man nicht eines der segmentnahen Injektionsverfahren reichen aus, um sensibilisierte Nozizeptoren vorüberge-
einsetzen kann. Therapieresistente radikuläre Wirbelsäulen- hend auszuschalten. Man erreicht dadurch eine:
syndrome mit einer Korrelation zwischen klinischem und 4 Schmerzreduktion,
bildgebendem Befund sind meistens die Hauptindikationen. 4 Herabsetzung der Nervenerregbarkeit,
Die Behandlung erfolgt ambulant und in einigen Fällen 4 lokale Durchblutungssteigerung,
27 auch stationär. Die meisten Injektionstechniken lassen sich 4 Desensibilisierung.
nach anatomisch-palpatorischen Orientierungspunkten
durchführen. Mit Ausnahme einiger Techniken sollte eine Zielrichtung der therapeutischen Lokalanästhesie sind die
routinemäßige Durchführung der Injektionen unter Zuhilfe- sensiblen Nervenfasern. Nach der Einspritzung der Lokal-
nahme von Röntgenstrahlen vermieden werden. In der anästhetika kommt es zu einer reversiblen Ausschaltung
Literatur sind die epiduralen Techniken am häufigsten der afferenten Fasern. Da die Wirksamkeit der Lokalanäs-
untersucht. Die strahlenfreie epidural-perineurale Einmal- thetika mit einer Vergrößerung des Faserdurchmessers
injektion (»single shot«) schneidet dabei am besten ab. abnimmt, werden zuerst die sensiblen und bei höherer
Dosierung die motorischen Nervenfasern blockiert. Lo-
kalanästhetika setzen hierbei die Membranpermeabilität
27.1 Einleitung für Kationen herab, insbesondere für Natriumionen. Es
kommt zu einer verringerten Membranpermeabilität mit
Die Injektionstherapie an der Wirbelsäule als »Single- verminderter Erregbarkeit [18]. Die Verwendung höherer
shot-Verfahren« ist ein wichtiger Bestandteil der »konser- Konzentrationen mit vollständiger Anästhesie und Par-
vativen« Behandlung degenerativer Wirbelsäulenerkran- alyse ist jedoch für die schmerztherapeutische lokale In-
kungen. In der Regel kann man damit als behandelnder filtrationsbehandlung nicht erforderlich.
Arzt schon ambulant in der Arztpraxis – eine richtige > Ziel der Injektionsbehandlung ist die Herabsetzung
Indikation und sorgfältige Durchführung vorausgesetzt – der Erregbarkeit mit Heraufsetzen der Reizschwelle.
für den Patienten so viel Beschwerdelinderung erreichen,
dass weitere, invasivere Maßnahmen nicht mehr erforder- Experimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass ent-
lich sind. Mit der Injektionstherapie ist nicht die An- zündliche Veränderungen der Nervenwurzel, hervorge-
wendung von Muskel- und Triggerpunktinfiltrationen rufen durch Kompression, mit Lidocaininjektionen weit-
gemeint, sondern die sog. tiefe Nadelung in Form von gehend verhindert werden können [15, 23]. Die schmerz-
epiduralen Injektionen, Nervenwurzelblockaden und lindernde Wirkung hält länger an, als von der Wirkdauer
Facetten- und Iliosakralgelenkinfiltrationen. Ziel ist zu- des Lokalanästhetikums zu erwarten ist. Durch mehr-
nächst, die komplikationsträchtigen offenen Operationen malige (6–12) Infiltrationen des Lokalanästhetikums an
zu vermeiden, die irreversible Folgeerscheinungen hinter- aufeinanderfolgenden Tagen kommt es zu einer Desen-
lassen können. Dies ist bei einer sorgfältig durchgeführten sibilisierung der überaktiven neuralen Elemente mit
Injektionstherapie nicht der Fall. Diese sog. minimal-inva- Schmerzreduktion. Dadurch wird der vorherige Zustand
siven Behandlungsmaßnahmen sind segmentnahe, erreicht, in dem sich der Patient beschwerdefrei fühlte. Es
lokale Injektionen an der Wirbelsäule, die die Region un- gilt sowohl für die Bandscheibenprotrusion als auch für die
mittelbar am Wirbelkanal oder im Wirbelkanal selbst Recessusstenose, die Spinalkanalstenose und für periradi-
betreffen. Um diese Areale zu erreichen, benötigt man bei kuläre Vernarbungen. Eine nachhaltige Wirkung wird
der Durchführung der Injektionen Kanülen mit einer schließlich durch Physio-, Bewegungs-, Haltungs- und
Länge von mindestens 6–12 cm. Verhaltenstherapie im Rahmen der Rückenschule erzielt.
Diese begleitenden Maßnahmen erfolgen, soweit möglich,
während der Injektionsbehandlung und sollten nach
27.2 Behandlungsprinzip Therapieabschluss fortgesetzt werden.

Schmerzstillende, entzündungshemmende und abschwel-


lende Präparate werden lokal an den Ausgangspunkt der
Nozizeption im Bewegungssegment appliziert. Die Pri-
märstörung wird dadurch direkt beeinflusst.
27.5 · Injektionstechniken
313 27
27.3 Bildsteuerung > Die direkte Lokalanästhetikaapplikation wirbel-
säulennah gehört – trotz möglicher Nebenwirkungen
Das Vorschieben der Nadeln von dorsal kann unter Rönt- und Komplikationen – zu den sichersten und
genbildwandler- bzw. CT-Kontrolle erfolgen, besser je- wirksamsten Methoden der Schmerzbekämpfung.
doch – bis auf wenige Ausnahmen – ohne Röntgenhilfe
nach palpatorisch-anatomischen Orientierungspunkten,
um die kumulative Strahlenbelastung bei wiederholten In- Kontraindikationen für die lokale
jektionen zu vermeiden [10]. Injektionstherapie
> Die Injektionstherapie an der Wirbelsäule sollte 5 Hautläsionen im Injektionsbereich sowie lokale
nicht routinemäßig bildgesteuert durchgeführt und/oder systemische Infektionen
werden. 5 Überempfindlichkeit gegenüber Lokalanästhetika
5 Steroidkontraindikationen (wie z. B. schwer
Indikationen für die sofortige Verwendung einer Röntgen- kontrollierbarer Diabetes mellitus)
durchleuchtung oder CT-Steuerung ergeben sich aus be- 5 Neurologische Anfallsleiden und Rückenmarker-
sonderen anatomischen Verhältnissen mit Schwierigkei- krankungen (wegen der ZNS-Nähe mit möglichem
ten, den gewünschten Injektionsort mittels palpatorisch Liquorverlust)
anatomischer Orientierungspunkte aufzufinden, so z. B. 5 Akute Herz- und Kreislaufstörungen oder kardiale
bei Skoliosen, Übergangswirbeln und sehr adipösen Pa- Überleitungsstörungen
tienten. Eine Durchleuchtungs- bzw. CT-Kontrolle kann 5 Einnahme blutverdünnender Medikamente
auch erforderlich sein, wenn eine Nervenwurzel durch (ASS und Clopidogrel, Marcumar etc.)
Kontrastmittelinjektion und Schmerzausschaltung defi- 5 Fehlende Voraussetzungen für eine Injektions-
niert werden soll, etwa zur präoperativen Diagnostik einer therapie
Nervenwurzeldekompressionsoperation [18], aber auch
bei der zervikalen epiduralen Injektion.
Als Voraussetzungen für eine Injektionstherapie an der
Wirbelsäule gelten zur Infektionsprophylaxe ein spezieller
27.4 Voraussetzungen und Infiltrationsraum, in dem nur entsprechende aseptische
Kontraindikationen Behandlungen durchgeführt werden, und eine professio-
nelle Vorbereitung des Injektionszubehörs. Für Herz- und
Eine gewissenhafte Vorbereitung der Injektionsbehand- Kreislaufkomplikationen müssen Reanimationsmöglich-
lung hilft Fehler und Komplikationen zu vermeiden. Im keiten vorhanden sein. Wie unsere Untersuchungen über
Vorfeld sollte im Rahmen der allgemeinen und speziellen Nebenwirkungen und Komplikationen der Injektionsbe-
Anamneseerhebung sowie der klinischen Untersuchung handlung bei degenerativen Wirbelsäulenerkrankungen
festgestellt werden, ob diese Behandlung indiziert ist und zeigten [4, 5, 22], ist ein routinemäßiges, aufwendiges
ob keine Kontraindikationen vorliegen (7 Übersicht hämodynamisches Monitoring in der Regel nicht erforder-
»Kontraindikationen«), die bei Nichtbeachtung zu Kompli- lich.
kationen führen könnten. Die Komplikationsrate ist ins- Arzt und Personal sollten allerdings in die Notfall-
gesamt jedoch gering, insbesondere im Vergleich zu an- behandlung eingewiesen sein.
deren minimal-invasiven Verfahren wie Lasertherapie, > Eine Überwachung der Kreislaufparameter mit der
intradiskale Verfahren, endoskopische und offene Band- Pulsoxymetrie ist bei der Injektionstherapie an der
scheibenoperationen. Neben den allgemeinen Komplika- Wirbelsäule ausreichend (. Abb. 27.1).
tionen und Nebenwirkungen, die bei jeder lokalen Injek-
tion von Lokalanästhetika vorkommen können, wie vaso-
vagale Synkopen, anaphylaktische Reaktionen, Infektionen 27.5 Injektionstechniken
und Blutungen, gibt es spezielle Komplikationen durch die
Injektion in die unmittelbare Nähe des zentralen Nerven- 27.5.1 Lumbale Spinalnervanalgesie (LSPA)
systems. Dazu gehören z. B. das postpunktionelle Syn-
drom, die Entwicklung einer Spinalanästhesie durch die Prinzip
versehentliche intrathekale Lokalanästhetikaapplikation, Hauptziel dieser Injektionstechnik ist die Region am Fora-
die epidurale Abszessbildung sowie die versehentliche Ver- men intervertebrale und im lateralen Wirbelkanal. Anteile
letzung der Pleura pulmonalis mit konsekutiver Pneumo- der Wirbelgelenkkapsel werden ebenfalls mit infiltriert.
thoraxbildung.
314 Kapitel 27 · Injektionstherapie und Injektionstechniken an der Wirbelsäule

. Abb. 27.2 Nadellage bei Infiltration der foraminoartikulären


27 Region L4/5 am Skelett. Oberhalb des Querfortsatzes L5 wird im
Foramen intervertebrale die austretende L4-Wurzel erreicht. Die
vertikale Winkeleinstellung für die Injektionsbehandlung dieser
Wurzel beträgt 30°

. Abb. 27.1 Sitzhaltung eines Patienten vor Durchführung einer Prozedere


lumbalen Injektion. Die Sauerstoffsättigung und die Herzfrequenz
werden durch ein angelegtes Pulsoxymeter überwacht. Die Rönt-
Bei starken Schmerzen durch Nervenwurzelreizer-
genaufnahmen der LWS hängen seitengerecht (rechts = rechts) gut scheinungen können lumbale Spinalnervanalgesien sogar
sichtbar in Blickrichtung des Behandlers. Kompressen werden im täglich an 5–10 Tagen durchgeführt werden, je nach
unteren Kleidungsbereich angebracht Schweregrad ambulant oder stationär. Bei Abklingen der
Beschwerden werden die Abstände zwischen den Injek-
tionen je nach Situation verlängert.
Indikation
Ausstrahlende Schmerzen in der Lumbalregion können Ergebnisse LSPA
von der Nervenwurzel (radikulär), aber auch von umgeben- Es gibt zahlreiche retrospektive und 2 randomisierte
den Strukturen wie Wirbelgelenk, paravertebralen Muskeln Studien [9] über die positive Wirkung von Nervenwurzel-
und Bändern ausgehen. Die Schmerzareale sind dann nicht blockaden in den unterschiedlichen Techniken bei degene-
streng segmental-radikulär, sondern pseudoradikulär. rativen Wirbelsäulenerkrankungen.

Technik
Einstichstelle und Führung der 12 cm langen Nadel sind 27.5.2 Lumbale Facetteninfiltration
durch topografisch-anatomische Palpationspunkte be-
stimmt (. Abb. 27.2). Am einfachsten und sichersten Prinzip
erreicht man die Foramina intervertebralia der unteren Hauptziel dieser Injektionstechnik ist die Region der
Lendenwirbelsäule von einer Einstichstelle, die 8 cm seit- lumbalen Wirbelgelenkkapseln. Gereizte Nozizeptoren
lich der Medianlinie in Höhe der Darmbeinkämme liegt. werden mit einem Lokalanästhetikum, ggf. unter Zusatz
Je nach betroffener Wurzel wählt man dann in einer von Steroiden, vorübergehend blockiert und dadurch aus-
60-Grad-Winkelposition in der Vertikalebene verschiede- geschaltet.
ne Winkelgrade [20].
In der Regel werden 10 ml einer 0,5%igen Lokalanäs- Indikation
thesielösung injiziert, die tiefe Teile der paravertebralen Gehen radikuläre Schmerzen mit Rückenschmerzen ein-
Muskulatur, laterale Anteile der Facette und die austreten- her, ist eine Facetteninfiltration indiziert. Aber auch bei
de Nervenwurzel im Foramen intervertebrale periradiku- Hyperlordosekreuzschmerzen ohne Beinausstrahlung
lär infiltriert. Ein Teil der Injektionslösung diffundiert kann eine Injektion der Facetten vorgenommen werden.
durch das Foramen intervertebrale in den Epiduralraum,
wie CT-kontrollierte Spinalnervanalgesien mit Kontrast- Technik
mittel gezeigt haben [9]. Die lumbalen Wirbelgelenkkapseln erreicht man durch
Der wesentliche Unterschied zu den Techniken von vertikales Vorschieben einer 8 cm langen Kanüle 2–2,5 cm
Reischauer [14] sowie Macnab und Dall [11] besteht darin, paravertebral zwischen den Dornfortsätzen (. Abb. 27.3).
dass durch die schräge Nadelrichtung ein sicherer Man findet dadurch Knochenkontakt im dorsalen
Knochenkontakt im posterolateralen Anteil des Lenden- Anteil der Wirbelgelenkkapsel. Eine intrakapsuläre Infil-
wirbels erreicht wird. tration von 2 ml Lidocain erfüllt den therapeutischen
27.5 · Injektionstechniken
315 27

. Abb. 27.3 Knochenkontakt L5/S1 rechts am Skelett. Der Gelenk- . Abb. 27.4 Nadellage am Skelett. Die 45°-Einstellung der Nadel
kapselkomplex liegt in diesem Segment 2,5 cm lateral der Mittellinie zielt direkt auf den mittleren Anteil des ISG

Zweck. Dies gilt für die sog. trockene Facettitis, wenn nur apparat der Sakroiliakalgelenke und an den Ansätzen des
eine Kapselschwellung vorliegt. Ligamentum iliolumbale.
Besteht ein Gelenkerguss (sog. feuchte Facettitis), was
deutlich im CT, besser noch im MRT zu erkennen ist, emp- Indikation
fiehlt sich eine Gelenkpunktion unter Bildwandlerkontrol- Hauptindikationen sind Irritationen des Iliosakralgelenks
le mit Kortisoninjektion [19]. (ISG) im Rahmen von ISG-Blockaden oder pseudoradiku-
lären Lumbalsyndromen.
Prozedere
Bei starken Schmerzen können Facetteninjektionen eben- Technik
falls täglich an 5–10 Tagen durchgeführt werden, aber auch Der Bandapparat im ISG-Bereich wird am einfachsten von
als zweite ärztliche Maßnahme während eines stationären einer Einstichstelle, die in der Mittellinie in Höhe der
Aufenthalts mit multimodaler Wirbelsäulentherapie. Die gleichseitigen Spina iliaca posterior superior und des
vorübergehende Schmerzausstrahlung dient auch zur Dornfortsatzes S1 liegt, erreicht (. Abb. 27.4). Die Winkel-
Identifikation des Schmerzausgangspunkts für eine even- einstellung des Einstichs zur Haut beträgt dann ca. 45°. Die
tuelle weiterführende Facettenkoagulation [7]. Stichrichtung geht nach lateral.

Ergebnisse Prozedere
Auf die Bedeutung der Wirbelgelenke bei der Entstehung Blockierungserscheinungen am Iliosakralgelenk verursa-
von Rückenschmerzen weisen zahlreiche Untersucher hin chen sehr oft Restbeschwerden pseudoradikulären Cha-
[2, 3, 12, 24] . Zur Facetteninfiltration selber liegen zwar rakters während einer erfolgreichen Behandlung eines
zahlreiche retrospektive Studien und Erfahrungsberichte lumbalen Wurzelreizsyndroms. Da die beschriebene liga-
vor [9], randomisierte, kontrollierte Studien fehlen jedoch. mentäre Infiltrationstechnik im ISG-Bereich keine große
> Facetteninfiltrationen sind bei gegebener Indikation
Schwierigkeit bereitet, sollte sie sogar als probatorische
fester Bestandteil der multimodalen Therapie bei
Injektion mindestens einmal in einem Behandlungszyklus
degenerativen Erkrankungen der Lendenwirbelsäule.
durchgeführt werden. Häufig tritt dadurch eine deutliche
Besserung auf.

27.5.3 Ligamentäre Infiltration 27.5.4 Lumbale epidurale Schmerztherapie


am Iliosakralgelenk (ISG-Block)
Grundsätzlich gibt es 4 Zugangswege, über die man den
Prinzip lumbalen Epiduralraum mit einer Kanüle erreichen kann.
Hauptziel dieser Injektionstechnik ist die Region an den Der Zugang über das Foramen intervertebrale ist nur
Übergängen vom Band zum Knochen am dorsalen Band- unter CT- oder Bildwandlerkontrolle möglich und bleibt
316 Kapitel 27 · Injektionstherapie und Injektionstechniken an der Wirbelsäule

27

. Abb. 27.6 Lage der Nadel zwischen L4 und L5 am Skelett bei der
epidural-dorsalen Injektion

. Abb. 27.5 Nadellage am Skelett zwischen den Cornua sacralia bei


der epidural-sakralen Injektion. Die Kanülenspitze sollte die Höhe
von S2 nicht überschreiten

Einzelsituationen vorbehalten, da er letzten Endes routine-


mäßig nicht praktikabel ist. Das Gleiche gilt für den indi-
rekten Weg über die Bandscheibe. In diesen Fällen, wenn
sich bei der Diskografie ein Kontrastmittelabfluss in den
Epiduralraum zeigt und die geplante intradiskale Behand-
lung nicht möglich ist, kann man durch eine intradiskale
Gabe Kortison in den ventralen Epiduralraum applizieren.
In der täglichen Praxis sind der Zugang über den
Hiatus sacralis und der interlaminäre Zugang gebräuch-
licher.

jEpidural-sakral – Kaudalanästhesie
Vor allem beim Postdiskotomie- oder Postfusionssyndrom
wird die Epiduralanästhesie über den Hiatus sacralis
(Kaudalanästhesie) oft eingesetzt (. Abb. 27.5). Der
. Abb. 27.7 Der Stichkanal bei der epidural-perineuralen Injektion,
Hiatus sacralis ist dann der einzige Zugang zum lumbalen
wie hier am Skelett dargestellt, weicht etwa 15–20° von der sagit-
Epiduralraum, wenn der interlaminäre Zugang durch talen Mittellinie ab
Knochenspäne verlegt ist. Nachteil dieser Technik ist, dass
man größere Mengen braucht, um u. a. auch die betrof-
fenen Nervenwurzeln in der gewünschten Konzentration Mit der dorsal-interlaminären Technik (. Abb. 27.6)
zu umfluten. erreicht man gleichzeitig mehrere Wurzeln, ggf. auch auf
beiden Seiten. Nachteil dieser Technik sind hier aber auch
jEpidural-dorsal – »Loss-of-resistance-Technik« die größeren Lokalanästhetikamengen, die appliziert wer-
In der Schmerztherapie verwendet man am häufigsten den den müssen, da die injizierte Flüssigkeit hauptsächlich im
interlaminären Zugang – entweder als epidural-dorsale dorsalen Epiduralabschnitt verteilt wird.
Injektion mit der »Loss-of-resistance-Technik« oder als
epidural-perineurale 2-Nadel-Technik für den ventralen
Epiduralraum.
27.5 · Injektionstechniken
317 27

. Tab. 27.1 Randomisierte, kontrollierte Studien zur epiduralen Injektionsbehandlung beim lumbalen Wurzelkompressionssyndrom

Autor Jahr Zugang Dosis Ergebnis

Krämer et al. 1997 Interlaminär epidural-perineural u. epidorsal versus 10 mg Triam +


Muskelinfiltration

Ng et al. 2005 Interlaminär-dorsal 40 mg Triam versus Bupivacain +

Becker et al. 2007 Interlaminär epidural-perineural 10/5 mg Triam versus Orthokin +

Teske et al. 2009 Interlaminär epidural-perineural 10 mg Triam versus Lidocain +

jEpidural-perineural – Doppelnadelsystem
mit Führungskanüle und 29-G-Kanüle
Den anterolateralen Epiduralraum erreicht man am besten
von dorsal-interlaminär mit einer Doppelnadeltechnik mit
schräger Zielrichtung [20, 21] (. Abb. 27.7).
Mit einer Führungskanüle werden zunächst Haut, Fas-
zie und Muskulatur überwunden. Schließlich wird eine
dünne 29-G-Kanüle bis zum anterolateralen Epiduralraum
durchgeschoben. Die Kanüle ist so dünn, dass selbst bei
transduraler Passage keine Schäden erzeugt werden.
> Die epidural-perineurale Injektion mit dem Doppel-
nadelsystem ist äußerst schonend und effektiv.

Indikation
Eine Indikation ist die monoradikuläre L5- und S1-
Wurzelreizung durch verlagertes Bandscheibengewebe
und (oder) durch knöcherne Bedrängung bei lateraler
Spinalkanalstenose. Aber auch die Wurzelirritation durch . Abb. 27.8 Nadellage am Skelett kraniolateral am Rand des
postoperative Narben (Postdiskotomiesyndrom) gehört lateralen Wirbelbogenanteils rechts bei einer zervikalen Spinal-
zum Indikationsspektrum der epidural-perineuralen nervanalgesie rechts
Techik.

Prozedere steroid. Die Autoren kamen zu der Schlussfolgerung, dass


Therapieresistente Nervenwurzelreizerscheinungen, die angesichts der zahlreichen randomisierten Erfahrungsbe-
mit starken Schmerzen einhergehen, sollten anfänglich richte zur kortisongestützten periradikulären Therapie die
1- bis 2-mal wöchentlich durch eine epidurale Injektion Weiterverwendung der Lokalanästhetikum-Kortison-
behandelt werden. Kombination vorerst weiterzuempfehlen ist [19].
Reine Kreuzschmerzen ohne Ausstrahlung geben kei-
nen Anlass für eine periradikuläre Injektionstherapie [6].
27.5.5 Zervikale Spinalnervanalgesie (CSPA)
Ergebnisse der epiduralen Injektionstherapie
Es liegen zahlreiche positive Ergebnisse aus randomisiert- Prinzip
kontrollierten Studien zu epiduralen Injektionen beim Die CSPA ist eine periradikuläre Behandlung mit Um-
lumbalen Wurzelkompressionssyndrom vor. Eine Über- flutung der Nervenwurzeln C5–C8 von dorsal unmittelbar
sicht der aktuelleren Untersuchungen findet sich in der nach dem Austritt aus dem Foramen intervertebrale und
. Tab. 27.1. Drei Studien betreffen die epidural-perineura- im lateralen Wirbelkanal.
le Injektion [1, 8, 16]. Verwendet wurden vorwiegend
Lokalanästhetika mit Steroiden, aber auch Orthokin [1] als Indikation
Antiphlogistikum oder Lokalanästhetikum allein [13, 16]. 4 Zervikales Wurzelreizsyndrom
Die Studien ergaben keinen Unterschied zwischen Lokal- 4 Pseudoradikuläres Zervikalsyndrom
anästhetikum allein und Lokalanästhetikum plus Kortiko- 4 Zervikozephales Syndrom
318 Kapitel 27 · Injektionstherapie und Injektionstechniken an der Wirbelsäule

Technik 8. Krämer J, Ludwig J, Bickert U, Owczarek V, Traupe M (1997)


Mit dem dorsalen Zugang erreicht man 3–4 cm paraverte- Lumbar epidural perineural injection: a new technique. Eur Spine
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bral in einer Tiefe von durchschnittlich 4–6 cm die unteren
9. Krämer J (2006) Bandscheibenbedingte Erkrankungen, 5. Aufl.
zervikalen Spinalnerven (. Abb. 27.8), ohne die Gefahr Thieme, Stuttgart
einer Durapunktion oder der Verletzung der großen Hals- 10. Krämer J, Blettner M, Hammer P (2008) Bildgesteuerte Injektions-
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14. Reischauer F(1953) Zur Technik der lokalen Novocainbehandlung
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Ziel dieser Injektionstechnik ist es, die gereizten Noziz- 15. Rydevik B (1990) Etiology of sciatica. In: Weinstein J, Wiesel S
eptoren der zervikalen Wirbelgelenkkapseln mit einem (Hrsg) The Lumbar Spine. Saunders, Philadelphia
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Beer AM, Molsberger A (2009) Epidural injection therapy with
übergehend zu blockieren und dadurch auszuschalten.
local anaesthetics versus cortisone in the lumbar spine syndrome:
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Indikation 17. Teske W, Zirke S, Nottenkämper J, Lichtinger T, Theodoridis T,
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pseudoradikulärer Ausstrahlung volume determination of the anterolateral epidural space nerve
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4 Zervikales Facettensyndrom
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Technik 18. Theodoridis T (2007) Injektionstherapie an der Wirbelsäule ohne
Die zervikalen Wirbelgelenkkapseln der unteren Hals- Bildsteuerung. Orthopäde 36:73–86
wirbelsäule erreicht man durch vertikales Vorschieben 19. Theodoridis T (2012) Stellenwert der Injektionstherapie bei
einer 6–8 cm langen Kanüle 2 cm paravertebral zwischen degenerativen Erkrankungen der Lendenwirbelsäule. Orthopäde
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den Dornfortsätzen [18, 20].
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21. Theodoridis T, Mamarvar R, Krämer J, Wiese M, Teske W (2009)
Literatur Einstichwinkel bei der epidural-perineuralen Injektion an der
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nerve root infiltration. Z Orthop Ihre Grenzgeb 144(1):27–32
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(Hrsg) Minimal-invasive Wirbelsäulen-Intervention. 2. Aufl.
Deutscher Ärzte-Verlag, Köln,S 209–243
319 28

Anästhesiologische Schmerz-
therapie bei Rückenschmerzen
W. Hoerster

28.1 Einleitung – 320

28.2 Lumbale Injektionstherapie – 320

28.3 Peridurale Injektionstechniken – 321


28.3.1 Techniken im Einzelnen – 321
28.3.2 Kathetertechnik nach Racz bei Kaudalanästhesie – 322

28.4 Periduralanästhesie mit Katheter – 322


28.4.1 Technik – 322

28.5 Probleme, Fehler, Gefahren – 323

28.6 Spinale Medikamentenapplikation mittels Katheter


und Pumpe – 324

Literatur – 324

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
320 Kapitel 28 · Anästhesiologische Schmerztherapie bei Rückenschmerzen

Bei einer Lumboischialgie werden neben der kausalen Triggerpunktinfiltrationen, Facettendenervierungen und
Therapie mit großem Erfolg anästhesiologische Methoden einzelnen Wurzelblockaden werden anästhesiologisch
zur Schmerztherapie eingesetzt. Die therapeutische Lokal- Kathetertechniken eingesetzt, um eine kontinuierliche,
und Regionalanästhesie führt mit verschiedenen, den je- langanhaltende Schmerzbeseitigung zu erreichen und
weiligen Indikationen angepassten Methoden zu einer im Anschluss eine wirksame Physiotherapie und
sofortigen Unterbrechung der Schmerz-Verspannungs- Krankengymnastik zur Stabilisierung des Effekts zu
Spirale mit sehr guter Schmerzlinderung und Muskelent- ermöglichen.
spannung. Darüber hinaus werden entzündliche Prozesse, Ein nicht zu unterschätzender Vorteil der anästhesio-
ödematöse Wurzelveränderungen und Durchblutungs- logischen Techniken der Schmerztherapie besteht auch
störungen zuverlässig mitbehandelt. Zusätzlich zu Trigger- darin, die Chronifizierungsvorgänge – mit zentraler Sensi-
punktinfiltrationen, Facettendenervierungen und einzelnen tivierung und sekundärer Hyperalgesie mit Steigerung der
Wurzelblockaden werden anästhesiologisch Kathetertechni- zentralen Erregbarkeit des nozizeptiven Systems – zu ver-
ken eingesetzt, um eine kontinuierliche, langanhaltende hindern oder zumindest abzuschwächen.
28 Schmerzbeseitigung zu erreichen und im Anschluss eine
wirksame Physiotherapie und Krankengymnastik zur
Stabilisierung des Effekts zu ermöglichen. Ein weiterer Vor- 28.2 Lumbale Injektionstherapie
teil besteht darin, dass Chronifizierungsvorgänge verhin-
dert oder abgeschwächt werden.
> Geeignete Pharmaka sind langwirkende Lokal-
anästhetika wie Bupivacain und Ropivacain, Steroide
und Clonidin. NMDA-Rezeptorantagonisten wie
28.1 Einleitung Ketamin sind zur rückenmarknahen Anwendung
nicht zugelassen.
Als Lumboischialgie werden Rückenschmerzen kombi-
niert mit Nervenschmerzen bezeichnet, die durch Nerven- Radikuläre Schmerzen mechanischer, chemischer, ischä-
wurzelkompression in einem oder mehreren Segmenten mischer oder entzündlicher Genese werden zum über-
der Wirbelsäule hervorgerufen werden. In seltenen Fällen wiegenden Teil konservativ behandelt. Nach einer gründ-
sind auch entzündliche Prozesse die Ursache. lichen strukturierten Anamnese und sorgfältiger Befund-
Ursachen im Einzelnen sind: Bandscheibenprotrusion, erhebung, insbesondere in Kombination mit einer neuro-
Bandscheibenprolaps, Spinalkanalstenose, Stenosierung logisch- manualtherapeutischen Untersuchung, wird die
der Neuroforamina durch Osteochondrosen und Spon- Diagnostik der Ursache der radikulären Schmerzen durch
dylarthrosen, Instabilität und Spondylolisthese, narbige bildgebende Verfahren unterstützt.
Wurzelkompression nach Bandscheibenoperationen oder Wenn durch kurzfristige orale Gabe von antiphlogis-
Fusionsoperationen (Failed-back-Syndrom), seltener Tu- tisch wirkenden NSAR, Steroiden und ggf. Opioiden
moren, Metastasen und, noch seltener, Entzündungen. Im keine ausreichende Schmerzlinderung zur Einleitung von
Gegensatz zum pseudoradikulären lumbosakralen Dehnungstechniken, Lockerung der reflektorisch ver-
Schmerzsyndrom sind bei der radikulären Form immer spannten Muskulatur und stabilisierender Krankengym-
neurologische Defizite sensibler und/oder motorischer Art nastik erreicht werden kann, werden interventionelle
nachweisbar. Techniken erforderlich. Im Verlauf eines Stufenplans
Neben der kausalen Therapie mit Beseitigung der kommen zunächst die Techniken mit den geringsten
Raumforderung und der medikamentösen Therapie mit Komplikationsmöglichkeiten zum Einsatz.
antiphlogistisch wirkenden Analgetika, ggf. auch Opio- > Oft sind Laminablockaden oder Ramus-dorsalis-
iden in Kombination mit Myotonolytika und Schmerz- Blockaden völlig ausreichend, um den gewünschten
modulatoren (Antidepressiva, Antikonvulsiva), werden anästhetischen Erfolg zu erzielen.
anästhesiologische Methoden zur Schmerztherapie mit
großem Erfolg eingesetzt. Neben den Facetteninfiltrationen bei schmerzhaften Wir-
Die therapeutische Lokal- und Regionalanästhesie belgelenkveränderungen werden paravertebrale Spinal-
führt mit verschiedenen, den jeweiligen Indikationen an- nervenblockaden unter CT- oder Bildwandlerkontrolle bei
gepassten Methoden zu einer sofortigen Unterbrechung akuten oder chronischen Wurzelreizsyndromen durchge-
der Schmerz-Verspannungs-Spirale mit sehr guter führt. In unmittelbarer Nähe des Foramen intervertebrale
Schmerzlinderung und Muskelentspannung. Darüber werden die betreffenden Spinalnerven mit ventraler und
hinaus werden entzündliche Prozesse, ödematöse Wurzel- dorsaler Wurzel und die Rami communicantes zum sym-
veränderungen und Durchblutungsstörungen zuverlässig pathischen Grenzstrang mit einem Lokalanästhetikum,
mitbehandelt. Neben den an anderer Stelle beschriebenen ggf. mit Steroidzusatz, umflutet.
28.3 · Peridurale Injektionstechniken
321 28
Nach Krämer und Laubenthal [2] ist diese Technik die aus den Foramina intervertebralia seitlich aus dem
auch sinnvoll bei pseudoradikulärer Schmerzsympto- Wirbelkanal austreten. Über die foramina intervertebralia
matik, z. B. bei degenerativen Lumbalsyndromen. Eine ist der Periduralraum mit dem Paravertebralraum ver-
Kathetereinführung ist bei der Nervenwurzelblockade bunden und über die transdurale Perfusion mit dem
kaum möglich. Soll eine lumbale Grenzstrangblockade mit liquorgefüllten Subarachnoidalraum.
längerer Wirkdauer durchgeführt werden, kann eine klas-
sische Grenzstrangblockade erreicht werden mithilfe einer
Tuohy-Kanüle, durch die der Katheter vorgeschoben wird 28.3.1 Techniken im Einzelnen
zu einer einseitigen Sympathikusausschaltung, beispiels-
weise bei einseitiger Perfusionsstörung im Rahmen einer Beim gebeugten Rücken in sitzender Position, wenn nötig
AVK, anderen Angiitiden oder CRPS (»complex regional auch in Seitenlage, wird nach Lokalanästhesie eine Tuohy-
pain syndrome«). Kanüle mit Mandrin zwischen den Dornfortsätzen, meist
im Segment L3/L4, durch das Gewebe zwischen den
knöchernen Anteilen bis zum Lig. flavum vorsichtig vor-
28.3 Peridurale Injektionstechniken geschoben.
Dann wird der Mandrin entfernt und eine mit physio-
Radikuläre Schmerzen durch beidseitige Nervenwurzelrei- logischer NaCl-Lösung gefüllte, leichtgängige Spritze auf-
zungen im betroffenen Segment können durch Injektion gesetzt. Mit permanentem Daumendruck auf den Kolben
von Lokalanästhetika (LA) in den periduralen Raum nach der Spritze wird die PD-Kanüle durch den harten Wider-
erfolgreicher Punktion wirksam behandelt werden. Je nach stand des Lig. flavum hindurch vorgeschoben. Beim Eintritt
Volumen werden auch Nervenwurzeln benachbarter in den periduralen Raum gibt der Widerstand plötzlich
Segmente erreicht. Aber auch bei pseudoradikulären nach, und der flüssige Inhalt der Spritze entleert sich plötz-
Schmerzen – z. B. Irritation der Nn. sinuvertebralis bei lich in den Raum mit ganz geringem Widerstand (Loss-of-
Bandscheibendegeneration, aber auch durch degenerative resistance-Methode – Widerstandsverlustmethode).
Wirbelgelenkprozesse, Stenosierung des Wirbelkanals und Alternativ kann auch die Methode mit dem hängenden
narbiger Ummauerung einer oder mehrerer Nerven- Tropfen eingesetzt werden: Der durch den Unterdruck im
wurzeln – ist die peridurale Injektion mit direkter Therapie periduralen Raum am Konus der PD-Kanüle hängende
der betroffenen Nervenwurzeln eine ideale und neben- Tropfen wird beim Durchtritt durch das Lig. flavum in die
wirkungsarme Methode. Damit lassen sich die entzünd- Kanüle eingesogen. Generell hat sich aber die Wider-
lichen und ödematösen Prozesse hemmen, die Reizauf- standsverlustmethode durchgesetzt.
nahme und weiterleitung verhindern und die durch die Nach sorgfältiger Aspiration zum Ausschluss einer
Nervenirritation ausgelösten sekundären Prozesse im Gefäßpunktion oder unbeabsichtigter Duraperforation
gestörten Segment gezielt behandeln, so z. B. Muskelver- wird eine Testdosis von 3 ml injiziert. Nach einer Minute
spannung, Gelenkblockierung und weitere schmerzhafte ohne Kreislaufreaktion und ohne beginnende Spinalanäs-
Veränderungen im lumbalen Bereich. Lang wirkende thesie kann fraktioniert die beabsichtigte Volumengesamt-
Lokalanästhetika wie Bupivacain oder Ropivacain mit und menge durch die PD-Kanüle in den periduralen Raum
ohne Steroidzusatz, ggf. auch Opioide und Clonidin, sind injiziert werden.
die favorisierten Pharmaka für diese Technik zur Behand- Bei entsprechender Indikation kann der Zugang zum
lung von Rückenschmerzen aller Art. periduralen Raum auch von kaudal durch den Hiatus
Folgt man den Empfehlungen von Krämer und sacralis gewählt werden, z. B. bei Kokzygodynie, Spinal-
Laubenthal [2] zur Behandlung akuter und chronischer kanalstenose, Postdiskotomiesyndrom oder degenerativen
radikulärer und pseudoradikulärer Prozesse, so ist die kon- Prozessen im unteren Lumbalbereich. Der Hiatus sacralis
tinuierliche Injektion über Periduralkatheter die Methode wird zwischen den Cornua sacralia in Bauchlage, ggf. auch
der Wahl. in Seitenlage, mit einer Verweilkanüle punktiert; nach
Der Periduralraum umhüllt das Rückenmark und das Durchtritt durch die Membran über dem Hiatus wird der
Bündel der Spinalnerven und ist medial begrenzt von der Mandrin zurückgezogen und die Verweilkanüle vorsichtig
Dura mater spinalis, die den Subarachnoidalraum umhüllt. in den Canalis sacralis vorgeschoben. Nach sorgfältiger
Von lateral und dorsal ist der Periduralraum von Periost Aspiration wird das gewählte Volumen in den Wirbelkanal
und Dura mater spinalis sowie von den Ligamenta flava injiziert. Eine Schmerzausbreitung während der Injektion
begrenzt, hat eine Distanz im lumbalen Bereich von ca. in Richtung Kniekehle ist ein positives Zeichen der
5–6 mm und ist angefüllt mit Fettgewebe, Bindegewebe, richtigen Platzierung. Eine erschwerte Injektion ist eher
dem periduralen Venengeflecht, Arterien und Lymphge- ein Zeichen für eine Fehllage der Kanüle dorsal des Wir-
fäßen sowie den paarig lateral angeordneten Spinalnerven, belkanals.
322 Kapitel 28 · Anästhesiologische Schmerztherapie bei Rückenschmerzen

In Abhängigkeit vom Volumen der injizierten Flüssig- Daraus wurde das Konzept der intermittierenden
keit können mehrere Segmente im unteren Bereich der Periduralanästhesie mit Katheter für 10 Tage entwickelt.
Wirbelsäule erfasst werden. Neben lang wirkenden Die 3-mal täglich durchgeführte Injektion von lang
Lokalanästhetika wird auch physiologische NaCl-Lösung wirkendem Lokalanästhetikum in einer Dosis, die eine
mit Steroidzusatz, seltener Opioide oder Clonidin ein- Hypästhesie bis zum Segment Th 12 sichert, erfüllt alle von
gesetzt. Krämer und Laubenthal [2] aufgestellten Therapieempfeh-
lungen. Eine intermittierende Injektionsserie über den Tag
verteilt bietet die Möglichkeit der neurologischen Kontrol-
28.3.2 Kathetertechnik nach Racz le zur Sicherung der Überwachung und erlaubt begleitende
bei Kaudalanästhesie Physiotherapie. Alle unterhalb des Segments Th 12 an-
gesiedelten pathologischen Schmerzsensationen werden
Eine Kathetervariante der Kaudalanästhesie ist die Metho- ebenfalls ausgeschaltet.
de nach Racz:
28 Nach Punktion des Hiatus sacralis mit einem Trokar
wird ein mit Metallmandrin stabilisierter, spezieller Kathe- 28.4.1 Technik
ter unter Röntgenkontrolle in den Rückenmarkkanal vor-
geschoben, bis die Katheterspitze die gewünschte Position Die Punktion des Periduralraums erfolgt in gleicher Weise
in der Nähe der narbigen Verwachsungen oder des Nucleus wie bei der Single-shot-Periduralanästhesie. Die Tuohy-
pulposus prolaps erreicht hat. Nach Dokumentation der Kanüle erlaubt die Möglichkeit, dem PD-Katheter eine
Lage mittels Epidurografie wird eine Mischung aus 10%iger gewünschte Richtung zu geben. Zunächst erfolgen die si-
NaCl-Lösung, Hyaluronidase und Kortison sowie Lokal- chere Identifikation des Periduralraums mit der 16- oder
anästhetikum in die unmittelbare Nähe der pathologischen 18-Gage-Kanüle, ein negativer Aspirationstest in 2 Ebe-
Veränderung injiziert. Durch diese Mischung sollen unter nen, bei dem weder Liquor noch Blut aspiriert werden
lokaler Analgesie eine osmotische Entquellung geschwol- kann, und die Injektion von 3 ml LA. Es wird eine Latenz-
lener Nervenwurzeln und der enzymatischer Abbau von zeit von 3 min abgewartet und mögliche Auffälligkeiten
Narbengewebe und Bandscheibenmaterial erreicht wer- wie beginnende Taubheit (spinale Fehllage), Kreislaufreak-
den und zusätzlich eine antiphlogistische Wirkung durch tion oder sonstige toxische Reaktionen (versehentliche
das Steroid. Der Katheter bleibt unter Antibiose 48 h in situ venöse Punktion) ausgeschlossen. Danach wird ein pas-
und wird wieder entfernt. sender Katheter bei sicherer Fixierung der Tuohy-Kanüle
Die Methode ist sehr umstritten, Hyaluronidase und mit der linken Hand, die fest auf dem Rücken aufliegt,
10%ige NaCl-Lösung sind für diese Anwendung nicht durch die Kanüle in den Periduralraum etwa 5–7 cm meist
zugelassen. Nach umfangreicher Erhebung der Deutschen kranialwärts vorgeschoben und die Kanüle über den Ka-
Arzneimittelkommission im Jahr 2002 wurde die Methode theter hinweg herausgezogen, wobei der Katheter an der
nur in experimentellen Studien angewandt (Deutsches Punktionsstelle sicher fixiert wird. Es ist nicht erforderlich,
Ärzteblatt 28.03.2003). die Katheterspitze in die Nähe der geschädigten Nerven-
wurzeln zu platzieren. Die gewünschte Wirkung ist abhän-
gig vom injizierten Volumen.
28.4 Periduralanästhesie mit Katheter Mithilfe einer Schleuse, die auf das Katheterende auf-
geschoben wird, wird erneut eine Testdosis von 3 ml
Krämer und Laubenthal [2] haben in ihrem Beitrag LA durch den Katheter, nach vorsichtiger Aspiration bei
»Schmerztherapie bei lumbalem Wurzelsyndrom« im negativem Ergebnis, in den Periduralraum injiziert. Bei
Lehrbuch Schmerztherapie von Beck et al. empfohlen, beim Aspiration von Liquor oder Blut wird der Katheter wegen
akuten Ischiassyndrom in den ersten 10 Tagen tägliche offensichtlicher Fehllage entfernt. Ein erneuter Punktions-
Spinalnervenanalgesien durchzuführen, um den Chronifi- versuch sollte zeitversetzt erfolgen.
zierungsprozess aufzuhalten oder zu durchbrechen. Kom- Nach ausbleibender unerwünschter Reaktion auf die
biniert wird diese Therapie mit Lagerung im Stufenbett Testdosis wird der Katheter an der Punktionsstelle mit
und begleitender Physiotherapie. einer Schlaufenbildung fixiert und steril abgedeckt. Bei
Sekundäre Schmerzen aus der Muskulatur, von längerer Liegezeit wurde früher eine Untertunnelung
Muskelansätzen und den Iliosakralgelenkfugen sind empfohlen mit Annähen des Katheters. Allerdings wird die
zusätzlich mit lokalen Infiltrationen zu ergänzen. Bei gra- Sicherheit durch den Schutz vor einer Infektion nicht er-
vierenden Krankheitsbildern mit erheblichen Schmerzen höht, auch die Fixierung durch Annähen nicht verbessert.
kommt eine stationäre Therapie von 10 bis 14 Tagen in- Der Katheter wird über den Rücken und die Schulter
frage mit 2 Infiltrationen täglich. bis zum ventralen oberen Thoraxbereich geführt und mit
28.5 · Probleme, Fehler, Gefahren
323 28
Der Patient ist über Sinn und Zweck, Durchführung
. Tab. 28.1 Komplikationen, Indiaktionen und
Kontraindikationen
und Gefahren der Methode rechtzeitig aufgeklärt worden
und erhält noch während der Überwachung weitere wich-
Komplikationen Indikationen tige Informationen sowohl mündlich, als auch mithilfe
eines Informationsbogens. Anschließend kann der Patient
Gelegentlich: A zur weiteren Überwachung mit klaren Anweisungen an die
Kreislaufdepression,- Chronischer Rücken- Station abgegeben werden.
vasovagale Synkope schmerz Die Erfolgsquoten lumbaler Injektionsbehandlung
Miktionsstörung Kompressionssyndrome können mithilfe der Kathetertechnik deutlich verbessert
werden. Die mit CT- oder Bildwandlerkontrolle gezielte
Toxische Reaktion Bandscheibenprolaps
(intravasale Fehllage) Blockade von Spinalnerven mit 3–5 ml Ropivacain und
Zusatz von Dexamethason oder 10–20 mg Triamcinolon
Hohe Spinalanästhesie Sonstige Raumforderung
erreicht eine Erfolgsquote von 43 %. Die einmalige peri-
(subarachnoidale Kathe-
termigration) durale Injektion von Ropivacain und Triamcinolon ver-
bessert die Quote auf 54 %. Eine deutliche Steigerung der
Spinalkanalstenose
Erfolgsquote auf bis zu 80 % wird durch mehrfache Wie-
Postnukleotomiesyn- derholung der Injektion über 4–7 Tage, am günstigsten
drom
über einen Periduralkatheter, erreicht.
Low back pain

Extrem selten [3]: Tumor


28.5 Probleme, Fehler, Gefahren
Peridurales Hämatom Fraktur

Lokale Infektion bis Bei jeder unsicheren Katheteranlage, bei Aspiration von
Periduralabszess Liquor oder Blut muss das Verfahren abgebrochen und
Katheterabriss B Sympathikolyse später wiederholt werden. Bei einseitiger Ausbreitung
Rückenmarktrauma- Arterielle Verschluss- der Analgesie im nicht betroffenen Gebiet kann durch
tisierung krankheit Zurückziehen des Katheters um 2–3 cm und erneute
Fixation nach typischer Testung eine bessere Ausbreitung
Nervenwurzelverletzung Post-Zoster-Neuralgie
versucht werden. Bei fehlendem Erfolg ist der Katheter zu
CRPS (»complex regional entfernen und zeitversetzt, meist am nächsten Tag, neu
pain syndrome«) [1]
anzulegen.
Kontraindikationen Kontinuierliche oder periodische Durchführung der
Gerinnungsstörungen Periduralanalgesie mit Katheter erfordert klare Anweisun-
gen an die Patienten wegen ihrer eingeschränkten Mobi-
Antikoagulanzien
lität und an das Pflegepersonal zur Überwachung und
Sepsis Dokumentation von Atmung, Kreislauf, Analgesieaus-
Allergie auf Lokalanästhetika breitung, zu neurologischer Kontrolle und Angaben des
Fehlende Einsicht und Einverständnis
Schmerzniveaus.
Alle 2 Tage erfolgen die Kontrolle der Punktionsstelle,
Filter- und Verbandwechsel.
Außerdem sind notwendig: Aspiration vor jeder Nach-
Pflasterstreifen fixiert. Die Schleuse am Katheterende wird injektion, nach jeder Injektion Kreislaufkontrolle, Dosi-
mit einem bakteriendichten Filter versehen, der alle 48 h sanpassung bei unerwünschter zu starker oder schwacher
gewechselt wird. Nun wird fraktioniert die nötige Menge Wirkung mit entsprechender Dokumentation. Die frak-
LA über den Katheter in den Periduralraum injiziert, bis tionierte Injektion erlaubt die neurologische Überwachung
ein Anästhesieniveau in Nabelhöhe (= Segment Th 12) und die Kontrolle der erwünschten anhaltenden Schmerz-
erreicht wird. Während der Testphase wird ein kontinuier- linderung. Routinemäßig wird 3-mal tgl. ein Volumen von
liches Monitoring durchgeführt, und alle Daten werden in 6–10 ml Bupivacain 0,25 %, individuell titriert, oder Ropi-
einem Protokoll festgehalten. vacain 5 mg/ml appliziert.
Bis 30 min nach der letzten LA-Dosis sollte der Patient Bei notwendiger antiphlogistischer Therapie erfolgt
kontinuierlich überwacht werden. Zur Kreislaufstabilisie- ein Zusatz von 8 mg Dexamethason mit der Morgendosis.
rung werden 500 ml Vollelekrolytlösung infundiert, bei Bei entsprechender Indikation werden Opioide oder
Bedarf auch mehr. Clonidin beigemischt.
324 Kapitel 28 · Anästhesiologische Schmerztherapie bei Rückenschmerzen

Komplikationen, Indiaktionen und Kontraindika- In Abhängigkeit der Wirkdauer des Pumpeninhalts wird
tionen sind in . Tab. 28.1 zusammengestellt. die Pumpe mit einer speziellen Kanüle über einen silikon-
gesicherten Zuspritzkanal gefüllt.
. Spinalanästhesie zur Neurolyse
Indikationen zur Neurolyse/Neurodestruktion bei sonst
nicht therapierbaren Rückenschmerzen bestehen bei fort- Literatur
geschrittenen Tumorerkrankungen im kleinen Becken und
Zitierte Literatur
Unterbauch mit Befall urogenitaler Organe und Infiltra-
1. Heisel J (2011) Kompressionssyndrome der Lendenwirbelsäule.
tion in Beckenknochen und Kreuzbein. Hierbei wird nach Orthopädie & Rheuma 1:41
diagnostischer Blockade mit Lokalanästhetika eine 2. Krämer J, Laubenthal H (2002) Schmerztherapie bei lumbalem
langfristige Blockade durch Neurolyse mit Injektion von Wurzelreizsyndrom. Rückenschmerz aus Sicht des Orthopäden.
Phenol in Glyzerin, seltener Alkohol, in den Spinalkanal In: Beck H, Martin E, Motsch J, Schulte am Esch J (2002)
erreicht. Schmerztherapie AINS, Bd 4. Thieme, Stuttgart, S 377
28 Die Technik entspricht der der Spinalanästhesie zu
3. Staudt T, Ohnesorge H (2002) Anaesthesiologische Verfahren in
der Schmerztherapie. In: Beck W, Martin HE, Motsch J, Schulte am
operativen Zwecken mit Punktion des Subarachnoidal- Esch J (Hrsg) Schmerztherapie AINS, Bd 4. Thieme, Stuttgart, S 122
raums bei sitzendem, nach vorne gebeugtem Patienten.
Eine dünne Spinalkanüle, 22 Gage, mit Quincke-Schliff Weiterführende Literatur
wird in aller Regel im Segment L4/L5, besser noch L5/S1, 4. Cousins MJ, Bromage PR (1988) Epidural Neural Blockade. In:
Cousins MJ, Bridenbaugh PO (Hrsg) Neural Blockade, 2. Aufl.
nach einer Lokalanästhesie durch eine platzierte Füh-
Lippincott, Philadelphia, S 341
rungskanüle und durch das Lig. flavum und die Dura 5. Heavner JE, Racz GB, Day M (2008) Perkutane epidurale Neuro-
mater spinalis hindurch in den Liquorraum vorgeschoben. plastie. In: Jankovic D (Hrsg) Regionalblockaden und Infiltrations-
Nach sorgfältiger positiver Aspiration von Liquor in 4 Ebe- therapie, 4. Aufl. ABW Wissenschaftsverlag, Berlin, S 608
nen wird eine neurolytisch/neurodestruktiv wirkende 6. Heisel J, Jerosch J (2007) Infiltrations- und Injektionstechniken
Nervenblockaden. In: Heisel J, Jerosch J, Baum M (Hrsg)
Substanz wie in Glyzerin gelöstes Phenol mit 10%iger
Schmerztherapie der Halte- und Bewegungsorgane. Springer,
Konzentration und einem Volumen von 0,5–0,7 ml über Berlin, S 108
einen Zeitraum von 30 min mittels Insulinspritze injiziert. 7. Hoerster W (2011) Anaesthesiologische Schmerztherapie,
Empfohlen wird die Wiederholung der Injektion nach Katheter, Ports, Pumpen. In: Locher H, Casser H-R, Strohmeier M,
2 Tagen. Schmerzlinderung besteht im Mittel für 2–3 Mo- Grifka J (Hrsg) Spezielle Schmerztherapie der Halte- und Be-
nate. Selten, bei weniger als 5 %, resultiert eine Blasen- wegungsorgane. Thieme, Stuttgart, S 212
8. Jancovic D (2008a) Lumbale Epiduralanaesthesie. In: Jankovic D
Mastdarm-Störung. (Hrsg) Regionalblockaden und Infiltrationstherapie, 4. Aufl. ABW
Wissenschaftsverlag, Berlin, S 521
9. Jancovic D (2008b) Kaudalanaesthesie beim Erwachsenen. In:
28.6 Spinale Medikamentenapplikation Jankovic D (Hrsg) Regionalblockaden und Infiltrationstherapie,
mittels Katheter und Pumpe 4. Aufl. ABW Wissenschaftsverlag, Berlin, S 581
10. Niesel HC (1989) Lumbale Periduralanaesthesie. In: Hoerster W,
Kreuscher H, Niesel HC, Zenz M (Hrsg) Regionalanaesthesie.
Zur Langzeittherapie chronischer Rückenschmerzen wer- Fischer, Stuttgart, S 150
den Pharmaka mittels externer oder implantierter Medika- 11. Reisner LS, Ellis J (1992) Epidural and caudal puncture. In:
mentenpumpe über einen Silikonkatheter intrathekal ap- Benumof LJ (Hrsg) Clinical procedures in anesthesia and intensive
pliziert. Die Einführung des dünnen Katheters wird über care. Lippincott, Philadelpgia, S 691
12. Willburger R, Ludwig J, Krämer J (2002) Postdiskotomiesyndrom.
eine Spinalkanüle nach sicherer Punktion des Liquorraums
In: Beck W, Martin HE, Motsch J, Schulte am Esch J (Hrsg)
vorgenommen. Die Lage des Katheters wird mit Röntgen- Schmerztherapie AINS, Bd 4. Thieme, Stuttgart, S 276
kontrastmittel verifiziert. Nach Austestung der erwarteten
Wirksamkeit der eingesetzten Pharmaka über einen Zeit-
raum von 5 bis 7 Tagen über eine externe Pumpe wird das
komplette Pumpsystem mit zuführendem Katheter unter
sterilen Kautelen implantiert. Es werden gasdruckge-
steuerte Pumpen eingesetzt, die den Inhalt gleichmäßig
über den Katheter in den Liquorraum verteilen. Alternativ
werden programmierbare Pumpsysteme mit größerer
Variabilität der Dosierung eingesetzt. Mehrheitlich werden
Opioide, Morphin, Fentanyl oder Buprenorphin, verwen-
det. Baclofen wird bei spastischen Indikationen eingesetzt.
325 29

Neuromodulation
V. Tronnier

29.1 Einleitung – 326

29.2 Epidurale Rückenmarkstimulation und ihre Varianten – 326

29.3 Hochfrequenzstimulation
und Burststimulation – 327

29.4 Subkutane Stimulation


(periphere Nervenfeldstimulation, PNfS) – 327

29.5 Intrathekale Medikamentenapplikation


über implantierbare Pumpensysteme – 327

Literatur – 328

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_29, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
326 Kapitel 29 · Neuromodulation

Neuromodulationsverfahren haben die früher praktizierten 29.2 Epidurale Rückenmarkstimulation


Läsionsverfahren in der invasiven Schmerztherapie weitge- und ihre Varianten
hend abgelöst. Heute versucht man durch die Applikation
elektrischer Reize oder durch die Gabe intraspinal ver- > Die epidurale Rückenmarkstimulation (SCS = »spinal
abreichter Medikamente eine Beeinflussung der Schmerz- cord stimulation«) ist heute eine etablierte und in
leitung und verarbeitung zu erzielen. Die Vorteile der Modu- Leitlinien empfohlene Therapie zur Behandlung des
lationsverfahren sind ihre Reversibilität, die Möglichkeit Postdiskotomiesyndroms mit vorherrschenden neu-
einer Austestung vor der endgültigen Implantation und eine ropathischen Beinschmerzen [19].
bedarfsgerechte postoperative Steuerung. Bislang liegen
keine kontrollierten Studien mit ausreichender Nachbe- Die erste randomisierte Studie von North und Kollegen
obachtungszeit (>1 Jahr) beim reinen Rückenschmerz vor. verglich 50 Patienten mit Postdiskotomiesyndrom (»failed
Es gibt allerdings eine Reihe von Beobachtungsstudien back surgery syndrome«, FBSS), die entweder eine SCS
beim Postdiskotomieschmerz und bei kombinierten Rücken- erhielten oder nochmal spinal operiert wurden. Nach ca.
Bein-Schmerzen. Insbesondere auf dem Gebiet der Stimula- 3 Jahren zeigte sich die Überlegenheit der SCS-Therapie,
tionsverfahren versucht man heute durch neue Stimula- denn 47 % der stimulierten Patienten zeigten eine
29 tionsorte und Stimulationsparameter sowie durch neue Schmerzreduktion über 50 % bei gleichzeitigem Rück-
Implantate auch den axialen Rückenschmerz besser zu be- gang der Analgetikaeinnahme, während in der operierten
einflussen. Gruppe lediglich 12 % profitierten [12]. Die zweite
prospektiv randomisierte Studie verglich 100 Patienten
mit FBSS, die entweder eine konventionelle Schmerzthera-
29.1 Einleitung pie erhielten oder zusätzlich mit einem Stimulations-
system versorgt wurden. Nach 12 Monaten zeigten 48 %
Bis vor wenigen Jahren galt die Regel, dass Neurostimula- der stimulierten Patienten eine Schmerzreduktion im
tionsverfahren beim reinen chronischen Rückenschmerz betroffenen Bein und lediglich 9 % in der konven-
keine Bedeutung haben – u. a. deshalb, weil dieser nicht tionell  therapierten Gruppe [9]. Nach 2 Jahren waren es
neuropathisch sei und topografisch auf Rückenmarkebene 37 % versus 2 % [10]. Es zeigte sich allerdings keine Be-
kein Stimulationsort zu finden sei, wo dieser gezielt einflussung der Rückenschmerzen in beiden Thera-
beeinflusst werden könne. Patienten mit reinen oder piegruppen.
überwiegenden Rückenschmerzen wurden, falls invasive Jedoch eröffnen sich neue Möglichkeiten, auch den
Verfahren indiziert waren, mit Pumpensystemen versorgt. Rückenschmerz (»axial low back pain«) mithilfe der
Heute betrachten wir den chronischen Rückenschmerz Neurostimulation zu beherrschen [2, 13], und zwar durch
als multifaktorielle Funktionsstörung unterschiedlicher ein besseres Verständnis der Wirkungsweise der Neurosti-
Ursache. Da neben überwiegend nozizeptiven Ursachen mulation, den Einsatz mehrerer Elektroden oder neuer
wie Veränderungen an den Wirbelgelenken oder bei Wir- Plattenelektroden und eine verbesserte Programmierung
belbrüchen auch neurogene Ursachen eine Rolle spielen anhand von Computermodellen, durch neue Stimulations-
können, z. B. die Kompression neuraler Strukturen, spricht parameter (Hochfrequenzstimulation, Burststimulation)
man heute eher von einem gemischten neuropathisch- und neue Zielstrukturen wie die Hinterwurzelganglien
nozizeptiven Schmerz (»mixed pain«). Gerade die neuro- sowie schließlich durch die kritische Selektion geeigneter
pathische Komponente, die ca. 20–35 % zum chronischen Patienten.
Rückenschmerz beitragen kann [5], ist in neueren Studien Es ist allgemein anerkannt, dass bei chronischen Rü-
Ziel einer Stimulationstherapie. ckenschmerzen, u. a. durch Einsprossen von Neuronen in
Die 1-Jahres-Prävalenz von Rückenschmerzen liegt bei die degenerierten Bandscheiben und in umliegende mus-
38 % und die Lebenszeitprävalenz bei 40 %. Die Prävalenz kuläre und ligamentäre Strukturen, eine Sensibilisierung
ist bei Frauen höher als bei Männern und steigt mit peripherer Nozizeptoren entsteht, die letztlich in eine
höherem Lebensalter [7]. Somit werden in Zukunft auch zentrale Sensibilisierung und eine veränderte zentrale
Neuromodulationsverfahren zunehmend angewendet Schmerzweiterleitung münden [6]. Computermodelle und
werden. anatomische Untersuchungen konnten zeigen, dass die
Hinterhornbahnen und Hinterwurzelneuronen, die für
den Rückenschmerz verantwortlich sind, in Höhe D8–D9
nur spärlich vorkommen, relativ tief und lateral liegen,
sodass eine unangenehme »Mitstimulation« thorakaler
Wurzeln mit konventionellen Stimulationselektroden sehr
wahrscheinlich ist [4]. Dies hat zur Entwicklung kom-
29.5 · Intrathekale Medikamentenapplikation über implantierbare Pumpensysteme
327 29

Horizontale +–+
Vertikale +
Stimulation

Stimulation +

a b

. Abb. 29.1 a Epidurale Stabelektrode und implantierter Impuls- . Abb. 29.2 Subkutane Stimulation mit 2 paraspinal eingebrachten
geber; b mehrreihige Plattenelektrode mit transversaler Stimulation Elektroden zur Therapie von Rückenschmerzen
(Kathode zentral und Anode jeweils lateral)

plexer mehrreihiger Stimulationselektroden geführt, die 29.4 Subkutane Stimulation (periphere


bei ausreichender Stimulationsintensität eine Abschir- Nervenfeldstimulation, PNfS)
mung dorsaler Wurzeln gewährleisten. Plattenelektroden
[14], insbesondere mehrreihige Plattenelektroden [15] Bei dieser Stimulation werden Elektroden subkutan in den
(. Abb. 29.1a,b), scheinen den axialen Rückenschmerz Bereich der stärksten lokalen Schmerzen implantiert
besser zu beeinflussen als die herkömmlichen Stabelektro- (. Abb. 29.2). Man nimmt an, dass die subkutanen Affe-
den. So zeigte die Studie von North [14], dass nach 3 Jahren renzen stimuliert werden und ähnlich wie bei der direkten
noch 5 von 12 Patienten eine anhaltende Schmerzlinderung Nervenstimulation zu einer Modulation auf spinaler Ebene
mit Plattenelektroden erfuhren, dagegen nur 3 von 12 mit führen. Die bisherigen Studien zu Rückenschmerzen sind
Stabelektroden. In der Studie von Oakley [15] profitierten schwer zu bewerten, da keine einheitlichen Protokolle für
die Patienten mit einer »transversalen« Stimulation stärker diese Stimulationsform vorliegen. Teilweise wird eine
und häufiger als mit einer konventionalen vertikalen »Cross-talk-Stimulation« zwischen 2 parallel angelegen
Stimulation. Elektroden »ausgeführt«, teilweise werden Elektroden
vertikal parallel paraspinal platziert, teilweise quer die Mit-
tellinie überschreitend. Randomisierte Studien liegen
29.3 Hochfrequenzstimulation nicht vor, und die wenigen offenen Studien mit einer rela-
und Burststimulation tiv homogenen Patientenpopulation haben maximal ein
6-Monats-Follow-up [8]. Teilweise werden auch die Ver-
Experimentelle Studien haben gezeigt, dass eine Stimula- fahren der SCS mit der PNfS kombiniert [11]. Außerdem
tion dorsaler Rückenmarkstrukturen zwischen 2.000 und ist die Komplikationsrate mit Verrutschen der Elektroden
10.000 Hz Rückenschmerzen positiv beeinflussen kann. (15–20 %) sehr hoch. Eine abschließende Bewertung
Der Patient verspürt bei dieser Stimulation keine Kribbel- dieser Methode bezüglich einer Effektivität bei Rücken-
parästhesien im betroffenen Areal wie bei der konven- schmerzen ist daher ebenfalls nicht möglich.
tionellen Stimulation. Neurophysiologisch wird ursächlich
ein Depolarisationsblock auf Rückenmarkebene ange-
nommen. Die klinischen Ergebnisse sind bislang allerdings 29.5 Intrathekale Medikamenten-
nicht einheitlich, sodass keine abschließende Bewertung applikation über implantierbare
bezüglich der Beeinflussung von Rückenschmerzen ge- Pumpensysteme
troffen werden kann [1, 16].
Ähnliches gilt für die seit Kurzem propagierte Burst- Zugelassen für die intrathekale Schmerztherapie sind
stimulation, bei der eine salvenartige Stimulation zu bes- Morphin und Ziconotid. Ziel der intrathekalen Therapie
seren Ergebnissen der Rückenschmerzen führen soll. Auch ist die Gabe des Analgetikums in deutlich reduzierter
hier liegen bislang keine Langzeitstudien vor. Dosis in unmittelbare Nähe des jeweiligen Wirkorts (prä-
328 Kapitel 29 · Neuromodulation

Tipp

Invasive Verfahren können – nach Versagen konserva-


tiver Therapieverfahren – eingebettet in ein multimo-
dales Therapiekonzept angewendet werden. Stimula-
tionsverfahren sind grundsätzlich der intrathekalen
Therapie wegen der pharmakologisch bedingten
Nebenwirkungen vorzuziehen. Die Anlage von mehr-
reihigen Plattenelektroden mit der Möglichkeit der
transversalen Stimulation und Abschirmung der
Hinterwurzeln scheint ein mögliches Konzept zu sein,
um den axialen Rückenschmerz positiv zu beein-
flussen. Für die neuen Therapieverfahren, wie die
epidurale Hochfrequenzstimulation, sind die publi-
zierten Ergebnisse noch nicht einheitlich, oder es
29 . Abb. 29.3 Intrathekale Medikamentenapplikation mittels implan- können momentan noch keine Empfehlungen abge-
tierter Pumpe
geben werden, wie bei der subkutanen peripheren
Nervenfeldstimulation, für die ebenfalls noch keine
Langzeituntersuchungen und etablierte Stimulations-
und postsynaptische Nerventerminale der Substantia ge- protokolle vorliegen.
latinosa), um bei erhöhter analgetischer Potenz die uner-
wünschten systemischen Nebenwirkungen zu vermeiden.
Ziconotid ist lediglich für die intrathekale Gabe zugelas-
sen. Randomisierte Studien bei Rückenschmerzen liegen Literatur
für beide Substanzen nicht vor. Ziconotid hat seine Vor-
teile bei neuropathischen Schmerzen, zeigt aber eine Reihe 1. Al-Kaisy A, Van Buyten JP, Smet I, Palmisani S, Pang D, Smith T
von hauptsächlich neuropsychiatrischen Nebenwirkun- (2014) Sustained effectiveness of 10 kHz high-frequency spinal
cord stimulation for patients with chronic, low back pain:
gen; Opiate haben ein potenzielles Abhängigkeitsrisiko,
24-month results of a prospective multicenter study. Pain Med
das Risiko einer Atemdepression bei Übergebrauch oder 15:347–354
bei der Gabe an opioidnaive Patienten. Nicht zu vernach- 2. Barolat G, Oakley JC, Law JD, North RB, Ketcik B, Sharan A (2001)
lässigen sind endokrine Nebenwirkungen bei Langzeit- Epidural spinal cord stimulation with a multiple electrode paddle
gabe. lead is effective in treating intractable low back pain. Neuro-
modulation 4:59–66
3. Deer T, Chapple I, Classen A, Javery K, Stoker V, Tonder L, Burchiel K
Voraussetzungen für eine intrathekale (2004) Intrathecal drug delivery for treatment of chronic low back
pain: report from the National Outcomes Registry for Low Back
Schmerztherapie
Pain. Pain Med 5:6–13
5 Versagen konservativer und anderer interven- 4. Feirabend HK, Choufoer H, Ploeger S, Holsheimer J, van Gool JD
tioneller oder chirurgischer Maßnahmen (2002) Morphometry of human superficial dorsal and dorsolateral
5 Nachweisbares Korrelat für die Schmerz- column fibres: significance to spinal cord stimulation. Brain
symptomatik 125:1137–1149
5 Psychologische/psychiatrische Evaluation 5. Freynhagen R, Baron R (2009) The evaluation of neuropathic
components in low back pain. Curr Pain Headache Rep 13:185–
5 Erfolgreiche Testphase (Bolusgabe oder kontinu-
190
ierliche Gabe über Kathetersysteme) 6. Giesecke T, Gracely RH, Grant MA, Nachemson A, Petzke F, Wil-
liams DA, Clauw DJ (2004) Evidence of augmented central pain
processing in idiopathic chronic low back pain. Arthritis Rheum
Die häufigste Indikation für die Implantation einer 50:613–623
»Schmerzpumpe« (. Abb. 29.3) bei nichtmalignen 7. Hoy D, Bain C, Williams G, March L, Brooks P, Blyth F, Woolf A,
Schmerzen war ebenfalls das »failed back surgery syndro- Vos T, Buchbinder R (2012) A systematic review of the global
me« (FBSS) [3, 17]. Weitere Indikationen sind Schmerzen prevalence of low back pain. Arthritis Rheum 64:2028–2037
8. Kloimstein H, Likar R, Kern M, Neuhold J, Cada M, Loinig N, Ilias W,
bei osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen [18]. Diese
Freundl B, Binder H, Wolf A, Dorn C, Mozes-Balla EM, Stein R,
Studien zeigen nicht nur eine deutliche Schmerzreduktion Lappe I, Sator-Katzenschlager S (2014) Peripheral nerve field
nach mindestens 1 Jahr, sondern auch Verbesserungen in stimulation (PNFS) in chronic low back pain: a prospective
unterschiedlichen Lebensqualitätsvariablen. multicenter study. Neuromodulation 17:180–187
Literatur
329 29
9. Kumar K, Taylor RS, Jacques L, Eldabe S, Meglio M, Molet J,
Thomson S, O’Callaghan J, Eisenberg E, Milbouw G, Buchser E,
Fortini G, Richardson J, North RB (2007) Spinal cord stimulation
versus conventional medical management for neuropathic pain:
a multicentre randomised controlled trial in patients with failed
back surgery syndrome. Pain 132:179–188
10. Kumar K, Taylor RS, Jacques L, Eldabe S, Meglio M, Molet J,
Thomson S, O’Callaghan J, Eisenberg E, Milbouw G, Buchser E,
Fortini G, Richardson J, North RB (2008) The effects of spinal
cord stimulation in neuropathic pain are sustained: a 24-month
follow-up of the prospective randomized controlled multicenter
trial of the effectiveness of spinal cord stimulation. Neurosurgery
63:762–770
11. Mironer YE, Hutcheson JK, Satterthwaite JR, LaTourette PC (2011)
Prospective, two-part study of the interaction between spinal
cord stimulation and peripheral nerve field stimulation in
patients with low back pain: development of a new spinal-
peripheral neurostimulation method. Neuromodulation 14:
151–154
12. North RB, Kidd DH, Farrokhi F, Piantadosi SA (2005) Spinal cord
stimulation versus repeated lumbosacral spine surgery for
chronic pain: a randomized, controlled trial. Neurosurgery 56:-
98–106
13. North RB, Kidd DH, Olin J, Sieracki JM, Farrokhi F, Petrucci L,
Cutchis PN (2005) Spinal cord stimulation for axial low back pain:
a prospective, controlled trial comparing dual with single
percutaneous electrodes. Spine 30:1412–1418
14. North RB, Kidd DH, Petrucci L, Dorsi MJ (2005) Spinal cord
stimulation electrode design: a prospective, randomized,
controlled trial comparing percutaneous with laminectomy
electrodes: part II-clinical outcomes. Neurosurgery 57:990–996
15. Oakley JC, Espinosa F, Bothe H, McKean J, Allen P, Burchiel K,
Quartey G, Spincemaille G, Nuttin B, Gielen F, King G,
Holsheimer J (2006) Transverse tripolar spinal cord stimulation:
results of an international multicenter study. Neuromodulation
9:192–203
16. Perruchoud C, Eldabe S, Batterham AM, Madzinga G, Brookes M,
Durrer A, Rosato M, Bovet N, West S, Bovy M, Rutschmann B,
Gulve A, Garner F, Buchser E (2013) Analgesic efficacy of high-
frequency spinal cord stimulation: a randomized double-blind
placebo-controlled study. Neuromodulation 16:363–369
17. Raphael JH, Southall JL, Gnanadurai TV, Treharne GJ, Kitas GD
(2002) Long-term experience with implanted intrathecal drug
administration systems for failed back syndrome and chronic
mechanical low back pain. BMC Musculoskelet Disord 3:17
18. Shaladi A, Saltari MR, Piva B, Crestani F, Tartari S, Pinato P,
Micheletto G, Dall’Ara R (2007) Continuous intrathecal morphine
infusion in patients with vertebral fractures due to osteoporosis.
Clin J Pain 23:511–517
19. Tronnier V, Baron R, Birklein F, Eckert S, Harke H, Horstkotte D,
Hügler P, Hüppe M, Kniesel B, Maier C, Schütze G, Thoma R,
Treede RD, Vadokas V (2011) Arbeitsgruppe zur Erstellung der
S3-Leitlinie. Epidurale Rückenmarkstimulation zur Therapie
chronischer Schmerzen. Schmerz 25:484–492
331 30

Operative und
minimal-invasive Verfahren bei
Rücken- und Nackenschmerz
T. Koy, M.J. Scheyerer, P. Eysel

30.1 Rückenschmerz – 332


30.1.1 Mikrochirurgische und vollendoskopische Nukleotomie – 332
30.1.2 Intradiskale Techniken: IDET, Nukleoplastie – 333
30.1.3 Stabilitätserhaltende Dekompression – 334
30.1.4 Interkorporelle Fusion: ALIF, PLIF, TLIF, XLIF – 335
30.1.5 Interspinöse Spacer – 336
30.1.6 Bandscheibenprothesen – 337
30.1.7 Dynamische Stabilisierungen – 338
30.1.8 Facettendenervation, Facettenersatz – 339

30.2 Nackenschmerz – 340


30.2.1 Anteriore operative Verfahren – 341
30.2.2 Posteriore operative Verfahren – 344

Literatur – 347

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_30, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
332 Kapitel 30 · Operative und minimal-invasive Verfahren bei Rücken- und Nackenschmerz

Erkrankungen im Bereich der Wirbelsäule sind häufige und > Bei allen Patienten mit nichtspezifischem Kreuz-
geläufige pathologische Befunde mit teils erheblichem schmerz sollten invasive Therapieverfahren nicht
Einfluss auf die Lebensqualität des betroffenen Patienten. eingesetzt werden [3].
Muskuläre Dysbalancen ausnehmend, lässt sich meist ein
kausaler Zusammenhang zwischen Schmerzen und degene- Unabdingbare Voraussetzung für einen operativen Eingriff
rativen Veränderungen, Frakturen, Infektionen oder Tumo- ist demnach der Ausschluss möglicher Differenzialdiagno-
ren an der Wirbelsäule finden. Neben den konservativen sen (z. B. der PAVK bei einer vermuteten Claudicatio spi-
Maßnahmen ist die Wirbelsäulenchirurgie eine bedeutende nalis) und die exakte Zuordnung der Beschwerden zu ei-
Säule in der Behandlung dieser Erkrankungen und repräsen- nem schmerzauslösenden Bewegungssegment. Hierzu ste-
tiert ein stetig wachsendes Gebiet der heutigen Medizin. hen diagnostische Infiltrationen zur Verfügung, die auch
Bedingt durch die immer älter werdende Bevölkerung wird therapeutisch angewandt werden können und bereits im
künftig die Nachfrage nach chirurgischen Behandlungs- 7 Kap. 27, »Injektionstherapie und Injektionstechniken an
möglichkeiten von degenerativen Wirbelsäulenerkrankun- der Wirbelsäule« ausführlich abgehandelt wurden. Weitere
gen, insbesondere von Lenden- und Halswirbelsäule, zu- hilfreiche Aufschlüsse ergibt eine neurologische und elek-
nehmen. Daher sind Kenntnisse über die operativen Thera- trophysiologische Diagnostik mit Elektromyografie, Elek-
pieoptionen unerlässlich, um den Beschwerden des Patien- troneurografie und evozierten Potenzialen, um z. B. radiku-
ten interdisziplinär begegnen und gerecht werden zu läre Symptome von Engpasssyndromen zu unterscheiden
können. (C6-Radikulopathie vs. Karpaltunnelsyndrom).
30 Lassen sich die klinisch beklagten Symptome schließ-
lich einer umschriebenen Pathologie an der Wirbelsäule
30.1 Rückenschmerz zuordnen und führt die konservative Behandlung nicht zu
einer durchgreifenden Besserung der Beschwerden, ist
T. Koy, P. Eysel eine operative Therapie in aller Regel für den Patienten
> Eine Operation zur Behandlung von Rückenschmerzen
segensreich und geht mit einer deutlich verbesserten
bei degenerativen Veränderungen ist immer das
Lebensqualität einher.
letzte Mittel der Wahl.

Erst wenn alle konservativen Behandlungsversuche ver- 30.1.1 Mikrochirurgische und


sagt haben und der Leidensdruck des Patienten groß genug vollendoskopische Nukleotomie
ist, um einen operativen Eingriff zu rechtfertigen, sollten
sich der behandelnde Arzt und der Patient gemeinsam Bei Bandscheibensequestern, die das hintere Längsband
über die Chancen, aber auch die Risiken der operativen dehnen und/oder intraspinal oder intra- bzw. extraforami-
Therapie austauschen. Ausnahmen sind hier selbstver- nal eine Nervenwurzel komprimieren, wird die Sequest-
ständlich Tumoren und Infektionen der Wirbelsäule, fri- rektomie allgemein empfohlen: a) innerhalb von 24 h bei
sche neurologische Ausfallserscheinungen wie inkom- Vorliegen eines frischen Konus-Kauda-Syndroms oder
plette und komplette Querschnittsyndrome, radikulär be- einer Parese vom Kraftgrad 3/5 oder weniger, b) elektiv bei
dingte Lähmungen und das Konus-Kauda-Syndrom. konservativ nicht beherrschbaren Schmerzen. Je höhergra-
Der Rückenschmerz ist lediglich ein Symptom. Die Ur- dig die Parese ausfällt, umso geringer ist die Chance auf
sachen der Schmerzen können vielfältig sein und reichen eine komplette neurologische Erholung. Dabei sinkt die
von Bandscheibenvorfall, Bandscheibendegeneration und Wahrscheinlichkeit einer vollständigen Remission von
Facettensyndrom über die Spondylolyse mit Spondylolis- mehr als 70 % der Fälle mit einem präoperativen Kraftgrad
these, die degenerative Spondylolisthese und die segmen- von 3/5 auf lediglich 40 % bei einem präoperativen Kraft-
tale Instabilität bis hin zu Spinalkanalstenose oder degene- grad von 2/5. Andere Faktoren, wie z. B. die Dauer der
rative Skoliose. In der Mehrheit sind Rückenschmerzen Symptome, haben keinen statistisch signifikanten Einfluss
unspezifisch oder »idiopathisch«. Die Spezifität der zur auf das postoperative Outcome [6].
Verfügung stehenden Bildgebung beim akuten Rücken- Heutzutage ist die mikrochirurgische Operationstech-
schmerz wurde für die MRT mit 52 % und für das Postmy- nik der Goldstandard, d. h., über einen ca. 2–3 cm langen
elo-CT mit 57 % beschrieben [29]. Nur Patienten, deren Hautschnitt wird die obere interlaminäre Ecke des entspre-
klinische Symptome mit einem Befund aus der diagnosti- chenden interlaminären Fensters dargestellt. Nach dem
schen Bildgebung korrelieren, werden dauerhaft von ei- Einschwenken des Operationsmikroskops ist nun, je nach
nem operativen Eingriff profitieren. Bewegungssegment, durch Unterschneiden des nächsthö-
heren Wirbelbogens und eine Flavektomie des interlami-
nären Fensters der Eingang in den Spinalkanal zu schaffen.
30.1 · Rückenschmerz
333 30
Die vollständige Nukleotomie wird lediglich bei einem schwerden, die durch eine segmentale Instabilität oder eine
komplett über die dorsale Zirkumferenz zerstörten Anulus peridurale Fibrose hervorgerufen werden. Seine Inzidenz
durchgeführt. Für intraforaminal gelegene Vorfälle bietet ist mit etwa 5–10 % beschrieben. Circa 6,5–10,9 % aller
sich der laterale Zugang an. Hier erfolgt der Hautschnitt ca. lumbal nukleotomierten Patienten werden ein zweites Mal
1,5 cm neben der Mittellinie. Die lumbodorsale Faszie an der Lendenwirbelsäule operiert [16].
wird ca. 3 cm paraspinal längs inzidiert und der mediale Ein Update des bekannten Cochrane Review von
Unterrand des Querfortsatzes sowie der laterale Rand der Gibson und Waddell konnte lediglich 4 prospektiv rando-
Interartikularportion mit der Kerrison-Stanze abgetragen. misierte Studien identifizieren, die die Diskektomie eines
Zuletzt werden die medialen Anteile der Faszie bzw. des lumbalen Bandscheibenprolapses mit einem konserva-
M. intertransversalis entfernt, um Sicht auf die abgehende tiven Therapieregime verglichen. Demnach kann die
Nervenwurzel im Neuroforamen, die Bandscheibe und Diskektomie die Ischialgie schneller beseitigen, als dies bei
den Prolaps zu erhalten, der nun vorsichtig geborgen wer- der konservativen Behandlung der Fall ist. Allerdings sind
den kann. die Langzeitergebnisse vergleichbar und die Studien auf-
Alternativ zur mikrochirurgischen Technik stehen grund hoher Crossover-Raten nur wenig aussagekräftig
vollendoskopische Verfahren über einen interlaminaren [12].
oder transforaminalen Zugang zur Verfügung. Der trans- Ein konservativer Therapieversuch der Ischialgie beim
foraminale laterale Zugang zu einer Bandscheibe ist nur Bandscheibenvorfall ist bei Fehlen einer relevanten Parese
möglich, wenn der Beckenkamm unterhalb der Mittellinie gerade auch deshalb sinnvoll, weil sequestriertes Band-
des darüber liegenden Pedikels liegt. In den obersten scheibengewebe nicht mehr durch Diffusion ernährt wird
Etagen sind Thorax- und Abdominalorgane bei extrem und daher die Tendenz hat, sich zurückzubilden. Die
lateralem Zugang gefährdet. Diese Technik ist zwar gewe- konservative Therapie sollte aber auch in Abhängigkeit
beschonender als die interlaminäre Zugangsweise, stößt von der Größe des Sequesters erfolgen, beim Massenvorfall
allerdings bei Bandscheibenvorfällen, die weiter als bis zur erscheint sie eher wenig erfolgversprechend.
Pedikellinie nach kaudal sequestriert sind, an ihre Gren-
zen. Hauptindikation sind daher Bandscheibenvorfälle, die
sich auf das Zwischenwirbelniveau beschränken. Beim in- 30.1.2 Intradiskale Techniken:
terlaminären Zugangsweg liegt der Eintrittspunkt im a.-p.- IDET, Nukleoplastie
Strahlengang auf der Seite des Vorfalls, möglichst weit
medial im interlaminären Fenster. Ein bandscheibenassoziierter Rückenschmerz ohne
> Intra- und extraforaminale Vorfälle lassen sich
Vorliegen eines Bandscheibensequesters ist der minimal-
besser über den transforaminalen Zugangsweg
invasiven intradiskalen Operationstechnik zugänglich.
operieren, die meisten sequestrierten Vorfälle
Heutzutage sind vor allem die intradiskale elektrotherma-
werden über den interlaminären Zugang ange-
le Therapie (IDET) und die Nukleoplastie in Gebrauch.
gangen [23].
Die Erstbeschreibung erfolgte im Jahr 2000. Dabei wird
perkutan über einen dorsolateralen Diskografiezugang die
Die häufigsten mit der Bandscheibenchirurgie einherge- Bandscheibe punktiert und entweder eine flexible bipolare
henden Komplikationen sind die inzidentelle Durotomie, Thermosonde (IDET) oder eine bipolare Radiofrequenz-
der Rezidivbandscheibenvorfall und das Postdiskotomie- elektrode (Nukleoplastie) in die Bandscheibe eingeführt.
syndrom. Bei der IDET rollt sich die Thermosonde entlang des
Inzidentelle Durotomien treten in der lumbalen Band- posterolateralen Anulus fibrosus auf. Im Anschluss kann
scheibenchirurgie mit einer Häufigkeit von 1,0 bis 7,5 % die Sonde kontrolliert auf eine Temperatur von 70–90 °C
auf. In den meisten Fällen ist die direkte Naht oder ein aufgeheizt werden, wodurch es zur Schrumpfung von
Verschluss durch einen Patch aus Fett- oder Muskel-/ Kollagenfasern und zur Koagulation freier Nervenendigun-
Fasziengewebe möglich. Der frühe Rezidivbandscheiben- gen im Anulus fibrosus kommen soll. Dieser Effekt konnte
vorfall tritt in der Regel in den ersten 14 Tagen nach einer im Tierversuch allerdings nicht reproduziert werden.
Nukleotomie auf und ist mit einer Rate von 1–5 % in der Bei der Nukleoplastie wird durch bipolare Radio-
Literatur beschrieben [15]. Späte Rezidivbandscheiben- frequenzenergie eine plasmainduzierte Molekülspaltung
vorfälle sind überraschend häufig. 2 Jahre postoperativ erzeugt, d. h., der Wirkungsmechanismus ist eine Band-
treten Rezidivbandscheibenvorfälle in bis zu 23 % der Fälle scheibendekompression durch Anlage von in der Regel
auf, über die Hälfte davon sind allerdings asymptomatisch 6 intradiskalen Kanälen. Dabei wird angenommen, dass
[17]. In der Regel ist die operative Revision unter Anti- relativ kleine Volumenänderungen zu beträchtlichen
biotikaschutz notwendig. Das Postdiskotomiesyndrom intradiskalen Druckänderungen führen können. Den Ab-
beschreibt alle anhaltenden starken postoperativen Be- schluss bildet eine Radiofrequenzthermobehandlung des
334 Kapitel 30 · Operative und minimal-invasive Verfahren bei Rücken- und Nackenschmerz

geschaffenen Kanals in der Bandscheibe. Dabei sollen im Besserung hoffen. Daher liegt bei einer symptomatischen
umgebenden Gewebe lediglich Temperaturen zwischen absoluten Spinalkanalstenose in der Regel die Indikation
40–70 °C auftreten. Kadaveruntersuchungen konnten zur stabilitätserhaltenden Dekompression vor. Dies konnte
jedoch zeigen, dass regelhaft Temperaturen zwischen in prospektiv randomisierten Studien auch nachhaltig ge-
80 und 90 °C in der Bandscheibe auftreten, eine thermale zeigt werden [2, 33]. Bei relativen Spinalkanalstenosen,
Schädigung der Endplatten damit also möglich wäre. In deren Klinik sich bei Vorneige bessert und bei denen die
der Tat wurde kürzlich eine beschleunigte Degeneration schmerzfreie Gehstrecke immerhin noch 50 m beträgt,
von Bewegungssegmenten beschrieben, die mit einer kann die Implantation eines interspinösen Spacers den
Nukleoplastie behandelt worden waren. Die symptoma- Zeitpunkt einer notwendigen Spinalkanaldekompression
tische Höhe sollte zuvor anhand einer provokativen Disko- nach hinten verlegen. Beide Verfahren können miteinan-
grafie überprüft werden – allerdings kann die Diskografie der kombiniert werden. Bei gleichzeitig vorliegender In-
selbst eine Bandscheibe nachhaltig schädigen [4]. Der stabilität ist die dauerhafte Fusion des Segments notwen-
Beinschmerz sollte den Rückenschmerz übertreffen. Kon- dig. Einzelne Chirurgen machen die Wahl des operativen
traindikationen sind sequestrierte Bandscheibenvorfälle Verfahrens auch vom Gelenkflächenwinkel der Facetten-
und eine Reduktion der Höhe des Intervertebralraums auf gelenke abhängig. Sie postulieren, dass Gelenkflächen mit
<25 % der benachbarten Segmente. einem Neigungswinkel zur Sagittalen von <45° mit großer
Ein systematisches Review aus dem Jahre 2007 iden- Wahrscheinlichkeit nach der Dekompression des Seg-
tifizierte lediglich 4 prospektiv randomisierte Studien zur ments segmental instabil werden und fusionieren deshalb
30 Behandlung von Rückenschmerzen durch IDET oder sofort.
Nukleoplastie. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Die mikrochirurgische Dekompression des Spinal-
die derzeit verfügbare Evidenz ausreicht, um einen posi- kanals mit Flavektomie und einer unterschneidenden
tiven Effekt beider Prozeduren auf den diskogenen Laminotomie der angrenzenden Lamina über einen mini-
Rückenschmerz auszuschließen [31]. mal-invasiven Zugang ist auch heute noch der Gold-
Die nach dem Einsatz von IDET beschriebenen uner- standard zur Behandlung der lumbalen Spinalkanalste-
wünschten Nebenwirkungen und Komplikationen reichen nose  ohne segmentale Instabilität. Eine fehlgeschlagene
laut der entsprechenden Literatur von akzidenteller Lum- konservative Behandlung der Erkrankung wird hierbei
balpunktion und postpunktionellem Kopfschmerz über vorausgesetzt. Eine Hemifacettektomie kann bei ausge-
Nervenverletzungen und iatrogen verursachte Bandschei- dehnten Recessusstenosen notwendig werden.
bensequestrationen bis hin zum Kauda-equina-Syndrom > Entscheidend für den Operationserfolg ist die
und zur Diszitis. Dekompression der neuralen Strukturen. Daher
> Ausgehend von einschlägigen Studienergebnissen sollte in der Regel der laterale Durarand dargestellt
sollten Nukleoplastie und IDET nicht mehr bei werden.
lumbalen Rückenschmerzen angewandt werden.
Tipp

Die Stenose hat ihr Punctum maximum immer auf


30.1.3 Stabilitätserhaltende Dekompression Höhe der Bandscheibe.

Eine Stenose des gesamten Spinalkanals oder auch nur


eines Recessus kann zu einer sehr variablen Klinik führen, Die Stenose hat ihr Punctum maximum immer auf Höhe
von singulären radikulären Symptomen bis hin zum Voll- der Bandscheibe. Daher sollte die unterschneidende
bild der Claudicatio spinalis und unter Umständen zur Laminotomie auch den anatomischen Verhältnissen an-
Ausbildung einer Myelopathie bei einer Lokalisation ober- gepasst werden. Je kranialer das Segment liegt, umso ausge-
halb von LWK1. Der Schweregrad der Stenose wird radio- dehnter muss laminotomiert werden. Der Erhalt des supra-
logisch eingeteilt nach dem Verlust der Querschnittsfläche und interspinösen Bands konnte in In-vitro-Untersuchun-
des Spinalkanals. Als eine relative Spinalkanalstenose ist gen helfen, den destabilisierenden Einfluss dieser Opera-
demnach eine Einengung des Spinalkanals auf einen tion auf das Bewegungssegment zu vermeiden. Sogar die
Durchmesser von <12 mm zu verstehen, eine absolute vollständige Entfernung der Lamina kann bei Erhalt der
Spinalkanalstenose liegt vor bei einem Spinalkanaldurch- ligamentären dorsalen Zuggurtung ohne eine zusätzliche
messer von <10 mm. Allerdings korrelieren das Ausmaß Destabilisierung des Bewegungssegments erfolgen [5].
der Stenose und das Ausmaß der Symptome nur sehr Klinisch sollte eine Claudicatio-spinalis-Symptomatik
schwach miteinander. Der klinische Verlauf einer Spinal- mit Verkürzung der schmerzfreien Gehstrecke vorliegen,
kanalstenose lässt in der Regel nicht auf eine spontane der Beinschmerz sollte im Gegensatz zum Rückenschmerz
30.1 · Rückenschmerz
335 30
im Vordergrund stehen. Die Operation erfolgt entweder heute kontrovers diskutiert. Der Trend zur 360°-Fusion
bilateral oder als bilaterale Over-the-top-Dekompression widersetzt sich auch der aktuellen Datenlage, die keinen
über einen unilateralen Zugang. wesentlichen Unterschied im Outcome zwischen rein pos-
Eine prospektive Kohortenstudie hat einen eindeu- terolateralen und dorsoventralen Fusionstechniken erken-
tigen Langzeiteffekt der mikrochirurgischen Dekompres- nen lässt, allerdings eine deutlich höhere Komplikationsra-
sion im Vergleich zur konservativen Behandlung zeigen te bei den instrumentierten Fusionen beschreibt [10]. Die
können. Allerdings konnten in dieser Studie auch ca. 50 % Korrelation einer pathologischen Bildgebung mit den be-
der Patienten zufriedenstellend konservativ behandelt klagten Beschwerden ist daher nach wie vor der Schlüssel,
werden, was die Wichtigkeit eines konservativen Therapie- damit sich die Operation mit allen möglichen Komplika-
versuchs unterstreicht. Die verspätet durchgeführte tionen auch für den Patienten lohnt.
Spinalkanaldekompression zeigte keine schlechteren Er- Es stehen verschiedene operative Techniken zur Ver-
gebnisse, verglichen mit einer frühzeitigen operativen fügung, um eine interkorporelle Fusion zu erreichen. Der
Intervention [2]. Weinstein et al. konnten nach einer Inten- direkte retroperitoneale Zugang zur Lendenwirbelsäule
tion-to-treat-Analyse ihrer randomisierten Studienpopu- ermöglicht die »anterior lumbar interbody fusion« (ALIF)
lation (43 % der Patienten im konservativen Studienarm des Segments mit einem Knochenspan oder Cage nach
waren zum Zeitpunkt der Datenerhebung ebenfalls ope- Ausräumung der Bandscheibe. Cloward beschrieb 1985
riert) ein signifikant verbessertes Outcome im SF-36-Score erstmals die »posterior lumbar interbody fusion« (PLIF),
von im Mittel 7,8 Punkten in der Interventionsgruppe die über einen dorsalen Zugang erfolgt. Dabei werden
verzeichnen [33]. nach einer Laminektomie die nervalen Strukturen mobili-
> Die mikrochirurgische, stabilitätserhaltende
siert, das Bandscheibenfach von dorsal ausgeräumt und
Spinalkanaldekompression ist auch heute noch die
von beiden Seiten Cages aus PEEK oder Titan im Band-
Therapie der Wahl bei der konservativ therapie-
scheibenfach eingebracht. Die TLIF-Technik ( »transfora-
refraktären Claudicatio spinalis.
minal lumbar interbody fusion«) wurde 1993 von Harms
entwickelt. Dabei wird über einen dorsalen Zugang das
Foramen intervertebrale einseitig eröffnet und die Band-
scheibe nach Teilresektion von Gelenkanteilen der angren-
30.1.4 Interkorporelle Fusion: ALIF, PLIF, zenden Wirbelkörper ausgeräumt. Ein abstützender Cage
TLIF, XLIF kann dann in der Bandscheibe positioniert werden. Zuletzt
wird – wie beim PLIF – die Segmentstabilität durch Kom-
Ursprünglich diente die segmentale Fusion nur zur Kont- pression des dorsalen Fixateur interne gegen den vorderen
rolle von Infektionen an der Wirbelsäule und zur Behand- Abstützkörper wiederhergestellt. Limitierungen erfährt
lung der progressiven Instabilität. Mittlerweile hat sie diese Technik bei einer ausgeprägten bilateralen Recessus-
jedoch auch einen festen Platz in der Behandlung der ero- stenose und bei einer ausgeprägten neuroforaminalen
siven Osteochondrose, d. h. einer verschlissenen Band- Enge. Die XLIF-Technik (»lateral lumbar interbody
scheibe mit schmerzhafter Beweglichkeit und Ödem in den fusion«) vermeidet durch einen minimal-invasiven latera-
angrenzenden Wirbelkörperendplatten. Dies erklärt auch len Zugang zur lumbalen Wirbelsäule eine Traumatisie-
die kontinuierlich steigende Zahl durchgeführter Fusions- rung der autochthonen Rückenmuskulatur und ist eine
operationen an der LWS in den letzten 2 Dekaden [32]. Ein Option, wenn eine Dekompression der dorsalen nervalen
wesentlicher Langzeiteffekt gegenüber der konservativen Strukturen nicht notwendig ist.
Therapie ist nach wie vor nicht eindeutig zu erkennen, was Ein großes Problem der Fusion des Bewegungssegments
wohl im Wesentlichen mit dem benignen Verlauf der Er- ist die Entwicklung der Anschlussdegeneration im benach-
krankung im Sinne einer »segensreichen Versteifung des barten Bewegungssegment, deren Häufigkeit mit ca. 16,5 %
Alters« zu erklären ist [8, 9]. In Europa hat sich die 360°-Fu- nach 5 Jahren und 36,1 % nach 10 Jahren angegeben wird
sion oder auch dorsoventrale Fusion durchgesetzt, bei der [11]. 43 % dieser Patienten entwickeln auch Symptome
die betroffene Bandscheibe entfernt und durch Cages aus einer segmentalen Instabilität, eine Spinalkanalstenose
PEEK (Polyetheretherketon) ) oder Titan ersetzt wird. Die oder eines ausgeprägten Facettensyndroms. Als Ursache
knöcherne Fusion des Bewegungssegments wird dabei in wird eine unphysiologische Lastübertragung im Segment,
der Regel durch die Implantation eines dorsalen Fixateur das an die Fusion angrenzt, aber auch ein ungünstiges sa-
interne unterstützt. Die sog. »stand alone cages« haben sich gittales Profil vermutet. Eine genetische Prädisposition
in der klinischen Anwendung nicht bewährt und führten in wird auch diskutiert, sodass insgesamt eine multifaktorielle
verstärktem Ausmaß zu Pseudarthrosen und segmentaler Genese der Anschlussinstabilität vorliegen dürfte. Weitere
Instabilität. Die 360°-Fusion hat geringere Pseudarthrose- assoziierte Probleme sind Pseudarthrosen mit konsekutiver
raten zur Folge, allerdings wird deren klinische Relevanz bis Lockerung des einliegenden Implantats.
336 Kapitel 30 · Operative und minimal-invasive Verfahren bei Rücken- und Nackenschmerz

> Prognostische Faktoren, die mit einem guten ist retrospektiv und ohne Kontrollgruppe. Sie beschreibt
Ergebnis nach lumbaler Fusion korrelieren, sind: ein mittleres Follow-up von 13 Jahren nach Implantation
eine wenig neurotische Persönlichkeit und ein stark eines Wallis der ersten Generation, bei dem der Spacer
erniedrigter Bandscheibenraum. Daher sollte einer noch aus Titan bestand. Knapp 21 % der Patienten wurden
psychosozialen Evaluation vor der Operation all- erneut am betroffenen Segment operiert, bei ca. 18 %
gemein mehr Gewicht gegeben werden. wurde das Segment fusioniert. Von den 79 % der Patienten,
die das Implantat noch hatten, gaben 95 % an, zufrieden
oder sehr zufrieden mit dem Operationsergebnis zu sein.
30.1.5 Interspinöse Spacer Daten aus einem prospektiv randomisierten Studiendesign
liegen bislang nicht vor.
Hypertrophierte Facettengelenke und eine Verdickung der Das interspinöse Distraktionssystem X-Stop ist der am
Lamina gehören zu den knöchernen Ursachen, eine ver- besten in klinischen Studien untersuchte interspinöse
minderte Höhe des Zwischenwirbelraums mit Hervor- Spacer. Als statisches Implantat besteht es aus einer mit
wölbung des posterioren Anulus fibrosus und des Liga- PEEK (Polyetheretherketon) ummantelten Titanlegie-
mentum flavum bilden die diskoligamentären Ursachen rung. 2 Flügel verhindern das Verrutschen nach lateral.
der Spinalkanalstenose. Bei Extension der Lendenwirbel- Das supraspinöse Band bleibt bei der Operation intakt.
säule verringert sich der Spinalkanaldurchmesser zusätz- Indikationen sind die Spinalkanalstenose, das Facetten-
lich. Demzufolge erscheint es sinnvoll, zwischen den syndrom, das Baastrup-Syndrom und das degenerative
30 Dornfortsätzen ein Implantat zu platzieren, das die Exten- Bandscheibensyndrom [21]. Das Implantat kann auch
sion einschränkt. ohne eine zusätzlich durchgeführte mikrochirurgische
Dr. Fred L. Knowles begann bereits 1957 in St. Louis Dekompression eingesetzt werden. Lediglich aus einer
»Metallknöpfe« zwischen den Dornfortsätzen zu implan- prospektiv randomisierten Studie sind Daten über 191 ein-
tieren. Sie sollten im Segment die Extension verhindern, geschlossene Patienten zugänglich. Die Autoren haben den
bis eine Resorption des überschüssigen Knochens statt- X-Stop bei der symptomatischen Spinalkanalstenose mit
gefunden hatte. Dieses Konzept scheiterte jedoch er- epiduralen Injektionen verglichen. In der Therapiegruppe
wartungsgemäß. waren nach 2 Jahren 71 %, in der Kontrollgruppe lediglich
Ein Vorreiter der interspinösen Spacer von heute ist 36 % der Patienten mit der Behandlung zufrieden [39]. Es
das Wallis-Implantat, das 1986 von Jacques Sénégas als liegen also nur wenige Daten aus einer einzigen prospektiv
Alternative zur Fusion bei Bandscheibendegeneration und randomisierten Studie vor, der X-Stop scheint aber bei
segmentaler Instabilität entwickelt wurde. Beim Einbrin- guter Patientenauswahl eine Therapiealternative zur
gen des rechteckigen Implantats wird das Lig. supraspinale operativen Dekompression des Spinalkanals zu sein. Lang-
und interspinale durchtrennt. Es besteht aus PEEK (Poly- zeitergebnisse stehen noch aus.
etheretherketon) und wird mit 2 Polyesterkordeln zwi- 1996 erhielt der Spacer DIAM (»device for interspi-
schen den benachbarten Dornfortsätzen unter Spannung nous assisted motion«) die CE-Zulassung. Es besteht aus
fixiert. Durch die dorsale Zuggurtungskomponente sollte einem H-förmigen Silikonkern, umgeben von einer gewo-
auch eine ausreichende Stabilität in Flexion sichergestellt benen Polyesterhülle, und wird mit 2 Polyesterkordeln an
werden, sodass zwar die Rigidität des Bewegungssegments den benachbarten Dornfortsätzen fixiert. Dies hat aller-
erhöht, dessen Mobilität aber erhalten bleibt. Dieser Effekt dings in biomechanischen Studien nicht zu einer zusätzli-
konnte in biomechanischen Studien auch nachgewiesen chen Stabilität in Flexion geführt. Das supraspinöse Band
werden. Neben der Prophylaxe und Therapie der segmen- bleibt bei der Implantation intakt. Es soll so eine flexible,
talen Instabilität nach mikrochirurgischer Dekompression viskoelastische Stabilisation erreicht werden. Prospektive
oder Sequestrektomie wurde das Wallis-Implantat auch als Fallserien ohne Kontrollgruppe zeigen ermutigende Er-
»topping off« oberhalb einer Fusion eingesetzt, um eine gebnisse, die Ergebnisse dreier prospektiv randomisierter
Anschlussinstabilität zu verhindern. Studien liegen derzeit noch nicht vor.
Während frühpostoperativ die Ergebnisse nach Wallis- CoflexTM ist in dieser Form seit 2005 auf dem Markt,
Implantation noch vielversprechend waren, traten im die Idee dazu stammt jedoch aus dem Jahr 1994. Es handelt
weiteren Verlauf doch zahlreiche Komplikationen auf. sich um ein dynamisches U-förmiges Implantat mit 4 Flü-
Diese umfassten das Wiederauftreten von Claudicatio- geln, die bei der Implantation an die Dornfortsätze der
beschwerden, Segmentkollaps mit Kyphosierung und na- benachbarten Wirbel gepresst werden. Das interspinöse
tivradiologisch nachweisbare Lysesäume um das Implantat und das supraspinöse Band werden bei der Implantation
mit Fraktur der Dornfortsätze [22]. Lediglich eine Studie durchtrennt. Die großflächige Auflage soll ein Einsinken
beschreibt Langzeitergebnisse >24 Monate nach Wallis- in den Knochen der Dornfortsätze verhindern. Das
Implantation. Diese Studie stammt von Sénégas selbst [26], Implantat komprimiert sich bei Reklination. Es ist als Er-
30.1 · Rückenschmerz
337 30
des kleineren Dornfortsatzes von S1 nicht mit einem inter-
spinösen Spacer versehen werden.
> Ein allen interspinösen Spacern anheftender Makel
ist, dass sie zwar aufgrund geringer Invasivität und
kurzer Operationszeiten gerade für – in der Regel –
ältere und kränkere Patienten mit lumbaler Spinal-
kanalstenose wie gemacht zu sein scheinen. Die mit
dem höheren Alter einhergehende schlechtere
Knochenqualität ist jedoch ein wesentlicher Risiko-
faktor für das Implantatversagen.
a b

. Abb. 30.1a,b Medianer T2-gewichteter MRT-Sagittalschnitt bei


»weicher« Spinalkanalstenose im Segment L4/5 vor (a) und nach (b) 30.1.6 Bandscheibenprothesen
Implantation eines interspinösen Spacers (hier AperiusTM, Fa. Medtro-
nic). Man erkennt gut die Erweiterung des Spinalkanaldurchmessers
Die Implantation einer lumbalen Bandscheibenprothese
durch eine vermehrte Spannung der Ligg. flava
ist indiziert bei schmerzhafter Diskopathie mit noch er-
haltener Beweglichkeit im entsprechenden Segment und
gänzung zur Spinalkanaldekompression zu verstehen und gleichzeitig fehlender Facettendegeneration. Ein diskoge-
wird eingesetzt, um die Facettengelenke zu entlasten und ner Schmerz sollte präoperativ durch eine Diskografie be-
die foraminale Höhe zu erhalten. Derzeit werden 2 pros- stätigt werden. Eine Instabilität des Segments oder eine
pektiv randomisierte Multicenterstudien durchgeführt, die Spondylolisthese >1 nach Meyerding darf nicht vorliegen.
die Dekompression plus Coflex mit der alleinigen Dekom- Der Bandscheibenraum sollte mindestens noch 5 mm
pression bei lumbaler Spinalkanalstenose vergleichen. Er- hoch sein, um nach der Implantation einen durch die Dis-
gebnisse liegen bislang nicht vor. traktion hervorgerufenen Facettenschmerz zu vermeiden.
Alle genannten Implantate konnten in biomechani- Bei einer klinisch offensichtlich vorhandenen verstärkten
schen Testungen die Extension verlässlich einschränken Tendenz zur Osteophytenbildung ist die Implantation ei-
und dabei den intradiskalen Druck verringern. In allen ner künstlichen Bandscheibe obsolet. Bei Vorliegen einer
anderen Bewegungsrichtungen blieb dieser Effekt jedoch degenerativen Lumbalskoliose von >10° nach Cobb sollte
aus, und auch eine Restabilisierung des Bewegungs- eine Bandscheibenprothese ebenfalls nicht implantiert
segments nach bilateraler Flavektomie und Hemifacettek- werden. Wenn das Segment voroperiert ist, korreliert dies
tomie konnte nicht erreicht werden. In der Regel tritt mit einem schlechteren Outcome. Das infrage kommende
im operierten Segment eine leichte Kyphosierung auf, Patientenkollektiv ist demnach klein und muss sorgfältig
was auch bei nur geringgradiger Spondylolisthese zur ausgesucht werden. Es besteht naturgemäß aus noch jun-
Vorsicht mahnen sollte. Die frühpostoperativ radiologi- gen Patienten. Bei älteren Patienten scheitert die Implanta-
schen Veränderungen (Erweiterung der Neuroforamina, tion einer Bandscheibenprothese schon an der schlechte-
Erhöhung des hinteren Anulus fibrosus) sind im Lang- ren Knochenqualität.
zeitverlauf nicht mehr nachweisbar, interessanterweise, Unterschieden werden Prothesen zum Ersatz der ge-
ohne dass dies einen Einfluss auf das klinische Outcome samten Bandscheibe (Typ A) und solche zum Ersatz
hätte [28]. des Nucleus pulposus (Typ B). Die Typ-A-Prothesen
Entscheidend bei der Patientenauswahl sind Claudica- werden noch unterteilt in nichtgeführte (Charité) und teil-
tiosymptome, hervorgerufen durch eine weiche Spinal- geführte Prothesen (Maverick, FlexiCore, ProDisc,
kanalstenose mit Flavumhypertrophie, die sich bei Vor- Acroflex) [7, 36].
neige bessert [14]. Diese Patienten können allein mit einem Die Typ-B-Prothesen zum Nukleusersatz können un-
interspinösen Spacer therapiert werden (. Abb. 30.1). Als ter Erhalt des Anulus fibrosus auch von dorsal über den
Zusatz zur Dekompression des Spinalkanals kann ein in- Standardnukleotomiezugang implantiert werden. Sie wur-
terspinöser Spacer bei drohender segmentaler Instabilität den aber zum überwiegenden Teil wegen hoher Dislokati-
verwendet werden, es liegen jedoch hierzu keine langfris- onsraten in den Spinalkanal vom Markt genommen (z. B.
tigen Ergebnisse aus prospektiv randomisierten Studien die PDN-Prothese von Raymedica) [36]. Andere Prothe-
vor, und die biomechanischen Analysen der Implantate sentypen sind noch auf dem Markt, z. B. die Neudisc-Pro-
geben berechtigten Anlass zu Zweifeln. Ein degeneratives these aus einem vertikal geschichteten Hydrogel, das durch
Wirbelgleiten >1 nach Meyerding ist als Kontraindikation Dacrongewebe verstärkt wird (Replication Medical Inc.).
zu werten. Das Segment L5/S1 kann in aller Regel wegen Mit dieser Prothese wird derzeit eine prospektive Multi-
338 Kapitel 30 · Operative und minimal-invasive Verfahren bei Rücken- und Nackenschmerz

centerstudie durchgeführt, deren Ergebnisse allerdings rierten Segment erhalten bleiben. Dadurch konnte man
zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht vorliegen [36]. sich einerseits die Entnahmemorbidität am Beckenkamm
Die verfügbaren wissenschaftlichen Daten zum kom- sparen und möglicherweise eine Anschlussinstabilität im
pletten Bandscheibenersatz haben zum überwiegenden angrenzenden Bewegungssegment vermeiden. Zudem war
Teil nur einen Evidenzgrad IV. Es existieren 4 Studien mit mit den dynamischen Implantaten immer die Hoffnung
Evidenzgrad I, die allerdings nur einen kurzen Nachbe- verbunden, eine Entlastung der Bandscheibe bei erhaltener
obachtungszeitraum umfassen [38]. Es lassen sich Tenden- Beweglichkeit könne zu einer Regeneration der Bandschei-
zen erkennen, dass a) die Implantation von Bandscheiben- be beitragen. Fortgeschrittene Degenerationen mit trans-
prothesen in mehr als einem Segment ein schlechteres latorischer oder rotatorischer Instabilität sind dagegen
Outcome zur Folge haben könnte, b) das klinische keine Indikation für ein pedikelbasiertes dynamisches
Outcome nach Implantation im Segment L4/5 besser ist als Implantat.
im Segment L5/S1, c) eine Beweglichkeit der Prothese von 1994 kam Dynesys“ (»dynamic neutralisation system
>5° mit einem besseren Outcome korreliert. Im Langzeit- for the spine«) auf den Markt, das erste flächendeckend
verlauf kann eine sekundäre Versteifung des operierten eingesetzte pedikelbasierte dynamische Implantat. Die Ex-
Segments aber auch zu einem besseren Outcome führen als tension wird durch einen Polycarbonaturethanzylinder
eine nach wie vor bewegliche Prothese [20]. Eine prospek- (PCU-Zylinder) begrenzt, die Flexion durch eine mit
tive Studie konnte nachweisen, dass 1 Jahr nach Implanta- 300 N vorgespannte Polyethylenterephthalatkordel. Bio-
tion einer CharitéTM-Bandscheibenprothese die Belastung mechanische Untersuchungen konnten jedoch zeigen, dass
30 der Facettengelenke der benachbarten Segmente nicht ge- die Steifheit des Implantats deutlich zu hoch ist. Das heißt,
stiegen war, während sie im operierten Segment sogar sank es kommt lediglich bei der axialen Rotation zu einer den
[30]. Dem ist die prospektive Untersuchung von Siepe et al. Verhältnissen beim gesunden Bewegungssegment ver-
[27] gegenüberzustellen, die ein schlechteres Outcome gleichbaren Erhalt der Beweglichkeit. In Flexion/Exten-
nach Implantation einer Bandscheibenprothese im Seg- sion sowie Seitneigung ist die Beweglichkeit um ca. 60–70 %
ment L5/S1 mit einer verstärkten Facettengelenkdegenera- reduziert im Vergleich zum Gesunden [25]. Andere Im-
tion erklärt. Zusammenfassend liegt bis zum heutigen Tage plantate verwenden starre Längsstäbe, die mit den Pedikel-
keine fundierte wissenschaftliche Evidenz vor, die eine schrauben mobil verbunden sind (z. B. Cosmic). Diese
Überlegenheit der Bandscheibenprothese gegenüber der Implantate haben jedoch im Vergleich zum Dynesis eine
klassischen Fusion zur Behandlung einer schmerzhaften eher noch höhere Steifigkeit.
Osteochondrose der LWS erkennen lässt. Insbesondere > Das im Vergleich zum gesunden Bewegungs-
fehlen Daten zum Langzeitverlauf. segment deutlich verringerte Elastizitätsmodul
> Die lumbale Bandscheibenprothese sollte nach des Implantats Dynesys könnte eine Verringerung
Auffassung der Autoren weiterhin zum festen der Standzeiten mit Auslockerung der Pedikel-
Repertoire aller Wirbelsäulenchirurgen gehören: schrauben begünstigen.
Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass ein be-
wegungserhaltendes Operationsverfahren die
Die Ergebnisse der vorliegenden prospektiven, nichtran-
Degeneration sowohl des operierten Bewegungs-
domisierten Studien sind bislang widersprüchlich; Studien
segments als auch der benachbarten Bewegungs-
mit gutem Outcome [24] zeigten einen signifikanten
segmente verhindern kann, wenn die Patienten
Operationserfolg bei Patienten mit Spinalkanalstenose
entsprechend sorgfältig ausgesucht werden.
und gleichzeitiger degenerativer Spondylolisthese, aller-
dings vergleichbar mit dem klinischen Outcome nach
Fusion. Andere Studien sehen dagegen ein deutlich
schlechteres Outcome. So verbesserte sich zwar bei 37 Pa-
30.1.7 Dynamische Stabilisierungen tienten nach Dekompression und Dynesisinstrumentie-
rung der Beinschmerz, der Rückenschmerz nahm jedoch
Das schwer vorhersehbare klinische Outcome nach lumba- zu (von 40,8 auf 47,8 % auf der VAS). 29,7 % der Patienten
ler Fusion und die Ergebnisse randomisierter kontrollier- beschrieben das Outcome als mittel bis schlecht, und 19 %
ter Studien, die verbesserte Fusionsraten nicht mit einem der Patienten mussten operativ revidiert werden [35]. Viele
verbesserten klinischem Outcome korrelieren konnten, renommierte Autoren favorisierten aufgrund ihrer Erfah-
führten zur Entwicklung pedikelbasierter dynamischer rungen weiterhin den Goldstandard der Fusion [13]. Da
Implantate. Das Ziel war es, ein Bewegungssegment zu die bislang entwickelten Implantate offensichtlich zu steif
stabilisieren, ohne es zu fusionieren. Es sollte zwar die gewählt wurden, wurde in jüngster Zeit an der Entwick-
schmerzhafte abnorme Beweglichkeit des Segments unter- lung eines optimalen pedikelbasierten dynamischen
bunden werden, aber durchaus noch Bewegung im ope- Implantats auf der Basis biomechanischer Analysen mit
30.1 · Rückenschmerz
339 30

a b

. Abb. 30.2 a Anschlussinstabilität L2/3 nach langstreckiger Fusion L3–S1. b Postoperatives Röntgenbild der LWS in 2 Ebenen nach
kranialer Verlängerung der Spondylodese durch PLIF L2/3 und »topping off« L1/2 zur Verhinderung einer erneuten Anschlussinstabilität
in diesem Segment (hier DTOTM, Fa. Zimmer)

Finite-Elemente-Modellen gearbeitet. Demnach sollte das 30.1.8 Facettendenervation, Facettenersatz


Implantat die segmentale Mobilität in keiner Richtung um
mehr als 30 % einschränken [34]. In ca. 15 % der Fälle entstehen Rückenschmerzen durch
> Es bestehen bis zum heutigen Tag Unklarheiten
degenerative Veränderungen der Zwischenwirbelgelenke.
über die geeignete Indikation für ein dynamisches
Dieses sog. Facettensyndrom zeigt ebenfalls ein variables
Implantat sowie über dessen Vorteil gegenüber
klinisches Erscheinungsbild mit Schmerzen, die in die
dem Goldstandard, der viel kostengünstigeren
Glutealregion und den dorsalen Oberschenkel ausstrahlen,
intervertebralen Fusion.
ohne radikuläre Zuordnung sind und bei Rückneige zu-
nehmen. Hier kann eine Facettendenervation hilfreich
Um eine Anschlussinstabilität nach einer Fusion zu ver- sein, wobei die medialen Äste des Ramus dorsalis über ein
meiden, kann das dynamische Implantat als sog. »topping perkutanes Verfahren entweder durch Kälte oder Hitze
off« über dem fusionierten Segment verwendet werden (Radiofrequenzstrom, Laser) verödet werden. Da der Nerv
(. Abb. 30.2). Gleichzeitig werden die Facettengelenke die Tendenz hat, sich schrittweise zu regenerieren, liegt die
des darüberliegenden Segments entlastet. Als Risikofakto- Dauer der operativ erreichten Schmerzreduktion in der
ren für die Entwicklung einer Anschlussinstabilität gelten Regel unter einem Jahr. Ein Cochrane Review aus dem Jahr
bislang eine asymmetrische Facettenausrichtung in Kom- 2003 schloss 3 RCTs ein, um die Effektivität von Facetten-
bination mit mäßiger Degeneration, längerstreckige gelenkdenervationen beim lumbalen Rückenschmerz zu
Fusionen und eine Fusion eher der kranialen als der untersuchen. Es konnte ein kurzfristiger Therapieeffekt
kaudalen Segmente der Lendenwirbelsäule. Eine Ver- der Radiofrequenzthermokoagulation des medialen
steifung des Bewegungssegments in Hypolordose kann in Ramus dorsalis gegenüber einer nur vorgetäuschten Inter-
vitro im kranialen Nachbarsegment das Bewegungs- vention dargestellt werden, dessen Effekt jedoch sich be-
ausmaß in Flexion/Extension verdreifachen [1]. Kontrol- reits nach 3 Monaten wieder relativierte [19].
lierte prospektive Studien, die solch eine Hybridlösung Über den Ansatz der dynamischen pedikelbasierten
mit der alleinigen Fusion vergleichen, wurden bislang al- Implantate, die lediglich eine eingeschränkte Mobilität im
lerdings nicht durchgeführt. Die beschriebene Hybrid- operierten Bewegungssegment erhalten sollen, geht der
lösung ist selbstverständlich auch von anterior möglich, sog. Facettenersatz noch hinaus. Hier ist das Ziel, Stabilität
indem z. B. eine Bandscheibenprothese verwendet wird. ohne eine Bewegungseinschränkung zu erreichen. Indika-
Die vorliegende wissenschaftliche Evidenz ist allerdings tionen sollten die iatrogene Instabilität, z. B. nach einer
spärlich. Spinalkanaldekompression, sowie degenerative und lyti-
sche Spondylolisthesen sein. Die unerwartet hohe Rate
340 Kapitel 30 · Operative und minimal-invasive Verfahren bei Rücken- und Nackenschmerz

postoperativer Degenerationen der Facettengelenke nach 30.2 Nackenschmerz


Implantation einer Bandscheibenprothese hat der Ent-
wicklung des Facettenersatzes einen zusätzlichen Schub M.J. Scheyerer, P. Eysel
gegeben. Weitere Indikationen ergäben sich somit bei der
Revision von lumbalen Bandscheibenprothesen, beim Die jährliche Inzidenz des Nackenschmerzes wird in der
Facettensyndrom oder bei Facettengelenkzysten. Wieder- westlichen Bevölkerung auf 15 % geschätzt [1].
um wird auf eine Fusion verzichtet und Schmerzen an der Es muss angenommen werden, dass über 60 % der
Entnahmestelle eines Knochenspans vermieden. Als be- Erwachsenen einmal in ihrem Leben an ausgeprägten
wegungserhaltendes Implantat ist der Facettenersatz Nackenschmerzen leiden – 50 % dieses Kollektivs sogar
hohen biomechanischen Belastungen vor allem bei der innerhalb der letzten 6 Monate. 5 % fühlen sich durch die
Neutralisation von Scher- und Torsionskräften ausgesetzt. Symptomatik in ihrem täglichen Leben deutlich einge-
3 Implantate waren seit 2005 im klinischen Gebrauch: das schränkt [2]. Dabei überwiegt in jeder Altersklasse das
»total facet arthroplasty system« (TFASTM), das »total pos- weibliche Geschlecht.
terior lumbar arthroplasty system« (TOPS) und das Acadi- > In den meisten Fällen werden Nackenschmerzen mit
aTM. Das TFASTM ist ein gekoppelter totaler Facettenersatz sog. muskulären oder ligamentären Dysfunktionen
und zeigte in vitro eine dem gesunden Bewegungssegment erklärt, die sich auf eine Fehlhaltung, schlechte
entsprechende Stabilität mit Ausnahme einer Einschrän- Ergonomie, Stress oder chronische Muskelschwäche
kung der Extension auf 68 % des Normalwerts [37]. In kli-
30 nischen Studien konnten 2–3 Jahre postoperativ noch sig-
zurückführen lassen [3]. Die Patienten klagen hier
meist über unspezifischen Schmerzen.
nifikant verbesserte Werte für den Zürich Claudication
Quenstionnaire und auf der visuellen Analogskala (VAS) Aber auch eine Vielzahl an Pathologien kann die Symptoma-
für Bein- und Rückenschmerz gemessen werden. Aller- tik hervorrufen. Dabei gehören degenerative Veränderungen
dings wurde die US-amerikanische IDE-Studie niemals zu der Bandscheibe, der Wirbelkörper oder der benachbarten
Ende gebracht, da der Firma das Geld ausging. Seit die Gelenke zu den häufigsten Ursachen der Beschwerden. Aber
Rechte am TFASTM-System auf die Firma Facet Solutions auch Verletzungen, Entzündungen oder Tumoren können
Inc. übergegangen sind, wird es nicht mehr implantiert. die Symptome auslösen. Meist führen die morphologischen
Ganz ähnlich erging es dem TOPS, das ebenfalls in vitro Veränderungen zu einer Kompression eines Spinalnervs
gute Ergebnisse produzierte. Eine prospektive nichtrando- oder des Myelons. Klinisch manifestiert sich dies, je nach
misierte Studie zeigte auch ein Jahr postoperativ nach Ausprägung und Lokalisation der Pathologie, als reiner Na-
Spinalkanaldekompression und TOPS noch signifikant ckenschmerz, als Nackenschmerz mit zervikaler Radikulo-
verbesserte Werte für den ODI und auf der VAS für Bein- pathie oder in Symptomen der Myelopathie.
schmerz [18]. Langzeitergebnisse fehlen, da die US-IDE- Neben den genannten zervikal lokalisierten Verände-
Studie ebenfalls nicht zu Ende geführt werden konnte, rungen können sekundär auch Haltungsanomalien, be-
weil in 2,2 % der Fälle implantatbezogene Probleme auf- dingt durch Pathologien im Bereich des Schultergürtels,
tauchten. des kraniozervikalen Übergangs oder des temporomandi-
Für das AcadiaTM-System liegen derzeit keine aussage- bulären Gelenks, die Beschwerden verursachen.
fähigen wissenschaftlichen Daten vor. > Aus diagnostischer Sicht sollte jeder Patient mit
> Beim Facettenersatz handelt es sich um eine neu- Nackenschmerzen, die länger als 6 Wochen bestehen,
artige Technologie, die bislang noch nicht in und frustran verlaufender konservativer Therapie
prospektiv randomisierten Studien nachuntersucht einer weiteren Bildgebung unterzogen werden.
wurde und deren ideale Indikation noch geklärt Ausgenommen hiervon sind Patienten mit neuro-
werden muss. logischen Ausfällen oder Anzeichen einer Infektion
oder positiven Tumoranamnese. Hier muss eine Ab-
Am ehesten ergibt die Implantation eines Facettenersatzes klärung bereits frühzeitig initiiert werden.
wohl bei der Spinalkanalstenose mit erstgradiger Spondy-
lolisthese einen Sinn; hier könnte der Facettenersatz bei Im Rahmen der Abklärung hat sich insbesondere die
iatrogen erzeugter Instabilität und daraus resultierender MRT-Diagnostik durch ihre hohe Sensitivität zum Gold-
hoher Implantatbelastung widerstandsfähiger sein als ein standard in der Diagnostik von Bandscheibenvorfällen
pedikelbasiertes, tendenziell zu steifes Implantat. sowie von spinalen und neuroforaminalen Engen ent-
wickelt. Einschränkungen bestehen nur hinsichtlich der
> Die breite Anwendung des Facettenersatzes kann moderaten Spezifität. So lassen sich Bandscheibenvorfälle
nicht empfohlen werden, bevor die 2-Jahres-Ergebnis- in 20–35 %, Protrusionen in über 50 % auch bei asympto-
se von prospektiv randomisierten Studien vorliegen. matischen Patienten von über 60 Jahren darstellen.
30.2 · Nackenschmerz
341 30
Weitere diagnostische Maßnahmen neben den kon- 30.2.1 Anteriore operative Verfahren
ventionell radiologischen Röntgenaufnahmen und Funk-
tionsaufnahmen sind bei Frakturverdacht die native Com- Nukleoplastie
putertomografie, bei Kontraindikationen für eine MRT- > Die Nukleoplastie ist eine minimal-invasive
Diagnostik die Myelo-CT-Untersuchung sowie, bei etwai- Methode zur kontrollierten Reduktion von hervor-
gen neurologischen Symptomen, die elektrophysiologische getretenem Bandscheibengewebe.
Diagnostik mittels Elektromyografie, Elektroneurografie
sowie die Bestimmung der evozierten Potenziale. Durch Die Nukleoplastie basiert auf der Coblationstechnologie.
Letztere lassen sich neben dem Nachweis einer eventuellen Dabei werden Sonden radiologisch kontrolliert perkutan
neuronalen Pathologie Informationen über die Höhe der über einen dorsolateralen Diskografiezugang in das be-
Schädigung, die ungefähre Dauer und das mögliche Er- troffene Bandscheibengewebe eingebracht.
holungspotenzial gewinnen. Auch lassen sich durch diese Im Weiteren wird an den Sonden eine bipolare Radio-
Verfahren die vom Patienten subjektiv empfundenen frequenzenergie angelegt, die ihrerseits die Elektrolyte im
Symptome objektivieren, was einer Stigmatisierung des umgebenden leitfähigen Medium anregt. Die so aufge-
Patienten entgegenwirken kann. ladenen Teilchen verfügen über ausreichend Energie, um
> Ziele der Behandlung bei degenerativen Verände-
Molekülbindungen im Gewebe aufzuspalten und zu lösen.
rungen sind die Schmerzreduktion, die funktionelle
Dadurch ist eine gezielte volumetrische Abtragung des
Verbesserung sowie die Vermeidung von neurologi-
prolabierten Bandscheibengewebes möglich.
schen Symptomen oder ihre optimale Behandlung.
Durch die angewendeten niedrigen Temperaturen von
40–70 °C können Schädigungen des umliegenden ge-
Diese Ziele lassen sich bereits bei über 70 % der Fälle durch sunden Gewebes vermieden und die Integrität der verblei-
eine konservative Therapie erreichen, wobei in diesem benden Bandscheibe sowie der Grund- und Deckplatte
Zusammenhang auch der Spontanverlauf berücksichtigt bewahrt werden [5].
werden muss. Die Evidenz der konservativen Behandlung In der Bandscheibe führt die sich ergebende Volumen-
ist nicht immer eindeutig gegeben. Ausgenommen von reduktion im Bereich des Nucleus pulposus zu einer über-
einem abwartenden oder konservativen Vorgehen sind proportionalen Abnahme des Drucks, worauf es zu einer
traumatische instabile Verletzungen, Pathologien mit neu- Reduktion der schmerzauslösenden mechanischen wie
rologischen Ausfallerscheinungen, Tumoren und Infek- auch der chemischen Faktoren kommt. Die so durch-
tionen. geführte Exzision von 1 ml Bandscheibengewebe – was
Einen Überblick über die allgemein geltenden Indika- einer Volumenreduktion von 10–20 % entspricht – führt
tionen bei degenerativen Veränderungen zeigt die folgende zu einer überproportionalen Verminderung des intradis-
Übersicht [4]: kalen Drucks um >95 %. In degenerierten Bandscheiben
ist dieser Anteil etwas geringer.
Auch zeigte sich im Rahmen des Verfahrens eine
Indikationen für ein operatives Vorgehen bei
Zunahme der Neovaskularisierung des Gewebes.
degenerativen Veränderungen
Die in der Literatur beschriebenen unerwünschten
5 Progredientes muskuläres Defizit
Nebenwirkungen und Komplikationen reichen von lokal-
5 Persistierende Schmerzen unter konservativer
anästhesiebedingten Effekten über Schmerzen an der
Therapie >6–12 Wochen
Einstichstelle, neu aufgetretene Taubheit und Kribbeln bis
5 Progrediente Myelopathie
hin zur Diszitis.
5 Zunehmende Kyphose mit neurologischen
Zusammenfassend wird der Nutzen der Nukleoplastie
Defiziten
in der Literatur allerdings eher kritisch beurteilt, und der
Langzeitnutzen bleibt zu hinterfragen [6].
Allerdings ist die Diagnosefindung beim unspezifischen
Nackenschmerz oft nicht eindeutig möglich, insbesondere Zervikale Diskektomie und Fusion
da die Genese des Nackenschmerzes meist multifaktoriell > Eine spinale Enge, vorwiegend bedingt durch eine
ist. In diesen Fällen können gezielte diagnostische Injek- anteriore Kompression, lässt sich meist gut durch
tionen mit Lokalanästhesie zur genauen Lokalisierung der eine anteriore Dekompression erreichen.
schmerzauslösenden Pathologie beitragen.
Sollte man sich letztendlich für ein operatives Vor- Als Zugangsweg für die Dekompression einer spinalen
gehen entscheiden, lässt sich die Halswirbelsäule je nach Enge wird vorzugsweise der anterolaterale Zugang an-
bestehender Pathologie über 2 Wege erreichen: einen ven- gewandt, der 1955 von Robinson und Smith erstmals be-
tralen und einen dorsalen Zugangsweg. schrieben wurde. Nach der Weichteilpräparation lässt sich
342 Kapitel 30 · Operative und minimal-invasive Verfahren bei Rücken- und Nackenschmerz

a b c

. Abb. 30.3 Medianer T2-gewichteter MRT-Sagittalschnitt mit Bandscheibenvorfall im Segment C5/6 (a). Postoperative Kontrollaufnahmen
in lateraler (b) sowie a.-p.-Projektion (c) nach ventraler Diskektomie mit Cage-Implantation

durch ihn die prävertebrale Faszie mit den darunterliegen- Faktor für die Fusion erwies sich das Ausmaß der invol-
30 den Wirbelkörpern und Bandscheiben gut darstellen. Zur vierten Segmente. So ergaben sich absteigende Fusion-
Dekompression des Spinalkanals sowie der Nervenwurzel sraten von 89 %, 73 % und 67 % für 1, 2 oder 3 beteiligte
im Neuroforamen kann die betroffene Bandscheibe Segmente [11]. Jenseits der 3 Level konnte nur noch in
aus dem Zwischenkörperwirbelraum reseziert werden. Eine 56 % der Fälle eine Fusion beobachtet werden [9].
gleichzeitige Entfernung des hinteren Längsbands muss in- > Eine Optimierung der Konsolidierungsrate bei
dividuell abgewogen werden. Beim Verdacht auf einen liga- Fusion von 2 oder mehr Segmenten lässt sich durch
mentären Riss ebenso wie bei Perforation von Knochenfrag- eine ergänzende anteriore Plattenfixierung erzielen
menten sollte sich die Entfernung des Bandkomplexes der (. Abb. 30.4a–c).
Bandscheibenresektion zwingend anschließen.
Auch Osteophyten an der Hinterkante des Wirbel- Daneben trägt die Plattenfixierung zum Erhalt der zervi-
körpers lassen sich durch das Verfahren entfernen. kalen Lordose sowie zur Reduktion transplantatassoziier-
ter Komplikationen bei, wie dem Ein- bzw. Zusammen-
> Im Anschluss an die Dekompression sollte in allen
bruch des Transplantats [12]. Im Rahmen einsegmentaler
Fällen eine Fusion der benachbarten Wirbelkörper
Fusionen zeigte sich durch eine zusätzliche Plattenfixie-
durchgeführt werden, um das Risiko postoperativer
rung kein eindeutiger Vorteil, sodass bei der Versorgung
Nackenschmerzen, bedingt durch eine Instabilität
entsprechender degenerativer Pathologien darauf verzich-
oder Kyphose, zu reduzieren [7, 8]. Als heutigen
tet werden kann.
Standard wendet man dabei Allografts in Form von
Als Nachteil der zusätzlich eingebrachten Platten
Metall- oder PEEK-Cages an (. Abb. 30.3a–c).
müssen allerdings Schluckstörungen, bedingt durch eine
Auch wird durch die Implantation eines entsprechenden Irritation des Ösophagus, erwähnt werden.
knöchernen Blocks oder Cages die Höhe des Zwischen- Neben der offenen Diskektomie wurde insbesondere
wirbelraums wiedergestellt, wodurch sich eine Vergröße- bei jüngeren Patienten ohne degenerative Veränderungen
rung des angrenzenden Neuroforamens einstellt. Ebenso oder segmentale Instabilität versucht, einen etwaigen
lässt sich auf diese Weise das physiologische sagitale Profil Sequester ohne Exzision der meist wenig degenerierten
wiederherstellen. restlichen Bandscheibe zu entfernen. Dabei zeigten sich
Inwieweit die Resektion der benachbarten Grund- und ähnlich gute klinische Ergebnisse, verglichen mit den Ver-
Deckplatten für eine Fusion förderlich ist, wird kontrovers fahren der Diskektomie sowie der Diskektomie mit beglei-
diskutiert. Einerseits ermöglicht der freiliegende spon- tender Fusion. Allerdings ließ sich im Verlauf eine erhöhte
giöse Knochen die bessere Konsolidierung, andererseits Inzidenz von postoperativ aufgetretenen Kyphosen beob-
wird durch die Entfernung eine Reduktion der mechani- achten [13]. Weitere Nachteile dieses minimal-invasiven
schen Stabilität angenommen [9]. Verfahrens waren das erhöhte Auftreten von Rezidiven
Hinsichtlich der Fusionsraten zeigen sich sowohl bei und eine beschleunigte Degeneration des Bewegungsseg-
der Verwendung von trikortikalem Beckenkammspan als ments mit konsekutiver segmentaler Instabilität und damit
auch von PEEK (Polyetheretherketon) oder Titanium- verbundener erhöhter Inzidenz von chronischen Nacken-
Cages sehr gute Ergebnisse [10]. Als ausschlaggebender schmerzen.
30.2 · Nackenschmerz
343 30

a b c

. Abb. 30.4 Medianer T2-gewichteter MRT-Sagittalschnitt mit Spinalkanalstenose im Segment C4/5 und C5/6 (a). Postoperative Kontroll-
aufnahmen in lateraler (b) sowie a.-p.-Projektion (c) nach ventraler Diskektomie mit Cage-Implantation und zusätzlicher ventraler Plattenfi-
xierung

Dabei wird, vergleichbar mit der anterioren Diskekto-


mie, über einen anterolateralen Zugang zunächst die
Bandscheibe über- und unterhalb des betroffenen Wirbel-
körpers bis hin zum Lig. longitudinale posterius entfernt.
Anschließend kann der Wirbelkörper reseziert werden.
Zum Schutz der Arteria vertebralis sollte lateralseitig beid-
seits eine ossäre Wand bestehen bleiben.
Für die Rekonstruktion des entfernten Wirbelkörpers
bietet sich bei singulären Korpektomien wie bei der
Diskektomie trikortikaler Beckenkammspan an. Mehr-
segmentale Korpektomien lassen sich aufgrund des bo-
genförmigen Verlaufs des Beckenkamms dagegen nicht
zufriedenstellend rekonstruieren. Hier haben sich neben
der Verwendung von körpereigenem Knochen (Fibular-
. Abb. 30.5 Ossifikationen des hinteren Längsbands (OPLL)
transplantat) mit Knochensubstanz gefüllte Metallcages
bewährt, wobei die zu erreichende Fusionsrate bei der
> Die derzeitige Evidenz rechtfertigt den routine- Verwendung von Autografts höher ist (. Abb. 30.6a–c)
mäßigen Einsatz der minimal-invasiven Verfahren [15].
zur zervikalen Diskektomie nicht [14]. Mit zunehmender Länge der zu rekonstruierenden
Strecke stellen sich vermehrt Komplikationen ein. In die-
Zervikale anteriore Korpektomie sem Zusammenhang ist bei der Verwendung von Auto-
Wenn sich die Stenose nicht auf Höhe des Bandscheiben- grafts außer der Morbidität an der Entnahmestelle das
fachs oder der direkt angrenzenden Wirbelkörpergrund- Einsinken bzw. der Bruch des Transplantats mit konseku-
und Deckplatte befindet, ist die alleinige Diskektomie zur tiver Kyphosierung der Halswirbelsäule zu nennen. Ähn-
Behandlung häufig unzureichend. lich verhält es sich auch bei der Verwendung von Metallca-
Ursachen für das Auftreten einer Myelopathie sind ges, wobei sich neben der reduzierten Fusionsrate die Ge-
neben der knöchern bedingten Kompression des Rücken- fahr des Einsinkens in die benachbarten Wirbelkörper
marks – ausgehend von degenerativen Veränderungen der sowie die eingeschränkte postoperative radiologische Be-
Wirbelkörperhinterkante oder der Facettengelenke – urteilbarkeit nachteilig auswirken.
kyphosierende Fehlstellungen der Wirbelsäule, aber auch
Ossifikationen des hinteren Längsbands (»ossification of the > Zur Vermeidung einer Dislokation des Transplantats
posterior longitudinal ligament«, OPLL) (. Abb. 30.5). Zur und zur Verbesserung der Fusionsrate sollte
Sicherung der neuronalen Integrität empfiehlt sich in diesen in jedem Fall eine ventral angebrachte Platte das
Fällen die anteriore Dekompression durch Korpektomie. Konstrukt sichern [16].
344 Kapitel 30 · Operative und minimal-invasive Verfahren bei Rücken- und Nackenschmerz

a b c

. Abb. 30.6 Medianer T2-gewichteter MRT-Sagittalschnitt mit Spinalkanalstenose im Segment C4/5 und C5/6 mit Myelopathie sowie
dorsaler Kompression (a). Postoperative Kontrollaufnahmen in lateraler (b) sowie a.-p.-Projektion (c) nach ventraler Korpektomie mit Cage-
Implantation und zusätzlicher ventraler Plattenfixierung

30
> Ab drei resezierten Wirbelkörpern sollte zur Ver- sein [18, 19]. Anders hingegen bei der Verbesserung von
meidung eines Implantatversagens eine zusätzliche neurologischen Symptomen: Hier deutet sich ein Vorteil
dorsale Stabilisierung durchgeführt werden. bei der Versorgung mit Bandscheibenprothese an [20].
Die Rate der postoperativ zu beobachtenden Kompli-
kationen beim zervikalen Bandscheibenersatz ist ver-
Zervikaler Bandscheibenersatz gleichbar mit den zuvor geschilderten Verfahren. Neben
Der zervikale Bandscheibenersatz gilt als Alternative zur persistierendem Schmerz, Dislokation der Prothese und
Diskektomie mit Fusion bei Pathologien im Bereich der segmentaler Kyphosierung muss das Auftreten von hetero-
Bandscheibe. trophen Ossifikationen mit einer Inzidenz von 8–18 % er-
> Durch die Implantation einer mobilen Prothese ist
wähnt werden [21].
eine Stabilisierung der Wirbelsäule bei gleichzeiti-
gem Erhalt der biomechanischen Eigenschaften
möglich.
30.2.2 Posteriore operative Verfahren

Durch den zervikalen Bandscheibenersatz reduziert sich Zervikale Laminotomie und Foraminotomie
die Belastung auf die Nachbarsegmente und damit das > Für Patienten mit unilateraler, radikulärer Schmerz-
Risiko einer Anschlussdegeneration, die im Rahmen von symptomatik, die durch eine laterale oder fora-
Fusionsoperationen in nahezu 25 % der Fälle beobachtet minale Stenose verursacht wird, ist eine posteriore
werden kann. Foraminotomie besonders geeignet.
Zu den allgemeinen Indikationen eines zervikalen
Bandscheibenersatzes zählen symptomatische, kernspin- Auch bei spinalen Stenosen der Höhen C7/Th1 sollte ein
tomografisch bestätigte Bandscheibenerkrankungen, wo- posteriorer Zugang in Erwägung gezogen werden, da
bei nicht mehr als 2 Segmente betroffen sein sollten, ein dieses Segment insbesondere bei adipösen Patienten mit
Patientenalter zwischen 20 und 70 Jahren und eine frustran kurzem, dickem Hals von ventral oft schwer zu erreichen
verlaufene konservative Therapie über einen Zeitraum von ist. Da bei diesem Verfahren eine Fusion der involvierten
mindestens 6 Wochen [17]. Kontraindikationen sind Wirbelkörper überflüssig wird, bietet es sich ferner bei
wesentliche Deformitäten, radiologische Zeichen einer In- multisegmental bedingten unilateralen Radikulopathien
stabilität des Segments, isolierter Nackenschmerz, eine an.
begleitende Facettengelenkarthrose sowie die präoperativ Erstmals wurde die Technik der zervikalen Foramino-
eingeschränkte Beweglichkeit des Segments. tomie 1951 von Frykholm beschrieben und gewann durch
Im Vergleich zur anterioren Diskektomie und Fusion die Ausführungen von Scoville und Whitcomb an Popula-
erscheinen die klinischen Ergebnisse bezüglich der Besse- rität [22]. Dabei wird nach Darstellung des betroffenen
rung von Brachialgien und Nackenschmerzen sowie im Segments mit der Fräse das laterale Drittel der ober- und
Hinblick auf den Neck-Disability-Index vergleichbar zu unterhalb befindlichen Lamina sowie das mediale Drittel
30.2 · Nackenschmerz
345 30
des Facettengelenks entfernt. Um die Stabilität des findliches Scharnier aufgeklappt und der Osteotomiespalt
Segments zu bewahren, sollten zwingend mehr als 50 % durch intraspinöse Anlagerung eines Knochenblocks
des Gelenks belassen werden. Nach Resektion des Lig. fixiert.
flavum sowie Koagulation des darunterliegenden epidura- > Die intraoperativ beobachtete Aufweitung des
len Venenplexus wird der Spinalnerv sichtbar. Ist die Duralsacks und Pulsationen der Dura nach
foraminale Stenose durch eine prominente osteophytäre Eröffnung der Laminoplastie dienen als visueller
Randleiste bedingt, reicht die alleinige Foraminotomie Hinweis für eine ausreichende Spinalkanalweite.
meist aus. Weit lateral gelegene Bandscheibenvorfälle oder
ossäre Sporne lassen sich anderenfalls nach Mobilisation Im Allgemeinen reicht für eine adäquate Dekompression
der darüber liegenden Nervenwurzel entfernen. die Eröffnung des Laminoplastiespalts um 8–10 mm aus.
Nachteilig wirkt sich bei dem offenen posterioren Ver- Dadurch lässt sich eine Zunahme des Spinalkanaldurch-
fahren der Schaden aus, der im Rahmen des Zugangswegs messers um 5 mm erreichen [24].
an der paraspinalen Muskulatur verursacht wurde. So ist Postoperativ kann in etwa 5 % der Fälle eine Irritation
die Nackenmuskulatur zur Kontrolle der Position des der C5-Wurzel beobachtet werden, die durch die posterio-
Kopfs reich an propriozeptiven Nervenfasern, die direkte re Translation des Rückenmarks und der umgebenden
Verbindungen zu übergeordneten optischen wie auch Dura mater bedingt ist. Hierdurch kommt es zur Dehnung
vestibulären Zentren haben. Damit lassen sich die post- von intra- wie auch von extraduralen Anteilen der Nerven-
operativ häufig beobachteten Nacken- und Schulter- wurzel. Aufgrund ihres kurzen und direkten Verlaufs
schmerzen erklären, ebenso wie die empfundene Instabili- auf Höhe der Halslordosenspitze ist die Nervenwurzel C5
tät. Durch die Anwendung mikrochirurgischer Verfahren hier besonders gefährdet. Klinisch manifestiert sich eine
kann dieses Risiko reduziert werden. So verwendete C5-Irritation meist am 6. postoperativen Tag nach einer
Boehm et al. [23] nach stumpfer Dilatation der paraspina- kurzen postoperativen Phase der neurologischen Ver-
len Muskulatur einen Arbeitskanal von 1,1 cm Durchmes- besserung: Es kommt zu einer rein motorischen Parese des
ser, um die interlaminare Region zu explorieren [23]. Ver- M. deltoideus. Die Rekonvaleszenzzeit beträgt im Durch-
gleichbare Komplikationen wie beim offenen Verfahren schnitt ein halbes Jahr. Diskutiert wird daher die pro-
konnten nicht beobachtet werden. phylaktische C5-Foraminotomie, wobei die Evidenz dies-
bezüglich unklar ist.
Zervikale Laminoplastie Im Rahmen einer Metaanalyse wurde das Ergebnis
> Ziel der Laminoplastie ist eine Aufweitung des
nach Laminoplastie bei rund 2.000 Patienten untersucht.
Spinalkanals durch Verlagerung der Lamina nach
Dabei ergab sich eine mittlere Erholungsrate der präopera-
dorsal.
tiv bestehenden neurologischen Symptome von 55 %,
wobei die Ergebnisse der diversen Studien mit Anteilen
Anwendbar ist dieses Verfahren im Bereich des 3.–7. Hals- zwischen 20 und 80 % deutlich variierten [25]. Keine Un-
wirbelkörpers. Durch den Erhalt der Lamina sowie des Lig. terschiede ließen sich zwischen den verschiedenen Tech-
flavum reduziert sich bei der Laminoplastie – im Gegen- niken der Laminoplastie oder im Vergleich zur anterioren
satz zur Laminektomie – das Risiko einer potenziellen Dekompression und Instrumentierung beobachten.
Destabilisierung der Halswirbelsäule mit konsekutivem Mit Blick auf die Komplikationen muss neben der zu-
Verlust des sagittalen Alignements. Hierdurch wird die vor erwähnten C5-Irritation bei etwa 35 % eine Ver-
Durchführung einer Fusion überflüssig. Darüber hinaus schlechterung des zervikalen Alignements sowie in 10 %
ist das Rückenmark durch den Erhalt der dorsal befind- die Ausbildung einer Kyphose erwähnt werden [25]. Auch
lichen Strukturen weiterhin geschützt. beim postoperativen Bewegungsausmaß lässt sich – anders
Bei dem Verfahren gilt es, die sog. Single-door-Technik als zu erwarten – eine deutliche Abnahme bis auf 50 %
von Hirabayashi [24] von der French-open-door-Technik beobachten. Auf längere Sicht ist daher das postoperative
von Hoshi und Kurokawa zu unterscheiden. Bei erst- Bewegungsausmaß mit jenem nach Laminektomie und
genanntem Verfahren wird nach einseitiger, lateraler Er- Fusion vergleichbar.
öffnung die Lamina über die kontralaterale Seite aufge- > Die Komplikationsrate der Laminoplastie bei
klappt. In der Originalpublikation wird die offene Lamina Beteiligung von mehr als 3 Segmenten erweist
anschließend über einen Faden an den kontralateralen sich als geringer, verglichen mit der ventralen
Processus articularis inferior fixiert. Alternative Techniken Korpektomie. Demgegenüber scheinen Patienten
beinhalten die Interposition eines Knochenspans oder mit kurzstreckiger Versorgung vom ventralen
eines Plättchens. Bei der French-open-door-Technik Eingriff zu profitieren [26].
werden nach medianer Durchtrennung des Processus
spinosus die jeweiligen Hälften über ein weit lateral be-
346 Kapitel 30 · Operative und minimal-invasive Verfahren bei Rücken- und Nackenschmerz

a b c

. Abb. 30.7 Metastasenbedingte Destruktion (Mamma-Ca) von Atlas sowie Axis mit Kompression des Spinalkanals (a). Embolisation des
Tumors sowie anschließende Laminektomie C2 mit dorsaler Instrumentierung (C0–C5) in lateraler (b) sowie a.-p.-Projektion (c)

Zervikale Laminektomie betroffenen sind, auch die angrenzenden Höhen in die


30 Die Laminektomie ist ein vielseitig einsetzbares und ver- Laminektomie mit eingeschlossen werden.
gleichsweise einfaches Verfahren zur Dekompression des Anders hingegen stellt sich die Situation bei hyper-
Spinalkanals. Es wurde erstmals von Sir Victor Horsley zur lordotisch gestellten Halswirbelsäulen dar. Hier sollte sich
Dekompression bei tumorbedingter Myelopathie be- die Laminektomie auf die direkt betroffenen Segmente
schrieben (. Abb. 30.7a–c). Heutzutage wird sie im Bereich beschränken, da eine zu extensive Dekompression eine
der Halswirbelsäule insbesondere zur Behandlung einer Dorsalverlagerung des Myelons bewirken kann. Durch
multisegmental bestehenden Spinalkanalstenose ange- den damit verbundenen Zug auf die Nervenwurzeln und
wendet, wobei die Hauptursache der Enge im Bereich der die Blutgefäße erhöht sich das Risiko einer weiteren post-
dorsalen Strukturen zu finden sein sollte. Bei Stenosen mit operativen Verschlechterung neurologischer Symptome.
gleichzeitig bestehender vermehrter Kyphosierung der Weitere zu beobachtende Komplikationen sind eine
HWS hat die alleinige Laminektomie hingegen einen nur postoperative Kyphosierung und eine Instabilität der
geringen Nutzen. Durch die Deformität kann das Rücken- dekomprimierten Segmente. Insbesondere bei Beteiligung
mark nicht ausreichend nach dorsal ausweichen, um den des 2. Halswirbelkörpers bzw. des 1. Brustwirbelkörpers in
ventral befindlichen, Druck ausübenden Strukturen die Laminektomie zeigte sich eine signifikante Zunahme
(Bandscheibe, Osteophyten) auszuweichen. des Risikos beider Entitäten. Auch eine Ausweitung der
Indikationen für die Durchführung einer zervikalen nach lateral reichenden Dekompression mit Resektion von
Laminektomie sind mehr als 50 % der Facettengelenke bzw. 25 % bei multiseg-
4 die über mehrere Segmente bestehende Myelopathie, mentaler Laminektomie erhöht die Gefahr signifikant.
4 die zervikale Myelopathie bei erhaltener Lordose Die Folgen einer zunehmenden Kyphosierung ergeben
sowie sich aus der bereits beschriebenen Dehnung von neuro-
4 die überwiegend dorsal bedingte neuronale Kom- nalen Strukturen und kleineren Blutgefäßen mit daraus
pression. resultierenden Symptomen einer zervikalen Myelopathie.
Daher sollte im Rahmen der Laminektomie immer eine
In der überwiegenden Zahl der Fälle kann durch das Ver- begleitende Fusion der Segmente durchgeführt werden.
fahren der Laminektomie eine Progredienz des neuro- > Bei einer begleitenden Fusion der Segmente ist das
logischen Defizits ausreichend verhindert oder gar eine Ziel zum einen die Sicherstellung der Stabilität und
Verbesserung der Symptome erreicht werden. Insbesonde- zum anderen der Erhalt oder die Wiederherstellung
re im Kollektiv von alten, multimorbiden Patienten mit der zervikalen Lordose, um dem Rückenmark im
multisegmentaler Spinalkanalstenose und konsekutiver Sinne einer neurologischen Stabilisierung ein Aus-
Myelopathie erscheinen die Vorteile der Laminektomie weichen nach dorsal zu ermöglichen.
durch die meist kurze Operationsdauer und die dadurch
bedingte verminderte perioperative Morbidität am deut- Eine entsprechende dorsale Fusion lässt sich durch ver-
lichsten. schiedene Maßnahmen erreichen. Die am häufigsten ver-
Zur Verbesserung des postoperativen Ergebnisses soll- wendete Technik ist die der dorsalen Instrumentierung
ten neben den Segmenten, die von einer spinalen Enge mittels Schrauben-Stab-System, wobei im Bereich der
Literatur
347 30
Halswirbelsäule meist Massa-lateralis-Schrauben ange- 5. Delank KS, Gercek E, Kuhn S et al (2010) How does spinal canal
wendet werden. Dabei unterscheidet man die Technik decompression and dorsal stabilization affect segmental
nach Roy-Camille von jener nach Magerl. Letztgenannte mobility? A biomechanical study. Arch Orthop Trauma Surg
130:285–292
erlaubt die Verwendung längerer Schrauben und scheint 6. Eysel P, Rompe JD, Hopf C (1994) Prognostic criteria of discogenic
daher biomechanisch jener von Roy-Camille überlegen zu paresis. Eur Spine J 3:214–218
sein. Auch reduziert sich das Risiko einer Schädigung der 7. Eysel P, Zöllner J, Heine J (2000) Die künstliche Bandscheibe.
neurovaskulären Strukturen. Dtsch Arztebl 97(46):A3092–3096
In der überwiegenden Zahl der Fälle liefern Massa- 8. Fairbank J, Frost H, Wilson-MacDonald J et al (2005) Randomised
controlled trial to compare surgical stabilisation of the lumbar
lateralis-Schrauben bei guter Knochenqualität einen aus- spine with an intensive rehabilitation programme for patients
reichenden Halt. Bei unzureichender Knochenqualität with chronic low back pain: the MRC spine stabilisation trial. BMJ
bzw. beabsichtigter Korrektur einer kyphotischen Defor- 330(7502):1233
mität hingegen sollte der Einsatz von Pedikelschrauben 9. Fritzell P, Hägg O, Wessberg P et al (2001) 2001 Volvo Award
erwogen werden, um eine bessere knöcherne Verankerung Winner in Clinical Studies: Lumbar fusion versus nonsurgical
treatment for chronic low back pain: a multicenter randomized
zu gewährleisten. Allerdings ist die pedikuläre Veranke-
controlled trial from the Swedish Lumbar Spine Study Group.
rung im Bereich der Halswirbelsäule technisch vergleichs- Spine 26(23):2521–2532
weise anspruchsvoll und komplikationsbeladen. Insbeson- 10. Fritzell P, Hägg O, Nordwall A et al (2003) Complications in lumbar
dere durch den pedikelnahen Verlauf der A. vertebralis fusion surgery for chronic low back pain: comparison of three
durch das Foramen transversarium ist das Risiko einer surgical tewchniques used in a prospective randomized study.
A report from the Swedish Lumbar Spine Study Group. Eur Spine
Schädigung der Arterie nicht zu unterschätzen.
J 12(2):178–189
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit der Lami- 11. Ghiselli G, Wang JC, Bhatia NN et al (2004) Adjacent segment
nektomie sehr gute klinische Ergebnisse erzielt werden. Im degeneration in the lumbar spine. J Bone Joint Surg Am 86-
Hinblick auf das funktionelle Ergebnis, die Komplikations- A(7):1497–1503
rate, die Inzidenz von chronischen Schmerzen und die 12. Gibson JN, Waddell G (2007) Surgical interventions for lumbar
disc prolapse. Cochrane Database Syst Rev (1):CD001350
Notwendigkeit von Revisionseingriffen ist sie der Lamino-
13. Grob D, Benini A, Junge A, Mannion AF (2005) Clinical experience
plastie überlegen [27]. Dabei ist es wichtig zu beachten, with the Dynesys semirigid fixation system for the lumbar spine:
dass das zu erreichende klinische Ergebnis abhängig vom surgical and patient-oriented outcome in 50 cases after an
Ausmaß der Spinalkanalstenose und der Rücken- average of 2 years. Spine 30(3):324–331
markkompression ist. Auch die Dauer der Symptome hat 14. Kabir SM, Gupta SR, Casey AT (2010) Lumbar interspinous spacers.
A systematic Review of clinical and biomechanical evidence.
Einfluss auf das Ergebnis. Important Start
Spine 35(25):E1499–E1506
> Patienten mit fortgeschrittenen Zeichen der 15. Kast E, Oberle J, Richter HP, Börm W (2008) Success of simple
Myelopathie zeigen eine schlechtere Rekonvales- sequestrectomy in lumbar spine surgery depends on the
competence of the fibrous ring: a prospective controlled study of
zenz, sodass in Fällen mit Nackenschmerzen und
168 patients. Spine 33(14):1567–1571
Zeichen der Myelopathie zu einer frühzeitigen 16. Kayaoglu CR, Calikoglu C, Binler S (2003) Re-operation after
chirurgischen Intervention geraten wird. lumbar disc surgery: results in 85 cases. J Int Med Res 31(4):
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17. Lebow RL, Adogwa O, Parker SL et al (2011) Asymptomatic
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Literatur zu Abschn. 30.1 BRS.0b013e3182054595
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2. Amundsen T, Weber H, Nordal HJ et al (2000) Lumbar spinal on 29 patients. Neurosurg Focus 22(1):E13
stenosis: conservative or surgical management? A prospective 19. Niemesto L, Kalso E, Malmivaara A et al (2003) Radiofrequency
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351 31

Akupunktur
bei Rückenschmerzen
A. Molsberger

31.1 Geschichte und heutige Bedeutung der Akupunktur – 352

31.2 Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Akupunktur – 353


31.2.1 Grundlagenwissenschaft – 353
31.2.2 Klinische Nachweislage zur Akupunktur bei Kreuzschmerz – 353

31.3 Akupunkturtherapie in der Praxis – 354


31.3.1 Therapieziel und Diagnostik in der chinesischen Medizin – 354
31.3.2 Prinzipien der Auswahl und Stimulation
von Akupunkturpunkten – 355

31.4 Die GERAC-Akupunktur und Akupunkturqualität – 356


31.4.1 GERAC-Punktauswahl – 356

Literatur – 357

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_31, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
352 Kapitel 31 · Akupunktur bei Rückenschmerzen

Die Akupunktur hat sich in Deutschland zu einer Standard- zu bewegen und das Blut stärken. Gegen die »feuchte Kälte«
therapie entwickelt. Erkrankungen des Bewegungsapparats wird Moxibustion, die Erwärmung von Akupunkturpunkten,
sind das Hauptindikationsgebiet der Akupunktur. Die Nach- eingesetzt.
weislage zur Wirksamkeit der Akupunktur bei chronischem Nach der 1. Behandlung berichtet Herr U. über eine leichte
Kreuzschmerz entspricht der Evidenzklasse 1a für chroni- Schmerzverstärkung, nach 3 Sitzungen bessern sich die
schen Kreuzschmerz. Akuter Kreuzschmerz, HWS-Syndrome, Beschwerden, nach 6 Sitzungen gibt er eine Schmerz-
Radikulitiden, Failed-back-Syndrome lassen sich ebenfalls reduktion von 80 % an. Weitere 9 Akupunkturen stabilisieren
mit Akupunktur gut behandeln; hierfür gibt es weniger das Therapieergebnis. Nach der chinesischen Medizin soll
Studien, die Empfehlung beruht auf Expertenkonsens. Die Herr U. den Rücken etwa 3 Monate normal bewegen, aber
Akupunktur ist eine sichere Therapiemethode. Langfristige wenig belasten, anschließend sollte er als Ausgleich zu
Therapieerfolge bis hin zur Ausheilung können bei chroni- seiner sitzenden Tätigkeit weiterhin 2- bis 3-mal pro Woche
schen Erkrankungsverläufen erzielt werden. Entscheidend Sport treiben. Er sollte Kälte eher meiden und in seiner Er-
für den Therapieerfolg ist die Einhaltung definierter nährung Zucker reduzieren. 3 Monate nach der Behandlung
Qualitätskriterien. Die Akupunkturtherapie lässt sich gut ist Herr U. vollständig schmerzfrei, die Nachbeobachtung
in multimodale Therapieprogramme integrieren. beträgt 5 Jahre.

Fallbeispiel – Akupunktur bei chronischem


Kreuzschmerz 31.1 Geschichte und heutige Bedeutung
Herr U. leidet seit 9 Jahren an chronischem linksseitigem der Akupunktur
Kreuzschmerz. Er leitet eine Werbeagentur, und sitzende
31 Tätigkeiten machen einen Großteil seiner Arbeitszeit aus. In Um die Zeitenwende hat sich die Akupunktur in China
seiner Freizeit spielt er Fußball. Der Kreuzschmerz plagt ihn zusammen mit der traditionellen chinesischen Medizin
hauptsächlich im Liegen, Sitzen und bei längerem Stehen. (TCM) unter Einfluss konfuzianischer Ideensysteme ent-
Bisher wurden die Beschwerden mit den alterstypischen wickelt [14]. Damit ist die Akupunktur eine empirisch und
Verschleißerscheinungen der kleinen Wirbelgelenke sowie historisch begründete Therapiemethode, deren Wirksam-
mehreren Bandscheibenvorwölbungen und einem kleinen keit bei verschiedenen Krankheitsbildern und Krankheits-
Prolaps links median in Höhe L5–S1 erklärt. Nichtsteroidale stadien gewissermaßen in einem »unkontrollierten Feld-
Analgetika und muskelrelaxierende Medikamente nahm er versuch« – im täglichen Einzelexperiment von Arzt und
fast täglich ein, sporadisch unterstützt von Krankengymnas- Patient – über 2.000 Jahre lang beobachtet werden konnte.
tik und Rückenschule. Bei Schmerzverstärkung erfolgten Dass sie sich unter diesen Beobachtungsbedingungen bis
Kortisoninjektionen, zuletzt unter CT-Kontrolle an die klei- heute gehalten hat, spricht eher für einen therapeutischen
nen Wirbelgelenke. Das half jeweils nur für etwa 3 Monate. Nutzen und gegen ausgeprägte unerwünschte Wirkungen.
Die orthopädische Untersuchung zeigt eine druckdolente, In den letzten 20 Jahren hat sich die Akupunktur in der
hypertone paravertebrale Muskulatur im unteren LWS- westlichen Medizin, und hier besonders in Deutschland,
Bereich links, einen funktionellen leichten Beckenhochstand als verbreitete Therapieform etabliert. Anfang der 1980er
links, eine endgradig reduzierte Inklination und Seitneigung Jahre wurde sie noch als alternative Außenseitermedizin
der LWS, neurologisch keine Auffälligkeiten. Die Ergebnisse stigmatisiert, doch heute zählt sie bei Ärzten und Patienten
der bildgebenden Diagnostik entsprechen den anamnesti- zu den beliebtesten Therapieformen. So wenden nach
schen Angaben. Bei der Untersuchung nach der chinesi- Schätzungen der Kassen mindestens 12.000 Ärzte (10 %
schen Medizin fällt ein druckdolenter, 5 mm großer Bereich aller niedergelassenen Ärzte) die Methode in Deutschland
am oberen Iliumrand links auf, tiefer Druck an dieser Stelle an. Nachdem große von den Kassen finanzierte klinische
provoziert den für Herrn U. typischen dumpfen, bohrenden Studien die Wirksamkeit der Akupunktur für chronischen
Schmerz. Die Beschwerden werden durch Ruhe, Kälte und Kreuzschmerz und Gonarthrose nachweisen konnten, ist
Feuchtigkeit verschlimmert, Bewegung und Wärme helfen. die Akupunktur für diese Krankheitsbilder seit 2007
Der Puls ist unauffällig, die Zunge zeigt einen geringen Kassenleistung. Die Kosten der gesetzlichen Kassen für
weißlichen Belag bei gering geschwollenem Zungenkörper. Akupunkturbehandlungen liegen zwischen 300 und
Bei Herrn U. besteht eine sog. Blut- und Qi-Stagnation im 700 Mio. Euro (1,0–2 % des Arzneimittelbudgets) [3].
Blasenmeridianbereich sowie das Syndrom »feuchte Kälte«
> Das Hauptindikationsgebiet der Akupunktur sind
der Niere.
die Erkrankungen des Bewegungsapparats. Mehr
Insgesamt werden 14 Punkte intramuskulär genadelt, ver-
als jeder zweite niedergelassene Orthopäde bietet
teilt über Rücken und Bein. Am Schmerzpunkt am Becken-
Akupunktur an.
kamm wird mit einer speziellen Nadeltechnik mehrfach das
Periost gereizt. Behandlungsziel ist, das Qi (Lebensenergie)
31.2 · Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Akupunktur
353 31
31.2 Wissenschaftliche Erkenntnisse zes zu empfehlen sei [15]. Ernst et al. hingegen kamen 1998
zur Akupunktur in ihrer Metaanalyse der im Wesentlichen gleichen Arbei-
ten zum entgegengesetzten Ergebnis: Die Akupunktur sei
31.2.1 Grundlagenwissenschaft verschiedenen Kontrolltherapien deutlich überlegen und
stelle einen vielversprechenden Therapieansatz dar [4].
Akupunkturpunkte liegen meist (71 %) in Bereichen von Die unbefriedigende Studiensituation änderte sich
Triggerpunkten. Dass in der Akupunkturanalgesie typi- erstmals, als durch das öffentliche Förderprogramm
sche Druck- und Wärmegefühl (DeQi) wird durch manu- »Unkonventionelle Medizinische Richtungen« größere,
elle oder elektrische Stimulation der Nadel erzeugt und methodisch hochwertigere Studien in Deutschland er-
entspricht einer Reizung afferenter Fasern der Gruppe II möglicht wurden. Hierdurch wurde die Nachweislage zum
und III. Auf segmentaler Ebene kommt es zu einer Modu- HWS-Syndrom und zu chronischem Kreuzschmerz deut-
lation der Schmerzwahrnehmung durch Ausschüttung lich verbessert [7, 8, 10]. Leibing et al. kamen in einer ver-
von Dynorphin und Enkephalin. Enkephaline stimulieren blindeten RC-Studie an 150 Patienten zum Ergebnis, dass
weiterhin das absteigende Raphesystem, das durch die eine schematisierte Akupunktur ohne Nadelung individu-
Monoamine Serotonin und Noradrenalin die Schmerz- eller Ahshi-Punkte (Locus-dolendi-Punkte) zwar einer
weiterleitung auf segmentaler Ebene unterdrückt. Im Be- krankengymnastischen Therapie, nicht aber einer Sham-
reich Hypophyse und Hypothalamus werden β-Endorphine Akupunktur überlegen ist [8]. Eine eigene RC-Studie an
ins Blut und in den Liquor freigesetzt; dies kann die analge- 186 verblindeten Patienten konnte zeigen, dass eine zusätz-
tische Fernwirkung der Akupunktur erklären. Die Evidenz lich hinzugefügte Akupunkturtherapie beim üblichen
für die Vermittlung der Akupunkturwirkung über Endor- konservativen Therapieprogramm einer Reha-Klinik die
phine wird als stark eingeschätzt, weitere Arbeiten sind für Ergebnisse bei chronischem Kreuzschmerz signifikant
die Rolle des Serotonins und des Noradrenalins zu fordern, verbessert [10].
über die Rolle der Hypophyse bei der Akupunkturanalge- Aufgrund der in den 1990er Jahren zunehmenden Ver-
sie besteht noch Unsicherheit. Damit kann die wissen- breitung der Akupunktur und der damit ansteigenden
schaftliche Nachweislage für die lokale und die Ganz- Kosten verpflichtete der Bundesausschuss der Ärzte und
körperwirkung der Akupunktur als gut angesehen werden, Krankenkassen im Oktober 2000 die GKV, die Akupunk-
für eine meridiangebundene Akupunkturwirkung fehlt sie turbehandlung nur noch dann zu bezuschussen, wenn im
bisher [13]. Zu beachten ist, dass die Halbwertszeit von Rahmen von Modellprojekten die Wirksamkeit der Aku-
Endorphinen 5–20 min beträgt, im subkutanen Gewebe je punktur bei den volkswirtschaftlich wichtigen Erkrankun-
nach Resorptionsfähigkeit geringfügig länger. Somit er- gen chronischer Kreuzschmerz, Gonarthroseschmerz,
klärt die Endorphinhypothese eine kurzfristige analge- Spannungskopfschmerz und Migräne wissenschaftlich
tische, nach neuen Untersuchungen auch eine antiin- erforscht wird. Vor diesem Hintergrund bildeten sich
flammatorische Wirkung. Die klinische Anwendung der 2 Arbeitsgruppen, die die wissenschaftliche Ausgestaltung
Akupunktur zielt jedoch auf die Erreichung von Langzeit- der Modellvorhaben übernahmen:
wirkungen bei chronischen Erkrankungen. Eine solche 4 GERAC, »German Acupuncture Trials«, ein For-
Langzeitwirkung wird bis jetzt durch das Endorphin- schungsverbund von 4 Universitäten (Bochum, Essen,
system nicht erklärt. Heidelberg, Mainz) unter Leitung der Ruhr-Univer-
sität Bochum,
4 ART, »Acupuncture Randomized Trials«, unter
31.2.2 Klinische Nachweislage Leitung der Berliner Charitè und des Zentrums
zur Akupunktur bei Kreuzschmerz für naturheilkundliche Forschung, Universität
München.
Bis in die 1990er Jahre hinein war die Nachweislage zur
Akupunktur eher dürftig. Einzelne, kleinere klinische GERAC und ART haben jeweils nationale, multizentri-
Studien existierten zwar, waren aber mit solchen methodi- sche, randomisierte, verblindete Studien entwickelt. Hier-
schen Mängeln behaftet, dass sich daraus keine sicheren bei wurde eine teilindividualisierte Akupunktur an chine-
Aussagen für oder gegen die Wirksamkeit der Akupunktur sischen Punkten (Verum) gegenüber einer Akupunktur an
bei Kreuzschmerz ableiten ließen. So schlossen 1999 van nichtchinesischen Punkten (Sham) und einer leitlinien-
Tulder et al. in einer systematischen Cochrane-Recherche orientierten Standardtherapie (GERAC) oder gegenüber
von 11 kontrollierten randomisierten Studien, dass sich einer Warteliste (ART) überprüft.
eine Wirksamkeit der Akupunktur für den chronischen Für die GERAC-Studien wurden über 550 Ärzte
Kreuzschmerz nicht nachweisen lässt und somit die Aku- deutschlandweit nach bestimmten Qualitätskriterien
punktur nicht zur Therapie des chronischen Kreuzschmer- ausgewählt, die über 3.500 Patienten behandelten. Die
354 Kapitel 31 · Akupunktur bei Rückenschmerzen

Ergebnisse zeigten, dass bei chronischem Kreuzschmerz 31.3 Akupunkturtherapie in der Praxis
11 Akupunkturbehandlungen innerhalb von 6 Wochen in
der Langzeitwirkung nach 6 Monaten einer konventionel- 31.3.1 Therapieziel und Diagnostik
len Standardtherapie signifikant überlegen sind [6]. Hier- in der chinesischen Medizin
bei ging die Standardtherapie deutlich über die in Deutsch-
land übliche Versorgung chronischer Kreuzschmerzpa- Nach der chinesischen Medizin bedeutet Gesundheit das
tienten hinaus. Die Akupunktur führte zu einem geringeren dynamische Gleichgewicht von Yin und Yang sowie ein
Verbrauch an Medikamenten und an weiteren Therapie- harmonisch fließendes Qi. Disharmonie von Yin und Yang
formen im Nachuntersuchungszeitraum als unter der und eine Blockade des Qi führen zu Krankheit. Therapeu-
Standardtherapie. Ein signifikanter Unterschied zwischen tisches Ziel der Akupunkturbehandlung ist es, den Qi-Fluss
einer Verum- und einer Sham-Akupunktur konnte nicht in den Meridianen, Muskeln, Sehnen und den Organen zu
gezeigt werden. Die ART-Studien, an denen 70 Ärzte und harmonisieren und Yin und Yang ins Gleichgewicht zu
etwas über 1.000 Patienten beteiligt waren, ergaben beim bringen. Einer Akupunkturbehandlung geht eine Diagnos-
chronischen Kreuzschmerz ein ähnliches Ergebnis [1]. Die tik nach Kriterien der chinesischen Medizin voraus. Hier-
Überlegenheit der Akupunktur über die Standardtherapie bei unterscheidet sich der Fokus der Anamnese und der
bei gleichzeitig nicht nachgewiesener Punktspezifität führ- Untersuchung in vielen Aspekten von der westlichen
te national und international zu anregenden Diskussionen Medizin. Bei Erkrankungen des Bewegungsapparats sind
über den Anteil psychologischer Faktoren (Erwartungs- u. a. folgende Punkte wichtig:
haltung, Placeboanteil) an der Akupunkturwirkung wie
auch über den Wert oder Schaden der Standardtherapie,
31 die ja tatsächlich schlechter als eine Sham-Akupunktur-
Anamnese und Diagnostik bei Erkrankungen
des Bewegungsapparats (TCM)
Behandlung abschnitt.
5 Zeitdauer und möglicher Auslöser der Erkrankung
In beiden Studien, GERAC und ART, erwies sich die
5 Genaue Lokalisation der Beschwerden und Zuord-
Akupunktur als ein äußerst sicheres medizinisches Ver-
nung zu den betreffenden Meridianen
fahren. So fand man bei 190.000 Patienten – dies entspricht
5 Schmerzqualität und Beeinflussung der Beschwer-
ca. 1,9 Mio. Akupunkturbehandlungen – selten leichte un-
den durch Ruhe oder Bewegung sowie klimatische
erwünschte Wirkungen wie Hämatome am Einstichort
(Hitze, Kälte, Feuchtigkeit u. a.) und/oder
(5,1 %), Symptomverschlechterung (1,3 %), vasovagale
psychische Faktoren (Angst, Sorge, Hektik u. a.)
Synkopen während der Behandlung (0,7 %) und schwere
5 Ernährungsweise
unerwünschte Wirkungen wie z. B. Pneumothorax maxi-
5 Zungendiagnostik, in selteneren Fällen auch die
mal mit einer Häufigkeit von 1 auf 300.000 Behandlungen
Pulsdiagnostik
[2]. Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass
eine Akupunkturbehandlung bei chronischem Kreuz-
schmerz unter gesundheitsökonomischen Aspekten kosten- Die Befunde werden anhand der sog. 4 diagnostischen Kri-
effektiv ist. terien (Ba Gang) analysiert: Yin/Yang, Leere/Fülle, Kälte/
> Die GERAC- und ART-Studien haben international
Hitze, Innen/Außen. Hieraus ergibt sich die Auswahl der
die Bedeutung der Akupunktur neu definiert. In
Akupunkturpunkte. Ähnlich wie in der westlichen Medizin
Deutschland führten sie zur Anerkennung der
gibt es Erkrankungsmuster mit hoher oder niedriger Varianz
Akupunktur als Kassenleistung für die Indikationen
in der möglichen Interpretation der diagnostischen Daten
chronischer Kreuzschmerz und chronische Gonarth-
und in der daraus folgenden Auswahl der Akupunkturpunk-
rose. International bestätigen neuere systematische
te. Weitere Ausführungen hierzu finden sich in den meisten
Metaanalysen, die die Daten der deutschen Aku-
Lehrbüchern der TCM (s. [5] und weitere Literatur).
punkturstudien einbeziehen, jetzt die Wirksamkeit
Insbesondere bei chronischen Kreuzschmerzen
der Akupunktur bei chronischem Kreuzschmerz,
können auch chinesische Syndrommuster eine Rolle spie-
zeigen die Kosteneffektivität und empfehlen eine
len. Hierbei handelt es sich um Muster von Symptomen,
Aufnahme in die europäischen Leitlinien zur
die – oft anatomisch und physiologisch unabhängig – zur
Behandlung des chronischen Kreuzschmerzes
gleichen Zeit auftreten. Ein Beispiel für ein chinesisches
[9, 16].
Syndrommuster bei chronischem Kreuzschmerz ist die
Kombination von breitflächigem Rückenschmerz, Knie-
gelenkschmerz mit Schwellung der Gelenke, Verschlechte-
rung der Beschwerden durch Feuchtigkeit, Kälte und
Ruhe, Besserung durch leichte Bewegungen und Wärme;
weiterhin von allgemeiner Antriebsschwäche, diffuser
31.3 · Akupunkturtherapie in der Praxis
355 31

. Tab. 31.1 Yin-Yang-Zuordnungen in der Schmerztherapie . Tab. 31.2 Drei Grundbegriffe der chinesischen Medizin

Yin Yang Qi Postulierte Lebensenergie; fließt in den Meridianen

DeQi Ankommen der Energie; beschreibt das lokale


Diffus Umschrieben
Druck- und Wärmegefühl bei Nadelung eines
Tief Oberflächlich Punkts
Dumpf Spitz Ahshi Ausdruck der chinesischen Medizin für einen
Fixiert Wandernd Locus-dolendi-Punkt

Zusammenziehend Ausstrahlend
Kalt Heiß
Blau Rot (mindernden, ableitenden) und neutralen. Zusätzlich zur
Chronisch Akut Nadelstimulation wird bei Kreuzschmerz häufig die Moxi-
bustion und die Elektrostimulation eingesetzt. Hierbei
werden Akupunkturpunkte mit brennendem Beifußkraut,
das auf die Nadel aufgesetzt wird, erwärmt. Die Elektrosti-
Ängstlichkeit, kalten Extremitäten, insbesondere kalten mulation, zumeist mit einer niedrigen Frequenz unter
Füßen, Hörstörungen, Tinnitus, Schwindel, verminderter 10 Hz und einer schwachen Intensität, kann bei lokalisier-
Libido. Dies Syndrom wird als »Nieren-Yang-Schwäche ten Schmerzen zusätzlich angewandt werden.
mit Milzpankreas-Nässe« bezeichnet. Die chinesischen Bei akuten Erkrankungen reichen häufig 1–6 Thera-
Syndrome ermöglichen die Behandlung einer Erkrankung piesitzungen, bei chronischen Erkrankungen sind in der
auch dann, wenn die anatomische Ursache unklar ist. Zur Regel 10–15 Sitzungen erforderlich. Zumeist kommt es
weiteren Darstellung der Syndrome wird auf die Lehr- nach Ende der Akupunktur über mindestens 3 Monate
bücher der traditionellen chinesischen Medizin verwiesen. hinweg zu einer weiteren Nachheilung.
Die . Tab. 31.1 zeigt die für die Schmerztherapie wich- Eine spezielle Form der Akupunktur, die wir aus der
tige Yin-Yang-Zuordnungen. klassischen chinesischen Akupunktur weiterentwickelt
haben, ist die Neuroakupunktur. Diese wird hauptsächlich
zur Behandlung von Radikulitiden eingesetzt. Bei der Neu-
31.3.2 Prinzipien der Auswahl und roakupunktur werden die Akupunkturnadeln mit geringe-
Stimulation von Akupunkturpunkten rem lokalen Reiz, oberflächlich und weit peripher an Bein
oder Arm gesetzt. Mit 10–20 Behandlungen kann mit der
Bei Kreuzschmerzen erfolgt die Auswahl der Akupunktur- Neuroakupunktur eine Ausheilung von Ischialgien bei
punkte primär nach den Meridiantheorien. Eine typische nicht zu großen Bandscheibenvorfällen erreicht werden.
Kombination besteht hiernach meist aus folgenden
Punkten: Fallbeispiel Neuroakupunktur
4 Ahshi-Punkte (Locus dolendi; s. auch . Tab. 31.2); Anamnese: Herr R., 47 Jahre, Unternehmensberater, leidet
4 Nahpunkte: Akupunkturpunkte der über das er- seit 9 Monaten an tiefem Kreuzschmerz, der an der Außen-
krankte Areal hinwegziehenden oder in der Nähe seite des rechten Beins bis in den Fuß ausstrahlt. Sitzen und
liegenden Meridiane; Liegen sind besonders schmerzhaft. Geschäftsreisen macht
4 Fernpunkte, die entweder zu diesen Meridianen gehö- er nur im Zug – stehend –, auch Konferenzen verbringt er im
ren oder auf topografisch analogen Meridianen liegen. Stehen. Auf den Kernspinaufnahmen erkennt man einen
größeren, rechts medianen Bandscheibenvorfall in Höhe
Ergänzt werden diese Punkte durch solche, denen man L4–L5, der die rechte Nervenwurzel imprimiert. Neuro-
eine symptomatische Wirkung (z. B. analgetisch oder rela- chirurg und Orthopäde raten nach zuletzt erfolgloser
xierend) oder eine Wirkung auf bestimmte Gewebe (z. B. konservativer Therapie zur Diskotomie. In dieser Situation
Sehnen, Muskeln, Knochen) zuschreibt. entscheidet sich Herr R. für einen Therapieversuch mit der
Akupunkturpunkte werden je nach lokaler Anatomie Neuroakupunktur: 8 Sitzungen bringen eine 50%ige Besse-
unterschiedlich tief intramuskulär oder bis zum Periost rung des Beinschmerzes. Danach wird unterstützend ein-
gestochen. An allen Punkten sollte durch eine entspre- malig ein Kortikoid injiziert. Nach insgesamt 16 Sitzungen
chende Stichtechnik und Stichtiefe das sog. DeQi-Gefühl konnte eine 80%ige Besserung erreicht werden. Die rest-
(. Tab. 31.2) ausgelöst werden. Man unterscheidet eine lichen Beschwerden klingen innerhalb von 3 Monaten nach
den Energiefluss, also das Qi, tonisierende (stärkende, Ende der Akupunkturbehandlungen ab, und der Patient ist
fördernde) Stimulationstechnik von einer sedierenden bis heute über Jahre beschwerdefrei.
356 Kapitel 31 · Akupunktur bei Rückenschmerzen

Du20
8
31.4 Die GERAC-Akupunktur 18
19

und Akupunkturqualität 8
9 18
10
20
11 19 9 17
Für die Entwicklung der Akupunkturtherapie der GERAC- 19
18
Studien wurden im Konsens mit führenden nationalen SJ 17
12
20 16
10 15
16
und internationalen Experten sowie der maßgeblichen Dü 17

Literatur Leitlinien zur Akupunkturtherapie erarbeitet [11, Gb 21


12]. Hieraus ergeben sich generell folgende Anforderun- 15 14
15 14

11 13
gen an eine qualitätvolle Akupunkturbehandlung: SJ 14
12
41 12
4 Die Indikationsstellung für eine Akupunkturtherapie
10 13
42 13 12

erfolgt unter Einbeziehung einer fachorthopädischen 11


43 14

Diagnostik. Die Akupunktur wird nicht als Mono- Dü 9 44 15 11

therapie, sondern meist in Kombination mit anderen 14 13 45 16 10

bewährten orthopädischen Therapieverfahren ein- 46 17 9

gesetzt. 12
47 18 8

4 Einordnung des Krankheitsbilds nach den Kriterien


13
48 19 7

49 20 6
der chinesischen Medizin: Blut und Qi sowie nach 12
11
50 21
10
den Ba-Gang-Kriterien Yin und Yang, Leere und Di 11 25 51 22 5

52 23 4
Fülle, Kälte und Hitze, innere und äußere Störung. 10 24

4 Genaue Palpation der Ahshi-Punkte (Locus-dolendi- 9 25 3

31 Punkte) und Zuordnung zu den betreffenden


8
9
26
27 31

Akupunkturmeridianen. 7
7 53 28 32
8
4 Bei chronischen Erkrankungen mit Beteiligung
29 33
6 6 30 34 2
7 54
mehrerer Körperregionen wird die Diagnostik durch SJ 5 35

eine chinesische Syndromdiagnostik, einschließlich 5 4


6
5
Gb 30 Du1

4
Zungen- und ggf. Pulsdiagnostik, ergänzt. Di 4

4 Erstellung eines Therapieplans mit Festlegung von in 3


SJ 3 Dü 3 Bl 36
2 2
2
der Regel 10–15 Akupunkturpunkten und der vor-
aussichtlichen Anzahl und Frequenz der Akupunk- Dü 1

tursitzungen (7 Abschn. 31.3.2). Neben der Punkt- Di 1


Pe 9
SJ 1

Bl 37
auswahl sind die Stichtiefe sowie die Art und Inten- 31

sität der Nadelstimulation – manuell, durch Wärme 32

(Moxibustion), Schröpfköpfe oder elektrisch – zu


bestimmen.
33
4 Die Punktauswahl erfolgt zuerst nach den Meridian- 38
Bl 40
theorien. Bei pathologischen Befunden in den chine- P. a. M. 134
39 10 Le 8

sischen Syndromen werden zusätzliche energetische Gb 34


55
7 MP 9

Punkte eingesetzt. Ein schriftlicher Ernährungsplan


nach Erkenntnissen der chinesischen Medizin und MP 8

56
ggf. eine Rezeptur entsprechend der chinesischen
Phytotherapie können die Akupunktur ergänzen. 57

4 Alle therapeutischen Anwendungen werden 58


36 35
dokumentiert – insbesondere Akupunkturpunkte
und Stimulationstechnik. 37 9

38
4 Das Therapieergebnis wird evaluiert. 39 59

+ Bl 60
40
31.4.1 GERAC-Punktauswahl Gb 41
Gb 44 43 42
62

61
Bl 67 66 63
65 64

Zur Akupunktur des Kreuzschmerzes hat sich die GERAC-


. Abb. 31.1 Wichtige Akupunkturzonen bei Kreuzschmerz und der
Akupunktur bewährt, die auch dem Konsens internationa- Blasenmeridian. Bl Blasenmeridian; Ni Nierenmeridian; Gb Gallen-
ler Experten zur Kreuzschmerzakupunktur entspricht [11, blasenmeridian; Ma Magenmeridian; Dü Dünndarmmeridian; Du
12] (. Abb. 31.1): Du-Meridian; Mp Milzpankreasmeridian
Literatur
357 31
4 Obligatorisch: BL 23, BL 40, BL 60, NI 3 10. Molsberger AF, Mau J, Pawelec DB, Winkler J (2002) Does acu-
4 Mindestens 6 Ahshi-/Nahpunkte, darunter häufig Bl puncture improve the orthopedic management of chronic low
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follow up. Pain 99(3):579–587
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der Milz MP 9, BL 20. Blut-Qi-Blockade BL 17. Med 12(8):733–742
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4 Moxa bei Kältestörungen, oft auf NI 3, DU 4.
ture for chronic low back pain: an international expert survey.
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Praxistipp
13. Pomeranz B, Berman B (2008) Wissenschaftliche Grundlagen der
Akupunktur. In: G Stux, N Stiller, B Berman, B Pomeranz (Hrsg)
Die Nadeln sollten intramuskulär, an den Ahshi-Punk- Akupunktur – Lehrbuch und Atlas, 7. Aufl. Springer, Berlin
ten bis zum Periost eingestochen werden. Es sollten 14. Unschuld PU (1997) Chinesische Medizin. CH Beck, München
nicht weniger als 6, in der Regel 10–15 Sitzungen er- 15. van Tulder MW, Cherkin DC, Berman B, Lao L, Koes BW (1999) The
folgen, jeweils 2 Sitzungen pro Woche. Die Therapie effectiveness of acupuncture in the management of acute and
chronic low back pain. A systematic review within the framework
sollte mindestens 25 min je Sitzung dauern.
of the Cochrane Collaboration Back Review Group. Spine
24(11):1113–1123
16. Yuan J, Purepong N, Kerr DP, Park J, Bradbury I, McDonough S
(2008) Effectiveness of acupuncture for low back pain: a system-
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Irnich D, Walther HU, Melchart D, Willich SN (2006) Acupuncture
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2. Endres HG, Molsberger A, Lungenhausen M, Trampisch HJ (2004)
An internal standard for verifying the accuracy of serious adverse
event reporting: the example of an acupuncture study of 190,924
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3. Endres HG, Schaub C, Molsberger A, Haake M, Streitberger K,
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6. Haake M, Muller HH, Schade-Brittinger C, Basler HD, Schafer H,
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10.1007/s00586-010-1676-3
359 32

Multimodale Schmerztherapie
Konzepte und Indikation

B. Arnold, T. Brinkschmidt, H.-R. Casser, I. Gralow, D. Irnich, K. Klimczyk,


G. Müller, B. Nagel, M. Pfingsten, M. Schiltenwolf, R. Sittl, W. Söllner

32.1 Wissenschaftliche Grundlagen – 360

32.2 Aktuelle Versorgungssituation – 361

32.3 Rechtliche Grundlagen – 361

32.4 Kriterien der Patientenauswahl – 362

32.5 Erhöhtes Risiko der Schmerzchronifizierung – 362

32.6 Fortgeschrittene Chronifizierung – 363

32.7 Therapiemotivation – 364

32.8 Ausschlusskriterien – 364

32.9 Fazit für die Praxis – 365

Literatur – 366

B. Arnold, T. Brinkschmidt, H.-R. Casser, I. Gralow, D. Irnich, K. Klimczyk, G. Müller, B. Nagel, M. Pfingsten,
M. Schiltenwolf, R. Sittl, W. Söllner (2009) Multimodale Schmerztherapie. Konzepte und Indikation. Schmerz
23:112–120. DOI 10.1007/s00482-008-0741-x. © Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes. Published
by Springer Medizin Verlag – all rights reserved 2009

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_32, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
360 Kapitel 32 · Multimodale Schmerztherapie

Als »multimodale Schmerztherapie« wird eine inhaltlich eng


abgestimmte multidisziplinäre und integrative Behandlung Definition »Multimodale Schmerztherapie«
in Kleingruppen bezeichnet. Eingebunden sind somatische, Als »Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie«
körperlich und psychologisch übende sowie psychothera- wird die gleichzeitige, inhaltlich, zeitlich und in der
peutische Verfahren. Bei chronischen Schmerzsyndromen Vorgehensweise aufeinander abgestimmte umfassen-
mit komplexen körperlichen, seelischen und sozialen Folgen de Behandlung von Patienten mit chronifizierten
ist eine Therapieintensität von mindestens 100 h notwendig. Schmerzsyndromen bezeichnet, in die verschiedene
Unter diesen Voraussetzungen ist das Verfahren anderen somatische, körperlich übende, psychologisch übende
Therapiearten nachweislich überlegen, und im Falle eines und psychotherapeutische Verfahren nach vorgege-
Versagens monodisziplinärer und/oder ambulanter Maß- benem Behandlungsplan mit identischem, unter den
nahmen haben gesetzlich Versicherte einen rechtlichen Therapeuten abgesprochenem Therapieziel ein-
Anspruch darauf. Eine medizinische Indikation besteht bei gebunden sind. Die Behandlung wird von einem
Patienten mit bereits chronifizierten Schmerzsyndromen, Therapeutenteam aus Ärzten einer oder mehrerer
aber auch bei erhöhtem Chronifizierungsrisiko mit dem Ziel, Fachrichtungen, Psychologen bzw. Psychotherapeu-
den Chronifizierungsprozess aufzuhalten. Relative Kontra- ten und weiteren Disziplinen wie Physiotherapeuten,
indikationen sind fehlende Veränderungsmotivation, ausge- Ergotherapeuten, Mototherapeuten und anderen in
prägte psychische Störungen, schwerere Psychopathologien Kleingruppen von maximal 8 Patienten erbracht. Un-
und Suchtproblematik. Die Versorgungslage ist in der BRD ter ärztlicher Leitung stehen die beteiligten Therapie-
derzeit ungenügend. formen und Disziplinen gleichberechtigt nebenein-
ander. Obligat ist eine gemeinsame Beurteilung des
Der Begriff »Multimodale Schmerztherapie« erfreut sich Behandlungsverlaufs innerhalb regelmäßiger vorge-
zur Beschreibung schmerztherapeutischer Versorgung planter Teambesprechungen unter Einbindung aller
32 großer Beliebtheit, allerdings weisen die dem Begriff von Therapeuten.
den Verwendern zugewiesenen Inhalte erhebliche Unter- Zentrales Behandlungsziel ist die Wiederherstellung
schiede auf [1, 22]. Meist wird übersehen, dass eine offizi- der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit
elle Definition des Verfahrens »Multimodale Schmerzthe- (»functional restoration«) mit Steigerung der Kontroll-
rapie« im Prozedurenkatalog OPS-301 mit der Ziffer fähigkeit und des Kompetenzgefühls der Betroffenen,
8-918.x vorliegt, der für eine interdisziplinäre Behandlung die Vorgehensweise ist ressourcenorientiert.
neben der gleichzeitigen Anwendung unterschiedlicher
übender Therapieverfahren zumindest eine psychothera-
peutische Fachrichtung als weitere Disziplin zusätzlich Die folgenden Aussagen und Angaben beziehen sich auf
zum Schmerztherapeuten und die Durchführung von Therapieformen, die diese Anforderungen erfüllen.
Teambesprechungen fordert. Zudem muss als Vorausset-
zung für die Anwendung der Prozedurenziffer ein multi-
disziplinäres Aufnahmeverfahren, ebenfalls unter Einbin- 32.1 Wissenschaftliche Grundlagen
dung psychotherapeutischer Kompetenz und mit interdis-
ziplinärer Teambesprechung, zur Therapieplanung erfolgt Metaanalysen und systematische Reviews (die meisten
sein. Diese Definition folgt der Erfordernis interdisziplinä- davon zu Rückenschmerzen) belegen, dass verschiedene
rer Zusammenarbeit. Demgegenüber bedienen sich man- medizinische Empfehlungen und Behandlungsverfahren
che Autoren und Anwender eher einer Vielkomponen- zur kurzfristigen Verminderung von Schmerzen wirkungs-
tentherapie ohne interdisziplinäre Abstimmung, was zu voll sind, wie [20, 30]:
Schwierigkeiten bei der vergleichenden Bewertung der 4 aktiv zu bleiben,
Studienergebnisse führen kann. 4 pharmakologisch-analgetische Behandlung,
Trotz dieses bereits erheblichen Leistungsumfangs bil- 4 physikalisch-medizinische Maßnahmen,
det die Prozedurenziffer die Struktur und Prozessqualität 4 Entspannungsübungen und
intensiver multimodaler Blockprogramme, die den Anfor- 4 Verhaltenstherapie.
derungen evidenzbasierter Schmerztherapie mit einem
Minimalumfang von mindestens 100 Behandlungsstun- Länger anhaltende Effekte im Sinne einer Verbesserung
den [14] entsprechen, nur ungenügend ab. Deshalb hat die der Lebensqualität und der Wiederherstellung der Arbeits-
Ad-hoc-Kommission »Interdisziplinäre Multimodale fähigkeit sind jedoch nur für multimodale interdisziplinä-
Schmerztherapie« der DGSS eine Definition des Begriffs re Behandlungsmaßnahmen nachgewiesen [8, 14, 44, 45].
»Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie« erarbei- Zwei methodisch hochqualitative Studien aus Skandinavi-
tet (7 Definition): en zeigten, dass klinisch relevante Wirksamkeitsnachweise
32.3 · Rechtliche Grundlagen
361 32
nur für intensive multimodale Programme (>100 h Be- den nächst intensiveren Versorgungssektor wird dabei ab-
handlung) nachgewiesen werden können, nicht jedoch für hängig gemacht von
Programme mit niedriger Therapieintensität [3, 17]. Basie- 4 unzureichender Effektivität einer ambulanten
rend auf diesen Studien werden in europäischen und US- (z. B. unimodalen) Behandlung,
amerikanischen Practice Guidelines für die Behandlung 4 der Schwere oder Komplexität des Krankheitsbildes,
chronischer Rückenschmerzen multimodale und interdis- die die besonderen Ressourcen einer Krankenhaus-
ziplinäre Therapieprogramme als Behandlungsmaßnahme versorgung erforderlich machen (z. B. wesentliche
empfohlen, wenn Selfcare-Optionen und monodiszipli- psychosoziale Störung mit bedrohtem oder manifest
näre Therapien nicht erfolgreich waren [34, 44]. gestörtem Lebensvollzug und/oder Medikamenten-
> Die enge und regelmäßige Abstimmung zwischen
fehlgebrauch),
den therapeutischen Disziplinen und die hohe
4 einem deshalb erforderlichen erhöhten ärztlichen,
Therapieintensität sind wesentlicher Grund für die
therapeutischen und/ oder pflegerischen Aufwand.
hohe Effektivität multimodaler Schmerztherapie.
Dabei ist festzuhalten, dass Versicherte unter diesen Be-
dingungen einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenhaus-
behandlung haben (§ 39 Abs. 1 SGB V). Kostengründe
32.2 Aktuelle Versorgungssituation dürfen diesem Recht nicht entgegenstehen.
Der formale Ablauf entspricht dem üblichen Vorgehen
Vier Bundesländer (Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg bei einer (teil-)stationären Krankenhauseinweisung. Die
und Saarland) weisen multidisziplinär besetzte schmerz- schriftliche Verordnung von Krankenhausbehandlung er-
therapeutische Einrichtungen im Krankenhausbedarfs- folgt durch den niedergelassenen Arzt, der aufnehmende
plan des Landes aus. Facharzt im Krankenhaus bestätigt die Notwendigkeit
Inzwischen (2016) bestehen in Bayern bereits 23 mul- einer Krankenhausbehandlung. Für die notwendige Trans-
tidisziplinär besetzte schmerztherapeutische Einrich- parenz der Patientenauswahl für die Kostenträger und
tungen mit teilstationärem Versorgungsangebot, davon unter dem Gesichtspunkt der Krankenhausleistungsab-
18 außerhalb von Universitätskliniken. Weitere Einrich- rechnung nach dem G-DRG-System soll dabei durch die
tungen nehmen aktuell oder in Kürze die Tätigkeit auf oder Kodierung der Erkrankung mittels der gesetzlich vorge-
sind in Planung. Daneben werden in zwei Kliniken hoch gebenen Diagnoseklassifikation ICD-10 Sorge getragen
intensive, vollstationäre multimodale Behandlungen ange- werden. Allerdings konnte aktuell in einer Studie mit 1.653
boten. ambulant in 46 Schmerztherapiepraxen betreuten chroni-
Die Zahl der Einrichtungen der anderen Bundesländer schen Schmerzpatienten kein Zusammenhang zwischen
ist deutlich geringer. Jedoch begründen die durchgehend ICD-Kodierungen und der nach von Korff et al. [47]
positiven Erfahrungen aus diesen Bundesländern aus- erfassten Schwere der Schmerzerkrankung festgestellt
reichend die Notwendigkeit, in allen Bundesländern werden. Lediglich unter 2 % der insgesamt 920 verwende-
schmerztherapeutische Einrichtungen im Krankenhaus- ten unterschiedlichen ICD-Kodes wiesen in der multivari-
bedarfsplan zu implementieren, um die schmerztherapeu- aten Analyse einen signifikanten Zusammenhang mit der
tische Versorgung durch ein deutlich erweitertes Angebot Beeinträchtigung durch Schmerzen auf [16].
multimodaler Schmerztherapie zu verbessern. Auch bei Untersuchung der PCCL-(Fallschwere-)Ein-
gruppierung von 1.150 vollstationär behandelten Schmerz-
patienten nach der DRG-Logik, die ja die Erkrankungs-
32.3 Rechtliche Grundlagen schwere berücksichtigen soll und die auf der ICD-Kodie-
rung beruht, konnte kein Zusammenhang zwischen
Über die obige Definition wird für das Therapieverfahren PCCL-Wert und schmerzrelevanten Parametern wie
nicht nur ein hoher zeitlicher Umfang, sondern auch ein Chronifizierungsstadium, Pain Disability Index (PDI),
enormer Verbrauch personeller Ressourcen mit entspre- Allgemeiner Depressionsskala (ADS) oder Schmerzemp-
chend hohen Therapiekosten festgeschrieben. Vor dem findensskala (SES) gefunden werden [24]. Damit muss
Hintergrund der rechtlichen Vorgaben des SGB V, die für festgestellt werden, dass über den vorrangigen Organbezug
jegliche medizinische Akutbehandlung ein abgestuftes der Diagnoseklassifikation ICD-10 die Schwere und Kom-
Versorgungskonzept mit Vorrang ambulanter Leistungen plexität des Krankheitsbildes und damit die Erfordernis
vor teil- oder vollstationären Krankenhausleistungen for- eines erhöhten, im Krankenhaus möglichen Ressourcen-
dern (§ 7 3 Abs. 1 SGB V), liegt darin ein weiterer Grund, verbrauchs nicht abgebildet werden können. Die 2009 er-
eine sorgfältige Indikationsstellung im Einzelfall vor einer folgte Einführung der ICD-Ziffer F45.41 »Chronische
multimodalen Schmerztherapie zu fordern. Ein Wechsel in Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Fakto-
362 Kapitel 32 · Multimodale Schmerztherapie

. Tab. 32.1 Risikofaktoren der Chronifizierung von Rückenschmerzen, Odds Ratio (OR) – gewichtet. (Mod. nach Kohlmann u.
Schmidt [28])

Effekt Klinische Faktoren Lebensstil/Umfeld Arbeitsplatz Psychosoziale Faktoren

Gering, OR ≤1,5 Übergewicht, weiblich Rauchen, Inaktivität

Mäßig, OR ≈2 Schlechte subjektive Niedrige(s) Schicht/ Unzufriedenheit, Stress, Katastrophisieren,


Gesundheit Bildung/ Einkommen körperliche Extrembelastung »fear-avoidance«,
Somatisierung,
Mittel, OR ≥2,5 Frühere Schmerzen
Depressivität, Distress
Stark, OR >5

ren«, die nur für Deutschland gültig ist, hat dieses Problem schmerz« der Arzneimittelkommission der Deutschen
erheblich abgemildert. Seit 2012 wurde die Diagnose Ärzteschaft bei Vorliegen psychosozialer Risikofaktoren
zudem in den morbiditätsorientierten Risikostruktur- (und gleichzeitigem Fehlen von »red flags«) die Indikation
ausgleich aufgenommen, womit dem hohen Ressourcen- zu interdisziplinärer Evaluation und ggf. multimodaler
verbrauch chronischer Schmerzen Rechnung getragen Therapie unabhängig von der Erkrankungsdauer gegeben
wurde. [2].
Die auf Initiative der Bertelsmann-Stiftung 2007 von
einem Expertenpanel verabschiedete Leitlinie zur Be-
32.4 Kriterien der Patientenauswahl handlung akuter, rezidivierender und chronischer Rücken-
32 schmerzen beinhaltet die frühzeitige Erfassung des
Grundsätzlich ist die Indikation zur interdisziplinären Chronifizierungsrisikos spätestens 2 Wochen nach Er-
multimodalen Schmerztherapie bei zwei Gruppen von krankungsbeginn mit der Konsequenz einer unmittelba-
Schmerzpatienten zu sehen, bei deren Behandlung unter- ren Zuführung zu interdisziplinärer Behandlung [4]. Auch
schiedliche Therapieziele verfolgt werden: für andere zahlenmäßig häufige unspezifische Schmerz-
4 Zur ersten Gruppe gehören Patienten mit rezidivie- syndrome, die in einen chronischen Verlauf übergehen
renden oder anhaltenden Schmerzen, die sich noch können, liegen ähnliche Erkenntnisse zu Risikofaktoren
am Beginn des Chronifizierungsprozesses befinden, vor, beispielsweise für das Fibromyalgiesyndrom (FMS)
aber ein erhöhtes Risiko zur Chronifizierung auf- und für »chronic widespread pain« (CWP) hinsichtlich des
weisen. Diese Patienten sollten möglichst frühzeitig Zusammenhangs zwischen Arbeitsplatzfaktoren und
im Krankheitsverlauf identifiziert werden. Das CWP [18, 31] bzw. FMS [27], soziale Schicht und Bildung
Behandlungsziel besteht hier darin, eine mögliche (CWP und FMS; [31]), Depressivität (FMS; [9]), frühere
Chronifizierungskarriere zu vermeiden oder zu- Schmerzerfahrung (FMS; [36]), weibliches Geschlecht
mindest zu verzögern. (CWP und FMS; [12]), dysfunktionale Krankheitsver-
4 Die zweite Gruppe sind Patienten, die sich bereits in arbeitung (FMS; [43]) und Somatisierung (CWP; [31]).
einem höheren Chronifizierungsstadium befinden Anders als bei den Rückenschmerzen haben diese Er-
und bei denen eine mono- oder multidisziplinäre kenntnisse aber bisher nicht zur Entwicklung spezifischer
Behandlung im ambulanten Sektor nicht zum Erfolg Erfassungsinstrumente geführt, die in der Frühphase der
geführt hatte. Erkrankung zur prognostischen Einschätzung eingesetzt
werden könnten. Auch in Leitlinien werden sie erst in
jüngster Zeit berücksichtigt [42].
32.5 Erhöhtes Risiko der So eindeutig die Relevanz dieser Faktoren für eine
Schmerzchronifizierung Chronifizierung ist, so wenig eindeutig ist ihre Objektivie-
rung und Quantifizierung bisher gelöst. Zwar gibt es auch
Daten zu den Kriterien eines erhöhten Risikos der in Deutschland bereits entsprechend zielgerichtete In-
Schmerzchronifizierung liegen für Rückenschmerzen aus strumente (Heidelberger Kurzfragebogen, HKF [32] und
einer Vielzahl von Untersuchungen in nahezu allen Indus- Risikoanalyse der Schmerzchronifizierung, RISC-R [19]),
trienationen vor. Einen Überblick zu diesen Kriterien [5, ihr obligater Einsatz in der Primärversorgung kann aber
13] gibt . Tab. 32.1. Diese Risikofaktoren haben zudem als u. a. wegen der zu geringen Sensitivität und Spezifität der-
»yellow flags« Eingang in Leitlinien zur Behandlung von zeit noch nicht uneingeschränkt empfohlen werden. Dies
Rückenschmerzen gefunden. So sieht die Leitlinie »Kreuz- trifft auch für die internationale Situation zu, obwohl die
32.6 · Fortgeschrittene Chronifizierung
363 32
Arbeiten dort als weiter entwickelt angesehen werden müs- eingetretenen Veränderungen selbst Anlass zu Arztkon-
sen [23]. Die diagnostischen Prinzipien werden aber aktu- takten geben und vom Betroffenen präsentiert werden,
ell in der Arbeitsgruppe zur Erstellung der Nationalen also kein spezielles Erhebungsinstrument erfordern. Auf
Versorgungsleitlinien für den unspezifischen Kreuz- körperlicher Ebene etwa treten eine Generalisierung und
schmerz diskutiert. lokale Ausbreitung der Schmerzen ein, häufig begleitet von
Die Sinnhaftigkeit einer multimodalen Schmerzthera- unspezifischen körperlichen Beschwerden ohne organi-
pie nach der genannten Definition bei chronifizierungsge- sche Erklärung wie Schwindel, Übelkeit, Bruststiche,
fährdeten Schmerzpatienten ergibt sich ohne weiteres aus Kloßgefühl, Atembeschwerden, Schlafstörungen und
dem negativen Einfluss psychosozialer Faktoren auf Tinnitus. Oftmals kommt es infolge des ausgeprägten
körperliche Beschwerden. Die Therapieinhalte müssen Krankheitsverhaltens mit Reduzierung der Aktivitäten bis
dabei in den körperlich übenden ebenso wie in den psy- hin zu angstbedingter Vermeidung körperlicher Belastun-
chotherapeutischen Anteilen auf die Klientel zugeschnit- gen zu einem ausgeprägten Dekonditionierungssyndrom
ten sein. Letzteres umfasst v. a. Edukation, Schmerz- und mit strukturellen und funktionellen Veränderungen von
Stressbewältigung, Vermittlung sozialer Kompetenzen Kraft/Ausdauer und Koordination. Der umfassende
etc., die Behandlung psychischer Komorbiditäten steht Leistungsverlust, begleitende Depressivität oder auch
nicht im Vordergrund. Zum hier erforderlichen Therapie- Angststörungen sowie (sozialer) Rückzug und Abstieg
umfang liegen im Gegensatz zu Patienten mit chronischen sind Facetten eines komplexen Chronifizierungsprozesses
Schmerzen keine belegten Erkenntnisse vor, die bereits mit weitreichenden Konsequenzen und erheblicher Ein-
genannten Angaben von Guzmán et al. [14] können nicht schränkung der Rollenfunktion [7, 35, 41].
übertragen werden. Es steht jedoch zu erwarten, dass sich Die Komplexität chronischer Schmerzsyndrome macht
je nach Chronifizierungsrisiko in Inhalt und Intensität es für den niedergelassenen Arzt schwer, alle Facetten der
abgestufte Therapieangebote entwickeln lassen. biopsychosozialen Konsequenzen innerhalb eines vertret-
baren Zeitrahmens zur Indikationsstellung abzuklären.
Auffallen sollte neben der langjährigen Vorgeschichte die
32.6 Fortgeschrittene Chronifizierung Diskrepanz zwischen organisch fassbaren Befunden und
dem subjektiven Befinden bzw. der empfundenen Beein-
Die Notwendigkeit einer integrativ-interdisziplinären trächtigung. Weitere, einfach zu objektivierende Kriterien
Behandlung chronischer Schmerzpatienten ist aktueller sind häufiger Arztwechsel und interventionelle Maßnah-
Stand der medizinischen Erkenntnis. Der Bedarf an sol- men ohne entsprechende Wirkung auf die Schmerzen,
chen Behandlungsmöglichkeiten ist, wenn man aktuelle Krankenhaus- und Rehaaufenthalte sowie häufige AU-
epidemiologische Untersuchungen [33, 40] berücksichtigt, Zeiten. Auch die Ineffektivität der bisher eingesetzten
enorm und kann durch die derzeit verfügbaren multidiszi- Analgetika ist ein Hinweis. Weitergehende soziale Folgen
plinär-integrativ arbeitenden Einrichtungen erst in An- wie der Verzicht auf Sozialkontakte oder soziale bzw. be-
sätzen gedeckt werden, obwohl die Effektivität auch bei rufliche Konflikte hingegen erfordern eine ausführlichere
hoher Chronifizierung gut belegt ist [6]. Zudem liegen eine biopsychosoziale Anamnese, ebenso wie das Erfassen von
Reihe von Untersuchungen vor, die insbesondere bei höher individuellen Bewältigungsstrategien.
chronifizierten Schmerzpatienten eine Abhängigkeit der Diese Punkte spielen für die Beschreibung der chroni-
Therapieergebnisse von der Therapieintensität nachweisen schen Schmerzkrankheit zwar eine wichtige Rolle, müssen
[15, 26]. In einem Reviewartikel über 10 randomisierte für die Indikationsstellung zur multimodalen Therapie
Studien mit 1900 Patienten konnten Guzmán et al. [14] für aber nicht zwingend abgefragt werden; sie sind Gegen-
Rückenschmerzpatienten mit fortgeschrittener Chronifi- stand der dort stattfindenden, umfassenden interdiszipli-
zierung die Überlegenheit von Therapieprogrammen mit nären Diagnostik. Eine detaillierte Auflistung der gesam-
mindestens 100 h Umfang und dem Ziel der funktionellen ten Symptomatik zeigt 7 Infobox 1. Eine standardisierte
Wiederherstellung gegenüber weniger intensiven Behand- Erfassung dieser Kriterien als Beleg für die Notwendigkeit
lungen hinsichtlich der Schmerzreduktion und Funktiona- umfassender Therapie ermöglicht die Aufnahmeindika-
lität belegen. Durch die umfangreicheren Programme tionsliste [21], die von multimodal arbeitenden Schmerz-
entstehen dabei zwar höhere Behandlungskosten, diesen therapieeinrichtungen ebenso genutzt werden kann wie
steht jedoch auch nachweislich eine günstigere Kosten- von einweisenden Ärzten. Ein weiteres, einfach zu hand-
Nutzen-Relation, v. a. ein deutlicher Rückgang der Fehl- habendes Instrument zur Erfassung der Schmerzchronifi-
zeiten gegenüber[15, 25]. zierung ist das Mainzer Stadiensystem (MPSS), dessen
Die Identifikation dieser Patientengruppe ist in der Validität inzwischen gut belegt ist [10, 11].
Versorgungsroutine einfacher als bei Patienten am Anfang
der Schmerzkarriere, da die im Chronifizierungsprozess
364 Kapitel 32 · Multimodale Schmerztherapie

32.7 Therapiemotivation
Infobox 1: Symptomatik der chronischen
Da multimodale Schmerztherapie ohne die Bereitschaft Schmerzkrankheit
des Patienten zur aktiven Verhaltensänderung und der Be- Auf somatischer Ebene
reitschaft zu körperlichen und psychosozialen Verände- 5 Die körperliche Leistungsfähigkeit ist infolge von
rungen erfolglos bleiben muss, kommt der Klärung der Schmerzen bei strukturellen Veränderungen,
Therapiemotivation eine zentrale Bedeutung bei. Der Ein- Funktionsstörungen und/oder schmerzbedingter
fluss der Motivationslage für die Effektivität verhaltensthe- Verhaltensänderung erheblich eingeschränkt
rapeutischer Interventionen wurde aktuell belegt [37]. Die 5 Zeichen der neurophysiologischen Sensibilisierung
Motivation zur Mitarbeit, das Erkennen und Nutzen von 5 Generalisation der Schmerzen (weitere Schmerz-
Änderungs- und Handlungsmöglichkeiten sind Voraus- lokalisationen)
setzungen für die belegbare Nachhaltigkeit multimodaler 5 Diskrepanz zwischen somatischen Befunden und
Schmerztherapie, die sich gegenüber nichtintegrativ wir- subjektivem Befinden
kenden Therapieverfahren in der Konstanz der erzielten 5 Erhöhte psychophysische Reagibilität: unspezi-
Effekte zeigt [39]. Jedoch existiert bis jetzt kein Erfassungs- fische, organisch nicht erklärbare Beschwerden
instrument, das verlässliche prognostische Aussagen an- 5 Diskrepanz zwischen objektivierbarer Behinde-
hand der Therapiemotivation eines Patienten erlauben rung und subjektiv empfundener Beeinträchti-
würde. gung
> Unabdingbare Voraussetzung für den Therapie-
erfolg ist die Therapiemotivation des Patienten. Auf psychischer Ebene (kognitive und emotionale
Faktoren)
Die Klärung dieser Frage setzt vielmehr einen hohen Zeit- 5 Depressivität: Hoffnungslosigkeit, Entwertungs-
32 bedarf für intensivere Arzt-Patient-Gespräche voraus, gefühl, Schwingungsverlust oder Labilität
wobei aber letztlich der subjektive Eindruck als einziges 5 Angst: Bewegungsangst, phobische Ängste,
Beurteilungskriterium bleibt. Allerdings kann bereits wäh- generalisierte Ängste
rend einer monodisziplinären ambulanten Behandlung ein 5 Somatisierung: Auftreten in ursächlicher Ver-
wesentlicher Beitrag zur Entwicklung der Therapiemotiva- bindung mit emotionalen Konflikten und/oder
tion geleistet werden, indem der Patient frühzeitig über das psychosozialen Problemen
biopsychosoziale Krankheitsmodell chronischer Schmer- 5 Maladaptative Kognitionen und Bewältigungs-
zen und die daraus resultierende Notwendigkeit multidis- strategien wie z. B. Kausal- und Kontrollattribut-
ziplinärer Behandlungsansätze informiert wird. Zudem ionen, Durchhalte- oder Vermeidungsstrategien
helfen klare Absprachen über das gestufte, an abgesproche-
nen Kriterien orientierte Vorgehen und der Einbezug des Auf sozialer Ebene (Verhaltensfaktoren)
Patienten in die Entscheidungsprozesse. Da die Erwartun- 5 Häufige Inanspruchnahme des Gesundheits-
gen der Schmerzpatienten in der Regel zunächst primär die systems, vermehrte AU-Zeiten wegen der Be-
somatische Einordnung ihrer Beschwerden wie auch die schwerden
grundlegende Anerkenntnis ihrer Schmerzen betreffen, 5 Vermindertes Interesse an und Vernachlässigung
trägt es zur Erhöhung der Motivation bei, wenn dieser von Sozialkontakten
Erwartung insbesondere am Anfang der Behandlung ent- 5 Einschränkung sozialer Aktivitäten im engeren und
sprochen wird [46]. erweiterten sozialen Umfeld als Folge der schmerz-
Die Therapiemotivation wird zusätzlich während des bedingt empfundenen Behinderung
multidisziplinären Assessments geprüft, das einer multi- 5 Zwischenmenschliche Konflikte innerhalb der
modalen Schmerztherapie in jedem Fall vorausgeht, und Familie und/oder am Arbeitsplatz
in der abschließenden Teambesprechung zur Therapiepla-
nung thematisiert. Ein entsprechendes Bild ergibt sich
häufig erst durch die Integration der Befunde aus der
medizinisch-körperlichen und der psychologischen Un- 32.8 Ausschlusskriterien
tersuchung. Falls es trotz der Zahl an Untersuchern nicht
möglich ist, die Motivationslage einzuschätzen, kann eine Im Umkehrschluss sind Patienten, die nicht veränderungs-
multimodale Kurzbehandlung über mehrere Behand- motiviert sind, auch nur bedingt für die multimodale
lungstage zur Klärung beitragen. Schmerztherapie geeignet (7 Infobox 2). Die fehlende
Veränderungsmotivation wird auf der Basis entsprechen-
der Untersuchungsergebnisse insbesondere Patienten mit
32.9 · Fazit für die Praxis
365 32
laufendem Rentenverfahren oder sonstigen Kompensa- 32.9 Fazit für die Praxis
tionsansprüchen attestiert. Dennoch kann ein latenter
oder manifester sekundärer Krankheitsgewinn nicht als In der Schmerztherapie kann bisher in der BRD noch nicht
absolute Kontraindikation angesehen werden. Gefordert von einer abgestuften Versorgung entsprechend den Vor-
werden muss eine kritische, auf den einzelnen Fall bezoge- gaben der Sozialgesetzgebung ausgegangen werden. Dies
ne und dem Patienten gegenüber offene Auseinander- liegt zum einen daran, dass die Schmerztherapie im Ge-
setzung mit der Problematik. Weitere relative Ausschluss- gensatz zu den klassischen Disziplinen der Medizin nicht
kriterien sind eine für die körperlich-aktivierenden Thera- auf historisch gewachsene Versorgungswege zurückgreifen
pieinhalte nicht ausreichende körperliche Leistungsfähig- kann, zum anderen aber v. a. an der fehlenden Verfüg-
keit, eventuell bestehende psychische Störungen mit barkeit höher intensiver und insbesondere interdisziplinär-
kognitiver Beeinträchtigung, ausgeprägter Antriebslosig- integrativ strukturierter Versorgungseinrichtungen, deren
keit und/oder schwerer Beeinträchtigung in der Gestal- Ausbau die Entwicklung der Bevölkerungsmorbidität und
tung zwischenmenschlicher Beziehungen, die die ord- Erkenntnisse aus der Gesundheitsökonomie unabdingbar
nungsgemäße inhaltliche und formale Durchführung des erscheinen lassen. Dennoch weisen bisher lediglich 4 Bun-
Behandlungsprogramms beeinträchtigen können, schwe- desländer (Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg und
rere Psychopathologien und eine Suchtproblematik mit Saarland) multidisziplinär besetzte schmerztherapeutische
Ausnahme eines Schmerzmittelfehlgebrauchs. Da in den Einrichtungen im Krankenhausbedarfsplan des Landes
Behandlungsprogrammen komplexe Zusammenhänge be- aus.
sprochen und differenzierte Inhalte vermittelt werden, Ein nach wie vor sehr großer und wohl eher noch
muss ein gewisses Maß an kognitiven und sprachlichen wachsender Versorgungsbedarf besteht bei höher chroni-
Fähigkeiten gefordert werden. fizierten Schmerzpatienten, für die eine monodisziplinäre,
Durch die explizite Formulierung der Ausschlusskrite- aber auch eine rein somatisch orientierte multidisziplinäre
rien wird es möglich, diese bei ihrem Vorliegen mit einer Behandlung nicht mehr ausreichend ist. Über diese Not-
spezifischen Konsequenz zu verbinden, wie etwa die Ver- wendigkeit besteht nicht erst seit Kurzem Einigkeit. Diese
lagerung der Behandlung bis nach Abschluss eines Renten- Patienten sind eindeutig, ohne zusätzlichen Aufwand und
verfahrens, den gezielten vorbereitenden Aufbau des für die Kostenträger nachvollziehbar in der Primärversor-
körperlichen Leistungsvermögens, die Vermittlung in eine gung anhand der Progredienz und Neuentwicklung soma-
geeignetere Behandlungseinrichtung (Psychotherapie, tischer (unspezifischer) Beschwerden mit zunehmendem
Psychosomatik, Psychiatrie, Suchtbehandlung) oder die Leistungsverlust bei gleichzeitigem Ausbleiben therapeuti-
Vermittlung eines fremdsprachlichen Therapeuten. scher Effekte, der Entwicklung psychischer Veränderun-
gen und den sozialen Auswirkungen des Beschwerdebildes
in Form häufiger Arztkontakte, längerer AU-Zeiten und
Infobox 2: Relative Ausschlusskriterien
Rückzugsverhalten zu identifizieren. Der rechtliche An-
multimodaler Schmerztherapie
spruch dieser Patienten auf eine den fachlichen Erkennt-
5 Bestehende Suchtproblematik mit Ausnahme
nissen entsprechenden Behandlung, die in der Intensität
eines Schmerzmittelfehlgebrauchs
der Schwere des Krankheitsbildes angeglichen sein muss,
5 Bestehende schwerwiegende Psychopathologie
steht außer Diskussion und ist im Zweifelsfall einklagbar.
5 Die Ausprägung eventuell bestehender psychi-
Ein weiterer, bisher aber auch innerhalb der Schmerz-
scher Störungen lässt ein Hindernis in der Behand-
therapie noch kaum diskutierter Indikationsbereich ist die
lung oder in der Befolgung formaler Vorgaben
frühzeitige integrative Behandlung von Patienten mit
(z. B. Therapiebeginn, -dauer) erwarten
unspezifischen Schmerzen bereits am Anfang einer mög-
5 Die körperliche Belastbarkeit ist nicht ausreichend
lichen oder wahrscheinlichen Chronifizierungskarriere
5 Die sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten
mit dem Ziel, einen Chronifizierungsprozess aufzuhalten
sind nicht ausreichend
oder erst gar nicht erst in Gang kommen zu lassen. Dass es
5 Ein latenter oder manifester sekundärer Krank-
sich hierbei um eine frühzeitige Behandlung und nicht um
heitsgewinn – Entlastung von Erwerbstätigkeit,
eine Präventivmaßnahme handelt, kann nicht bestritten
Renten- oder Antragsbegehren – erscheint auch
werden, da bei diesen Patienten das zu behandelnde
nach motivierenden Vorgesprächen nicht über-
Krankheitsbild bereits eingetreten ist und zu Therapie-
windbar
maßnahmen in der Primärversorgung führt. Die als
»yellow flags« bezeichneten Kriterien für die Identifikation
dieser Patienten – Unzufriedenheit und Stress am Arbeits-
platz, niedrige Schicht bzw. Bildung, hohe subjektive
Beeinträchtigung, Depressivität und v. a. ungünstige Be-
366 Kapitel 32 · Multimodale Schmerztherapie

wältigungsstrategien – sind zwar bekannt und gut belegt, 5. Boersma K, Linton S (2005) Screening to identify patients at risk.
haben aber noch nicht dazu geführt, dass aussagekräftige Clin J Pain 21:38–43
6. Buchner M, Neubauer E, Barie A, Schiltenwolf M (2007) Komorbi-
und einfach zu handhabende Diagnoseinstrumente zur
dität bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. Schmerz
Verfügung stehen, die als Grundlage für die Auswahl und 21(3):218–225
Steuerung therapeutischer Maßnahmen genutzt werden 7. Buchner M, Neubauer E, Zahlten-Hinguranage A, Schiltenwolf M
können. Es ist bedenklich, dass diese Kriterien bei den The- (2007) The influence of the grade of chronicity on the outcome of
rapieentscheidungen bisher noch kaum eine Rolle spielen, multidisciplinary therapy for chronic low back pain. Spine
32(26):3060–3066
obwohl die medizinische und ökonomische Relevanz einer
8. Chou R, Qaseem A, Snow V et al (2007) Diagnosis and treatment
solch frühen Behandlung nachweislich gewaltig ist. of low back pain: a joint clinical practice guideline from the
Die finanzielle Belastung, die chronische Schmerz- American College of Physicians and the American Pain Society.
erkrankungen für das Gesundheitssystem und die Volks- Ann Intern Med 147:478–491
wirtschaft der BRD darstellen, sollte Anlass zu versor- 9. Forseth KO, Husby G, Gran JT, Forre O (1999) Prognostic factors
gungspolitischer Einflussnahme geben, um Anreize zu for the development of fibromyalgia in women with self-reported
musculoskeletal pain. A prospective study. J Rheumatol
einer für die besondere Problematik dieses Patientenguts
26(11):2458–2467
geeigneten Vorgehensweise zu schaffen. Der Sachverstän- 10. Frettlöh J, Maier C, Gockel H, Hüppe M (2003) Validität des
digenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesund- Mainzer Stadienmodells der Schmerzchronifizierung bei unter-
heitswesen hat bereits 2002 auf diese Notwendigkeit schiedlichen Schmerzdiagnosen. Schmerz 17:240–251
hingewiesen [38]. Ein Versuch, eine Optimierung der Ver- 11. Gerbershagen HU, Lindena G, Korb J, Kramer S (2002) Gesund-
heitsbezogene Lebensqualität bei Patienten mit chronischen
sorgungswege von Rückenschmerzpatienten durch die
Schmerzen. Schmerz 16:271–284
gezielte intensive Vermittlung von Leitlinieninhalten an 12. Gran JT (2003) The epidemiology of chronic generalized
ambulant tätige Ärzte zu erreichen, scheiterte dagegen musculoskeletal pain. Clin Rheumatol 17(4):547–561
ebenfalls 2002 aus strukturellen Gründen [29]. 13. Grotle M, Vollestad NK, Brox JI (2006) Screening for yellow flags in
32 Auch die Schmerztherapie ist gefordert, die für diese first-time acute low back pain. Clin J Pain 22:458–467
14. Guzmán J, Esmail R, Karjalainen K et al (2002) Multidisciplinary
Klientel erforderlichen Inhalte einer früh einsetzenden
bio-psycho-social rehabilitation for chronic low-back pain.
und auf die »yellow flags« abgestimmten Behandlung zu Cochrane Database Syst Rev Issue 1. Art. No.: CD000963
erarbeiten und den dafür notwendige zeitlichen Umfang 15. Haldorsen EMH, Grasdal AL, Skouen JS et al (2002) Is there a right
zu eruieren. Notwendigerweise werden zunächst empi- treatment for a particular patient group? Comparison of ordinary
risch entwickelte Therapieprogramme eingesetzt. Die ge- treatment, light multidisciplinary treatment, an extensive
genüber herkömmlich behandelten Patienten erzielten multidisciplinary treatment for long-term sick-listed employees
with musculoskeletal pain. Pain 95:49–63
Veränderungen im Krankheitsverlauf sollten dabei über
16. Hänel P, Schiffner-Rohe J, Kurepkat M et al (2006) Kein Zusammen-
eine langfristig angelegte Begleitforschung erfasst werden. hang zwischen einzelner ICD-10-Diagnose und Schmerzmorbidi-
Dafür sollten auch die Kostenträger in die Pflicht genom- tät. Schmerz 20 [suppl]:101
men werden, da diese – neben den Patienten selbst – den 17. Härkäppäa K, Mellin G, Järvikoski A et al (1990) A controlled study
größten Vorteil aus einer verbesserten Vorgehensweise on the outcome of inpatient and outpatient treatment of low
back pain: 3. Long-term follow-up of pain, disability and compli-
ziehen dürften.
ance. Scand J Rehabil Med 22(suppl):181–188
18. Harkness EF, Macfarlane GJ, Nahit E et al (2004) Mechanical injury
Interessenkonflikt Der korrespondierende Autor gibt an, and psychosocial factors in the work place predict the onset of
dass kein Interessenkonflikt besteht. widespread body pain: a two-year prospective study among
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42. S3-Leitlinie AWMF Nummer 041/004 Definition, Pathophysiolo-
gie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms
369 33

Bewegungstherapie in der
Behandlung von Rückenschmerz
J. Semrau, W. Geidl, K. Pfeifer

33.1 Begriffsklärung – 370

33.2 Zusammenhänge und Wirkmechanismen zwischen


Rückenschmerz und Bewegung – 370

33.3 Wirksamkeit bewegungstherapeutischer


Interventionen – 372
33.3.1 »Exercise therapy« und Dosis-Wirkungs-Beziehungen – 373
33.3.2 Stabilisierungsübungen – 373
33.3.3 Kräftigungsübungen – 373
33.3.4 Übungsformen im Wasser – 374
33.3.5 Bewegungsprogramme zur Beeinflussung
von Vermeidungsverhalten – 374
33.3.6 Rückenschulen – 374
33.3.7 »Exercise therapy« als Bestandteil multimodaler
Behandlungsprogramme – 374

33.4 Konsequenzen für die Gestaltung bewegungstherapeutischer


Interventionen – 375
33.4.1 Ziele, Inhalte und Methoden – 375
33.4.2 Hinweise zur optimalen Dosis – 376

33.5 Offene Forschungsfragen – 376

Literatur – 377

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Georg Thieme Verlag KG: J. Hofmann [jetzt Semrau], W. Geidl,
K. Pfeifer (2012) Bewegungstherapie in der Behandlung von nicht spezifischem Rückenschmerz. Bewegungs-
therapie und Gesundheitssport 28(6):254–262. © Georg Thieme Verlag KG 2012

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_33, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
370 Kapitel 33 · Bewegungstherapie in der Behandlung von Rückenschmerz

Bewegungstherapeutische Interventionen sind ein zentraler Definition beinhaltet alle Interventionen, in denen Be-
Bestandteil in der Behandlung von Rückenschmerzen. wegung des Menschen als Therapieinhalt genutzt wird.
Sowohl international als auch national werden darunter sehr Dazu gehören sporttherapeutische, physiotherapeutische/
heterogene Übungsformen und Bewegungsprogramme ver- krankengymnastische und ergotherapeutische Interven-
standen. Auch unterscheiden sich bewegungstherapeuti- tionen [2]. Bewegungstherapeutische Interventionen neh-
sche Interventionen mit einem funktionsorientierten Ansatz men in der Rehabilitation von Rückenschmerzen mit über
stark von jenen mit einem biopsychosozialen Ansatz. Der 50 % mehr als die Hälfte aller Behandlungsmaßnahmen
folgende Beitrag vermittelt zunächst einen kurzen Überblick innerhalb der stationären Rehabilitation ein [7].
über internationale und nationale Begrifflichkeiten von Be-
wegungstherapie. Darauf aufbauend erfolgt die Darstellung
potenzieller Wirkmechanismen zwischen Rückenschmerz 33.2 Zusammenhänge und
und Bewegung sowie der Wirksamkeit bewegungstherapeu- Wirkmechanismen zwischen
tischer Interventionen bei Rückenschmerz anhand systema- Rückenschmerz und Bewegung
tischer Reviews. Abschließend werden Konsequenzen für die
Gestaltung bewegungstherapeutischer Interventionen in der Obwohl körperliches Training als zentraler Bestandteil
Behandlung von Rückenschmerzen und offene Forschungs- bewegungstherapeutischer Interventionen zur Therapie
fragen beschrieben. von Rückenschmerzen eingesetzt wird, sind die zugrunde
liegenden Wirkmechanismen und Dosis-Wirkungs-
Beziehungen bisher nur unzureichend bekannt.
33.1 Begriffsklärung Der Einsatz von körperlichem Training basiert häufig
auf der Annahme, dass Personen mit Rückenschmerzen
Seit Jahren wird die Wirksamkeit körperlichen Trainings körperliche Dekonditionierungssymptome aufweisen, die
in der Behandlung von akuten, subakuten und chroni- wiederum erneut Schmerzen auslösen und weitere Be-
schen Rückenschmerzen in internationalen Forschungsar- einträchtigungen begünstigen können. Körperliche De-
beiten unter den englischen Begriffen »exercise« bzw. konditionierung umfasst eine Vielzahl von Symptomen
33 »exercise therapy« im Vergleich zu anderen Interventions- wie Veränderungen der Körperzusammensetzung, Kno-
formen untersucht [16, 57]. chendichte und metabolischer Faktoren, eine Verringe-
Der international verwendete Begriff »exercise therapy« rung der kardiovaskulären Leistungsfähigkeit, den Verlust
im Kontext von Rückenschmerz bezieht sich auf spezifische von Kraft- und Kraftausdauer insbesondere der Rumpf-
Übungs- und Trainingsformen, mit denen die gesundheits- muskulatur, eine gestörte Stabilisation der Wirbelsäule so-
bezogene Fitness verbessert werden soll [16]. Diese Defini- wie die Entwicklung veränderter Bewegungsmuster im
tion umfasst in der Regel sehr heterogene funktionsorien- Sinne von »guarded movement« [58, 54].
tierte körperliche Übungs- und Trainingsformen (»exer- Vor diesem Hintergrund richtet sich körperliches Trai-
cises«) wie aerobe Übungsformen, Kräftigungsübungen, ning vor allem auf die Reduktion bestehender körperlicher
Koordinationsübungen, Mobilisierungsübungen, Flexions-/ Dekonditionierungsprozesse bzw. die Wiederherstellung
Extensionsübungen, Stabilisierungsübungen oder spezielle der gesundheitsbezogenen Fitness. Neben ausdauerorien-
Übungsprogramme (z. B. McKenzie [37]). Zum Teil finden tierten Übungsformen (z. B. Walking, Schwimmen) zur
sich auch Programme, in denen körperliches Training mit Verbesserung der kardiovaskulären Leistungsfähigkeit
Wissensvermittlung (z. B. zum Aufbau der Wirbelsäule) werden häufig spezifische lumbale Kräftigungsübungen
kombiniert wird. Prominentes Beispiel sind Rückenschulen, (gerätegestützte oder freie Übungen, z. B. Funktionsgym-
die sich jedoch in ihrer Konzeption von biomedizinischen nastik) zur Kräftigung und Wiederherstellung gestörter
bis hin zu biopsychosozialen Ansätzen stark voneinander Funktionen der lumbalen Rumpfmuskulatur eingesetzt
unterscheiden können [vgl. 35, 19]. Ebenso ist »exercise the- [33]. Als weitere zugrunde liegende Wirkmechanismen
rapy« ein zentraler Bestandteil von multimodalen Behand- sowohl von kräftigungs- als auch von ausdauerorientierten
lungsprogrammen wie mehrwöchigen Rehabilitations- Übungsformen wird eine Verbesserung der Durchblutung
maßnahmen oder sog. Functional-restoration-Program- bzw. der Stoffwechselversorgung von Wirbelsäulenmusku-
men [12, 34]. latur, gelenken und Bandscheiben angenommen, damit
In Deutschland wird unter Bewegungstherapie verbunden eine Reduktion von Überlastungen sowie die
Ȋrztlich indizierte und verordnete Bewegung, die vom Verbesserung von Reparations- und Regenerationsvor-
Fachtherapeuten bzw. der Fachtherapeutin geplant, gängen [27, 33].
dosiert, gemeinsam mit dem Arzt/der Ärztin kontrolliert Besonders intensiv wurde in den letzten Jahren die
und mit dem Patienten/der Patientin alleine oder in der Bedeutung von Störungen der segmentalen Stabilisation
Gruppe durchgeführt wird, …« [2] verstanden. Diese der Wirbelsäule als Ursache für das Auftreten und die
33.2 · Zusammenhänge und Wirkmechanismen zwischen Rückenschmerz und Bewegung
371 33
Chronifizierung von Rückenschmerzen untersucht. Die schen Rückenschmerzpatienten – im Vergleich zu Per-
Fähigkeit zur Stabilisation der Wirbelsäule ist in An- sonen ohne Rückenschmerzen auf der Basis eingeschlosse-
lehnung an das Modell zur Wirbelsäulenstabilität nach ner Studien nicht belegen [49]. Es liegt lediglich eine ein-
Panjabi [39, 40] u. a. von der Kraft der wirbelsäulenumge- geschränkte Evidenz vor, dass atrophierte Mm. multifidi
benden Rücken- und Bauchmuskulatur abhängig sowie im Chronifizierungsprozess von Rückenschmerz von
vom qualitativen Einsatz dieser Muskelkraft im Sinne einer Bedeutung sind [49].
situationsadäquat koordinierten An- und Entspannung. Neben physiologischen Wirkmechanismen werden
Veränderungen der tiefen wirbelsäulennahen Rumpfmus- auch psychologische Wirkmechanismen des körperlichen
keln, wie z. B. des M. transversus abdominis und der Trainings diskutiert: Stimmungsverbesserung, Reduktion
Mm. multifidi, werden hier mit einer inadäquaten Stabili- maladaptiver schmerzbezogener Kognitionen (z. B. Angst-
sation der Wirbelsäule assoziiert. Es wird angenommen, Vermeidungs-Überzeugungen, Katastrophisieren), Ver-
dass dies Überlastungen der Wirbelsäule begünstigt, in besserung von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und
deren Folge erneut Schmerzen auftreten. Basierend auf Kontrollüberzeugungen sowie die Reduktion des subjek-
diesen Annahmen entwickelten Richardson und Jull [45] tiven Beeinträchtigungserlebens durch Verbesserung der
ein körperliches Trainingsprogramm zur Förderung der körperlichen Leistungsfähigkeit [20, 25, 33, 27].
segmentalen Stabilität der Wirbelsäule. Stabilisierungs- Angst-Vermeidungs-Modelle beschreiben »Katastro-
übungen zielen auf die Verbesserung der neuromuskulären phisieren« als übertriebene bedrohliche Fehlinterpreta-
Kontrolle und Koordination der wirbelsäulennahen tion in Reaktion auf akuten Rückenschmerz, die mit
Rumpfmuskulatur, die an der Aufrechterhaltung der dyna- schmerzbezogener Bewegungsangst einhergeht, aus der
mischen Stabilität der Wirbelsäule und des Rumpfs be- sich in der Folge Vermeidungsverhalten als maladaptive
teiligt sind [51, 4, 43, 5]. Strategie der Schmerzbewältigung entwickelt. Während
Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass Personen Vermeidungsverhalten in akuten Schmerzphasen sinnvoll
mit chronischen Rückenschmerzen veränderte Bewegungs- sein kann, treten langfristig neben einer körperlichen
muster aufweisen wie eine verkürzte Schrittlänge und eine Dekonditionierung weitere psychosoziale und soziale
langsamere Ganggeschwindigkeit [50, 52, 46], eine höhere Folgen auf wie Stimmungsschwankungen, Depression,
Aktivität des M. erector spinae während des gesamten Verlust sozialer Kontakte, Arbeitslosigkeit und zunehmen-
Schritts [61] und in der Schwungphase [3, 23], eine erhöhte de Beeinträchtigung [24]. Im Avoidance-endurance-
Anspannung der gesamten oberflächlichen Rücken- Modell wird darüber hinaus angenommen, dass Rücken-
muskulatur während des gesamten Gangzyklus sowie eine schmerzen ein negatives Stressereignis darstellen, infolge-
erhöhte Koaktivierung des M. erector spinae und des dessen sich schmerzunterdrückende Gedanken (supres-
M. rectus abdominis in allen Phasen des Gangzyklus [53, sive Kognitionen), Gefühle der Ängstlichkeit, depressive
54]. Für veränderte Bewegungsmuster bei Rückenschmer- Stimmungen und damit einhergehend ausgeprägtes
zen existiert bisher keine einheitliche Terminologie. Auf körperliches Durchhalteverhalten entwickeln [14]. Als
Main und Watson [31] geht die Bezeichnung »guarded weiterer Chronifizierungsmechanismus wird beschrieben:
movement« zurück, die eine gestörte Koordination der die Bagatellisierung bzw. das Ignorieren von Schmerz und
Muskulatur während körperlicher Aktivität meint. Hin- eine übermäßig positive Stimmung, aus denen sich in der
sichtlich Veränderungen der muskulären Stabilisation der Folge ebenfalls Durchhalteverhalten entwickelt. Durchhal-
Wirbelsäule und des Auftretens von gestörten Bewegungs- teverhalten im Sinne übermäßiger körperlicher Aktivität
mustern ist jedoch nicht geklärt, ob diese als Ursache oder geht ohne einen angemessenen Wechsel von Belastung und
infolge von Rückenschmerzen auftreten und welche Entspannung einher, was dann zu körperlicher Überbean-
Veränderungen der motorischen Kontrolle bei Personen spruchung und Überlastung mit vermehrtem Schmerz
mit chronischen Rückenschmerzen funktional oder und Beeinträchtigung führen kann [14].
dysfunktional sind [53, 55]. Ebenso ist unklar, welche the- Insbesondere Annahmen der Angst-Vermeidungs-
rapeutischen Strategien gestörte Bewegungsmuster effek- Modelle haben in den vergangenen Jahren Beachtung im
tiv modifizieren und ob Stabilisierungsübungen hierzu Rahmen von körperlichen Trainingsprogrammen gefun-
besonders geeignet sind [53]. den. Als zentrale Strategien zur Beeinflussung schmerzbe-
Insgesamt sind die Befunde zur Prävalenz von De- zogener Kognitionen, z. B. von Katastrophisieren und
konditionierungssyndromen bei Personen mit Rücken- schmerzbezogener Angst, haben sich die Vermittlung
schmerzen widersprüchlich [58, 13, 49, 59]. In einem rückenschmerzbezogenen Wissens auf der Basis eines
systematischen Review ließ sich die Existenz körperlicher biopsychosozialen Ansatzes und die Hinführung zu kör-
Dekonditionierungssymptome – im Sinne reduzierter perlicher Aktivität etabliert. Im überwiegenden Teil der
kardiovaskulärer Funktion und schwacher Kraft- und international vorliegenden Studien werden jedoch »reine«
Kraftausdauer der paraspinalen Muskulatur bei chroni- Trainingsprogramme ohne edukative Elemente (»exercise-
372 Kapitel 33 · Bewegungstherapie in der Behandlung von Rückenschmerz

only-interventions«) untersucht. Nur vereinzelt wurden in täten werden der Reihe nach durchgeführt. Sobald eine
den letzten Jahren bewegungstherapeutische Interven- Aktivität nicht mehr als potenziell schädlich bzw. schmer-
tionen entwickelt, die Wissensvermittlung und körper- zauslösend bewertet wird, schließt sich die Durchführung
liches Training in der Behandlung von Rückenschmerz der nächsten Aktivität entsprechend der Hierarchie an
miteinander kombinieren [35, 41, 36]. Edukative Elemente [42, 60].
in der bewegungsbezogenen Intervention beinhalten dabei Insgesamt belegen bisher vorliegende querschnittliche
u. a. die Vermittlung eines positiven Funktionsbilds des und prospektive Studien – vor allem zu Angst-Ver-
Rückens, die Vermittlung von Wissen zu relevanten Risiko- meidungs-Modellen – überwiegend Zusammenhänge, je-
faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung von doch kaum kausale Wirkmechanismen zwischen den in
Rückenschmerz, die Vermittlung von Wissen zu positiven diesen Modellen spezifizierten Konstrukten [42, 24].
Wirkungen körperlicher Aktivität auf die Gesundheit, die
Bedeutung maladaptiver (z. B. Katastrophisieren, schmerz-
unterdrückende Gedanken) und adaptiver schmerzbe- 33.3 Wirksamkeit bewegungs-
zogener Kognitionen (z. B. schmerzbezogene Selbstwirk- therapeutischer Interventionen
samkeit) sowie korrespondierender maladaptiver (z. B.
Angst-Vermeidungs-/Durchhalteverhalten) und adaptiver Verschiedene systematische Übersichtarbeiten unter-
Strategien der Schmerzbewältigung (z. B. Bewegung als suchen die Effektivität von »exercise therapy« bei akuten,
Genuss, Stimmungsmanagement durch Bewegung, Ab- subakuten und chronischen Rückenschmerzen im Ver-
lenkung durch Bewegung). Es wird angenommen, dass die gleich zu keiner Behandlung/Warte-Kontroll-Liste, zu
zielgerichtete Verbesserung des Wissens über Rücken- einer anderen körperlichen Übungsform oder einer an-
schmerz und die Vermittlung von Positivbotschaften sowie deren konservativen Behandlung [8, 49, 17]. Dabei werden
die sukzessive Heranführung an positiv erlebte körperliche u. a. Dosis-Wirkungs-Beziehungen wie Art, Intensität,
Aktivität maladaptive schmerzbezogene Kognitionen Frequenz, Dauer, Methode und Ort ihrer Durchführung
sowie negative Erwartungen reduzieren; das verringert [18, 26] oder die Einbindung in aktive Behandlungsan-
Gefühle der Unsicherheit und des subjektiven Beeinträch- sätze  wie Functional-restoration-Programme betrachtet
33 tigungserlebens und fördert die Aufnahme adaptiver [47, 56, 12].
Strategien der Schmerzbewältigung, was insgesamt das Im Hinblick auf spezifische körperliche Übungsfor-
Schmerzgeschehen positiv beeinflusst [6]. men  und Bewegungsprogramme liegen systematische
Darüber hinaus werden basierend auf den Annahmen Übersichtsarbeiten zu Stabilisierungsübungen vor [29, 32,
von Angst-Vermeidungs-Modellen in sog. Graded-activi- 5, 15, 10, 43], zu Kräftigungsübungen [33, 48], therapeu-
ty-Programmen Bewegungsformen unter Anwendung tischen Übungsformen im Wasser [62], Bewegungs-
verhaltenstherapeutischer Behandlungsprinzipien ver- programmen zur gezielten Beeinflussung von Ver-
mittelt [60]. Diese beinhalten die Lenkung der Aufmerk- meidungsverhalten [28, 6] und Rückenschulen [6, 1, 19, 30,
samkeit der Betroffenen auf gesundheitsförderliches Ver- 57, 22, 9].
halten im Sinne einer Belohnung unter Nichtbeachtung Der überwiegende Anteil dieser Übersichtsarbeiten
typischer Schmerzverhaltensweisen und einer funktions- basiert auf einem qualitativen Ansatz. Metaanalytische
statt schmerzorientierten Steigerung der Belastungsinten- Auswertungsmethoden werden nur selten eingesetzt, was
sität durch die behandelnden Therapeuten. Hier legt eine häufig auf eine heterogene Studienlage oder fehlende
Therapeutin/ein Therapeut zusammen mit der Person die Primärstudien zurückzuführen ist. Zu den am häufigsten
Belastungsgrenze bei einzelnen funktionsorientierten erfassten primären Zielparametern gehören: selbstberich-
Übungsformen fest. Diese bildet die Grundlage für eine tete Schmerzintensität bzw. Schmerz (z. B. visuelle Analog-
Quote, die knapp unterhalb der Belastungsgrenze liegt und skala), allgemeiner funktionaler Status bzw. Beeinträchti-
in einzelnen Trainingseinheiten von der Person erreicht gungserleben (z. B. Roland Disability Questionnaire,
werden muss. Diese Quote wird im Trainingsprozess sys- Oswestry Scale), Arbeitsfähigkeit/Rückkehr zum Arbeits-
tematisch an das Funktionsniveau angepasst. Leistungs- platz (aktueller Arbeitsstatus, Anzahl der Arbeitsunfähig-
steigerungen werden vom gesamten Behandlungsteam keitstage) und weitere allgemeine Gesundheitsmaße (An-
positiv verstärkt. »Exposure-in-vivo-Programme« werden teil der genesenden Patienten, die Höhe der Gesamtverbes-
häufig mit Graded-activity-Programmen kombiniert [60]. serung, subjektiv wahrgenommene Verbesserungen von
Im Unterschied dazu werden in Exposure-in-vivo- Rückenschmerzen). Sekundäre Ergebnisparameter um-
Programmen zunächst Grundannahmen des Angst-Ver- fassen Variablen wie Bewegungsausmaß, Flexibilität der
meidungs-Modells vermittelt, und es wird gemeinsam mit Wirbelsäule, Muskelkraft sowie generische Maße zur
dem Betroffenen eine Hierarchie individuell angstbesetz- Erfassung der Lebensqualität bzw. Funktionsfähigkeit
ter Aktivitäten bzw. Situationen entwickelt. Diese Aktivi- (z. B. SF 36, Sickness-impact-Profile). Aus den vorliegen-
33.3 · Wirksamkeit bewegungstherapeutischer Interventionen
373 33
den Übersichtarbeiten werden im Folgenden zentrale Be- 33.3.2 Stabilisierungsübungen
funde zusammenfassend berichtet.
Es liegen zahlreiche systematische Reviews vor, die die
Effektivität von Stabilisierungsübungen bei Rücken-
33.3.1 »Exercise therapy« und Dosis- schmerz untersuchen (7 Abschn. 33.3, einleitender Teil).
Wirkungs-Beziehungen Trotz unterschiedlicher Ein- und Ausschlusskriterien
weisen diese Arbeiten hohe Überschneidungen hinsicht-
Bei akuten Rückenschmerzen ist »exercise therapy« ge- lich eingeschlossener Primärstudien auf. Die Bewertung
nauso wirksam wie keine Behandlung oder andere konser- der Wirksamkeit von Stabilisierungsübungen erfolgt in der
vative Behandlungsformen. Für subakute Rückenschmer- Regel anhand deskriptiver Methoden [32, 43] und nur
zen liegt eine moderate Evidenz für die Effektivität von selten mittels quantitativer Analysen im Rahmen eines
Graded-activity-Programmen zur Beeinflussung des metaanalytischen Ansatzes [29, 10]. Für akute Rücken-
Arbeitsstatus im Vergleich zur »usual care« vor. Die schmerzen liegt keine Evidenz vor, dass Stabilisierungs-
Evidenz für andere Übungs- und Trainingsformen bei sub- übungen Schmerz und Funktionsbeeinträchtigung ver-
akuten Rückenschmerzen zur Beeinflussung von Schmerz bessern. Im Vergleich zu ärztlicher Behandlung liegt die
und Funktion ist unklar. Bei chronischen Rückenschmer- eingeschränkte Evidenz vor, dass Stabilisierungsübungen
zen ist »exercise therapy« zur Verbesserung von Schmerz bei akuten Rückenschmerzen das Auftreten wiederkehren-
und Funktion im Vergleich zu einer anderen konservativen der Episoden reduzieren [32, 10, 43]. Macedo et al. [29]
Behandlung etwas effektiver als keine Behandlung. Insbe- untersuchen unter Verwendung metanalytischer Metho-
sondere Kräftigungs- und spezifische Stabilisierungsübun- den die Wirksamkeit von Stabilisierungsübungen bei
gen für den Rumpf, die individuell zusammengestellt und Personen mit subakuten, chronischen und wiederkehren-
vermittelt werden, sind effektiv [17]. Eine Untersuchung den Rückenschmerzen. Die Autoren schlussfolgern, dass
der spezifischen Wirksamkeit verschiedener Modalitäten Stabilisierungsübungen im Vergleich zu minimalen Be-
und Intensitäten von »exercise therapy« bei chronischen handlungsstrategien (primärärztliche Versorgung oder
Rückenschmerzen in einem weiteren systematischen keine Behandlung) sowohl kurz-, mittel- als auch lang-
Review von Hayden et al. [18] zeigt, dass bewegungsthera- fristig effektiver in der Reduktion von Schmerz und lang-
peutische Interventionen, die aus einem individuell er- fristig effektiver in der Reduktion von Funktionsbeein-
stellten Übungsprogramm bestehen und Beweglichkeits- trächtigung sind. Eine überlegene Wirksamkeit von Stabi-
und Kräftigungsübungen beinhalten, Schmerz und den lisierungsübungen im Vergleich zu manueller Therapie
körperlichen Funktionszustand bei chronischen Rücken- oder anderen körperlichen Trainingsformen ließ sich nicht
schmerzen verbessern können. Darüber hinaus wird emp- nachweisen.
fohlen, Strategien zur Erhöhung der Bindung an körper-
liche Übungsformen anzuwenden.
33.3.3 Kräftigungsübungen
Tipp
Slade et al. [48] ermittelten, dass Kräftigungsübungen im
Empfohlen wird ein individuell erstelltes Übungs-
Vergleich zu keinem körperlichen Training zur langfristi-
programm, das u. a. aus Kräftigungs- und Beweglich-
gen Reduktion von Schmerz effektiver sind. Intensive
keitsübungen besteht und von Strategien begleitet
Kräftigungsübungen erwiesen sich im Vergleich zu weni-
wird, die die Bindung an regelmäßiges körperliches
ger intensiven Kräftigungsübungen zur kurz- und lang-
Training erhöhen.
fristigen Verbesserung der Funktion als effektiver. Es zeig-
te sich, dass die Effektivität von Kräftigungsübungen im
Choi et al. [8] berichten in einem aktuellen Cochrane Vergleich zu anderen körperlichen Übungsformen durch
Review über die moderate Evidenz, dass »exercise therapy« die Anwendung motivationaler Strategien verbessert
im Vergleich zu keiner Intervention in der Phase der Nach- werden kann. Smeets et al. [49] berichten ebenfalls, dass
behandlung nach Rückenschmerz die Häufigkeit und allgemeine Kräftigungsübungen und Übungen zur Kräfti-
Anzahl von wiederkehrenden Rückenschmerzepisoden gung der lumbalen Rumpfmuskulatur bei Personen mit
wirksam reduziert. Für eine Verringerung von Krankheits- chronischen Rückenschmerzen genauso effektiv sind wie
tagen konnte nur sehr begrenzte Evidenz ermittelt werden. andere körperliche Trainingsformen. Für intensive Kräfti-
Hinsichtlich der Wirksamkeit von »exercise therapy« gungsübungen zur Kräftigung der Lumbalextensoren, wie
während einer aktuellen Rückenschmerzepisode zur Prä- Mm. multifidi und M. erector spinae, ermittelten die
vention von Häufigkeit und Anzahl zukünftiger Rücken- Autoren die moderate Evidenz, dass diese im Vergleich zu
schmerzepisoden lag widersprüchliche Evidenz vor. weniger intensiven Kräftigungsübungen effektiver sind.
374 Kapitel 33 · Bewegungstherapie in der Behandlung von Rückenschmerz

Mayer et al. [33] berichten demgegenüber, dass lum- einem Exposure-in-vivo-Ansatz liegt die begrenzte
bale Kräftigungsübungen allein oder in Kombination mit Evidenz vor, dass diese genauso effektiv sind wie eine mini-
anderen körperlichen Übungen bei chronischen Rücken- male Behandlungsstrategie und Programme mit einem
schmerzen im Vergleich zu keiner Behandlung und passi- Graded-activity-Ansatz.
ven Therapien zur kurzfristigen Reduktion von Schmerz,
Funktionsbeeinträchtigung sowie zur Verbesserung der
lumbalen Muskelkraft und Kraftausdauer effektiver und 33.3.6 Rückenschulen
im Vergleich zu anderen körperlichen Trainingsformen
genauso effektiv sind. Lumbale Kräftigungsübungen mit Zahlreiche systematische Reviews fassen die Evidenz zur
höherer Intensität scheinen zur Verbesserung physischer Wirksamkeit von Rückenschulen in der Behandlung von
Parameter geeigneter als solche mit niedrigerer Intensität. Rückenschmerz zusammen (s. Abschn. 1.3). Rücken-
Es liegt keine Evidenz vor, dass eine bestimmte Art der schulen unterscheiden sich jedoch stark hinsichtlich ihrer
Kräftigungsübung (z. B. Kräftigungsübungen an Trainings- Dauer, Inhalte und Methoden. Während der ursprüngliche
maschinen vs. Kräftigungsübungen mit eigenem Körper- Ansatz der schwedischen Rückenschule [64] noch stark
gewicht) oder eine bestimmte Kontraktionsform (z. B. biomedizinisch orientiert war, weisen aktuelle Rücken-
konzentrisch, exzentrisch, isokinetisch) der anderen über- schulkonzepte einen biopsychosozialen Ansatz auf [35,
legen ist. 41]. Erschwert wird die Bewertung der Evidenz darüber
hinaus vor allem durch heterogene Studienpopulationen
sowie durch unterschiedlich berichtete Ergebnisparame-
33.3.4 Übungsformen im Wasser ter. Brox et al. [6] empfehlen auf der Basis heterogener
Befunde lediglich die Durchführung von Rückenschulen
Für therapeutische Übungsformen im Wasser schluss- im berufsbezogenen Kontext. In einem aktualisierten
folgern Waller et al. [62], dass diese genauso effektiv sind Cochrane Review schlussfolgern die Autoren, dass
wie Übungsformen an Land oder eine Behandlung, die auf Rückenschulen im berufsbezogenen Setting im Vergleich
Gewichtsreduktion zielt und Beweglichkeitsübungen be- zu anderen konservativen Behandlungsformen, Placebo
33 inhaltet. Übungsprogramme im Wasser mit höherer Inten- und Warte-Kontroll-Liste kurz- und mittelfristig effektiver
sität scheinen solchen mit geringerer Intensität überlegen sind hinsichtlich der Verbesserung von Schmerz, Funk-
zu sein. tionskapazität und Arbeitsstatus bei Personen mit wieder-
kehrenden und chronischen Rückenschmerzen [19].
> Die Überlegenheit einer bestimmten Form des
33.3.5 Bewegungsprogramme zur körperlichen Trainings gegenüber einer anderen
Beeinflussung von Vermeidungs- Form konnte bisher nicht bestätigt werden.
verhalten

Brox et al. [6] berichten über die moderate Evidenz, dass


bewegungsbezogene Interventionen mit einem Exposure- 33.3.7 »Exercise therapy« als Bestandteil
in-vivo-Ansatz bei Personen mit chronischen Rücken- multimodaler Behandlungs-
schmerzen zur Reduktion von Angst-Vermeidungs-Über- programme
zeugungen, Schmerz und Funktionsbeeinträchtigung
effektiv sind. Im Vergleich zu »usual care« liegt die einge- Intensive Rehabilitationsprogramme mit individuell ge-
schränkte Evidenz vor, dass diese Bewegungsprogramme stalteter Bewegungstherapie in Kombination mit einem
zur Reduktion von Schmerz, Funktionsbeeinträchtigung kognitiv-behavioralen Ansatz und Edukation sowie unter
sowie zur Förderung der Rückkehr an den Arbeitsplatz Berücksichtigung eines konsistenten Vorgehens und
effektiver sind. Zusammenarbeit aller beteiligten Professionen werden als
Demgegenüber zeigen Macedo et al. [28], dass Graded- der beste Weg zur Behandlung chronischer Rücken-
activity-Programme kurz- und mittelfristig etwas effekti- schmerzen diskutiert [21, 37, 44].
ver sind als eine minimale Behandlungsstrategie (z. B. Guzman et al. [12] schlussfolgern, dass intensive mul-
allgemeinärztliche Versorgung, Warte-Kontroll-Liste, die tidisziplinäre biopsychosoziale Rehabilitation mit einem
Empfehlung, aktiv zu bleiben). Im Vergleich zu anderen »Functional-restoration-Ansatz« (>100 Therapiestunden)
aktiven Bewegungsprogrammen (z. B. Stabilisierungs- größere Verbesserungen von Schmerz und Funktion bei
übungen, hochintensive Rückenschulen, allgemeines Patienten mit chronisch beeinträchtigenden Rücken-
körperliches Training) erwiesen sich Graded-activity-Pro- schmerzen bewirkt als nicht multidisziplinäre Rehabilita-
gramme jedoch als nicht effektiver. Für Programme mit tion und einfache ärztliche Behandlung.
33.4 · Konsequenzen für die Gestaltung bewegungstherapeutischer Interventionen
375 33
In einem weiteren aktualisierten Cochrane Review Belastungsnormativa (Dauer, Häufigkeit, Intensität, Be-
berichten Schaafsma et al. [47], dass körperliche Kondi- lastungssteigerung, Vermittlungsweg) können derzeit an-
tionierungsprogramme (z. B. »work hardening«, »Functio- hand vorliegender Primärstudien ebenfalls nicht belegt
nal-restoration-Programme«), die sich auf die Förderung werden. Lediglich die Durchführung intensiverer Kräfti-
einer zügigen Rückkehr an den Arbeitsplatz und eine Ver- gungsübungen scheint zur Verbesserung physischer Para-
besserung des körperlichen Funktionsstatus richten, die meter geeigneter zu sein [33, 49].
Dauer rückenschmerzbedingter Krankheitstage bei > Bewegungstherapeutische Interventionen mit
Arbeitnehmern mit subakuten und chronischen, nicht einem biopsychosozialen und verhaltensbezogenen
jedoch akuten Rückenschmerzen reduzieren können. Für Ansatz sind ein zentraler und wirksamer Bestandteil
chronische Rückenschmerzen zeigte sich weiterhin, dass in der Behandlung von subakuten und chronischen
zusätzlich zu körperlichen Konditionierungsprogrammen Rückenschmerzen.
durchgeführte kognitiv-behaviorale Therapie im Hinblick
auf die zügige Rückkehr an den Arbeitsplatz nicht effek-
tiver ist als körperliche Konditionierungsprogramme
allein. 33.4.1 Ziele, Inhalte und Methoden
Van Geen et al. [56] untersuchten die Nachhaltigkeit
multidisziplinärer Rückentrainingsprogramme auf die Basierend auf angenommenen Chronifizierungsmecha-
Teilhabe am Arbeitsleben bei Personen mit chronischen nismen von Rückenschmerz richten sich erfolgverspre-
Rückenschmerzen. Unter multidisziplinären Rücken- chende bewegungstherapeutische Interventionen über-
trainingsprogrammen wurden Interventionen verstanden, geordnet auf die Vermittlung von Handlungskompetenzen
die die Beteiligung von verschiedenen Disziplinen voraus- im Umgang mit Rückenschmerzen, auf die Hinführung zu
setzten, auf einem biopsychosozialen Ansatz basierten, einem körperlich aktiven Lebensstil und die Verbesserung
körperliches Training unter Anwendung von Graded-acti- der gesundheitsbezogenen Fitness [41].
vity-Prinzipien sowie kognitiv-behavioralen Elementen Sie weisen u. a. folgende inhaltliche und methodische
umfassten und sich auf die Wiederherstellung der lang- Merkmale auf:
fristigen Funktionsfähigkeit im täglichen Leben richteten. 4 Sie bestehen aus einem individuell erstellten
Die Autoren schlussfolgern, dass multidisziplinäre Übungsprogramm unter Berücksichtigung
Rückentrainingsprogramme langfristig positive Verände- individueller Präferenzen und Vorerfahrungen der
rungen der Teilhabe am Arbeitsleben bei Personen mit Betroffenen.
chronischen Rückenschmerzen bewirken. Ein Einfluss der 4 Der Fokus liegt nicht auf Schmerzfreiheit, sondern
Intensität der Programme konnte nicht ermittelt werden. auf einem veränderten Umgang mit Rückenschmerz.
4 Aufbau und Funktion der Wirbelsäule werden im
Sinne eines positiven Funktionsbilds mit faszinieren-
33.4 Konsequenzen für die Gestaltung den Aufgaben, vielfältigen Funktionen und hoher
bewegungstherapeutischer Belastbarkeit dargestellt.
Interventionen 4 Es wird Effektwissen zu positiven physischen
Gesundheitswirkungen angemessener körperlicher
Vorliegende Befunde bestätigen die Bedeutung bewe- Aktivität auf den Organismus und zu positiven
gungstherapeutischer Interventionen in der Behandlung psychischen Gesundheitswirkungen wie z. B. Stress-
von Rückenschmerz. Während bei akuten Rückenschmer- und Stimmungsmanagement vermittelt.
zen bewegungstherapeutische Interventionen genauso 4 Die Bedeutung maladaptiver schmerzbezogener
wirksam sind wie keine Behandlung oder eine andere Be- Kognitionen und Verhaltensweisen (z. B. Ver-
handlungsform, erweist sich Bewegungstherapie vor allem meidungs- und Durchhalteverhalten) sowie adaptive
in der Behandlung chronischer Rückenschmerzen zur Ver- Kognitionen und Verhaltensweisen (z. B. Bewegung
ringerung von Schmerz und Funktionsbeeinträchtigung als Genuss) werden thematisiert.
kurz- und langfristig als wirksam [18]. Im Hinblick auf 4 Es werden gezielt positive Bewegungserfahrungen
subakute Rückenschmerzen zeigen sich bewegungsthera- und Freude an Bewegung gefördert.
peutische Interventionen mit einem Graded-activity-An- 4 Aktive Strategien zur muskulären Stabilisation der
satz und körperliche Konditionierungsprogramme zur Wirbelsäule bei Arbeits- und Alltagsbewegungen
Beeinflussung der schnellen Rückkehr an den Arbeitsplatz sowie Ausgleichsbewegungen zu einseitigen Körper-
als wirksam [18]. Die Überlegenheit einer spezifischen haltungen werden vermittelt.
körperlichen Übungsform gegenüber einer anderen konn- 4 Körperwahrnehmung und Beanspruchungsempfin-
te bisher nicht bestätigt werden [28, 33, 49, 18]. Optimale den werden geschult.
376 Kapitel 33 · Bewegungstherapie in der Behandlung von Rückenschmerz

4 Es werden Bewegungs- und Steuerungskompetenzen und ausdauerorientierten Bewegungsformen und die Ver-
zur eigenständigen Durchführung körperlicher mittlung positiver Bewegungserfahrungen im Vorder-
Aktivität unter Verwendung objektiver und subjektiver grund.
Methoden der Belastungssteuerung vermittelt. > Spezifische Dosis-Wirkungs-Empfehlungen zu
4 Wissensvermittlung unter Anwendung didaktisch- einzelnen Formen bewegungstherapeutischen
methodischer Prinzipen der Patientenschulung und Trainings können auf Basis der vorliegenden
bewegungsbezogene Inhalte werden sinnvoll mitein- Evidenz nicht abgeleitet werden.
ander kombiniert.
4 Es werden gezielt verhaltensbezogene Techniken zur
Erhöhung der Bindung an körperliche Aktivität
eingesetzt (z. B. Feedback geben, Handlungs- und 33.5 Offene Forschungsfragen
Ausführungspläne formulieren).
4 Im Kontext interdisziplinärer Rehabilitationspro- Die Bewertung der Evidenz zur Wirksamkeit bewegungs-
gramme sind Ziele, Inhalte und Methoden der Be- therapeutischer Interventionen im Rahmen systema-
wegungstherapie im Sinne eines konsistenten Vor- tischer Reviews wird u. a. durch eine unzureichende Be-
gehens und Zusammenarbeit aller beteiligten Profes- schreibung der Studienpopulation und der verwendeten
sionen auf andere Behandlungsbausteine abgestimmt. bewegungstherapeutischen Interventionen in den Primär-
studien erschwert. International werden unter bewegungs-
therapeutischen Interventionen in der Therapie von
33.4.2 Hinweise zur optimalen Dosis Rückenschmerzen meist funktionsorientierte Übungs-
und Trainingsformen subsumiert, die sich im Hinblick auf
Indikationsspezifische Belastungsnormativa sind auf- Art, Intensität, Frequenz, Dauer, Methode sowie den Ort
grund fehlender Belege für Dosis-Wirkungs-Beziehungen ihrer Durchführung stark unterscheiden können [16]. Ins-
bisher nicht ableitbar. Sie unterscheiden sich in Abhängig- besondere die Kombination von edukativen und kognitiv-
keit von der individuellen Leistungsfähigkeit und den verhaltensbezogenen Elementen mit bewegungsbezoge-
33 Therapiezielen. nen Inhalten scheint in der Behandlung von subakuten
Als Grundlage für die Belastungsgestaltung in der Be- und chronischen Rückenschmerzen wirksam zu sein.
wegungstherapie können allgemeine Empfehlungen der Hierzu liegen jedoch nur wenige Primärstudien vor, sodass
World Health Organisation (WHO) oder des American die optimale Kombination von Edukation, kognitiv-ver-
College of Sports Medicine (ACSM) und der American haltensbezogenen Strategien und bewegungsbezogenen
Heart Association (AHA) für gesundheitsförderliche Akti- Inhalten sowie entsprechender Vermittlungsmethoden
vität genutzt werden. Die WHO [63] empfiehlt bei Er- unklar bleibt. Es fehlen hochqualitative Studien mit homo-
wachsenen mit und ohne chronische Erkrankungen als genen Stichproben, die spezifische Dosis-Wirkungs-Be-
gesundheitsförderliche Mindestdosis körperlicher Aktivi- ziehungen, zugrunde liegende Wirkmechanismen und
tät 150 min moderat-intensive körperliche Ausdauerakti- differenzielle Behandlungseffekte sowie die Kosteneffekti-
vitäten pro Woche bzw. mindestens 75 min bei höheren vität bewegungstherapeutischer Interventionen unter-
Belastungsintensitäten. ACSM und AHA empfehlen für suchen.
Menschen über 65 Jahre oder Erwachsene im Alter von 54 > Der Nachweis kausaler Wirkmechanismen und
bis 64 Jahren mit chronischen Erkrankungen 30 min mo- der Kosteneffektivität bewegungstherapeutischer
derat-intensive aerobe körperliche Aktivität an 5 Tagen in Interventionen steht aus.
der Woche in der Form, dass eine Unterhaltung während
der Ausübung noch möglich ist, oder 20 min anstrengende Nur wenige bewegungstherapeutische Interventionen sind
aerobe körperliche Aktivität an 3 Tagen in der Woche und explizit theoretisch fundiert, sodass unklar bleibt, ob und
8–10 Kräftigungsübungen mit 10–15 Wiederholungen welche kausalen Mechanismen des Chronifizierungs-
jeder Übung 2- bis 3-mal in der Woche. Darüber hinaus prozesses beeinflusst werden. Andererseits sind kausale
wird die Erstellung eines Aktivitätsplans unter Berücksich- Wirkmechanismen auch in theoretischen Modellen zur
tigung von Gesundheitsrisiken und therapeutischen Chronifizierung von Rückenschmerzen bisher nur un-
Behandlungszielen empfohlen [38]. Um optimale gesund- zureichend geklärt [42, 24]. Dies ist jedoch eine Voraus-
heitsförderliche Effekte durch körperliche Aktivität zu setzung für die Entwicklung theoriebasierter bewegungs-
erzielen, muss diese langfristig und regelmäßig ausgeübt therapeutischer Interventionen, die zielgerichtet schmerz-
werden. Daher stehen bei der Wahl der Belastungsinten- bezogene Kognitionen und die damit im Zusammenhang
sität die sukzessive Hinführung zu einem eigenständig stehenden Verhaltensweisen modifizieren. Dies ermög-
durchgeführten Übungsprogramm mit kraftausdauer- licht, systematisch auf die zum Teil sehr unterschiedlichen
Literatur
377 33
Problemlagen von Personen mit Rückenschmerzen mittels sellschaft für Rehabilitationswissenschaften: Verhaltensbezogene
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378 Kapitel 33 · Bewegungstherapie in der Behandlung von Rückenschmerz

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379 VII

Rehabilitation
und Langzeitbetreuung
Kapitel 34 Wiedereingliederung – 381
B. Kladny, J. Betz

Kapitel 35 Ergonomie – Arbeitsplatzgestaltung – 389


P. Higman

Kapitel 36 Chronic-Care-Management – 395


J. Gensichen, A. Becker

Kapitel 37 Arbeitsmedizinische Aspekte – 401


S. Letzel
381 34

Wiedereingliederung
B. Kladny, J. Betz

34.1 Einleitung – 382

34.2 Planung der beruflichen Wiedereingliederung – 382


34.2.1 Profilvergleichsverfahren – 383
34.2.2 FCE-Verfahren (»functional capacity evaluation«) – 383

34.3 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben – 383


34.3.1 Zuständige Kostenträger – 384
34.3.2 Leistungen im Detail – 384

34.4 Stufenweise Wiedereingliederung (STW) – 386

Literatur – 387

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DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_34, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
382 Kapitel 34 · Wiedereingliederung

Die Wiederaufnahme einer Arbeit stellt bei chronischen Herausforderungen. Letztendlich müssen sich auch Be-
Rückenschmerzpatienten eine besondere Herausforderung handlungsprogramme an der sog. Back-to-work-Rate
dar. Neben der medizinisch-therapeutischen Behandlung messen lassen. Deshalb empfiehlt auch die Nationale Ver-
und Rehabilitation ist der Planung der beruflichen Ein- sorgungsleitlinie Kreuzschmerz [6] mit einem hohen
gliederung in der Betreuung besonderes Augenmerk zu Empfehlungsgrad Maßnahmen zur Unterstützung der
schenken. Behandlungsprogramme haben zunehmend den beruflichen Wiedereingliederung, die sowohl im rehabili-
Fokus auf eine patientenorientierte arbeits- und berufsbe- tativen als auch im kurativen Bereich geprüft und ggf.
zogene Therapie gerichtet. Die sozialmedizinische Beurtei- initiiert werden sollen. Medizinische Behandlung und
lung ist Bestandteil von Therapiemaßnahmen, um Aussagen medizinische Rehabilitation müssen durch Maßnahmen
zum leidensgerechten Einsatz der Patienten treffen zu zur Eingliederung bzw. Wiedereingliederung ins Erwerbs-
können. In schwierigen Fällen und bei Unklarheiten ist der leben ergänzt werden. Auch die Reha-Therapiestandards
Einsatz von Profilvergleichsverfahren zu erwägen. Das chronischer Rückenschmerz der Deutschen Rentenver-
Sozialrecht sieht zahlreiche Möglichkeiten von Leistungen sicherung [7] sehen daher eine sozialrechtliche Beratung
verschiedener Kostenträger zur Teilhabe am Arbeitsleben von mindestens 30 min bei mindestens 50 % der Rehabili-
vor, die insbesondere auch die stufenweise Wiedereingliede- tanden vor und die Unterstützung der beruflichen Integra-
rung umfassen und im Folgenden ausgeführt werden. tion bei mindestens 20 % der Rehabilitanden mit einer
Zeitdauer von mindestens 30 min.
Im Rahmen der medizinischen Rehabilitation wird
34.1 Einleitung heute der Fokus mehr auf eine patientenorientierte arbeits-
und berufsbezogene Therapie gelenkt. Dies setzt die An-
In den industrialisierten Ländern gehören Rückenschmer- wendung diagnostischer Instrumente im Kontext arbeits-
zen zu den teuersten Erkrankungen. Nach Angaben der und berufsbezogener Maßnahmen voraus. Integrierte
Gesundheitsberichtserstattung des Bundes aus dem Jahr medizinisch-berufliche Ansätze werden zunehmend um-
2006 verursachen Rückenschmerzen direkte Kosten in gesetzt [3].
Höhe von 8,4 Mrd. Euro/Jahr. Wesentlich höher sind die Die berufliche Wiedereingliederung sollte geplant und
durch Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit bedingten Kosten organisiert werden, sofern während der Behandlung im
und der dadurch bedingte Produktivitätsausfall, der nach Rahmen der sozialmedizinischen Beurteilung absehbar ist,
34 internationalen Schätzungen ca. 85 % der Gesamtkosten dass die Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben wieder her-
ausmacht. Nur rund 15 % werden für die medizinische Be- gestellt ist oder werden kann. Die sozialmedizinische Be-
handlung aufgewendet. Neuere Erhebungen weisen einen urteilung setzt eine spezielle Berufs- und Arbeitsplatzana-
Anteil der indirekten Kosten bei allen Rückenschmerzpa- mnese voraus. Die Kontaktaufnahme mit dem Betrieb
tienten von ca. 50 % nach. Ein kleiner Anteil von Patienten oder Betriebsarzt kann unter Berücksichtigung der Rege-
mit chronischen Rückenschmerzen verursacht dabei aller- lungen zum Sozialdatenschutz notwendig werden, um In-
dings einen großen Anteil der Gesamtkosten [9]. In der formationen über berufs- und arbeitsplatzbezogene Be-
medizinischen Behandlung gilt heute die Durchführung lastungen zu erhalten. Möglichst präzise Informationen
eines multimodalen, multi- und interdisziplinären Thera- sind erforderlich, um im Rahmen der medizinischen
pieprogramms als Standard. Dieses Programm soll berufs- Behandlung und Rehabilitation eine arbeitsbezogene Leis-
und arbeitsplatzbezogene Elemente beinhalten und sich tungsdiagnostik, berufsspezifische Belastungserprobung
bereits an den individuellen beruflichen Anforderungen und eine arbeits- und berufsbezogene Trainingstherapie
und den noch vorhandenen Fähigkeiten ausrichten [6]. sowie eine Beratung zu beruflichen Fragestellungen durch-
Um im Hinblick auf Erhalt oder Wiederherstellung der führen zu können. Das Ansprechen von Therapiemaß-
beruflichen Leistungsfähigkeit den Erfolg der medizini- nahmen und die sich daraus ergebenden Auswirkungen
schen Behandlung und Rehabilitation langfristig zu auf das Leistungsvermögen sind zu berücksichtigen. Diese
sichern, bedarf es aber häufig zusätzlicher geeigneter Kenntnisse bilden die Grundlage für die Erstellung des
Strategien. positiven und negativen Leistungsbilds im bisherigen
Beruf und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Diesbezüg-
lich sei auf die Leitlinie »Sozialmedizinische Beurteilung
34.2 Planung der beruflichen der Leistungsfähigkeit bei Bandscheiben- und bandschei-
Wiedereingliederung benassoziierten Erkrankungen« der Deutschen Rentenver-
sicherung verwiesen [8]. Das physische und psychische
Die Rückkehr an den Arbeitsplatz zählt heute in der Be- Leistungsvermögen ist mit dem Anforderungsprofil des
handlung und Rehabilitation von Patienten mit chroni- Arbeitsplatzes und den Anforderungen des allgemeinen
schen Rückenschmerzen sicherlich zu einer der größten Arbeitsmarkts abzugleichen.
34.3 · Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
383 34
34.2.1 Profilvergleichsverfahren Die Durchführung der angesprochenen Verfahren ist
sehr zeit- und personalaufwendig, und damit auch kosten-
Hierzu stehen auch Profilmethoden bzw. Profilvergleichs- intensiv, und wird daher nur in ausgewählten Einzelfällen
verfahren zur Verfügung. Es handelt sich dabei um arbeits- zum Einsatz kommen können. Ein häufig beschriebener
wissenschaftliche Verfahren, mit deren Hilfe Anforderun- Nebeneffekt solcher Testungen besteht in der Möglichkeit,
gen am Arbeitsplatz und Fähigkeiten einer Person anhand in einem geschützten, medizinisch überwachten Setting
katalogisierter Merkmale gegenübergestellt werden. So soll die eigene somatische und psychische Leistungs- und
ermittelt werden, welche Arbeitnehmer auf welchen Belastungsfähigkeit zu erproben. Dies ermöglicht die Ein-
Arbeitsplätzen einsetzbar sind. Beispielhaft sei hier IMBA beziehung der beruflichen Realität in die medizinische
(Integration von Menschen mit Behinderung in die Rehabilitation.
Arbeitswelt) erwähnt – ein Profilvergleichs- und Doku-
mentationsverfahren für die Prävention und Rehabilita-
tion. Arbeitsanforderungen und menschliche Fähigkeiten 34.3 Leistungen zur Teilhabe
lassen sich durch definierte Merkmale beschreiben und am Arbeitsleben
vergleichen. Aus einem daraus resultierenden Handlungs-
bedarf lassen sich gezielt Maßnahmen zur Gestaltung der Sofern sich Diskrepanzen zwischen dem Anforderungs-
Arbeit und Förderung der Fähigkeiten ableiten. Damit profil des Arbeitsplatzes und der Leistungsfähigkeit des
sollen Personen möglichst optimal eingesetzt werden, d. h. Patienten ergeben, ist zusammen mit allen Beteiligten (Pa-
entsprechend den Arbeitsplatzanforderungen, aber auch tient, Kostenträger, Betrieb) nach Möglichkeiten zu su-
entsprechend ihren Fähigkeiten und Neigungen. chen, wie die berufliche Wiedereingliederung, vorrangig
am bisherigen Arbeitsplatz, unterstützt werden kann.
Hierzu sollten die Betroffenen über Möglichkeiten und
34.2.2 FCE-Verfahren (»functional capacity Beantragungswege der beruflichen Wiedereingliederung
evaluation«) aufgeklärt und der entsprechende Antrag auf Leistungen
gestellt werden bzw. eine Kostenträgerberatung erfolgen.
In den letzten Jahren wurden standardisierte Testverfahren Betriebsärzte und ggf. behandelnde Ärzte sind rechtzeitig
an geeigneten Modellarbeitsplätzen entwickelt. Besonders und systematisch einzubinden, ebenso wie Reha-Fachbe-
zu erwähnen sind die FCE-Verfahren (»functional capacity rater/Berufshelfer und der jeweilige Arbeitgeber als Ver-
evaluation«, FCE) mit ihren bekanntesten Vertretern antwortlicher für das betriebliche Eingliederungsmanage-
ERGOS“ und EFL (Evaluation der funktionellen Leis- ment. In der Nachsorge nach multimodalen inter- und
tungsfähigkeit). ERGOS“ ist eine differenzierte Assess- multidisziplinären Behandlungsprogrammen sollten be-
mentmethode zur Überprüfung der körperlichen Be- rufsorientierte Elemente der Behandlung fortgesetzt wer-
lastbarkeit eines Menschen in der Arbeitswelt. Es wird ein den. Dies bedeutet, dass sich physiotherapeutische und
Fähigkeitsprofil anhand 260 Einzeltests auf der Basis von bewegungstherapeutische Verfahren auch in der Nachsor-
42 Bewertungsparametern erstellt. Der Vergleich erfolgt ge an den Anforderungen des Arbeitsplatzes orientieren,
mit den Anforderungsprofilen von ca. 14.000 im System psychologische Angebote bei Bedarf auf problematische
eingespeicherten Berufstätigkeiten. Die Methode wird Situationen im Betrieb und am Arbeitsplatz eingehen.
z. B. im Rahmen des Reha-Assessments von Berufsförde- Der Rehabilitand kann während oder nach einer Reha-
rungswerken eingesetzt. EFL (nach Susan Isernhagen) bilitation unabhängig von Krankenstand und Arbeitsplatz
dient der Beurteilung der funktionellen Leistungsfähigkeit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (früher berufliche
[4]. Das Verfahren sieht 29 standardisierte funktionelle Rehabilitation) beantragen. Das Ziel dieser Maßnahmen ist
Leistungstests vor, die mit kritischen Arbeitsbelastungen die Eingliederung in eine leidensgerechte und sozialversi-
vergleichbar sind (z. B. Leiter steigen, Handkoordination). cherungspflichtige Tätigkeit, um die Erwerbsfähigkeit zu
Die Instrumentarien geben Aufschluss über die Möglich- erhalten und damit Erwerbsminderungsrenten zu ver-
keit, verschiedene berufliche Belastungssituationen zu be- hindern. Daher ist die Erstellung eines Leistungsbilds mit
wältigen (z. B. Überkopfarbeit, Heben, längeres Stehen). Berufs- und allgemeiner Erwerbsprognose für Leistungs-
Das SAPPHIRE-Arbeitskapazitätensystem ist ein Arbeits- träger eine wichtige Voraussetzung. Die Maßnahmen set-
simulator, der die Testung des körperlichen Arbeitsver- zen eine gewisse Krankheitseinsicht und Eigeninitiative des
mögens des Rehabilitanden (»Performance«) zum Ziel hat. Versicherten voraus, da sie nur auf freiwilligen Antrag hin
Das Verfahren, das die körperliche Leistungsfähigkeit tes- genehmigt werden. Die medizinische Rehabilitation muss
tet, sollte zusammen mit Assessmentprozessen eingesetzt weitgehend abgeschlossen sein, wobei eine gesundheitliche
werden, die weitere für die Arbeit wichtige Aspekte er- Benachteiligung oder Behinderung verbleibt und weiter die
fassen. berufliche Eingliederung gefährdet.
384 Kapitel 34 · Wiedereingliederung

34.3.1 Zuständige Kostenträger 34.3.2 Leistungen im Detail

Für gesetzlich versicherte Patienten ist die Deutsche Ren- Nach § 33 SGB IX umfassen Leistungen zur Teilhabe
tenversicherung zuständig. Die versicherungsrechtlichen (s. auch . Abb. 34.1) am Arbeitsleben insbesondere fol-
Voraussetzungen (15 Jahre Rentenversicherungsbeiträge gende Elemente:
oder Antragsstellung innerhalb von 6 Monaten nach me- 4 Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeits-
dizinischer Rehabilitation) müssen erfüllt sein. Ansonsten platzes einschließlich vermittlungsunterstützender
liegt die Zuständigkeit bei der Agentur für Arbeit/Ab- Leistungen (Wohnungshilfen, Hilfen zur Berufsaus-
teilung Reha-Beratung. Bei Arbeitsunfällen bzw. Wege- übung, Erstattung von Bewerbungskosten, Erstattung
unfällen leistet die Berufsgenossenschaft Berufshilfe. Für von Reisekosten zur Vorstellung, Trainingsmaß-
erwerbsfähige behinderte Leistungsberechtigte, die nahmen, Kraftfahrzeughilfe, Mobilitätshilfen wie
Grundsicherung nach dem SGB II vom Jobcenter erhalten, Fahrtkostenbeihilfe, Umzugskostenbeihilfe, Reise-
ist zum Teil auch die Arbeitsagentur zuständig. Nur bei kostenbeihilfe, Ausrüstungsbeihilfe)
bestimmten Eingliederungsleistungen ist das Jobcenter für 4 Berufsvorbereitung einschließlich einer wegen der
die Teilhabe am Arbeitsleben zuständig. Behinderung erforderlichen Grundausbildung.
Ein Antrag auf berufliche Rehabilitation bzw. Leistun- (Berufsvorbereitende Maßnahmen vermitteln vor
gen zur Teilhabe am Arbeitsleben wird direkt bei einem einer beruflichen Um- oder Neuorientierung Sach-,
Reha-Träger gestellt oder bei einer gemeinsamen Reha- Lern- und Sozialkompetenz, wenn der bisherige
Servicestelle der Reha-Träger. Für alle Landkreise und Beruf oder die bisherige Berufstätigkeit nicht mehr
kreisfreien Städte sind nach dem SGB IX gemeinsame ausgeführt werden kann.)
Reha-Servicestellen von den Reha-Trägern eingerichtet 4 Individuelle betriebliche Qualifizierung im Rahmen
worden (7 http://www.reha-servicestellen.de), meist bei unterstützter Beschäftigung. (Die individuelle be-
einer Krankenkasse oder einem Rentenversicherungs- triebliche Qualifizierung findet in Betrieben auf dem
träger. Alle Träger für Rehabilitation arbeiten hier eng allgemeinen Arbeitsmarkt statt. Begleitet wird diese
zusammen. Ein Team von Fachleuten klärt notwendige Phase von einem Jobcoach. Die Phase dauert bis zu
Sachverhalte und koordiniert bei Bedarf mehrere Reha- 2 Jahre, in Ausnahmefällen 3 Jahre. Teilnehmer sind
Leistungen. sozialversichert. Nach der Einarbeitung ist die Ver-
34 > Für den »Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am
mittlung von berufsübergreifenden Lerninhalten und
Arbeitsleben« stehen Vordrucke zur Verfügung.
Schlüsselqualifikationen wesentlicher Bestandteil der
Qualifizierung. Wenn allerdings Betroffene für eine
Der Reha-Träger, der einen Antrag entgegengenommen bestimmte Ausbildung oder berufsvorbereitende
hat, prüft innerhalb von 2 Wochen, ob er zuständig ist. Maßnahme hinsichtlich ihrer Behinderung geeignet
Wenn er zuständig ist, muss innerhalb von 3 Wochen über sind, dann sollte dieser Maßnahme der Vorzug ge-
den Antrag entschieden werden, sofern kein Gutachten geben werden.)
einzuholen ist. Sollte ein Gutachten erforderlich sein, dann 4 Berufliche Anpassung und Weiterbildung, auch so-
wird vom Reha-Träger ein Sachverständiger unverzüglich weit die Leistungen einen zur Teilnahme erforder-
beauftragt und erstellt innerhalb von 2 Wochen ein lichen schulischen Abschluss einschließen. (Die be-
Gutachten. Nach Vorliegen des Gutachtens hat der Reha- rufliche Weiterbildung oder Fortbildung dient dazu,
Träger innerhalb von 2 Wochen zu entscheiden. berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten zu erhalten, zu
Sollte der Reha-Träger nicht zuständig sein, dann leitet erweitern, der technischen Entwicklung anzupassen
er den Antrag unverzüglich an den seiner Auffassung nach oder einen beruflichen Aufstieg zu ermöglichen. Im
zuständigen Reha-Träger weiter. Rahmen der Anpassungsfortbildung werden wichtige
Zusatzqualifikationen erworben, damit der bisherige
Beruf weiter ausgeübt werden kann. Die Umschulung
Kostenträger der Teilhabe am Arbeitsleben
muss dann erwogen werden, wenn aufgrund der Be-
5 Deutsche Rentenversicherung
hinderung der bisherige Beruf nicht mehr ausgeübt
5 Agentur für Arbeit/Abteilung Reha-Beratung
werden kann. Eine Aufstiegsweiterbildung ist dann zu
5 Berufsgenossenschaft
erwägen, wenn der bisherige Beruf nur dann weiter-
5 SGB-II-Stellen (Jobcenter der ARGEn/Options-
geführt werden kann, wenn im Betrieb eine verant-
kommunen)
wortliche Position übernommen wird.)
4 Berufliche Ausbildung, auch soweit die Leistungen
in einem zeitlich nicht überwiegenden Abschnitt
schulisch durchgeführt werden
34.3 · Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
385 34

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

Hilfen zur Erhaltung oder Bildung (Qualifizie- Leistungen an Leistungen in Werkstätten


Berufsvorbereitung Gründungszuschuss
Erlangung eines Arbeitsplatzes rungsmaßnahmen) Arbeitgeber für behinderte Menschen

Bewerbungskosten Integrationsmaßnahmen Zuschuss für Eingangsverfahren


betriebliche
Trainingsmaßnahmen berufliche Anpassung/ Bildung/ Berufsbildungsbereich
Teilqualifizierung Ausbildungs-
Leistungen zur Beratung zuschuss
und Vermittlung Ausbildung
Eingliederungs-
Hilfen zur Berufsausübung Weiterbildung zuschuss
Arbeitsassistenz Umschulung Arbeitshilfen

Wohnungshilfe Fortbildung Probe-


beschäftigung
Inanspruchnahme von
Integrationsfachdiensten

Kraftfahrzeughilfe

Mobilitätshilfen

Beschaffung eines Kfz


Übergangsbeihilfe Zur Auswahl der Leistungen:
behinderungsbedingte
Zusatzausstattung – Arbeitserprobung
Ausrüstungsbeihilfe – Abklärung der beruflichen Eignung
Leistungen zur Erlangung – Begabten- und Kenntnisprüfung
Reisekostenbeihilfe
einer Fahrerlaubnis
Fahrkostenbeihilfe Beförderungskosten
Trennungskostenbeihilfe

Umzugskostenbeihilfe

. Abb. 34.1 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Aus Deutsche Rentenversicherung Bund [5] mit freundl. Genehmigung)

4 Gründungszuschuss entsprechend § 57 des 3. Buches weiterhin Kosten für technische Arbeitshilfen (z. B.
durch die Rehabilitationsträger. (Menschen mit Arbeitsplatzergonomie, Kran oder Hubwagen), die wegen
Schwerbehinderung können Darlehen oder Zinszu- Art oder Schwere der Behinderung zur Berufsausübung
schüsse zur Gründung oder zur Erhaltung einer erforderlich sind, und Kosten der Beschaffung, der Aus-
selbstständigen beruflichen Existenz in Anspruch stattung und der Erhaltung einer behinderungsgerechten
nehmen. Dies setzt aber voraus, dass sie die fachli- Wohnung in angemessenem Umfang.
chen und persönlichen Voraussetzungen erfüllen und Nach § 34 SGB X sind Leistungen an den Arbeitgeber
dass sie den Lebensunterhalt voraussichtlich auf möglich. Diese können insbesondere als Ausbildungs-
Dauer durch die Tätigkeit sicherstellen können. Die zuschuss zur betrieblichen Ausführung von Bildungs-
Tätigkeit muss unter Berücksichtigung der Lage und leistungen gewährt werden, als Eingliederungszuschüsse,
Entwicklung am Arbeitsmarkt zweckmäßig sein.) Zuschüsse für Arbeitshilfen im Betrieb oder die teilweise
4 Sonstige Hilfen zur Förderung der Teilhabe am oder volle Kostenerstattung für eine befristete Probe-
Arbeitsleben, um behinderten Menschen eine ange- beschäftigung. Ganz konkret können die Kosten für ergo-
messene und geeignete Beschäftigung oder eine selbst- nomische Hilfen wie orthopädische Stühle, höhenverstell-
ständige Tätigkeit zu ermöglichen und zu erhalten bare Arbeitsplätze, ein Stehpult oder andere technische
Hilfsmittel übernommen werden. Es wird auch die Um-
Die Leistungen umfassen auch Kraftfahrzeughilfen nach setzung auf einen gesundheitlich günstigeren Arbeitsplatz
der Kraftfahrzeughilfenverordnung. Es können weiterhin im gleichen Betrieb im Sinne einer innerbetrieblichen
Kosten für technische Hilfsmittel (z. B. Sitze), die wegen Umsetzung unterstützt. Gegebenenfalls wird ein Lohn-
Art oder Schwere der Behinderung zur Berufsausübung, zuschuss an den Arbeitgeber gewährt. Die Übernahme der
zur Teilnahme an einer Leistung, zur Teilnahme am Lohnkosten für einen Monat im Sinne einer Probebeschäf-
Arbeitsleben oder zur Erhöhung der Sicherheit auf den tigung ist möglich, ebenso eine anderweitige Arbeitsver-
Weg vom und zum Arbeitsplatz und am Arbeitsplatz erfor- mittlung für gesundheitlich günstige Arbeitsplätze, ggf. ein
derlich sind, übernommen werden. Die Regelung umfasst Einarbeitungszuschuss an den Arbeitgeber.
386 Kapitel 34 · Wiedereingliederung

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bedeuten zahlt Krankengeld. Der gesetzliche Unfallversicherungs-
weiterhin die Übernahme von Kosten für Fortbildungen, schutz ist während der stufenweisen Wiedereingliederung
Kurse oder berufliche Anpassungsmaßnahmen. Reinteg- durch den zuständigen Träger gewährleistet.
rationsmaßnahmen mit dem Ziel, einen neuen, leidensge- Die Maßnahme kann abgebrochen werden, mit einem
rechten Arbeitsplatz zu bekommen, werden unterstützt. neuen Plan verändert, weiter verlängert oder erfolgreich
Umschulungen in Betrieben oder beim Berufsförderungs- vorzeitig beendet werden.
werk sowie in Fachschulen sind abhängig von der beruf- Die stufenweise Wiedereingliederung dient dazu,
lichen Qualifikation, der Arbeitsmarktsituation, den ge- arbeitsunfähig Versicherte nach einer länger dauernden,
sundheitlichen Gegebenheiten sowie von der Motivation, schweren Krankheit wieder schrittweise an die volle
Eignung und dem Interesse des Rehabilitanden. Arbeitsbelastung am bisherigen Arbeitsplatz heranzu-
führen und so den Übergang zur vollen Berufstätigkeit
früher zu erreichen.
Übersicht: Leistungen zur Teilhabe am
Ein möglicher Wiedereingliederungsplan kann vor-
Arbeitsleben
sehen, dass der Arbeitnehmer mit 2 Stunden Arbeit pro
5 Hilfen zur Erlangung oder Erhaltung eines
Tag beginnt und dann alle 1–2 Wochen um je 2 Stunden
Arbeitsplatzes, einschließlich Beratung und
Arbeitszeit pro Tag steigert. Andere Vorgehensweisen sind
Vermittlung, Trainingsmaßnahme und Mobilitäts-
aber ebenso möglich, nach denen mit 1–2 Arbeitstagen pro
hilfen
Woche begonnen wird, um dann je einen Arbeitstag alle
5 Berufliche Ausbildung
1–2 Wochen zu steigern.
5 Berufliche Anpassung und Weiterbildung
Die Beantragung der stufenweisen Wiedereingliede-
5 Gründungszuschuss zur Aufnahme einer
rung ist in jedem Fall an ein Formblatt gebunden. Der Arzt,
Selbstständigkeit
der Betroffene und der Arbeitgeber können per Unter-
5 Arbeitsassistenz
schrift zustimmen. Sofern Arzt, Patient und Arbeitgeber
5 Eingliederungszuschüsse
einwilligen, gilt die STW als genehmigt. Art und Umfang
5 Zuschüsse zu Arbeitshilfen im Betrieb (Arbeits-
der stufenweisen Wiedereingliederung richten sich nach
platzergonomie)
Arbeitsschwere, den Arbeitsinhalten und den Um-
5 Probebeschäftigungen
setzungsmöglichkeiten und sind zwischen Patient, (Be-
5 Leistungen im Eingangsverfahren und Berufs-
34 triebs-)Arzt und Arbeitgeber abzustimmen.
bildungsbereich der Werkstätten für behinderte
Der Patient kann neben der stufenweisen Wiederein-
Menschen
gliederung unabhängig von Krankenstand und Arbeits-
platz Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben beantragen.
Für Versicherte der gesetzlichen Unfallversicherung kann
der behandelnde Arzt eine Belastungserprobung empfeh-
34.4 Stufenweise Wiedereingliederung len. Hierzu wird als Anlage eine Arbeitsplatzbeschreibung
(STW) erstellt.
Während der STW steht dem arbeitsunfähig Ver-
Nach längerer Arbeitsunfähigkeit kann die Möglichkeit sicherten weiterhin Lohnfortzahlung oder Krankengeld,
einer stufenweisen Wiedereingliederung überprüft und Verletztengeld oder Übergangsgeld unter Anrechnung des
eingeleitet werden. Die stufenweise Wiedereingliederung ggf. erzielten Arbeitsentgelts zu. Nach der Aussteuerung
ist eine freiwillige Möglichkeit von Betroffenen, noch im aus dem Krankengeld (spätestens nach 78 Wochen Arbeits-
Krankenstand während der Arbeitsunfähigkeit in Ab- unfähigkeit wegen derselben Erkrankung innerhalb von
sprache mit dem weiterbehandelnden Arzt und dem 3 Jahren) ist keine stufenweise Wiedereingliederung mehr
Arbeitgeber die Belastung individuell zu steigern. Die durch die GKV möglich. Die Zeit der Wiedereingliederung
Rahmenbedingungen der verschiedenen Kostenträger kann zwischen wenigen Wochen und mehreren Monaten
unterscheiden sich dabei. Beginnt ein Versicherter die stu- variieren. In der Regel dauert eine stufenweise Wiederein-
fenweise Wiedereingliederung innerhalb von 4 Wochen gliederung zwischen 6 Wochen und 6 Monaten. Sie kann
nach der Entlassung aus einer Rehabilitationsmaßnahme prinzipiell von jeder Person oder Stelle angeregt werden,
der Deutschen Rentenversicherung, dann ist diese auch die in das Verfahren der stufenweisen Wiedereingliede-
Träger der stufenweisen Wiedereingliederung und bezahlt rung eingebunden ist. Neben dem behandelnden Hausarzt
Übergangsgeld. Liegt der Zeitpunkt des Beginns der oder Facharzt können Ärzte in ambulanten oder stationä-
stufenweisen Wiedereingliederung 4 Wochen nach der ren Rehabilitationseinrichtungen, Ärzte des medizini-
Entlassung, dann wird die zuständige gesetzliche Kranken- schen Dienstes der Krankenkassen (MDK), Ärzte in den
kasse Träger der stufenweisen Wiedereingliederung und sozialmedizinischen Diensten der Rentenversicherung
Literatur
387 34
und Betriebsärzte oder Ärzte in überbetrieblichen Diens- 6. Bundesärztekammer, Kassenärztliche Vereinigung (2010) Nation-
ten die Maßnahme anregen. Der arbeitsunfähig Ver- ale Versorgungsleitlinie zum Kreuzschmerz, Dt. Ärzteblatt
107:A2525–2528
sicherte kann aber auch von sich aus an Ärzte und Stellen
7. Deutsche Rentenversicherung (Hrsg) (2010) Reha-Therapiestand-
(gesetzliche Krankenkassen, Unfallversicherungsträger, ards chronischer Rückenschmerz, 1. Aufl. Baxter & Baxter Werbe-
Rentenversicherungsträger) herantreten. Die Kranken- agentur, Frankfurt
kasse ist eine der zentralen Anlaufstellen für alle, die an der 8. Sozialmedizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit bei
stufenweisen Wiedereingliederung eines arbeitsunfähig Bandscheiben- und bandscheibenassoziierten Erkrankungen,
AWMF-Leitlinienregister 074/001, Erstellungsdatum 07/2001,
Versicherten beteiligt sind.
letzte Überarbeitung 09/2009. http://www.studer-anwaelte.ch/
Hat sich die Notwendigkeit einer stufenweisen Wieder- workspace/documents/beurteilung_der_leistungsfaehigkeit_
eingliederung während einer vom Rentenversicherungs- bei_bandscheibenproblemen.pdf. Zugegriffen: 29. Mai 2015
träger getragenen medizinischen Leistung zur Rehabilita- 9. Wenig CM, Schmidt CO, Kohlmann T, Schweikert B (2009) Costs of
tion ergeben und schließt sich die Wiedereingliederung back pain in Germany. Eur J Pain 13:280–286
unmittelbar daran an (innerhalb von 28 Tagen), ist die
Rentenversicherung für die Durchführung der STW zu-
ständig. Eine Heilmittelanwendung oder IRENA (Inten-
sivierte Rehabilitationsnachsorge) kann selbstverständlich
zusätzlich zu einer stufenweisen Eingliederung durch-
geführt werden. Die stufenweise Wiedereingliederung
kann dann empfohlen und eingeleitet werden, wenn aus
medizinischer Sicht eine ausreichende Belastbarkeit und
eine günstige Aussicht auf die berufliche Wiedereingliede-
rung am Arbeitsplatz prognostiziert werden und wenn ein
Arbeitsverhältnis besteht. Voraussetzung ist, dass der
Versicherte arbeitsunfähig aus der medizinischen Rehabi-
litation entlassen wird und der Zeitpunkt der Wiederher-
stellung der vollen Arbeitsfähigkeit absehbar ist. Die stu-
fenweise Wiedereingliederung beginnt im unmittelbaren
Anschluss an die von der Rentenversicherung getragene
medizinische Rehabilitation (28 Tage). Versicherter und
Arbeitgeber müssen ihr Einverständnis erklären.

Literatur

1. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (Hrsg) (2006)


Arbeitshilfe für die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit
Erkrankungen der Bewegungsorgane (rheumatische Erkrankun-
gen), Schriftenreihe der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabili-
tation, Heft 5. Frankfurt am Main
2. Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (Hrsg) (2004)
Arbeitshilfe für die stufenweise Wiedereingliederung in den
Arbeitsprozess, Schriftenreihe der Bundesarbeitsgemeinschaft
für Rehabilitation, Heft 8. Frankfurt am Main
3. Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg) (2012) Arbeits- und
berufsbezogene Orientierung in der medizinischen Rehabilita-
tion, Praxishandbuch, 3. Aufl. (01/2012). http://www.mediz-
inisch-berufliche-orientierung.de/praxishandbuch_2012/.
Zugegriffen: 29. Mai 2015
4. Kaiser H, Kersting M, Schian HM et al (2000) Der Stellenwert des
EFL-Verfahrens nach Susan Isernhagen in der medizinischen und
beruflichen Rehabilitation. Rehabilitation 39:297–306
5. Deutsche Rentenversicherung Bund (Hrsg) Leistungen zur
Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) Rahmenkonzept der Deutschen
Rentenversicherung, 1. Aufl. (04/2009), Deutsche Rentenver-
sicherung Bund, Berlin. http://www.deutsche-rentenversicherung.
de/cae/servlet/contentblob/207034/publicationFile/2130/rah-
menkonzept_lta_datei.pdf. Zugegriffen: 29. Mai 2015
389 35

Ergonomie –
Arbeitsplatzgestaltung
P. Higman

35.1 Einführung – 390

35.2 Ergonomische Kriterien am Arbeitsplatz – 390

35.3 Hebetechniken – 391

35.4 Ergonomische Prinzipien im Haushalt


und bei Freizeitaktivitäten – 391

35.5 Rückengesundheit – 392

Literatur – 392

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_35, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
390 Kapitel 35 · Ergonomie – Arbeitsplatzgestaltung

Ergonomie in allen Lebenslagen – bei der Arbeit, zu Hause schützen [1]. Es gibt eine Vielzahl an unterschiedlichen
und in der Freizeit – ist für die Rückengesundheit not- Arten von Arbeitsplätzen; hier ist nur Raum, um allgemei-
wendig. Optimale Bedingungen sind präventiv und machen ne Kriterien bei der Einrichtung von Arbeitsplätzen zu
es möglich, ein aktives Leben trotz Rücken- oder Nacken- berücksichtigen. Der Arbeitsplatz soll hell, nach Möglich-
schmerzen zu führen. Bei der Gestaltung eines bestmög- keit mit Tageslicht, und ohne laute Geräusche sein; ggf.
lichen Arbeitsplatzes soll die Umgebung auch mitberück- sollten schallschluckende Stoffe für Decke, Wände und
sichtigt werden, z. B. unter dem Apekt von Lärm-, Licht- und Böden benutzt werden. Vor allem sollte auf Arbeitshöhen,
Geruchsneutralität. Techniken zum gesunden Heben und Reichweiten und das Heben von Gewichten achtgegeben
Tragen sollten gelernt und geübt werden, bis sie zur Ge- werden, insbesondere bei Menschen, die schon Rücken-
wohnheit geworden sind. Die Anwendung von höhen- oder Nackenbeschwerden haben. Aber im Sinne von
verstellbaren Möbeln sowie die Unterstützung bei der Ge- Prävention ist das für alle Personen wichtig. Gut eingerich-
staltung von Aktivtäten des täglichen Lebens bei der Arbeit, tete ergonomische Arbeitsplätze sind auch für ältere
zu Hause und in der Freizeit können helfen, den Rücken zu Arbeitnehmer geeignet – ein ganz wichtiger Aspekt in An-
schonen, Schmerzen nicht mehr zu provozieren sowie Ängs- betracht der zunehmenden Alterung der Arbeitnehmer-
te abzubauen. Rückenschulung kann hilfreich sein, aber da schaft [4].
es keine Normen dafür gibt, kann die Qualität von individu-
ellen Programmen sehr unterschiedlich sein.
Wesentliche Punkte bei der ergonomischen
Arbeitsplatzgestaltung
5 Möglichkeit, die Arbeitsposition zu wechseln
35.1 Einführung
(nicht immer im Sitzen bzw. Stehen)
5 Höhenverstellbare Stühle (mit 3-D-Armlehnen bei
Ergonomie ist das »Teilgebiet der Arbeitswissenschaft, das
Bildschirmarbeitsplatz)
sich mit der menschengerechten Gestaltung von Arbeits-
5 Möglichst höhenverstellbarer Tisch
vorgängen, -geräten und -plätzen befasst« [3]. Es beinhal-
5 Ausreichend große Tischfläche – Form sollte den
tet »die Anpassung der Arbeitsaufgabe und der Arbeitsbe-
Arbeitsbedingungen angepasst sein
dingungen an den Menschen (Arbeitsgestaltung)«, um die
5 Greifbehälter im Greifraum
Belastungen für den Arbeiter auf ein Minimum zu halten,
5 Fußstütze
sowie »die Anpassung des Menschen an die Arbeitsaufga-
5 Individuelle Anordnung der Arbeitsmittel
ben und Arbeitsbedingungen: z. B. durch Ausbildung, Ein-
5 Individueller Arbeitsablauf
35 weisung, Vermeidung von Über- und Unterforderung« [3].
5 Balancer für das Werkzeug
Der Arbeitsplatz soll körperliche Belastungen, Lärm,
5 Nicht reflektierende Arbeitsfläche
Klima (inklusive Betriebsklima) und Arbeitsorganisation
5 Raumklima: gute Belüftung und der Arbeit
regulieren und optimieren, um das Wohlbefinden der Ar-
entsprechende Temperatur
beitenden zu fördern. Denn Arbeitende, die sich wohlfüh-
len, sind produktiver [7]. Der Mensch verbringt ca. ein Drit-
tel seiner Zeit am Arbeitsplatz, und für manche Personen ist Es gibt ergonomische Schreibtische, sog. Cockpitarbeits-
der Haushalt auch ein »Arbeitsplatz«, daher ist es genau so plätze, bei denen der Tisch vorne gerundet ist und sich
wichtig, zu Hause auf ergonomische Prinzipien zu achten. rechts und links Arbeitsflächen befinden. Sie sind für viele
Ein weiterer wichtiger Teil des Lebens ist die Freizeit. In die- Schreibtischarbeiten nur bedingt geeignet. Die Produkt-
ser Zeit haben Menschen die Chance, sich von der Arbeit prüfer von TÜV Süd sprechen sogar von einer »Pseudoer-
und ihren Pflichten zu erholen und Energie für den Alltag gonomie«, da die Armlehnen eines Drehstuhls an die
zu »tanken«. Daher soll die Ergonomie auch hier beachtet Rundung stoßen und eine gute Sitzposition am Tisch
werden. Das heißt, so wie chronischer Rückenschmerz oder verhindern. Rücken- oder Nackenschmerzen können die
Nackenschmerz ein biopsychosoziales Problem ist [5], so Folge sein [8]. Das Deutsche Institut für Normung e. V.
muss die Ergonomie alle Lebensbereiche abdecken. (DIN) bietet viele Publikationen an, die sich detailliert mit
unterschiedlichen Aspekten der Arbeitsplatzgestaltung
befassen (. Abb. 35.1).
35.2 Ergonomische Kriterien Die ergonomische Gestaltung des Autos – als ein Teil
am Arbeitsplatz des Arbeitsplatzes – sollte ebenso in Betracht gezogen wer-
den [6]. Denn auch wenn es beim Fahren für die Sicherheit
Bei der ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung geht es da- unerlässlich ist, Pausen mit Bewegung einzuhalten, werden
rum, die Menschen bei der Arbeit, auch bei langfristiger doch manchmal Touren so geplant, dass dafür keine Zeit
Ausübung ihrer Tätigkeit, vor körperlichen Schäden zu bleibt.
35.4 · Ergonomische Prinzipien im Haushalt und bei Freizeitaktivitäten
391 35
Neigungswinkel
verstellbar

42–45 cm 5

2 4
Sitzfläche 3 48–52 cm
abgerundet 7 Lenden-
9 wirbelstütze
Neigungs-
winkel 1 6
verstellbar
Gut erreichbare
Tiefenfederung 8 Verstellhebel 10
38–55 cm

Kippssicherheit 5 Rollen
mit Rollwiderstand a b c
. Abb. 35.1 Anforderungen und Maße eines ergonomischen Büro- . Abb. 35.2 Richtiges Heben aus der Hocke mit geradem Rücken
drehstuhls

Auch wenn alles berücksichtigt wird, müssen Arbei-


tende lernen, wie sie sich am besten am Arbeitsplatz bewe- 5 Lasten verteilen und nicht einseitig belasten.
gen sollten. Eine Studie aus den Niederlanden hat u. a. 5 Lasten dicht am Körper halten.
Folgendes herausgefunden: »Eine ergonomische Arbeits- 5 Lasten in aufrechter Haltung tragen.
platzgestaltung in Kombination mit Trainingseinheiten, 5 Lasten nicht in verdrehter Haltung weiterreichen.
in denen schonendere Bewegungsabläufe einstudiert wer- 5 Lasten so tragen, dass eine freie Sicht auf den Ver-
den, ist bei der Behandlung von Patienten mit chronischen kehrsweg möglich ist.
Rückenschmerzen erfolgreicher als die herkömmliche
Kombination aus Physiotherapie und medikamentöser
Schmerzbehandlung« [7]. In diesem Zusammenhang ist es Es ist notwendig, diese Regeln viel und gut zu üben, denn
evtl. sinnvoll, bei besonders gefährdeten Arbeitsplätzen, alte Gewohnheiten durch neue zu ersetzen, ist in der Tat
z. B. solchen, an denen sehr viel gesessen wird oder vieles viel schwieriger als man denkt (. Abb. 35.2; . Abb. 35.3;
manuell gehoben wird, eine spezifische Rückenschule ein- . Abb. 35.4).
zurichten. Die Evidenz für Rückenschulen ist sehr unter-
schiedlich [2], problematisch ist der Mangel an Normen
dafür. 35.4 Ergonomische Prinzipien im Haushalt
und bei Freizeitaktivitäten

35.3 Hebetechniken Es ist nicht einfach, die Bedingungen in privaten Haushal-


ten zu kontrollieren, trotzdem ist es wichtig, den oben ge-
Gewichte über 15 kg sollten stets mit entsprechenden nannten Prinzipien zu folgen. Um sie im Alltag richtig
mechanischen Hilfsmitteln gehoben werden. Das schließt umzusetzen, ist es notwendig, die betroffenen Personen zu
auch das Heben von Patienten in der Pflege ein. schulen und zu trainieren; es wäre gut, diese möglichst
auch zu Hause und in der Freizeit zu beobachten, um zu
Tipp sehen, ob sie das Gelernte umsetzten können. In Ergän-
zung zu den oben genannten Punkten zur ergonomischen
In Situationen, in denen manuelles Heben nicht Arbeitsplatzgestaltung ist Folgendes zu beachten:
vermieden werden kann, sollten folgende Regeln 4 Positionierung und Höhe von Betten, Stühlen und
verinnerlicht und immer beachtet werden: Tischen sowie Polstermöbel – sind sie frei zugänglich?
Oder sind sie so tief, dass das Aufstehen erschwert ist?
392 Kapitel 35 · Ergonomie – Arbeitsplatzgestaltung

H
V

. Abb. 35.4 Benutzung von Hilfsmitteln begünstigt das Tragen

tieren von Angst-/Vermeidungsprogrammen [6]. Für eine


Erfolg versprechende Rückkehr zur Arbeit nach einer
Krankheitspause ist eine arbeitsbezogene, intensive, ziel-
orientierte und auf kognitive Verhaltensprinzipien basierte
L Intervention, die Ergonomie am Arbeitsplatz berücksich-
tigt, vorteilhaft [7].
. Abb. 35.3 Gefahren beim Heben und Tragen. H Gefährliches
Hohlkreuz, V Verdrehung der Wirbelsäule, L Lasten verteilen! > Regelmäßige Bewegung, ob in einer öffentlichen,
exponierten Umgebung, wie im Sportverein oder
Fitnessstudio, oder im privaten Bereich, fördert
einen gesunden Rücken [6]. Kurse wie z. B. Felden-
Sind Sitzflächen zu breit, oder zu schmal, sodass die krais, Pilates, Tai Chi und autogenes Training können
Beine nicht richtig unterstützt sind? hier unterstützen, aber die Motivation dafür muss
35 4 Gegenstände, die häufig benutzt werden, sollten so vom Individuum ausgehen. Wichtig ist regelmäßige
verstaut sein, dass sie einfach zu greifen sind – nicht Bewegung ohne Belastung, die möglichst im
in Schränken oder Schubladen über Kopf oder in Lebensalltag integriert ist.
Bodennähe.
4 Für den Transport von schweren Gegenständen soll-
ten Hilfsmittel wie Sackkarren, Wagen und Rollen mit Literatur
Bremsen unter den Möbelstücken vorhanden sein.
4 Treppen und Stufen brauchen ein Geländer und 1. Bauer A (2010) Ergonomie am Arbeitsplatz. http://www.arbeits-
müssen rutschfest sein. ratgeber.com/ergonomie-arbeitsplatz_0075.html#Z2. Zugegrif-
fen: 02. Mai 2013
2. Brox J, Storheim K, Grotle M, Tveito T, Indahl A, Eriksen H (2008)
Evidence-informed management of chronic low back pain with
35.5 Rückengesundheit back schools, brief education, and fear-avoidance training. The
Spine Journal 8:28–35
Viele Sprichwörter zeigen uns, wie zentral der Rücken im 3. Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung
Leben ist. Es ist empfehlenswert, einen guten Umgang mit (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinis-
chen Fachgesellschaften (AWMF) (2011) Nationale Versorgung-
dem eigenen Körper zu lernen, um möglichst Rücken-
sLeitlinie Kreuzschmerz – Langfassung. Version 1.2. http://www.
schmerzen zu vermeiden oder den bestehenden Zustand versorgungsleitlinien.de/themen/kreuzschmerz/pdf/nvl_
des Rückens nicht zu verschlechtern. Dafür sollten gefähr- kreuzschmerz_lang.pdf. Zugegriffen: 19. April 2013
dete Personen eine Schulung erhalten, bei der sie lernen, 4. Freiberg S, Zieschang H (2007) Ergonomische Arbeitsplatzge-
wie sie den Rücken bewegen können, wie weit sie ihren staltung – Prävention für alle Generationen. HVBG/BGAG. http://
Rücken belasten können bzw. wann sie ihn entlasten müs- toolbox.age-management.net/data/freiberg_zieschang.pdf.
Zugegriffen: 02. Mai 2013
sen. Personen mit Rücken- oder Nackenschmerzen haben
5. Gatchel R, Mayer T (2008) Evidence-informed management of
oft Angst, sich zu bewegen oder sonst aktiv zu sein, weil sie chronic low back pain with functional restoration. The Spine
befürchten, damit den Schmerz zu provozieren. Sie profi- Journal 8:65–69
Literatur
393 35
6. Kempf H-D (Hrsg) (2010) Die neue Rückenschule. Verhältnis-
prävention und Verhaltensprävention. Springer, Heidelberg,
S 203–221
7. Lambeek L, van Mechelen W, Knol D, Loisel P (2010) Randomised
controlled trial of integrated care to reduce disability from chron-
ic low back pain in working and private life. BMJ 340:c1035
8. Schaafsma F, Schonstein E, Whelan K, Ulvestad E, Kenny D,
Verbeek J (2010) Physical conditioning programs for improving
work outcomes in workers with back pain. Cochrane Database
Syst Rev 1:CD001822, doi: 10.1002/14651858.CD001822.pub2.
9. Strasser H (1993) Grundsätze zur Arbeitsplatzgestaltung. In:
Hettinger T, Wobbe G (Hrsg) Kompendium der Arbeitswissen-
schaft. Kile, Ludwigshafen
395 36

Chronic-Care-Management
J. Gensichen, A. Becker

36.1 Einleitung – 396

36.2 Hintergrund – 397

36.3 Das Chronic-Care-Modell – 397

36.4 Umsetzung und Evidenz des Chronic-Care-Modells – 398

36.5 Ein Chronic-Care-Modell für Schmerzpatienten – 399

Literatur – 400

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_36, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
396 Kapitel 36 · Chronic-Care-Management

Der demografische Wandel, ein bewegungsarmer Lebensstil sprechen, ob es hilfreich sein könnte, die Medikamente an-
und der medizinische Fortschritt haben zu einer Verschie- zupassen oder etwas anderes zu verändern, um möglichst
bung in der Medizin geführt: Akuterkrankungen nehmen ab wenige solcher Tage zu erleben.
und chronische Erkrankungen werden zunehmend relevant.
Dies betrifft auch Patienten mit chronischem Schmerz. Das Manchen Leser wird das Fallbeispiel von Frau Berg viel-
hier vorgestellte Chronic-Care-Modell betont die große Be- leicht verärgern. Bedeutet es nicht, dass wir therapeutisch
deutung von engagierten und informierten Patienten, von träge werden, die Patienten im Schmerz allein lassen und
klinischen Leitlinien und effektiver medizinischer Informa- sogar ihr Vertrauen missbrauchen, indem wir »nichts«
tionsverarbeitung sowie einer gut organisierten Versorgung tun? Immer wieder verweisen Artikel darauf, dass
für chronisch kranke Schmerzpatienten. Hierzu müssen Schmerzpatienten in Deutschland unterversorgt sind und
tradierte Strukturen aufgebrochen werden, und ein Um- dass eine unzureichende Therapie der Ausbreitung von
denken in der Patientenversorgung muss erfolgen: Ziel ist Schmerzen und Chronifizierung Vorschub leistet [2]. An-
der kompetent handelnde Patient, der in einem tragfähigen gesichts dieser Stellungnahmen erscheinen Ärzte, die den
Netz von Gesundheitssystem und Gemeinwesen seiner Schmerz ihrer Patienten akzeptieren, phlegmatisch und
Krankheit gerecht werden kann und eine interdisziplinäre geradezu ignorant.
und kooperative Unterstützung erfährt. Das, was hier als Passivität fehlgedeutet werden kann,
ist in Wirklichkeit Teil eines komplexen Versorgungs-
konzepts, das über das intervallartige Adjustieren von
36.1 Einleitung Schmerzmedikamenten weit hinausgeht. Es beinhaltet
eine rationale, evidenzbasierte Vorgehensweise, deren
Fallbeispiel Fokus die Begleitung des Patienten im Sinne des bio-
Frau Berg leidet seit vielen Jahren an immer wiederkehren- psychosozialen Modells ist. »Time to back off« haben
den Rücken- und Nackenschmerzen mit wechselnder Inten- Richard Deyo und Kollegen schon 2009 einen ent-
sität. Heute ist es schlimmer als sonst. Eigentlich hatte sie sprechenden Artikel im Journal of the American Board of
sich für den Tag viel vorgenommen, aber schon kurz nach Family Medicine überschrieben [4]. Es ist ein Plädoyer da-
dem Frühstück war klar, dass es wieder ein Tag werden für, dass die Versorgung chronischer Schmerzpatienten
würde, der von Schmerzen überschattet ist und an dem sie nicht reaktiv, getrieben von Ursachensuche und Schmerz-
Schwierigkeiten haben wird, sich auf den Alltag und ihre heilung erfolgen darf, sondern dass es stattdessen an der
Mitmenschen einzulassen. Früher haben sie solche Tage fast Zeit ist, chronischen Schmerz als eine Erkrankung zu
zur Verzweiflung getrieben. Mehrfach ist sie schon unter- betrachten, deren Versorgung vorausschauend geplant
sucht worden. Viele Spezialisten hat sie gesehen, aber werden muss.
neben arthrotischen Veränderungen der Wirbelsäule konnte Tatsächlich ist es trotz aller neuen Erkenntnisse in der
36 kein interventionsbedürftiger Befund festgestellt werden. Schmerzforschung bislang nicht gelungen, die eine wirk-
Trotzdem begleiten sie die Schmerzen fast ständig. Sie hat same Therapie für die betroffenen Patienten zu identifizie-
in einer Gruppe mit anderen Betroffenen gelernt, dass es ren. Auch die Suche nach therapierelevanten Subgruppen
vielen Menschen so geht wie ihr, und ihre eigenen Bewälti- hat bisher keine überzeugenden Ergebnisse gebracht. Statt-
gungsstrategien gefunden. So wird sie heute ihren Zeitplan dessen führt laut Deyo et al. [4] die falsche Fokussierung
nicht umsetzen können. Sie weiß, dass sie unter Leute auf scheinbare Therapieeffekte zu einer Vernachlässigung
gehen sollte, wird sich aber stattdessen zurückziehen und wichtiger Begleitfaktoren wie das Zurechtkommen im
versuchen, mit einem Wärmekissen bei ruhiger Musik zu Alltag, die soziale Eingebundenheit oder das psychische
entspannen. Mit ihren Schmerzmedikamenten kennt sie Wohlbefinden. Die Autoren fordern deshalb ein »chronic
sich gut aus, im Zweifel kann sie sich auch bei Ihrem care model«, d. h. ein Behandlungskonzept, das der
Hausarzt rückversichern, ob und wie viel sie nehmen kann. Chronizität und Vielschichtigkeit eines chronischen
Bei ihrem letzten Termin mit ihrem Hausarzt ging es ihr gut, Schmerzproblems gerecht wird. Der behandelnde Primär-
und sie haben miteinander verabredet, dass sie versuchen versorger sollte den Patienten verlässlich und umfassend
will, sich einer Nordic-Walking-Gruppe am Ort anzu- begleiten, die Behandlung sollte interdisziplinär, aber
schließen. Das wird sie auch in Angriff nehmen, aber nicht koordiniert ablaufen – mit einem Patienten, der zum Ex-
heute. Sie trägt die Intensität der Schmerzen in ein Tage- perten seiner Erkrankung geworden ist.
buch ein, das sie seit einiger Zeit führt und in dem sie
regelmäßig ihre aktuellen Schmerzen, ihre Stimmung, ihr > Chronischer Schmerz sollte als eine chronische
Zurechtkommen im Alltag, ihr Wohlbefinden und die Erkrankung verstanden werden, deren Fokus auf
Dosierung ihrer Medikamente einträgt. In 2 Wochen hat sie der Langzeitbetreuung und -begleitung der
ihren nächsten Termin. Dann wird sie mit ihrem Arzt be- Patienten liegt.
36.3 · Das Chronic-Care-Modell
397 36
36.2 Hintergrund gen verändert die medizinische Tätigkeit – insbeson-
dere in der Primärversorgung.
In den letzten Jahrzehnten haben sich die Anforderungen 2. Klinische Versorgung: Der medizinische Fortschritt
an die Medizin geändert. Der demografische Wandel, ein führt zu neuen, immer komplexeren Optionen in
bewegungsarmer Lebensstil und der medizinische Fort- Diagnostik und Therapie. Allerdings erfolgen
schritt in der Akutbehandlung vieler Erkrankungen haben Diagnostik und Therapie noch immer großenteils
dazu geführt, dass es zu einer Verschiebung des Krank- ohne ausreichende Evidenzbasierung.
heitsspektrums gekommen ist: Chronische Erkrankungen 3. Patientenrolle: Patienten sind noch immer mehrheit-
dominieren zunehmend die Krankheitslast der Bevölke- lich passive Objekte im Behandlungsgeschehen. Ihre
rung und den medizinischen Versorgungsbedarf. Darauf Bedürfnisse werden nicht ausreichend berücksichtigt
weisen internationale Entwicklungen [5] und Erfahrungen (u. a. Umgang mit Symptomen, Emotionen, komplexe
in der deutschen Primärversorgung hin (Sachverständi- Medikation, Anpassung des Lebensstils und Behand-
genrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesund- lungsoptionen). Patienten erhalten hierbei selten
heitswesen [12]). effektive Hilfen (Patientenschulung, Selbst-
> Chronische Krankheiten (»long time conditions«)
management).
sind definiert als »Krankheiten, die eine oder
4. Koordination: Patienten werden von unterschied-
mehrere der folgenden Charakteristika haben: Sie
lichen Akteuren behandelt, die unzureichend kom-
sind permanent, verursachen bleibende Behinde-
munizieren und somit eine Fragmentierung der
rung/Beeinträchtigungen, werden durch irreversible
Versorgung und unnötige Mehrfachbehandlungen
pathologische Veränderungen verursacht, erfordern
verursachen.
ein spezielles rehabilitatives Patiententraining oder
5. Kontinuität: Die Fokussierung auf die Akutmedizin
lassen eine Langzeitbeobachtung, betreuung und
(»the tyranny of the urgent«) [1] vernachlässigt das
versorgung erwarten« [16].
systematische Beobachten der Behandlungsergebnis-
se; Folgeerkrankungen oder Komplikationen können
Bereits im Jahr 2000 waren ca. 46 % aller Erkrankungen so nur unzureichend erfasst und behandelt werden.
chronisch, und bis 2020 wird der Anteil voraussichtlich auf
60 % steigen. Vorherrschend sind Herz-Kreislauf-Erkran-
kungen, Schlaganfall, Diabetes, muskuloskeletale und psy- 36.3 Das Chronic-Care-Modell
chische Erkrankungen (v. a. Depression) sowie Tumoren
[10]. In den USA leiden über die Hälfte aller chronisch Die Ausgestaltung einer optimalen Versorgung chronisch
Kranken an zwei und mehr chronischen Leiden [21]. In kranker Patienten ist in den Fokus von Forschung und
Deutschland hatten bereits Ende der 1990er Jahre ca. 43 % Politik gerückt. Zahlreiche Studien befassen sich mit der
der Bevölkerung mindestens eine chronische Erkrankung Evaluation von Einzelmaßnahmen wie Edukation, Telefon-
[13]. coaching, telemedizinischer Betreuung, Einsatz von nicht
Die Versorgung chronisch kranker Menschen spielt ärztlichem Personal und anderen Interventionen in
sich vorwiegend in Hausarztpraxen ab (ca. 80 % aller Be- Hinblick auf krankheitsbezogene und patientenzentrierte
ratungen) [20]. Innerhalb von 3 Jahren besuchen in Verbesserungen. Dabei haben Übersichtsarbeiten gezeigt,
Deutschland fast alle gesetzlich Krankenversicherten, egal dass insbesondere dann positive Effekte zu erwarten sind,
welchen Alters, einmal ihren Hausarzt. In der 1-Jahres- wenn die Interventionen aus mehreren Komponenten be-
Kontaktgruppe finden sich 90 % der älteren und chronisch stehen [11]. Zentral für die Versorgung chronisch kranker
kranken Versicherten [8]. Trotz eines offenkundig hohen Patienten ist das Patientenselbstmanagement. Effektive
Versorgungsbedarfs scheinen die aktuellen Versorgungs- Strategien zur verbesserten Versorgung müssen begleitet
strukturen nur unzureichend auf diese Zielgruppe aus- sein von Interventionen, die die Patientenautonomie stär-
gerichtet zu sein. Die optimale Behandlung einer chro- ken und Patienten in die Lage versetzen, ihre Krankheit zu
nischen Erkrankung wird zwar wesentlich durch die verstehen, Selbstbewältigungsstrategien zu entwickeln und
Besonderheiten der jeweiligen Erkrankung bestimmt, Krankheitsfolgen zu vermeiden (7 Kap. 15, »Information
allerdings treten gerade auch diagnoseübergreifend offen- und Edukation des Patienten«) [15].
kundige Defizite der Versorgung ans Tageslicht. Ed Wagner Das von Wagner et al. entwickelte Modell zur optimier-
prägte den Begriff der »Chronic-care-Krise« [17] und ten Versorgung chronisch kranker Patienten greift die
konstatierte 5 große aktuelle Herausforderungen für oben beschriebenen Herausforderungen und Defizite der
unsere Gesundheitsversorgung [12]: aktuellen Gesundheitsversorgung auf (. Abb. 36.1). Es
1. Prävalenz: Der Anstieg der Prävalenz von chroni- adressiert nicht ausschließlich, aber vor allem die Primär-
schen Krankheiten im Verhältnis zu Akuterkrankun- versorgung. Dabei beschreibt es, dass nicht nur die direkt
398 Kapitel 36 · Chronic-Care-Management

Chronic-Care-Modell

Gemeinwesen
Gesundheitssystem
Ressourcen, Organisation in der
Entscheidungsstrukturen Gesundheitsversorgung
und Prozesse
Unterstützung des Gestaltung der Entscheidungs- klin. Informations-
Selbstmanagements Leistungserbringung unterstützung systeme

vorbereitetes
informierter »proaktives«
aktivierter Patient produktive Interaktionen Versorgungs-/
Praxisteam
verbesserte Ergebnisse

. Abb. 36.1 Chronic-Care-Modell – ein innovatives Konzept zur umfassenden Versorgung chronisch Erkrankter. (Mod. nach Gensichen [7];
mit freundl. Genehmigung)

an der Patientenversorgung beteiligten Praxen an der Ver-


sorgung chronisch kranker Patienten mitwirken müssen, ter Patienten ausgerichtet ist, wird den Bedürfnis-
sondern wie diese Versorgung zu einer gesellschaftlichen sen chronisch kranker Patienten nicht gerecht. Es
Aufgabe wird, bei der auch das Gemeinwesen und das Ge- ist notwendig, strukturelle Veränderungen zu
sundheitssystem dem gemeinsamen Ziel von Arzt und schaffen und Praxisabläufe anzupassen. Darunter
Patienten den Weg bereiten bzw. sie bestmöglich unterstüt- fallen z. B. die proaktive Termingestaltung (vorab
zen [18, 7]. festgelegte Konsultationstermine), ein auf die Be-
dürfnisse der Patienten abgestimmtes Praxisteam,
das sich aus verschiedenen Berufsgruppen zusam-
Entscheidende Komponenten des Chronic-Care- mensetzt (Ärzte, Psycho- und Physiotherapeuten,
Modells [5, 18] Sozialarbeiter u. a.), oder die begleitende Be-
36 5 Stärkung des Patientenselbstmanagements: treuung durch nichtärztliches Personal, z. B. ent-
Herzstück des Modells ist der vollinformierte und sprechend ausgebildete Arzthelferinnen oder
handlungsfähige Patient. Um das zu erzielen, Gemeindeschwestern.
müssen Patient und Arzt in ihren Bestrebungen für 5 Klinische Informationssysteme: Ob eine gut ge-
mehr Patientenautonomie durch das Gemein- führte Kartei oder elektronische Patientenregister
wesen und das Gesundheitssystem unterstützt – in jedem Fall muss der Behandlungsverlauf
werden. Dazu gehört die Edukation der Patienten präzise in seinen Abläufen, Ergebnissen und an-
ebenso wie die Umsetzung von gesundheits- stehenden Aufgaben dokumentiert werden. Das
förderlichen Verhaltensweisen und Selbstbe- erleichtert das vorausschauende Patientenmana-
wältigungsstrategien. gement und ermöglicht Evaluation und Reflexion
5 Entscheidungsunterstützung: Evidenzbasierte des eigenen Handelns.
Leitlinien, eine gute Kooperation mit Fachärzten
und anderen Leistungserbringern und optimierte
Praxisabläufe mit Remindersystemen oder Ent-
scheidungshilfen sollen Ärzten die Möglichkeit 36.4 Umsetzung und Evidenz
geben, jederzeit auf die externe Evidenz und somit des Chronic-Care-Modells
den aktuellen Wissensstand zuzugreifen oder Hin-
weise darauf zu erhalten. Seit der Entwicklung des Chronic-Care-Modells durch
5 Gestaltung der Versorgungsstrukturen: Eine Wagner et al. [19] haben sich zahlreiche Publikationen mit
Versorgung, die auf die Behandlung akut erkrank- der Ausgestaltung des Modells, seiner Umsetzung in der
Versorgung sowie seiner Anwendung auf spezifische Er-
36.5 · Ein Chronic-Care-Modell für Schmerzpatienten
399 36
krankungen befasst. Die vorhandenen Studien scheinen konsultieren ihren betreuenden Arzt in der Regel dann,
die Vermutung zu stützen, dass eine Umgestaltung der wenn die Schmerzen sehr stark ausgeprägt sind. Unweiger-
Versorgung im Sinne des Chronic-Care-Modells zu besse- lich werden sich in einer solchen Situation die Arzt-Patient-
ren krankheitsspezifischen Zielgrößen führt (z. B. Peak- Gespräche auf die Schmerzlinderung fokussieren, während
flow bei Asthma, Hospitalisierungsrate bei Herzinsuffi- andere wichtige Aspekte wie das Sozialverhalten oder kör-
zienz). Diese Studien wurden vor allem im amerikanischen perliche Aktivität in dieser Akutsituation vergleichsweise
Versorgungskontext mit anderen Kooperationsstrukturen wenig Aufmerksamkeit erfahren. In einer proaktiven Ver-
als in Deutschland durchgeführt [3]. Angesichts der Viel- sorgungssituation dirigiert nicht der Schmerz des Patienten
fältigkeit von Interventionsmöglichkeiten im Sinne des das Versorgungsgeschehen, sondern die Termine erfolgen
Modells sind die Studien sehr heterogen, und die Wirk- nach Plan. Es ist dem Arzt möglich, den Patienten auch
samkeit ist in den meisten von ihnen nicht eindeutig dann zu erleben, wenn der Leidensdruck weniger ausge-
auf die Implementierung von Elementen innerhalb des prägt ist. Erst dann entsteht Raum für Gespräche, die den
Modells zurückzuführen. Umgang mit Schmerzen im Alltag betreffen.
In Deutschland kommt wohl die Versorgung im Rah- Adäquate Versorgungsstrukturen, die den Therapeu-
men eines Disease-Management-Programms oder eines ten in der Ausgestaltung einer biopsychosozialen Heran-
integrierten Versorgungsprogramms dem Grundgedan- gehensweise an den Schmerz unterstützen, sind wün-
ken der proaktiven Versorgung am nächsten. Auch hier schenswert. Ein interdisziplinäres strukturiertes Behand-
gibt es Hinweise, dass z. B. das Disease-Management- lungskonzept kann helfen, einerseits Überversorgung zu
Programm für Diabetes zu einer verbesserten Mortalität vermeiden und andererseits bei entsprechender Indikation
und Lebensqualität der eingeschlossenen Patienten führt. für intensivierte Therapien zeitnah tätig zu werden. Pa-
Eine eindeutige Aussage lässt die methodische Qualität der tientensubgruppen, die etwa aufgrund psychischer Be-
Studien allerdings nicht zu [6]. lastungssituationen oder Gefährdung der Berufsfähigkeit
eine erhöhte Behandlungsintensität benötigen, brauchen
funktionierende Schnittstellen. Ein regelmäßiges Screen-
36.5 Ein Chronic-Care-Modell ing auf das Vorliegen einer Depression oder Angsterkran-
für Schmerzpatienten kung sollte bei positivem Befund den zügigen Zugang zu
einer Psychotherapie nach sich ziehen können. Idealer-
Betrachtet man Schmerz als eine chronische Erkrankung, weise sollte die interdisziplinäre Versorgung chronischer
deren Behandlung zum Ziel hat, die Lebensqualität der Schmerzpatienten durch ein gemeinsames Kommunika-
Patienten zu verbessern und sie ganzheitlich im Sinne des tionssystem unterstützt werden. In der Nationalen Ver-
biopsychosozialen Modells zu behandeln, ist anzunehmen, sorgungsleitlinie Kreuzschmerz (NVL) werden die Anfor-
dass auch diese Patienten von einer Versorgung nach dem derungen an eine multimodale Rückenschmerzbehand-
Chronic-Care-Modell profitieren würden. Implementie- lung definiert. Hierzu gehören Fallkonferenzen, Teambe-
rungsversuche des Modells für die Versorgung chronischer sprechungen und Therapiepläne. Vernetzte ambulante
Schmerzpatienten gibt es bislang nicht. Im Folgenden Strukturen könnten hier in ähnlicher Weise auch zu einer
werden die oben besprochenen Komponenten des abgestimmten kontinuierlichen Versorgung beitragen
Chronic-Care-Modells auf die Versorgung von Schmerz- (über EDV-Vernetzung, aber auch Patiententagebücher
patienten angewendet: oder -pässe).
Die Anleitung der Patienten zum Selbstmanagement Auch die Notwendigkeit von Informationssystemen,
ist ein wesentlicher Bestandteil der Versorgung chroni- wie sie im Chronic-Care-Modell hervorgehoben wurden,
scher Schmerzpatienten. Die Patienten sollten die Warn- lässt sich in der Schmerzbehandlung feststellen. Eine fort-
signale für abwendbar gefährliche Verläufe kennen, die laufende und kontinuierliche Dokumentation erleichtert
Beschwerden als chronische Krankheit akzeptieren und z. B. das Monitoring der Schmerzmedikation, das Auf-
Selbstmanagementstrategien entwickeln. Neben indivi- decken medikamentöser und prognostischer Risiken so-
duellen Schulungen können Gruppenschulungen und wie die Güte des Informationstransfers zwischen den
Selbsthilfegruppen für die Patienten hilfreich sein. Aller- Leistungserbringern. Die kontinuierliche und umfassende
dings müssen noch wissenschaftliche Untersuchungen Datensammlung wird es langfristig vielleicht möglich
darüber folgen, ob Edukation die Versorgung chronischer machen, die lang gesuchten Subgruppen für Therapieeffi-
Schmerzpatienten verbessert [9]. zienz zu identifizieren.
Eine proaktive Versorgung ist ebenfalls ein wichtiges
und grundlegendes Element in der Betreuung chronischer > Eine optimale Versorgung der Patienten erfordert
Schmerzpatienten. Bislang erfolgt die Behandlung von ein gutes Patientenselbstmanagement, optimierte
Schmerzpatienten weitestgehend reaktiv: Die Patienten Praxisabläufe – den evidenzbasierten Empfehlun-
400 Kapitel 36 · Chronic-Care-Management

gen entsprechend –, unterstützende Versorgungs- 5. Epping-Jordan JE, Pruitt SD, Bengoa R, Wagner EH (2004)
Improving the quality of health care for chronic conditions.
strukturen sowie klinische Informationssysteme für
Quality & safety in health care 13(4):299–305. doi: 10.1136/
ein vorausschauendes und reflektiertes Patienten-
qhc.13.4.299
management. 6. Fuchs S, Henschke C, Blümel M, Busse R (2014) Disease manage-
ment programs for type 2 diabetes in Germany: a systematic
Für sich genommen sind die einzelnen Elemente des literature review evaluating effectiveness. Dtsch Arztebl int
Chronic-Care-Modells weder revolutionär noch erschei- 111(26):453–463. doi: 10.3238/arztebl.2014.0453
7. Gensichen J, Muth C, Butzlaff M, Rosemann T, Raspe H, Müller de
nen sie besonders innovativ. Erst in ihrer Gesamtheit kön-
Cornejo G et al (2006) Die Zukunft ist chronisch: das Chronic
nen sie in »kollaborativen« Versorgungsformen (Disease- Care-Modell in der deutschen Primärversorgung: Übergreifende
Management-Programmen, Patient-Centered Medical Behandlungsprinzipien einer proaktiven Versorgung für chronis-
Home, integrierter Versorgung etc.) ihre synergistische che Kranke. Z ärztl Fortbild Qual Gesundh wes 100(5):365–374
und sektorübergreifende Wirkung voll entfalten. In diesem 8. Gerlach FM, Szecsenyi J (2002) Warum sollen Disease-Manage-
ment-Programme hausarztorientiert sein? Gründe, Grenzen und
Sinne liefert das Chronic-Care-Modell auch eine interna-
Herausforderungen. Dtsch Arztebl (Suppl):20–26
tional abgestimmte strategische Unterstützung für die 9. Haines T, Gross AR, Burnie S, Goldsmith CH, Perry L, Graham N
Überwindung der ineffektiven Konkurrenz zwischen den (2009) A Cochrane review of patient education for neck pain.
Professionen hin zu einer funktionalen Versorgung, die am Spine 9(10):859–871. doi: 10.1016/j.spinee.2009.04.019
Bedarf der Bevölkerung orientiert ist. Vieles spricht für die 10. Pruitt SD, Epping-Jordan JE, Díaz J (2002) Innovative care for
chronic conditions. Building blocks for actions. Global Report.
Modernisierung und Förderung insbesondere der Primär-
WHO, Genf
versorgung statt einer fortschreitenden Spezialisierung. 11. Renders CM, Valk GD, Griffin SJ, Wagner EH, Eijk Van JT,
Nachhaltige Evidenz für die Stärken der Primärversorgung Assendelft WJ (2001) Interventions to improve the management
liegt inzwischen vor. of diabetes in primary care, outpatient, and community settings:
a systematic review. Diabetes Care 24(10):1821–1833
> Ein starkes Bündnis von Patienten, Hausarzt und
12. Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im
beteiligten Fachgruppen ist Voraussetzung für eine Gesundheitswesen (2009) Koordination und Integration −
qualitativ hochwertige Versorgung! Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren
Lebens. Sondergutachten 2009. Baden Baden. http://www.
Für die aktuell propagierten Modelle zur integrierten Ver- svr-gesundheit.de/index.php?id=14. Zugegriffen: 8. Juni 2015
sorgung stehen trotz der im Grundsatz »richtigen« Ansätze 13. Schwartz F (Hrsg) (1991) Gewonnene Lebensjahre – biologische
die abschließenden wissenschaftlichen Nachweise noch Betrachtungen und Fragen zur Nutzen- und Kostendiskussion in
der Medizin aus sozialmedizinischer Sicht. Unter Mitarbeit von
aus, und Messungen sind methodisch schwierig und sehr
Robert-Bosch-Stiftung. Bleicher-Verlag, Gerlingen
komplex. So sind z. B. Skaleneffekte und die Auswirkungen 14. Shortell SM, Gillies RR, Anderson DA (1994) The new world of
von großen Systemen auf die Beziehung (Distanz) zwi- managed care: creating organized delivery systems. Health Aff
schen Versorgern und Zielgruppen oder die Auswirkun- (Millwood) 13(5):46–64
36 gen von verschiedenen Organisations- bzw. Versorgungs- 15. Taylor SJC, Pinnock H, Epiphaniou E, Pearce G, Parke HL,
Schwappach A et al (2014) Health services and delivery research.
formen auf die Versorgungsqualität nicht abschließend
A rapid synthesis of the evidence on interventions supporting
untersucht [14]. Zwar gibt es Bedenken und Entwicklungs- self-management for people with long-term conditions: PRISMS
bedarf, was den Stellenwert, die Ausgestaltung und den – Practical systematic Review of Self-Management Support for
optimalen »Skill-Mix«, also die optimale Zusammen- long-term conditions. Southampton (UK): NIHR Journals Library.
setzung von Berufsgruppen in der Primärversorgung, Health Services and Delivery Research
angeht, jedoch kann dieser u. a. anhand des Chronic-Care- 16. Timmreck TC (1987) Dictionary of health services management, 2.
Aufl. MD: National Health Pub, Owings Mills
Modells identifiziert und fortentwickelt werden.
17. Wagner E (2005) Meeting the needs of chronically ill people. Die
Zukunft ist chronisch. Das Chronic Care Model in der Primär-
medizin. Institut für Allgemeinmedizin, Universität Frankfurt,
Literatur Frankfurt/Main. http://www.allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de/
forschung/wagner.pdf. Zugegriffen: 8. Juni 2015
1. Bodenheimer T (2002) Improving primary care for patients with 18. Wagner EH, Austin BT, Davis C, Hindmarsh M, Schaefer J, Bonomi A
chronic illness. JAMA 288(14):1775. doi: 10.1001/ (2001) Improving chronic illness care: translating evidence into
jama.288.14.1775 action. Health Aff (Millwood) 20(6):64–78
2. Bühring P (2012) Patienten mit Chronischen Schmerzen: Vier 19. Wagner EH, Austin BT, Korff M von (1996) Organizing care for
Jahre warten. Dtsch Arztebl 109(26):A-1361/B-1177/C-1157 patients with chronic illness. Milbank Q 74(4):511–544
3. Coleman K, Austin BT, Brach C, Wagner EH (2009) Evidence on the 20. Wilson T, Buck D, Ham C (2005) Rising to the challenge: will the
Chronic Care Model in the new millennium. Health affairs (Project NHS support people with long term conditions? BMJ
Hope) 28(1):75–85. doi: 10.1377/hlthaff.28.1.75 330(7492):657–661. doi: 10.1136/bmj.330.7492.657
4. Deyo RA, Mirza SK, Turner JA, Martin, BI (2009) Overtreating 21. Wu SY, Gray A (2000) Projection of chronic illness prevalence and
chronic back pain: time to back off? J Am Board Fam Med cost inflation. RAND Project Memorandum PM-1144. Rand
22(1):62–68. Doi: 10.3122/jabfm.2009.01.080102 Health, Santa Monica (CA)
401 37

Arbeitsmedizinische Aspekte
S. Letzel

37.1 Einleitung – 402

37.2 Belastung-Beanspruchung-Bewältigungskonzept – 402

37.3 Arbeitsmedizinische Prävention von Rücken-


und Nackenschmerzen – 403
37.3.1 Gefährdungsbeurteilung – 403
37.3.2 Primärprävention – 404
37.3.3 Sekundärprävention – 405
37.3.4 Tertiärprävention – 407

37.4 Berufskrankheiten – 408

37.5 Ausblick – 409

Literatur – 410

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_37, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
402 Kapitel 37 · Arbeitsmedizinische Aspekte

Primäre Ziele der Arbeitsmedizin sind die Förderung, der Erkrankungen, Berufskrankheiten und Arbeits-
Erhalt und die Mitwirkung bei der Wiederherstellung von unfällen,
Gesundheit sowie Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit. 4 Mitwirkung bei der Förderung, dem Erhalt und der
Grundlage sämtlicher arbeitsmedizinischer Präventions- Wiederherstellung der individuellen Arbeits- und
maßnahmen ist die Gefährdungsbeurteilung. Arbeits- Beschäftigungsfähigkeit.
medizinische Prävention umfasst neben der Gesundheits-
förderung Maßnahmen der Primärprävention (Verhältnis- Die Arbeitsmedizin übernimmt die ärztliche Beratung von
und Verhaltensprävention), der Sekundärprävention Arbeitgebern und Arbeitnehmern an der Schnittstelle zwi-
(arbeitsmedizinische Vorsorge mit Pflichtvorsorge, Ange- schen Individuum und Betrieb sowie die Beratung von
botsvorsorge und Wunschvorsorge) und der Tertiärpräven- Handelnden in der integrierten medizinischen Versorgung
tion (berufliche Wiedereingliederung). Unter Einhaltung der bei Fragen der betrieblichen Gesundheitsförderung und
sozialrechtlichen Randbedingungen können einzelne Er- Prävention, der arbeits- und umweltbezogenen Diagnostik
krankungen des Rückens als Berufskrankheit anerkannt und und Therapie, der arbeits- und beschäftigungsfähigkeits-
in Abhängigkeit ihrer Schwere ggf. entschädigt werden. In fördernden Rehabilitation sowie bei versicherungsmedizi-
der Regel bedürfen Erkrankungen und Beschwerden im Be- nischen Fragen.
reich von Rücken und Nacken bei berufstätigen Personen Die Arbeitsmedizin stützt sich auf eine ganzheitliche
eine interdisziplinäre Zusammenarbeit unter Einbeziehung Betrachtung des arbeitenden Menschen mit Berücksichti-
des Betriebsarztes/der Betriebsärztin. gung somatischer, psychischer und sozialer Prozesse. Ar-
beitsmedizin handelt auf der Grundlage eines wissen-
schaftlich begründeten medizinischen Methodeninventars
37.1 Einleitung und nutzt auch Erkenntnisse und Methoden anderer
Wissenschaftsdisziplinen [9].
Das Fach Arbeitsmedizin wird von der Deutschen Gesell- Diese Definition zeigt, dass der multikausale und inter-
schaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. disziplinäre Ansatz ein wesentliches Anliegen des Fachs ist.
(DGAUM) wie folgt definiert: Das Gebiet Arbeitsmedizin Die DGAUM hat daher auch als wissenschaftliche Fach-
umfasst als präventivmedizinisches Fach die Wechsel- gesellschaft u. a. an der nationalen Versorgungsleitlinie
beziehungen zwischen Arbeits- und Lebenswelten einer- zum Kreuzschmerz [1] mitgearbeitet.
seits sowie Gesundheit und Krankheiten andererseits. Im
Mittelpunkt stehen dabei:
4 Erhalt und die Förderung der physischen und 37.2 Belastung-Beanspruchung-
psychischen Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Bewältigungskonzept
arbeitenden Menschen,
4 Gefährdungsbeurteilung der Arbeitsbedingungen, Als Grundlage für ein interdisziplinäres praktisches
4 Vorbeugung, Erkennung, Behandlung und Begutach- Handeln findet im Bereich der Arbeitsmedizin und in den
37 tung arbeits- und umweltbedingter Risikofaktoren, Arbeitswissenschaften das Belastung-Beanspruchung-
Erkrankungen und Berufskrankheiten, Bewältigungskonzept große Akzeptanz. Nach Scheuch [19]
4 Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefährdun- ist die Grundlage dieses theoretischen Konzepts zunächst
gen, einschließlich individueller und betrieblicher die Trennung zwischen dem, was auf den Organismus aus
Gesundheitsberatung, der Umwelt am Arbeitsplatz einwirkt – der Belastung –,
4 Vermeidung von Erschwernissen und Unfallgefahren und der Reaktion des Organismus auf diese Belastung –
sowie der Beanspruchung. Die Belastung ist dabei eine wertfreie
4 berufsfördernde Rehabilitation. Bezeichnung, die sich aus der Art der Arbeitsaufgabe und
> Die Ziele der Arbeitsmedizin bestehen in der
den aus den Arbeits- und Ausführungsbedingungen resul-
Förderung, Erhaltung und Mitwirkung bei der
tierenden Einflüssen auf den Arbeitenden ergibt. Häufig
Wiederherstellung von Gesundheit und Arbeits-
werden verschiedene Belastungsarten wie physische, psy-
und Beschäftigungsfähigkeit des Menschen.
chische und psychosoziale Belastungen sowie Belastungen
durch Umweltfaktoren (physikalische, chemische und bio-
Die Ziele der Arbeitsmedizin werden umgesetzt durch: logische Faktoren) singulär betrachtet. Diese monokausale
4 Bereitstellung von wissenschaftlichen Grundlagen Betrachtungsweise ist aber meist bei multikausal entste-
für die menschengerechte Gestaltung von Arbeit, henden Beschwerden und Erkrankungen – wie auch bei
4 Aufdeckung von Ursachen und Ableitung von Rücken- oder Nackenschmerzen – nicht zielführend.
präventiven Maßnahmen bei arbeitsbedingten Aus der Gesamtheit der einzelnen Belastungsarten
Gesundheitsgefährdungen, arbeitsbedingten resultiert die Beanspruchung. Scheuch beschreibt die
37.3 · Arbeitsmedizinische Prävention von Rücken- und Nackenschmerzen
403 37
Wechselbeziehung zwischen Belastung und Beanspru- bzw. 13,5 % (Frauen). Bedenkt man zusätzlich, dass die
chung wie folgt [19]: Mehrheit der Deutschen einen Computer am Arbeitsplatz
»Die Wirkung von Belastung auf den Menschen als Be- nutzen und entsprechende Fehlbelastungen zu Schmerzen
anspruchung geschieht nach Rezeption, der ›Aufnahme‹ im Rücken- sowie Nacken- und Schulterbereich führen
von Belastungen, über die jeweils spezifischen Sensoren können, wird die Relevanz der Thematik an vielen Arbeits-
auf 3 verschiedenen Wegen: plätzen deutlich.
4 über spezifische Wirkungen auf Organe und Organ- Erhöhte körperliche Belastungen sind oft verbunden
systeme durch die speziellen Eigenschaften der Be- mit Beanspruchungen (u. a. schmerzhaften Verspannun-
lastungsarten und die damit verbundenen speziellen gen, Einschränkungen der Beweglichkeit sowie weiteren
Anpassungsreaktionen des Organismus, Beschwerden und funktionellen Einschränkungen) im Be-
4 über unspezifische Wirkungen, die jeder Reiz auf den reich des Nackens und der Wirbelsäule bzw. des Rückens.
Organismus durch die über die Formatio reticularis Bei langjährigen sehr hohen Belastungen kann es arbeits-
ablaufenden Veränderungen des allgemeinen un- bedingt zur Verstärkung der altersbedingten Abnutzung
spezifischen Aktivitätsniveaus ausübt, und unspezi- der Wirbelsäule u. a. in Form von Bandscheibenschäden
fische Wirkungen, die allgemeine Anpassungsreak- kommen.
tionen charakterisieren, Bei der bereits oben erwähnten Befragung von 20.000
4 durch die subjektive Bewertung der Belastung.« Beschäftigten in Deutschland [17] gaben 44 % der Männer
und 51,4 % der Frauen an, dass bei ihnen in den letzten
Das Ausmaß und die Art der Beanspruchung werden in 12 Monaten während der Arbeit bzw. an Arbeitstagen
diesem Prozess außer durch die konkreten Eigenschaften Rückenbeschwerden aufgetreten sind. Hiervon waren
und die konkrete Beanspruchung durch die individuellen 23,3 % (Männer) und 27,8 % (Frauen) wegen dieser Be-
Voraussetzungen der arbeitenden Person bestimmt [19]. schwerden in Behandlung. Schmerzen im Nacken- und
Prinzipiell sind körperliche Anforderungen an das Schulterbereich traten bei 39,7 % (Männer) und 63,5 %
Muskel-Skelett-System zur Aufrechterhaltung der Ge- (Frauen) auf. In Behandlungen waren hiervon 18,2 %
sundheit notwendig und dürfen nicht an sich als schädlich (Männer) bzw. 34,4 % (Frauen).
bewertet werden. Ergonomisch gestaltete Umgebungs-
bedingungen sowie der individuellen Konstitution ange-
passte und nicht überfordernde körperliche Belastungen 37.3 Arbeitsmedizinische Prävention
des Bewegungsapparats sind per se nicht schädlich. Dies von Rücken- und Nackenschmerzen
betrifft sowohl die außerberuflichen als auch die beruf-
lichen Belastungen. Die arbeitsmedizinische Prävention umfasst das Ge-
Unter bestimmten Bedingungen können jedoch aus samtspektrum von Primär- (Krankheitsvermeidung),
beruflichen und außerberuflichen Tätigkeitsanforderun- Sekundär- (Früherkennung) und Tertiärprävention
gen wesentlich erhöhte Belastungen resultieren und u. a. (Wiederherstellung und Rehabilitation) sowie betrieb-
zu Rücken- und Nackenschmerzen bis hin zu Berufs- licher Gesundheitsförderung (. Abb. 37.1). Die arbeits-
krankheiten führen. Die multifaktorielle Ätiologie ist hier- medizinische Prävention geht dabei über die Vermeidung
bei zu beachten. Aus arbeitsmedizinischer Sicht sind neben von Berufskrankheiten hinaus und ist das Kernelement des
außerberuflichen Faktoren (u. a. Bewegungsmangel, betrieblichen Gesundheitsmanagements. Eine wichtige
schlechte körperliche Konstitution, entsprechende Erkran- Rolle spielt dabei die Gefährdungsbeurteilung. Die arbeits-
kungen) berufliche Faktoren (u. a. Zwangshaltungen, ein- medizinische Prävention gewährleistet die Einheit von
seitige körperliche Belastungen, Heben, Halten, Tragen, Verhältnis- und Verhaltensprävention [8].
Ziehen oder Schieben von Lasten, falsche Bewegungsmus-
ter, unergonomische Arbeitsplatzgestaltung, psychische
Belastungen) von wesentlicher Bedeutung. 37.3.1 Gefährdungsbeurteilung
Bei einer Befragung von 20.000 Erwerbstätigen im Jahr
2012 [17] gaben beispielsweise 19,2 % (Männer) bzw. Das Arbeitsschutzgesetz [6] hat dem Arbeitgeber die
14,1 % (Frauen) an, Arbeiten in Zwangshaltungen aus- systematische Beurteilung der Arbeitsbedingungen und
zuführen. Hiervon fühlten sich 8,9 % (Männer) bzw. 7,9 % deren Dokumentation als zentrale Aufgabe vorgegeben.
(Frauen) belastet. Betrachtet man das Heben und Tragen Die Gefährdungsbeurteilung soll sicherstellen, dass sich
schwerer Lasten, gaben in dieser Untersuchung 24,1 % die Maßnahmen des Arbeitsschutzes an den konkreten
(Männer) bzw. 21,8 % (Frauen) an, dass sie schwere Lasten Gesundheitsproblemen im Betrieb orientieren und dass
am Arbeitsplatz (Frauen >10 kg, Männer >20 kg) heben situationsgerecht entsprechende Maßnahmen zur Beseiti-
und tragen. Davon belastet fühlen sich 11,7 % (Männer) gung bzw. Minimierung der erkannten Gefährdungen
404 Kapitel 37 · Arbeitsmedizinische Aspekte

Gesundheitsförderung

Prävention am
Arbeitsplatz

Primärprävention Sekundärprävention Tertiärprävention

Schadensverhütung Schadensbegrenzung Schadensrevision

5 Beratung 5 Erkennen von 5 medizinische


5 Hinwirken auf Risikofaktoren Rehabilitation
Umsetzung
5 Früherkennung von 5 berufliche
5 Verhaltensprävention Erkrankungen Rehabilitation
5 Verhältnisprävention
5 (Akuttherapie)
5 unspezifisch
5 spezifisch

. Abb. 37.1 Arbeitsmedizinische Prävention und betriebliche Gesundheitsförderung

ergriffen werden können. Die Beteiligung fachkundiger Zur Vermeidung von Rücken- und Nackenbeschwer-
Personen bei der Gefährdungsbeurteilung, z. B. der Be- den sind bei der Gefährdungsbeurteilung zu beachten:
triebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit, ist dabei 4 Höhe, Dauer und Häufigkeit der Belastung der einzel-
zu fordern. nen Arbeitsprozesse sowie deren Ausführung,
> Grundlage aller arbeitsmedizinischen Präventions-
4 die dabei eingenommene Körperhaltung,
maßnahmen ist die Gefährdungsbeurteilung.
4 eine individuell angepasste ergonomische Arbeits-
platzgestaltung,
Wie generell üblich, muss auch in einem Kontext mit Ar- 4 eine menschengerechte Arbeitsorganisation (z. B.
beitsbedingungen, die den Rücken- und Nackenbereich systematischer Wechsel von Tätigkeiten zum
belasten können, eine Gefährdungsbeurteilung als Erst- Belastungsausgleich) sowie
beurteilung an bestehenden oder neuen Arbeitsplätzen 4 die Vermeidung ungünstiger psychischer und
durchgeführt werden, zudem sind regelmäßige Wieder- psychosozialer Belastungen am Arbeitsplatz.
holungsbeurteilungen erforderlich. Insbesondere ist beim
37 Auftreten von Rücken- und Nackenbeschwerden am
Arbeitsplatz bei einzelnen oder mehreren Beschäftigten 37.3.2 Primärprävention
die Gefährdungsbeurteilung der speziellen Arbeitsbe-
reiche dringend erforderlich. Die entsprechenden Gefähr- Die Primärprävention von Rücken- und Nackenbeschwer-
dungen und Belastungen können durch Begehungen der den umfasst alle spezifischen und unspezifischen Maßnah-
Arbeitsbereiche und zusätzliche Gespräche mit den men zur Schadensvermeidung. Man unterscheidet dabei
Beschäftigten ermittelt werden. In der Regel ist hierbei die zwischen Verhältnisprävention und Verhaltensprävention.
Beobachtung der Arbeitsabläufe direkt am Arbeitsplatz Eine Maßnahme der Verhältnisprävention zur Ver-
unverzichtbar. Zur Beurteilung der Arbeitsbedingungen meidung von Rücken- und Nackenschmerzen kann die
u. a. beim Heben, Halten und Tragen sowie Ziehen und Optimierung der Arbeitsplatzergonomie sowie von
Schieben von Lasten haben sich die Leitmerkmalsmetho- Arbeitsabläufen und der Arbeitsorganisation sein. Auch
den als Analyseverfahren [5] bewährt. Auch in der arbeits- Maßnahmen zum Abbau psychischer und psychosozialer
medizinischen AWMF-S1-Leitlinie »Körperliche Be- Belastungen (z. B. Erweiterung von Handlungsspiel-
lastungen des Rückens durch Lastenhandhabung und räumen) können hier u. a. primärpräventiv wirken. Die
Zwangshaltungen im Arbeitsprozess« – erstellt von der bereits unter 7 Abschn. 37.3.1 erwähnte AWMF-Leitlinie
Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umwelt- weist zur Verhältnisprävention u. a. auf Folgendes hin:
medizin (DGAUM) und der Gesellschaft für Arbeits- »Für die Gestaltung der Arbeit (Arbeitsplätze, Arbeits-
wissenschaft (GfA) – finden sich weitere Hinweise zur mittel, Produkte) existieren Vereinbarungen überwiegend
Gefährdungsbeurteilung [2]. in Ergonomie-Normen. Sie zielen auf die Gestaltung neuer
37.3 · Arbeitsmedizinische Prävention von Rücken- und Nackenschmerzen
405 37

. Tab. 37.1 Maßnahmen zur Vermeidung erhöhter Belastungen im Rücken- und Nackenbereich (TOP-Prinzip).
(Mod. u. a. nach DGUV [10])

Technische Maß- Ergonomische Arbeitsplatzgestaltung bei der Planung und Veränderung von Arbeitsplätzen
nahmen (u. a.)
Einsatz technischer Hilfsmittel (z. B. höhenverstellbare Arbeitstische, Hebe- und Transporthilfen)

Verringerung von Ganzkörpervibrationen (geeignete Federungs- bzw. Dämpfungssysteme)

Organisatorische Betriebsanweisung zum manuellen Handhaben von Lasten


Maßnahmen (u. a.)
Einsatzplanung von Beschäftigten

Job-Rotation

Pausengestaltung

Personenbezogene Unterweisung und Beratung der Beschäftigten


Maßnahmen (u. a.)
Betriebliche Gesundheitsförderung

Arbeitsmedizinische Vorsorge (7 Abschn. 37.3.3, »Sekundärprävention«)

Maschinen und Arbeitsplätze und die Anwendung auf die Zu den eingesetzten Verfahren der Verhältnispräven-
Erwerbsbevölkerung beider Geschlechter. Für die Beur- tion zählen sowohl Information und Aufklärung über
teilung von Belastungen im Arbeits- und Gesundheits- Rücken- und Nackenbelastungen als auch Vermittlung von
schutz an bestehenden Arbeitsplätzen sind die ISO- Bewältigungstechniken und die Förderung von Hand-
Normen vorzuziehen (…). Die aus Normen abgeleiteten lungskompetenzen.
Belastungsgrenzen können für spezielle Fragestellungen Unter anderem nach dem Arbeitsschutzgesetz ist der
und Zielpopulationen auch oberhalb oder unterhalb der Arbeitgeber verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen
Werte für die allgemeine Erwerbsbevölkerung liegen« [2]. des Arbeitsschutzes zu treffen, damit die Gesundheit der
> Primärprävention umfasst sowohl Verhältnis-
Beschäftigten nicht durch die Arbeit gefährdet wird. Der
als auch Verhaltensprävention.
Gesetzgeber hat damit Maßnahmen der Verhältnis- und
Verhaltensprävention am Arbeitsplatz vorgeschrieben.
Die Verhaltensprävention zur Vermeidung von Rücken- Idealerweise sollten Verhältnis- und Verhaltensprävention
und Nackenschmerzen bezieht sich auf Maßnahmen der miteinander kombiniert werden.
Förderung gesundheitsgerechter Verhaltensweisen und Grundsätzlich sollten beim Arbeitsschutz technische
richtet sich vorwiegend an Einzelpersonen oder Gruppen Maßnahmen den Vorrang vor organisatorischen oder per-
von Personen. »Maßnahmen der Verhaltensprävention sonenbezogenen Maßnahmen haben. Zur Vermeidung
ergänzen die ergonomischen Maßnahmen der Arbeitsge- von Rücken- und Nackenbeschwerden gilt auch das sog.
staltung, indem sie im Rahmen akzeptabler Arbeitsbedin- TOP-Prinzip (T = technische Maßnahmen, O = organisa-
gungen Beschäftigte befähigen, ihre körperliche Belast- torische Maßnahmen, P = personenbezogene Maßnah-
barkeit des Muskel-Skelett-Systems und Leistungsfähigkeit men) (. Tab. 37.1).
der Muskulatur zu erhalten. Veränderungen des Lebens-
stils wegen des Mangels an regelmäßigen Alltagsbelastun-
gen, die Bewältigung einseitiger beruflicher Belastungen 37.3.3 Sekundärprävention
mit Defiziten der harmonischen Beanspruchung zusam-
menwirkender Muskelgruppen, aber auch die Erhaltung Arbeitsmedizinische Vorsorge im Rahmen der Sekundär-
der Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer, die ihre prävention zur Früherkennung von Erkrankungen und
berufliche Entwicklung vorwiegend auf körperlicher Gefährdungen, jedoch auch zum Erhalt der Beschäfti-
Arbeit aufgebaut haben, sind wichtige Anlässe zur Verhal- gungsfähigkeit ist zentraler Bestandteil der arbeitsmedizi-
tensprävention. Die Berücksichtigung berufsspezifischer nischen Prävention. Die arbeitsmedizinische Vorsorge
oder -typischer körperlicher Belastungen hinsichtlich kann einen wesentlichen Beitrag zur individuellen Präven-
Lastenhandhabungen und Zwangshaltungen steigert den tion leisten, wenn die Beurteilung der Arbeitsbedingungen
Effekt der Sekundärprävention und Rehabilitation bei allein bereits Hinweise auf eine Gesundheitsgefährdung
arbeitsbezogenen Muskel-Skelett-Erkrankungen. Sie er- ergeben hat. Umgekehrt können oft erst die Ergebnisse der
fordern Mindestkenntnisse der berufstypischen Belastun- arbeitsmedizinischen Vorsorge eine wesentliche Beur-
gen durch Lastenhandhabung und Zwangshaltungen« [2]. teilungsgrundlage für die Gefährdungsbeurteilung bieten.
406 Kapitel 37 · Arbeitsmedizinische Aspekte

Rechtliche Grundlagen der arbeitsmedizinischen Vor- vorsorge ist arbeitsmedizinische Vorsorge, die bei be-
sorge sind u. a. das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) und die stimmten, besonders gefährdenden Tätigkeiten veranlasst
Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMed- werden muss. Pflichtvorsorge muss vor Aufnahme der
VV). Unter anderem wird in § 11, »Arbeitsmedizinische Tätigkeit und anschließend in regelmäßigen Abständen
Vorsorge«, des ArbSchG Folgendes angeführt: »Der veranlasst werden. Der Arbeitgeber darf eine Tätigkeit nur
Arbeitgeber hat den Beschäftigten auf ihren Wunsch un- ausüben lassen, wenn der oder die Beschäftigte an der
beschadet der Pflichten aus anderen Rechtsvorschriften zu Pflichtvorsorge teilgenommen hat. Zur Vermeidung von
ermöglichen, sich je nach den Gefahren für ihre Sicherheit Beschwerden und Erkrankungen im Rückenbereich ist
und Gesundheit bei der Arbeit regelmäßig arbeitsmedizi- eine Pflichtvorsorge durchzuführen, wenn Tätigkeiten mit
nisch untersuchen zu lassen, es sei denn, auf Grund der einer Ganzkörpervibration durchgeführt werden und hier-
Beurteilung der Arbeitsbedingungen und der getroffenen bei der Expositionsgrenzwert A(8)=1,15 m/s2 in X- oder
Schutzmaßnahmen ist nicht mit einem Gesundheits- Y-Richtung oder A(8)=0,8 m/s2 in Z-Richtung erreicht
schaden zu rechnen« [6]. Die dabei anfallenden Kosten oder überschritten wird [3].
sind vom Arbeitgeber zu tragen. Die Qualifikationsan- Angebotsvorsorge ist arbeitsmedizinische Vorsorge,
forderung für den Arzt bzw. die Ärztin, die die arbeitsme- die bei bestimmten gefährdenden Tätigkeiten angeboten
dizinische Vorsorge durchführt, sind in § 7, »Anforde- werden muss. Zur Vermeidung von Beschwerden und
rungen an den Arzt oder die Ärztin«, der ArbMedVV Erkrankungen im Rücken und Nackenbereich hat der
geregelt. Hier heißt es: »Unbeschadet anderer Bestimmun- Arbeitgeber eine Angebotsvorsorge unter folgenden Expo-
gen (…) für einzelne Untersuchungsanlässe muss der Arzt sitionsbedingungen anzubieten [3]:
oder die Ärztin berechtigt sein, die Gebietsbezeichnung 4 Tätigkeiten mit Exposition durch Ganzkörpervibra-
‚Arbeitsmedizin‘ oder die Zusatzbezeichnung‚ Betriebs- tionen, wenn die Auslösewerte von A(8)=0,5 m/s2
medizin‘ zu führen. Er oder sie darf selbst keine Arbeitge- überschritten werden;
berfunktion gegenüber den zu untersuchenden Beschäf- 4 Tätigkeiten mit wesentlich erhöhten körperlichen
tigten ausüben. Verfügt der Arzt oder die Ärztin (…) für Belastungen, die mit Gesundheitsgefährdungen für
bestimmte Untersuchungen nicht über die erforderlichen das Muskel-Skelett-System verbunden sind durch
Fachkenntnisse oder die speziellen Anerkennungen oder 5 Lastenhandhabung beim Heben, Halten, Tragen,
Ausrüstungen, so hat er oder sie Ärzte oder Ärztinnen hin- Ziehen oder Schieben von Lasten,
zuzuziehen, die diese Anforderungen erfüllen« [3]. 5 repetitive manuelle Tätigkeiten oder
Arbeitsmedizinische Vorsorge im Sinne der ArbMedVV 5 Arbeiten in erzwungenen Körperhaltungen im
ist Teil der arbeitsmedizinischen Präventionsmaßnahmen Knien, in langdauerndem Rumpfbeugen oder
im Betrieb. Sie dient der Beurteilung der individuellen drehen oder in vergleichbaren Zwangshaltungen.
Wechselwirkungen von Arbeit und physischer und psychi-
scher Gesundheit und der Früherkennung arbeitsbedingter Wunschvorsorge ist arbeitsmedizinische Vorsorge, die bei
Gesundheitsstörungen sowie der Feststellung, ob bei Aus- Tätigkeiten, für die ein Gesundheitsschaden nicht aus-
37 übung einer bestimmten Tätigkeit eine erhöhte gesundheit- geschlossen werden kann, auf Wunsch des oder der Be-
liche Gefährdung besteht. Die arbeitsmedizinische Vorsorge schäftigten ermöglicht werden muss.
nach der ArbMedVV beinhaltet ein ärztliches Beratungsge- Die arbeitsmedizinische Bewertung der individuellen
spräch mit Anamnese einschließlich Arbeitsanamnese so- Risiken und Gefährdungen, die sich aus der arbeitsmedi-
wie körperliche oder klinische Untersuchungen, soweit die- zinischen Vorsorge ergeben, erfordern Kenntnisse über die
se für die individuelle Aufklärung und Beratung erforderlich spezielle Arbeitsaufgabe, die Arbeitsbedingungen und die
sind und der oder die Beschäftigte diese Untersuchungen Arbeitsabläufe. Aufgabe des Betriebsarztes/der Betriebs-
nicht ablehnt. Sie umfasst die Nutzung von Erkenntnissen ärztin ist auch die Entscheidung, ob ergänzende Unter-
aus der Vorsorge für die Gefährdungsbeurteilung und für suchungen und ggf. eine Behandlung durch eine fachärzt-
sonstige Maßnahmen des Arbeitsschutzes, aber nicht den liche Betreuung außerhalb der betriebsärztlichen Be-
Nachweis der gesundheitlichen Eignung für berufliche An- treuung eingeleitet werden sollten. Eine vertrauensvolle
forderungen nach sonstigen Rechtsvorschriften oder indivi- Zusammenarbeit zwischen den Betriebsärzten und nieder-
dual- oder kollektivrechtlichen Vereinbarungen [3]. gelassenen Kollegen unter Einbindung der Beschäftigten
> Nach ArbMedVV untergliedert sich die arbeits-
ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Die ärztliche
medizinische Vorsorge in Pflicht-, Angebots- und
Schweigepflicht ist hierbei selbstverständlich einzuhalten.
Wunschvorsorge.
Neben der individuellen Beratung des Arbeitnehmers
ist es eine weitere betriebsärztliche Aufgabe, die Ergebnis-
Die arbeitsmedizinische Vorsorge untergliedert sich dabei se der arbeitsmedizinischen Vorsorge auszuwerten und auf
in Pflicht-, Angebots- und Wunschvorsorge. Pflicht- deren Grundlage den Arbeitgeber zu beraten. Schwer-
37.3 · Arbeitsmedizinische Prävention von Rücken- und Nackenschmerzen
407 37
punkte bei der Beratung des Arbeitsgebers sind Maßnah- Berufliche Rehabilitation ist ein wesentlicher Bestandteil
men zur Verminderung von Über- und Fehlbelastungen. der Tertiärprävention u. a. von Erkrankungen im Rücken-
Das Ziel ist die Erhaltung der Arbeits- und Erwerbsfähig- und Nackenbereich. Der Berufsverband der deutschen
keit von Beschäftigten. Diese Beratung kann im Zusam- Betriebs- und Werksärzte (VDBW) stellt die Handlungs-
menhang mit den Ergebnissen der arbeitsmedizinischen spielräume der Betriebsärzte bei der beruflichen Rehabili-
Vorsorge auch auf die generellen Verhältnisse am Arbeits- tation wie folgt zusammen: »Betriebsärzte können früh-
platz gerichtet sein, wenn aufgrund von Vorsorge und zeitig Erholungs- und Rehabilitationsbedarf erkennen,
Gefährdungsbeurteilungen bestimmte Belastungen oder fachlich im Akutfall begleiten, auf Wunsch zu Behand-
Bedingungen der Tätigkeit als Ursachen dauerhafter lungsalternativen beraten, bei der Auswahl der Rehabilita-
Beschwerden anzunehmen sind. Dabei ist ebenfalls die tionsmaßnahmen helfen, Informationen zum Anforde-
ärztliche Schweigepflicht unbedingt einzuhalten. Die Be- rungsprofil für die Reha-Klinik beschaffen, sozialmedizi-
ratung kann andererseits auf den Einzelfall gerichtet sein, nische Hilfestellung im Krankheitsprozess leisten, bei der
wenn die körperlichen Beschwerden und Erkrankungen Wiedereingliederung im Betrieb begleiten, im Abgleich
des Beschäftigten dem Arbeitgeber bekannt sind oder vom zwischen Belastung und Beanspruchung einen nach-
Betriebsarzt eine Mitwirkung an der Lösung eines indivi- haltigen Genesungs- und Rehabilitationserfolg sichern und
duellen Problemfalls erwartet wird. In Einzelfällen können so den Arbeitsplatz des Mitarbeiters erhalten helfen« [20].
ergonomische, arbeitsorganisatorische und sonstige perso- Zum betrieblichen Eingliederungsmanagement wird
nenbezogene Maßnahmen am Arbeitsplatz erfolgreicher vom Berufsverband wie folgt Stellung genommen:
umgesetzt werden, wenn die Beratung des Arbeitgebers
konkret unter Einbeziehung des Beschäftigten und nicht » Kernaufgabe des Betriebsarztes ist nach § 3(1) 1.f )
nur als abstrakte Gestaltungsempfehlung erfolgt [12]. ASiG die »Beratung in Fragen des Arbeitsplatzwechsels
sowie die Eingliederung und Wiedereingliederung Be-
hinderter«. Eine möglichst frühzeitige Er fassung der
37.3.4 Tertiärprävention Langzeiterkrankungen ermöglicht die rasche Einbin-
dung des Betriebsarztes in den Genesungsprozess und
Rehabilitations- und Wiedereingliederungsmaßnahmen damit die wertvolle Vernetzung der gesundheitlichen
bei Beschäftigten mit Beschwerden bzw. Erkrankungen im Rehabilitation mit den betrieblichen Erfordernissen.
Rücken- und Nackenbereich haben den Erhalt der Er- Die frühzeitige Vorbereitung des Betriebes auf zu er-
werbsfähigkeit oder die Wiederherstellung der Arbeits- wartende Einschränkungen führt zu einer besseren
fähigkeit als wesentliches Ziel. Die Wiedereingliederung »Planbarkeit« von Langzeiterkrankungen und so zu
ins Erwerbsleben wird in der Praxis häufig nur unbefriedi- einer Kostenreduktion für zusätzliches Personal und
gend erreicht, da die erforderlichen Kenntnisse über den dessen Einarbeitung. Ferner können schon frühzeitig
jeweiligen Arbeitsplatz des Patienten seitens der Rehabili- externe Partner der Sozialversicherung mit ihren Hilfs-
tationsmediziner hierfür häufig unzureichend sind. Zu- angeboten eingebunden werden.
dem ist der Informationsfluss zwischen dem zuständigen Der Nutzen für den Mitarbeiter liegt auf der Hand:
Betriebsarzt/der Betriebsärztin und den Rehabilitations- Mit der »Unterstützung in schweren Zeiten« durch
medizinern meist unzureichend. den Betriebsarzt als »Lotse im Medizindschungel«
An der Schnittstelle zwischen Betrieb und Mitarbeiter- erhöhen sich die Chancen auf eine erfolgreiche
schaft können Betriebsärzte die Kenntnisse über die Ar- Diagnostik und Therapie, das Selbstwertgefühl des
beitsplätze mit ihren konkreten Anforderungen und orga- Mitarbeiters wird gestärkt und eventuelle Ansprüche
nisatorischen Rahmenbedingungen im Betrieb mit den an die Träger der Sozialversicherung können früh-
Kenntnissen über den Gesundheitszustand, die Fähigkei- zeitig geltend gemacht werden.
ten und gesundheitlichen Einschränkungen der einzelnen Durch engmaschige Begleitung der Wiedereingliede-
Beschäftigten verbinden. Diese besondere Mittlerrolle er- rung durch den Betriebsarzt auf der Basis eines positi-
laubt es dem Betriebsarzt, frühzeitig betrieblichen oder ven Leistungsprofils (…) werden Überforderungen am
individuellen Rehabilitationsbedarf zu erkennen und Arbeitsplatz vermieden und einer drohenden Chronifi-
Maßnahmen zum Nutzen von Betrieb und Beschäftigten zierung von Erkrankungen wird vorgebeugt. [20]
einzuleiten. Das macht ihn zu einem effizienten Partner in
der Rehabilitation. Werks- und Betriebsärzte sowie Rehabilitationsträger
sollen bei der Einleitung und Durchführung von Rehabili-
> Berufliche Wiedereingliederung sollte interdis- tationsleistungen eng zusammenarbeiten. Das ist Zielset-
ziplinär unter Einbindung des Betriebsarztes/der zung der Gemeinsamen Empfehlung zur Verbesserung der
Betriebsärztin erfolgen. gegenseitigen Information und Kooperation aller beteilig-
408 Kapitel 37 · Arbeitsmedizinische Aspekte

. Tab. 37.2 Berufskrankheiten des Rückens und Nackens nach der derzeit gültigen Berufskrankheitenverordnung (BMJV [7])

BK-Nummer Legaldefinition

2107 Abrissbrüche der Wirbelfortsätze

2108 Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer
Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten
gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich
waren oder sein können

2109 Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der
Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung
oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können

2110 Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung
von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die
Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können

ten Akteure nach § 13 Abs. 2 Nr. 8 und 9 SGB IX (Stand: schen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen ver-
22. März 2004), die auf der Ebene der Bundesarbeits- ursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch
gemeinschaft für Rehabilitation (BAR) erarbeitet wurde: ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grad als
»Diese Empfehlung soll einerseits die Grundlage dafür die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Sie kann dabei
schaffen, dass die Rehabilitationsträger, behandelnde bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrank-
Ärzte/Ärztinnen, Betriebs- und Werksärzte/ärztinnen ihre heiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten
Zusammenarbeit bei der Einleitung und Ausführung von Gefährdungsbereichen verursacht worden sind oder wenn
Leistungen zur Teilhabe intensivieren. Andererseits soll sie sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die
einen Informationsaustausch der Rehabilitationsträger mit für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wie-
behinderten Beschäftigten, betrieblichen Arbeitnehmer- deraufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein
vertretungen, Arbeitgebern/-innen, Integrationsämtern, können [6].
Beratungsdiensten, gemeinsamen Servicestellen, Einrich- Wird eine Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt,
tungen der Rehabilitation und Teilhabe sowie Interessen- stehen dem Betroffenen die bestmögliche medizinische
verbänden der behinderten und von Behinderung bedroh- Versorgung sowie in Abhängigkeit der Schwere der
ten Menschen einschließlich der Interessenvertretungen Erkrankung ggf. Rehabilitationsmaßnahmen, Lohnaus-
behinderter Frauen und Selbsthilfegruppen gewährleisten. gleich, Umschulung, Rente und/oder technische Maß-
Vorrangiges Ziel ist es, den Beschäftigten den Arbeitsplatz nahmen am Arbeitsplatz zu.
37 zu erhalten. Die Kompetenzen der betroffenen Menschen Die derzeit gültige Berufskrankheitenliste weist die in
und ihre Selbstbestimmung sind zu fördern. Der Koopera- . Tab. 37.2 angeführten 4 Positionen auf, nach denen bei
tions- und Kommunikationsprozess zwischen den be- Einhaltung der sozialrechtlichen Randbedingungen
troffenen Menschen und Beteiligten ist barrierefrei zu Erkrankungen des Rückens bzw. des Nackens als Berufs-
gestalten. Die Bestimmungen des Datenschutzes sind zu krankheiten anerkannt und ggf. entschädigt werden können.
beachten« [4]. Bei der BK-Nr. 2107 BKV (. Tab. 37.2) handelt es sich
um Ermüdungsbrüche, vorwiegend der Dornfortsätze der
unteren Hals- und oberen Brustwirbelsäule. Diese Berufs-
37.4 Berufskrankheiten krankheit hat primär nur noch historische Bedeutung, sie
wurde früher insbesondere nach Erdarbeiten mit der
Nach § 9 Sozialgesetzbuch VII werden Berufskrankheiten Schaufel beobachtet und wurde daher auch als »Schipper-
in Deutschland wie folgt definiert: Berufskrankheiten sind krankheit« bezeichnet [18].
Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsver- Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lenden-
ordnung mit Zustimmung des Bundesrats als Berufs- wirbelsäule haben eine multifaktorielle Ätiologie. In
krankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer Deutschland gab es eine lange Diskussion, bevor die BK-
den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit erlei- Nr. 2108 BKV im Rahmen der Wiedervereinigung 1992 in
den. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechts- die Berufskrankheitenliste aufgenommen wurde [13, 16].
verordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu Als anerkennungsfähige Belastungsformen werden in der
bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizini- Legaldefinition der Berufskrankheit 2108 BKV das lang-
37.5 · Ausblick
409 37

. Tab. 37.3 Anerkannte und entschädigte Berufskrankheiten der BK-Nummern 2107–2110 BKV in den Jahren 2011–2013 (DGUV [11])

Berufskrankheit BK-Nummer BKV Angezeigt 2011 2012 2013


Anerkannt

Wirbelfortsätze 2107 Angezeigt 3 3 1


Anerkannt – 1 –

Lendenwirbelsäule, Heben und 2108 Angezeigt 4.739 4.806 4.722


Tragen Anerkannt 378 370 363

Halswirbelsäule 2109 Angezeigt 920 883 811


Anerkannt 1 1 5

Lendenwirbelsäule, Ganzkörper- 2110 Angezeigt 232 189 191


schwingungen Anerkannt 7 3 5

jährige Heben oder Tragen schwerer Lasten sowie langjäh- Hand sowie Schülerunfallversicherung angezeigten und
rige Tätigkeiten in extremer Rumpfhaltung genannt. Was anerkannten Berufskrankheiten der BK-Nummern 2107–
hierunter zu verstehen ist, ist Gegenstand kontroverser 2110 der Berufskrankheitenverordnung (BKV) sind in
Diskussionen. Weder die Deutsche Wirbelsäulenstudie . Tab. 37.3 zusammengestellt. Die Darstellung zeigt, dass
[21, 22] noch die DWS-Richtwertestudie [23, 24] konnten insgesamt nur relativ wenige Erkrankungsfälle im Bereich
hierzu belastbare Ergebnisse liefern. des Rückens und des Nackens als Berufskrankheit in
Das fortgesetzte Tragen schwerer Lasten auf der Schul- Deutschland anerkannt und entschädigt werden.
ter führt zu hohen statischen Belastungen der Bewegungs-
segmente der Halswirbelsäule mit Hyperlordosierung und
extremer statischer Belastung der Nackenmuskulatur. Die- 37.5 Ausblick
se Belastung mit entsprechender Bandscheibenschädigung
ist bei der Tätigkeit von sog. Fleischträgern beobachtet Beschwerden im Rücken- und Nackenbereich werden
worden, die Tierhälften im Nacken transportiert hatten, auch zukünftig im Zusammenhang mit der Berufstätigkeit
und gilt auch für vergleichende Tätigkeiten. Ein begründe- eine wichtige Rolle spielen. Ursächlich werden hierfür
ter Verdacht auf die entsprechende Berufskrankheit setzt sowohl Über- als auch Unterforderungen des Halte- und
u. a. mindestens ein über 10 Jahre regelmäßiges (Mehrzahl Bewegungsapparats sein.
der Arbeitstage eines Jahres) Tragen von Lasten ab 50 kg Unter Berücksichtigung des demografischen Wandels
auf der Schuler voraus [14]. unserer Gesellschaft und der Heraufsetzung des Renten-
Vertikale Ganzkörperschwingungen sind dazu ge- eintrittsalters werden bei einer im Durchschnitt älter
eignet, bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lenden- werdenden Belegschaft Rücken- und Nackenschmerzen
wirbelsäule zu verursachen. Diese können bei Einhaltung eine immer größere Bedeutung im betriebsärztlichen
der sozialrechtlichen Randbedingungen als Berufskrank- Umfeld bekommen – zumal sie mit zunehmendem Alter
heit nach der BK-Nr. 2110 BKV anerkannt und ggf. ent- längere Arbeitsunfähigkeitszeiten nach sich ziehen. Aus
schädigt werden. Schwingungen im Resonanzbereich zwi- arbeitsmedizinischer Sicht sind daher Maßnahmen der
schen 3 und 5 Hz wirken am stärksten. Eine Gefährdung Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention von Beschwer-
im Sinne dieser Berufskrankheit wird angenommen, wenn den bzw. Erkrankungen im Rücken- und Nackenbereich
in der Regel eine mindestens 10-jährge (in Extremfällen besonders bedeutsam.
mindestens 5-jährige) Einwirkung vorwiegend vertikaler Damit die Beschäftigungsfähigkeit bis zum Eintritt in
Schwingungen in Sitzhaltung vorliegt. Von einer Gefähr- die Rente erhalten bleibt, sind technische, organisatori-
dung ist in der Regel auszugehen, wenn die Beurteilungs- sche, aber auch personenbezogene Maßnahmen zur Opti-
beschleunigung des Arbeitstags den Wert von 0,63 m/s2 mierung der Belastungssituation zweckmäßig. Dafür gibt
erreicht oder überschreitet. Insbesondere Fahrer u. a. von es verschiedene Wege:
Traktoren, Baufahrzeugen und Militärfahrzeugen, die auf
unebenen Gelände bewegt werden, können davon betrof-
fen sein [15].
Die in den letzten Jahren bei den Unfallversicherungs-
trägern der gewerblichen Wirtschaft und der öffentlichen
410 Kapitel 37 · Arbeitsmedizinische Aspekte

10. DGUV (2013) Information: Belastungen für Rücken und Gelenke


– was geht mich das an? BGI/GUV-I 7011. http://publikationen.
Wege zur Optimierung der Belastungssituation [9] dguv.de/dguv/pdf/10002/i-7011.pdf. Zugegriffen: 8. Juni 2015
5 Berücksichtigung der Belastbarkeit der Beschäftig- 11. DGUV (2014) Berufskrankheitengeschehen. http://www.dguv.de/
ten bei der Gestaltung der Arbeitsplätze, z. B. Re- de/Zahlen-und-Fakten/BK-Geschehen/index.jsp. Zugegriffen: 8.
duzierung von Lastgewichten oder Bereitstellung Juni 2015
12. Hartmann B (2006) Arbeitsmedizinische Vorsorge bei erhöhten
geeigneter Hilfsmittel
Belastungen des Muskel-Skelett-Systems – der BG-Grundsatz
5 Altersgerechte Gestaltung von Arbeitsabläufen, Nr. 46. Prakt Arb med 4:6–10
z. B. Reduzierung von Stückzahlen oder Einrich- 13. Hartmann B (2014a) BK 2108: Bandscheibenbedingte Erkrankun-
tung von Mischarbeitsplätzen gen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder
5 Motivation zum gesundheitsgerechten Verhalten, Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in
extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätig-
z. B. ausreichende Bewegung und gesunde Ernäh- keiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlim-
rung merung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren
oder sein können. In: Triebig G, Kentner M, Schiele R (Hrsg) Arbe-
itsmedizin. Handbuch für Theorie und Praxis, 4., vollst. überarb
Sowohl bei der Prävention als auch bei der Behandlung Aufl. Gentner Verlag, Stuttgart
14. Hartmann B (2014b) BK 2109: Bandscheibenbedingte Erkrankun-
und beruflichen Wiedereingliederung von Beschäftigten
gen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer
mit Rücken- und Nackenschmerzen ist eine interdiszipli- Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten
näre Zusammenarbeit unter Einbeziehung des zuständi- gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung
gen Betriebsarztes/der Betriebsärztin unverzichtbar. oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder
sein können. In: In: Triebig G, Kentner M, Schiele R (Hrsg) Arbeits-
medizin. Handbuch für Theorie und Praxis, 4., vollst. überarb Aufl.
Gentner Verlag, Stuttgart
15. Hartmann B (2014c) BK 2110: Bandscheibenbedingte Erkrankun-
Literatur gen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend verti-
kale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zur
1. AWMF (2011) Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz. Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die
http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/kreuzschmerz/pdf/ Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der
nvl_kreuzschmerz_lang.pdf. Zugegriffen: 8. Juni 2015 Krankheit ursächlich waren oder sein können. In: Triebig G, Kent-
2. AWMF (2013) S1-Leitlinie: Körperliche Belastungen des Rückens ner M, Schiele R (Hrsg) Arbeitsmedizin. Handbuch für Theorie und
durch Lastenhandhabung und Zwangshaltungen im Arbeitspro- Praxis, 4., vollst. überarb Aufl. Gentner Verlag, Stuttgart
zess. http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/002-029.html. 16. HVBG (2003) BK-Report 2/03 Wirbelsäulenerkrankungen (BK-Nrn.
Zugegriffen: 8. Juni 2015 2108 bis 2110). http://www.dguv.de/medien/inhalt/ver-
3. BMAS (2014) Arbeitsmedizinische Vorsorge nach der Verordnung sicherung/dokum/bk_02_03.pdf. Zugegriffen: 8. Juni 2015
zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV). http://www. 17. Nöllenheidt C, Brenscheidt S (2014) Arbeitswelt im Wandel:
bmas.de/DE/Service/Publikationen/a453-arbeitsmedizinis- Zahlen – Daten – Fakten, 1. Aufl. Dortmund. http://www.baua.de/
chen-vorsorge.html. Zugegriffen: 8. Juni 2015 de/Publikationen/Broschueren/A90.pdf;jsessionid=E8E616C-
4. BAR (2004) Gemeinsame Empfehlung zur Verbesserung der 01C57BC878DAEB261803EEBA5.1_cid323?__blob=publication-
File&v=8. Zugegriffen: 8. Juni 2015
37 gegenseitigen Information und Kooperation aller beteiligten
Akteure nach § 13 Abs. 2 Nr. 8 und 9 SGB IX. http://www. 18. Scheidt-Illig R, Schiele R (2014) BK 2107: Abrissbrüche der Wirbel-
bar-frankfurt.de/fileadmin/dateiliste/publikationen/gemein- fortsätze. In: Triebig G, Kentner M, Schiele R (Hrsg) Arbeitsmedi-
same-empfehlungen/downloads/Gemeinsame_Empfehlung_In- zin. Handbuch für Theorie und Praxis, 4., vollst. überarb Aufl.
Gentner Verlag, Stuttgart
formation_Kooperation.pdf. Zugegriffen: 8. Juni 2015
19. Scheuch K (2011) Arbeitsphysiologie. In: Triebig MKG (Hrsg)
5. BAuA (ohne Jahresangabe) Gefährdungsbeurteilung mithilfe der
Arbeitsmedizin – Handbuch für Theorie und Praxis, 3., vollst.
Leitmerkmalmethode. http://www.baua.de/de/Themen-von-A-Z/
neubearb. Aufl. Gentner Verlag, Stuttgart, S 459–504
Physische-Belastung/Gefaehrdungsbeurteilung.html. Zugegriff-
20. VDBW (ohne Jahresangabe) Beschäftigungsfähigkeit im demo-
en: 8. Juni 2015
grafischen Wandel. Ein Leitfaden für Betriebsärzte und die Verant-
6. BMJV (1996) Gesetz über die Durchführung von Maßnahmen des
wortlichen im Unternehmen. http://www.vdbw.de/filead-
Arbeitsschutzes zur Verbesserung der Sicherheit und des Ge-
min/01-Redaktion/02-Verband/02-PDF/Leitfaden/Leitfaden_De-
sundheitsschutzes der Beschäftigten bei der Arbeit (Arbeitss- mografie.pdf. Zugegriffen: 8. Juni 2015
chutzgesetz – ArbSchG). http://www.gesetze-im-internet.de/ 21. Zentralblatt (2007a) Die Deutsche Wirbelsäulenstudie, Teil 1. Zbl
bundesrecht/arbschg/gesamt.pdf. Zugegriffen: 8. Juni 2015 Arbeitsmed 57(9). http://www.dguv.de/medien/ifa/de/pub/grl/
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gesetze-im-internet.de/bundesrecht/bkv/gesamt.pdf. Zugegriff- 22. Zentralblatt (2007b) Die Deutsche Wirbelsäulenstudie, Teil 2. Zbl
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de/arbeitsmedizin-betriebsmedizin/#c87. Zugegriffen: 8. Juni 2015 der Deutschen Wirbelsäulenstudie, Teil 2. Zbl Arbeitsmed 64(4)
411 VIII

Spezielle Krankheitsbilder
Kapitel 38 Nackenschmerzen – 413
H.-R. Casser, M. Graf

Kapitel 39 Osteoporose – 421


A. A. Kurth, P. Hadji

Kapitel 40 Bandscheibenvorfall – 431


R. H. Richter, S. Richter, R. Forst

Kapitel 41 Spinalkanalstenose – 447


R. H. Richter, S. Richter, R. Forst

Kapitel 42 Spondylitis und Spondylodiszitis – 461


R. H. Richter, S. Richter, R. Forst

Kapitel 43 Skoliose – 469


R. H. Richter, S. Richter, R. Forst

Kapitel 44 Wirbelsäulentumoren und -metastasen – 479


R. H. Richter, S. Richter, R. Forst

Kapitel 45 Rheumatologische und neurologische


Differenzialdiagnosen – 497
U. Lange, V. Lindner
413 38

Nackenschmerzen
H.-R. Casser, M. Graf

38.1 Zum Einstieg – 414

38.2 Ätiologie – 414

38.3 Verlauf und Prognose – 414

38.4 Assessment – 415

38.5 Behandlung – 415

38.6 Vermeidung von Nackenschmerzen – 416

38.7 Funktionsstörungen der HWS als häufigste Schmerzquelle


und ihre Behandlung – 416
38.7.1 Klinische Diagnostik – 417
38.7.2 Behandlung – 418
38.7.3 Sicherheit – 419
38.7.4 Behandlungseffekte – 419

38.8 Fazit für die Praxis – 419

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_38, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
414 Kapitel 38 · Nackenschmerzen

Nackenschmerzen nehmen allein aufgrund ihrer anatomi- Aneurysmen und Dissektionen der A. vertebralis oder der
schen Lage eine Sonderstellung im Rahmen der Wirbel- A. carotis interna. Auszuschließen sind ebenso Ursachen
säulenbeschwerden ein, wenn auch wie beschrieben viele wie z. B. eine Meningitis, Diszitis oder Abszesse.
Parallelen zu den übrigen Wirbelsäulenabschnitten beste-
> Die Analyse der Risikofaktoren für Nackenschmerzen
hen. Die Verbindung zum Schädel mit den zentralnervösen
zeigt, dass hier – wie oft bei Schmerzerkrankungen
Strukturen wie auch zur hypomobilen Brustwirbelsäule
– eine multifaktorielle Genese vorliegt.
ergibt eine Vielzahl von strukturellen sowie funktionellen
Störungen, die einer gesonderten Betrachtung bedürfen. Nicht zu beeinflussende ungünstige Faktoren sind Alter,
Die Halswirbelsäule ist somit prädestiniert für Funktions- Geschlecht und Genetik. Es gibt keine Evidenz, dass die
störungen, aber auch für gravierende Verletzungen. Konse- häufig radiologisch festzustellenden degenerativen Verän-
quenzen für Diagnostik, Therapie und Prävention werden derungen wie Bandscheibenvorwölbungen, Foraminalste-
hier gesondert dargestellt. nosen, Spondylosen und Unkovertebralarthrosen in der
Halswirbelsäule mit dem Schmerzempfinden korrelieren.
Wichtige Einflussfaktoren sind Übergewicht, Schwan-
38.1 Zum Einstieg gerschaft, körperliche Arbeit sowie chronischer Stress und
psychische Faktoren wie Ängstlichkeit und Depressivität.
Nackenschmerzen sind definiert als Schmerzen in dem Wichtige Risikofaktoren für Nackenschmerzen, die
Gebiet, das nach oben durch die Linea nuchalis superior, sehr wohl veränderbar sind bzw. auch in der Prophylaxe
nach unten durch den ersten Brustwirbel und seitlich eine Rolle spielen, stellen fehlende körperliche Aktivität
durch die schultergelenksnahen Ansätze des M. trapezius und Rauchen dar. Im Arbeitsleben bedeuten hohe Arbeits-
begrenzt wird. Neben diesen lokalen Nackenschmerzen platzanforderungen, hoher fehlender sozialer Rückhalt,
können die Beschwerden in den Hinterkopf oder die Arme ständige Sitzhaltung, monotone, gleiche Arbeitshaltung
ausstrahlen und werden entsprechend als zervikozephales und Präzisionsarbeit, insbesondere auch die Arbeit am
bzw. zervikobrachiales Syndrom bezeichnet. Computer, ein erhöhtes Risiko für Nackenschmerzen. An-
> Die meisten Menschen müssen damit rechnen, dass
dererseits gibt es keinen Nachweis, dass ergometrische
sie einmal im Leben Nackenschmerzen haben wer-
Maßnahmen am Arbeitsplatz oder auch prophylaktische
den, allerdings wird damit für die Mehrzahl der
Interventionen die Häufigkeit des Nackenschmerzes redu-
Allgemeinbevölkerung keine wesentliche Störung
zieren.
ihrer normalen Aktivitäten verbunden sein.
Bezüglich der traumatischen HWS-Distorsionen zeig-
te sich, dass bei ca. 85 % der Patienten die Beschwerden
Die Zwölfmonatsprävalenz des Nackenschmerzes beträgt innerhalb eines Zeitraumes von 4 bis 6 Wochen folgenlos
bei Erwachsenen ca. 30–50 %, bei Kindern und Jugendli- ausheilen, ebenso wurde eine schnellere Rückbildung der
chen ungefähr 20–40 % und bei Arbeitern 27,1–47,8 %. Symptome bei nicht zu erwartenden Versicherung-
Erwerbsunfähigkeit ist allerdings deutlich weniger vor- szahlungen festgestellt.
handen: Hier beträgt die Zwölfmonatsprävalenz in der Kopfstützen im Auto erwiesen sich als wirksame prä-
Allgemeinbevölkerung 1,7–11,5 %. Circa 11–14 % der Ar- ventive Maßnahme zur Vermeidung ausgiebiger Exten-
38 beiter berichten pro Jahr, dass sie in ihren Aktivitäten in- sionsbewegungen beim Auffahrunfall.
folge von Nackenschmerzen beeinträchtigt waren, wobei
der Nackenschmerz in allen Berufsgruppen vorkam.
Hinzu kommt, dass die Zahl der Patienten, die wegen 38.3 Verlauf und Prognose
einer unfallbedingten Halswirbelsäulendistorsion die
Notfallambulanz aufsuchten, in den vergangenen drei > Die überwiegende Zahl der Betroffenen (ca. 50–80 %)
Jahrzehnten deutlich zugenommen hat. Sie betrifft in berichten auch 1–5 Jahre nach dem Erstauftreten
Nordamerika und Westeuropa mindestens 0,3 % der Be- über Nackenschmerzen, d. h. nur eine Minderzahl
völkerung. wird eine komplette Ausheilung ihrer Nacken-
schmerzen erleben.

38.2 Ätiologie Dabei scheint es keinen Unterschied zwischen normaler


Bevölkerung, Arbeitern und Unfallbetroffenen zu geben.
Die Ursachen der Nackenschmerzen sind meistens un- Die Prognose der Nackenschmerzen setzt sich aus ver-
geklärt und gehen in weniger als 1 % der Fälle eine gefähr- schiedenen Faktoren zusammen. Jüngeres Alter hat im
liche Grunderkrankung zurück wie ZNS-Tumoren oder Allgemeinen eine bessere Aussicht, während allgemeiner
Infektionen, epidurale Hämatome, Arachnoidalblutungen, schlechter Gesundheitszustand und frühere Nacken-
38.5 · Behandlung
415 38
schmerzepisoden mit einer schlechteren Prognose ver- sich aber in randomisierten Studien sowohl in der Kurz-
bunden sind, das gilt auch für psychische Faktoren wie als auch in der Langzeitbeobachtung nicht als überlegen.
Sorge, Angst und Ärger über die Therapieresistenz der Aufklärung, Mobilisierung, Manualtherapie, Übungsthe-
Beschwerden. Dagegen sind Optimismus und eine ange- rapie, Lasertherapie und wahrscheinlich Akupunktur
passte Verhaltensweise von größerem Erfolg geprägt, da sie scheinen Erfolg zu haben. Immobilisation und stützende
die Selbstsicherheit und das andauernde Bedürfnis, sich Hilfsmittel (z. B. SchanzKrawatte) sind bei nichtspezifi-
mit den Beschwerden zu »sozialisieren«, mit sich bringen. schen Nackenschmerzen kontraindiziert. Sowohl bei der
Spezifische Arbeitsplatzverhältnisse oder Jobcharakteristi- traumatischer Distorsion als auch bei den anderen
ka waren nicht mit einer veränderten Erholungsrate von Nackenschmerzzuständen ohne radikuläre Symptomatik
Nackenschmerzen verbunden. Allerdings haben Arbeiter erwiesen sich Maßnahmen, die auf schnelle Rückgewin-
mit Übungs- und Sportaktivitäten größere Chancen, ihre nung der Funktion und schnelle Rückkehr zum Arbeits-
Nackenschmerzen zu verringern. Posttraumatischer psy- platz zielten, als erfolgreich.
chologischer Stress und passive Behandlungsstrategien Im Gegensatz zu Kreuzschmerzen gibt es wenige Daten
zeigen eine schlechtere Prognose. Das gilt ebenso für über die medikamentöse Behandlung des Patienten mit
materielle Entschädigungen und gesetzliche Regelungen. Nackenschmerzen, sodass auch hier ähnliche Empfehlun-
gen wie beim Kreuzschmerz gelten, wobei Muskelrelaxan-
zien beim Nackenschmerz eine größere Rolle spielen, al-
38.4 Assessment lerdings bei kritischer Indikationsstellung. Die Kombina-
tion von Krankengymnastik und manueller Therapie ist
Selbstverständlich sind die Ausschlussdiagnostik von Frak- beim chronischen Nackenschmerz zu empfehlen. Des
turen und die Abklärung einer Radikulopathie vorrangig, Weiteren gibt es konkrete Vorstellungen zur Prophylaxe
diagnostisch aber weniger kompliziert. Letztlich sind hier und Therapie von Nackenschmerzen, um eine Chronifi-
Screeningprotokolle und bildgebende Untersuchungen bei zierung zu verhindern. Hierzu zählt die Aufforderung zu
Hochrisiko- oder Polytraumapatienten weiterführend. Die sportlichen Aktivitäten: mindestens 30 min täglich eine
klinische Untersuchung hat eine höhere Evidenz zur Abklä- Ausdauersportart, z. B. Joggen oder Gerätetraining, min-
rung einer strukturellen Läsion oder einer neurologischen destens 15 min ein muskelkräftigendes Training der ge-
Kompression als in der Diagnostik nichtspezifischer Na- samten Rumpfmuskulatur sowie Dehnungsübungen in
ckenschmerzen. Sie besteht aus der Inspektion mit Begut- Kombination mit Muskelkräftigung und Ausdauertrai-
achtung von Haltung, möglichen Deformitäten, Verlet- ning; zudem sollten unergonomische Arbeitshaltungen
zungszeichen und Bewegungsmustern, Palpation der HWS vermieden werden.
zur Befundung von Druckdolenzen, muskulären Verspan- Kurzfristige symptomatische Beschwerdebesserung
nungen, ggf. Hauttemperatur und regionalen Lymphkno- bei radikulären Syndromen erreichen epidurale oder selek-
ten. Ein Rüttel- oder Erschütterungsschmerz ist als Hinweis tive Wurzelblockaden mit Corticosteroiden. Die Rate der
für mögliche strukturelle Läsionen zu werten. operativen Eingriffe wurde dadurch anscheinend aber
Dazu gehört natürlich die aktive und passive Beweg- nicht nennenswert gesenkt. Intraartikuläre Steroidinjek-
lichkeitsprüfung in Ante- und Retroflexion, Seitennei- tionen oder Radiofrequenztherapie zeigen keine aus-
gung, Rotation und die segmentale Beweglichkeit. Beson- reichende Evidenz.
dere Bedeutung kommt dem Spurling-Test zur Diagnostik Intramuskuläre Injektionen in myofasziale Trigger-
einer foraminalen Enge zu. punkte mit Lokalanästhetika in Kombination mit Dehn-
Alle anderen Instrumente, wie Elektrophysiologie, übungen sind ebenfalls bei myofaszialen Schmerzsyndro-
Bildgebung, Testinjektionen, Diskografie, Funktionstests men wirksam. Es gibt keinen klaren Nachweis, dass die
und Laboruntersuchungen, haben Defizite bzgl. Qualität Langzeitergebnisse der chirurgischen Behandlung bei zer-
und Standardisierung. Valide Selbstbefragungsbögen für vikalen Radikulopathien den konservativen Therapien
Nackenschmerzpatienten können Informationen für das überlegen sind. Allerdings ließ sich kurzzeitig (6–12 Wo-
weitere Vorgehen und die Prognose geben. Degenerative chen nach der Operation) zuverlässig eine schnelle und
Veränderungen in bildgebenden Verfahren, wie schon er- deutliche Schmerzreduktion erreichen.
wähnt, sind nicht sicher assoziiert mit Nackenschmerzen. Die ersten Ergebnisse von Studien über den zervikalen
Bandscheibenersatz zeigen im ein- bis zweijährigen Ver-
lauf bzgl. der radikulären Symptomatik ähnliche Ergebnis-
38.5 Behandlung se wie bei der vorderen Fusion. Es gibt bisher noch keine
Evidenz, den Einsatz von zervikalen Bandscheibenprothe-
Einige konservative Behandlungsmethoden erscheinen sen bei Patienten mit Nackenschmerzen zu unterstützen,
erfolgversprechender als die übliche Therapie, erwiesen wenn sie keine primäre radikuläre Symptomatik haben.
416 Kapitel 38 · Nackenschmerzen

Chirotherapeutische Eingriffe und vertebrobasiläre


arterielle Schlaganfälle bei Personen unter 45 Jahren reagieren. Dieses Stadium erfordert keine intensive
werden häufig miteinander in Verbindung gebracht. Ähn- Ursachenforschung oder andauernde Therapie.
liche Zusammenhänge ergaben sich allerdings auch bei 5 Grad-2-Nackenschmerz: Auch hier keine Zeichen
Patienten, die eine übliche Behandlung, d. h. keine Chiro- oder Symptome einer größeren strukturellen Pa-
therapie, beim Allgemeinmediziner erhielten. Man muss thologie, aber deutlichere Beeinträchtigung der
wohl davon ausgehen, dass Patienten mit Nacken- oder Aktivitäten des täglichen Lebens. Hier sind
Kopfschmerzen, die eine vertebrobasiläre arterielle Schmerzlinderung und frühe Aktivitäten erforder-
Dissektion aufweisen, vor der Exazerbation ärztliche Hilfe lich, um Langzeitprobleme zu vermeiden.
aufsuchen. Die dann erfolgte Behandlungsmaßnahme 5 Speziell bei den leichten Schweregraden 1 und 2
wird deshalb schnell in einen kausalen Zusammenhang des Nackenschmerzes müssen die eingeleiteten
mit dem Ereignis gebracht. Behandlungen kritisch auf ihre Nebenwirkungen
Die Studien, die sich mit der Lebensqualität bei Be- geprüft und auch persönliche Prävalenzen des
handlungsmaßnahmen – etwa medikamentöser Einsatz Patienten gegenüber den Behandlungsaktionen
von NSAR und Coxiben sowie Übungstherapie, Manipu- berücksichtigt werden.
lation und Mobilisation – beschäftigen, zeigten, dass es 5 Grad-3-Nackenschmerz: Auch hier keine Zeichen
keine klare Überlegenheit gegenüber anderen therapeuti- von größerer struktureller Pathologie, aber Auf-
schen Maßnahmen sowohl in der Kurz- als auch in der treten neurologischer Symptome wie abge-
Langbetrachtung gab, wenn man den Verlauf des Nacken- schwächte Sehnenreflexe, Muskelschwäche oder
schmerzes, ungünstige Begleitrisiken, die Behandlungsef- sensorische Defizite. Hier ist eine weitere Ab-
fektivität und die Patientenpräferenz bzgl. des Behand- klärung erforderlich, gelegentlich auch invasivere
lungsergebnisses berücksichtigt. Behandlungsmethoden.
Ein neues Konzept der Neck Pain Task Force favorisiert 5 Grad-4-Nackenschmerz: Hier sind charakteristi-
ein neues Modell für den Verlauf und auch die Behandlung scherweise Symptome einer strukturellen Patholo-
des Nackenschmerzes. Dieses Modell beschreibt den gie erkennbar, wie bei Frakturen, Myelopathien,
typischen Nackenschmerz als episodisch auftretendes Neoplasmen oder systemische Erkrankungen.
Ereignis mit variabler Erholung zwischen den Episoden. Es ist eine sofortige Abklärung und Behandlung
Es erklärt die Optionen zum Umgang mit Nackenschmer- notwendig.
zen, führt die verfügbaren Optionen, Behandlungs-
möglichkeiten und Konsequenzen auf und berücksichtigt
deren Kurz- wie auch Langzeitauswirkung auf den
Nackenschmerz. 38.6 Vermeidung von Nackenschmerzen
Für die Patienten mit Nackenschmerzen, die medizini-
sche Hilfe suchen, empfiehlt die Neck Pain Task Force Die beste Prävention sollte immer auf die Vermeidung
4 Klassifikationsgrade der Schwere, die helfen sollen, die größerer Verletzungen und einen effektiven Umgang mit
Interpretation wissenschaftlicher Evidenz zu unterstützen. dem Nackenschmerz ausgerichtet sein, um eine Chroni-
38 Neben dem Nackenschmerzpatienten sollen also auch fizierung des Nackenschmerzes zu vermeiden. Weitere
Forscher, Kliniker und Gesundheitspolitiker unterstützt Forschung bzgl. Ätiologie und entsprechend angepasster
werden, ihre Fragen und Entscheidungen besser begrün- Diagnostik und Therapie ist dringend erforderlich. Die
den zu können. Forschung sollte sich insbesondere darauf konzentrieren,
den Einfluss modifizierbarer Risikofaktoren durch innova-
tive Behandlungsmethoden festzustellen. Die Berücksich-
Klassifikationsgrade von Nackenschmerz tigung dieser Erkenntnisse in der Gesundheitspolitik dürf-
nach der Neck Pain Task Force te die Beschwerden, aber auch die Kosten des Nacken-
5 Grad-1-Nackenschmerz: Keine Zeichen oder schmerzes in der Gesellschaft verringern.
Symptome, die auf eine größere strukturelle Ver-
änderung hinweisen und keine oder geringere
Beeinträchtigung der Aktivitäten des täglichen 38.7 Funktionsstörungen der HWS als
Lebens bedingen. Dieser Nackenschmerz wird häufigste Schmerzquelle und ihre
wahrscheinlich auf minimale Interventionen wie Behandlung
Aufklärung und Bestätigung des ungefährlichen
Befundes wie auch Schmerzkontrolle positiv Die HWS eignet sich aufgrund der gut lokalisierbaren und
scheinbar leicht palpablen Strukturen besonders für die
38.7 · Funktionsstörungen der HWS als häufigste Schmerzquelle und ihre Behandlung
417 38
manuelle Diagnostik und Behandlung, u. a. bei akuten und > Die orientierende Untersuchung der HWS schließt
chronischen Zervikalsyndromen mit oder ohne zervikal insbesondere die Untersuchung der benachbarten
bedingten Kopfschmerz. Trotz dieser scheinbar günstigen Abschnitte des Bewegungssystems – hier der Kiefer-
Situation für wissenschaftliche Untersuchungen ist die gelenke, der Kopfgelenke und des zervikothoraka-
Evidenzlage für verschiedene diagnostische und therapeu- len Überganges – ein.
tische Verfahren sehr different.
Häufig findet sich ein sog. oberes gekreuztes Syndrom
nach Janda, bei dem eine Anteflexionshaltung des Kopfes
38.7.1 Klinische Diagnostik (mit reaktiver Extension in den Kopfgelenken), eine HWS-
Hyperlordose und ggf. eine Hyperkyphose der oberen
Eine exakte und zielgerichtete Anamnese führt auch bei BWS sowie ein Skapulahochstand auffallen. Anamnes-
funktionsmedizinischen Krankheitsbildern in einem hohen tisch  wird bei dieser Befundkonstellation vermehrt über
Prozentsatz zur wegweisenden Diagnose bzw. Arbeitshypo- Nacken-Kopf-Schmerzen und Neigung zu rezidivierenden
these. Dies gilt auch und insbesondere bei der Diagnostik Dysfunktionen der HWS und oberen BWS berichtet.
der Struktur- und Funktionsstörungen der HWS. Bei der sternosymphysealen Belastungshaltung
> »Die erforderliche klare Differenzierung zwischen
handelt es sich um einen klar umschriebenen Inspektions-
klassischer Halswirbelsäule und Kopfgelenkbereich
befund mit folgenden Einzelbefunden: Extensionshaltung
in morphologisch-anatomischer, funktioneller und
der Kopfgelenke, Hyperextension der oberen HWS,
pathophysiologischer Hinsicht ist dabei zu berück-
Hyperflexion der unteren HWS, Protraktion des Schulter-
sichtigen« (Hurwitz et al. 2008).
gürtels, vermehrte Flexion insbesondere der oberen Brust-
wirbelsäule, Annäherung des Sternums an die Symphyse,
Typische Symptomkonstellationen lassen oftmals bereits gekipptes, ventralisiertes Becken und Dysbalance der
in der Anamnese eine Differenzierung zwischen funktio- Rumpfmuskulatur zu Ungunsten der Schulterblattfixato-
nellen und strukturellen Störungen zu. Dabei sprechen ren und der Abdominalmuskulatur. Hier ist – wie beim
Schmerzverminderung bei Bewegung und Belastung eher »oberen gekreuzten Syndrom« nach Janda – eine Diagnos-
für eine funktionelle denn für eine strukturelle Störung. tik der gesamten Dysfunktionskette essenziell. Auch kann
Nächtlich verstärkte Beschwerden lenken den Verdacht die Therapie nicht auf BWS und HWS beschränkt sein,
immer auch auf eine Strukturstörung und erfordern ent- sondern umfasst das gesamte Achsenorgan.
sprechende weiterführende diagnostische Konsequenzen Der statischen Inspektion schließt sich eine dynami-
(Bildgebung, Labor). sche Inspektion an, die bei Dysfunktionen der HWS eine
Aus der oftmals geforderten zeitlichen Unterteilung in fehlende oder eingeschränkte harmonische Seitenneigung
akute, subakute und chronische HWS-Beschwerden erge- und Gegenseitenneigung des Kopfes (bei Seitenneigung
ben sich aufgrund des häufig rezidivierenden Charakters der HWS, BWS und LWS) als Hinweis für eine derartige
nur selten therapeutische Konsequenzen, eine Ausnahme Störung ergeben kann.
bildet die akute HWS-Dysfunktion. Die aktive und passive orientierende Untersuchung
Die Schmerzangabe lokal oder zervikobrachial, neuro- inkludiert die maximale Flexion/Extension (Inklination/
logische Minus- oder Plussymptomatik – d. h. neurolo- Reklination), Seitenneigung und Rotation, wobei aus einer
gische Defizite oder pathologisch gesteigerte Reflexe, aber hypomobilen Bewegungseinschränkung auf die Ebene der
auch Dysästhesien – sowie die Angabe von vegetativen vorliegenden Störung geschlossen werden kann.
Zeichen bilden eine Leitschiene für die weiteren Unter- Zur Dokumentation der orientierenden Funktions-
suchungen und die ärztliche manualmedizinische Diffe- prüfung der HWS kann die Neutral-Null-Methode ge-
renzialdiagnostik. Hinweise auf ein radikuläres Schmerz- wählt werden, wenngleich aufgrund unterschiedlicher
syndrom oder das Vorliegen einer spinalen Raumforde- konstitutioneller Voraussetzungen die Variationsbreite bei
rung im HWS-Bereich zwingen zu differenzialdiagnosti- Untersuchungen der einzelnen Bewegungsebenen sehr
schem Vorgehen (»red flags«). schwankt und vielfältige Kompensationsleistungen auf-
Traumata, vorausgegangene Erkrankungen des Bewe- treten. Dabei können die zervikalen Bewegungsebenen
gungssystems, relevante Allgemeinerkrankungen und spe- sowohl einzeln (Rotation, Flexion/Extension und Seiten-
zielle Belastungssituationen (Sport, Arbeitsplatz) müssen neigung) als auch in Kombination getestet werden. Durch
anamnestisch und differenzialdiagnostisch eingeordnet Variation der Voreinstellung können bei der Rotations-
werden. und bei der Flexionstestung zielgerichtet die unterschied-
Neuropathische Schmerzen der HWS bzw. der Arme, lichen Regionen der HWS überprüft werden. Zu beachten
ausgelöst durch Irritation der zervikalen nervalen Struktu- ist, dass sich die obere BWS bis ca. Th3/4 konstitutionsab-
ren, sollen hier nur erwähnt werden. hängig wie die klassische HWS verhalten kann.
418 Kapitel 38 · Nackenschmerzen

Der aktiven Funktionsprüfung schließt sich die Dia- Aus forensischen und medizinischen Überlegungen her-
gnostik eventueller Kontraindikationen für eine manual- aus wird eine zeitnahe Röntgendiagnostik der HWS bzw.
medizinische Behandlung an, hier insbesondere die der Kopfgelenke sowie neben der mündlichen auch eine
Nervenwurzelirritation, z. B. durch zervikalen Nucleus- schriftliche Aufklärung und Einwilligung des Patienten
pulposus-Prolaps oder eine relevante foraminale Enge. zum Behandlungsablauf und zu eventuellen Risiken gefor-
Dazu kann das sog. Spurling-Phänomen geprüft wer- dert. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass die für
den: Bei Einstellung des geprüften Segmentes in Extension, den Ausschluss von Kontraindikationen (z. B. strukturelle
Rotation und Seitenneigung zur gleichen Seite unter Kom- Läsionen) notwendigen differenzialdiagnostischen Über-
pression von kranial wird hier ein elektrisierender Schmerz legungen und Untersuchungsmethoden im Rahmen dieses
im Versorgungsgebiet des Segmentes ausgelöst. Beitrages nicht ausreichend abgehandelt werden können.
Ebenso ist die orientierende segmentneurologische Absolute Kontraindikationen (»red flags«) für eine
Untersuchung mit motorischer Testung, Reflexstatus und manualmedizinische Behandlung der HWS sind:
Einschätzung eventueller sensibler Defizite (Hypästhesie) 4 klinische Hinweise/Warnsymptome für eine Nerven-
obligat. wurzelirritation,
Häufig maskiert sich eine radikuläre Ursache durch 4 Hypermobilität/Instabilität,
eine zervikothorakale (besonders bei D2 bis D4) Schmerz- 4 Nichtvorliegen einer vertebragenen Dysfunktion,
symptomatik. 4 Hinweise für das Vorliegen einer Veränderung der
> Daher ist bei zervikobrachialen, aber auch bei hoch-
hirnzuführenden Gefäße.
thorakalen Schmerzen auch eine Untersuchung des > Voraussetzung für eine gezielte manualmedizinische
Reflexstatus, der motorischen Leistung und eventu- Behandlung in dieser sehr irritablen Region ist das
eller Sensibilitätsveränderungen unabdingbar. Vorliegen einer reversiblen hypomobilen Dysfunk-
tion ohne Hinweis für eine strukturelle Läsion.
Anamnestisch sind Angaben, die Hinwiese auf eine Läsion
der A. vertebralis geben könnten, zu erfragen, wie familiä- Bei Diagnose einer muskulären Befundkonstellation sollten
re Belastung hinsichtlich Bindegewebserkrankungen, zum Ausgleich etwaiger Dysbalancen (Verkürzungen oder
stattgehabte transitorisch ischämische Attacke (TIA), reflektorische Hemmungen) ausschließlich muskuläre
Apoplex, Schwindel, pulsierender Tinnitus, pulsierender Techniken zum Einsatz kommen. Prinzipiell sind bei der
Hinterkopfschmerz und akute Sehstörungen. Behandlung reversibler hypomobiler Dysfunktionen in der
Bei Hinweisen auf ein klinisch relevantes Thoracic- HWS sowohl manipulative Impulstechniken als auch mobi-
Outlet-Syndrom (TOS) ist der Adson-Test (oder vergleich- lisierende Verfahren wie die postisometrische Relaxation
bare Testvariationen) mit nachfolgender Untersuchung (PIR), die Muscle-Energy-Technik (MET), Jones-Techniken
des zervikothorakalen Überganges erforderlich. Es sei und Facilitated-Positional-Release (FPR)-Techniken an-
darauf hingewiesen, dass ein sensibles Karpaltunnel- wendbar. Bei rezidivierend auftretenden reversiblen hypo-
syndrom durch ein TOS mitbedingt sein kann im Sinne mobilen Dysfunktionen und scheinbar häufig wiederholter
eines »double crush« der versorgenden Nerven. Notwendigkeit einer Behandlung muss nach einer Ketten-
Die Diagnostik von Muskelfunktionsstörungen, die symptomatik insbesondere in den benachbarten Schlüssel-
38 in der palpatorischen Untersuchung (Verspannung und regionen (zervikothorakaler Übergang, Kraniomandibular-
Triggerpunkte) oder der Durchführung von Tests (Hem- gelenk), jedoch auch nach muskulären Verkettungen oder
mung, Abschwächung oder Verkürzung) erkannt werden, myofaszialen Zusammenhängen gefahndet werden. Eine
komplettiert die manualmedizinische Untersuchung. mehrfach wiederholte mobilisierende Behandlung ist nur in
Die Beurteilung des Bindegewebes und der reflekto- seltenen Ausnahmefällen indiziert; auch hier kann sich die
risch algetischen Krankheitszeichen (Nozireaktion, Haut- konsiliarische Vorstellung bei einem manualtherapeutisch
turgor etc.) komplettieren das palpatorische Ergebnis. erfahrenen Kollegen vorteilhaft auswirken.
Bei sämtlichen Manipulationen (Impulstechniken) ist
im Vorfeld auf einen eventuell positiven Rüttel- und Er-
38.7.2 Behandlung schütterungsschmerz und bei der Durchführung der Be-
handlung auf eine ausreichende Vorspannung sowie einen
Die manualmedizinische Behandlung der HWS ist – ähn- negativen Probezug (Probemobilisation) zu achten.
lich wie die des Kopfgelenkbereiches – im Vergleich zu
anderen Wirbelsäulenabschnitten generell schwierig und > Generell untersagt ist eine mobilisierende oder mani-
erfordert ein hohes Maß an Erfahrung, Palpationsver- pulierende Behandlung nach vorheriger Lokalanäs-
mögen und ein komplexes Wissen um anatomische, neu- thesie bzw. Allgemeinnarkose wegen der Ausschal-
roanatomische und neurophysiologische Besonderheiten. tung der Nozireaktion als wichtigstem Warnsignal.
38.8 · Fazit für die Praxis
419 38
Ebenso ist der eventuelle Hinweis auf eine Nervenwurze- qualifizierten Evidenzen« für die zervikale Manipulation
lirritation (Spurling-Phänomen, sensomotorische Defizi- und Mobilisation zur Behandlung des akuten Zervikal-
te) als Kontraindikation strikt zu beachten (s. oben). syndroms.
Bronfort et al. (2004) legten eine Studie für das chroni-
sche Zervikalsyndrom vor, welche eine Überlegenheit ma-
38.7.3 Sicherheit nueller Methoden gegenüber der »Standardtherapie«
(nicht näher bezeichnet) mit »moderater Evidenz« nach-
Die in der Vergangenheit und in Teilen der Ärzteschaft wies. Ebenso liegen von Jull and Trott (2002) Studien zur
auch heute noch hitzig geführte Diskussion um eine evtl. Wirksamkeit der manuellen Therapie beim zervikogenen
Schädigung der hirnzuführenden Gefäße durch manual- Kopfschmerz vor.
therapeutische Techniken hat sich mittlerweile u. a. durch In der Mehrzahl der Arbeiten wird von den Autoren
die Veröffentlichung vieler in diesem Zusammenhang als darauf hingewiesen, dass eine Kombination manueller
fraglich zu beurteilenden bzw. diesen Verdacht auszu- Maßnahmen mit einem assoziierten Kräftigungs- bzw.
räumenden Arbeiten relativiert. Auf der Grundlage der Übungsprogramm ein besseres Outcome hat als manual-
sog. »Bingener Empfehlungen« der DGMM aus dem Jahre medizinische Behandlungen allein.
1994 und den Ergebnissen der »Interdisziplinären Konfe-
renz zur Manuellen Medizin an der HWS« in Frankfurt/
Main im Jahr 2003 haben sich die Diskussionen versach- 38.8 Fazit für die Praxis
licht.
Negative Effekte im Sinne der Schmerzverstärkung Die manuelle Diagnostik und Behandlung der HWS eignet
kurz nach der Behandlung sind nach Rubinstein (2008) sich besonders für akute und chronische Zervikalsyndro-
et al. relativ häufig und müssen im Rahmen des Auf- me mit oder ohne zervikal bedingten Kopfschmerz. Funk-
klärungsgespräches mit dem Patienten vor der Behand- tionelle Defizite mit zusätzlichen radikulären Syndromen
lung erörtert werden. sind der manualmedizinischen Behandlung schlechter
Als typische, jedoch nur vorübergehende und leichte zugänglich. Kurzzeitige Irritationen der myofaszialen
Nebenwirkungen der manualmedizinischen Behandlung Strukturen und damit verbundene negative klinische
an der HWS werden von Thiel et al. (2007) Kopfschmerz, Sensationen nach manueller Behandlung sind im Bereich
Unwohlsein und Armschmerz angegeben. Schwere der HWS relativ häufig, aber harmlos. Die manualmedizi-
Zwischenfälle oder Nebenwirkungen sind ausgesprochen nische Untersuchung und Behandlung der Halswirbel-
selten, beziehen sich auf die Verletzung hirnzuführender säule ist folglich besonders sorgfältig und technisch exakt
Gefäße und werden mit einer Häufigkeit zwischen durchzuführen. Ausgesprochen effizient für die Behand-
1:400.000 bis 1:2 Mio. Behandlungen angegeben. lung von Zervikalsyndromen sind Weichteiltechniken. Die
Marx et al. (2009) fanden in ihrem Review keine Hin- Behandlung mit Impulstechniken dieser Region sollte er-
weise, dass bei den untersuchten Karotis- und Vertebralis- fahrenen Behandlern vorbehalten bleiben.
dissektionen die manualmedizinische Behandlung ursäch- Unerlässlich vor einer manipulativen Behandlung (mit
lich verantwortlich war. Vielmehr lagen entweder klare Impulstechnik) der HWS ist eine zeitnahe Röntgenunter-
Beweise oder aber eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit dafür suchung. Vor jeder manuellen Behandlung müssen ge-
vor, dass die Dissektionen bereits vor der Behandlung be- fährliche Erkrankungen (»red flags«) ausgeschlossen sein.
standen haben. Ebenfalls keinen Zusammenhang zwischen Nicht plausible oder unerwartete Verläufe erfordern ein
zervikaler Manipulation und erhöhter Schlaganfallhäufig- erneutes Durchdenken des Diagnostik- und Behandlungs-
keit fanden Cassidy et al. (2008) in einer Cross-over-Studie. konzeptes unter Einbeziehung funktioneller und struktu-
Auf die nicht seltene Möglichkeit der Spontandissek- reller Aspekte.
tion der A. vertebralis sei an dieser Stelle verwiesen. Hier Bei chronifizierungsgefährdeten bzw. chronifizierten
liegt die größte Gefahr einer Fehleinschätzung bzw. Fehl- Verläufen ist ein interdisziplinäres Assessment unter Ein-
interpretation relevanter manualmedizinischer Sympto- bezug sämtlicher relevanter medizinischer Fachbereiche
matik und Befunde. und schmerzpsychologischer Diagnostik notwendig. Der
häufige Nachweis einer komplexen Befundkonstellation
bedarf entsprechend des chronischen Kreuzschmerzes
38.7.4 Behandlungseffekte einer interdisziplinären multimodalen Therapie.

Unterschiedliche Studien der letzten Jahre sowohl für das


akute als auch für das chronische Zervikalsyndrom erbrin-
gen Ergebnisse von »limitierten Evidenzen« bis zu »hoch
421 39

Osteoporose
A.A. Kurth, P. Hadji

39.1 Einleitung und Definition – 422

39.2 Epidemiologie – 422


39.2.1 Prävalenz und Inzidenz – 422

39.3 Pathophysiologie – 422

39.4 Männliche Osteoporose – 423

39.5 Osteoporose bei Frauen mit Mammakarzinom – 423

39.6 Diagnostik – 424


39.6.1 Knochendichtemessung – 425
39.6.2 Individuelles absolutes Frakturrisiko – 425

39.7 Empfehlung zur spezifischen Osteoporosetherapie – 426


39.7.1 Andere Konstellationen eines hohen Gesamtfrakturrisikos – 426
39.7.2 Aktive antiosteoporotische medikamentöse Therapie – 427

39.8 Prävention – 428

39.9 Osteoporose und Mortalität – 428

Literatur – 428

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_39, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
422 Kapitel 39 · Osteoporose

Die Osteoporose ist eine systemische Skeletterkrankung, ner, wobei die Frakturen in einem wesentlich früheren
die durch eine niedrige Knochenmasse und eine mikroarchi- Lebensabschnitt auftreten und Frauen aufgrund ihrer höhe-
tektonische Verschlechterung des Knochengewebes charak- ren Lebenserwartung länger mit den z. T. drastischen Ein-
terisiert ist, mit einem konsekutiven Anstieg der Knochen- schränkungen leben müssen. Etwa 20 % der Patienten
fragilität und der Neigung zu Frakturen. Sind bereits eine werden nach einer osteoporosebedingten Fraktur hilfs-
oder mehrere Frakturen als Folge der Osteoporose aufge- bedürftig, ca. 30 % pflegebedürftig und ca. 15–20 % der Pa-
treten, liegt eine manifeste Osteoporose vor. Die Osteoporose tienten sterben im ersten postoperativen Jahr nach einer
ist nach den Ergebnissen der BEST-Studie als eine Volks- Schenkelhalsfraktur. Die osteoporosebedingte Fraktur führt
krankheit anzusehen. Die WHO hat die Erkrankung in somit zu einer massiven Einschränkung der Lebensqualität
die Liste der 10 bedeutsamsten weltweit auftretenden sowie der Lebenserwartung der betroffenen Frauen [9]. Ins-
Erkrankungen aufgenommen. Die klinische Bedeutung der gesamt wird jede dritte Frau nach der Menopause von einer
Osteoporose liegt im Auftreten von Knochenbrüchen und in osteoporosebedingten Fraktur betroffen sein, wobei sich die
deren Folgen. Die Diagnose einer Osteoporose basiert auf Inzidenz in den kommenden 50 Jahren laut der Berechnung
der Evaluation von Risikofaktoren, z. B. einer niedrigen einer Expertengruppe der EU verdoppeln wird.
Knochendichte. Zusätzlich zur niedrigen Knochendichte
tragen mikroarchitektonische Störungen sowie extraossäre
Faktoren wesentlich zur vermehrten Knochenbrüchigkeit 39.2.1 Prävalenz und Inzidenz
bei einer Osteoporose bei.
Zur Prävalenz der Osteoporose auf der Grundlage der
WHO-Definition einer erniedrigten Knochendichtemes-
39.1 Einleitung und Definition sung (DXA-T-Score <−2,5) gibt es für Deutschland nur
wenige Daten. In einer retrospektiven Analyse von Ver-
Die Osteoporose ist eine systemische Skeletterkrankung, sicherten der Techniker Krankenkasse im Jahr 2009 hatten
die durch eine niedrige Knochenmasse und eine mikro- 14 % der Versicherten (24 % der Frauen und 6 % der Män-
architektonische Verschlechterung des Knochengewebes ner) die Diagnose einer Osteoporose, osteoporotischer
charakterisiert ist, mit einem konsekutiven Anstieg der Frakturen oder eine Osteoporosemedikation. Extrapoliert
Knochenfragilität und der Neigung zu Frakturen. Sind man diese Zahlen auf die Gesamtbevölkerung, würde dies
bereits eine oder mehrere Frakturen als Folge der Osteopo- einer geschätzten Prävalenz von 6,3 Mio. Osteoporose-
rose aufgetreten, liegt eine manifeste Osteoporose vor. patienten entsprechen. 52 % der so charakterisierten Per-
Die Osteoporose ist nach den Ergebnissen der BEST- sonen erlitten in einem 3-jährigen Beobachtungszeitraum
Studie mit ca. 6,3 Mio. betroffenen Patienten (im Jahr von 2006 bis 2009 Frakturen [1].
2009) als eine Volkskrankheit anzusehen [1]. Die WHO Betrachtet man die jährliche Inzidenz von Hüftfraktu-
hat die Erkrankung in die Liste der 10 bedeutsamsten welt- ren, so betrug diese in 2004 in Deutschland bei den 50- bis
weit auftretenden Erkrankungen aufgenommen [2, 3]. 59-jährigen Frauen 0,045 %, bei den 60- bis 64-jährigen
Die klinische Bedeutung der Osteoporose liegt im Auf- Frauen 0,095 %, bei den 65- bis 69-jährigen Frauen
treten von Knochenbrüchen und in deren Folgen. Die 0,155 %, bei den 70- bis 74-jährigen Frauen 0,351 %, bei
Diagnose einer Osteoporose basiert auf der Evaluation von den 75- bis 79-jährigen Frauen 0,767 %, bei den 80- bis
Risikofaktoren, wie z. B. einer niedrigen Knochendichte. 84-jährigen Frauen 1,556 %, bei den 85- bis 89-jährigen
Zusätzlich zur niedrigen Knochendichte tragen mikroar- Frauen 2,54 % und bei den 90-jährigen und älteren Frauen
39 chitektonische Störungen, die zum Teil indirekt über klini- 3,55 % [10]. Diese Daten zeigen ganz klar den direkten
sche Risikofaktoren erfasst werden können, sowie extraos- Zusammenhang zwischen der Zunahme des Alters und
säre Faktoren, wie z. B. Stürze oder sekundäre Ursachen, der Zunahme an osteoporosetypischen Frakturen.
wesentlich zur vermehrten Knochenbrüchigkeit bei einer Zwischen 1995 und 2010 nahm die Zahl der Patienten
Osteoporose bei [4]. in Deutschland mit mindestens einem Krankenhausauf-
enthalt aufgrund einer Hüftfraktur von 99.146 auf 128.240
zu. Inzidenzdaten zu Wirbelkörperfrakturen gibt es für
39.2 Epidemiologie Deutschland nur in begrenztem Umfang.

Nach aktuellen Ergebnissen der BEST-Studie ist die Osteo-


porose mit ca. 6,3 Mio. Betroffenen im Alter ab 50 Jahren 39.3 Pathophysiologie
eine der bedeutendsten Volkskrankheiten in Deutschland.
Die Osteoporose weist eine deutlich geschlechtsspezifische Das Knochengewebe unterliegt einem lebenslangen kon-
Inzidenz auf [1]. Frauen erkranken 5-mal häufiger als Män- tinuierlichen Auf- und Abbau durch Osteoblasten und
39.5 · Osteoporose bei Frauen mit Mammakarzinom
423 39
Osteoklasten. Bei diesem als »bone remodelling« (Kno- frakturen bei Männern die gleiche Häufigkeit aufweisen
chenumbau) umschriebenen Vorgang kommt es zu einer wie bei postmenopausalen Frauen, jedoch in einem
jährlichen Erneuerung von ca. 4–10 % der gesamten deutlich höheren Alter. Dies berücksichtigt die deutsche
Knochenmasse des Körpers. Vor der Pubertät wächst das Leitlinie zur Osteoporose, indem das altersabhängige
Skelettsystem ohne den Einfluss der Sexualhormone. Hier Risiko einer Fraktur für Männer um eine Dekade nach hin-
erfolgt die Steuerung des Knochenwachstums vorwiegend ten verschoben wurde.
aufgrund der genetischen Prädisposition, durch das
Kalzium-Vitamin-D-System und über die physikalische
Belastung. Es ist unumstritten, dass Menschen und insbe- 39.4 Männliche Osteoporose
sondere Kinder in der Pubertät, die zu wenig Kalzium zu
sich nehmen, eine verminderte Skelettmasse erreichen. Anders als bei Frauen wird die männliche Osteoporose
Dies gilt insbesondere für eine Kalziumeinnahme von we- häufig durch sekundäre Ursachen hervorgerufen. Etwa
niger als 300 mg pro Tag. So werden vom National Institu- 50 % der Fälle sind z. B. der Therapie mit Glukokorti-
te of Health (NIH) in den USA und der Deutschen Gesell- koiden, Hypogonadismus und anderen endokrinologischen
schaft für Ernährung (DGE) 1.000 mg/Tag für alle erwach- Erkrankungen sowie Alkoholmissbrauch als Ursachen zu-
senen Menschen empfohlen. Kalziumzufuhr während der zuschreiben. Leider wird Osteoporose bei Männern noch
Pubertät fördert nicht nur das Erreichen einer adäquaten zu selten diagnostiziert und ist somit deutlich unterver-
Spitzenknochenmasse (»peak bone mass«), sondern sorgt. Und allzu oft wird erst nach dem Auftreten einer
fördert auch das Knochengrößenwachstum. Im Rahmen typischen Fragilitätsfraktur die Diagnose gestellt.
der Pubertät wird der Knochen abhängig von den Sexual- Da bei den genannten 50 % bestimmte Behandlungen
hormonen. Ohne Sexualhormone kann die erforderliche und/oder Krankheiten als sekundäre Ursachen zur Osteo-
Knochenmasse nicht aufgebaut werden. Es kommt zu porose führen, ist die Suche nach diesen Ursachen durch
einer sexuellen Differenzierung des Skeletts, wobei beim genaue klinische Untersuchungen bei allen neu diagnosti-
Mann das Testosteron und bei der Frau das Östradiol die zierten Osteoporosemännern obligatorisch.
Hauptsteuerungshormone sind. Langfristige Glukokortikoidbehandlung bei chroni-
Abhängig vom Auftreten der beschriebenen Risiko- scher Krankheit ist die Hauptursache von iatrogener
faktoren, kommt es bei ausgeglichenem Knochenstoffwech- Osteoporose, zunehmend findet sich auch die Androgen-
sel bis zum Eintritt in die Menopause lediglich zu einem deprivationstherapie (ADT) mit GnRH-Agonisten zur
geringen Abfall der Knochenmasse der Frau. Durch den Behandlung des Prostatakarzinoms als Ursache für männ-
physiologischen Abfall des Östradiolspiegels im Rahmen liche Osteoporose. Ein primärer Hypogonadismus wurde
der Menopause kommt es zu unterschiedlich stark aus- bei 15 % der osteoporotischen Männer berichtet, wobei die
geprägten Auswirkungen für den weiblichen Organismus. Häufigkeit in den Studien stark variiert.
Neben Befindlichkeitsstörungen, wie z. B. Hitzewallungen, Andere Ursachen wie Malabsorption, Leber-, Nieren-
Schleimhautatrophie, Lipidprofilveränderungen mit nach- oder Lungenerkrankungen, primärer und sekundärer
folgendem erhöhtem Risiko für kardiovaskuläre Erkran- Hyperparathyreoidismus sowie Hyperthyreose sollten bei
kungen, kommt zu einer Reduktion der Knochenmasse. osteoporotischen Männern immer differenzialdiagnos-
Durch den postmenopausalen Östradiolmangel wird tisch bedacht werden.
der Remodellingzyklus auf einem erhöhten Frequenz-
niveau eingestellt, d. h., Knochenauf- und -abbau erfolgen
mit größerer Geschwindigkeit. Durch die verstärkte Akti- 39.5 Osteoporose bei Frauen mit
vität der Osteoklasten steigt die Zahl der Resorptionslaku- Mammakarzinom
nen auf der Knochenoberfläche ebenso wie deren Tiefe
und Ausdehnung (»high turnover«). Das Mammakarzinom ist mit ca. 78.000 Neuerkrankungen
Die Prävalenz der Osteoporose bei Männern nach sowie ca. 20.000 Todesfällen das häufigste Karzinom der
50. Lebensjahr ist etwa 13 %, deutlich niedriger als bei Frau und hat einen entscheidenden Einfluss auf Lebens-
Frauen gleichen Alters (40 %). Trotz der geringeren In- qualität und Lebenserwartung der Betroffenen. Dabei ist
zidenz ist die Sterblichkeit bei Männern nach einer Hüft- zu bedenken, dass Frauen mit Mammakarzinom, abhängig
fraktur erheblich höher (2- bis 3-fach). vom Lebensalter und weiteren Risikofaktoren, ein Grund-
Der Knochen unterliegt einem Geschlechtsdimorphis- risiko für Osteoporose und Frakturen aufweisen. Neben
mus, der eine wichtige Determinante der geringeren In- vielen anderen Risikofaktoren spielen hierbei gewebespe-
zidenz von Frakturen ist. zifische Wirkungen des weiblichen Geschlechtshormons
In der postpubertären Phase sind traumatische Fraktu- Östrogen eine entscheidende Rolle. Östrogen wirkt nicht
ren bei jungen Männern häufiger, während Fragilitäts- nur auf das Brustdrüsengewebe, sondern übt auch einen
424 Kapitel 39 · Osteoporose

entscheidenden Einfluss auf die Regulation des Knochen- brüche vor, sind keine weiteren Maßnahmen notwendig.
stoffwechsels aus. Hierbei stehen direkte rezeptorver- Ansonsten gibt es die Möglichkeit einer Behandlung mit
mittelte Wirkungen auf Osteoblasten und Osteoklasten z. B. Denosumab oder Bisphosphonaten.
sowie indirekte Wirkungen über die Produktion von Während die Wirksamkeit von Bisphosphonaten zur
Wachstumsfaktoren und weiteren Mediatoren im Vorder- Steigerung der Knochendichte bei Frauen mit einem
grund. Aufgrund der wichtigen Rolle von Östrogenen bei Mammakarzinom und einer AI-Therapie hinlänglich be-
der Pathogenese des Mammakarzinoms und der Osteopo- legt ist, fehlen Studienergebnisse, die eine Frakturreduk-
rose besteht somit ein enger Zusammenhang zwischen tion im Vergleich zu Placebo belegen. In einer aktuellen
beiden Erkrankungen. Oxford-Metaanalyse unter Einschluss von >77 % aller ad-
Obwohl in der ersten Dekade nach der Menopause der juvanten Studien zum Einsatz von Bisphosphonaten bei
Knochenmasseverlust am stärksten ausgeprägt ist, haben Frauen mit hormonsensiblem Mammakarzinom unter
niedrigste Östrogenserumspiegel auch in der späten Post- hormonentziehender Therapie zeigte sich eine Prävention
menopause noch einen entscheidenden Einfluss auf die für das Auftreten von Knochenmetastasen von 34 % sowie
Knochengesundheit. der brustkrebsspezifische Überlebensvorteil von 17 %.
Bei postmenopausalen Frauen mit einem hormon- In einer aktuellen Studie wurde der Effekt von Deno-
rezeptorpositiven Mammakarzinom gehört nach den ak- sumab vs. Placebo auf das Risiko von klinischen Frakturen
tuellen onkologischen S-III-Leitlinien eine Behandlung bei 3.425 postmenopausalen Patientinnen mit hormon-
mit Aromataseinhibitoren (AI) bzw. Tamoxifen zum Gold- sensiblem Mammakarzinom unter einer AI-Therapie
standard. Hierbei ist der knochenschützende Effekt von untersucht. Hierbei verzögerte Denosumab signifikant die
Tamoxifen bei postmenopausalen Frauen hinlänglich be- Zeit bis zur ersten klinischen Fraktur gegenüber Placebo
legt. Der Einsatz von Aromataseinhibitoren hingegen zeigt um 50 % (HR: 0,5 [95 % KI: 0,39–0,65]; p<0,0001). Dieser
deutlich nachteilige Wirkungen auf den Knochenstoff- Effekt war unabhängig von Alter und Ausgangsknochen-
wechsel, die Knochendichte und auf osteoporosebedingte dichte.
Brüche. Die Relevanz der relativ hohen Verlustrate der
Knochendichte nach bereits einem Jahr wird in den ver-
öffentlichten Frakturdaten deutlich. So lag die klinische 39.6 Diagnostik
Bruchrate in einer 5-jährigen Studie zum Mammakarzi-
nom bei Frauen unter Behandlung mit AI bei 11 %, d. h., Die Diagnostik der Osteoporose basiert auf Anamnese,
etwa jede zehnte Frau erlitt unter einer 5-jährigen AI- körperlicher Untersuchung, Laborwertbestimmungen,
Therapie einen Knochenbruch. Aktuelle Untersuchungs- ggf. konventionellem Röntgen und der Osteodensitomet-
ergebnisse weisen mit einer Frakturrate von ca. 18 % auf rie. Ziel dieser mehrere Schritte umfassenden Diagnostik
ein deutlich höheres Risiko hin. Hiernach würde jede fünf- ist nach den DVO-S-III-Leitlinien die Evaluation des in-
te Frau nach einer 5-jährigen AI-Therapie an einer Fraktur dividuellen Risikoprofils des Patienten/der Patientin und
erkranken. Diese Frakturinzidenz liegt um mehr als das der daraus abgeleiteten Entscheidung für eine Therapie.
4-Fache höher als in einem altersentsprechenden Ver- Eine Basisdiagnostik wird nach den aktuellen DVO-S-III-
gleichskollektiv ohne eine entsprechende Erkrankung bzw. Leitlinien empfohlen, wenn das geschätzte 10-Jahres-
Behandlung. Diese negativen Auswirkungen einer AI- Risiko für radiografische Wirbelkörperfrakturen und
Therapie beim hormonsensiblen Mammakarzinom – ins- proximale Femurfrakturen 20 % übersteigt oder bei un-
besondere angesichts einer notwendigen Dauertherapie mittelbaren therapeutischen oder diagnostischen Konse-
39 mit diesen Substanzen, die mindestens 5 Jahre oder länger quenzen. Unter den diagnostischen Möglichkeiten sind
dauert – machen eine frühzeitige knochenschützende Anamnese und körperliche Untersuchung am preiswertes-
Begleittherapie erforderlich. ten und für eine aussagefähige Untersuchung unerlässlich.
Da unter einer AI-Therapie bei Frauen mit Mamma- Die Anamnese zielt insbesondere auf die Erfassung
karzinom mit einer erhöhten Rate von Osteoporose und von relevanten Risikofaktoren, Grunderkrankungen und
Brüchen gerechnet werden kann, sollten vor einer AI- medikamentösen Therapien ab, die eine Osteoporose
Therapieeinleitung eine Knochendichtemessung und eine bedingen können, sowie auf die Abklärung sekundärer
osteoporosespezifische Anamneseerhebung erfolgen. Alle Ursachen. Sie erlaubt bereits differenzialdiagnostische
Patientinnen sollten entsprechend den Empfehlungen des Rückschlüsse und ist ein wesentlicher Bestandteil der
Dachverbands Osteologie (DVO) eine tägliche Kalzium- klinischen Indikationsstellung zur Osteodensitometrie.
zufuhr von bis zu 1.000 mg/Tag sowie eine Vitamin-D- Bei der körperlichen Untersuchung, insbesondere bei
Zufuhr von bis zu 2.000 IE/Tag erhalten (Dosisreduktion Patienten mit einer manifesten Osteoporose und ent-
bei eingeschränkter Nierenfunktion sowie bei bekannten sprechenden Frakturen wie z. B. Wirbelkörperfrakturen,
Nierensteinen). Liegt kein erhöhtes Risiko für Knochen- ergeben sich neben akuten und chronischen Schmerzen
39.6 · Diagnostik
425 39
auch spezifische Befunde, z. B. ein verringerter Rippen-Be- Wertigkeit der Knochendichtemessung
cken-Abstand sowie die Vergrößerung des Finger-Boden- Zahlreiche Studien haben belegt, dass sowohl mit DXA,
Abstands, ein lokaler Druckschmerz über einem Wirbelkör- QCT (quantitative Computertomografie) oder QUS
per, ein Körpergrößenverlust, Brustkyphose, Lendenlordose (quantitativer Ultraschall) das Frakturrisiko von Wirbel-
sowie das Tannenbaumphänomen. Das Sturzrisiko und die körperfrakturen, Radiusfrakturen und/oder Schenkelhals-
Immobilität bzw. die »Gebrechlichkeit« können und sollten frakturen prospektiv vorhergesagt werden kann. Dabei ist
im klinischen Alltag untersucht werden. unerheblich, ob zentral an Wirbelsäule oder Schenkelhals
Laboruntersuchungen von Blut und Urin sind bei der bzw. am Fersenbein gemessen wurde. Grob kann gesagt
Osteoporose typischerweise unauffällig. Die Bedeutung werden, dass mit Abnahme der Knochendichte um 1 Stan-
der Laborchemie liegt in erster Linie in der Differenzial- dardabweichung das Risiko für zukünftige Frakturen um
diagnose. 40–60 % ansteigt. Die höchste Wertigkeit besteht in der
Konventionelle Röntgenaufnahmen, vor allem der Vorhersagekraft der Frakturen am Ort der Messung, d. h.,
Wirbelsäule, sind wesentlicher Bestandteil der Diagnostik Wirbelkörperfrakturen können am besten durch Messung
einer manifesten Osteoporose. Sie spielt die entscheidende an der Wirbelsäule vorhergesagt werden [9].
Rolle bei der Feststellung von morphologischen Verände-
rungen wie Einbrüchen von Grund- und Deckplatten,
Sinterungsfrakturen, Ausbildung von Fisch- und Keil- 39.6.2 Individuelles absolutes Frakturrisiko
wirbeln sowie Kompressionsfrakturen und damit für die
Erfassung des Schweregrads einer manifesten Osteoporo- Der DVO hat 2006 durch seine Leitlinien ein Fraktur-
se. Bei einer manifesten Osteoporose müssen zum Zeit- vorhersagemodell entwickelt, das Alter, Geschlecht, DXA-
punkt der Diagnose vor Therapiebeginn Anzahl und Messung und klinische Risikofaktoren einbezieht und als
Ausmaß der fakturierten Wirbelkörper dokumentiert primären Zielparameter die Vorhersage von Wirbel-
werden. Hierdurch können im Rahmen von Verlaufs- körperfakturen (klinisch und radiografisch) und Hüft-
kontrollen, die in der Regel in 1- bis 2-jährigen Abständen frakturen hat. Im Jahr 2009 erfolgte im Rahmen der S-III-
möglich sind, neue Wirbeleinbrüche oder ein Progress bei Leitlinien-Aktualisierung eine erste Adjustierung des
bereits fakturierten Wirbeln z. B. durch Höhenmessung Risikomodells von 2006. Zur Abschätzung des absoluten
erkannt werden. Risikos wurde auf Frakturdaten der Schweiz und der
Aus diesem Grund ist zur Diagnose einer Osteoporose Niederlande (Rotterdam-Studie), auf die Daten der »Euro-
(ohne Frakturen) nach DVO-S-III-Leitlinie eine Osteo- pean Prospective Osteoporosis Study (EPOS)«, an der auch
densitometrie (Knochendichtemessung) unabdingbar. deutsche Zentren beteiligt waren, und, in wenigen Aspek-
ten, der USA zurückgegriffen. Der DVO hat für die Leit-
linie 2014 in den Jahren 2011–2013 ein aktualisiertes
39.6.1 Knochendichtemessung Frakturrisikomodell entwickelt. Grundlage dieses Modells
ist die Inzidenz von Hüftfrakturen in Deutschland, Öster-
Grundprinzip der Knochendichtemessung bzw. Osteo- reich und der Schweiz, die epidemiologisch einfacher und
densitometrie ist die Messung der Abschwächung eines aktueller zu erheben ist als die Inzidenz von Wirbelkörper-
Photonen- oder Röntgenstrahls, was bei den vorwiegend frakturen [7, 8].
eingesetzten Zwei-Spektren-Verfahren weitgehend durch Das Modell unterscheidet sich von anderen Risiko-
das Knochenhydroxylapatit erfolgt. Die weltweit am modellen in mehreren Aspekten. Wie im 2006/2009er
meisten verbreitete Methode ist das sog. DXA-Verfahren Modell wird als Endpunkt auf Hüft- und Wirbelkörper-
(»dual-X-ray-absorptiometry«). Bei diesem Verfahren frakturen fokussiert, da diese das höchste Mortalitäts-
wird an der LWS, dem Schenkelhals, am Ganzkörper oder risiko, die höchsten Einbußen an Lebensqualität und die
an Spezialregionen eine Skelettregion flächig abgebildet höchsten Kosten pro Fraktur verursachen. Aus Gründen
und das Messergebnis als Gewichtswert pro Flächeneinheit der Altersgerechtigkeit wird keine Adjustierung des Frak-
(g/cm2) angegeben. Die Messung an der Wirbelsäule kann turrisikos um die Mortalität vorgenommen, was in höhe-
bei Bestehen einer Aortenverkalkung oder einer degenera- rem Lebensalter zu niedrigeren Therapieschwellen führen
tiven Veränderung, besonders ab dem 65. Lebensjahr, zu würde. Die zugrunde liegenden klinischen Risikofaktoren
falsch-hohen Ergebnissen führen. Die Messung am Schen- entstammen einer im Vergleich zu den DVO-Leitlinien
kelhals wird durch den sog. Fettfehler beeinflusst und ist 2009 erweiterten Liste, wie sie in dieser aktuellen Fassung
durch eine bekanntermaßen geringere Präzision gekenn- der Leitlinien aufgeführt sind. Sie werden in moderate
zeichnet. Vorteil der DXA-Methode ist die in einer großen (relatives Risiko=1,5), starke (relatives Risiko=3,0) und
Anzahl von Studien dokumentierte Fähigkeit zur individu- sehr starke Risikofaktoren (relatives Risiko=6,0) geglie-
ellen Frakturvorhersage. dert, differenzieren auch zwischen Graden prävalenter
426 Kapitel 39 · Osteoporose

. Tab. 39.1 Indikation für eine medikamentöse Osteoporosetherapie nach Risikoprofil in Abhängigkeit von Geschlecht, Lebensalter,
DXA-Knochendichte und weiteren Risikofaktoren. (Mod. nach DVO-S-III Leitlinien 2014 [10])

Lebensalter in Jahren T-Scorea

Frau Mann −2,0 bis −2,5 −2,5 bis −3,0 −3,0 bis −3,5 −3,5 bis −4,0 <−4,0

50–60 60–70 Nein Nein Nein Nein Ja

60–65 70–75 Nein Nein Nein Ja Ja

65–70 75–80 Nein Nein Ja Ja Ja

70–75 80–85 Nein Ja Ja Ja Ja

>75 >85 Ja Ja Ja Ja Ja

aNur anwendbar auf DXA-Werte. Die Wirksamkeit einer medikamentösen Therapie ist für periphere Frakturen bei einem T-Score >−2,0
nicht sicher belegt.

Wirbelkörperfrakturen und nichtvertebralen Frakturen Krafteinwirkung individuell abzuschätzen. Bei typi-


und gestatten somit eine individuellere Risikokategorisie- schen klinischen osteoporotischen Aspekten, bei
rung. Vorliegen einer proximalen Femurfraktur sowie von
Wirbelkörperfrakturen kann auch auf eine Knochen-
dichtemessung verzichtet werden.
39.7 Empfehlung zur spezifischen 4 Bei einer Hochdosistherapie mit oralen Glukokorti-
Osteoporosetherapie koiden bei postmenopausalen Frauen und Männern
in einer Tagesdosis von ≥7,5 mg Prednisolonäquiva-
Grundsätzlich empfehlen die DVO-S-III-Leitlinien (2014) lent, wenn diese bereits 3 oder mehr Monate lang
eine spezifische medikamentöse Therapie, wenn das ab- durchgeführt wurde oder wenn bei Beginn der
solute Risiko, an einer Wirbelkörper- oder Schenkelhals- Therapie absehbar ist, dass die orale Glukokortikoid-
fraktur in den nächsten 10 Jahren zu erkranken, über 30 % therapie länger als 3 Monate andauern wird, wenn
liegt. Dieses Risiko liegt in den folgenden Fällen vor: entweder gleichzeitig ein T-Score von −1,5 oder ge-
4 Nach einer niedrigtraumatischen singulären Wirbel- ringer an der LWS oder dem Gesamtfemur oder dem
körperfraktur 2. oder 3. Grades nach Genant (25– Femurhals vorliegt oder eine oder mehrere niedrig-
40 % bzw. >40 % Höhenminderung der Vorderkante traumatische Wirbelkörperfrakturen nach den oben
zur Hinterkante) oder niedrigtraumatischen multip- definierten Kriterien oder multiple periphere Fraktu-
len Wirbelkörperfrakturen 1. bis 3. Grades nach ren (>3) vorliegen. 3 Monate nach Beginn einer hoch
Genant, wenn andere Ursachen einer Fraktur nicht dosierten oralen Glukokortikoidtherapie sollte des-
wahrscheinlicher sind, bei einem DXA-T-Score <−2,0 halb immer eine erneute Evaluation dazu erfolgen, ob
an der LWS oder dem Schenkelhals oder dem proxi- und in welcher Dosis eine Fortführung der Steroid-
39 malen Gesamtfemur, individuell auch bei einem therapie erforderlich ist.
T-Score >−2,0. Bei typischen osteoporotischen radio-
logischen und klinischen Aspekten von Wirbel-
körperfrakturen kann ggf. auch auf eine Knochen- 39.7.1 Andere Konstellationen eines hohen
dichtemessung verzichtet werden. Gesamtfrakturrisikos
4 Nach einer niedrigtraumatischen proximalen
Femurfakturen bei einem DXA-T-Score <−2,0 an der Zur Abschätzung des 10-Jahres-Frakturrisikos sollte das in
LWS oder dem Schenkelhals oder dem proximalen Deutschland anerkannte DVO-S-III-Leitlinienmodell
Gesamtfemur, individuell auch bei einem T-Score 2014 angewandt werden. Als Schwellenwert für eine medi-
>−2,0 [10]. kamentöse Therapie wurde ein auf Grundlage des DVO-
4 Als niedrigtraumatisch werden hier Frakturen defi- Leitlinienmodells 2014 geschätztes (behandelbares)
niert, die bei einem Sturz aus dem Stand oder einer 10-Jahres-Frakturrisiko von durchschnittlich 30 % und
geringeren Höhe oder ohne eine größere Kraftein- mehr für proximale Femurfrakturen und vertebrale (ra-
wirkung entstanden sind. Dabei ist die vermutliche diografische) Frakturen beibehalten ( . Tab. 39.1).
39.7 · Empfehlung zur spezifischen Osteoporosetherapie
427 39

. Tab. 39.2 Die Therapieschwelle beeinflussende Frakturrisikofaktoren (+0,5). In der Regel wird empfohlen, nicht mehr als 2 der
Risikofaktoren bei der Anhebung des Schwellenwerts zu berücksichtigen. (Mod. nach DVO-S-III-Leitlinien 2014 [10])

– Singuläre Wirbelkörperfraktur 1. Grades – Rheumatoide Arthritis

– Nichtvertebrale Frakturen >50. LJ mit Ausnahme von Finger-, – Spondylitis ankylosans


Zehen-, Schädel- und Knöchelfrakturen

– Proximale Femurfraktur bei Vater oder Mutter – Primärer Hyperparathyreoidismus

– Multiple intrinsische Stürze – Hormonablative Therapie oder Hypogonadismus beim Mann

– Immobilität – Aromatasehemmer

– Rauchen, COPD, und/oder hohe Dosen inhalativer – Wachstumshormonmangel


Glukokortikoide

– Herzinsuffizienz – Hyperthyreose oder subklinische Hyperthyreose, sofern


persistent

– Chronische Einnahme von Protonenpumpeninhibitoren – Subklinischer Hyperkortisolismus

– Epilepsie/Antiepileptiker – Glitazone

– Depression/Antidepressiva – hsCRP-Erhöhung

– Zöliakie – Knochenumbaumarker im 4. Quartil als Einzelfallentscheidung

»Optional trabecular bone score«: Anhebung der Therapiegrenze um +0,5 pro 1,75 SD-Z-Score

Liegen ein oder mehrere Frakturrisikofaktoren vor, ist Sind die Voraussetzungen für eine aktive antiosteopo-
von einem höheren Gesamtfrakturrisiko auszugehen. rotische medikamentöse Therapie gegeben, sollte eine spe-
Hierbei bestehen aufgrund der unterschiedlichen Gewich- zifische medikamentöse Therapie bei allen Konstellatio-
tung Risikofaktoren, die die Therapieschwelle um einen nen einer manifesten Osteoporose eingeleitet werden, bei
T-Score-Wert von +1,0 bzw. von nur +0,5 bis zu einem denen von einem deutlich erhöhten Folgefrakturrisiko
maximalen T-Score-Wert von −2,0 anheben. In der Regel auszugehen ist.
wird empfohlen, nicht mehr als 2 der Risikofaktoren aus
. Tab. 39.2 bei der Anhebung des Schwellenwerts zu be- jPostmenopausale Frauen
rücksichtigen, da die Interaktionen der Risikofaktoren in Bei postmenopausalen Frauen ist für die folgenden medi-
vielen Fällen nicht ausreichend bekannt sind. Die Anhe- kamentösen Therapieoptionen ein klarer Beleg einer Frak-
bung der Therapiegrenze sollte für alle nachfolgend ge- turreduktion gegeben: Alendronat, Bazedoxifen, Deno-
nannten Risiken allein oder in Kombination nur bis zu ei- sumab, Ibandronat, Östrogene, Teriparatid (rhPTH 1-34),
nem T-Score von maximal −2,0 erfolgen. Hierbei sollten Parathormon (PTH 1-84), Raloxifen, Risedronat, Stron-
behebbare Risiken nur dann berücksichtigt werden, wenn tiumranelat und Zoledronat [10] (. Tab. 39.3). Für alle
das Risiko aktuell besteht oder in weniger als 12–24 Mona- genannten Substanzen ist eine Frakturreduktion über 3–5
ten beendet sein wird [10]. Jahren nachgewiesen. Für einzelne Substanzen gibt es Hin-
weise für eine frakturreduzierende Wirkung auch über
diesen Zeitraum hinaus. Die Studienqualität erlaubt je-
39.7.2 Aktive antiosteoporotische doch keine verlässlichen Aussagen zur Langzeiteffektivität
medikamentöse Therapie der Frakturreduktion.
Zur Therapie einer glukokortikoidinduzierten Osteo-
Für Osteoporosepatienten ohne eine spezifische medika- porose bei postmenopausalen Frauen sind Alendronat
mentöse Osteoporosetherapie wird eine Zufuhr von (10 mg tgl.), Risedronat (5 mg tgl.), Zoledronat und Teri-
1.000 mg Kalzium täglich mit der Nahrung als Basisthera- paratid zugelassen [10].
pie empfohlen. Wenn die empfohlene Kalziumzufuhr mit
der Nahrung nicht erreicht wird, sollte eine Supplementie- jMänner ab dem 60. Lebensjahr
rung mit Kalzium durchgeführt werden. Empfohlen wird Für Männer sind Alendronat (10 mg tgl.), Risedronat
eine Supplementierung mit 800–1.000 Einheiten Vitamin (35 mg wöchentlich), Strontiumranelat*, Zoledronat, De-
D3 täglich. nosumab und Teriparatid zur Therapie der Osteoporose
428 Kapitel 39 · Osteoporose

39.9 Osteoporose und Mortalität


. Tab. 39.3 Effizienz spezifischer medikamentöser Therapie-
optionen für postmenopausale Frauen. (Mod. nach DVO-S-III-
Leitlinien 2014 [10]) Liegt eine manifeste Osteoporose vor, ist das Mortalitäts-
risiko signifikant erhöht. Dies gilt zum einen für den un-
Weniger Weniger Weniger mittelbaren Zeitraum nach einer Fraktur, vor allem einer
Wirbel- periphere proximale Hüftfraktur, jedoch zusätzlich auch über einen längeren
körper- Frakturen Femur-
Zeitraum als Folge vertebraler Frakturen. Aktive antiosteo-
frakturen frakturen
porotische Therapeutika sind in der Lage, bei regelmäßiger
Alendronat A A A Einnahme das Frakturrisiko sowohl vertebral als auch
Bazedoxifen A B –
nichtvertebral signifikant zu reduzieren. In Studien konn-
ten aber auch positive Effekte auf die Mortalität nach einer
Denosumab A A A
osteoporotischen Fraktur gefunden werden.
Ibandronat A B – In einer Metaanalyse [11] konnte nachgewiesen werden,
Raloxifen A – – dass die bei Osteoporose erhöhte Mortalität durch eine
spezifische Therapie signifikant gesenkt werden kann. In
Risedronat A A A
dieser Analyse wurden insgesamt 8 relevante Studien ein-
Zoledronat A A A bezogen. Es erfolgte auch eine Beurteilung von einzelnen
Teriparatida A B – Substanzen, bei denen eine signifikante Senkung der
Mortalität nachgewiesen wurde. Eine solche Auswertung
Östrogenea A A A
für Einzelsubstanzen ist schwierig, da die Studien nicht für
Strontiumranelata A A B diesen Endpunkt geplant waren und die Mortalität meist
aFüreinige der oben genannten Präparate bestehen
in den Sicherheitsdaten erfasst wurde.
Zulassungsbeschränkungen. Eine weitere Beurteilung der Mortalität unter spezifi-
scher Therapie wurde [12] vorgenommen: Hierbei handelt
es sich um eine prospektive Kohortenstudie über einen
Zeitraum von 18 Jahren. Die Autoren kommen zu dem
zugelassen. In einigen Studien wurde eine Reduktion ver- Schluss, dass eine spezifische Therapie mit Bisphosphona-
tebraler Frakturen gezeigt. Insgesamt ist die Effizienz der ten oder Hormonersatztherapie zu einer Verminderung
Frakturreduktion bei Männern weniger evident als bei der Mortalität bei Patientinnen mit Osteoporose führt.
Frauen. Die wichtigste Studie aus dem orthopädisch-trauma-
tologischen Umfeld ist die Horizon-RFT-Studie, die an
über 2.000 Patienten zeigen konnte, dass die Behandlung
39.8 Prävention der Osteoporose bei Patienten nach einer Hüftfraktur die
Mortalität senkt: Nach einer Therapie über 3 Jahre mit
Entsprechend der multifaktoriellen Genese der Osteopo- Zoledronsäure (5 mg 1-mal pro Jahr) nach erlittener
rose sind die Ansatzpunkte für die Osteoporoseprävention Hüftfraktur kam es im Vergleich zu Placebo zu einer signi-
in erster Linie die Risikofaktoren (. Tab. 39.2). Hierbei fikanten Reduktion der Mortalität um 28 % – unabhängig
steht im Rahmen der Allgemeinprävention die Motivation von der Ausgangsknochendichte. Daraus muss die Schluss-
zur individuellen eigenverantwortlichen Osteoporoseprä- folgerung gezogen werden, dass durch eine adäquate
39 vention durch eine knochenstoffwechselgesunde Er- Behandlung der manifesten Osteoporose nicht nur die
nährungsweise und einen entsprechenden Lebensstil im Qualität des Knochens verbessert und so das Frakturrisiko
Vordergrund, dazu gehören auch regelmäßige körperliche gesenkt wird – auch die bei der Osteoporose erhöhte
Aktivität sowie die Reduktion von Alkohol- und Niko- Mortalität kann relevant reduziert werden.
tinkonsum. Empfehlenswert ist eine regelmäßige körper-
liche Aktivität mit der Zielsetzung, Muskelkraft und Koor-
dination zu fördern. Untergewicht (Body-Mass-Index Literatur
<20) ist ein Risikofaktor für osteoporotische Frakturen
und sollte vermieden werden. Eine Gewichtsabnahme ist 1. Hadji P1, Klein S, Gothe H, Häussler B, Kless T, Schmidt T, Steinle T,
Verheyen F, Linder R (2013) The epidemiology of osteoporosis –
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429 39
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431 40

Bandscheibenvorfall
R.H. Richter, S. Richter, R. Forst

40.1 Definition – 432

40.2 Anatomische Gegebenheiten – 432

40.3 Pathologie des Bewegungssegments – 432

40.4 Schwachstellen der Bandscheibe – 433

40.5 Lokalisation und klinische Symptomatik – 433


40.5.1 Halswirbelsäule (HWS) und ihre Besonderheiten – 433
40.5.2 Brustwirbelsäule (BWS) – 434
40.5.3 Lendenwirbelsäule (LWS) – 434

40.6 Radiologische Diagnostik – 439


40.6.1 Konventionelles Röntgen – 439
40.6.2 Computertomografie (CT) – 439
40.6.3 Magnetresonanztomografie (MRT) – 439
40.6.4 Diskografie – 439
40.6.5 Myelografie – 439

40.7 Therapie – 439


40.7.1 Konservative Therapie – 439
40.7.2 Operative Therapie – 442

40.8 Postdiskotomiesyndrom – 444

Literatur – 445

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_40, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
432 Kapitel 40 · Bandscheibenvorfall

Ein Bandscheibenvorfall (BSV) ist eine Verlagerung von Der vordere Abschnitt besteht aus der Bandscheibe, zu-
Bandscheibengewebe nach dorsal oder lateral, häufig ver- sammengehalten durch den Anulus fibrosus, der hintere
bunden mit neurologischen Ausfallerscheinungen durch aus den Wirbelgelenken und den dorsalen Bändern. Da-
Kompression nervaler Strukturen. Im HWS- und LWS-Bereich zwischen tritt je eine Nervenwurzel durch ein Zwischen-
(C5/6, C6/7 und C7/8 sowie L4/5 und L5/S1) sind vor allem wirbelloch.
die unteren Segmente betroffen. Länger bestehende Kreuz- Die 25 Bewegungssegmente der Wirbelsäule haben alle
schmerzen sind ein Leitsymptom. Der Verlauf der Schmerz- dasselbe komplizierte anatomische Grundschema. Derart
ausstrahlung ins Bein lässt eine relativ exakte Höhenlokali- komplexe Strukturen sind einerseits schwer erfassbar,
sation des Vorfalls mittels differenzierter klinischer Unter- andererseits sehr störungsanfällig [2].
suchung zu. Radiologisch ist die MRT allen anderen Verfahren Die Bandscheibe entspricht mechanisch einem
überlegen. Absolute OP-Indikationen sind das Konus- druckelastischen, hydrostatischen System, bestehend aus
Kauda-Syndrom und Paresen. Alle anderen Formen des BSV einer zugfesten Hülle, dem Faserring (Anulus fibrosus)
sollten zunächst konservativ therapiert werden. Bei persis- und einem druckfesten Inhalt, dem Gallertkern (Nucleus
tierendem Schmerz nach Ausschöpfen aller konservativen pulposus). Auf diese Weise bildet die Bandscheibe eine Art
Maßnahmen ist individuell mit dem Patienten die Ent- »Wasserkissen« zwischen den 2 benachbarten Wirbel-
scheidung über eine Operation zu treffen. Es besteht post- körpern, das als Stoßdämpfer und zur gleichmäßigen
operativ die Gefahr eines Postdiskotomiesyndroms. Evidenz- Druckverteilung auf die Deckplatten dient. Der Gallert-
basierte Studien hinsichtlich OP-Verfahren und OP-Technik kern nimmt durch Imbibition Wasser auf und bekommt
fehlen. Die richtige Indikationsstellung und die Erfahrung dadurch einen starken Turgor. Er steht unter erheblichem
des Operateurs sind entscheidend für den Erfolg einer Band- hydrostatischen Druck, der vom zugfesten Faserring des
scheibenoperation. Anulus fibrosus aufgefangen wird. Aufgrund der Belas-
tung, die tagsüber vorhanden ist, wird Wasser abgegeben,
dadurch wird die Bandscheibe etwas niedriger. Nachts
40.1 Definition bzw. in Ruhe nimmt sie wieder Wasser auf, erholt sich
somit und erreicht wieder ihre ursprüngliche Höhe. Die
Ein Bandscheibenprolaps bzw. -vorfall (Diskushernie) ist mechanische Wirkung dieses Wasserkissensystems besteht
die Verlagerung von Bandscheibengewebe nach dorsal darin, dass die statischen und dynamischen Kräfte, die auf
oder lateral, häufig verbunden mit neurologischen Ausfall- die Wirbelsäule wirken, gleichmäßig über den ganzen Wir-
symptomen durch Kompression von Nervenstrukturen. belkörperquerschnitt verteilt werden [2].
Dabei gibt es unterschiedliche Schweregrade der patho- Als Drehpunkt der Bewegung zwischen 2 benachbar-
morphologischen Veränderungen: ten Wirbelkörpern wirkt der Nucleus pulposus in der Art
4 Protrusion: Vorwölbung des Anulus fibrosus und des eines Kugelgelenks. Die kleinen Wirbelgelenke führen die
hinteren Längsbands, Bewegung im Segment und die dorsalen interspinalen
4 Prolaps: Austritt von Bandscheibengewebe aus dem Bänder stabilisieren diese zusätzlich [2].
Anulus fibrosus,
4 Sequester: Austritt von Bandscheibengewebe mit
Verlust der Verbindung zur ursprünglichen Band- 40.3 Pathologie des Bewegungssegments
scheibe [2].
Als Ursache von Rückenschmerzen stehen nach den
Die Inzidenz lumbaler Bandscheibenvorfälle beträgt 5,1 % Muskelschmerzen an erster Stelle Störungen im Be-
bei der männlichen und 3,7 % bei der weiblichen Bevölke- wegungssegment. Ein großer Teil von Läsionen am Ach-
40 rung [24]. senorgan hängt mit den Degenerations- und Altersvor-
gängen der Bandscheibe zusammen. Der Turgor nimmt
im Verlauf des Lebens ab und die Bandscheibe wird im
40.2 Anatomische Gegebenheiten mittleren Lebensalter zum schwächsten Punkt.
Insuffizienz, Instabilität, Osteochondrose (. Abb. 40.3a;
> Jedes einzelne Bewegungssegment der Wirbelsäule . Abb. 40.4a,b) und Spondylose als chronische Erkrankun-
ist eine funktionelle Einheit. Seine komplexen Struk- gen sowie Diskushernien als akute Ereignisse gehören zu
turen wirken funktionell wie ein einziges Gelenk. den häufigsten Krankheiten am Bewegungsapparat über-
Das Bewegungssegment ist das – aus verschiedenen haupt [2].
Anteilen zusammengesetzte – Gelenk zwischen
2 Wirbeln. Es funktioniert als Ganzes. > Schmerzhaft ist nicht die degenerierte Bandscheibe
selbst. Schmerzen entstehen erst, wenn Bandscheiben-
40.5 · Lokalisation und klinische Symptomatik
433 40
material mit Nervengewebe in Kontakt kommt (chemi-
. Tab. 40.1 Häufigkeitsverteilung monoradikulärer Zerviko-
sche Theorie), und vor allem, wenn dadurch Nerven-
brachialsyndrome [4]
wurzeln komprimiert werden (Diskushernien) [2].
Betroffene Spinalnervenwurzel Häufigkeit (%)
Die Bandscheibendegeneration zieht aber auch den dorsa-
len Teil des Bewegungssegments in Mitleidenschaft. In- C5 4,1

kongruenz, Verschiebungen und Blockierungen der klei- C6 36,1


nen Wirbelgelenke verursachen Schmerzen [2]. C7 34,6

C8 25,2

40.4 Schwachstellen der Bandscheibe

Der unter Druck stehende Gallertkern wird an der bereich kommen zusätzlich Veränderungen der Unkover-
schwächsten Stelle des Faserrings herausgepresst. Während tebralgelenke hinzu. Die hier entstehenden Osteophyten
des Wachstums ist die Deckplatte die schwächste Stelle. Bei können sich seitlich berühren und verursachen Nearthro-
der Scheuermann-Krankheit können Teile des Gallertkerns sen. Die Processi uncinati liegen aber auch in unmittelba-
durch Lücken in der Deckplatte in die Wirbelkörperspon- rer Nähe der Foramina intervertebralia und der Foramina
giosa hineingedrückt werden und sind als Schmorl-Knöt- transversalia, wo Osteophyten leicht auf die zervikalen
chen im Röntgenbild sichtbar. Beim Erwachsenen ist der Nervenwurzeln oder die Arteria vertebralis drücken kön-
Faserring die schwächste Stelle. Bandscheibenteile können nen. Hieraus ergeben sich typische klinische Symptome:
als Diskushernie durch Lücken im Anulus fibrosus ge- Zervikalsyndrom, zervikozephales Syndrom, zervikobra-
drückt werden und durch Kompression von Nervenele- chiales Syndrom, zervikale Myelopathie [2].
menten erhebliche Beschwerden auslösen [2].
Im Verlauf des degenerativen Prozesses weitet sich der jZervikalsyndrom
Anulus fibrosus aus und wird durch den Druck des Nucleus Davon sind vorwiegend ältere Menschen betroffen. Cha-
pulposus (Gallertkern) nach hinten vorgewölbt, was als rakteristisch sind Nackenschmerzen mit Ausstrahlung in
Protrusion bezeichnet wird. In der nächsten Phase können den Hinterkopf und die Schulter, evtl. bis in die Arme,
Lücken im Faserring aufbrechen, durch die degeneriertes ohne neurologische Symptome sowie Nackensteife mit
Material aus dem Gallertkern hinausgepresst wird, meis- Muskelhartspann. Diesem Syndrom liegen Störungen der
tens nach dorsal oder dorsolateral. Dieses degenerierte gelenkigen Wirbelverbindungen (Wirbelgelenke, Unko-
Material bildet dann die eigentliche Hernie bzw. den Se- vertebralarthrose, Bandscheibe) zugrunde [2].
quester, der irreponibel sein kann [2].
Je nach anatomischer Konstellation im Wirbelkanal jZervikozephales Syndrom
kann die Hernie eine Nervenwurzel komprimieren, und Der Schmerz ist meist migräneartig mit Schwindel, Ohren-
zwar üblicherweise dort, wo diese den Duralsack verlässt. sausen, Sehstörungen. Typisch ist das intermittierende
Wenn eine Hernie weit lateral liegt, kann sie auch die Auftreten der Symptome in Abhängigkeit von Kopf- und
nächsthöhere Nervenwurzel im Foramen intervertebrale Halsbewegungen. Beschwerden sind heterogen, schlecht
bedrängen. Liegt eine Hernie im LWS-Bereich median, erfassbar und therapieresistent. Psychosomatische Fakto-
kann die im Duralsack liegende Cauda equina kompri- ren spielen eine große Rolle [2].
miert werden, was als eine der wenigen orthopädischen
Notfallsituationen angesehen wird [2]. jZervikobrachiales Syndrom (bzw. radikuläres
Zervikalsyndrom)
Hier treten zusätzlich zum Zervikalsyndrom in die Arme
40.5 Lokalisation und klinische ausstrahlende Schmerzen auf sowie manchmal, aber nicht
Symptomatik immer, neurologische Symptome mit sensiblen bzw. moto-
rischen Ausfällen in Arm und Hand vom radikulären Typ
40.5.1 Halswirbelsäule (HWS) (meistens Nervenwurzel C6, C7 oder C8 betroffen). Eine
und ihre Besonderheiten Häufigkeitsverteilung gibt . Tab. 40.1 wieder [4]. Ursache
ist eine Kompression des Plexus cervicalis/brachialis, der
Zervikale Diskushernien sind nicht selten. Ihre Pathologie dort lokalisierten Blutgefäße und/oder sympathischen
ist über weite Strecken ähnlich wie die der lumbalen Nervengeflechte bzw. der betreffenden Nervenwurzel im
Diskushernie (7 Abschn. 40.5.3). Häufig betroffen sind die Foramen intervertebrale. Ein chronisches Zervikobrachial-
beweglichsten Segmente zwischen C5 und C7. Im Hals- syndrom wird häufiger durch Facettengelenk- oder Unko-
434 Kapitel 40 · Bandscheibenvorfall

. Tab. 40.2 Klinische Etagendiagnostik bei radikulären Irritationen im Bereich der Halswirbelsäule [4]

Nerven- Schmerzausstrahlung Kennmuskeln (Schwäche Reflexstörung Sensible Dermatome


wurzel bzw. Parese)

C5 Schulterbereich über M. supraspinatus Bizepssehnenreflex abge- Region der Schulterkappe


dem M. deltoideus M. deltoideus schwächt Außenseite Oberarm
M. biceps brachii

C6 Radialseite des Ober- M. biceps brachii Evtl. Bizepssehnenreflex Radialseite des Ober- und
und Unterarms bis zum M. brachioradialis (und abgeschwächt oder erlo- Unterarms
Daumen andere Handgelenkstre- schen Streck- und Beugeseite des
cker) Radiusperiostreflex abge- Daumens
schwächt oder erloschen

C7 Ab der Ellenbeuge M. triceps brachii Trizepssehnenreflex abge- Rückseite des mittleren Unter-
laterodorsal abwärts bis M. pronator teres schwächt oder erloschen arms
in die Finger II–IV (v. a. Muskulatur des Daumen- Streck- und Beugeseite der
III) ballens Finger II–IV (v. a. III)
Handgelenkbeuger

C8 Vom ulnaren Bereich Mm. interossei Evtl. Abschwächung des Streck- und Beugeseite des
des Unterarms bis in Muskulatur des Kleinfinger- Trizepssehnenreflexes ulnaren Bereichs des Unterarms
den Kleinfinger ballens Evtl. Trömnerreflex abge- bis zum Kleinfinger
(An- und Abspreizung der schwächt
Langfinger)

Th1 In den ulnaren Anteil An- und Abspreizung der Ulnarer Anteil des Oberarms,
des Ellenbogens Langfinger des Ellenbogens und des proxi-
malen Unterarms

vertebralarthrose hervorgerufen, seltener durch einen aku- die Abgrenzung zum degenerativen Impingementsyn-
ten Diskusprolaps [2, 4]. drom der homolateralen Schulter zu erwähnen [4].

jZervikale Myelopathie Therapie


Siehe dazu 7 Abschn. 41.2, »Zervikale Spinalkanalstenose«. Die Therapieentscheidung ist individuell zu treffen. Evi-
denzbasierte Studien fehlen.
Klinische Symptomatik
Meist klagt der Patient über Schmerzen im Schulter- und
Nackenbereich, die längere Zeit bestehen. Es liegen mehr 40.5.2 Brustwirbelsäule (BWS)
oder weniger klare Begrenzungen einer segmentalen Irri-
tation mit neuralgieformer Ausstrahlung in den homolate- Thorakale Diskushernien sind außerordentlich selten.
ralen Arm vor [4]. Haltungsanomalien und paravertebrale Zervikale und thorakale Diskushernien sind potenziell ge-
Muskelverspannungen (Nackenstrecker, obere Trapezius- fährlich für das in unmittelbarer Nähe liegende Rücken-
ränder) können vorliegen [4]. Zu Schmerzverstärkungen mark, das in der Regel auf Höhe von L1 endet [2].
40 kann es durch Husten oder Niesen sowie durch Reklinie-
ren und gleichzeitigem Rotieren des Kopfs zur erkrankten
Seite kommen [4]. Motorische Defizite sind eher selten. 40.5.3 Lendenwirbelsäule (LWS)
Eine ausführliche klinische Untersuchung lässt in der
Regel eine exakte Lokalisation der zervikalen Pathologie zu Lumbale Diskushernien können nur einzelne Nerven-
(. Tab. 40.2) [4]. wurzeln bedrängen. Am häufigsten ist die untere LWS
Die Bildgebung ist mit der bei lumbalen Prozessen ver- betroffen, vor allem die Segmente L4/5 und L5/S1. Eine
gleichbar (7 Abschn. 40.6 »Radiologische Diagnostik«). Häufigkeitsverteilung von lumbalen Bandscheibenvor-
fällen gibt . Tab. 40.4 wieder [5].
Differenzialdiagnosen Aufgrund ihrer besonderen topografischen Anatomie
Differenzialdiagnostisch müssen periphere Pathologien bzw. ihrer Lokalisation (median, mediolateral, lateral)
ausgeschlossen werden (. Tab. 40.3) [4]. Hier ist besonders können Bandscheibenvorfälle (BSV) in Höhe L3/4 sowie
40.5 · Lokalisation und klinische Symptomatik
435 40

. Tab. 40.3 Differenzialdiagnosen zervikaler Wurzel-


syndrome [4]

Betroffene Wichtige Differenzialdiagnosen


Nerven-
wurzel

C5 Schulteraffektion, obere Armplexusläsion

C6 Parese des N. musculocutaneus, Karpaltunnel-


syndrom

C7 Untere Armplexusläsion, Karpaltunnelsyndrom


LKW 3
C8 Parese des N. ulnaris, untere Armplexusläsion

Th1 Parese des N. ulnaris, untere Armplexusläsion 1

. Tab. 40.4 Häufigkeitsverteilung monoradikulärer Lumbal- 2


syndrome [5] LKW 4

Nervenwurzel Häufigkeit (%)


L4
L2 0,5

L3 0,5 LKW 5

L4 1,0

L5 43,8 L5
S1 54,2 . Abb. 40.1 Topografische Anatomie bei radikulärer Kompression
der Wurzel L4. Auslöser kann sowohl ein medianer oder paramedia-
ner BSV in Höhe L3/4 als auch ein lateraler BSV bei L4/5 mit Kom-
pression von kaudal sein. 1: medialer BSV L3/4. 2: lateraler BSV L4/5.
auch L4/5 jeweils die Wurzel L4 bedrängen (. Abb. 40.1; (Aus Heisel [5])
. Abb. 40.3b,c) Darüber hinaus kann ein Bandscheiben-
vorfall in Höhe L5/S1 sowohl die Nervenwurzel L5 intra-
foraminal als auch die Nervenwurzel S1 lateral komprimie-
ren (. Abb. 40.2; . Abb. 40.4c,d) [5].

Schweregrade lumbaler Bandscheiben-


protrusionen und -prolapse [5]
5 Grad 1: unphysiologische intradiskale Massen- L4
verschiebung mit Vorwölbung des intakten Anulus
fibrosus auf diskaler Ebene über die Hinterkante
L5
des Wirbelkörpers hinaus, breitbasige Vorwölbung
auf diskaler Ebene
5 Grad 2: sog. subanulöser Sequester, disloziertes
S1
Bandscheibengewebe an den radiären Fissuren bis
hin zu den äußeren Schichten des Anulus fibrosus Sakrum
durchbrochen, die Hauptmasse des verschobenen
Bandscheibengewebes befindet sich aber noch im
Zwischenwirbelabschnitt oder noch vor der Hin-
terkante (Rückverlagerungsmöglichkeit gegeben)
5 Grad 3: sog. subligamentärer bzw. submembran- . Abb. 40.2 Topografische Anatomie bei lateralem BSV L5/S1. Bei
öser Sequester, der Anulus fibrosus ist in seiner entsprechender Größe kann sowohl die Nervenwurzel L5 intrafora-
minal als auch die Nervenwurzel S1 von lateral komprimiert werden.
(Aus Heisel [5])
436 Kapitel 40 · Bandscheibenvorfall

a b c d

. Abb. 40.3 a Radiologisches Bild einer Osteochondrose bei L5/S1 (Pfeil), geringer bei L4/5. b MRT sagittal T2: BS-Prolaps bei L4/5 mit be-
ginnendem Sequester (Pfeil). c MRT axial T2: rechtsseitiger medialer BS-Prolaps mit subtotaler Einengung des Spinalkanals. d Bandscheiben-
material nach offener Diskotomie

a b c

40
d e f g

. Abb. 40.4 a, b Radiologisches Bild einer Osteochondrose bei L5/S1 (Pfeil). c MRT sagittal T2: BS-Prolaps L5/S1 mit nach kranial umge-
schlagenem Sequester (Pfeil). d MRT axial T2: linksseitiger mediolateraler BS-Prolaps mit Bedrängung der Wurzeln L5 und S1 links (Pfeil).
e CT sagittale Rekonstruktion: Lufteinschlüsse/Vakuumphänomen (Pfeil) in der Bandscheibe bei L5/S1 sowie die aktivierte Osteochondrose
bei L5/S1. f, g Postoperative Röntgenaufnahme der LWS in 2 Ebenen nach offener Diskotomie bei L5/S1 sowie Spondylodese bei L5/S1
mit PLIF aufgrund aktivierter Osteochondrose
40.5 · Lokalisation und klinische Symptomatik
437 40
typische Schmerzbild der Ischialgie komplett. Die Patien-
äußeren Schicht durchbrochen, posteriore ten können sich oft kaum mehr bewegen und finden nur
Deckung nur durch ausgedünnte Anteile des Lig. mühsam eine einigermaßen bequeme Lage. Die Wirbel-
longitudinale posterius bzw. durch die zarte Epidu- säule wird steif gehalten, in der Regel eine zwanghafte
ralmembran, meist paramediane Lokalisation in Kyphose und Seitbiegung (»analgetische Skoliose«). Das
der diskalen, supra- oder infradiskalen Ebene Bücken nach vorne ist nicht mehr oder nur mit einer seit-
5 Grad 4: Anulus fibrosus, Lig. longitudinale lichen Ausweichbewegung möglich. Die paravertebrale
posterius bzw. Epiduralmembran sind von Band- Muskulatur ist bretthart verspannt und schmerzhaft (Hart-
scheibengewebe durchbrochen, differenziert wer- spann). Es bestehen druckdolente untere Dornfortsätze.
den gebundene und freie Sequestrierungen [5] Diese Erscheinungen werden als vertebrales Syndrom be-
zeichnet, das für Diskushernien typisch ist.
Des Weiteren sind die Valleix-Druckpunkte positiv. Im
Klinische Symptomatik Fall einer Irritation in Höhe L4–S1 sind die Ischiasdeh-
Typisch sind meist über längere Zeit bestehende Kreuz- nungszeichen (nach Lasègue und Bragard) positiv. Eine
schmerzen, evtl. schubweise auftretend im Sinn eines Tangierung der Wurzel L1–L3 hat nicht selten einen Femo-
»Hexenschusses« (akute Lumbago). Vorzugsweise betrof- ralisdehnungsschmerz zur Folge. Es bestehen Funktions-
fen sind Männer im Alter zwischen 25 und 45 Jahren, aber einschränkungen der Wirbelsäule evtl. mit reflektorischer
auch Frauen, seltener Jugendliche und ältere Menschen. Streckhaltung (sog. Lendenstrecksteife). Das Schmerzbild
Die Schmerzanamnese ist typisch. Über längere Zeit wer- kann sich beim Husten und Niesen verstärken [5]. Für
den Kreuzschmerzen beklagt, die schubweise bestanden eine exakte Höhenlokalisation ist eine differenzierte klini-
hatten. Darauf schießt unvermittelt oder bei einer un- sche Untersuchung mit Erfassung sensibler und motori-
kontrolliert forcierten Bewegung (Hebe-/Drehbewegung, scher Defizite sowie von Reflexausfällen erforderlich
Aufstehen aus Hocke usw.) ein überaus heftiger Schmerz (. Tab. 40.5) [5].
in die untere Lendenwirbelsäule. Das Krankheitsbild ent- Im Fall einer erheblichen Verlegung des Spinalkanals
spricht einer akuten Lumbago, einem lumbalem Schmerz- kann es aufgrund einer Konus- oder Kaudasymptomatik
syndrom oder einem Hexenschuss [5]. zu erheblichen Blasen- oder Mastdarmstörungen kommen
Wenn die Schmerzen dorsalseitig ins Bein ausstrahlen, (. Tab. 40.6) [5]. Eine differenzierte klinische Unter-
vor allem im Verlauf des Nervus ischiadicus, dann ist das suchung des Patienten erlaubt zumeist eine Differenzie-

. Tab. 40.5 Klinische Etagendiagnostik bei radikulären Läsionen der LWS [5]

Nerven- Schmerzausstrahlung Kennmuskeln Reflexstörungen Sensible


wurzel (Schwäche/Parese) Dermatome

wL2 Thorakolumbaler Übergang M. iliopsoas Kremasterreflex abgeschwächt Leistenregion, prox.


Kreuzbeinbereich M. quadriceps Patellarsehnenreflex (PSR) abge- ventrale OS-Innen-
Beckenkamm femoris schwächt seite
Prox. Innenseite Oberschenkel (OS)

L3 Obere LWS M. iliopsoas PSR abgeschwächt oder erlo- Ventral- und Innen-
Prox. ventraler OS M. quadriceps schen seite OS bis über
femoris Knie

L4 LWS-Bereich M. quadriceps PSR abgeschwächt Vorderseite OS,


Vorderseite OS femoris Innenseite Knie
Hüftregion M. tibialis anterior und Wade bis
Innenseite Unterschenkel (US) Innenseite Fuß

L5 Außenseite OS bis Großzehe M. tibialis posterior Tibialis-posterior-Reflex abge- Außenseite OS,


M. extensor hallu- schwächt (nicht regelhaft auslös- Vorder- und Außen-
cis longus bar – aussagefähig nur bei posi- seite US, mediale
tivem Reflex der Gegenseite) Hälfte des Fußes

S1 Rückseite OS und US bis Kleinzehe M. triceps surae Achillessehnenreflex (ASR) abge- Rückseite OS und
Mm. peronaeus schwächt oder erloschen US, Außenseite der
longus et brevis Wade, laterale
Fußbeuger Hälfte des Fußes
Vorfußpronatoren
438 Kapitel 40 · Bandscheibenvorfall

. Tab. 40.6 Typische Klinik bei Konus- und Kaudasyndrom [5] . Tab. 40.7 Klinische Differenzialdiagnose der lumbalen
Bandscheibenprotrusion vs. Bandscheibenprolaps nach
Konussyndrom Kaudasyndrom Krämer [5]

Lokalisation Läsion des Conus me- Läsion der Cauda Bandscheiben- Bandscheiben-
dullaris (S3–S5) in Höhe equina unterhalb protrusion prolaps
LWK 1 von LWK 1
Symptomatik Allmählich, Plötzlich, schlag-
Sensibili- Reithosenanästhesie Radikuläre
schleichend artig einsetzend
tätsstörun- Störungen
gen Fakultativ Reitho- Fehlhaltung Wechselnd Konstant
senanästhesie
Schmerzband Proximal Distal bevorzugt
Motorische Keine Beinparese Schlaffe Parese bevorzugt
Ausfälle der betroffenen
Medikamentöse Gut Kaum möglich
Segmente
Beeinflussung
Vegetative Schlaffer Sphinktertonus Schweißsekretion
Dysfunk- Blasenentleerungs- erhalten
tionen störung
Gestörte Sexualfunktion
. Tab. 40.8 Differenzialdiagnosen lumbaler Wurzel-
Reflexver- Fremdreflexe (Analre- Muskeleigenre- syndrome [5]
halten flex) erloschen flexe erloschen
Nerven- Differenzialdiagnose
wurzel

L2 Leistenhernie, Nierenaffektion, Irritation des N.


rung zwischen einer lumbalen Bandscheibenprotrusion ilioinguinalis
und einem Bandscheibenprolaps (. Tab. 40.7 s. Tab. 4.4) [5].
Rhode [20] zeigte 2011, dass es beim lumbalen Radi- L3 Parese des N. femoralis, Meralgia paraesthetica
nocturna
kulärsyndrom zu Stand- und Gangstörungen (Hinken)
kommt. Durch entsprechend differenzierte Untersuchun- L4 Parese des N. femoralis
gen konnte er auf die Lokalisation des Bandscheiben- L5 Parese des N. ischiadicus, Parese des N. peronaeus
prolapses schließen.
S1 Parese des N. ischiadicus, Parese des N. tibialis

Differenzialdiagnosen
Die Differenzialdiagnosen der einzelnen lumbalen Nerven-
wurzelkompressionssyndrome sind in . Tab. 40.8 zusam- Facetteninfiltration anschließend für einige Zeit beschwer-
mengefasst [5]. defrei.
Als weitere Differenzialdiagnosen kommen Muskel-
verspannungen, myofasziales Syndrom sowie das kom- Risikofaktoren
plette Bild von Wirbelsäulenerkrankungen (Osteochon- Flamme [3] konnte nachweisen, dass der intradiskale Druck
drosen, Tumor, Entzündung etc.) infrage. Auch vaskuläre lageabhängig ist. Im Liegen ist er geringer als im Stehen und
Prozesse, z. B. die vaskuläre Claudicatio intermittens müs- Sitzen. Flexion der Wirbelsäule, zusätzliche Lastaufnahme
sen abgegrenzt werden. mit den Armen oder Erhöhung des Körpergewichts erhö-
Ein lumbales Facettensyndrom führt in der Regel zu hen den intradiskalen Druck, der am höchsten beim Bücken
40 pseudoradikulären Beschwerden, insbesondere bei ist. Übergewicht führt zu einem erhöhten statischen und
Rumpfreklination, allerdings immer ohne neurologische dynamischen Druck in den Bandscheiben. Somit stellt sich
Defizite. konsequenterweise die Frage, ob Übergewicht ein Risikofak-
Differenzialdiagnostisch muss an myofasziale Syndro- tor für die Entstehung eines Bandscheibenvorfalls ist. Flam-
me von Muskeln der Lenden-Becken-Hüft-Region gedacht me [3] verglich mehrere Studien über Risikofaktoren für die
werden, deren Referenzareale »lumboischialgieforme Be- Entstehung eines Bandscheibenvorfalls. Es zeigte sich, dass
schwerden« imitieren können. Rauchen, erhöhte Arbeitsbelastung und auch Übergewicht
Beim lumbalen Wurzelreizsyndrom ist vor allem die Risikofaktoren für einen Bandscheibenvorfall sind. Der
segmentale Klinik pathognomonisch [5]. größte Einfluss auf die Prävalenz von Rückenschmerzen
Zur Differenzierung eines Facettensyndroms von scheint aber genetisch bedingt zu sein [3].
einem Bandscheibenvorfall dient die Facetteninfiltration Rhode [18] nennt folgende Risikofaktoren: negative
mit einem Lokalanästhetikum. Der Patient ist bei korrekter Einschätzung der individuellen Fähigkeiten in alltäglichen
40.7 · Therapie
439 40
Verrichtungen, hohe Arbeitsplatzbelastung, Zusammen- werden sehr häufig auch bei schmerzfreien Probanden
hang der Rückenbeschwerden mit körperlichen Aktivitä- nachgewiesen. Diese Vorwölbungen entsprechen nach
ten, kein Wohlbefinden und eine lange Dauer der aktuellen Krappel u. Harland [13] dem natürlichen Alterungsprozess.
Schmerzepisode. > Die MRT ist aufgrund ihrer multiplanaren Darstel-
lungsmöglichkeit, der fehlenden Strahlenbelastung
und der Weichteilkontrastierung allen anderen
40.6 Radiologische Diagnostik radiologischen Untersuchungen überlegen.

40.6.1 Konventionelles Röntgen

Das konventionelle Röntgenbild hat für die Diagnose 40.6.4 Diskografie


einer Diskushernie wenig Aussagekraft. Die betreffende
Bandscheibe kann etwas erniedrigt sein, muss aber nicht Die Diskografie hat zur Beurteilung der Bandscheiben-
(. Abb. 40.3a; . Abb. 40.4a,b). Degenerative Veränderun- pathologie in früheren Jahren beigetragen. Als invasive
gen fehlen oft ganz. Gegebenenfalls ist eine bestehende Methode ist sie jedoch keineswegs harmlos. Für die prak-
Zwangsfehlhaltung (Seitfehlhaltung, Kyphose) zu sehen. tische Diagnostik ist sie kaum noch von Bedeutung und
Das Röntgenbild dient in erster Linie dazu, andere Wirbel- wurde weitgehend durch die MRT-Untersuchung abgelöst.
affektionen, wie z. B. Entzündungen oder Tumoren, als Die Angabe von Schmerzen bei Injektion des Kontrastmit-
Schmerzursache auszuschließen. tels unter Druck ist unspezifisch und als diagnostischer
Test nicht immer zuverlässig. Es gibt eine hohe Rate falsch-
positiver Aussagen durch subjektive Patientenangaben,
40.6.2 Computertomografie (CT) psychologische Überlagerung und die jeweilige indivi-
duelle Schmerzempfindung [1, 8].
Die Computertomografie hat erstmals die anatomisch ge-
naue Darstellung des Wirbelkanals und seines Inhalts im
Querschnitt ermöglicht. Knöcherne Strukturen werden im 40.6.5 Myelografie
CT sehr exakt abgebildet (. Abb. 40.4e). Durch die MRT-
Untersuchung (s. unten) ist jedoch die Computertomogra- Die Myelografie als invasive Methode wurde weitgehend
fie für die reine Bandscheibendiagnostik an die zweite durch MRT und CT ersetzt. Sie wird auch heute noch als
Stelle gerückt und wird in der Regel zur Differenzialdiag- sog. Funktionsmyelografie in Kombination mit einem
nostik eingesetzt bzw. dann, wenn eine MRT-Unter- Postmyelografiecomputertomogramm für spezielle Frage-
suchung nicht möglich ist (z. B. bei Vorhandensein eines stellungen herangezogen, z. B. bei engem Spinalkanal oder
Herzschrittmachers). dem Kompressionssyndrom nervaler Strukturen.

40.6.3 Magnetresonanztomografie (MRT) 40.7 Therapie

Die MRT hat sich bei Bandscheibenveränderungen zur füh- Grundvoraussetzung für die Entscheidungsfindung einer
renden bildgebenden diagnostischen Methode entwickelt. konservativen oder operativen Behandlung eines Band-
Mit der MRT-Untersuchung ist eine multiplanare Darstel- scheibenvorfalls sind die Erhebung der speziellen Anam-
lung möglich. Es bestehen – im Gegensatz zu den anderen nese, eine exakte klinische Untersuchung einschließlich
Verfahren – eine deutlich überlegene Weichteilkontrastie- neurologischer Befunderhebung sowie eine systematische
rung sowie keinerlei Strahlenbelastung. Anatomische De- bildgebende Diagnostik.
tails wie der Nucleus pulposus und der Anulus fibrosus
können beurteilt werden. Ferner wird die Abgrenzung
von Diskus, hinterem Längsband, Struktur der Cauda, 40.7.1 Konservative Therapie
Meningen und Bändern ermöglicht (. Abb. 40.3b,c;
. Abb. 40.4c,d). Des Weiteren kann postoperativ durch Ga- > Prinzipiell sollten alle neu aufgetretenen Band-
doliniumgabe gut zwischen Narbe und Reprolaps unter- scheibenvorfälle (außer bei Vorliegen einer Parese
schieden werden. Die Gefahr der MRT-Untersuchung liegt bzw. eines Konus-Kauda-Syndroms) zunächst
in einer Überinterpretation von morphologischen Be- primär konservativ behandelt werden.
funden bei fehlender bzw. nicht korrelierender klinischer Nach Wirtenberg [25] besteht Einigkeit darin, eine
Symptomatik. Vorwölbungen von Bandscheibengewebe Schmerztherapie umfassend und frühzeitig einzusetzen,
440 Kapitel 40 · Bandscheibenvorfall

um einer Chronifizierung und den damit einhergehenden der Schmerzen zurückgehen. Dies ist jedoch nur für akute
erheblichen volkswirtschaftlichen Konsequenzen entge- Schmerzpatienten nachgewiesen. Im Widerspruch dazu
genzuwirken. stehen die Untersuchungen von Jäckl et al. [7]. Sie zeigen,
Die konservative Therapie besteht aus einer multimo- dass Patienten mit chronischen Kreuzschmerzen nach
dalen Behandlung. Diese besteht aus manueller Therapie, einer 4-wöchigen stationären Rehabilitation eine Reduk-
komplexer Physiotherapie, klassischen Naturheilverfah- tion der Schmerzen von nur 20 % aufwiesen. Allerdings
ren, Schmerztherapie und psychologischer Therapie [6, 17, basieren die Ergebnisse auf einer Untersuchung aus dem
18, 19, 20]. Rhode [18] zeigte in einer Studie über Schmerz- Jahre 1990 und sollten daher mit Zurückhaltung betrachtet
reduktion bei Patienten mit akutem lumbalen Radikulär- werden.
und Pseudoradikulärsyndrom nach stationärer Therapie,
dass einwurzelige Rückenschmerzen eine bessere Schmerz- Medikamentöse Therapie
reduktion und Prognose aufweisen als zweiwurzelige Im Vordergrund stehen einerseits die bekannten zentral
Rückenschmerzen. Je höher die komprimierte Wurzel wirkenden Analgetika, andererseits die nichtsteroidalen
liegt, desto bessere Schmerzreduktion und Prognose seien Antiphlogistika. Bei längerer Applikation, insbesondere
vorhanden. Tiefer liegende komprimierte Nervenwurzeln von NSAR, ist eine zusätzliche Gabe eines Protonenpum-
haben schlechtere Therapieerfolge. Bei vorhandener Indi- penhemmers zur Vermeidung intestinaler Nebenwirkun-
kation sollte die stationäre Frührehabilitation im Akut- gen obligat. Bei muskulären Schmerzbildern, wie Ver-
krankenhaus besser früher als zu spät einsetzen. Frühzei- spannungen und Verhärtungen, ist die Anwendung von
tige Krankenhauseinweisungen verbessern die Prognose, Myotonolytika zu überlegen. Bei chronischen Beschwerde-
während später eingeleitete (z. B. erst nach 3 Monaten) die bildern im Zuge einer kompressionsbedingten Schädigung
Prognose erheblich verschlechtern. von Nervenwurzeln sollten Vitamin-D-Präparate ein-
Primäres Ziel der akuten Therapie ist es, einer Schmerz- gesetzt werden. Ein Cortisonstoß mit Prednisolon über
chronifizierung möglichst effizient entgegenzuwirken [19]. 5–7 Tage in absteigender Dosierung (Beginn mit ca. 40–
50 mg) ist insbesondere bei eindeutig radikulärer Klinik
mit möglichem Wurzelödem Erfolg versprechend. Die
Chronifizierungsfaktoren nach Keel [9]
Schmerztherapie zielt in erster Linie zunächst auf die
5 Niedriges Bildungsniveau
Durchbrechung der Entzündungskaskade ab. Neben der
5 Geringe berufliche Qualifikation
systemischen Wahlmedikation kann auch eine lokale Ap-
5 Höheres Alter (35–55)
plikation von chemischen Wirksubstanzen infrage kom-
5 Passive, resignative Einstellung (bezüglich
men. In Verbindung mit Krankengymnastik sind z. B. fol-
Besserung und Rückkehr zur Arbeit)
gende Medikationen anzuwenden: intrakutane Quadde-
5 Krankheitsgewinn
lung von Störfeldern nach Kiebler, aber auch die Infiltra-
5 Begehrlichkeit (Rentenwunsch)
tion von Triggerpunkten mit physiotherapeutischer
5 »Schmerzpersönlichkeit« (Konfliktleugnung,
Triggerpunktbehandlung oder isolierter schmerzhafter
Aggressionshemmung, Unfähigkeit zu genießen,
Bandansätze, z. B. an Dorn- oder Querfortsätzen, mit
zwanghafter Perfektionismus)
einem Lokalanästhetikum, ggf. zusätzlich mit einem Ste-
roid (z. B. Triamcinolon 10–20 mg). Ist zusätzlich eine
Um einer Chronifizierung vorzubeugen, fordert Kügelgen lumbale Facettenirritation nachweisbar, empfiehlt sich
[15] von der physikalisch-rehabilitativen Medizin einen ebenfalls eine lokale Infiltration mit einem lang wirkenden
raschen Beginn der Behandlung, eine dichte Behandlungs- Lokalanästhetikum (z. B. Bupivacain, ggf. zusätzlich mit
folge, Techniken, die der Patient selbst anwenden kann, ein Steroid). Liegt eine eindeutig radikuläre Symptomatik mit
40 klares Behandlungskonzept mit guter Dokumentation, möglichem Wurzelödem vor, kann auch eine epidural-
eine enge Abstimmung mit dem Arzt und meistmögliche dorsale oder epidural-sakrale Infiltration mit Lokalanäs-
Mobilisation des Patienten. thetika im Rahmen einer sog. – ggf. CT-gesteuerten –
Nach Pfingsten u. Hildebrand [17] ist die große Effek- Wurzelumflutung eingesetzt werden [5, 6].
tivität multimodaler Behandlungsprogramme bei chroni-
schen Rückenschmerzen heute international belegt. Lagerungstechniken
Über die Dauer der Therapie in einem Akutkranken- Eine Entlordosierung im Stufenbett bzw. auf einem Lage-
haus bzw. der anschließenden Rehabilitationsmaßnahme in rungswürfel führt bei akuten Schmerzbildern, die infolge
einer Klinik – stationär, teilstationär oder ambulant – wer- einer Reizung des hinteren Längsbands oder einer lumba-
den in der Literatur keine einheitlichen Angaben gemacht. len Wurzelreizung auftreten, zu einer meist wirksamen
Nach Rhode [18] ist eine 3-wöchige Dauer einer kom- mechanischen Entlastung der nervalen Strukturen sowie
plex-multimodalen Therapie nötig, damit über die Hälfte zu einer leichten Distraktion der lumbalen Facettengelen-
40.7 · Therapie
441 40
ke und Erweiterung des lumbalen Spinalkanals. Eine milde Kurzwelle) fördern die lokale Wärmewirkung auch in
Traktion ist ebenfalls schmerzlindernd. Unter Anwendung tieferen Gewebeschichten [6].
des Schlingentisches kann der Patient das Ausmaß dieser
Extension (Distraktion) individuell selbst steuern [5, 6]. Psychologische Therapie
Bettruhe für maximal 1 Woche in entspannter Lage- Zur Vermeidung einer Chronifizierung ist eine psycholo-
rung, z. B. Stufenbettlagerung, ist als effizient evaluiert [22]. gische Behandlung durch einen diesbezüglich versierten
Psychologen sehr sinnvoll. Hier sollten die Verbesserung
Krankengymnastik und manuelle Therapie der Wahrnehmung und die Verarbeitung des Schmerzer-
Die Bewegungstherapie hat zum Ziel, eine mechanische lebens, der Ängstlichkeit und einer möglicherweise zusätz-
Entlastung der unteren Rumpfwirbelsäule durch Förde- lich bestehenden Depressionen behandelt werden. Für die
rung der muskulären Stabilisierung der Rückenmuskula- meisten Patienten ist der Erhalt des Arbeitsplatzes bzw. die
tur (Rückenstrecker), Becken- sowie der Bauchmuskulatur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit ein wesentlicher
zu bewirken. Hierbei stehen entlordosierende Flexions- prognostischer Faktor [6].
übungen, aber auch Traktionen der Rumpfwirbelsäule im
Vordergrund [18, 19]. Nach Heisel [5, 6] bieten vor allem Ergotherapeutische Maßnahmen
die propriozeptive neuromuskuläre Faszilitation (PNF), Selbsthilfetraining sowie die Verordnung adäquater Hilfs-
die funktionelle Bewegungslehre, aber auch die manuelle mittel ist sowohl bei der konservativen als auch bei der
Therapie sowie die Krankengymnastik nach McKenzie frühen postoperativen Rehabilitation von großer Be-
wirkungsvolle Einzelmaßnahmen beim schmerzhaften deutung. Als Hilfsmittel sind z. B. Schuh- oder Strumpfan-
Lumbalsyndrom. ziehhilfen sowie Greifzangen einsetzbar. Darüber hinaus
Nach initialer Beschwerdebesserung sollten dann erfolgt die Versorgung mit adäquaten Gehhilfen oder
repetitive Übungen im Rahmen von gerätegestützter Schuhzurichtungen. Laut Heisel [6] ist die Beachtung der
Krankengymnastik (auch bekannt als medizinische ergonomischen Ausrichtung des Arbeitsplatzes prospek-
Trainingstherapie, MTT) zu einem gezielten Aufbau der tiv-präventiv, vor allem, um eine ungünstig einseitige
Muskulatur angewandt werden. Die »Kieser-Rücken- Körperhaltung zu vermeiden. Eine wissenschaftlich be-
schule« z. B. bietet hier eine durchaus probate Alternative. gründete Bewertung der Effizienz der einzelnen Behand-
Laut Heisel [5, 6] sind Übungsmaßnahmen in kleinen lungsmaßnahmen ist laut Heisel [6] heutzutage evidenzba-
Gruppen weniger personalaufwendig und damit ökono- siert nicht möglich. Berichtete Behandlungsergebnisse
mischer, zusätzlich fördern sie die subjektive Motivation beruhen in der Regel auf empirischen Erfahrungen.
zum späteren Eigentraining. Die Konföderation der deutschen Rückenschulen hat
die »Neue Rückenschule« konzipiert. Im Fokus stehen kör-
Hydro-, Thermo- und Balneotherapie perliche Aktivität, der Abbau psychosozialer Belastungen
Primäre Ziele sind hier einerseits eine muskuläre Detoni- und gesundheitsförderliche Einstellungen zu Rücken-
sierung durch Anwendung feuchter Wärme, andererseits schmerzen. Die ursprüngliche Lehre von falschen und
auch eine unbelastete Mobilisation im Fall schmerzbeding- richtigen Verhaltensweisen gilt als veraltet [26].
ter Bewegungsstörungen. Thermalbadanwendungen –
soweit örtlich vorhanden – mit Schwimmprogrammen
Inhalte der präventiven »Neuen Rückenschule« [26]
können ebenfalls angewendet werden [6].
1. Körperwahrnehmung und Körpererfahrung.
Physikalische Maßnahmen 2. Training der motorischen Grundeigenschaften.
3. Entspannung und Stressmanagement.
Eine Detonisierung der Rückenstrecker durch Erhöhung
4. Kleine Spiele / Spielformen und Parcours.
der lokalen Blutzirkulation ist durch eine gezielte Massage-
5. Haltungs- und Bewegungsschulung.
therapie erreichbar. Die lokale Blutzirkulation wird durch
6. Wissensvermittlung und Information.
eine vorausgehende Wärmeapplikation (z. B. Fango, heiße
7. Strategien zur Schmerzbewältigung.
Rolle) gefördert. Im Rahmen der Elektrotherapie können
8. Verhältnisprävention.
die unterschiedlichen Wirkweisen des elektrischen Stroms
9. Vorstellung von Life-Time-Sportarten.
eingesetzt werden. Man unterscheidet niederfrequente
10. Gruppen- und Einzelgespräche.
Gleichströme, mittelfrequente Ströme und hochfrequente
11. Evaluation.
Ströme. Niederfrequente Ströme, z. B. Stangerbad und
TENs-Gerät, wirken bei korrekter Polung analgetisch, mit-
telfrequente Ströme, z. B. Interferenzströme, führen zu Nach Schiltenwolf [22] besteht zwischen der Größe des
einer muskulären Hyperämisierung und hieraus resultie- Bandscheibenprolapses und dem Schmerz keine Kor-
rend zu einer Detonisierung. Hochfrequente Ströme (z. B. relation. Der bildgewonnene pathologische Bandscheiben-
442 Kapitel 40 · Bandscheibenvorfall

befund allein ist weder symptomerklärend noch befund- Entscheidung für oder gegen eine Bandscheibenoperation
korrelierend. Die Größe des Vorfalls hat ebenso wenig eine bedacht werden. Nach Krämer u. Ludwig [11] sollte sich
prognostische Relevanz [21]. Scale u. Zichner [21] konn- der Arzt immer selbst die Frage stellen, ob er sich beim
ten bereits 1994 eine klinische Befundbesserung bei 90 % vorliegenden Befund operieren lassen würde.
aller konservativ behandelten Patienten mit einem lumba- Nach einem Zeitraum von 6 Wochen konservativer
len Bandscheibenprolaps nachweisen. Es zeigte sich, dass Therapie bei ausbleibendem Erfolg und vorliegendem
diese klinische Besserung nicht unbedingt an eine radiolo- Prolaps sollte nach Krämer u. Ludwig [11] die Indikation
gisch nachgewiesene Regression des Prolapses gebunden zur operativen Therapie gestellt werden.
sein muss [21]. Kontraindikationen sind anhaltende Kreuzschmerzen
ohne radikuläre Symptomatik trotz einer möglicherweise
vorliegenden Bandscheibenvorwölbung im CT oder MRT.
40.7.2 Operative Therapie Jedwede Unklarheit in der Diagnose mit fehlender Kor-
relation zwischen klinischem Befund und Befund des bild-
Vorrangiges Ziel der Bandscheibenbehandlung ist das Ver- gebenden Verfahrens stellt ebenfalls eine Kontraindikation
meiden einer Schmerzchronifizierung. Dementsprechend zur operativen Therapie dar. Des Weiteren sind die fehlen-
muss bei ausbleibendem konservativem Therapieerfolg an de Bereitschaft des Patienten sowie das Vorliegen einer
eine operative Therapie gedacht werden. Über den Zeit- Wirbelsäulenhypochondrie Kontraindikationen.
raum der konservativen Therapie werden in der Literatur > Das Kaudasyndrom und/oder relevante Paresen
unterschiedliche Angaben gemacht. Nach Schiltenwolf wichtiger Muskeln sind absolute OP-Indikationen!
[22] ist eine operative Therapie dann zu fordern, wenn der
Zeitrahmen von 8 Wochen nach radikulärem Schmerz
trotz Ausschöpfens systematisch durchgeführter konser- Operationsmethoden
vativer Maßnahmen überschritten wird und gleich- Für die operative Behandlung des lumbalen Bandschei-
zeitig   weiterhin körperliche Symptome wie radikulärer benvorfalls stehen verschiedene Techniken zur Verfügung.
Schmerz bestehen. Andere Autoren geben kein Zeitinter- Die konventionelle lumbale Diskotomie (engl. »lumbar
vall vor. discectomy«) ist nach Scholz u. Salis-Soglio [23] das Stan-
> Für die Entscheidung, ob ein lumbaler Bandschei-
dardverfahren. Selbst unter dem Aspekt der verfeinerten
benvorfall konservativ oder operativ behandelt wer-
Techniken (Mikrodiskotomie bzw. perkutane Verfahren)
den soll, ist neben dem subjektiven Beschwerdebild
hat die offene lumbale Diskotomie auch heute noch ihren
des Patienten der klinisch-neurologische Befund
Platz in der Behandlung von lumbalen Bandscheiben-
maßgebend. Die bildgebenden Befunde sind zweit-
vorfällen. Der Vorzug der konventionellen Technik mit
rangig [11].
Lupenbrille ist darin zu sehen, dass nahezu alle im Bedarfs-
fall zusätzlich durchzuführenden Verfahren abgedeckt
werden können. Nach Scholz u. Salis-Soglio [23] resultie-
Operationsindikationen ren Fehlschläge häufiger aus einer fehlerhaften Indikati-
Eine absolute OP-Indikation besteht, wenn durch einen onsstellung oder einer ungenügend präoperativen Planung
Bandscheibenvorfall ein Kaudasyndrom eingetreten ist oder als aus technischen Verfahrensunterschieden.
wenn funktionell wichtige Muskeln relevante Paresen auf- Die offene lumbale Bandscheiben-OP (Diskotomie) ist
weisen. Funktionell wichtig bedeutet z. B. eine deutliche die häufigste und wichtigste Operation an der Wirbelsäule.
Schwäche der Fußheberfunktion. Eine Schwäche des Groß- In Deutschland werden jährlich 22.000 Diskotomien
zehenhebers oder eine mäßige Fußsenker- oder Quadri- durchgeführt [11]. Krämer u. Ludwig [11] unterscheiden
40 zepsschwäche ist bei mäßiger subjektiver Schmerzangabe in der Indikationsstellung zur offenen oder perkutanen
noch kein zwingender Anlass zur sofortigen Operation [11]. Diskotomie, ob eine Bandscheibenprotrusion oder ein
Wenn keine Lähmung vorliegt, ist ein stark anhalten- prolaps vorliegt. Protrusion steht für Bandscheibenvor-
der Schmerz sowie eine erhebliche Behinderung im All- wölbung mit mehr oder weniger gut erhaltenem Anulus
tagsleben trotz Ausschöpfung aller gebotenen konservati- fibrosus und Prolaps für den Bandscheibenvorfall mit
ven Behandlungsmaßnahmen mit Vorliegen eines eindeu- Perforation des Anulus fibrosus und Austritt von Band-
tigen Befunds im CT oder MR ebenfalls als OP-Indikation scheibengewebe in den Spinalkanal. Für Protrusionen
zu werten [11]. kommen laut Krämer u. Ludwig [11] alle intradiskalen
Nach Krämer u. Ludwig [11] sind, abgesehen vom Verfahren wie z. B. perkutane Nukleotomie und perkutane
Leidensdruck, ein hoher Medikamentenverbrauch sowie Laserbehandlung infrage. Beim Prolaps sollte eine
die erzwungene Immobilisation und die damit verbundene offene Operation gewählt werden [11] (. Abb. 40.3a–d;
Thrombosegefahr erhebliche Risiken und müssen bei der . Abb. 40.4a–g).
40.7 · Therapie
443 40
Veränderungen im lumbalen Bewegungssegment. Die mi-
. Tab. 40.9 Minimal-invasive Behandlung der Lumbal-
syndrome – evidenzbasiert [11]
nimal-invasive Wirbelsäulentherapie steht somit zwischen
der konservativen und der offen operativen Behandlung.
Behandlung Wirkung Neben- Evidenz-
wirkung niveau
Auswahl minimal-invasiver Behandlungen
»Epidural single-shot« +++ + A 5 Lumbale Spinalnervenanalgesie bzw.
Lumbale Spinalnerven- +++ + B
periradikuläre Therapie
analgesie 5 Lumbale Facetteninfiltration
5 Perkutane Facettenkoagulation
Facetteninfiltration + + C
5 Epidurale periradikuläre Therapie
Epiduralkatheter ++ ++ C 5 Epidural-sakrale Injektion
Chemonukleolyse +++ +++ A 5 Peridurale Katheter
5 Intradiskale Injektion
Perkutaner Laser − ++ B
5 Chemonukleolyse
Perkutane Nukleotomie − ++ B
5 Perkutan-lumbale Diskotomien mittels
Intradiskale elektrother- + ++ B Endoskopen
male Therapie (IDET) 5 Perkutan-lumbale Lasertherapie
Facettenkoagulation + ++ C 5 Intradiskale elektrothermale Therapie (IDET)

A: viele randomisierte kontrollierte Studien; B: wenige rando-


misierte kontrollierte Studien; C: Expertenmeinung, nicht- Eine Übersicht über den evidenzbasierten Einsatz dieser
randomisierte Studien Verfahren gibt . Tab. 40.9 [11].
Evidenz: stark (+++), mittel: (++), gering (+), keine (–) Die operative Therapie ist nach Krämer u. Ludwig [11]
definiert durch die operative Freilegung des betroffenen
Wirbelsäulenabschnitts. Dies kann sowohl makrochirur-
> Eine wesentliche Rolle sowohl hinsichtlich der opera- gisch als auch mikrochirurgisch erfolgen. Das mikrochir-
tiven Komplikationsrate als auch im Hinblick auf das urgische Vorgehen an der Lendenwirbelsäule bedeutet,
Endergebnis spielt die Erfahrung des Operateurs. Ziel den Situs in der Tiefe über einen schmalen Zugang mit
aller OP-Techniken ist es, fehlerhafte Indikationsstel- Ausleuchtung und Vergrößerung des Operationsfelds zu
lungen und einen durch unzureichende operations- erreichen sowie spezielle abgewinkelte Instrumente zu
technische Durchführung verursachten Beschwerde- verwenden.
komplex bei den Patienten zu vermeiden, den man Schwetlick [24] sieht die mikrochirurgische Technik
als Postdiskotomiesyndrom bezeichnet. nicht in der Verwendung einer Stirnlampe und eines
Spekulumspreizersystems, mit dem kleinere Zugänge
Aus einer unzureichend durchgeführten Operation kann erreicht werden können, sondern in der Anwendung eines
letztlich ein chronisch schmerzkranker rückenoperierter speziellen Operationsmikroskops und eines mikrochirur-
Problempatient resultieren. Für das Postdiskotomiesyn- gischen Instrumentariums.
drom werden neben der Instabilität auch postoperative Nach Schwetlick [24] ist die mikrochirurgische Disko-
Narbenbildungen in der Umgebung von Dura und Ner- tomie nicht zeitaufwendiger als die makrochirurgische.
venwurzeln verantwortlich gemacht. Daher hat es nicht an Durch die mikrochirurgische OP-Technik können der
Versuchen gefehlt, durch minimal-invasive perkutane int- postoperative Krankenhausaufenthalt und die Zeit der
radiskale und transforaminale Verfahren Manipulationen Arbeitsunfähigkeit reduziert werden. OP-Komplikationen
im Periduralraum zu reduzieren, um an das dislozierte in der mikrochirurgischen Technik unterscheiden sich
Bandscheibengewebe zu gelangen. Alle sog. minimal-inva- nicht von denjenigen der offenen Technik [24].
siven Techniken weisen Probleme auf und müssen erst > Komplikationsmöglichkeiten sind sowohl für offene
durch kontrollierte Studien überprüft werden, die bis als auch für mikrochirurgische Verfahrenstechniken
heute fehlen [11]. Duraverletzungen, Nervenwurzeldehnung, epidu-
Krämer u. Ludwig [11] unterscheiden zwischen der rale Blutungen, Verletzung der Iliakalgefäße sowie
minimal-invasiven Behandlung und der operativen Thera- Lagerungsschäden.
pie. Minimal-invasive Therapie in Zusammenhang mit der
Behandlung von Lumbalsyndromen bedeutet perkutane Die Komplikationsrate ist wie bei den meisten anderen
Einbringung von Nadeln, Kathetern oder endoskopischen Operationsverfahren auch von der Erfahrung des Opera-
Instrumenten zur Behandlung beschwerdeauslösender teurs abhängig. Die Vorteile der mikrochirurgischen
444 Kapitel 40 · Bandscheibenvorfall

. Tab. 40.10 Postdiskotomiesyndrom – Schweregrade [11]

Grad Schmerzen Lasègue Medikamente Leistungsfähigkeit Gutachten Grad der


Behinderung

I Kein Ruheschmerz, Negativ Gelegentlich Eingeschränkt für Arbeitsfähig, keine unter 20 %


leichter Belastungs- Schwerarbeit und Schwerarbeit
schmerz Leistungssport

II Leichter Ruhe- Positiv Regelmäßig Keine wirbelsäulen- Häufig arbeitsunfähig, 30–80 %


schmerz, starker leichte, gele- belastende Arbeit, berufsunfähig für
Belastungsschmerz gentlich starke kein Sport wirbelsäulenbelastende
Arbeiten

III Starker Dauer- Unter 30° Dauernd starke Gehhilfen, Hilfsperson Erwerbsunfähig 100 %
schmerz

Technik sind u. a. die exaktere Blutstillung an epiduralen zeichnet man alle anhaltenden starken Beschwerden nach
Gefäßen, die gefäßschonende Operationstechnik bei guter der offenen lumbalen Bandscheibenoperation, die durch
Übersicht der anatomischen Strukturen und die Möglich- Segmentinstabilität und Verwachsungen im Wirbelkanal
keit einer qualifizierenden Ausbildung von OP-Assisten- hervorgerufen werden.«
ten, die zu jedem Zeitpunkt die intraoperative Präparation Nach Bandscheibenoperationen ist bei etwa 15 % der
verfolgen und unter Anwendung des OP-Mikroskops an- Patienten mit einem Postdiskotomiesyndrom zu rechnen
geleitet werden können [24]. [14].
Nachteile der mikrochirurgischen Nervenwurzel-
dekompression bestehen nach Krämer [11] im gewöh-
Potenzielle Gründe für die Entstehung eines
nungsbedürftigen beschränkten Operationsfeld mit indi-
Postdiskotomiesyndroms [14]
rekter Betrachtung des Operationssitus im Mikroskop und
1. Inkorrekte Diagnose
in der fehlenden Möglichkeit, sich an Nachbarstrukturen
2. Schlechte Patientenauswahl
zu orientieren.
3. Falsche Operation
> Prinzipiell sollte eine Bandscheibenoperation bei 4. Falsches Bandscheibenfach operiert
gegebener Indikationsstellung nicht zu lange 5. Technische Mängel
hinausgezögert werden, da bei einer radikulären 6. Unzureichende Dekompression
Beschwerdedauer von mehr als 6 Monaten die 7. Fortschreiten der Grunderkrankung
Ergebnisse von Bandscheibenoperationen (mit oder 8. Infektionen
ohne Operationsmikroskop) signifikant schlechter
werden und sich die Wahrscheinlichkeit einer Wie-
deraufnahme der Arbeit verringert [11, 24].
Nach Krämer u. Ludwig [11] entstehen nach jeder opera-
tiven Entfernung von Bandscheibengewebe 2 einschnei-
Fehlschläge in der mikrochirurgischen Bandscheiben- dende Veränderungen am Bewegungssegment, die für die
chirurgie sind vor allem auf eine schlechte Patienten- Ätiologie und Pathogenese des Postdiskotomiesyndroms
selektion und unzureichende präoperative Diagnostik eine entscheidende Rolle spielen:
40 zurückzuführen [24]. 4 Lockerung und Höhenminderung des Zwischen-
wirbelraums durch Entfernung von Bandscheiben-
gewebe,
40.8 Postdiskotomiesyndrom 4 Entwicklung von narbigen Verwachsungen im Opera-
tionsbereich.
Dieser Terminus fasst eine Reihe von postoperativen
Symptomkomponenten zusammen, die sehr unterschied- Krämer u. Ludwig [11] unterscheiden 3 Schweregrade
liche krankhafte Veränderungen der LWS zur Ursache ha- (. Tab. 40.10).
ben. Es liegt kein einheitliches Krankheitsbild mit klarer Als Risikofaktoren für die Entstehung eines Postdisko-
Definition vor. tomiesyndroms sind laut Klinger et al. [10] negative
Lediglich Krämer u. Ludwig [11] haben versucht, den psychische Faktoren, eine vorbestehende Schmerzchroni-
Begriff zu definieren: »Als Postdiskotomiesyndrom be- fizierung und psychische Störungen relevant. Diese sollten
Literatur
445 40
vor Durchführung einer Bandscheibenoperation berück- 12. Krämer J (1996) Besonderheiten der orthopädischen
sichtigt werden. Therapeutische Maßnahmen reichen von Schmerztherapie bei Erkrankungen der Wirbelsäule. Schmerz
10:269
konservativer Therapie bei chronischem Schmerzsyndrom
13. Krappel FA, Harland U (2001) Diskusdiagnostik im MRT.
zu Renukleotomien, Versteifungsoperation (. Abb. 40.4f,g) Orthopäde 30:502–513
bis hin zur Implantation von Bandscheibenprothesen [14]. 14. Krödel A (2008) Postnukleotomiesyndrom. Orthopäde 37:
Eine weitere mögliche Komplikation einer offenen 300–306
Bandscheibenoperation mit ggf. gleichzeitiger Dekom- 15. Kügelen B (2001) Leitlinien zum Rückenmanagement – Kommen-
tar aus der Sicht der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin.
pression einer knöchernen Stenose durch Teilentfernung
In: Kügelen B, Hildebrandt J (Hrsg) Leitlinien zum modernen
des Wirbelbogens oder der Wirbelgelenke kann die Aus- Rückenmanagement (Neuroorthopädie 8). Zuckerschwerdt,
bildung einer Instabilität mit Pseudospondylolisthese und München, S 240–247
hieraus resultierender spinaler Enge nach sich ziehen [2]. 16. Leu H (2011) Endoskopische Nukleotomie – Renaissance eines
Evidenzbasierte Studien darüber liegen bisher nicht vor. Verfahrens. Orthopäde 40:126–129
Nach Leu [16] hat die endoskopische Nukleotomie in 17. Pfingsten M, Hildebrandt J (2001) Auswirkung von Patienten- und
Settingmerkmalen auf die Effektivität multimodaler Behandlung-
den letzten Jahren eine Renaissance erfahren. Durch die
sprogramme bei chronischen Rückenschmerzen (Abstract).
Einführung optisch hoch auflösender koaxialer Arbeits- Schmerz 15(Suppl 1):88
endoskope hat sich gezeigt, dass bei korrekter Indikations- 18. Rhode J (2002) Schmerzreduktion bei Patienten mit akuten
stellung mit diesen minimal-invasiven Techniken Ergeb- lumbalen Radikulär- und Pseudoradikulärsyndromen nach
nisse möglich sind, die sich mit dem Goldstandard der stationärer manueller Therapie und komplexer Physio- und
Schmerztherapie: Manuelle Medizin 40:203–209
Mikrodiskotomie messen lassen.
19. Rohde J, Steiniger J, Gerlach T, Jaschke B, Rudolph U (2007) Die
> Es liegt bisher keine evidenzbasierte Aussage Wirksamkeit von Traktion der Lendenwirbelsäule bei lumbalem
darüber vor, welches Verfahren bzw. welche Diskusprolaps: Manuelle Medizin 45:183–190
20. Rohde J (2011) Stand- und Gangstörungen (Hinken) beim
OP-Technik von belegtem Vorteil ist. Entscheidend
lumbalen Radikulärsyndrom. Manuelle Medizin 49:19–24
für den Erfolg der Bandscheibenoperation sind 21. Scale D, Zichner L (1994) Spontanverlauf beim lumbalen
vor allem die richtige Indikationsstellung und die Bandscheibenvorfall. Orthopäde 23:236–242
Erfahrung des Operateurs. 22. Schiltenwolf M (1999) Aspekte konservativer Ischialgiebehand-
lung. Orthopäde 28:966–974
23. Scholz R, Salis-Soglio G Freiherr von (1999) Offene lumbale
Literatur Bandscheibenoperation. Orthopäde 28:585–592
24. Schwetlick G (1998) Mikrochirurgische lumbale Bandscheiben-
1. Böhm B, Giesa M, Meinig H, Eckardt A, Schadmand-Fischer S, operationen. Orthopäde 27:457–465
Heine J (2005) Korrelation degenerativer Bandscheiben- 25. Wirtenberg R (2004) Orthopädische Schmerztherapie. Schmerz
veränderungen im MRT mit dem Befund der Diskographie bei 18:451–452
Rückenschmerzpatienten. Orthopäde 34:1144–1149 26. Konföderation der deutschen Rückenschulen. Inhalte der präven-
2. Debrunner A (2005) Orthopädie, Orthopädische Chirurgie, 4. Aufl. tiven Rückenschule; Hannover 2006; http://www.kddr.de/
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back surgery« verhindern. Orthopäde 37:1000–1006
11. Krämer J, Ludwig J (1999) Die operative Behandlung des
lumbalen Bandscheibenvorfalls. Orthopäde 28:579–584
447 41

Spinalkanalstenose
R. H. Richter, S. Richter, R. Forst

41.1 Lumbale Spinalkanalstenose (LSS) – 448


41.1.1 Definition – 448
41.1.2 Ursache – 448
41.1.3 Pathophysiologie und Pathoanatomie – 448
41.1.4 Diagnostik – 451
41.1.5 Therapie – 453

41.2 Zervikale Spinalkanalstenose (ZSS) – 457


41.2.1 Klinische Symptomatik – 458
41.2.2 Therapie – 458

Literatur – 459

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_41, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
448 Kapitel 41 · Spinalkanalstenose

Die lumbale Spinalkanalstenose (LSS) ist ein Beschwerde- > Die lumbale Spinalkanalstenose ist mittlerweile der
komplex aus Rückenschmerz und belastungsabhängigen häufigste Grund für eine LWS-Operation [10]. Die
Schmerzen in den Beinen. Die Inzidenz symptomatischer jährliche Inzidenz der lumbalen Spinalkanalstenose
LSS nimmt aufgrund des steigenden Lebensalters der wird in der Literatur mit 5 pro 100.000 angegeben
Patienten und des hohen Anspruchs an Lebensqualität [10].
exponentiell zu. Nach ausführlicher Anamneseerhebung
und klinischer Untersuchung erfolgt eine weiterführende
radiologische Diagnostik mittels Röntgen und ggf. Schnitt- 41.1.2 Ursache
bilddiagnostik. Die Therapie ist in erster Linie vom Be-
schwerdebild der Patienten abhängig und sekundär vom Es werden die kongenitalen (anlagebedingten) Ursachen
Ergebnis der bildgebenden Verfahren. Nach Ausschöpfen der sog. primäre LSS und die degenerativen Ursachen der
aller konservativen Maßnahmen im Sinne einer multi- sog. sekundären LSS unterschieden. Die primäre LSS fasst
modalen Schmerztherapie steht die operative Therapie im die intrinsischen, konstitutionellen Engen des Spinalkanals
Vordergrund. Aufgrund der großen Vielfalt an Operations- (isoliert oder im Rahmen einer systemischen Grunder-
methoden ist es schwierig, einen Behandlungsalgorith- krankung, z. B. Achondroplastie/Arachnopathien) und die
mus zu definieren. Die Wahl des Operationsverfahrens lytischen Spondylolisthesen zusammen. Die häufigste Ur-
sollte immer individuell für den Patienten getroffen sache der sekundären lumbalen Spinalkanalstenosen liegt
werden. in der degenerativen Struktur. Eine Spondylolisthese
(. Abb. 41.1a–i; . Abb. 41.2c) sowie eine De-novo-Skoliose
können ebenfalls Ursache einer sekundären LSS sein.
41.1 Lumbale Spinalkanalstenose (LSS)

41.1.1 Definition 41.1.3 Pathophysiologie und Pathoanatomie

Unter lumbaler Spinalkanalstenose (LSS) wird eine um- Die LSS kann mono- oder multisegmental, ein- oder beid-
schriebene, knöchern-diskoligamentäre Einengung des seitig vorliegen. Man unterscheidet zwischen einer zentra-
Spinalkanals verstanden, die mit einem klinischen len Stenose, einer Recessusstenose (laterale Stenose) und
Beschwerdekomplex aus Rückenschmerzen und belas- einer Foramenstenose [10]. Eine relative LSS (Sagittal-
tungsabhängigen Schmerzen in den Beinen (Claudicatio durchmesser des Spinalkanals 10–14 mm) ist häufig asym-
spinalis) verbunden ist [10]. ptomatisch und zeigt in der Bildgebung noch einen Rest-
Ubiquitäre Degenerationsprozesse führen mit zu- saum an epiduralem Fettgewebe sowie einen deutlichen
nehmendem Alter speziell an der LWS zur Einengung des Liquorraum. Demgegenüber ist die absolute LSS (Sagittal-
Spinalkanals. Als Folge der sich verändernden Altersstruk- durchmesser <10 mm) häufig symptomatisch und zeigt
tur nimmt die Inzidenz symptomatischer Spinalkanal- radiologisch keinen Reserveraum mehr [10].
stenosen exponentiell zu [13]. Aufgrund des steigenden > Die häufigste Form der LSS entsteht im Rahmen
Anspruchs älterer Menschen an Lebensqualität und insbe- einer chronischen Degeneration des Bewegungs-
sondere an Mobilität sowie Flexibilität gewinnt die Spinal- segments (7 Übersicht »Pathogenesefaktoren«) [10].
kanalstenose eine immer größere Bedeutung. Auch die
steigende Qualität und Verfügbarkeit radiologischer Durch Verschleiß der Bandscheibe kommt es zu einer Pro-
Schnittbildverfahren sowie die wachsende Zahl möglicher trusion mit der Folge einer ventralen Spinalkanaleinen-
Behandlungskonzepte bewirken, dass immer mehr Spinal- gung. Die Höhenminderung des Zwischenwirbelraums
kanalstenosen diagnostiziert und behandelt werden [10]. wiederum führt zu einer Einengung der Recessus und der
Bei Patienten über 60 Jahre kann MR-tomografisch in Foramina intervertebralia sowie zu einer zunehmenden
mehr als 20 % der Fälle eine LSS diagnostiziert werden Belastung der Facettengelenke (. Abb. 41.2d). Diese Mehr-
41 [13]. Die Operationsinzidenz in den USA hat sich von bzw. Überlastung der Facettengelenke zieht eine Facetten-
1979 bis 1992 verachtfacht [13]. Sowohl die Indikations- gelenkarthrose mit weiteren Folgeerscheinungen nach
stellung zur Operation als auch die Wahl des chirurgischen sich, und zwar:
Verfahrens wird durch die gleichzeitig voranschreitende 4 Hypertrophie der Gelenkkapsel,
Entwicklung neuer Therapieansätze erschwert, zumal 4 knöcherne Anbauten der Gelenkpartner,
evidenzbasierte Entscheidungshilfen für die Behandlung 4 Entwicklung von raumfordernden Gelenkzysten,
dieser Patienten fehlen [13]. 4 Instabilität.
41.1 · Lumbale Spinalkanalstenose (LSS)
449 41

a b c d e

f g h i

. Abb. 41.1a–k Spinalkanalstenose durch spinale Lipomatose und


Spondylolisthese. a–d Röntgenaufnahmen bei Spondylolisthese von
L5/S1 mit resultierender Spinalkanalstenose; e Postmyelografie-CT;
f–h Funktionsmyelografie; i MRT mit Kontrastmittel; j, k operative
Therapie mittels dorsaler Stabilisierung mit Pedikelschrauben bei L4–
S1 und ventraler Fusion mit ALIF bei L4/L5 und L5/S1. Der Pfeil zeigt
j k auf die spinale Lipomatose
450 Kapitel 41 · Spinalkanalstenose

a b c

d e

. Abb. 41.2a–e Absolute Spinalkanalstenose. a, b Myelografie mit Kontrastmittelstopp bei absoluter Spinalkanalstenose;
c, d Postmyelo-CT; d MRT mit Kontrastmittel: deutlich degenerative Veränderungen mit resultierender LSS

zesses bemüht ist, das instabile Segment zu stabilisieren.


Pathogenesefaktoren der LSS [10] Dies geschieht durch Bildung knöcherner Anbauten und
5 Höhenminderung des Segments Hypertrophien stabilisierender Bandstrukturen [10]
5 Spondylose (. Abb. 41.2d).
5 Bandscheibenprotrusion Eine seltene Ursache für eine LSS ist gehäuft im Seg-
5 Spondylarthrose ment L5/S1 bei Vorliegen einer spinalen Lipomatose zu
5 Band-/Kapselhypertrophie beobachten (. Abb. 41.1e,i). Im Fall einer degenerativen
41 5 Spondylolisthese Spondylolisthese resultiert allein durch den Wirbelversatz
5 Instabilität/Hypermobilität bereits eine Einengung des Spinalkanals (. Abb. 41.2a–c).
Die degenerative Spondylolisthese trifft gehäuft im Seg-
ment L4/5 auf [10]. Letztendlich führt die LSS zu einer
Die Ligamenta flava legen sich durch Höhenminderung Kompression der Cauda equina, einzelner Nervenwurzeln,
des Segments in Falten und führen so ebenfalls zu einer der Hirnhäute und intraspinaler Gefäße. Die Kompression
Raumforderung, jedoch von dorsal. Zu einer Hypertrophie einer Nervenwurzel kann eine Radikulitis zur Folge haben
der Ligamenta flava kommt es, wenn eine begleitende In- [10].
stabilität vorliegt. Generell führt eine Segmentinstabilität Mitverantwortlich für die Entstehung der Claudicatio
dazu, dass der Körper im Rahmen eines Selbstheilungspro- spinalis bei LSS scheint der Effekt an den Gefäßen zu sein.
41.1 · Lumbale Spinalkanalstenose (LSS)
451 41

. Tab. 41.1 Differenzialdiagnose Claudicatio spinalis (neurogen) vs. Claudicatio intermittens (vaskulär) [10]

Claudicatio spinalis Claudicatio intermittens

Schmerzausbreitung in den Beinen Von proximal nach distal Von distal nach proximal

Schmerzlinderung Im Sitzen, Liegen Im Stehen

Schmerz beim Liegen Keine Linderung beim Aufstehen

Gehen Bergauf leichter Bergab leichter

Radfahren Gut möglich Führt zu Schmerzen

Flexionshaltung der LWS Linderung Kein Effekt

Extensionshaltung der LWS Verschlechterung Kein Effekt

Pulsstatus (peripher) Unauffällig Abgeschwächt

Hautstatus Normal Haarverlust, trophische Störungen

Körperhaltung Gebeugt Unauffällig

Hier werden 2 sich gegenseitig beeinflussende Phänomene Anamnese und Klinik


diskutiert: die Ischämie als Folge einer arteriellen Minder- Es werden ein- oder beidseitige Rücken-Bein-Schmerzen
durchblutung und die venöse Stauung zwischen 2 Stenosen beklagt, die langsam progredient sind und bereits seit
mit dadurch bedingter Kompression der Nerven und se- mehreren Monaten oder Jahren bestehen. Der Rücken-
kundärer Minderperfusion. schmerz ist lumbal lokalisiert und strahlt mitunter nach
Das Ausmaß der Kompression ist abhängig vom Profil gluteal, in die Leisten und in die Beine aus. Dabei folgt die
und der axialen Belastung der LWS. Eine Hyperextension Schmerzausstrahlung nicht immer einem radikulären
(. Abb. 41.1d) der LWS führt zu einer zusätzlichen Einen- Muster [10, 13]. Bei einer reinen LSS klagt der Patient
gung des Spinalkanals, eine Hyperflexion (. Abb. 41.1c) typischerweise über eine neurogene Claudicatio (Claudi-
dagegen zu dessen Erweiterung [10, 13]. Die axiale Belas- catio spinalis), die das spezifische Symptom der LSS
tung eines Segments bedingt die Zunahme der Stenose. darstellt. Die neurogene Claudicatio lässt sich klinisch
Nach Schulte et al. [10] zeigten experimentelle Messungen, von der vaskulären Claudicatio abgrenzen. Dies wird in
dass der epidurale Druck beim Stehen und in Extension . Tab. 41.1 sichtbar [10].
erhöht ist; im Liegen, im Sitzen und in Flexion ist er er- Es liegt eine schmerzhafte Einschränkung der Ge-
niedrigt. Beim Gehen kommt es zu einer zusätzlichen hfähigkeit sowie eine reduzierte Gehstrecke vor. Im
Steigerung des epiduralen Drucks. Gegensatz dazu ist eine Gehstörung bei Vorliegen einer
Myelopathie in der Regel schmerzlos und unabhängig von
Gehzeit und Gehstrecke [10]. Zur klinischen Orientierung
41.1.4 Diagnostik hat sich das Verhältnis der Kreuzschmerzkomponente im
Vergleich zur Beinschmerzkomponente als hilfreich her-
Eine generelle Schwierigkeit der klinischen Beurteilung ausgestellt. Das Ausmaß der Kreuzschmerzkomponente
von Patienten mit LSS liegt darin, dass die Patienten in der gibt Hinweis auf eine begleitende Segmentinstabilität
Regel älter sind (über 50 Jahre) und somit diverse Komor- oder eine Facettengelenkarthrose. Zu einer isolierten
biditäten aufweisen. Speziell im Bereich der LWS zeigt sich Radikulopathie kann es bei Vorliegen einer lateralen
ein vielfältiges Bild an Verschleißerscheinungen. Ein Recessus- oder Foramenstenose kommen. Gelegentlich
großes Problem wird darin gesehen, bei einem multifakto- zeigen die Patienten sensomotorische Defizite, häufig ge-
riellen Schmerzgeschehen jeweils diejenigen Anteile ringer im Ruhezustand und verstärkt bei Gehbelastung.
diagnostisch zu identifizieren, die durch die LSS bzw. Typische Nervendehnungszeichen wie das Zeichen nach
durch weitere Faktoren bedingt sind, wie z. B. Instabilität, Lasègue oder der Femoralisdehnungsschmerz sind oft
Facettengelenkarthrose, Knochenschmerz (z. B. bei Osteo- negativ [10, 13].
porose), Arthroseschmerz der unteren Extremität sowie Das Gefühl der »schweren Beine« wird oft beschrie-
internistische und neurologische Komorbiditäten (z. B. ben, vor allem bei längerem Gehen. Hier sollten differen-
Polyneuropathie) [10, 13]. zialdiagnostisch die peripheren Neuropathien abgeklärt
werden. Nur in Ausnahmefällen findet sich ein Kauda-
452 Kapitel 41 · Spinalkanalstenose

syndrom. Blasen- und Mastdarmentleerungsstörungen bei Zur Beurteilung der Segmentstabilität sind seitliche
LSS sind ebenfalls sehr selten, da die sakralen Nerven- Röntgenfunktionsaufnahmen im Stehen unverzichtbar, da
wurzeln innerhalb der Kauda zentral lokalisiert sind und das Ausmaß der Hypermobilität nur in Hyperflexion und
bei Kompression zunächst die peripheren lumbalen Fasern extension beurteilbar ist [10].
in Mitleidenschaft gezogen werden [10, 13]. Bei Vorliegen
von Blasen-/Mastdarmentleerungsstörungen sowie zu- jMagnetresonanztomografie (MRT)
sätzlichem Ausfall der langen Bahnen (Babinski-Zeichen, Die MRT ist das Schnittbildverfahren der Wahl, obwohl
Klonus sowie Hyperreflexien) ist verstärkt nach einer Pa- der Patient in der Regel im Liegen ohne axiale Belastung
thologie im Bereich des zervikalen oder thorakalen Spinal- untersucht wird. Großer Vorteil der MRT ist die Kombi-
kanals zu suchen (Myelopathie) [10, 13]. nierbarkeit mit einer Kernspinmyelografie (. Abb. 41.1i;
Beschwerden des Iliosakralgelenks, die ebenfalls als . Abb. 41.2d). Das Vorliegen eines intraradikulären Ödems
Differenzialdiagnose der LSS anzusehen sind, führen in kann Hinweis auf eine kompressionsbedingte Radikulitis
der Regel zu Beschwerden beim Sitzen, Hinsetzen oder sein. Dieser Effekt führt dazu, dass die entzündete Nerven-
Aufstehen aus sitzender Position und zeigen eine typische wurzel Kontrastmittel (Gadolinium) aufnimmt.
Druckschmerzhaftigkeit des Gelenks.
Die wichtigsten Differenzialdiagnosen der LSS sind in jComputertomografie (CT)
der folgenden 7 Übersicht zusammengefasst [10]. Circa Das CT bietet im Vergleich zur MRT-Untersuchung eine
20 % der Patienten mit LSS sind depressiv und mit ihrem deutlich bessere Darstellung knöcherner Strukturen.
Leben unzufrieden [10, 13]. Häufig wird das CT im Anschluss an eine Funktionsmyelo-
grafie als ein sog. Postmyelografie-CT (. Abb. 41.1e;
. Abb. 41.2c) angefertigt.
Differenzialdiagnosen der LSS [10]
5 Lumbaler Bandscheibenvorfall
jFunktionsmyelografie
5 Spondylolisthese
Sie ist derzeit noch das beste Verfahren, um den Einfluss
5 Wirbelfrakturen
von Hyperextension und flexion auf das Ausmaß einer Ste-
5 Zervikale oder thorakale Spinalkanalstenosen
nosierung des Spinalkanals zu untersuchen (. Abb. 41.1f,g;
mit Myelopathie
. Abb. 41.2a,b). Allerdings ist die Durchführung dieser
5 (Spinale) Tumoren
invasiven Methode im Zeitalter der MR-Myelografie
5 Entzündungen (Spondylodiszitis, epiduraler
kritisch zu indizieren. Die Funktionsmyelografie erlaubt
Abszess, Borreliose)
zudem die Untersuchung der LWS im Stand unter »norma-
5 Spondylitis ankylosans
ler Belastung« durch das Körpergewicht [10].
5 Iliosakralgelenkarthrose
Neuere Arbeiten haben nach Schulte et al. [10] erge-
5 Facettengelenksyndrom
ben, dass sich die diagnostischen und prädiktiven Werte
5 Koxarthrose
von Myelografie, Myelo-CT und MRT nicht signifikant
5 Tendopathien
unterscheiden.
5 Kardiovaskuläre Erkrankungen (KHK, pAVK)
5 Bauchaortenaneurysma > Bei der Beurteilung der radiologischen Bildgebung
5 Spinale Lipomatose muss betont werden, dass der radiologische Grad
5 Neuropathien/Polyneuropathien einer LSS – weder vor noch nach einer Operation –
nicht mit dem Grad der klinischen Beschwerden
korreliert [10, 13].

Radiologische Diagnostik
jRöntgen jZusatzdiagnostik
Die radiologische Routinediagnostik umfasst Röntgen- Eine gefäßchirurgische Abklärung sollte zum Ausschluss
41 bilder der LWS im Stehen in 2 Ebenen (. Abb. 41.1a,b), einer vaskulären Genese der Beschwerden erfolgen. Bei
inklusive seitlicher Funktionsaufnahmen in Inklination Unklarheiten bzw. bei Verdacht auf eine periphere Neuro-
(. Abb. 41.1c) und Reklination (. Abb. 41.1d). An diesen pathie sollten zudem elektrophysiologische Untersuchun-
Bildern lassen sich bereits typische Veränderungen er- gen angestrebt werden.
kennen, wie z. B. die Höhenminderung des Segments und Laboruntersuchungen spielen bei der Diagnostik der
Facettengelenkarthrosen. Zudem können sich schon LSS keine Rolle, helfen aber, Differenzialdiagnosen auszu-
Hinweise auf zusätzliche Pathologien oder Differenzialdi- schließen (z. B. CRP-Erhöhung bei Spondylodiszitis). Bei
agnosen ergeben, wie z. B. das Vorliegen von Osteolysen, Vorliegen chronischer Schmerzen kann eine schmerzpsy-
(osteoporotischen) Frakturen etc. chologische Abklärung in Erwägung gezogen werden.
41.1 · Lumbale Spinalkanalstenose (LSS)
453 41
Zur Differenzierung der einzelnen Schmerzkompo- Bei der medikamentösen Therapie stehen schmerzlin-
nenten, die den Gesamtschmerz des Patienten ausmachen, dernde und entzündungshemmende Medikamente wie
sind selektiv diagnostische Infiltrationen sinnvoll. Ab- NSAR im Vordergrund. Ebenso werden kurzfristig Korti-
hängig vom individuellen Fall sind z. B. Infiltrationen der koide sowie ggf. Opioide und Muskelrelaxanzien einge-
Facettengelenke, der Iliosakralgelenke, der Hüftgelenke setzt [13]. Die Elektrotherapie, die transkutane elektrische
sowie Wurzelblockaden zu diskutieren. Nervenstimulation (TENS) sowie passive Maßnahmen
und entlordosierende Orthesen werden ebenfalls ange-
wendet. Die Wirksamkeit all dieser Maßnahmen ist bislang
41.1.5 Therapie weder nachgewiesen noch widerlegt [13]. Lediglich die
Gabe von Kalzitonin hat sich als eindeutig unwirksam ge-
Natürlicher Verlauf der LSS zeigt [13].
Die individuelle therapeutische Entscheidung (operativ Es gehört ebenfalls zum konservativen Behandlungs-
oder konservativ) hängt im Wesentlichen vom Spontan- konzept, dass der Patient über den natürlichen Verlauf der
verlauf dieser Erkrankung ab [13]. Überraschenderweise Erkrankung aufgeklärt wird, insbesondere darüber, dass
gibt es jedoch keine prospektiven Langzeitstudien, die den keine akuten Paresen drohen, aber eine generelle Ver-
natürlichen Verlauf einer LSS aufzeigen [10]. Einzelne schlechterung der körperlichen Kondition als Ergebnis der
Studien, die verschiedene Behandlungswege untersuchten, Inaktivität eintreten kann [10]. Therapeutische Infiltra-
enthalten Untergruppen von Patienten, die nicht thera- tionen können dem Patienten zunächst eine kurz- bis
piert wurden. Diese Studien berichten von einer Zunahme mittelfristige Besserung bringen. Hier werden üblicher-
der Symptome in ca. 20 % der Fälle [10]. Johnson et al. [4] weise Steroide in Verbindung mit einem Lokalanästheti-
berichten von einem natürlichen Verlauf mit einer Ver- kum im Rahmen epiduraler, tiefer paravertebraler, perira-
schlechterung der Schmerzen in 15 %, einer Verbesserung dikulärer oder Facettengelenkinfiltrationen eingesetzt.
in ebenfalls 15 % und einer Schmerzkonstanz in 70 % der Epidurale Kathederbehandlungen sind aufgrund von
Fälle nach 49 Monaten. Komplikationsmöglichkeiten eher kritisch zu indizieren
Ziel jeder Behandlung ist die Schmerzreduktion und [10].
die Verlängerung der schmerzfreien Gehstrecke [10]. Nur Da die meisten Patienten unter chronischen, stagnie-
selten liegen absolute OP-Indikationen vor, wie z. B. bei renden oder langsam progredienten Beschwerden leiden,
einem Kaudasyndrom oder isolierten progredienten die sich durch konservative Maßnahmen nur unbe-
Paresen. Bei den meisten Patienten liegt eine relative OP- friedigend kontrollieren lassen, ist oft eine kausale Thera-
Indikation vor. Dies erschwert bei dem dazu noch vor- pie der pathoanatomischen Einengung des Spinalkanals
liegenden Mangel an evidenzbasisierten Therapieempfeh- erforderlich.
lungen und der Vielfalt verschiedener Therapiemöglich- > Insbesondere die Claudicatio spinalis lässt sich
keiten die Entscheidung für das weitere Prozedere. Vor konservativ kaum beeinflussen.
allem prospektiv randomisierte Studien, die verschiedene
Therapien vergleichen, sind noch zu selten [10]. Im Gegensatz zum Bandscheibenvorfall, der zu spontaner
Regredienz neigt, ist bei der Spinalkanalstenose eine chro-
Konservative Therapie nische, langsame Progredienz der ursächlichen degenera-
Die konservative Therapie ist aufgrund des häufig wellen- tiven Veränderungen zu erwarten [13]. Zeitfang et al. [17]
förmigen Verlaufs der Beschwerden in der Regel das in- überprüften 2003 in einer prospektiven Studie den Erfolg
itiale Behandlungskonzept. Es kommt eine Vielzahl an multimodaler Therapiemaßnahmen bei Patienten mit
Verfahren zum Einsatz. Idealerweise wird ein multimoda- über 6 Monaten andauernder Symptomatik einer Spinal-
les Therapiekonzept empfohlen, bestehend aus einer kanalstenose. Sie konnten mit der durchgeführten konser-
Kombination medikamentöser, krankengymnastischer, vativen Therapie eine kurzfristige Besserung der Gehstre-
physikalischer und psychologischer Strategien [13]. Als cke erzielen. Das mittel- und langfristige Ergebnis bleibt
weitere Verfahren stehen Ergotherapie, Verhaltensthe- jedoch unklar. Prädiktoren für einen Therapieerfolg (Alter,
rapie, Orthesen, Mieder, Haltungsschulung, Patientenin- Geschlecht, BMI, Funktionskapazität, Gehvermögen vor
formationen, Akupunktur und manuelle Medizin zur Ver- der Behandlung) konnten jedoch nicht gefunden werden.
fügung.
Ziel vieler krankengymnastischer Ansätze sind Flexi- > Aus der Literatur kann zu multimodalen Therapie-
on, Distraktion und neurale Mobilisation sowie die Entlas- maßnahmen bisher ebenfalls keine wissenschaftli-
tung der betroffenen Segmente; stabilisierende Übungen che Evidenz abgeleitet werden. Weitere prospektive
werden zur Steigerung der allgemeinen körperlichen Fit- Studien sind demnach erforderlich.
ness eingesetzt [10].
454 Kapitel 41 · Spinalkanalstenose

a b

c d

. Abb. 41.3a–d Laminektomietechniken: a Laminektomie, Ansicht von dorsal; b Laminektomie, Ansicht von axial; c Hemilaminektomie,
Ansicht von dorsal; d beidseitige Fensterung, Ansicht von dorsal. Gepunktet: zu resezierende knöcherne Strukturen. Stern (*): Lig. flavum. Pfeil
(ź): Spinalkanalstenose. Pfeil (o): abgehende Nervenwurzel [10]. (Aus Schulte at al. [10])

Operative Therapie sion führt in der Regel zu einer spontanen Besserung der
Die Indikation zur Operation wird dann gestellt, wenn kon- Beinschmerzkomponente, weniger der Kreuzschmerzkom-
servative Therapiemaßnahmen über mindestens 12 Wo- ponente [10].
chen nicht zu einer zufriedenstellenden Besserung der sub-
jektiven Beschwerden geführt haben [10, 13]. Des Weiteren
Verschiedene dekomprimierende Verfahren
dürfen keine Kontraindikationen (z. B. inakzeptables Nar-
5 Die Laminektomie ist der »Klassiker« der Dekom-
koserisiko, psychosoziale Auffälligkeiten) bestehen. Die
pression und stellt als sog. Dekompressionslamin-
beklagten Beschwerden müssen mit den Befunden der
ektomie die traditionelle Standardoperation dar. Es
Bildgebung, der Anamnese, der Klinik und ggf. den zusätz-
werden Dornfortsätze, Wirbelbögen, Ligamenta fla-
lichen Untersuchungsergebnissen (Ausschluss anderer
va und auch Anteile der Facettengelenke bei dieser
Ursachen wie z. B. PAVK) in nachvollziehbare Überein-
Entdachung des Spinalkanals abgetragen. Daraus
stimmung zu bringen sein [10, 13]. Bestehen auch nur ge- resultiert jedoch eine vollständige Resektion der
ringe Zweifel, ist von einer operativen Therapie abzusehen. dorsalen Zuggurtungsstrukturen, die im Vergleich
Toyone et al. [14] konnten zeigen, dass vor allem LSS-Pa- zu den anderen dekomprimierenden Verfahren (s.
tienten häufig unrealistische Erwartungen an eine Opera- unten) ein relevantes Risiko für das Auftreten einer
tion haben. Daher kommt der präoperativen Aufklärung Instabilität mit sich bringt (. Abb. 41.3a,b) [10].
besondere Bedeutung zu. Auch hier sollte man die Frage 5 Die Hemilaminektomie erlaubt die Erhaltung der
stellen: »Was ist es, was Sie ein Jahr nach der Operation dorsalen Zuggurtungsstrukturen (supra- und inter-
wieder machen möchten, was Sie derzeit nicht können?«
41 Wenn das Gewünschte unrealistisch ist – und man würde
spinöse Bänder) und der gesamten kontralateralen
Strukturen. Die Lamina mit dem angrenzendem
vor der Operation nicht darüber sprechen –, dann hat man Ligamentum flavum wird einseitig reseziert
von vornherein ein schlechtes Ergebnis zu erwarten! (. Abb. 41.3c) [10, 13].
5 Die weite Fensterung beinhaltet die Resektion des
jDekompression medialen Anteils der hypertrophen Facettenge-
Ziel der Dekompression ist es, Nervenwurzeln, Duralsack lenkfortsätze sowie des angrenzenden Ligamen-
und Gefäße ausreichend zu entlasten und gleichzeitig die tum flavum und von Anteilen der hypertrophen
Stabilität der Segmente nicht zu beeinträchtigen, um ihnen Gelenkkapsel (. Abb. 41.3d) [10, 13].
die Chance zur Erholung zu geben [10]. Die Dekompres-
41.1 · Lumbale Spinalkanalstenose (LSS)
455 41

Indikationen zur additiven Stabilisierung


Komplizierende Faktoren: Instabilität (Mobilität > 3 mm),
Spondylolisthese (> 5 mm), Skoliose (> 20°)

ja
hohes Alter?
nein
nein
Osteoporose? Skoliose?
ja nein

> Grad I
Olisthesegrad?
Höhe des Grad I
Bandscheibenfaches? ja
Höhe des hoch
niedrig hoch Bandscheibenfaches?

niedrig

Intrafacettäre Instrumentation mit Instrumentation mit Instrumentation mit


oder Facettenschrauben/ Pedikelschrauben + Pedikelschrauben +
posterolaterale zementaugmentierten posterolaterale interkorporeller
Knochenanlagerung Pedikelschrauben Knochenanlagerung Fusion (PLIF/TLIF)

. Abb. 41.4 Algorithmus zur additiven Stabilisierung. (Aus Thomè et al. [13] mit freundl. Genehmigung)

Mikroendoskopische Verfahren werden mittlerweile ein- logische Hypermobilität identifizieren können. Nach
gesetzt, Langzeitergebnisse liegen darüber allerdings noch Resnick et al. [8, 9] wird ebenfalls heftig diskutiert, ob eine
nicht vor [10, 13]. Stabilisierung ohne Instrumentation (nur durch Knochen-
Welches Verfahren und welche Instrumente angewen- anlagerung) oder mit Instrumentation (mit Pedikelschrau-
det werden (Fräsen oder Stanze) oder ob ein Mikroskop ben) durchgeführt werden soll bzw. inwieweit Fusionsme-
oder eine Lupenbrille eingesetzt wird, hängt jeweils indivi- thoden unter Verwendung verschiedener interkorporeller
duell vom Operateur ab. Bislang gibt es daüber keine Platzhalter (Cages) eingesetzt werden. Da die Evidenzlage
randomisierten Studien, die die Überlegenheit einer be- bezüglich der Art der additiven Stabilisierung nicht sehr
stimmten Vorgehensweise klar belegen [10]. hoch ist, haben einige Autoren zur Orientierung einen eige-
Die Dekompression kann mit verschiedenen weiteren nen Behandlungsalgorithmus erstellt [8, 9, 13] (. Abb. 41.4).
Operationsmethoden kombiniert werden. Bei der Indikationsstellung zur Fusion wird heute in
Unter der Annahme, dass die Entwicklung einer LSS der Regel eine instrumentierte Fusion angestrebt. Ausnah-
Ausdruck einer segmentalen Instabilität ist, wird nicht men bilden schwerkranke multimorbide Patienten, bei
selten zusätzlich zur Dekompression eine Segmentstabili- denen die angestrebte Minimierung der Operationszeit
sierung befürwortet [13]. Die Stenosen und Hypertro- eine Instrumentation verbietet [10].
phien sind biomechanisch als Reaktion auf eine segmen- Es stehen verschiedene Typen der instrumentierten
tale Hypermobilität zu sehen. Die im Rahmen einer De- Fusion zur Verfügung:
kompression durchgeführte Resektion dieser ligamentären 4 ALIF (anteriore lumbale interkorporelle Fusion)
und ossären Strukturen kann potenziell eine zunehmende (. Abb. 41.1j,k),
Instabilität bedingen [13]. 4 PLIF (posteriore lumbale interkorporelle Fusion),
In den aktuellen Empfehlungen wird jedoch nach 4 TLIF (transforaminale interkorporelle Fusion),
Resnick et al. [8, 9], basierend auf einer detaillierten Lite- 4 posteriore instrumentierte Fusion mittels Pedikel-
raturanalyse, eine prinzipielle Stabilisierung abgelehnt. schrauben (. Abb. 41.1j,k).
Einige Autoren empfehlen eine zusätzliche Stabilisie-
rung, wenn bei Patienten Faktoren vorliegen, die eine Beein- > Unserer Erfahrung nach sollte eine interkorporelle
trächtigung der Stabilität des zu komprimierenden Seg- Fusion immer mit einer dorsalen instrumentierten
ments nahelegen (z. B. Vorliegen von Spondylolisthesen Spondylodese kombiniert werden, da durch eine
oder Skoliosen) [8, 9]. Hier ist besonderes Augenmerk auf interkorporelle Fusion als sog. Stand-alone-Methode
die Röntgenfunktionsaufnahmen zu richten, die eine patho- keine ausreichende Stabilität erreicht wird.
456 Kapitel 41 · Spinalkanalstenose

Bei allen Techniken wird eine indirekte Spinalkanaldek- tionen ist die Komplikationsrate größer als bei alleiniger
ompression durch Distraktion – unter Wahrung des sagit- Dekompression. Eine typische Komplikation ist die Dura-
talen Profils – mit Erweiterung sowohl der Intervertebral- verletzung, die in der Literatur mit bis zu 20 % angegeben
foramina als auch des zentralen Spinalkanals beschrieben. wird. Weitere Komplikationen sind epidurale Hämatome
Vorteile der Instrumentation sind die Erlangung einer (ca. 3,8 %), ungenügende Dekompression mit Verbleib
Primärstabilität, die eine rasche Mobilisation des Patienten einer Reststenose, Instabilität, Neubildung von Knochen
ermöglicht, die Korrekturmöglichkeiten einer möglicher- im dekomprimierten Bereich mit der Folge einer erneuten
weise vorliegenden Wirbelsäulendeformität sowie die ho- Nervenkompression [10]. Die Reoperationsraten werden
hen Fusionsraten im Vergleich zur nicht instrumentierten in der Literatur 1, 2, 5 und 10 Jahre nach Dekompression
Fusion [15, 16]. mit 2, 5, 8 und 11 % angegeben [10]. Atlas et al. [1, 2] fan-
Bei Vorliegen einer geringgradig vorbestehenden In- den eine Reoperationsrate von 23 % nach 10 Jahren. Eine
stabilität im stenotischen Segment sind sog. dynamische zusätzliche Fusion erniedrigt das Risiko einer Reoperation
Stabilisierungstechniken (Non-fusion-Systeme) entwickelt [10].
worden [5].
Eine weitere Form der OP, jedoch ohne Dekompres- Fazit
sion, stellt die Implantation eines interspinösen Implantats In der Literatur gibt es bisher mehrere Metaanalysen, die
dar. Hier existieren verschiedene Modelle. Häufig werden versucht haben, den Erfolg der konservativen Therapie mit
X-Stop (Fa. Ormed), Wallis (Fa. Abbott Spine), interspinö- derjenigen der operativen Therapie zu vergleichen. Die
ses U (später Co-Flex, Fa. Arca-Medica) und DIAM (Fa. Aussagekraft aller bisherigen Metaanalysen leidet jedoch
Medtronic Sofamor Danek) verwendet. Diese Implantate unter einem relativ schlechtem Design der gerade noch
sollen die lumbale Extension bei Erhaltung der freien Fle- auswertbaren Studien, sodass bisher kein evidenzbasiser-
xion limitieren. So sollen die Reduktion des intradiskalen tes Behandlungskonzept empfohlen werden kann [10].
Drucks, vor allem im posterioren Anteil, sowie die Entlas- In ihrer Maine-Lumbar-Spine-Study von 2005 ver-
tung der Facettengelenke, Straffung der Ligamenta flava öffentlichten Atlas et al. [1, 2] 8- bis 10-Jahres-Ergebnisse.
und letztendlich eine Erweiterung der Neuroforamina und Die 1- bzw. 4-Jahres-Ergebnisse zeigten Vorteile der
des Spinalkanals erfolgen [11, 12]. Teilweise werden die operativen Therapie gegenüber der konservativen. Nach
Implantate auch additiv nach erfolgter Dekompression 8–10 Jahren unterscheiden sich jedoch beide Gruppen
zur Stabilisierung des Segments eingesetzt. Reinhardt u. nicht mehr bezüglich Kreuzschmerzen und Zufriedenheit,
Hufnagel [7] untersuchten 2010 Langzeitergebnisse des wobei initial operierte Patienten eine deutliche Reduktion
interspinösen Distraktionssystems X-Stop, welches der am der Beinschmerzkomponente und bessere Funktions-
häufigsten implantierte interspinöse Spreizer ist. Sie wie- scores zeigten. Von den initial konservativ behandelten
sen darauf hin, dass generell keine Literaturangaben zu Patienten wurden 37 % im Verlauf operiert. Nach 8–10
Langzeitverläufen nach Implantation interspinöser Spacer Jahren gab ca. die Hälfte aller Patienten eine Besserung der
(Spreizer bzw. Platzhalter) vorliegen. Selbst mittelfristige Kreuzschmerzen im Vergleich zu ihrer Ausgangssituation
Ergebnisse sind nur in beschränktem Umfang vorhanden. an, unabhängig von der initialen Therapieweise. Eine Bes-
Entscheidend für die Erzielung eines guten Ergebnisses ist serung der Beinschmerzkomponente zeigte sich bei 67 %
die strenge Indikationsstellung; bei einer Spondylolisthese der operierten und bei 41 % der konservativ behandelten
ist die Implantation eines X-Stops nicht geeignet. Derzeit Patienten.
scheint das X-Stop-Implantat eine gute Alternative zur Bezüglich der konservativen Therapie wird ein multi-
operativen Dekompression bei moderater Spinalkanalste- disziplinärer Therapieansatz empfohlen. Es besteht Einig-
nose zu sein bzw. für solche Patienten, die keine größeren keit darüber, dass Bettruhe bei chronischen und auch bei
Operationen verkraften oder wünschen. Zuchermann et akuten Schmerzen nicht im Vordergrund der Therapie
al. [18] zeigten 2005 in einer prospektiven Studie, dass stehen sollte [10]. Die Evidenz therapeutischer Infiltra-
Patienten mit moderater Symptomatik 2 Jahre nach Spa- tionen bei LSS ist ebenfalls nicht sicher belegt [10]. Trotz-
41 cerimplantation über eine Beschwerdebesserung um 45 % dem werden die verschiedenen Infiltrationstechniken
berichteten gegenüber 7 % Beschwerdebesserung nach häufig mit gutem klinischem Kurzzeiterfolg bei geringen
konservativer Therapie. Siddiqui [11, 12] konnte 2007 die- Nebenwirkungen eingesetzt.
ses primär ermutigende Ergebnis jedoch nicht bestätigen. Van Tulder et al. [15, 16] konnten 2006 in einer Meta-
analyse keine Evidenz für die Effektivität operativer
jKomplikationen Behandlungen nachweisen. Lediglich bei schwergradiger
Nach Schulte et al. [10] liegen die Komplikationsraten LSS mit neurologischen Defiziten oder bei schwergradiger
während bzw. nach operativer Therapie einer lumbalen neurogener Claudicatio ist eine operative Therapie zu
Spinalkanalstenose bei bis zu 40 %. Bei Fusionsopera- empfehlen, was ausschließlich auf der Basis klinischer Er-
41.2 · Zervikale Spinalkanalstenose (ZSS)
457 41
fahrungen basiert. Es wurden in mehreren Studien unter- Kyphose fand sich eine gute Evidenz für eine instrumen-
schiedliche Operationsverfahren (Dekompression mit und tierte Fusion [8, 9].
ohne Fusion, ALIF plus Pedikelschrauben plus posterola- > Bei einer LSS mit relevanter und konservativ
terale Fusion vs. ALIF und Pedikelschrauben ohne zusätz- therapieresistenter Symptomatik ist eine operative
liche posterolaterale Fusion) miteinander verglichen. In Therapie sinnvoll und indiziert, auch wenn wenig
anderen Studien wurde generell die operative Therapie mit evidenzbasierte Kenntnisse zu den Behandlungs-
unterschiedlichen konservativen, vor allem physiothera- optionen vorliegen. Die vielfältige chirurgische
peutischen Maßnahmen verglichen (wobei die eingesetz- Technik erlaubt es, auf die individuelle Situation
ten Techniken der Physiotherapie variierten). Van Tulder des einzelnen Patienten einzugehen. Langzeit-
et al. [15, 16] bemängeln in allen Studien eine große Hete- ergebnisse liegen jedoch noch nicht vor.
rogenität hinsichtlich Patienteneinschlusses und Therapie-
option. Es seien weitere Studien nötig, die unterschiedliche
operative Methoden mit Placebos, konservativer Therapie Schlussfolgerungen [10]
sowie dem natürlichen Verlauf der jeweiligen Erkrankung 4 Entscheidend ist die Anamnese, weniger der radiolo-
vergleichen [15, 16]. Bezüglich der »operativen Therapie« gische Grad der LSS.
(alleinige Dekompression, Fusion und Dekompression, 4 Leichte bis mittelschwere Beschwerden sollten
posterolaterale Fusion bzw. dorsale Fusion und ALIF im konservativ behandelt werden, hierzu sind epidurale
Sinne 360°-Spondylodese) werden in der Literatur Erfolgs- Infiltrationen, entlordosierende Maßnahmen und
raten von 40–90 % beschrieben [15, 16]), die jedoch von medikamentöse Therapie als sinnvoll zu bewerten.
verschiedensten Faktoren abhängig sind [10]. Diese Fakto- 4 Nach 3-monatigem konservativem Therapieversuch
ren sind z. B. die Art der Dekompression, das Alter des ist bei schwerer symptomatischer LSS eine Operation
Patienten, präoperative Dauer der Claudicatio, Komorbi- indiziert.
ditäten, Fusion/Instrumentation. Es findet sich jedoch 4 Evidenzbasiert kann keine konservative oder operati-
keine Evidenz für eine spezielle Art der Dekompression ve Therapiemaßnahme besonders empfohlen werden.
[10]. Bezüglich des Alters der Patienten gilt: Je älter der 4 Generelles Ziel einer Operation ist die ausreichende
Patient, desto kritischer sollte die Indikation zur opera- Dekompression und die Erhaltung bzw. die Wieder-
tiven Therapie geprüft werden, da mit steigendem Alter herstellung der Segmentstabilität.
auch die Anzahl der Komorbiditäten zunimmt. Entschei-
dend sind jedoch der Allgemeinzustand des Patienten so-
wie sein Aktivitätsgrad. Das Alter des Patienten hat initial 41.2 Zervikale Spinalkanalstenose (ZSS)
keinen Einfluss auf das klinische Ergebnis nach Dekom-
pression, sodass auch bei über 80-Jährigen gute Ergebnisse Neben der LSS ist auch die zervikale Spinalkanalstenose
erzielt werden können [10]. (ZSS) ein zunehmendes Krankheitsbild in unserer Ge-
Generell ist davon auszugehen, dass die Aussichten auf sellschaft [6]. Bei 26 % eines asymptomatischen älteren
eine klinische Besserung nach Dekompression umso Patientenkollektivs wurden MR-tomografisch zervikale
besser sind, je kürzer die Dauer der Beschwerden ist. Es Affektionen des Rückenmarks gefunden [6]. In Jahre 2000
gibt jedoch keine Evidenz dafür, dass ein konservativer lag in den USA die Operationshäufigkeit an der HWS bei
Therapieversuch unterbleiben sollte, nur um Zeit zu sparen 55 pro 100.000 Einwohner [6].
[10]. Normalerweise bietet der zervikale Spinalkanal aus-
Ebenfalls ist in der Literatur beschrieben, dass die Aus- reichend Platz für alle neuralen Elemente. Der Sagittal-
sichten auf eine klinische Besserung nach Dekompression durchmesser des Spinalkanals variiert interindividuell so-
umso besser seien, je weniger Komorbiditäten vorhanden wie auch höhenabhängig [6]. Per Definition liegt eine ZSS
sind. Vor allem kardiovaskuläre oder muskuloskelettale bei jedweder Form einer generalisierten Einengung der
Erkrankungen reduzieren die Aussicht auf gute Ergebnisse. »lichten Weite« [3] des zervikalen Wirbelkanals (<13 mm)
Komorbiditäten sollten im Gesamttherapiekonzept der vor. Kongenitale Stenosen sind selten, meist handelt es
LSS eine wesentliche Rolle spielen [10]. sich, analog zur LSS, um sekundäre Stenosen infolge aus-
Resnick et al. [8, 9] fanden in ihrer Metaanalyse eine geprägter knöcherner Veränderungen, die durch einen
gute Evidenz für die Wirksamkeit einer Fusion, die bei Pa- degenerativen Bandscheibenschaden verursacht wurden
tienten mit vorbestehender Spondylolisthese und LSS zu- [3]. Zusätzlich können spondylarthrotische Veränderun-
sätzlich zur Dekompression eingesetzt wird (. Abb. 41.1j,k). gen mit resultierender Bedrängung der Nervenwurzel im
Jedoch gibt es nur eine mäßige Evidenz, die dafür spricht, Foramen intervertebrale sowie hypertrophierte Ligamenta
diese Fusion zusätzlich z. B. mittels Pedikelschrauben zu flava bestehen [3]. Hauptlokalisationen sind die Etagen
instrumentieren. Bei vorbestehender Instabilität oder C5/C6 und C6/C7 [3]. Zusätzlich zur Stenose liegt häufig
458 Kapitel 41 · Spinalkanalstenose

. Tab. 41.2 Nurick-Klassifikation des klinischen Schwere- . Tab. 41.3 Therapiemöglichkeiten der zervikalen
grads einer zervikalen Myelopathie [3] Myelopathie [6]

Schweregrad Klinisches Bild Konservativ Operativ

0 Unauffällig ∙ Immobilisation mit HWS- Ventrale Verfahren:


Krawatte – Interkorporale Spondylodese
1 Keine wesentlichen Beschwerden, geringe
∙ Medikamentös (NSAR, – Korporektomie u. Platteno-
spinale Symptomatik, keine Gangstörung
Muskelrelaxanzien) steosynthese
2 Leichte Gangstörung ∙ Intermittierende Bettruhe – Mobilitätserhaltende Ver-
∙ Traktionsbehandlung fahren (Bandscheibenprothese)
3 Deutliche Gangstörung, keine fremde Hilfe ∙ Vermeidung von Aktivitäten,
erforderlich Dorsale Verfahren:
die die HWS belasten
– Laminektomie
4 Gehfähig nur mit fremder Hilfe oder am ∙ Zervikothorakalstabilisieren-
– Laminektomie mit Fusion
Gehwagen de Maßnahmen:
– Laminoplastie
– Stärkung der Nacken-
5 Rollstuhlbedürftig bzw. bettlägerig muskulatur Kombinierte Verfahren:
– Stärkung der Muskulatur – Kombination einer ventralen
des oberen Quadranten Fusion mit einer Laminoplastie
– Stärkung der Scapula oder auch Laminektomie ohne
auch eine Instabilität vor [6], sodass diese spondylolythi- bzw. mit dorsaler Stabilisation
sche Einengung des Spinalkanals mit Spannungs- und
Scherkräften auf das Rückenmark wirkt [6].

41.2.2 Therapie
41.2.1 Klinische Symptomatik
Die Entscheidung bezüglich konservativer oder operativer
Die klinische Symptomatik ist anfangs eher unspezifisch Therapie ist individuell zu treffen. Evidenzbasierte Studien
und variabel [3, 6]. Nackenschmerzen können auftreten, über Vor- bzw. Nachteile einer Therapieform fehlen [6].
müssen aber nicht. Typisch sind pseudoradikuläre und Verschiedene Therapiemöglichkeiten sind in . Tab. 41.3
auch radikuläre Störungen, die jedoch sehr unscharf seg- aufgeführt [6].
mental begrenzt sind und überwiegend die obere Extremi- Jüngere Studien zeigen nach Meyer et al. [6], dass ver-
tät betreffen, ohne eigentliche Ausfälle (sensibel bzw. schiede operative Verfahren dazu geeignet sind, die Pro-
motorisch) [3]. Die Beschwerden können durch Kopf- gression einer Myelopathie zu verhindern und bei einem
bewegungen (Rotation, Seitneigung, Reklination) oder Großteil der Patienten zu einer Besserung der neurologi-
Stauchung der HWS provoziert werden. Oft liegen ge- schen Defizite führen. Mit einer teilweisen Rückbildung
steigerte Muskeleigenreflexe (BSR, TSR, PSR) vor. Im der Beschwerden kann bei bis zu 90 % der Patienten ge-
Spätstadium können Atrophien der kleinen Handmusku- rechnet werden [6]. Operativ sind die besten Resultate zu
latur vorliegen, die zu Ungeschicklichkeit (z. B. beim Zu- erwarten, wenn innerhalb von 6 bis 12 Monaten nach dem
knöpfen des Hemdes) führen können [3]. Auftreten von milden Symptomen operiert wird und die
transversale Fläche des Spinalkanals >40 mm² beträgt [6].
Zervikale Myelopathie Schlechte Resultate treten bei Patienten mit weit fortge-
Bei einem kleinen Teil der vor allem älteren Patienten kann schrittenen Myelopathien auf [6].
als Spätfolge eine zervikale Myelopathie mit neurologi- Ziele einer Operation sind – ebenfalls analog zur LSS
scher Dekompensation resultieren [3]. Eine Übersicht – die Dekompression der nervalen Strukturen und die
über den Schweregrad gibt . Tab. 41.2 [3]. Ein kongenital Neutralisation einer eventuell vorliegenden Instabilität [6].
vorliegender enger Spinalkanal begünstigt das Auftreten Auf die einzelnen Operationsverfahren wird hier nicht
41 der zervikalen Myelopathie. Es können diffuse Parästhesi- eingegangen. Lediglich gilt zu erwähnen, dass nach der
en der oberen, teilweise auch der unteren Extremität bis Durchführung einer Laminoplastie (Bögen werden nicht
hin zu Pyramidenbahnzeichen auftreten. Pathognomo- reseziert, sondern gespalten und auseinandergedrängt)
nisch ist eine nur sehr langsame Progredienz der Parapa- eine erhöhte Rate von anschließenden Nackenschmerzen
rese der Beine mit breitbeinigem, unsicherem Gang (Spas- durch die Patienten beschrieben wird [6].
tik, Ataxie) [3]. Die Muskeleigenreflexe sind in der Höhe
der Läsion erloschen, darunter sind sie gesteigert.
Die radiologische Diagnostik entspricht der Diagnostik
bei der LSS (7 Abschn. 41.1.4, »Radiologische Diagnostik«).
Literatur
459 41
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461 42

Spondylitis und Spondylodiszitis


S. Richter, R.H. Richter, R. Forst

42.1 Definition – 462

42.2 Klassifikation und Pathogenese – 462

42.3 Epidemiologie – 463

42.4 Differenzialdiagnosen – 463

42.5 Diagnostik – 463


42.5.1 Klinische Diagnostik – 463
42.5.2 Labordiagnostik – 464
42.5.3 Bildgebende Diagnostik – 464

42.6 Therapie – 465


42.6.1 Konservative Therapie – 466
42.6.2 Operative Therapie – 467
42.6.3 Behandlungskonzept der orthopädischen Uniklinik Erlangen – 468
42.6.4 Prognose – 468

Literatur – 468

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_42, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
462 Kapitel 42 · Spondylitis und Spondylodiszitis

Hauptmanifestationsorte der Spondylitis/Spondylodiszitis 4 Staphylokokken 39 %


sind die thorakolumbale und die lumbale Wirbelsäule. Bei 5 Staphylococcus aureus 36 %,
der unspezifischen Form stehen Staphylokokken, gramne- 5 Staphylococcus epidermidis 3 %
gative Bakterien und Streptokokken im Vordergrund, bei der 4 Gramnegative Bakterien 39 %
spezifischen Form die Tuberkelbakterien. Der Altersgipfel 5 Escherichia coli 23 %
liegt im 5.–7. Lebensjahrzehnt. Als wichtigste Differenzial- 5 Pseudomonas aeruginosa 5 %
diagnose ist die erosive Osteochondrose zu nennen. 5 Proteus mirabilis 3 %
Klinische Symptome sind sehr unspezifisch und reichen von 5 Eikenella corrodens 3%
diskreten Rückenschmerzen bis zur völligen Immobilität. 4 Streptokokken 19 %
Der wichtigste Laborparameter ist das CRP. Die Diagnose- 5 Streptococcus sanguis 8 %
stellung ist oft schwierig und verzögert. Die MRT ist das 5 Streptococcus agalactiae 5 %.
radiologische Mittel der Wahl. Eine CT-gesteuerte Punktion
sollte nach Möglichkeit zur Keimgewinnung und gezielten Bei Immungeschwächten findet sich neben diesem Er-
antibiotischen Therapie durchgeführt werden. Konsequente regerspektrum auch ein mykotischer Befall (z. B. durch
Ruhigstellung des befallenen Gebiets ist neben einer test- Candida oder Aspergillen) sowie durch Parasiten (Band-
gerechten Antibiose Grundvoraussetzung einer erfolg- wurm).
reichen Therapie. Je nach Ausmaß der Destruktion des Die spezifische Spondylodiszitis wird meist von einer
Wirbelsäulenabschnitts sind verschiedene operative Ver- Infektion durch Tuberkelbakterien (Mycobacterium
fahren einzusetzen. tuberculosis) hervorgerufen. In seltenen Fällen spielen
auch Salmonella typhosa, Treponema pallidum, Mycobac-
terium leprae oder Brucellen eine Rolle.
42.1 Definition Die Hälfte aller Knochentuberkulosen betrifft die
Wirbelsäule. In der Regel geht diese Infektion von den
Spondylitis Spondylitis ist eine Osteomyelitis der Wirbel- bandscheibennahen Randleisten aus und verursacht eine
körper, ausgelöst von bakteriellem Knochenbefall mit Spondylodiszitis [2]. Im Gegensatz zu unspezifischen
Destruktion von Wirbelkörpergrund- und -bodenplatte Infektionen handelt es sich bei der spezifischen Spondylo-
und sekundärem Kollaps des Wirbels selbst. Im Lauf der diszitis um eine eher langsam fortschreitende chronische
weiteren Infektionsausbreitung wird zuerst der angrenzen- Erkrankung mit teilweise mehrsegmentalem Befall. Nicht-
de Bandscheibenraum erfasst. tuberkulöse spezifische Verlaufsformen sind ebenfalls bei
immungeschwächten Patienten zu finden, insgesamt aber
Spondylodiszitis Bei der Spondylodiszitis handelt es sich sehr selten.
um eine primäre Infektion des Bandscheibenraums mit
sekundärem Befall des Wirbelkörpers.
Zwei Infektionswege der unspezifischen
> Cave: Im klinischen Alltag werden die Begriffe Spondylodiszitis
Spondylitis und Spondylodiszitis oft nicht konse- 5 Exogene Infektion: Sie wird z. B. durch offene Ver-
quent unterschieden, sondern synonym verwandt, letzungen oder iatrogen durch operative Eingriffe,
da zum Zeitpunkt der Diagnosestellung meist ein Punktionen und Infiltrationen verursacht.
Mischbild vorliegt. 5 Endogene Infektion: Sie entsteht in der Hälfte der
Fälle durch eine Keimstreuung fern vom betroffe-
Hauptmanifestationsorte der Spondylodiszitis sind die
nen Wirbelsäulenabschnitt, z. B. bei Infektionen
lumbale (LWK 2 bis SWK 1) und die thorakolumbale
des Bauchraums, der Harnwege oder des Pleura-
(BWK 10 bis LWK 2) Wirbelsäule mit ca. 60 % [3, 13] bzw.
raums. Es kommt meist zur hämatogenen Aussaat,
71 % [6, 13]. Zervikale (HWK 1 bis BWK 1) Spondylodis-
aber auch die lymphogene und die Ausbreitung
zitiden sind selten [13], in einer Untersuchung von Ewald
per continuitatem sind möglich. Bei der hämato-
et al. [3] ca. 18 %. Thorakale Spondylodiszitiden (BWK
genen Infektion kommt es meist arteriell, aber
1–10) sind in 20–30 % der Fälle beschrieben [3, 13].
42 auch venös über die subchondrale Vaskularisie-
rung im Bereich der Endplatten zur Keimstreuung
im Wirbelkörper mit sekundärem Befall der Band-
42.2 Klassifikation und Pathogenese
scheibe.

Es werden spezifische und unspezifische Spondylodisziti-


den unterschieden. Häufigste Erreger der unspezifischen Nach Verletzungen oder Operationen kommt es zur
Spondylodiszitis sind nach Nolla et al. [12, 16]: Revaskularisierung der eigentlich im Erwachsenenalter
42.5 · Diagnostik
463 42
über Diffusion ernährten Bandscheibe. Es ist dann eine
direkte Infektion der Bandscheibe möglich (sonst ist dies
nur im Kindesalter der Fall). Bei unspezifisch-bakterieller
Genese sind bevorzugt die lumbalen Abschnitte betroffen
[2, 14].
Im weiteren Verlauf der Infektion kommt es zur De-
struktion des Wirbelkörpers und zu einer raumfordernden
Weichteilinfektion bzw. zur Ausbildung von Abszessen.
Hier ist typischerweise ausschließlich der ventrale Wirbel-
säulenabschnitt mit der Folge einer kyphotischen Defor-
mität betroffen. Aufgrund der Destabilisierung oder auch
wegen eines Einbruchs des Abszesses in den Wirbelkanal
kann es zu neurologischen Ausfallerscheinungen bis hin
zur Querschnittslähmung kommen.

42.3 Epidemiologie

Die Inzidenz der unspezifischen Spondylodiszitiden wird


mit 1:250.000 angegeben. Der Anteil der Spondylodiszitis
an der Gesamtheit der Osteomyelitiden liegt bei 3–5 %
. Abb. 42.1 Erosive Osteochondrose. Man sieht eine Verschmäle-
(Verhältnis männlich zu weiblich ca. 3:1) [14]. Prinzipiell
rung des Bandscheibenfachs LWK3/4, die unscharfe Zeichnung der
sind alle Altersgruppen betroffen, der Häufigkeitsgipfel Wirbelkörperabschlussplatten, Konturdefekte der Boden- und Deck-
liegt zwischen dem 5. und 7. Lebensjahrzehnt [14]. Jünge- platte sowie die beginnende Wirbelkörperdestruktion und Sinte-
re Patienten sind meist immunsupprimiert. Die Mortili- rung. Alle radiologischen Kriterien einer Spondylodiszitis sind erfüllt,
tätsrate ist <5 %. es handelt sich hier jedoch um eine erosive Osteochondrose, eine
der wichtigsten Differenzialdiagnosen der Spondylodiszitis
Prädispositionsfaktoren sind Alter, Multimorbidität,
Adipositas, Diabetes mellitus, Herz-Kreislauf-Erkrankun-
gen, Niereninsuffizienz, rheumatische Erkrankungen,
chronische Steroideinnahme, Tumorleiden, Einnahme von belastungsabhängige Rückenschmerzen angegeben. Sym-
Immunsuppresiva, Drogenabusus und HIV. ptome wie Abgeschlagenheit, Appetitlosigkeit, Gewichts-
verlust, Nachtschweiß und Fieber können, müssen jedoch
nicht vorhanden sein. Häufig geht eine grippeähnliche
42.4 Differenzialdiagnosen Symptomatik voraus. Je nach Ort und Zeit der Diagnose-
stellung sowie Ausrichtung der Klinik ist der Internist, der
Hier ist in erster Linie die erosive Osteochondrose zu Urologe, der Orthopäde, der Neurochirurg oder der
nennen, bei der es ebenfalls zu einer Destruktion der Unfallchirurg die erste Anlaufstelle. Im fortgeschrittenen
angrenzenden Grund- und Deckplatten sowie der dazwi- Stadium kann es zu neurologischen Ausfällen bis hin zur
schen liegenden Bandscheibe kommen kann (. Abb. 42.1). Paraplegie kommen. Die klinische Untersuchung sollte ihr
Weitere Differenzialdiagnosen sind Frakturen, tumor- Hauptaugenmerk auf einen ausführlichen neurologischen
bedingte Destruktionen, rheumatoide Arthritis, Spondy- Status richten. Es besteht typischerweise ein Fersenfall-,
larthritis ankylosans sowie Morbus Scheuermann. Stauchungs- oder Klopfschmerz mit nur geringem lokalen
Druckschmerz in den betroffenen Wirbelsäulenabschnit-
ten. Oft wird eine reklinierende Wirbelsäulenschonhaltung
42.5 Diagnostik eingenommen, um die meist ventralen betroffenen Wir-
belsäulenabschnitte zu entlasten [16]. Insbesondere die
42.5.1 Klinische Diagnostik Inklination und die Wiederaufrichtung werden als
schmerzhaft empfunden [16].
Die klinische Symptomatik ist uncharakteristisch und un- In der Diagnostik hat sich der Algorithmus der North
spezifisch. Wegen der unspezifischen Klinik erfolgt die American Spine Society durchgesetzt [13]:
Diagnosestellung erst Wochen bis Monate nach Einsetzen
der Symptome [13]. Es werden leichte bis immobilisieren-
de Rückenschmerzen sowie belastungsunabhängige und
464 Kapitel 42 · Spondylitis und Spondylodiszitis

tiv.  Radiologische Zeichen werden beschrieben als


Algorithmus der North American Spine Society (. Abb. 42.2a,b):
1. Die laborchemische Diagnostik schließt Leuko- 4 Höhenminderung des Zwischenwirbelraums,
zytenzahl, Differenzialblutbild, BSG und CRP ein. 4 unscharfe Zeichnung der Wirbelkörperabschluss-
2. Bei erhöhten Infektparametern sollten Blut- platte,
kulturen abgenommen werden. 4 Konturdefekte der Boden- und Deckplatten,
3. Bei negativen Blutkulturen sollte eine CT-gesteuer- 4 Wirbelkörperdestruktionen mit Sinterung.
te Probeentnahme erwogen werden. > Cave: Konventionelles Röntgen ist in der Frühphase
4. Bei Keimnachweis sollte eine resistenzgerechte, der Spondylodiszitis nicht aussagekräftig, weil
bei fehlendem Keimnachweis eine Breitspektru- Skelettveränderungen meist fehlen.
mantibiose für 12 Wochen erfolgen, zusätzlich
Immobilisation im starren Mieder.
5. Sollte nach 6 Wochen Antibiose eine Infekt- Magnetresonanztomografie
persistenz bestehen, sollte ein chirurgisches Die Magnetresonanztomografie (MRT) ist bei Verdacht
Débridement erwogen werden. auf eine Spondylodiszitis das bildgebende Verfahren der
6. Bei paraspinaler Abszedierung besteht eine Wahl und hat sich im Laufe der Jahre als Goldstandard
dringende OP-Indikation. etabliert. Durch die Darstellung der Wirbelsäule über ihre
gesamte Länge werden auch Infektionen anderer Wirbel-
säulenabschnitte miterfasst. Es gelingt eine gute Dar-
In der Anamnese sollte vor allem nach bakteriellen In- stellung einer möglichen Ausweitung des Entzündungs-
fektionen in letzter Zeit bzw. nach Operationen oder Injek- geschehens auf den paravertebralen oder spinalen Raum.
tionen im Wirbelsäulenbereich gefragt werden. Auch sog. Damit kann man neben der knöchernen Destruktion
Bagatellverletzungen wie z. B. eine Analfissur, ein grippa- auch den Weichteilbefall genau erkennen (. Abb. 42.2c;
ler Infekt oder ein eitriger Zahn können zu einer Spondy- . Abb. 42.3a,b). Die Spezifität der Magnetresonanztomo-
lodiszitis führen. grafie wird mit 83 %, die Sensitivität mit 92 % angegeben
[2]. Mit der MRT-Untersuchung sind bereits in frühen
Entzündungsstadien, wenn andere Methoden noch »ver-
42.5.2 Labordiagnostik sagen«, spezifische Ergebnisse zu erhalten.

Als laborchemische Parameter sind Leukozyten, C-reakti- Skelettszintigrafie


ves Protein (CRP) und die Blutsenkungsgeschwindigkeit Die Skelettszintigrafie galt in früheren Jahren als unver-
(BSG) zu bestimmen. Die Erhöhung der Leukozytenzahl zichtbar. Nachteil der Szintigrafie ist, dass nicht zwischen
ist nicht obligat, meist ist eine ungezielt antibiotische Vor- Infektionen, aktivierten Osteochondrosen oder Tumoren
behandlung bereits vorausgegangen. Typischerweise ist unterschieden werden kann. Diesbezüglich ist sie heute
das CRP deutlich erhöht [3]. Die BSG ist ebenfalls nur im kein Diagnostikum der ersten Wahl mehr.
Akutstadium erhöht, während sie bei einem chronischen
Verlauf bereits wieder normwertig sein kann. Computertomografie
Die Computertomografie (CT) ist der Magnetresonanzto-
Tipp mografie bezüglich Sensitivität und Spezifität unterlegen.
Zwar werden die knöchernen Destruktionen sehr viel de-
Wichtigster laborchemischer Parameter für die
taillierter computertomografisch dargestellt (. Abb. 42.2d,e;
Spondylodiszitis ist der CRP-Wert.
. Abb. 42.4a,b), jedoch ist die Weichteildarstellung der
Magnetresonanztomografie deutlich unterlegen. Dies-
Der CRP-Wert hat eine Sensitivität von 60–100 % und eine bezüglich ist die Computertomografie dann indiziert, wenn
Spezifität von 60–95,8 % [13]. Positive Blutkulturen finden eine Magnetresonanztomografie nicht möglich ist (z. B. bei
sich nur in ca. einem Viertel aller Fälle [2, 13]. Vorhandensein eines Herzschrittmachers).
42
CT-gesteuerte Punktion
42.5.3 Bildgebende Diagnostik Zur Sicherung des Erregers sollte auf eine CT-gesteuerte
Punktion nicht verzichtet werden. Es ist empfehlenswert,
Konventionelle Röntgendiagnostik eine bereits begonnene Antibiotikatherapie 3–5 Tage vor-
Die konventionelle Rötgendiagnostik ist ca. 3–8 Wochen her abzusetzen. Der Erregernachweis gelingt in ca. zwei
nach Auftreten der ersten klinischen Symptome posi- Drittel aller Fälle [2, 5].
42.6 · Therapie
465 42

a b c d

e f g

. Abb. 42.2a–g 66-jährige Patientin mit Spondylodiszitis an BWK12. a, b Röntgenbilder zeigen eine Destruktion der Bandscheibenräume
bei BWK11/12 und BWK12/LWK1 sowie eine Destruktion des 12. Brustwirbels (Pfeil). c Im MRT ist in T2-Wichtung ein Ödem im 12. Brust-
wirbelkörper (Pfeil) und im Bandscheibenraum von BWK12/LWK1 zu erkennen sowie ein paravertebraler Abszess. d, e Die Destruktion der
Wirbelkörper (Pfeil) wird im CT noch deutlicher dargestellt. f, g Operative Therapie mittels primärer dorsaler Stabilisierung von BWK9 und
10 auf LWK1 und 2 unter Aussparung der hauptsächlich betroffenen BWK11 und 12. Sekundär erfolgte eine ventrale Stabilisierung mittels
Korporektomie von BWK11 und 12, Einbringen eines Cages und die zusätzliche Stabilisierung mittels ventraler Platte

42.6 Therapie Ausmaß der Erkrankung, das Débridement des infizierten


Gewebes, ggf. inklusive der Bandscheiben und/oder
Aufgrund des sehr inhomogenen Patientenkollektivs der Wirbelkörper, sowie die Dekompression des Spinal-
und der therapeutischen Varianzen sind einheitliche kanals.
Therapieleitlinien nur eingeschränkt möglich [15, 16]. Es Mit der antibiotischen Therapie sollte möglichst erst
existieren bislang keine prospektiv randomisierten, kont- nach Erregernachweis testgerecht begonnen werden. Meist
rollierten Studien, sodass das Evidenzniveau der Therapie- ist jedoch aufgrund eines hochakuten Verlaufs unmittelba-
empfehlung nicht über Level C hinausgeht [15, 16]. rer Handlungsbedarf gegeben, sodass ohne Keimnachweis
Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist mit einer Antibiotikatherapie begonnen werden muss.
die konsequente Ruhigstellung des betroffenen Wirbel- Diesbezüglich sollte ein breit abdeckendes Antibiotikum
säulenabschnitts, die antibiotische Therapie, und, je nach Mittel der ersten Wahl sein [3]. Die Ausrichtung der anti-
466 Kapitel 42 · Spondylitis und Spondylodiszitis

Bei einer tuberkulösen Spondylodiszitis ist eine tuber-


kulostatische Therapie einzuleiten. Diese Therapie kann
bis zu einem Zeitraum von 18 bis 24 Monaten dauern [2,
16]. Eine suffiziente Schmerztherapie ist obligat, da meist
eine ausgeprägte Schmerzsymptomatik vorliegt.

42.6.1 Konservative Therapie

Die konservative Behandlung ist vorrangig bei unkompli-


zierten Fällen ohne wesentliche knöcherne Destruktion in
Betracht zu ziehen. Nach Behre [1] besteht die Therapie in
der Anpassung einer maßgefertigten Gipsschale sowie in
der Einhaltung einer strengen Bettruhe. Die Immobilisa-
tionsdauer beträgt ca. 6 Wochen. Anschließend wird auf
a b ein Rahmenstützkorsett umgestiegen, das für weitere
. Abb. 42.3 MRT: Spondylitis mit beginnender Spondylodiszitis bei
6 Wochen getragen werden sollte. Die Dauer der antibio-
LWK5/SWK1. In der T2-Wichtung ist ein Ödem (Pfeil) im Bandschei- tischen Therapie wird ebenfalls mit 6 Wochen angegeben.
benraum LWK5/SWK1 zu erkennen mit Übergang auf den 5. LWK Das eigentliche Problem dieser Therapieform ist, dass eine
suffiziente Ruhigstellung nur schwer realisierbar ist.
Von der früher zumeist praktizierten, lang dauernden
biotischen Therapie kann sich nach dem häufigster Erreger Bettruhe wendet man sich heute allerdings zunehmend ab
– Staphilococcus aureus – mittels eines penicillinasefesten [16]. Cramer et al. [2] und Eysel et al. [4] bevorzugen an-
Penizillins richten. Um auch den gramnegativen Bereich stelle einer strikten Bettruhe die Verwendung von reklinie-
abzudecken, ist die Gabe eines Zephalosporins oder eines renden Orthesen, durch die eine Lastenumverteilung von
Quinolonpräparats sicherer. den infizierten ventralen Wirbelsäulenabschnitten auf die
Über die Dauer der i.v.-Antibiotikagabe – nach Keim- nicht betroffenen Wirbelsäulengelenke angestrebt wird. In
nachweis! – gibt es in der Literatur keinen Konsens. Gene- dieser Orthese kann der Patient mobilisiert werden. Liegen
rell wird empfohlen, das Antibiotikum aufgrund der meist jedoch größere Defekte der ventralen Säule vor oder liegt
besseren Bioverfügbarkeit über mindestens 2–4 Wochen der Defekt in der unteren LWS bzw. am lumbosakralen
parenteral zu verabreichen. Zur Behandlung der unspezi- Übergang, dann sehen auch diese Autoren eine primäre
fischen Spondylodiszitis wird eine weiterführende orale 6-wöchige Ruhigstellung mittels Bettruhe für erforderlich
Antibiotikatherapie von 6 Wochen bis 3 Monaten Dauer an. Erst wenn eine radiologisch sichtbare knöcherne
empfohlen [2, 5, 10, 13, 16]. Auf eine Normalisierung der Durchbauung vorliegt, kann mit der Mobilisierung dieser
Entzündungswerte (CRP!) ist hierbei zu achten. Patienten begonnen werden.

42

a b

. Abb. 42.4 CT: Spondylodiszitis bei LWK4/5. Das Ausmaß der knöchernen Destruktion ist im CT besser zu erkennen. Die Grundplatte des
LWK4 zeigt einen Einbruch in den 4. LWK (Pfeil), das Bandscheibenfach LWK4/5 ist nicht mehr abgrenzbar
42.6 · Therapie
467 42
> Eine hohe Patientencompliance ist Voraussetzung > Die höchste mechanische Stabilität erreicht man mit
für die konservative Therapie! einer sog. 360°-Fusion (. Abb. 42.2f,g). Durch das
hohe Maß an Stabilität gelingt es, die Form des Achs-
Ein weiteres Problem der konservativen Therapie liegt da- skeletts wieder herzustellen bzw. zu erhalten. Dazu ist
rin, dass die meist älteren Patienten durch eine lange Im- ein hoher Materialaufwand bzw. Implantatbedarf auf-
mobilisation ihren Allgemeinzustand weiter schwächen. seiten des Behandlers bzw. der Klinik erforderlich, und
Dadurch steigt prinzipiell die Gefahr von Dekubitalulzera, für den Patienten besteht ein relativ großes Opera-
Lungenembolien und Pneumonien im Rahmen der tionsrisiko. Postoperativ ist eine rasche Mobilisierung
Hospitalisation [2, 10, 17]. gegeben, je nach Operateur mit oder ohne Orthese.
Pseudarthrosen werden mit 16–50 % angegeben. Dar-
aus können kyphotische Fehlstellungen und chronische Ob eine kombinierte ventrodorsale, eine dorsoventrale oder
Schmerzsyndrome resultieren [2, 4, 5, 7, 8 ]. eine dorsoventrodorsale Vorgehensweise gewählt wird, ist
Als nicht erfolgreich ist die konservative Therapie bei vom Ausmaß der Instabilität, von der Implantatauswahl so-
ausbleibender Fusionsreaktion oder fortschreitender wie dem jeweiligen Regime der behandelnden Klinik bzw.
Destruktion bzw. ausbleibender klinischer Besserung nach des Operateurs abhängig. Bei der Rekonstruktion werden
6 Wochen zu betrachten [5, 8, 15]. winkelstabile Implantate und Titankörbe als Wirbelkörper-
ersatz eingesetzt. Vorteile der Titankörbe gegenüber autolo-
gen kortikospongiösen Spänen sind u. a. der Wegfall der
42.6.2 Operative Therapie zusätzlichen Morbidität der Knochenspanentnahme sowie
der Wegfall einer möglichen Spannekrose [10].
Eine absolute Operationsindikation besteht bei Abszedie- Die operative Therapie kann prinzipiell ein- oder zwei-
rung, neurologischen Ausfallerscheinungen sowie knö- zeitig erfolgen. Die zweizeitige Vorgehensweise hat den
cherner Destruktion und Deformität. Nicht beherrschbare Vorteil, dass sich der Patient von dem ersten Eingriff erho-
Schmerzen sowie fehlende Patientencompliance für eine len kann. Dieser Zweiteingriff wird in Abhängigkeit von
konservative Behandlung stellen relative Indikationen dar der Rekonvaleszenz nach einem ein- bis mehrwöchigen
[2, 4, 5, 7, 16]. Intervall durchgeführt. Hierzu sind die Empfehlungen in
der Literatur sehr heterogen [2, 4, 5, 8, 16].
Abhängig von der Ausgangssituation ist ein einzeitiges
Operationsziele
Vorgehen mit dorsaler Instrumentierung im Sinne einer
5 Verhinderung sowie Beseitigung einer nervalen
Spondylodese und anschließender Ausräumung des ven-
Kompression
tralen Infektherds möglich. Der Zeitpunkt des ventralen
5 Radikales Débridement des entzündlichen Herds
Eingriffs variiert je nach Schweregrad der Erkrankung und
mit gleichzeitigen Probenentnahmen zum
Allgemeinbefinden des Patienten. Nach Bedarf kann die
Keimnachweis
ventrale Operation mono- oder mehrsegmental erfolgen.
5 Beseitigung einer Instabilität bei radiologisch
Wichtig ist, dass die Resektionsgrenzen in gut durchblute-
nachweisbarer Wirbelkörperdestruktion
tem, gesichert infektfreiem Gewebe liegen. Hier gelten die
5 Wiederherstellung der Wirbelsäulenstabilität
gleichen Anforderungen wie beim Resektionsdébridement
(knöcherne Fusion bzw. Blockwirbelbildung mit
der Osteomyelitis anderer Körperabschnitte.
oder ohne Instrumentation) und des Wirbelsäulen-
Müller et al. [11] bevorzugen bei Patienten ohne neu-
profils [9]
rologische Defizite in der Regel ein zweizeitiges Vorgehen
mit initial dorsaler, mehrsegmentaler Stabilisierung und
Das Ausmaß der jeweiligen operativen Behandlungs- sekundär ventraler Ausräumung und Abstützung. Mit die-
maßnahme variiert in der Literatur je nach anatomischer sem Vorgehen kann der Patient, der sich oftmals in einem
Höhenlokalisation und Autorengruppe. Es finden sich Be- reduzierten Allgemeinzustand befindet, sofort mobilisiert
fürworter der reinen Abszessausräumung ohne weitere werden. Damit bleibt ihm ein zeitaufwendiger und belas-
Stabilisierung [17]. Andere Autoren empfehlen eine zu- tender primär-zweiseitiger Eingriff erspart. Bis zum ven-
sätzliche Beckenkammspaneinbolzung nach Ausräumung tralen Eingriff lässt sich der Allgemeinzustand des Patien-
von Segmenten ohne Instrumentation als Möglichkeit der ten deutlich verbessern und unter gleichzeitig suffizienter
Defektüberbrückung [8]. Bei all diesen Behandlungsfor- i.v.-Antibiose der lokale Entzündungsherd behandeln.
men ist eine Immobilisation über einige Wochen, sei es mit Müller et al. [11] verzichten auf ein ventrales Vorgehen,
Korsett oder mit primärer Bettruhe, weiterer Bestandteil wenn eine nur geringe ventrale Destruktion vorliegt. Hier
des Vorgehens. komme es oftmals zu einer spontanen Ausheilung mit knö-
cherner Überbrückung.
468 Kapitel 42 · Spondylitis und Spondylodiszitis

Mückley et al. [10] beschreiben in einigen Fallberichten, 42.6.4 Prognose


dass ausgeprägte Wirbelkörperdefekte unter Verwendung
von Titankörben überbrückt und mit zusätzlich ventralen Sowohl nach konservativer als auch operativer Therapie ver-
Implantaten stabilisiert werden können. In Abhängigkeit bleiben häufig Restbeschwerden, die auf Destruktion und/
vom Grad der Instabilität und der bestehenden Fehlstellung oder degenerative Veränderungen der angrenzenden Seg-
kann ggf. auch auf eine dorsale Instrumentation verzichtet mente zurückgeführt werden können [3]. Die Rezidivquote
werden. wird in der Literatur mit 0–7 % angegeben [4, 5, 8].
Klöckner et al. [8] verglichen Ergebnisse von rein vent-
> Fazit: Bei unklaren Rückenschmerzen und all-
raler Spanfusion und ventrodorsaler Stabilisierung. Auf-
gemeinen Krankheitssymptomen muss an eine
grund dieser Studien empfehlen sie, nur noch monoseg-
Spondylodiszitis gedacht werden [16].
mentale Spondylodiszitiden ohne wesentliche Instabilität
ausschließlich von ventral zu versorgen. Alle anderen Situ-
ationen ohne dorsale Zuggurtung führten in ihren Studien Literatur
zu deutlichen Korrekturverlusten und zu einer schlechteren
Einschätzung der vom Patienten empfundenen postopera- 1. Behre I (2000) Die konservativ-orthopädische Behandlung der
tiven Schmerzreduktion. Spondylodiszitis. Inauguraldissertation, Medizinische Hochschule
Hannover
2. Cramer J, Haase N, Behre I, Ostermann PAW (2003) Spondylitis
und Spondylodiszitis. Trauma und Berufskrankheit 5:336–341
42.6.3 Behandlungskonzept der 3. Ewald C, Gartemann J, Kuhn S, Walter J, Kalff R (2009) Operative
orthopädischen Uniklinik Erlangen Therapie der bakteriellen Spondylodiszitis. Orthopäde 38:
248–255
In Abhängigkeit von der klinischen Symptomatik sowie der 4. Eysel P, Hopf C, Meurer A (1994) Korrektur und Stabilisierung der
infektbedingten Wirbelsäulendeformität. Orthopädische Praxis
radiologischen Ausdehnung des Befunds (Spondylitis/
11:696–703
Spondylodiszitis, mono-/mehrsegmental, Psoasbeteili- 5. Eysel P, Peters KM (1997) Spondylodiszitis. In: Peters KM,
gung, epidurale Abszesse, ggf. neurologische Symptomatik) Klosterhalfen B (Hrsg) Bakterielle Infektionen der Knochen und
gehen wir konservativ oder operativ vor. Eine CT-gesteuer- Gelenke. Enke, Stuttgart, S 52–93
te Punktion wird obligat durchgeführt. Ist ein Abszess vor- 6. Flamme CH, Frischalowski T, Gossé F (2000) Möglichkeiten und
handen, erfolgt im Rahmen der CT-gesteuerten Punktion Grenzen der konservativen Therapie bei Spondylitis und Spondy-
lodiszitis. Z Rheumatol 59:233–239
eine Abszessdrainage. Nach Erhalt des mikrobiologischen
7. Frangen TM, KälickeT, Gottwald M (2006) Die operative Therapie
Ergebnisses wird testgerecht i.v.-antibiotisch behandelt. der Spondylodiszitis. Eine Analyse von 78 Patienten. Unfallchirurg
Bei konservativer Therapie erfolgt die primäre Immobi- 109:743–753
lisierung des Patienten mit Bettruhe. Eine Ruhigstellung im 8. Klöckner C, Valencia R, Weber U (2001) Die Einstellung des
Gipsbett führen wir nicht durch. Wenn der Patient auf die sagittalen Profils nach operativer Therapie der unspezifischen
Antibiose angesprochen hat – erkennbar am CRP-Abfall destruierenden Spondylodiszitis: ventrales und ventrodorsales
Vorgehen – ein Ergebnisvergleich. Orthopäde 30:965–967
und der Besserung der klinischen Symptomatik – wird früh-
9. Mahlfeld k, Franke J, Graßhoff H (2002) Operationen der
zeitig mit einer stufenweisen, belastungssteigernden Mobi- spezifischen und unspezifischen Spondylitis der Brustwirbelsäule.
lisation mittels eines rumpfumfassenden und stabilisieren- Oper Orthop Traumatol 14:299–312
den Korsetts (ggf. mit Reklinationsbügeln) begonnen. 10. Mückley T, Kirschner M, Hierholzer C, Hofmann G (2003) Spondy-
Eine i.v.-Antibiose führen wir bis zur Normalisierung litis-Spondylodiszitis. Trauma und Berufskrankheit 5:296–304
des CRP-Werts durch. Die unmittelbar anschließende ora- 11. Müller EJ, Russe OJ, Muhr G (2004) Osteomyelitis der Wirbelsäule.
Orthopäde 33:305–315
le Antibiose erfolgt über 3 Monate unter engmaschiger
12. Nolla JM, Ariza J, Gomez-Vaquero C, Fiter J et al. (2002)
klinischer, laborchemischer und radiologischer Kontrolle. Spontaneous pyogenic vertebral osteomyelitis in non-drug-users.
Bei der operativen Therapie erfolgt ein radikales chir- Semin Arthritis Rheum 31:271–8
urgisches Débridement mit Dekompression und zunächst 13. Robinson Y, Heyde C, Kayser R (2007) Diagnostik und Therapie der
ausschließlicher dorsaler Stabilisierung. Im weiteren Ver- thorakalen Spondylodiszitis. Manuelle Medizin 45:17–20
lauf wird eine ventrale Operation mit ggf. nochmaligem 14. Sapico F, Montomerie J (1990) Vertebral osteomyelitis. Infect Dis
Clin North Am 77:539–550
Débridement und ventraler Stabilisierung (je nach Befund
42 Wirbelkörperersatz und ggf. ventrale Verplattung oder
15. Schinkel C, Gottwald M, Andress H-J (2003) Surgical Treatment of
Spondylodiszitis. Surgical Infections 4:387–391
ALIF-Implantation) durchgeführt (. Abb. 42.2f,g). Der 16. Sobottke R, Seifert H, Fätkenheuer G, Schmidt M, Goßmann A,
konkrete Zeitpunkt des ventralen Eingriffs richtet sich Eysel P (2008) Aktuelle Diagnostik und Therapie der Spondylo-
nach dem klinischen Befinden des Patienten. Postoperativ diszitis. Dtsch Ärztebl 105(10):181–187
erfolgt die Mobilisation des Patienten mittels des oben ge- 17. Strempel A von (2001) Entzündungen. In: Strempel A von (Hrsg)
Die Wirbelsäule. Thieme, Stuttgart, S 289–299
nannten Korsetts. Die antibiotische Therapie ist analog
zum konservativen Vorgehen.
469 43

Skoliose
S. Richter, R.H. Richter, R. Forst

43.1 Definition – 470

43.2 Ursachen – 470

43.3 Einteilung – 470

43.4 Diagnostik – 471


43.4.1 Klinische Untersuchung – 471
43.4.2 Radiologische Untersuchung – 472

43.5 Verlauf und Prognose – 473

43.6 Therapie – 474


43.6.1 Konservative Therapie – 474
43.6.2 Operative Therapie – 475
43.6.3 Komplikationen – 476

43.7 Fazit – 477

Literatur – 478

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_43, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
470 Kapitel 43 · Skoliose

Die idiopathische Skoliose ist mit ca. 85 % die häufigste Etwa 85 % der Skoliosen sind jedoch idiopathischen Ur-
Form. Mädchen sind 3,5-mal häufiger betroffen als Jungen. sprungs, d. h., die ursächliche Störung ist nicht bekannt
In der Regel verursacht die idiopathische Skoliose keine [5]. Eine genetische Prädisposition wird heute diskutiert
Schmerzen, was die Diagnosestellung erschwert. Im sog. [11]. Obwohl die multifaktorielle Genese der idiopathi-
Vorneigetest wird das Ausmaß der Skoliose ersichtlich. schen Adoleszentenskoliose allgemein anerkannt ist, sind
Ein Beckengeradstand ist Voraussetzung für eine exakte die genetischen Ursachen jedoch noch weitgehend unbe-
klinische Beurteilung der Skoliose und muss immer vorher kannt. Moreau et al. [11] deuteten in ihrer Studie darauf
überprüft werden. Die klinische Untersuchung wird durch hin, dass eine generalisierte Funktionsstörung bei der
Röntgenbilder der gesamten Wirbelsäule in 2 Ebenen Übertragung von Melatonin vorliegt.
komplettiert. Anhand der Seitausbiegung der Wirbelsäule
wird der Cobb-Winkel berechnet, die Rotation der Wirbel-
körper wird nach Nash und Moe geschätzt. Die Therapie 43.3 Einteilung
richtet sich nach dem Cobb-Winkel und nach der Wachs-
tumsreserve. Bei noch vorhandenem Wachstum und einem Bei der Prognose der Entwicklung einer Skoliose sowie der
Cobb-Winkel über 20° ist zusätzlich zur Physiotherapie ein Beeinträchtigung von Wachstum und Entwicklung wird
Korsett indiziert. Ab einem Cobb-Winkel von 45° bzw. 50° ist unterschieden, ob Skoliosen früh, also vor dem 5. Lebens-
eine Operation zu diskutieren. Operationsindikation und jahr (sog. Early-onset-Skoliose), oder nach dem 5. Lebens-
verfahren sind individuell mit dem Patienten zu besprechen. jahr (sog. Late-onset-Skoliose) auftreten [16].
Ein wesentliches Merkmal der sich früh manifestieren-
den Skoliosen ist die wesentlich höhere Neigung zur Pro-
43.1 Definition
gredienz [16]. Die Wirbelsäule (Th1–S1) wächst von der
Geburt bis zum Wachstumsabschluss ca. 25 cm, 40 %
Das Wort Skoliose stammt aus dem Griechischen »skolios«
(10 cm) davon in den ersten 5 Lebensjahren. Zwischen
und bedeutet krumm bzw. verkrümmt. Die Skoliose ist
dem 5. und dem 10. Lebensjahr ist das Wachstum auf 5 cm
eine Wachstumsdeformität der Wirbelsäule mit fixierter
reduziert, während anschließend erneut ca. 10 cm Wachs-
Seitausbiegung, Torsion der Wirbelkörper und Rotation
tum erwartet werden [16].
des Achsorgans. Die Einteilung der Skoliosen erfolgt nach
Demzufolge tritt bei unbehandelten, sog. Early-onset-
dem Scheitelpunkt ihrer Deformität (. Tab. 43.1) [16].
Skoliosen in vielen Fällen eine Deformität der Wirbelsäule
Die Prävalenz von Skoliosen beträgt unabhängig von
und des Brustkorbs auf, die die Lebenserwartung aufgrund
ihrer Ursache in der Bevölkerung ca. 2 % bei Frauen und
pulmonaler und kardialer Probleme reduziert. Stücker
0,5 % bei Männern. Davon werden etwa 10 % behand-
[16] fordert daher, dass die Behandlung dieser Skoliosen
lungsbedürftig [16].
aufgrund des schwierigen Managements und der damit
einhergehenden hohen Anforderungen an den Kinder-
43.2 Ursachen orthopäden in Zentren erfolgen sollte.
Bei den sog. Late-onset-Skoliosen ist eine Progredienz
relativ gering, wenn diese innerhalb des 5. bis 10. Lebens-
Ursachen der Skoliose [12] jahr auftritt. Nach dem 10. Lebensjahr ändert sich jedoch
5 Neuropathisch (z. B. Zerebralparese, Meningo- das Progredienzverhalten erneut [16].
myelozele) Zum Zeitpunkt des maximalen Wachstumsschubs
5 Myopatisch (z. B. Muskelatrophie, Muskeldystrophie) wird auch die maximale Progredienz einer Skoliose beob-
5 Kongenital (Fehlbildungsskoliosen z. B. bei Halb-
oder Keilwirbelausbildung)
. Tab. 43.1 Bezeichnungen der Skoliose [16]
5 Mesenchymal (z. B. Marfan-Syndrom, Ehlers-
Danlos-Syndrom) Bezeichnung Scheitelpunkt
5 Metabolisch (z. B. Rachitis, juvenile Osteoporose,
Osteogenesis imperfecta) Zervikal C2–C6
5 Systemerkrankungen (z. B. Polysaccharidose) Zervikothorakal C7–Th1
5 Posttraumatisch
Thorakal Th2–Th11
43 5 Neoplastisch
5 Inflammatorisch Thorakolumbal Th12–L1
5 Statisch (z. B. Beinlängendifferenz) Lumbal L2–L4
5 Degenerativ (z. B. De-novo-Skoliosen)
Lumbosakral L5 und unterhalb
43.4 · Diagnostik
471 43
achtet. Dieser Zeitpunkt wird am besten anhand des Ver-
. Tab. 43.2 Faustregel zur Ermittlung des Restwachstums [16]
schlusses der Olekranonepiphysenfuge (alternativ der Epi-
physenfuge der Daumenendphalanx) bestimmt [16]. Das Risser-Stadium Restwachstum
Risser-Zeichen tritt erst nach dem maximalen Wachstums-
schub auf, in der sog. Dezelerationsphase. Circa 6 Monate Risser 0 <5 cm
nach dem maximalen Wachstumsschub tritt oft auch die Risser 1 4 cm
Menarche ein, die häufig zeitgleich mit dem Risser-1-Sta-
Risser 2 3 cm
dium vorliegt [16].
Nach Stücker [16] kann das Restwachstum grob nach Risser 3 2 cm
folgender Formel ermittelt werden (. Tab. 43.2): Risser 4 1 cm

Risser-Stadium + Restwachstum in cm = 5

Die idiopathische Skoliose wird nach dem Alter ihres Auf-


tretens eingeteilt:
4 infantil: 0–3 Jahre,
4 juvenil: 4–10 Jahre,
4 adoleszent: ab dem 11. Lebensjahr.

Die Adoleszentenskoliose, die weitaus häufigste Skoliose-


form, ist wie folgt charakterisiert: Sie ist zumeist thorakal
lokalisiert und dann fast ausnahmslos rechtskonvex ge-
krümmt [5].

Definition der Adoleszentenskoliose nach Hefti [5]


5 In etwa 10 % der Fälle ist die Skoliose s-förmig,
d. h., es bestehen 2 Primärkrümmungen, von de-
nen die lumbale Krümmung in der Regel stärker
rotiert ist als die thorakale.
5 Die Skoliose weist stets eine Rotation der Wirbel- a b
körper auf, deren dorsale Anteile immer zur Kon-
. Abb. 43.1 a Kirschen = Wirbelkörper, Stengel = Wirbelbögen.
kavseite der Krümmung rotiert sind.
b Verkürzt man den Abstand der Stengel (bzw. den der dorsalen
5 Die Adoleszentenskoliose entsteht wahrscheinlich Elemente), verschaffen sich die Kirschen Platz durch Verdrehung. Die
durch ein Missverhältnis des Wachstums zwischen seitliche Verkrümmung ist Folge dieser Verdrehung. (Aus Hefti [5])
den dorsalen und ventralen Wirbelkörperanteilen.
Das Minderwachstum der dorsalen Anteile zwingt
die Wirbelkörper zum Ausweichen nach lateral und
43.4 Diagnostik
zur Rotation (. Abb. 43.1).
5 Sie tritt bei Mädchen ca. 3,5-mal häufiger auf als
43.4.1 Klinische Untersuchung
bei Jungen.
5 Die Inzidenz beträgt 1,8 %.
Bei der klinischen Untersuchung muss stets auf die Über-
5 Im Allgemeinen verursacht die Adoleszentenskoli-
prüfung der Beinlänge (. Abb. 43.2; . Abb. 43.3a,b) geach-
ose keine Schmerzen.
tet werden. Liegt ein Beinlängenunterschied vor, so ist
5 In der Regel wird sie in der präpubertären Phase
dieser auszugleichen, um eine exakte klinische Beurteilung
nicht erkannt und ist sehr häufig ein Zufallsbefund
der Wirbelsäule durchführen zu können. Meist steht
(z. B. im Sport- oder Schwimmunterricht bzw. im
die rechte Schulter bei einer rechtskonvexen thorakalen
Sommerurlaub) [5].
Skoliose höher als die linke, und häufig findet sich eine
Asymmetrie der Taillendreiecke (. Abb. 43.2). Fällt das Lot
von der Vertebra prominens nicht exakt in die Rima
ani, liegt eine dekompensierte Skoliose vor (. Abb. 43.2;
. Abb. 43.3e,f) [5].
472 Kapitel 43 · Skoliose

ebenfalls einer weiteren Abklärung bedürfen, sind neben


der linkskonvexen thorakalen Krümmung [16]
4 Schmerzen,
4 Rigidität der Krümmung und
4 neurologische Auffälligkeiten.

43.4.2 Radiologische Untersuchung

Zur korrekten radiologischen Beurteilung einer Skoliose


ist eine Wirbelsäulenganzaufnahme im posterior-anterio-
ren (p.-a.-)Strahlengang und seitlich im Stand erforderlich.
Vorher ist jedoch eine mögliche Beinverkürzung aus-
zugleichen.
> Cave: Es ist wichtig zu wissen, dass nicht jeder
Höhenunterschied der Beckenkämme bei der
Skoliose mit einer Beinlängendifferenz gleich-
gesetzt werden darf, da allein durch die Beckenrota-
tion aufgrund der lumbalen Krümmung Niveauun-
terschiede der Beckenkämme vorgetäuscht werden
können, obwohl die gleiche Beinlänge vorliegt.

Auf der p.-a.-Aufnahme wird der Skoliosewinkel der


. Abb. 43.2 Bei der dorsalen Betrachtung des Patienten im auf-
Haupt- und Nebenkrümmung nach der Methode von
rechten Stand ist auf den Schulterstand, die Symmetrie der Taillen- Cobb (Cobb-Winkel) bestimmt. Die Rotation der Wirbel-
dreiecke, den Beckenstand und das Lot zu achten. (Aus Hefti [5]) körper kann geschätzt und gemessen werden. Die
Schätzungsmethode nach Nash und Moe ist die am
häufigsten verwendete. Schließlich muss das Lot in der
Bei Prüfung der Seitneigung der Wirbelsäule wird p.-a.-Aufnahme eingezeichnet werden, um zu erkennen,
darauf geachtet, ob die Umkrümmung der Wirbelsäule ob die Skoliose kompensiert oder dekompensiert ist.
harmonisch ist oder ob eine Fixation vorliegt. In der Auf der seitlichen Röntgenaufnahme wird das Ausmaß
Seitenansicht erkennt man, ob ein pathologisches sagitta- der thorakalen Kyphose und der lumbalen Lordose be-
les Profil (relative Lordose der BWS, Hyperkyphose der stimmt.
BWS oder eine Aufhebung der Lendenlordose) besteht.
Die wichtigste klinische Untersuchung ist der Vor- Tipp
neigetest (. Abb. 43.3c). Dabei wird der Patient aufge-
Bei klinischen Zeichen einer Skoliose sollte der Patient
fordert, sich nach vorne zu bücken. In Höhe der Brust-
möglichst in ein Krankenhaus bzw. ein Zentrum ge-
wirbelsäule erkennt man konvexseitig den »Rippenbuckel«
schickt werden, das radiologisch die Möglichkeit hat,
(. Abb. 43.3c) und im Lendenwirbelsäulenbereich kon-
eine Wirbelsäulenganzaufnahme p.a. und seitlich
vexseitig den »Lendenwulst« als Folge der Rotation der
durchzuführen. Durch isolierte BWS- und LWS-Auf-
Wirbelkörper bei der Skoliose. Zur Objektivierung des
nahmen in 2 Ebenen ist eine hohe Fehlerquote in der
Ausmaßes von Rippenbuckel und Lendenwulst dient das
Berechnung der Cobb-Winkel möglich.
sog. Inklinometer bzw. Skoliometer (. Abb. 43.3d) [5].
Um eine vermehrte Beckenkippung und/oder Über-
streckeinschränkung der Hüftgelenke zu erkennen, ist eine Des Weiteren können auf diesen beiden Röntgenauf-
subtile Untersuchung beider Hüftgelenke erforderlich. nahmen möglicherweise vorliegende Thoraxanomalien,
Eine grobe neurologische Untersuchung mit Über- Rippensynostosen oder Spondylolysen bzw. Spondylolis-
prüfung der Sensibilität bzw. der Kraft sollte ebenfalls er- thesen erkannt werden [16].
43 folgen [16]. Neurologische Auffälligkeiten treten häufig bei Funktionsaufnahmen (im p.-a.-Strahlengang) in maxi-
atypischen Krümmungen, wie z. B. linkskonvexen Thora- maler Seitneigung nach rechts und links (sog. Bending-
kalskoliosen, auf. Diese sind in ca. 50 % mit intraspinalen Aufnahmen) zeigen die Korrigierbarkeit der Haupt- und
Anomalien assoziiert und erfordern eine weitere Ab- Nebenkrümmung. Diese Aufnahmen sind vor allem zur
klärung [16]. Befunde bei idiopathischen Skoliosen, die operativen Planung wichtig. Auf der p.-a.-Aufnahme kön-
43.5 · Verlauf und Prognose
473 43

a b c

d e f

. Abb. 43.3 a, b Überprüfung des vorderen (a) und hinteren (b) Spinastands. c Im Vorneigetest wird das Ausmaß des Rippenbuckels
deutlich. d Ausmessen des Rippenbuckels mit dem Skoliometer. e Lotmessung von C7 bis zur Rima ani, Patientin fällt 1 cm rechts aus dem
Lot. f Lotkontrolle im Korsett

nen zusätzlich die Skelettreife und das Skelettalter durch tere Progredienz und Prognose der Erkrankung von Be-
Bestimmung des Risser-Zeichens (Verknöcherung der Be- deutung [5]:
ckenkammapophyse) abgeschätzt werden. 4 Cobb-Winkel,
Zusätzlich bildgebende Verfahren wie Computertomo- 4 Alter,
grafie, Magnetresonanztomografie oder Myelografie sind 4 Risser-Stadium,
von sekundärer Bedeutung. Diese können im Rahmen 4 Menarche.
einer präoperativen Vorbereitung indiziert sein. MR-
tomografisch können u. a. intraspinale Missbildungen Skoliosen mit einem Cobb-Winkel von über 50° bei
(z. B. eine Syringomyelie oder Diastematomyelie) ausge- Wachstumsabschluss haben eine weitere Progredienz von
schlossen werden. Bei kongenitalen Skoliosen kann man 0,5° bis 1° pro Jahr. Die Folgen der Skoliose sind für die
auch sehr gut paraspinale Überbrückungen im MRT er- vorwiegend weiblichen Patienten vor allem die kosmeti-
kennen [5]. sche Beeinträchtigung. Bei schweren Skoliosen ist eine
Herabsetzung der Lebenserwartung wegen der verminder-
ten Herz-Lungen-Funktion zu beobachten. Lumbale und
43.5 Verlauf und Prognose thorakolumbale Skoliosen sowie dekompensierte Skolio-
sen gehen vermehrt mit Rückenschmerzen einher, wäh-
Wird im Pubertätsalter die Diagnose einer idiopathischen rend die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von
Skoliose gestellt, dann sind folgende Faktoren für die wei- Rückenschmerzen bei Patienten mit thorakalen Skoliosen
474 Kapitel 43 · Skoliose

ben [10, 18]. Das derzeit am meisten verordnete Korsett


. Tab. 43.3 Therapieregime bei noch vorhandenem Rest-
wachstum
basiert auf dem Bauprinzip von Cheneau. Es ermöglicht
eine Redression nach dem 3-Punkte-Prinzip [5]:
Cobb-Winkel Therapie 4 Fixation am Becken durch einen Beckenkorb,
4 Abstützung unter der Axilla auf der Konkavseite,
<20° Krankengymnastik und Eigenübungen 4 Redression unterhalb des Apex der Skoliose auf der
20–40° Krankengymnastik, Eigenübungen und Konvexseite.
Korsetttherapie

>40–45° Operative Therapie Dieses Korsett hat zudem eine derotierende Wirkung.
Die Indikation zur Korsettversorgung liegt vor bei
einer Skoliose mit Cobb-Winkel über 20–40° sowie nach-
nur geringgradig bis mäßig erhöht ist [5]. Spontan auftre- gewiesener Progredienz mit noch vorhandenem Wachs-
tende Lähmungen werden nicht berichtet. tumspotenzial. Die Tragezeit wird mit 23 h pro Tag emp-
Eine detaillierte Einteilung der verschiedenen Skolio- fohlen [5, 13]. Das Korsett sollte nur zur Körperpflege bzw.
sen wurde 1983 von King vorgeschlagen [6]. 2001 erfolgte zum Sport abgenommen werden. Mehrere Studien konn-
eine Neueinteilung durch Lenke [7]. Beide Einteilungen ten belegen, dass eine klare Abhängigkeit zwischen Trage-
dienen zur Planung der operativen Behandlungsstrategie. zeit und Behandlungserfolg besteht [5, 13, 14, 15, 18].
Die Korsettbehandlung muss immer von Physiothera-
pie begleitet sein, da es durch das Tragen des Korsetts zur
43.6 Therapie Atrophie der paravertebralen Muskulatur kommt [5, 18].
Nach Wachstumsabschluss beginnt der Abtrainie-
Therapeutisch stehen konservative und operative Maß- rungsprozess. Hier sollte eine Reduktion der Tragezeit um
nahmen zur Verfügung. Ziel der Therapie ist es, eine Pro- 1–2 h am Tag pro Monat erfolgen. Über das Tragen des
gredienz der Skoliose bestmöglich zu verhindern, eine Korsetts während der Nacht im Rahmen der Korsettent-
Korrektur der bestehenden Krümmung zu erreichen sowie wöhnung werden unterschiedliche Meinungen vertreten.
diese Korrektur lange aufrechtzuerhalten [5]. Die Untersuchungen von Hefti [5] ergaben, dass keine
Ein sehr vereinfachtes Therapieregime bei noch vor- Notwendigkeit gesehen wurde, das Korsett auch während
handenem Restwachstum zeigt . Tab. 43.3. der Nacht im Abtrainierprozess zu tragen. Eine klinische
Untersuchung von Seifert u. Selle [14] zeigte dagegen, dass
die Nachtorthese durchaus noch ihre Berechtigung wäh-
43.6.1 Konservative Therapie rend der Entwöhnungsphase hat.
> Ziele der Korsettbehandlung liegen primär in der
Die konservative Therapie beruht auf der kombinierten Verhinderung der Progredienz der Skoliose, in der
Trias von ambulanter Physiotherapie, stationärer In- Korrektur der bestehenden Verkrümmung sowie in
tensivrehabilitation und Korsettversorgung [18]. Die am- der möglichst langen Aufrechterhaltung der er-
bulante Physiotherapie sowie die stationäre Intensiv- reichten Korrektur. Eine der wichtigsten Aspekte der
rehabilitation sollten vor allem die krankengymnastische Korsetttherapie ist, dass die Wirbelsäule im Korsett
Therapie nach Katharina Schroth beinhalten [18]. Eine im Lot steht [5].
ambulante Physiotherapie ist ca. 2-mal pro Woche für je-
weils 30–40 min Dauer indiziert. Diese sollte durch erlern- Auf Dauer ist jedoch eine Skoliose nicht durch ein Korsett
te Eigenübungen, 30–40 min täglich, komplettiert werden. korrigierbar. Die anfängliche Verminderung der Krüm-
Im Rahmen der stationären Intensivrehabilitation lernen mung geht nach dem Absetzen der Korsettbehandlung
die jungen Patienten zahlreiche Übungen zur muskulären nach Wachstumsabschluss wieder verloren [5]. Bei konse-
Kräftigung mit und ohne Korsett und vor allem den Um- quentem Tragen des Korsetts kann aber davon ausgegan-
gang mit ihrer Erkrankung kennen, insbesondere unter gen werden, dass die Skoliose dauerhaft so bleibt, wie sie
Berücksichtigung des psychologischen Aspekts. zu Beginn der Korsettbehandlung war. Dies ist allerdings
> Ziel der Krankengymnastik ist die Verbesserung
nur bis zu einem Krümmungswinkel von ca. 40° belegt [5].
der Haltung, die Kräftigung der Muskulatur, die
Von entscheidender Bedeutung für den Therapieerfolg
43 Entlordosierung und daraus resultierend die Ver-
der Korsettbehandlung ist die Compliance der Patienten
besserung der Herz-Lungen-Funktion [5].
sowie ihrer Eltern [13]. Seifert et al. [13] konnten 2008
belegen, dass die Compliance neben der Primärkorrektur
Eine nachweislich wirksame nichtoperative Therapie der durch die Orthese der entscheidende Faktor für die erfolg-
Skoliose ist durch die Gips- bzw. Korsettbehandlung gege- reiche Korsettbehandlung idiopathischer Skoliosen ist.
43.6 · Therapie
475 43
Nicht zuletzt unter dem Aspekt der Compliance und der lotrechter Wirbelsäulenausrichtung und Schulter-
psychologischen Komponente ist eine stationäre Inten- geradstand führt [8, 9].
sivrehabilitation sinnvoll.
Bei konservativer Therapie sollten klinische Kontrol- Die 3-D-Korrektur beinhaltet die Korrektur in der Frontal-
len im Abstand von 3 bis 4 Monaten mit Ausmessung von ebene (Korrektur des Cobb-Winkels), die Korrektur in der
Stehgröße, Sitzgröße, Armspannweite, Gewicht, Trochan- Sagittalebene (Korrektur der Kyphosierung/Lordosierung)
terumfang, Schulterstand und Beinlänge, Rippenbuckel sowie die Korrektur in der Horizontalebene (Derotation)
und Lendenwulst erfolgen. [1–4, 8, 9, 15, 16].
Eine Röntgenaufnahme ist bei der Erstvorstellung Ein weiteres Ziel der Skoliosechirurgie ist neben der
nötig, um einen Ausgangsbefund zu haben. Weitere radio- dreidimensionalen Korrektur der Krümmung auch die
logische Kontrollen richten sich nach dem Ergebnis der kosmetische Korrektur, vor allem bei weiblichen Adoles-
klinischen Untersuchung. Generell sollte 1-mal pro Jahr zenten [5].
eine Röntgenaufnahme zur Verlaufsbeobachtung durchge- Erste zufriedenstellende, dauerhafte Korrekturen der
führt werden. Ist bei der klinischen Ausmessung von einer Seitausbiegung wurden in der Mitte der 1960er Jahre mit
Progredienz auszugehen, ist frühzeitig eine Röntgenauf- dem Harrington-Instrumentarium erzielt. Eine Derotation
nahme durchzuführen. konnte mit dieser Instrumentation jedoch nicht erreicht
Bei Verordnung eines Korsetts ist dies radiologisch werden. Das Instrumentarium nach Cotrel-Dubousset, ein
nach ca. 6 Wochen Eintragezeit zu kontrollieren [5]. Nach hakengetragenes, polysegmental angreifendes Doppel-
Stücker [16] ist bereits eine Verbesserung der Krümmung stabsystem, war lange Zeit der Goldstandard der dorsalen
von 50 % bei der Erstversorgung anzustreben. Skoliosechirurgie. Doch auch damit war leider keine effek-
tive Derotation möglich [4].
Tipp Eine entscheidende Weiterentwicklung der dorsalen
Skoliosechirurgie ist auf die zunehmende Nutzung von Pe-
Das Korsett sollte – wie Einlagen – Tragespuren als
dikelschrauben zurückzuführen, mit denen eine bessere
Nachweis der mehrstündigen Tragedauer aufweisen.
Korrektur der frontalen Ebene bei häufig kürzerer Fusions-
Die Haut wird eine Hyperpigmentation im Bereich
strecke erzielt werden kann. Darüber hinaus sind eine
der Pelotten aufweisen, um einen korrekten Sitz an-
Verbesserung der Korrektur sowie ein geringerer Korrek-
zuzeigen.
turverlust im Beobachtungszeitraum nachgewiesen
(. Abb. 43.4a–c) [4].
Der Goldstandard der Formkorrekturstabilisierung
von Skoliosen über den vorderen Zugang war primär
43.6.2 Operative Therapie durch die ventrale Derotationsspondylodese (VDS) nach
Ziehlke erreicht. Nachteilig war die geringe interne Stabi-
Durch eine Operation kann nicht nur die Progredienz auf- lisierungseigenschaft des Implantats mit hohem Risiko des
gehalten, sondern die Verkrümmung (teilweise) aufgerich- Stabbruchs sowie der Pseudarthrose inklusive einer mona-
tet werden und die erreichte Korrektur im Wesentlichen telangen postoperativen Ruhigstellung im Korsett. Dieses
nach Konsolidierung der Spondylodese erhalten bleiben initiale Einstabsystem wurde durch die Entwicklung
[1, 2, 5]. Die Indikation zur Operation wird ab einem primärstabiler ventraler Ein- und Doppelstabsysteme
Cobb-Winkel von 40° [5] bzw. 45–50° [16] bei thorakalen optimiert. Der Vorteil der ventralen Korrekturverfahren
Skoliosen gestellt, bei thorakolumbalen oder lumbalen gegenüber den dorsalen liegt in der häufig kürzeren Fusi-
Skoliosen ab einem Cobb-Winkel von 40° [16] bzw. 50°[5] onsstrecke sowie in der besseren Derotationsmöglichkeit,
oder bei Dekompensation. Nachteil aller bisherigen Ope- die durch die zusätzliche Bandscheibenausräumung erzielt
rationsverfahren ist die Notwendigkeit einer Versteifung wird [3, 4]. Der Vorteil ventraler Doppelstabinstrumente
des entsprechenden Wirbelsäulenabschnitts [5]. Als Ope- gegenüber dem ventralen Einstabinstrumentarium zeigt
rationsverfahren stehen die ventrale und dorsale Spondy- sich in einer höheren Ausrissfestigkeit durch die Doppel-
lodese zur Verfügung. Skoliosetyp und -krümmung spie- verschraubung und in einer höheren Korrekturstabilität
len für die Entscheidung des Operationsverfahrens (vent- [8, 9]. Ein weiterer Vorteil der ventralen Doppelstabinstru-
ral vs. dorsal) eine große Rolle [1–4, 8, 9, 16]. Die wichtigs- mentierung gegenüber der dorsalen Instrumentierung
te Rolle spielt jedoch der Operateur [5]. liegt nach Halm et al. [3, 4] auch in einem geringeren Blut-
verlust sowie in einer besseren Korrektur des sagittalen
> Ziel der operativen Skoliosekorrektur ist eine Profils der Wirbelsäule bei hypokyphotischen Thorakal-
3-D-Krümmungskorrektur, die bei möglichst kurzer skoliosen. Ebenso ist das Risiko eines neurologischen
Fusionsstrecke zu einem ausbalancierten Rumpf mit Schadens bei ventralen Operationen geringer [3, 4]. Ein
476 Kapitel 43 · Skoliose

a b c

. Abb. 43.4 a S-förmige Skoliose thorakal-rechtskonvex (Cobb-Winkel 75°) mit linkskonvexem lumbalem Gegenschwung (Cobb-Winkel
58°). b, c Dorsale Korrekturspondylodese BWK3 bis LWK3

Nachteil der ventralen Operation ist bei transthorakalen Thorakalskoliosen mit Rippenfusionen entwickelt. Erste
Eingriffen die negative Auswirkung auf die Lungenfunk- Erfahrungen zeigen nach Stücker [16] auch Erfolg bei der
tion, die sich im Vergleich zu dorsalen Verfahren post- Behandlung von neuromuskulären Skoliosen oder Early-
operativ langsamer erholt. Thorakoskopische Skolioseope- onset-Skoliosen.
rationen konnten sich bisher aufgrund langer OP-Zeiten Über die Anwendung von VEPTR oder Growing-rod-
und hoher Lernkurven noch nicht durchsetzen [3]. Systemen gibt es in der Literatur ebenfalls unterschiedliche
Die mittels sog. SMA-Klammern (SMA = »shape Meinungen.
memory alloy«) vorgenommene ventrale Klammerung > Eine operative Korrektur bei Skoliosen neuro-
von Wirbelkörpern im Bereich der Konvexität zur Wachs- muskulären Ursprungs dient in erster Regel dem
tumshemmung im Sinne einer »Epiphysiodese« wurde als Erhalt der Sitzfähigkeit des Patienten [5, 15].
neues minimal-invasives Verfahren zur Korrektur von
Skoliosen, ohne eine Spondylodese durchführen zu Zur präoperativen Vorbereitung gehören obligat Stan-
müssen, propagiert [15, 16, 17]. Ausreichende Erfahrun- dardröntgenaufnahmen der ganzen Wirbelsäule p.-a. und
gen mit dieser Methode bestehen in der Literatur nicht seitlich im Stand sowie Funktionsaufnahmen in Seit-
[16]. In einer Untersuchung von Stücker [16] zeigte sich, neigung für alle Krümmungen. Eine Eigenblutspende
dass bei Skoliosen von mehr als 35° eine Progredienz trotz kann durchgeführt werden. Zur Abklärung intraspinaler
Klammerung vorlag. Bei Deformitäten <35° ist in speziel- Raumforderungen und zur genaueren Darstellung der
len Fällen die Indikation gegeben [16]. Insofern wurde von Weichteile ist eine MRT-Untersuchung erforderlich. Eine
einer breiten Anwendung dieses Verfahrens Abstand Computertomografie bzw. Myelografie ist individuell
genommen. durchzuführen und liegt im Ermessen des Operateurs [5].
Bei den sog. Growing-rod-Systemen werden 2 Stäbe im
Bereich der Lenden- und Brustwirbelsäule über einen
Teleskopmechanismus miteinander verbunden. Die 43.6.3 Komplikationen
Krümmung wird dann über Distraktion korrigiert. Ein
Nachstellen bzw. eine Verlängerung im Bereich des Teles- Relevante Frühkomplikationen im Sinne von neurologi-
kopmechanismus ist alle 6 Monate erforderlich [16]. Flexi- schen Läsionen treten bei der idiopathischen Skoliosechi-
ble infantile und juvenile Skoliosen, die trotz konservativer rurgie mit erfahrenen Operateuren relativ selten auf. In
43 Therapie progredient sind, bieten Indikationen für diese einer Sammelstudie der Scoliosis Research Society fanden
Anwendung [16]. sich unter 2.031 Operationen 0,3 % partielle, aber keine
Ein weiteres Operationsverfahren ist die Anwendung kompletten Läsionen [5]. Infektionen sind Komplika-
des sog. VEPTRs (»vertical expandable prosthetic titanium tionen mit der statistisch größten Wahrscheinlichkeit, da
rib«). Es wurde initial für die Therapie kongenitaler eine Skoliosekorrektur meist im Jugendalter erfolgt und es
43.7 · Fazit
477 43

a b c

d e f

. Abb. 43.5 a C-förmige Skoliose bei Osteoidosteom, Bogenwurzel Th8 links. b Klinisches Bild des Patienten. c In Vorneigung wir das Aus-
maß des Rippenbuckels rechts deutlich. d Nach operativer Ausräumung des Nidus zeigt sich radiologisch eine vollständige Rückbildung der
Skoliose. e Klinisches Bild des Patienten postoperativ. f In Vorneigung ist kein Rippenbuckel mehr zu erkennen

hier aufgrund von Hautunreinheiten (Akne) zu oberfläch- deutliche Wachstumspotenz haben. Aufgrund des Weiter-
lichen, aber auch zu tiefen Infektionen kommen kann [5]. wachsens der Wirbelkörper kommt es – trotz operativer
Nach Stücker [16] beträgt die Rate unmittelbar postopera- Stabilisierung – zum Korrekturverlust und zur zunehmen-
tiver Infektionen weniger als 1 %, während Spätinfek- den Rotation der Wirbelkörper [5]. Aus diesem Grund war-
tionen in einer Häufigkeit von bis zu 10 % anzutreffen sind. ten einige Skoliosezentren den Wachstumsabschluss ab.
Blutungskomplikationen treten in etwa 0,85 % auf > Langzeitbeobachtungen haben gezeigt, dass Pa-
[16]. tienten nach Skolioseoperationen, die korrekt durch-
Bei der ventralen Operation oder nach Rippenbuckel- geführt wurden, über Jahrzehnte beschwerdefrei
resektionen ist ein Pneumothorax oder ein Thoraxerguss sind. Wichtigste Voraussetzung ist jedoch, dass die
häufig [5]. Spätkomplikationen sind z. B. postoperative Wirbelsäule im Lot bleibt [5].
Korrekturverluste der Wirbelsäule. Dies wird jedoch durch
die Modernisierung der Instrumente deutlich reduziert.
Ebenso ist ein Korrekturverlust bzw. die Ausbildung einer
Pseudarthrose oder eines Implantatversagens im Sinne 43.7 Fazit
eines Stabbruchs durch die zunehmende Optimierung der
Implantate nur noch selten zu beobachten [3, 4, 5]. Für die Skoliosechirurgie bei der idiopathischen Skoliose
Ein besonderes Problem ist das sog. Crankshaft-Phäno- spielen neben der Ausgangskrümmung auch die Rotation
men. Dieses tritt bei jungen Patienten auf, die noch eine sowie das sagittale Profil inklusive diverser klinischer Pa-
478 Kapitel 43 · Skoliose

rameter eine wichtige Rolle, sodass jeder Patient mit einer 13. Seifert J, Selle A, Flieger C, Günther K (2008) Die Compliance als
operationswürdigen Skoliose individuell evaluiert werden Prognosefaktor bei der Behandlung idiopathischer Skoliosen.
muss. Diese Operationen sollten jedoch aufgrund ihrer Orthopäde 38:151–158
14. Seifert J, Selle A (2009) Hat die Nachtorthese in der Skoliose-
Komplexität an Zentren erfolgen. therapie noch eine Berechtigung? Orthopäde 38:146–150
Die häufigste Skoliose, die sog. Adoleszentenskoliose, 15. Stücker R (2003) Behandlungsmöglichkeiten der Skoliose.
verursacht in der Regel keine Schmerzen [5]. De-novo- Monatsschrift Kinderheilkunde 151: 825–832
Skoliosen (7 Kap. 41, »Spinalkanalstenose«), die vorwie- 16. Stücker R (2010) Die idiopathische Skoliose. Orthopädie und
gend bei älteren Patienten auftreten und mit einer Arthro- Unfallchirurgie up2date 5:39–56
17. Stücker R (2009) Ergebnisse der Behandlung von progredienten
se der Wirbelsäule und sekundärer Spinalkanalstenose
Skoliosen mit SMA-Klammern. Orthopäde 38:176–180
vergesellschaftet sind, verursachen in vielen Fällen 18. Weiß H (2003) Die konservative Behandlung der idiopathischen
Schmerzen jeglicher Art (belastungsabhängiger Schmerz, Skoliose durch Krankengymnastik und Orthesen. Orthopäde
Ruheschmerz, Rückenschmerz mit und/oder ohne radiku- 32:146–156
läre bzw. pseudoradikuläre Ausstrahlung, Beinschmerz).
Eine weitere Ursache für eine schmerzhafte Skoliose
vorwiegend in der Adoleszenz ist das Osteoidosteom
(. Abb. 43.5a–c) bzw. das Osteoblastom der Wirbelsäule
[5]. Es liegt vorwiegend im Pedikel der Wirbelsäule am
Apex der Skoliose [5]. Therapie der Wahl ist die Aus-
räumung bzw. Kürettage des Herds (7 Kap. 44, »Wirbel-
säulentumoren und metastasen«). Die Skoliose bildet sich
im Verlauf auch wieder zurück (. Abb. 43.5d–f)

Literatur

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Stuttgart
479 44

Wirbelsäulentumoren
und -metastasen
R.H. Richter, S. Richter, R. Forst

44.1 Epidemiologie – 480

44.2 Diagnostik – 480


44.2.1 Basisdiagnostik – 480
44.2.2 Röntgen – 480
44.2.3 Magnetresonanztomografie (MRT) – 480
44.2.4 Computertomografie (CT) – 481
44.2.5 Myelografie – 481
44.2.6 3-Phasen-Skelettszintigrafie mit SPECT-CT
und Positronenemissionstomografie – 481
44.2.7 Tumormarker und Diagnostik extraregionaler Organe – 482
44.2.8 Gewebediagnostik/Gewebebiopsie – 482
44.2.9 Onkologisches Staging – 482

44.3 Primäre Knochentumoren – 482


44.3.1 Osteoidosteom – 483
44.3.2 Osteoblastom – 483
44.3.3 Aneurysmatische Knochenzyste (AKZ) – 483
44.3.4 Riesenzelltumor – 484
44.3.5 Hämangiom – 484
44.3.6 Chordom – 485
44.3.7 Plasmozytom – 485

44.4 Sekundäre Knochentumoren (Skelettmetastasen) – 485

44.5 Therapie – 487


44.5.1 Konservative Therapie – 487
44.5.2 Operative Therapie – 488

44.6 Ergebnisse – 493

44.7 Komplikationen – 494

Literatur – 495

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_44, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
480 Kapitel 44 · Wirbelsäulentumoren und -metastasen

10 % aller primären Knochentumoren und 30 % aller Skelett- Lymphom, das Plasmozytom, das Ewing-Sarkom, das Os-
metastasen sind in der Wirbelsäule lokalisiert. Mammakarzi- teosarkom, das Osteochondrosarkom sowie Metastasen.
nom bei Frauen und Prostatakarzinom bei Männern haben Benigne Tumoren wie das Hämangiom und das eosinophi-
die größte Skelettmetastasierungstendenz. BWS und LWS le Granulom können ebenfalls im Wirbelkörper lokalisiert
sind die Hauptlokalisationsorte. Leitsymptom ist der sein. In den dorsalen Abschnitten (Wirbelbögen und Pedi-
Schmerz. Wirbelsäulenmetastasen bergen neben der Pro- kel) sind überwiegend die benignen Knochentumoren wie
blematik der Instabilität vor allem die Gefahr der irreversib- das Osteoblastom, das Osteoidosteom, die AKZ und das
len Schädigung des Rückenmarks sowie peripherer Nerven- Osteochondrom lokalisiert [5, 18] (. Abb. 44.1).
wurzeln. Eine ausführliche Anamnese und die klinische
Untersuchung werden durch eine radiologische Diagnostik
komplettiert. Diese beinhaltet MRT und CT der Wirbelsäule, 44.2 Diagnostik
ggf. Skelettszintigrafie sowie weitere bildgebende Verfahren,
je nach Primarius. Die Therapie von Wirbelsäulenmetastasen 44.2.1 Basisdiagnostik
sollte interdisziplinär erfolgen. Neben der operativen
Therapie stehen Chemotherapie und Radiotherapie zur Ver- Diese umfasst die sorgfältige Erhebung der Krankenge-
fügung. Die operative Behandlung (Indikation und Technik) schichte sowie die ausführliche klinische Untersuchung
ist abhängig von der Tumorart und Ausbreitung. Hierzu mit Erfassung des neurologischen Status. Der präoperative
wurden verschiedene Scores entwickelt. Aufgrund des neurologische Befund mit motorischem und sensiblem
zumeist palliativen Behandlungsregimes stehen Schmerz- Status sowie Blasen-/Mastdarmfunktion muss im Detail
reduktion und Stabilisierung mit daraus resultierender früh- erhoben und ggf. durch neurophysiologische Unter-
zeitiger Mobilisation der Patienten im Vordergrund. suchungen ergänzt werden.
Zur Klassifikation der neurologischen Defizite wird
die Frankel-Klassifikation verwendet (. Tab. 44.1) [18, 21]:
44.1 Epidemiologie

30 % aller Skelettmetastasen und 10 % aller primären 44.2.2 Röntgen


Knochentumoren sind in der Wirbelsäule lokalisiert. Über
die generelle Verteilung der Skelettmetastasen gibt es in Das konventionelle Röntgenbild in 2 Ebenen stellt nach
der Literatur verschiedene Angaben. Hauptlokalisations- wie vor eine wichtige Untersuchung im Rahmen der
orte sind neben der Wirbelsäule das Becken, proximaler Primärdiagnostik dar. Häufig finden sich bei exakter Be-
Humerus und proximales Femur, gefolgt von Tibia, trachtung tumorspezifische Veränderungen wie Osteoly-
Schädel, Rippen und Phalangen [5]. sen, besonders im Pedikel, eine sklerotische Umgebungsre-
Theoretisch können sich alle bekannten primären Kno- aktion sowie Deformierung bei Wirbelkörpersinterung [7].
chentumoren in der Wirbelsäule manifestieren. Haupt-
sächlich trifft dies für das Chordom, das Plasmozytom, die
aneurysmatische Knochenzyste (AKZ), das Osteoidos- 44.2.3 Magnetresonanztomografie (MRT)
teom, das Osteoblastom sowie für Hämangiome zu [5]. Vor
allem im ventralen Abschnitt der Wirbelsäule (Wirbelkör- Zur Diagnose und Einschätzung der Ausdehnung von
per) sind eher maligne Tumoren lokalisiert, wie z. B. das Wirbelsäulentumoren (primären Tumoren sowie Metasta-

ventral dorsal
Maligne Benigne
• Lymphom • Osteoblastom
• Plasmozytom • Osteoidosteom
• Ewing-Sarkom Querfortsatz • aneurysmatische Knochenzyste
• Osteosarkom • Osteochondrom
• Chondrosarkom
• Metastase

Ausnahmen
• Hämangiom
• eosinophiles Granulom
Wirbelkörper Bogen Dornfortsatz
44
. Abb. 44.1 Verteilung der verschiedenen Tumoren und tumorähnlichen Veränderungen im Wirbel nach Greenspan (Aus Greenspan [5] mit
freundl. Genehmigung)
44.2 · Diagnostik
481 44
> Mit Hilfe von CT und MRT kann vor allem im
. Tab. 44.1 Frankel-Klassifikation der neurologischen
Rahmen navigationsgestützter Operationen eine
Defizite
deutlich verbesserte Darstellung des Tumorgewe-
Frankel A Komplette Läsion (Paraplegie) bes sowie dessen Weichteilmanifestation und seiner
Lage zu den Gefäßen erreicht werden, was für den
Frankel B Erhaltene Sensibilität
Operateur intraoperativ eine große Hilfe ist [7].
Frankel C Erhaltene motorische Funktion ohne
praktischen Nutzen

Frankel D Erhaltene motorische Funktion mit der 44.2.5 Myelografie


Möglichkeit zum Gehen

Frankel E Keine neurologischen Defizite Nach Schaser et al. [18] hat die Myelografie durch den Ein-
satz der MRT an Bedeutung verloren. Bei bereits einliegen-
den eisenhaltigen Implantaten kann allerdings anstelle der
MRT mit der Myelografie eine Aussage über die Myelon-
sen) – speziell in Hinsicht auf Invasion in den Spinalkanal oder Wurzelkompression gewonnen werden.
sowie in das paraspinale Weichteilgewebe oder Verlegung
der Neuroforamina – ist die MRT mit Kontrastmittel die
Standarduntersuchung. Zum Screening der gesamten 44.2.6 3-Phasen-Skelettszintigrafie mit
Wirbelsäule und zum Ausschluss eines multisegmentalen SPECT-CT und Positronenemissions-
Befalls können Aufnahmen der gesamten Wirbelsäule er- tomografie
folgen [18]. Bei der MRT-Untersuchung können aufgrund
der Signalintensität und der Gestaltung der Weichteilma- Die systemische Diagnostik des gesamten Skeletts sollte
nifestation auch diagnostische Rückschlüsse auf die Art durch eine 3-Phasen-Skelettszintigrafie ergänzt werden.
des Tumors gezogen werden. Regionen mit erhöhtem Stoffwechselumsatz können in
einem zweiten Schritt mit einem MRT ergänzend unter-
sucht werden. Ausnahme ist hier das Plasmozytom, in
44.2.4 Computertomografie (CT) dessen Fall die Aussagekraft der Szintigrafie zweifelhaft
ist [18].
Das CT bietet mit seinen heutigen 2- und 3-D-Rekon- Die im Vergleich mit der Einzelphotonenemissions-
struktionsmöglichkeiten eine exzellente Einschätzung der tomografie (SPECT) teurere Positronenemissionstomo-
knöchernen Struktur und damit der Stabilität. Es ist somit grafie (PET) hat gegenüber der SPECT nach derzeitigem
für die prä- und intraoperative Planung unverzichtbar Stand der Technik eine bessere räumliche Auflösung. Des-
[18]. Es liefert eine exakte Darstellung der ossären De- halb ist sie bei Verwendung analoger Tracer im Regelfall
struktion, wobei auch die reaktiven Umbauprozesse in der sensitiver als die SPECT, was den Metastasennachweis be-
Umgebung und osteolytische Veränderungen sehr gut dar- trifft, wie bspw. in Vergleichsstudien zwischen F-18-Fluo-
gestellt werden können [7]. Im Rahmen der präoperativen rid-PET und Tc-99m-DPD-SPECT gezeigt werden konnte
Planung ist ein Dünnschicht-CT mit mehrdimensionaler [14]. Die diagnostische Genauigkeit der PET variiert aller-
Rekonstruktion zu fordern. Ein weiterer Vorteil der CT- dings in Abhängigkeit vom Tracer und der untersuchten
Untersuchung ist die Durchführung eines sog. Angio-CTs, Tumorentität (. Tab. 44.2) [14].
das vor allem im HWS-Bereich wichtig für die Beurteilung Bei eingeschränkter Verfügbarkeit und hohem Kosten-
einer Gefäßinvasion (A. vertebralis) ist. Ebenfalls hat das faktor ist die PET kein Teil der Standarddiagnostik zur
CT eine zentrale Bedeutung in der präoperativen Planung systemischen Tumorsuche. Die PET sollte bei speziellen
(z. B. am kraniozervikalen Übergang) zur Durchführung Fragestellungen und spezieller Primariussuche bei Vor-
einer navigationsgestützten Tumoroperation. liegen von Skelettmetastasen angewandt werden [18].

. Tab. 44.2 Aufnahme von F-18-Deoxyglukose in Abhängigkeit der Tumorart [14]

Hohe Aufnahme Mittlere Aufnahme Niedrige Aufnahme

Melanom, hochgradige Lymphome, Pankreaskarzinom, HNO- Gut differenzierte endokrine Karzinome, Prostatakarzinom,
kolorektale Karzinome, hochgradige Tumoren, gynäkologische Alveolarzellkarzinom, niedriggradige Lymphome, niedrig-
Astrozytome Tumoren gradige Astrozytome
482 Kapitel 44 · Wirbelsäulentumoren und -metastasen

. Tab. 44.3 Onkologisches Staging mittels Enneking-Systematik und Therapiemaßnahmen bei spinalen Tumoren [3]

Tumordignität Wachstumscharakteristik Morphologie Vorgehen

Benigne S1 (latent), kein Tumorwachstum Gut definierte Kapsel, wenig Symptome Konservativ/Beobachtung

S2 (aktiv), langsames Wachstum Dünne Kapsel mit reaktiver Pseudokapsel Intraläsionale Kürettage

S3 (aggressiv), schnelles Wachstum Dünne oder inkomplette Kapsel Marginale En-bloc-Resektion

Maligne IA (auf Wirbel beschränkt) Keine Kapsel, breite Pseudokapsel Erweiterte En-bloc-Resektion

IB (paravertebrale Ausbreitung) Keine Kapsel, breite Pseudokapsel Erweiterte En-bloc-Resektion

IIA (auf Wirbel beschränkt) Pseudokapsel mit Tumorinfiltraten, Tu- Weite En-bloc-Resektion,
IIB (paravertebrale Ausbreitung) morinseln isoliert von der Hauptmasse adjuvante Therapie

III (mit Metastasen) Nachweis von Metastasen Palliative Chirurgie und


adjuvante Therapie

44.2.7 Tumormarker und Diagnostik repräsentativem Gewebe gewonnen wird, ohne die Folge-
extraregionaler Organe therapie zu beeinträchtigen [7, 18]. Die Einhaltung von
Grundregeln der Biopsietechnik ist zwingende Vorausset-
Bei Skelettmetastasen mit unbekanntem Primärtumor ist zung für deren Durchführung [18]. Die Biopsie wird meist
eine extraregionale Diagnostik notwendig. Hier wird die CT-gesteuert und transpedikulär durchgeführt. Bei falsch-
Untersuchung tumorrelevanter Organe (Mamma, Lunge, negativer CT-gesteuerter Biopsie oder bei Gewinnung von
Schilddrüse, Prostata, Niere) durchgeführt. Des Weiteren zu wenig Material sollte eine offene, ggf. transpedikuläre
werden die primären Manifestationsorte von Metastasen Biopsie erfolgen [18].
untersucht. Dies sind vor allem Lunge, Leber und Neben- > Harms u. Melcher [7] warnen davor, »negativen«
nieren. Die Umfelddiagnostik beinhaltet zudem die Biopsieergebnissen zu stark zu vertrauen.
Durchführung eines Thorax- und Abdomen-CTs inklusive
des kleinen Beckens. Zur näheren Organuntersuchung
stehen Mammografie, Abdomen- und Nephrosonografie,
Sonografie bzw. Szintigrafie der Schilddrüse und die En- 44.2.9 Onkologisches Staging
doskopie des Gastrointestinaltrakts zur Verfügung. Bei
vorliegendem Verdacht können ergänzend entsprechende Liegt ein primärer Knochentumor vor, ist ein onkologi-
Tumormarker bestimmt und Laboruntersuchungen (z. B. sches Staging durchzuführen. Dazu bietet sich das Enne-
Schilddrüsenhormone, Leberwerte, alkalische Phosphata- king-System (. Tab. 44.3) an, das zwar ursprünglich für
se, LDH, Gerinnung) durchgeführt werden [18]. Knochentumoren der Extremitäten entwickelt wurde,
Bei Verdacht auf ein Osteoidosteom kann ein »Aspirin- inzwischen aber auch für Tumoren der Wirbelsäule erfolg-
test« durchgeführt werden. reich eingesetzt wird [3].

44.2.8 Gewebediagnostik/Gewebebiopsie 44.3 Primäre Knochentumoren

Bei unklaren, aber tumorsuspekten Gewebeveränderun- Bei den primären Knochentumoren sieht man maligne
gen gilt es heute als Standard, nach der Bildgebung präope- Veränderungen vorwiegend im Wirbelkörper, während
rativ eine Gewebeprobe zu entnehmen, um eine möglichst benigne Veränderungen in den hinteren Elementen
sichere präoperative Ausgangsdiagnose zu haben. Nach (Neuralbogen) vorherrschen [5] (. Abb. 44.1. Häufigster
Harms et al. [7] liegt jedoch die Fehlerquote einer Probe- primärer maligner Knochentumor der Wirbelsäule ist das
biopsie an der Wirbelsäule sehr hoch. Ein falsch-negatives Plasmozytom, bei den benignen Knochentumoren stehen
Ergebnis wird in der Literatur zwischen 7 und 24 % an- das Hämangiom (im Wirbelkörper!) und das Osteochon-
gegeben [7]. Des Weiteren besteht die Gefahr der Ver- drom im Vordergrund [5].
schleppung von Tumorzellen bei Vorliegen eines malignen
44 Prozesses. Daher ist im Rahmen der Biopsie zu fordern,
dass eine qualitativ und quantitativ ausreichende Menge an
44.3 · Primäre Knochentumoren
483 44

a b c

. Abb. 44.2a–c C-förmige Skoliose bei Osteoidosteom der Bogenwurzel Th8 links

44.3.1 Osteoidosteom samten Skelett dar. Neben dem Vorkommen in langen


Röhrenknochen ist vor allem die Wirbelsäule (28 %)
Wichtigstes klinisches Zeichen ist der Schmerz, der nachts Hauptmanifestationsort [5, 11]. Histologisch ähnelt es
zunimmt und innerhalb von 20 bis 25 min auf Gabe von dem Osteoidosteom, ist aber vor allem durch seine größe-
Acetylsalicylsäure anspricht (positiver »Aspirintest«). re Abmessung (Durchmesser über 1,5 cm) charakterisiert.
Diese typische Anamnese lässt sich bei 75 % der Patienten Die Altersverteilung ähnelt ebenfalls derjenigen des Osteo-
in Erfahrung bringen und dient dann als wichtiger Schlüs- idosteoms. Hinsichtlich des klinischen Bilds unterscheidet
sel zur Diagnose. Das Osteoidosteom kommt vor allem bei sich das Osteoblastom vom Osteoidosteom. Einige Patien-
jungen Menschen (Altersgipfel 10–35 Jahre) vor. Prädilek- ten sind symptomfrei und ein etwaiger Schmerz spricht
tionsstellen sind neben langen Röhrenknochen auch die nicht so rasch auf Acetylsalicylsäure an. Während das
dorsalen Partien der Wirbelsäule (. Abb. 44.2a–c). Nativ- Osteoidosteom zur Spontanremission neigt, sind beim
radiologisch zeigt sich in 60–70 % der Fälle eine begleiten- Osteoblastom eher Progression und maligne Entartung zu
de, schmerzbedingte Skoliose. Das Osteoidosteom ist ein erwarten [5]. Konventionelle Röntgenaufnahmen, CT und
gutartiger osteoblastischer Tumor, der durch einen Nidus MRT stehen im Vordergrund der bildgebenden Diagnos-
gekennzeichnet ist, der strahlentransparent sein oder tik. Die histologische Unterscheidung zwischen Osteoi-
einen sklerotischen Rand haben kann. Das Osteoidosteom dosteom und Osteoblastom kann sehr schwierig sein, da
hat einen Durchmesser von weniger als 1 cm. In der kon- beide Osteoid bildend sind. Therapie der Wahl ist vor
ventionellen Röntgenaufnahme kann diese Läsion nicht allem auch aufgrund eines möglicherweise expansiven
immer dargestellt werden. Meist ist ein CT erforderlich, Wachstums mit Frakturgefahr und Ausbildung von neuro-
um den Nidus nachzuweisen sowie seine exakte Lage im logischen Komplikationen die En-bloc-Resektion [5,11].
Knochen zu bestimmen [5]. Als minimal-invasive Be-
handlungsformen stehen heute neben der CT-gesteuerten
Nidusbohrung die CT-gesteuerte Alkoholinjektion sowie 44.3.3 Aneurysmatische Knochenzyste (AKZ)
die Thermoablation an erster Stelle [11]. Die minimal-in-
vasive, intraläsionale Therapie hat die offene Operation Bei 6 % aller primären Knochentumoren handelt es sich
heute weitgehend als Therapie der Wahl abgelöst [4]. um eine AKZ im gesamten Skelett. Vorzugsweise ist die
Lokalisation in den Metaphysen der langen Röhren-
knochen, sie kann aber auch in flachen Knochen wie
44.3.2 Osteoblastom Becken und Scapula sowie in den Wirbeln (ca. 20 %) auf-
treten. Diese Läsion kann de novo in einem Knochen ent-
Das Osteoblastom stellt etwa 1 % aller primären Knochen- stehen (primäre AKZ) oder auch mit anderen benignen
tumoren und 3 % aller benignen Knochentumoren im ge- (z. B. Riesenzelltumor, Osteoblastom, Chondroblastom)
484 Kapitel 44 · Wirbelsäulentumoren und -metastasen

a b c

. Abb. 44.3a–c Riesenzelltumor im 2. Brustwirbelkörper mit deutlicher Weichteilausdehnung und Bedrängung des Myelons

und malignen Läsionen (z. B. Chondrosarkom) einherge- Entartung [11]. Riesenzelltumoren werden als semimalig-
hen (sekundäre AKZ) [5, 11]. Die AKZ wird vorwiegend ne bezeichnet, da trotz histologisch gutartiger Befundung
bei Kindern diagnostiziert. Klinische Zeichen sind in 1–2 % der Fälle Lungenmetastasen gefunden wurden
Schmerz und harte Schwellungen sowie eine pathologische [11]. Klinisch stehen der Schmerz und die Schwellung
Fraktur. Im Bereich der Wirbelsäule können durch eine sowie die Bewegungseinschränkung im Vordergrund.
pathologische Fraktur auch Kompressionssyndrome mit Radiologisch präsentiert sich das Osteoklastom typischer-
neurologischen Ausfällen entstehen. In der Röntgenunter- weise als eine osteolytisch, exzentrisch gelegene Läsion
suchung weist die AKZ eine multizystische, exzentrisch ohne Randsklerose. Des Weiteren weist es eine Periost-
expandierende Läsion (Blow-out) des Knochens mit einer reaktion auf. Als Differenzialdiagnose ist die AKZ zu
muschelartigen Periostreaktion auf. Als weiteres Charak- nennen. Therapeutisch ist nach einfacher Kürettage eine
teristikum bildet die AKZ Septen aus. Mittels CT und MRT Rezidivquote über 50 % beschrieben [11]. Je nach Lokali-
zeigt sich – bedingt durch Sedimentierungsvorgänge des sation und Ausmaß des Riesenzelltumors ist ein aggres-
Zysteninhalts innerhalb der Septen – eine klare Trennlinie sives Verfahren mit En-bloc-Resektion im gesunden Ge-
mit dem Bild der »Flüssigkeit über der Flüssigkeit« [5]. webe anzustreben. Eine präoperative Biopsie zur Diagno-
Nach primärer, bioptischer Diagnosesicherung ist die ope- sesicherung ist ebenso wie bei der AKZ zu fordern. Auch
rative Therapie mit intraläsionaler Resektion die primäre eine präoperative Embolisation ist sinnvoll. Eine konse-
Behandlungsform. Aufgrund der guten Durchblutung der quente Nachbeobachtung von ca. 10 Jahren ist einzuhalten,
AKZ sollte präoperativ eine Embolisation durchgeführt da postoperativ auch Lokalrezidive oder pulmonale Meta-
werden. Operativ schlecht zugängliche Läsionen sind zum stasen auftreten können [11].
Teil durch wiederholte Embolisationen erfolgreich thera- > Eine exakte radiologische Differenzierung zwischen
pierbar. Die Rezidivquote bei der Kürettage liegt jedoch bei der AKZ und dem Riesenzelltumor ist sehr schwierig
20–40 % [11]. und nicht immer eindeutig.

44.3.4 Riesenzelltumor
44.3.5 Hämangiom
Der Riesenzelltumor ist auch unter dem Namen Osteoklas-
tom bekannt und hat einen Anteil von ca. 5–8 % an allen Das Hämangiom ist eine gutartige Veränderung des
primären Knochentumoren. Hauptmanifestationsorte Knochens, die aus neu gebildeten Blutgefäßen besteht. Es
sind proximale Tibia, distales Femur, distaler Radius handelt sich dabei eher um eine angeborene Gefäßmissbil-
und proximaler Humerus. Aber auch die Wirbelsäule dung als um einen Tumor. Es stellt etwa 2 % aller benignen
(. Abb. 44.3a–c) und hier vor allem das Sakrum können Läsionen des Skelettsystems dar. Einer der Hauptmanifes-
betroffen sein. Altersgipfel ist zwischen 20 und 40 Jahren tationsorte ist die Wirbelsäule, vor allem die Brustwirbel-
[5]. Histologisch zeigt sich ein stark vaskularisiertes, spin- säule. Typischerweise ist der Wirbelkörper befallen,
44 delzelliges Stroma mit zahlreichen, gleichmäßig verteilten manchmal sind auch mehrere Wirbel befallen. Die meisten
osteoklastären Riesenzellen mit der Potenz zur malignen Wirbelhämangiome sind symptomlose Zufallsbefunde. Zu
44.4 · Sekundäre Knochentumoren (Skelettmetastasen)
485 44
Symptomen kommt es, wenn das Hämangiom im betrof- Myeloms wird die Bogenwurzel, die nicht so viel rotes
fenen Wirbel infolge einer epiduralen Ausbreitung nervale Knochenmark enthält, wie der Wirbelkörper verschont,
Strukturen komprimiert. Die Häufigkeitsverteilung liegt wohingegen bei Wirbelmetastasen schon im Frühstadium
im mittleren Alter. Radiologisch kennzeichnend für das Bogenwurzel und Wirbelkörper befallen sind. Im späteren
Wirbelkörperhämangion ist der Nachweis einer groben Stadium ist dieses Zeichen jedoch nicht mehr anwendbar.
Vertikalstreifung [5]. Asymptomatische Hämangiome er- Hier ist dann die 3-Phasen-Skelettszintigrafie differen-
fordern keine Therapie; symptomatische Hämangiome zialdiagnostisch hilfreich. Bei Karzinommetastasen ist die
können bestrahlt oder mittels Spondylodese versorgt wer- Szintigrafie unweigerlich positiv, während die meisten
den. Je nach Alter des Patienten kann auch eine Kyphoplas- multiplen Myelome das Radionuklid nicht vermehrt ein-
tie/Vertebroplastie durchgeführt werden. speichern [5]. Als häufigste Komplikation ist die patholo-
gische Fraktur zu sehen. Die Behandlung besteht überwie-
gend aus einer kombinierten Strahlen- und Chemothera-
44.3.6 Chordom pie. Einzelne frakturierte Wirbelkörper können auch ope-
rativ mittels Kyphoplastie versorgt werden.
Das Chordom ist ein maligner Knochentumor mit Osteochondrome, Osteosarkome, Ewing-Sarkome und
Ursprung aus Entwicklungsresten der Chorda dorsalis. Chondrosarkome können ebenfalls in der Wirbelsäule
Chordome haben einen Anteil von 1–4 % an allen primär lokalisiert sein. Da dies jedoch seltene Befunde sind, wird
malignen Knochentumoren. Sie treten zwischen dem in diesem Rahmen nicht näher darauf eingegangen.
4. und dem 7. Lebensjahrzehnt auf. Die 3 häufigsten Orte
des Chordoms sind die Kreuzbein-Steißbein-Region, der
2. Halswirbel und die Sphenookzipitalgegend [5]. Radiolo- 44.4 Sekundäre Knochentumoren
gisch zeigt sich ein hochgradig destruierender Prozess. (Skelettmetastasen)
Aufgrund des Tumoreinbruchs in den Spinalkanal kann es
zu neurologischen Komplikationen kommen. Metastasen Skelettmetastasen sind Zeichen des fortgeschrittenen
sind selten. Die Behandlung des Chordoms besteht in der Stadiums einer malignen Grunderkrankung. Nach Lunge
vollständigen Resektion (bei Wirbelkörperbefall: 360° und Leber ist das Skelett das dritthäufigste Organsystem,
Resektion mit Wirbelkörperersatz und dorsoventraler das von Metastasen befallen ist [16].
Stabilisierung) sowie anschließender Strahlentherapie [5]. Im Gegensatz zu Läsionen des übrigen Knochen-
gerüsts bergen Wirbelsäulenmetastasen neben der Proble-
matik der Instabilität vor allem die Gefahr der irreversiblen
44.3.7 Plasmozytom Schädigung des Rückenmarks und der myelomnahen
peripheren Nervenwurzeln.
Das Plasmozytom, auch multiples Myelon oder Morbus Leitsymptom ist der Schmerz, der Altersgipfel liegt
Kahler genannt, ist ein Tumor mit Ursprung im Knochen- zwischen dem 60. und dem 75. Lebensjahr [16]. Männliche
mark. Es handelt sich um den häufigsten malignen Primär- Patienten weisen Wirbelsäulenmetastasen mit 60 % häufi-
tumor des Knochens. Der Altersgipfel liegt zwischen dem ger auf als Frauen [18]. Die Verteilung der Wirbelsäulen-
5. und dem 7. Lebensjahrzehnt. Männer sind deutlich häu- metastasen wird in der Literatur unterschiedlich ange-
figer betroffen als Frauen [5]. Die am häufigsten befallenen geben:
Skelettregionen sind das Achsenskelett, der Schädel, die 4 Lendenwirbelsäule 52 % [16] bzw. 20 % [18],
Wirbelsäule und das Becken. Leitsymptom ist der Schmerz, 4 Brustwirbelsäule 36 % [16] bzw. 70 % [18],
der durch körperliche Aktivität verschlimmert wird. Selten 4 Halswirbelsäule 12 % [16] bzw. 10 % [18].
ist auch eine pathologische Fraktur Erstsymptom. Der Urin
kann bei Myelompatienten das Bence-Jones-Protein ent- Ein initial multilokuläres Auftreten wird in 20–40 % be-
halten. In der Elektrophorese zeigt sich ein monoklonales schrieben [18]. Das Prostatakarzinom bei Männern zeigt
Gammaglobulin mit IgG- und IgA-Peaks [5]. Das multiple mit einer Wahrscheinlichkeit von 60 % [16] bis 90 % [18]
Myelom kann eine ganze Reihe radiologischer Bildmuster das Auftreten von Skelettmetastasen an, während bei
bieten. Besonders an der Wirbelsäule kann es nur als diffu- Frauen das Mammakarzinom mit ca. 70 % [16,18] zu
se Osteoporose ohne erkennbare Läsion imponieren, es Skelettmetastasen neigt. Des Weiteren treten Skelett-
können jedoch auch zahlreiche Wirbelkörperkompres- metastasen vor allem bei malignen Melanomen (55 %),
sionsfrakturen vorliegen [5]. Als wichtigste Differenzialdi- Bronchialkarzinomen (45 %) und Hypernephromen (30 %)
agnose muss das multiple Myelom von Skelettmetastasen sowie Schilddrüsenkarzinomen auf. Malignome des Gas-
abgegrenzt werden. Dabei kann das sog. Bogenwurzel- trointestinaltrakts sind als Ursache von Skelettmetastasen
zeichen hilfreich sein [5]. Im Frühstadium des multiplen eher selten.
486 Kapitel 44 · Wirbelsäulentumoren und -metastasen

a b c d

. Abb. 44.4a–d Osteoblastische Metastase des 3. Lendenwirbelkörpers bei Mammakarzinom

> Schmerz ist das Leitsymptom bei Skelettmetastasen.


. Tab. 44.4 Klassifikation von Wirbelsäulenmetastasen nach
Das Prostatakarzinom bei Männern und das Harrington [8]
Mammakarzinom bei Frauen weisen die höchste
Wahrscheinlichkeit einer Skelettmetastasierung auf. I Keine signifikante neurologische Beteiligung

II Knochenbeteiligung ohne Kollaps oder Instabilität


Generell werden Knochenmetastasen in osteolytische
III Neurologische Defizite ohne knöcherne Beteiligung
(überwiegend Nieren-, Mamma- und Schilddrüsenkarzi- des Wirbelkörpers
nome), osteoblastische (überwiegend Prostatakarzinom,
IV Wirbelkörperkollaps oder Instabilität ohne neuro-
Nebenniere-, Mamma- und Bronchialkarzinom)
logische Defizite
(. Abb. 44.4a–d) und gemischtförmige Metastasen (über-
wiegend Mammakarzinom) [16] unterschieden. V Wirbelkörperkollaps oder Instabilität mit schweren
neurologischen Defiziten
Die knöchernen Anteile der Wirbelsäule sind in mehr
als zwei Dritteln der Fälle von den metastatischen Läsionen
betroffen. Häufigste Lokalisation ist hier der Übergang
zwischen Pedikel und Wirbelkörper. Ein Drittel entfällt auf
die paravertebralen Strukturen und den Epiduralraum Myelonkompression [18]. Sensible Defizite treten in
[18]. 70–80 %, Paraparesen oder Paraplegien in 60 % und De-
Nach ihrer Lokalisation werden extradurale sowie fäkations- und Miktionsstörungen in 14–77 % der symp-
intradurale (extramedulläre und intramedulläre) Läsionen tomatischen Fälle auf [18]. Hierbei variiert die Häufigkeit
unterschieden. Die Dura mater stellt ein relatives Hinder- des Auftretens eines neurologischen Defizits mit dem zu-
nis für Tumorzellen dar, woraus geschlussfolgert wird, dass grunde liegenden Primarius. Die Überlebenszeit nach dem
98 % der Metastasen extradural lokalisiert sind [18]. Bei Auftreten von Wirbelsäulenmetastasen hängt ebenfalls
den intraduralen (extra- und intramedullären) Läsionen stark vom Primärtumor ab. So weisen nach Auftreten der
handelt es sich in der Regel um Abtropfmetastasen primä- Skelettmetastasen Patientinnen mit Mammakarzinom
rer und sekundärer Tumoren des Zerebrums [18]. eine mittlere Überlebenszeit von 16 Monaten auf, gefolgt
Die Ausbildung von Wirbelsäulenmetastasen wird von Prostatakarzinompatienten mit 9,5 Monaten [16]. Die
durch eine verlängerte Verweildauer des Bluts in den spon- entsprechend mittlere Überlebenszeit nach Auftreten von
giösen Räumen der Wirbelkörper sowie durch den zum Skelettmetastasen beim Bronchialkarzinom ist dagegen
Teil retrograden Fluss in den klappenfreien extraduralen mit 3,2 Monaten sehr gering [16].
Venensystemen begünstigt [18]. Seltener Absiedlungsweg Zur Klassifikation einer Wirbelsäulenmetastase findet
ist die arterielle, embolische Einschwemmung mit Verbrei- das von Harrington [8] eingeführte Schema weite Ver-
tung durch das kortikale Gefäßsystem [18]. Etwa 10–20 % breitung, das die knöchernen Destruktionen und vorlie-
44 der Patienten mit spinalen Metastasen entwickeln eine gende sensomotorische Defizite berücksichtigt (. Tab. 44.4)
symptomatische (neurologisches Defizit!) epidurale [8, 18]:
44.5 · Therapie
487 44
44.5 Therapie erwartenden Funktionsausfällen indiziert. Wann und wie
die Strahlentherapie eingesetzt wird, ist vom jeweiligen
Die Therapie von Wirbelsäulenmetastasen (sowie auch Therapieziel (Schmerzlinderung, lokale Tumorkontrolle,
von zu operierenden primären Knochentumoren) sollte ossäre Stabilisierung, Prävention oder Rückbildung neuro-
interdisziplinär erfolgen und wird idealerweise in einer logischer Ausfälle) abhängig und sollte individuell in enger
gemeinsamen Tumorkonferenz festgelegt. Als wesentliche interdisziplinärer Zusammenarbeit festgelegt werden.
therapeutische Bausteine kommen chirurgische Resektion, Dosierung und Fraktionierung werden von der Lebenser-
Strahlen- und Chemotherapie in Betracht. Alle 3 Behand- wartung des Patienten und der Lage und Ausdehnung der
lungsstrategien können prinzipiell kurativer oder palliati- Metastase bestimmt [16].
ver Natur sein [16]. Ist eine operative Therapie an der Wirbelsäule geplant,
> Eine interdisziplinäre Behandlung ist bei Vorliegen
sollte die Radiatio nicht präoperativ erfolgen. Es zeigt sich
von Skelettmetastasen dringend anzustreben, um
eine signifikante Zunahme an postoperativen Wundkom-
den bestmöglichen Therapieerfolg zu erreichen.
plikationen im Sinne von Infekten, protrahierten Ver-
läufen und Revisionsraten (32 % nach präoperativer
Radiatio vs. 12 % nach initialer Operation), eine deutliche
Reduktion der postoperativen Gehfähigkeit sowie der
44.5.1 Konservative Therapie funktionellen Ergebnisse im Frankel-Score. Wann immer
medizinisch möglich, sollte eine Radiatio postoperativ
Kortikosteroide und Bisphosphonate durchgeführt werden [18]. Es besteht weiterhin in der
Obgleich in experimentellen Untersuchungen eine steroid- Literatur ein Konsens darüber, dass eine präoperative
induzierte Abnahme des peritumoralen vasogenen Ödems Radiatio nur in ausgewählten Fällen nach interdisziplinä-
im Spinalmark und in den Nervenwurzeln nachgewiesen rer Diskussion unter Hinzuziehung eines Wirbelsäulen-
werden konnte, sind die klinischen Prinzipien bislang un- chirurgen durchzuführen sei. Für diesen Fall zählen allein
klar [18]. Steroide können jedoch zur Verbesserung der oder in Kombination folgende Indikationen [18]:
neurologischen Befundsituation beitragen. In randomisiert 4 radiosensitiver Tumor,
prospektiven Untersuchungen mit Hochdosis-Dexametha- 4 kompletter sensomotorischer Querschnitt
son-Therapie konnte eine um knapp 20 % erhöhte Rate an (Paraplegie) länger als 36–48 h,
Remobilisierung im Vergleich zu isolierter Radiatio nach- 4 absehbare Lebenserwartung des Patienten kürzer als
gewiesen werden [18]. Gleichzeitig fand sich jedoch eine 3–4 Monate und/oder schlechter Allgemeinzustand
um 11 % erhöhte Rate an gastrointestinalen oder infektbe- des Patienten (Komorbiditäten), der eine operative
dingten Komplikationen nach Steroidapplikation [18]. Zur Intervention verbietet,
Dosierung gibt es keine einheitlichen Empfehlungen. 4 multisegmentale, metastatische Destruktion der
Aufgrund einer Hemmung der osteoklasteninduzier- Wirbelsäule ohne die Möglichkeit einer suffizienten
ten Absorption des Knochens werden Bisphosphonate zu- chirurgischen Dekompression und Stabilisierung der
nehmend bei ossärer Metastasierung eingesetzt. Ihnen betroffenen Wirbelsäulenabschnitte,
wird sowohl eine Reduktion der knochenmetastasenbe- 4 aktuell und absehbar keine spinale Instabilität,
dingten Schmerzen als auch eine Verringerung des patho- d. h. Vorliegen von Metastasen, die auch bei gutem
logischen Frakturrisikos zugeschrieben [18]. Ansprechen auf die Bestrahlung zu keiner Kompro-
mittierung der Wirbelsäulenstabilität und zu keiner
Strahlentherapie Myelonkompression führt.
Der Einsatz der konventionellen Strahlentherapie bei ma- > Eine Studie von Patchell et al. [15] zeigte, dass bei
lignen Wirbelsäulenläsionen ist durch die Notwendigkeit, der Behandlung von Wirbelsäulenmetastasen eine
auch tumorangrenzende Strukturen wie das Myelon, Ner- operative Therapie in Kombination mit Radio-
venwurzeln oder Ösophagus in das Hochdosisstrahlenfeld therapie einer alleinigen Radiotherapie weit über-
einzubeziehen, sehr begrenzt. Dennoch spielt die Radio- legen ist.
therapie eine wichtige Rolle in der Behandlung von Wir-
belsäulenmetastasen [18]. Insbesondere bei der Therapie
von Metastasen strahlensensibler Primärtumoren wie Chemotherapie
Lymphomen, Prostata- oder Keimzelltumoren ist die Bei Patienten mit Knochenmetastasen eines Mamma-
Bestrahlung integraler Bestandteil des multidisziplinären karzinoms ist es in den letzten Jahren zu einer deutlich
Behandlungskonzepts. verbesserten 12-Jahres-Überlebenszeit aufgrund der
Die alleinige Strahlentherapie ist als palliative Behand- Weiterentwicklung der systemischen Therapiemöglichkei-
lung vor allem bei Schmerzen oder auch bei kurzfristig zu ten gekommen. Wegen der möglichen Hormontherapie
488 Kapitel 44 · Wirbelsäulentumoren und -metastasen

. Tab. 44.5 Evaluationssystem nach Tokuhashi zur Prognose . Tab. 44.6 Behandlungskonsequenzen aus dem
und Therapieentscheidung [19] Evaluationssystem nach Tokuhashi [19]

Charakteristika Punkte Punkte Behandlung

Allgemeinzu- Schlecht 0 ≥9 Kurative Tumorresektion (dorsoventral)


stand
Mäßig 1 5–9 Dorsoventral oder alleinige dorsale Stabilisierung

Gut 2 <5 Palliative dorsale Stabilisierung

Anzahl extraspi- ≥3 0
naler Knochen-
1–2 1
metastasen
0 2 Es besteht in der Literatur aus chirurgischer Sicht Kon-
sens darüber, dass offene chirurgische (nicht perkutane)
Anzahl der ≥3 0
Metastasen in
Therapiemaßnahmen nur bei Patienten mit einer Lebens-
1–2 1 erwartung von (über) 3 Monaten vertretbar sind [18]. Die
der Wirbelsäule
0 2 begleitende Morbidität und mögliche negative Auswirkun-
gen durch jeglichen chirurgischen Eingriff, einschließlich
Organmetasta- Nicht entfernbar 0
sen Narkoserisiko, auf das ohnehin schon reduzierte Überle-
Entfernbar 1 ben des Patienten müssen jeweils berücksichtigt werden.
Keine Metastasen 2 Dies beinhaltet eine individuelle Einschätzung des Stadi-
Lokalisation des Lunge, Magen 0 ums und der Biologie der zugrunde liegenden Tumorer-
Primärtumors krankung, des Ausmaßes extraspinaler Tumorlasten, des
Niere, Leber, Uterus 1
Potenzials der durch den Eingriff zu erwartenden Lebens-
Schilddrüse, Prostata, Mam- 2 qualitätsverbesserung sowie die Berücksichtigung assozi-
ma, Rektum ierter Zusatzerkrankungen und des Gesamtzustands des
Neurologische Komplett (Frankel A oder B) 0 Patienten [18].
Störung Mehrere Autoren haben versucht, die Komplexität die-
Inkomplett (Frankel C oder D) 1
ser Entscheidungen durch Erstellung und Anwendung
Keine (Frankel E) 2
verschiedener Scores zu erleichtern, die unterschiedliche
Gesamt Maximum 12 patienten- und tumorspezifische Faktoren berücksich-
tigen. Im Wesentlichen handelt es sich um 3 Scores.
Tokuhashi et al. [19] etablierte ein Evaluationssystem, das
spielt auch der Hormonrezeptorstatus des Gewebes eine insgesamt 6 Parameter berücksichtigt, unter denen die zu-
entscheidende Rolle. Bei Prostatakarzinommetastasen grunde liegende Tumorbiologie das Hauptgewicht hat
besteht die dringende therapeutische Maßnahme in einer (. Tab. 44.5; . Tab. 44.6).
Androgensuppression. Allerdings zeigen die meisten Pa- Tomita et al. [20] haben ein Scoringsystem vorgeschla-
tienten nach 2–3 Jahren eine Resistenz gegen die Anti- gen, das ebenfalls als Orientierung für die Wahl des chi-
androgenetherapie, sodass im weiteren Verlauf eine Che- rurgischen Verfahrens dienen soll. Als Grundlage dienen
motherapie indiziert ist [16]. 3 prognostisch relevante Faktoren: Malignitätsgrad (lang-
sam wachsend: 1 Punkt, moderat wachsend: 2 Punkte,
schnell wachsend: 4 Punkte), viszerale Metastasenmani-
44.5.2 Operative Therapie festation (keine: 0 Punkte, behandelbar: 2 Punkte, nicht
behandelbar: 4 Punkte) und Vorhandensein skeletaler
Indikationen und Scores Metastasen einschließlich der Wirbelsäule (solitär: 1 Punkt,
Patienten mit Wirbelsäulenmetastasen haben in der Regel multipel: 2 Punkte). Anhand dieser Faktoren werden
eine begrenzte Lebenserwartung. Ausnahmen sind Patien- Punkte vergeben. Die Summe dieser Punkte ergibt einen
ten mit solitären Läsionen biologisch günstiger Primärtu- prognostischen Score zwischen 2 und 10, auf dessen Basis
morentitäten. dann entsprechend der zu erwartenden Überlebenszeit
Daher ist neben der Akutbehandlung starker Schmer- verschiedene Therapieziele definiert und damit unter-
zen und des frischen sensomotorischen Querschnittsyn- schiedliche chirurgische Handlungsverfahren favorisiert
droms die präoperative Beurteilung der Gesamtprognose werden (. Tab. 44.7; . Tab. 44.8).
44 und der Lebenserwartung die alles entscheidende Determi- Für Primärtumoren der Wirbelsäule hat sich nach
nante für das weitere onkochirurgische Management [18]. Harms u. Melcher [7] die Weinstein-Boriani-Klassifika-
44.5 · Therapie
489 44

. Tab. 44.7 Tumorscore nach Tomita zur Prognose und . Tab. 44.8 Therapiezielabhängige Behandlungskon-
Therapieentscheidung [20] sequenzen aus dem Tumorscore nach Tomita [20]

Punkte Prognose Faktoren Score Therapieziel Chirurgisches Vorgehen

Primärtumor Viszerale Knochen- 2–3 Längerfristige Weite oder marginale Ent-


Metastasen metastasen lokale Kontrolle fernung der Metastasen

1 Langsam wachsend – Solitär 4–5 Mittelfristige Weite oder intraläsionale


lokale Kontrolle Entfernung der Metastasen
2 Moderat wachsend Behandel- Multipel
bar 6–7 Kurzfristig palliativ Palliative Operation

4 Schnell wachsend Nicht be- – 8–10 Terminale Unterstützende Therapie


handelbar Versorgung

Rechts Links
Extraossär – paravertebral

12 Intraossär – oberflächlich
1
Dornfortsatz
11 2

10 Facies articularis anterior


Extraossär – extradural 3
Querfortsatz

Intraossär – tief
Extraossär – intradural
Pediculum
9
4

Weichteilgewebe
8 5
Wirbelkörper
7 6

. Abb. 44.5 Chirurgisches WBB-Staging-System (WBB: Weinstein, Boriani u. Biagini), das die Tumorausdehnung automatisch nach Zonen
und Schichten beschreibt. (Aus Halm et al. [6])

tion [1] durchgesetzt, die neben dem Befall des Wirbelkör- Auch ist es bei Erreichen der Operationsziele möglich,
pers auch die Weichteilmanifestation erfasst (. Abb. 44.5). präoperativ hospitalisierte Patienten in eine ambulante Be-
Kostuik et al. [13] entwickelten ein Schema zur Beur- handlung zu überführen [7,10]. Der Operateur muss das
teilung der Stabilität eines Wirbelkörpers. Der Wirbelkör- Ausmaß der Metastasierung sowohl im Hinblick auf den
per wurde in 6 Säulen aufgeteilt. Sind weniger als 3 Säulen Wirbelsäulenabschnitt als auch bezüglich der Lokalisation
befallen, ist eine weitgehende Stabilität anzunehmen, sind im Wirbelkörper (Wirbelkörper, Pedikel, Lamina) und die
3–4 Säulen betroffen, ist von einer Instabilität auszugehen, Ausdehnung in den Spinalkanal in seine OP-Planung ein-
bei 5–6 Säulen liegt eine hochgradige Instabilität vor beziehen [10]. Eine ggf. erforderliche Rekonstruktion von
(. Abb. 44.6). Wirbelsäulensegmenten muss ebenfalls in die präoperative
Planung einfließen [10]. Oftmals ist die chirurgische
> Operationsziele sind die Schmerzbeseitigung bzw. Behandlung die einzige Möglichkeit, die schmerzarme
Schmerzlinderung, die Verbesserung oder Ver- Mobilisation und Pflege des Patienten (ohne lebenslange
meidung von neurologischen Ausfallserscheinungen Orthesen- bzw. Korsettbehandlung) und damit eine zu-
sowie die bestmögliche Wiederherstellung der friedenstellende Lebensqualitätsverbesserung zu erreichen
Stabilität und Form des betroffenen Wirbelsäulen- [18]. Insgesamt ist jedoch die Indikationseinschätzung für
abschnitts [7]. Nur wenn man diese 3 Operations- operative Maßnahmen durch Scores zu relativieren, da sie
ziele erreicht, gelingt es, den Allgemeinzustand des nur Anhaltspunkte geben kann [16]. Die Indikations-
Patienten und damit seine Lebensqualität ent- stellung muss immer differenziert, individuell und inter-
scheidend zu verbessern [7]. disziplinär erfolgen [16].
490 Kapitel 44 · Wirbelsäulentumoren und -metastasen

5 Lebenserwartung <3 Monate


5 Multisegmentaler Befall der Wirbelsäule
5 Schlechter Allgemeinzustand bzw. extreme
AL AR Komorbidität des Patienten

ML MR Präoperative Embolisierung
Die Möglichkeit der präoperativen Embolisation hyper-
vaskularisierter Tumormetastasen (insbesondere bei Nie-
renzell- und Schilddrüsenkarzinomen) ist definitiv zu be-
PL PR rücksichtigen [7, 10, 18]. Die Embolisation zuführender
Arterien kann als adjuvante Therapieoption eine Reduk-
tion von Tumorgröße und Ausdehnung in den Spinalkanal
sowie schließlich die Verbesserung der neurologischen
Befundkonstellation bewirken. Es ist möglich, den intra-
operativen Blutverlust – je nach Studie – um ca. ein bis zwei
Drittel mittels Embolisation zu reduzieren [7, 10, 18]. Da-
her kann die generelle Empfehlung ausgesprochen werden,
bei geplanten intraläsionalen Resektionen von Metastasen
. Abb. 44.6 Schema eines in 6 Säulen aufgeteilten Wirbelkörpers: oben genannter Primärtumoren eine präoperative Embo-
<3 befallene Säulen: Annahme weitgehender Stabilität; 3–4 be- lisierung durchzuführen [7, 10, 18].
troffene Säulen: Instabilität; 5–6 betroffene Säulen: hochgradige Bei aneurysmatischen Knochenzysten und Riesen-
Instabilität; A vordere Säule, M mittlere Säule, P hintere Säule, L links, zelltumoren, die nach Embolisation zum Teil asymptoma-
R rechts. (Aus Pilge et al. [16])
tisch wurden, konnte im Verlauf eine zentrale Sklerosie-
rung beobachtet werden [18].

Obwohl sie zum Teil noch kontrovers diskutiert wer- Operationstechniken


den, ergeben sich nach Schaser et al. [18] folgende Indika- Bei der operativen Behandlung von ossären Tumoren kön-
tionen und Kontraindikationen (7 Übersicht): nen nach Harms u. Melcher [7] grundsätzlich mehrere
Behandlungskonzepte unterschieden werden:
4 Dekompression und Stabilisierung durch Implantate
Indikationen und Kontraindikationen einer (Fixateur interne).
chirurgischen Behandlung 4 Intraläsional marginale Resektion des Tumors und
Indikationen Stabilisierung (Debulging): Hier wird durch ein-
5 Schmerztherapeutisch nicht beherrschbare seitigen oder mehrseitigen Zugang eine möglichst
Schmerzen radikale, allerdings intraläsionale Entfernung der
5 Progress spinaler Kompression oder neurologische Tumoranteile angestrebt, insbesondere dann, wenn
Befundverschlechterung unter Chemotherapie die Einengung des Spinalkanals oder das Einwachsen
oder Radiatio in die Dura droht.
5 Deformität und Instabilität (vertebraler Kollaps) 4 En-bloc-Resektion (. Abb. 44.7a–i): Sie hat das Ziel,
betroffener Wirbelsäulensegmente den im Wirbelkörper befindlichen Tumor nicht zu
5 Progress bei Erreichen der maximalen Strahlen- öffnen, einen oder mehrere Wirbelkörper in einem
dosis (Strahlentoleranz des Myelons) Block zu entfernen und somit (zumindest makro-
5 Tumor/Läsionen, die insensitiv für Radiatio und/ skopisch) eine R0-Resektion anzustreben.
oder Chemotherapie sind (Nierenzellkarzinom)
5 Notwendigkeit der histologischen Befundsiche- Eine Erläuterung der Begriffe und ihrer Definitionen über
rung bei unbekanntem Primärtumor das mögliche Ausmaß von Tumorentfernungen ist in
. Tab. 44.9 beschrieben [6].
Relative Kontraindikationen Die Wahl des anzuwendenden OP-Verfahrens hängt
5 Länger als 24–36 h bestehender kompletter von folgenden relevanten Faktoren ab:
44 sensomotorischer Querschnitt 4 Artdiagnose des Tumors,
4 Lokalisation des Tumors,
44.5 · Therapie
491 44

a b c d

e f

g h i

. Abb. 44.7 a, b Mammakarzinommetastase des 12. Brustwirbelkörpers; c sagittale T1-Wichtung; d sagittale T2-Wichtung; e axiale
T1-Wichtung; f En-bloc-Resektat des 12. Brustwirbels; g intraoperativer Situs nach dorsaler Spondylodese und Dekompression; h, i post-
operatives Röntgenbild nach dorsaler Stabilisierung mittels Fixateur interne und ventraler Cageimplantation sowie ventrolateraler Platte
492 Kapitel 44 · Wirbelsäulentumoren und -metastasen

auch minimal-invasiv durch Einbringen von Pedikel-


. Tab. 44.9 Mögliches Ausmaß der Tumorentfernungen,
Begriffe und ihre Definitionen [6]
schrauben in subkutaner Technik möglich. Dies kann über
mehrere Segmente erfolgen. Vorteil dieses Verfahrens ist
Begriff Definition eine kleinere Wundhöhle sowie eine deutlich geringere
Muskel- und Weichteilschädigung, da die Zugangswege
Intra- Stückweise Exzision innerhalb der Tumormasse nicht median, sondern paramedian über die Pedikel ver-
läsional
laufen. Zusätzlich kann im Rahmen dieser OP-Technik
Marginal En-bloc-Resektion entlang der Pseudokapsel durch einen kleinen Medianschnitt eine Dekompression
Weit En-bloc-Resektion außerhalb der Pseudokapsel erfolgen.
Radikal En-bloc-Resektion des gesamten Kompartiments
Vertebroplastie/Kyphoplastie
Die Kypho-/Vertebroplastie wurde für die Therapie verte-
braler Angiome erstmals 1987 von Galibert beschrieben.
4 Ausdehnung des Tumors im Wirbelkörper und im Beide Verfahren können als erfolgreiche operative An-
paravertebralen Gewebe, wendungen bei metastatisch bedingten Osteolysen und
4 Zustand des Patienten und seine prospektive Lebens- pathologischen Wirbelkörperfrakturen angesehen werden
erwartung [7]. [9, 12]. Im Einzelnen erfolgt unter biplanarer Bildwandler-
kontrolle eine perkutane, transpedikuläre Injektion von
Während sich bei der dorsalen Stabilisierung winkelstabile Knochenzement (PMMA) in den frakturierten Wirbelkör-
Fixateur-interne-Systeme mit transpedikulären Schrauben per ohne partielle Wiederaufrichtung (Vertebroplastie)
oder Massa-lateralis-Schrauben als akzeptierter Standard oder aber nach vorheriger partieller Wiederaufrichtung
durchgesetzt haben, variieren die empfohlenen Rekon- der Wirbelkörperhöhe durch Balloninflation (Kypho-
struktionstechniken der nach Korporektomie oder Spon- plastie) (. Abb. 44.9a–e). Entscheidend ist, dass ein hoch-
dylektomie resultierenden ventralen Resektionsdefekte. visköser Zement eingebracht wird, um die Gefahr des
Hier ist das erklärte Ziel, eine hohe, definitive Primär- Abschwemmens von Zement in die umliegenden Gefäße
stabilität ohne Implantatversagen oder die Notwendigkeit zu minimieren [9, 12]. Im Bereich der oberen BWS kann
von Revisionseingriffen zu erreichen [18]. Deshalb ist die bei dünnen Pedikeln auch ein extrapedikuläres Vorgehen
alleinige Verwendung autologer, trikortikaler Beckenspan- nötig sein. Das primäre Ziel einer Kypho-/Vertebroplastie
interponate oder Allografts nicht empfehlenswert, da ein ist die Schmerzreduktion sowie das Erlangen einer Wirbel-
sicher zu erwartender Korrekturverlust, die Entnahme- körperstabilisierung. Für die signifikante Schmerzreduk-
morbidität und eine in der Regel nicht zu erwartende tion wird der zytotoxische, tumorizide und thermische
interkorporelle Fusion (reduzierte Lebenserwartung, Ste- Effekt des PMMA verantwortlich gemacht. So werden
roidmedikation, perioperative Radiochemotherapie) resul- umliegende Nervenendigungen denerviert und mikrovas-
tieren [18]. Daher befürworten viele Autoren bei Rekon- kuläre Strukturen ischämisch. Es liegt eine schnelle (inner-
struktion onkologischer Resektionsdefekte der ventralen halb von 48 h) postoperative Schmerzreduktion bei bis zu
Säule die Verwendung von Wirbelkörperersatzimplan- 80 % aller behandelten Patienten vor [9, 12, 18].
taten (. Abb. 44.8a–f; . Abb. 44.7h,i). Diese liegen als kon- > Das primäre Ziel einer Kypho-/Vertebroplastie ist
ventionelle Titan- oder Carboncages und auch als distra- die Schmerzreduktion sowie die Erlangung einer
hierbare Implantate vor und sind in der Regel mit einer Wirbelkörperstabilisierung.
dorsalen Instrumentierung zu kombinieren [18] (. Abb.
44.7g–i). Die Cages werden ventral verwendet und sind Plasmozytompatienten und solche mit absehbar reduzier-
entweder mit PMMA-Knochenzement (PMMA: Poly- ter Lebenserwartung, aber auch Patienten, die bereits die
methylmetacrylat) allein oder mit homo-/autologer Spon- maximale Strahlendosis erreicht haben bzw. an strahlen-
giosa gefüllt. Zusätzlich stehen zur ventralen Stabilisierung resistenten Tumoren leiden oder aufgrund des Gesamt-
auch noch winkelstabile Plattenfixateursysteme zur Verfü- zustands für eine offene chirurgische Intervention unge-
gung [18] (. Abb. 44.8a–f; . Abb. 44.7h,i). Im Zusammen- eignet sind, stellen geeignete Kandidaten zur Vertebro-/
hang mit der Einbringung der dorsalen Fixateursysteme Kyphoplastie dar. Kontraindikationen beinhalten den
kann durch eine Zementaugmentation der Pedikelschrau- maximalen Wirbelkörperkollaps (Vertebra plana), Ge-
ben eine höhere Stabilität erzielt werden [18]. rinnungsstörungen oder einen großen epiduralen Tumor-
anteil. Läsionen mit partieller Hinterkantenbeteiligung
Perkutane/minimal-invasive Techniken sind keine absolute Kontraindikation, obgleich das Risiko
44 Aufgrund zunehmender technischer Entwicklungen der von Zementleckagen in den Spinalkanal, in die Neurofora-
Fixateur-interne-Systeme ist eine dorsale Stabilisierung mina oder in den epiduralen und paravertebralen Venen-
44.6 · Ergebnisse
493 44

a b c

d e f

. Abb. 44.8 a–d Nahezu komplette Osteolyse des 4. Halswirbelkörpers bei Ösophaguskarzinommetastase (Pfeil). e, f Operative Versorgung
mittels Resektion des 4. Halswirbelkörpers, Wirbelkörperersatz mittels Distraktionscage, ventrale Stabilisation mittels Platte

plexus erhöht ist [9, 12, 18]. Vorteil dieses OP-Verfahrens 44.6 Ergebnisse
ist eine rasche Mobilisation der Patienten sowie eine kurze
Hospitalisierung [9, 12, 18]. Nach operativer Therapie kann eine Schmerzreduktion bei
ca. 80 % aller operierten Patienten erzielt werden [7, 16,
En-bloc-Resektion 18]. Durch die Schmerzreduktion kann eine frühzeitige
Die En-bloc-Resektion (. Abb. 44.7a–i) ist der einzige ku- Mobilisierung des Patienten mit rascher Entlassung aus
rative Ansatz zur Behandlung von Primärtumoren der stationärer Behandlung erfolgen. Bezüglich des neurologi-
Wirbelsäule und solitären Metastasen. In einer Studie von schen Outcomes werden in der Literatur unterschiedliche
Halm et al. [6] zeigten sich gute Ergebnisse für die Über- Angaben gemacht. Josten u. Franck [10] konnten keinen
lebensrate von Patienten nach En-bloc-Resektion bei Zusammenhang zwischen Operationszeit und neurologi-
primär malignen Knochentumoren, sofern der Tumor ex- schem Outcome feststellen. Nach Schaser et al. [18] wer-
traläsional resektabel war und einen guten Resektionsgrad den neurologische Verbesserungen mit durchschnittlich
aufwies. Schlechtere Prognosen sind bei solitären Metas- 50–70 % angegeben, jedoch in Abhängigkeit vom Schwe-
tasen zu verzeichnen, sodass vor allem die lokale Tumor- regrad, dem Zeitpunkt und dem Zeitraum des Auftretens
kontrolle im Vordergrund steht, wenngleich auch hier ein von neurologischen Komplikationen. Eine deutlich
primär kurativer Therapieansatz besteht [6]. schlechtere Prognose für die Regredienz neurologischer
Defizite zeigt sich, wenn die operative Intervention in
einem Zeitraum von mehr als 24 h nach Auftreten einer
494 Kapitel 44 · Wirbelsäulentumoren und -metastasen

a b c

. Abb. 44.9 a, b Osteolyse des 9. Brustwirbelkörpers


bei malignem Melanom; c Technik der Ballonkyphoplastie;
d e
d, e operative Versorgung mittels Kyphoplastie

Paraplegie erfolgt. Eine neurologische Progression über Lebenserwartung aufweisen. Ähnliche Ergebnisse wiesen
einen längeren Zeitraum birgt eine 28- bis 35%-ige Gefahr auch Josten u. Franck [10] nach.
einer permanenten Paraplegie [18]. Tritt eine Paraplegie
innerhalb von 48 h auf, zeigt sich diese postoperativ in
60–76 % aller Fälle als nicht regredient [18]. In einer Über- 44.7 Komplikationen
sichtsarbeit von 2007 berichten Schaser et al. [18] von einer
kollektivabhängigen Variabilität der postoperativen Über- Zu den intraoperativen Komplikationen zählen neben
lebensrate. Es wurde eine minimale postoperative Über- Gefäß-, Nerven- und Duraverletzung vor allem Material-
lebensrate nach chirurgischer Therapie mit 3–6 Monaten fehlplatzierungen.
und eine mittlere postoperative Überlebensrate mit Postoperative Komplikationen sind sekundäre Implan-
13–27 Monaten angegeben. Dabei zeigte sich, dass die tatdislokationen, Wundheilungsstörung, pulmonale
Überlebensrate von verschiedenen Faktoren wir Primär- Komplikationen, Thrombosen und revisionspflichtige
tumor, Alter und Geschlecht abhängig ist. Das Risiko, nach Hämatome.
chirurgischer Intervention zu sterben, steigt proportional Vor allem bei stark vaskularisierten Tumoren werden
44 mit zunehmendem Alter, wobei Männer im Gegensatz zu vermehrt intraoperativ auftretende Blutungen mit sekun-
Frauen in der Regel eine geringere mittlere postoperative där revisionspflichtigen Hämatomen sowie hämatombe-
Literatur
495 44
dingte Nervenkompressionen beschrieben [10]. Generell 17. Rechl H, Kirchhoff C, Wörtler K, Lenze U, Töpfer A, von Eisen-
ist anzumerken, dass eine präoperativ lokale Bestrahlung hart-Rothe R (2011) Diagnostik von malignen Knochen- und
Weichteiltumoren. Orthopäde 40:931–944
die postoperative Komplikationsrate signifikant erhöht
18. Schaser KD, Melcher I, Mittlmeier T, Schulz A, Seemann JH,
[18]. Die Bestrahlung führt über eine initial generalisierte Haas NP, Disch AC (2007) Chirurgisches Management von
Knochenmarkdepression mit lokaler Immunsuppression Wirbelsäulenmetastasen. Unfallchirurg 110:137–162
deutlich häufiger zu Wundheilungsstörungen [18]. 19. Tokuhashi Y, Matsuzaki H, Toriyama S et al (1990) Scoring system
Das Wiederauftreten eines Lokalrezidivs oder einer fort he preoperative evaluation of metastatic spine tumor
prognosis. Spine 15:1110–1113
neuen Läsion im Operationsgebiet ist bei adäquater Nach-
20. Tomita K, Kawahara N, Kobayashi T, Yoshida A, Murakami H,
behandlung selten. Das Wiederkehren einer Myelonkom- Akamura T (2001) Surgical Strategy for Spinal Metastases. Spine
pression wird in <10 % der Fälle berichtet. Die Reopera- 26:298–306
tionsrate ist entscheidend vom Auftreten postoperativer 21. Wise JJ, Fischgrund JS, Herkowitz HN (1999) Complication,
Komplikationen abhängig [18]. survival rates, and risk factores of surgery for metastatic disease
Nach Schaser et al. [18] stehen Komplikationen in of the spine. Spine 24:1943–1951

direktem Zusammenhang mit dem präoperativ neuro-


logischen Defizit bzw. dem erreichten Frankel-Grad und
auch der Harrington-Klassifizierung.

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497 45

Rheumatologische
und neurologische
Differenzialdiagnosen
U. Lange, V. Lindner

45.1 Differenzialdiagnostik von Rückenschmerzen aus


rheumatologischer Sicht – 498
45.1.1 Basisdiagnostika – 498
45.1.2 Die häufigsten Differenzialdiagnosen und Therapieempfehlungen beim
Leitsymptom Rückenschmerz – 499

45.2 Neurologische Differenzialdiagnostik


bei Rückenschmerzen – 504
45.2.1 Typische Syndrome – 505
45.2.2 Untersuchungsgang – 508
45.2.3 Zusammenfassung – 510

Literatur – 510

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_45, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
498 Kapitel 45 · Rheumatologische und neurologische Differenzialdiagnosen

Rückenschmerzen können im rheumatologischen Praxis- jDegenerative Veränderungen der Wirbelsäule


45 alltag vielfältige Ursachen haben. Zur genauen Analyse sind und angrenzender Gelenke
bei der Differenzialdiagnostik die Anamnese, die klinische Neben der Spondylarthrose, Spondylose und dem
Untersuchung, Laborchemie und Bildgebung essenziell. Im Baastrup-Phänomen (Osteoarthrosis interspinalis) sind
vorliegenden Artikel werden mögliche rheumatologische degenerative Diskopathien zu bedenken (z. B. Chondrosis
Differenzialdiagnosen mit entsprechenden Behandlungs- intervertebralis, Osteochondrosis intervertebralis, Unko-
optionen dargestellt. – Die auf neurologischem Fachgebiet vertebralarthrose).
für die Entstehung akuter oder chronischer Rückenschmer-
zen infrage kommenden Erkrankungen werden im Folgen- jAbnorme Wirbelsäulenfehlhaltungen,
den zusammenfassend dargestellt unter schwerpunktmäßi- Fehlbildungen
ger Erläuterung ihrer neuroanatomischen Zuordnung und Skoliotische Manifestationen, eine Kyphose, Paresen und
Syndromatologie. Die differenzialdiagnostischen Implika- Beinlängendifferenzen können ebenso wie Fehlbildungen
tionen der im Rahmen der klinischen Untersuchung zu (Segmentierungsstörungen, Aplasien, Assimilations-
evaluierenden Befunde werden vorgestellt, darüber hinaus störungen, Spaltbildungen: Spina bifida) mit dem Leit-
der hieraus abzuleitende apparativ-technische Klärungsauf- symptom Rückenschmerz einhergehen.
wand und die erforderlichen therapeutischen Konsequen-
zen. Zeitliche Dringlichkeitsabstufungen werden erläutert. jEntzündliche Erkrankungen an der Wirbelsäule
und den angrenzenden Gelenken
Zu den möglichen entzündlichen Manifestationen an der
45.1 Differenzialdiagnostik Wirbelsäule zählen die Sakroiliitis und die Spondylitis im
von Rückenschmerzen aus Rahmen einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung
rheumatologischer Sicht (z. B. ankylosierende Spondylitis, Spondylitis psoriatica,
Wirbelsäulenbeteiligung bei reaktiver, rheumatoider und
U. Lange enteropathischer Arthritis). Ein langjähriger Verlauf der
rheumatoiden Arthritis erhöht das Risiko für eine atlanto-
Im rheumatologischen Praxisalltag sind Schmerzen im dentale Dislokation. Gefürchtet ist die bakterielle Spondy-
Rücken kein seltenes Krankheitssymptom. Diese können litis: Spondylitis infectiosa (z. B. tuberkulöser Genese oder
sowohl vertebragener als auch nicht vertebragener Ursache unspezifisch bakteriell getriggert) und die Osteomyelitis
sein. Zu den häufigsten Ursachen des Leitsymptoms vertebralis.
Rückenschmerz zählen [1–3, 7, 8, 10]:
jExtravertebrale Ursachen
jHypomobilität und Hypermobilität Auch extravertebrale Ursachen von Rückenschmerzen
Folgende Erkrankungen können mit einer Hypomobilität/ sollten differenzialdiagnostisch berücksichtigt werden
Hypermobilität assoziiert sein: (z. B. psychogener Rückenschmerz, Aortenaneurysma,
4 Spondylolisthesis vera (ventrales Wirbelgleiten), gynäkologische und gastroenterologische Erkrankungen).
4 Blockierung eines oder mehrerer Wirbelsegmente, > Rückenschmerzen können aus Hypo- oder
4 Pseudospondylolisthesis und vertebrale Dorsal- Hypermobilität, Fehlhaltungen und -bildungen,
dislokationen, entzündlichen und degenerativen Wirbelsäulen-
4 Scheuermann-Krankheit, veränderungen sowie aus extravertebralen
4 Bandscheibenvorfall, Ursachen resultieren.
4 Wirbelsäulenerkrankungen bei metabolischen und
endokrinen Erkrankungen (z. B. Osteoporose,
Chondrokalzinose, Hyperparathyreoidismus),
4 neoplastische Wirbelsäulenerkrankungen (z. B. 45.1.1 Basisdiagnostika
Paget-Krankheit, primär benigne oder maligne
Knochentumoren oder ossäre Metastasen), Bei der differenzialdiagnostischen Abklärung sind folgen-
4 traumatische Wirbelsäulenveränderungen (z. B. de Basisdiagnostika hilfreich [4, 8]: Anamnese, klinische
Wirbelkörperfraktur), Untersuchung, laborchemische Analysen und bildgebende
4 entzündliche und degenerative Veränderungen Verfahren.
benachbarter Gelenke (z. B. Schulter, Hüfte) und
4 Fibromyalgiesyndrom. Anamnese
Bei der Anamnese ist der Schmerzcharakter von zentra-
lem Interesse: Zum Beispiel imponiert der entzündliche
45.1 · Differenzialdiagnostik von Rückenschmerzen aus rheumatologischer Sicht
499 45
Rückenschmerz durch Störung des frühmorgendlichen Befund schließt jedoch eine solche Erkrankung keines-
Nachtschlafs und bessert sich auf Bewegung; bei einer wegs aus, und wiederum haben etwa 8 % der gesunden
Spondylitis liegt meist ein langsam progredienter bewe- Europäer HLA-B27, ohne eine Spondyloarthritis zu ent-
gungs- und belastungsabhängiger Schmerz vor, oft be- wickeln. Mittels der Serumeiweißelektrophorese geht es
gleitet von Husten- und Niesschmerz, die letzten beiden um den Ausschluss einer monoklonalen Gammopathie bei
Symptome zeigen sich auch bei einem Bandscheibenvor- Plasmozytom, und das Serum-Kalzium mit Albumin
fall; ein heftiger Dauerschmerz imponiert hingegen bei sowie die alkalische Phosphatase dienen zum Ausschluss
bakterieller Diszitis. Bei entzündlich-rheumatischen Er- eines primären Hyperparathyreoidismus.
krankungen sollte eine Arthritis der stammnahen Gelenke
als Ursache für die Rückenschmerzen ausgeschlossen Bildgebende Diagnostik
werden. Schmerzausstrahlung in die Beine mit eventuell Die bildgebende Diagnostik beinhaltet je nach Schmerz-
begleitenden sensiblen und/oder motorischen Ausfällen lokalisation im Wirbelsäulenbereich Röntgenaufnahmen
lässt primär an einen Bandscheibenvorfall denken. Die in 2 Ebenen (degenerative/entzündliche Veränderungen,
Größenabnahme ist oft ein Indiz für eine manifeste Osteo- atlantoaxiale Dislokation – AAD?). Zur Frühdiagnose
porose. Komplettiert wird die Anamnese durch Fragen einer Sakroiliitis empfiehlt sich die Durchführung der
nach einem Unfallgeschehen, operativen Interventionen Magnetresonanztomografie (MRT) der Iliosakralgelenke,
an der Wirbelsäule sowie internistischen und gynäkolo- ebenso bei spinalen Abszessen oder Verdacht auf eine bak-
gischen Begleiterkrankungen. terielle Spondylitis. Die Computertomografie wie auch das
MRT kommen zum Einsatz bei Verdacht auf Spinal-
Klinische Untersuchung kanalstenose, Bandscheibenprolaps, Myelonkompression
Die klinische Untersuchung fokussiert u. a. auf: durch Pannusgewebe oder eine AAD. Die Szintigrafie
4 Beinlängendifferenz, bietet qualitative Zusatzinformationen über Ausdehnung
4 Beckenschiefstand, und Intensität entzündlicher Prozesse, aber sie ist trotz
4 pathologische statische Wirbelsäulenveränderungen: Sensitivität unspezifisch. Ergänzende neurologische Un-
Skoliose, Hyperkyphose/Hyperlordose (u. a. bei tersuchungstechniken umfassen die Messung der Nerven-
Osteoporose), Abflachung der Lendenlordose (u. a. leitgeschwindigkeit (NLG) und das Elektromyogramm
bei ankylosierender Spondylitis), (EMG).
4 Thoraxsteife (u. a. bei ankylosierender Spondylitis, Eine internistische und gynäkologische Abklärung
Spondylosis hyperostotica), empfiehlt sich generell bei unauffälligem oder nicht plau-
4 starke Druck- und Klopfschmerzhaftigkeit einzelner siblem Befund an der Wirbelsäule.
Segmente (bei Spondylitis),
4 Bewegungsschmerz der Iliosakralgelenke (Mennell- Tipp
Zeichen bei Sakroiliitis),
Rückenschmerzen können vertebragener als auch
4 Einschränkungen der Wirbelsäulenbeweglichkeit:
nicht vertebragener Genese sein. Bei der differenzial-
Zeichen nach Ott, Schober, Finger-Boden-Abstand,
diagnostischen Abklärung sind Anamnese, klinische
Kinn-Jugulum-Abstand, Hinterhaupt-Wand-Ab-
Untersuchung, Labor, Bildgebung und eventuell neu-
stand, Rotation und Lateralflexion der Wirbelsäule
rologische Untersuchungstechniken hilfreich.
(bei ankylosierender Spondylitis).

Komplettiert wird die klinische Wirbelsäulenunter-


suchung durch die Erhebung des muskulären Befunds
(Myogelosen? Muskelhypertrophie/-atrophie? Muskel- 45.1.2 Die häufigsten Differenzialdiagnosen
verkürzungen?) und einer orientierenden neurologischen und Therapieempfehlungen beim
Untersuchung (Prüfung der Sensibilität, Motorik, Reflexe, Leitsymptom Rückenschmerz
Nervendehnungsschmerz – Lasègue-Zeichen) als Hin-
weise für ein Nervenwurzelkompressionssyndrom. In der . Tab. 45.1 sind zu den unterschiedlichen Diagno-
sen, die mit dem Leitsymptom Rückenschmerz einher-
Laborchemische Analysen gehen können, die richtungsweisenden Befunde aus
Laborchemische Analysen sind meist nicht hilfreich, es sei rheumatologischer Sicht aufgeführt [1–3, 5–10].
denn zum Ausschluss eines entzündlichen Gelenk- und
Wirbelsäulengeschehens (BSG, CRP – erhöht bei Arthritis, Degenerativ bedingte Rückenschmerzen
aber nicht immer bei einer Spondylitis!). Bei einer Spon- Die Ursachen degenerativer und statischer Veränderungen
dyloarthritis ist oft HLA-B27 nachweisbar, ein negativer sind vielfältig und meist schwer zu analysieren: Ist es soma-
500 Kapitel 45 · Rheumatologische und neurologische Differenzialdiagnosen

. Tab. 45.1 Rheumatologische Differenzialdiagnosen beim Leitsymptom Rückenschmerz


45
Chondrosis vertebralis Röntgen: reaktionslose Verschmälerung des Zwischenwirbelraums im Röntgenbild
Osteochondrosis inter- Röntgen: s. oben, zusätzliche subchondrale Deckplattensklerose
vertebralis (. Abb. 45.1)
Unkovertebralarthrose Röntgen: degenerative Anbauten an den kleinen Wirbelgelenken mit z. T. aufgehobener Beweglichkeit
im betroffenen Segment
Spondylosis hyperostotica Röntgen: grobe Spondylophyten, Knochenappositionen an den Wirbelkörpern
(. Abb. 45.2)
Baastrup-Phänomen Röntgen: »Dornfortsätze reiben aneinander«, Schliffflächen, häufig asymptomatisch!
Ankylosierende Spondylitis Röntgen: Syndesmophyten, Spondylitis anterior, Kasten-/Tonnenwirbel, »Bambusstab«, Andersson-
(. Abb. 45.3) und Romanus-Läsionen, Sakroiliitis (bilateral); Frühdiagnose der Sakroiliitis mittels MRT
Klinik: entzündliche Dorsalgien, Einschränkung WS-Beweglichkeit, tiefsitzende Rückenschmerzen
(Sakroiliitis), HLA-B27-Assoziation
Arthritis/Spondylitis Röntgen: Parasyndesmophyten, buntes Iliosakralbild; Klinik: begleitend Oligo- oder Polyarthritis (oft
psoriatica (. Abb. 45.4) mit »Strahlbefall«), Enthesiopathie, Haut- und Nagelpsoriasis (kann aber auch fehlen)
Reaktive Arthritis Röntgen: Parasyndesmophyten, evtl. Sakroiliitis (meist unilateral)
Klinik: begleitend Urogenital- oder Enteralinfektion
Labor: positive Serologie
Rheumatoide Arthritis Röntgen: ventrale atlantoaxiale Dislokation (>3 mm) mit/ohne Myelonkompression, Densarrosionen,
(. Abb. 45.5) Spondylodiszitis, knöcherne Ankylose der Wirbelgelenke, erosive Arthritis der Intervertebralgelenke
Infektiöse Spondylitis Röntgen: reaktionslose Diskushöhenabnahme mit/ohne Deckplattenunschärfe/-erosion, später
(. Abb. 45.6) Gibbus, Sequester
CT und MRT: perivertebraler Abszess
Klinik: meist akute Symptomatik mit hohem Fieber, lokalisierter Klopfschmerz
Labor: BSG/CRP deutlich erhöht
Osteomyelitis vertebrae Röntgen: Osteolysezone im Wirbelkörper ohne Diskusbeteiligung
Klinik: Fieber
Labor: BSG/CRP erhöht
Osteoporose (. Abb. 45.7) Röntgen: Silberstiftphänomen, Ballonierung der Zwischenwirbelräume, längstrabekulär betonte
Spongiosastruktur, Wirbelkörperdeformierungen, -frakturen
Osteomalazie Röntgen: Zeichen der Osteopenie/Osteoporose, Pseudofrakturen (Looser-Umbauzonen)
Klinik: diffuser Knochenschmerz
Labor: AP erhöht, 25-Vitamin-D3-Mangel
Primärer Hyperpara- Röntgen: subperiostale Resorptionssäume
thyreoidismus Labor: Kalzium und PTH erhöht
Paget-Krankheit Röntgen: herdförmige Aufhellungs- und Sklerosezonen (Plasmazellvermehrung im Knochenmark)
(. Abb. 45.8) Szintigrafie: gesteigerter Knochenstoffwechsel in betroffenen Arealen
Labor: AP erhöht
Plasmozytom Röntgen: Osteolysen
Labor: Elektrophorese – monoklonale Gammopathie, BSG-Erhöhung
Osteolytische Metastasen Röntgen: rundliche, z. T. unscharfe Konturdefekte, Randsaum, pathologische Frakturen
Fehlstatik der Wirbelsäule Eventuell radiologischer Nachweis; klinische Diagnose
Fehlbildungen Evaluierung mittels Röntgen
Fibromyalgie Röntgen: unauffällig
Klinik: Myalgien, Dorsalgien, »tender points«
Labor: keine auffälligen Werte
Spondylolisthesis Röntgen: ventrales Wirbelgleiten im Röntgenbild mit Spondylodese (Spaltbildung des Wirbelbogens)
Pseudospondylolisthesis Röntgen: ventrale Wirbelkörperdislokation mit erhaltenem Wirbelbogen
(. Abb. 45.9)
Dorsale Wirbelkörper- Evaluierung mittels Röntgen
dislokation
45.1 · Differenzialdiagnostik von Rückenschmerzen aus rheumatologischer Sicht
501 45

. Tab. 45.1 (Fortsetzung)

Scheuermann-Krankheit Röntgen: dominierend im BWS-Bereich keilförmige Wirbelkörper, Schmorl-Knötchen bzw. Abschluss-


plattenirregularitäten
Klinik: Beginn in der Pubertät

Diskusprolaps Evaluierung mittels MRT oder CT


(. Abb. 45.10) Klinik: blitzartige Kreuzschmerzen, Verstärkung beim Husten und Niesen, Schonhaltung, evtl.
dermatombezogene sensible und motorische Ausfälle

Pseudoradikuläre Kreuz- Klinik: schmerzhafter Muskelhartspann ohne Reflexstörungen oder Paresen


schmerzen

Psychogener Kreuzschmerz Klinik: Dorsalgien ohne Korrelat bei der klinischen Untersuchung sowie der weiterführenden Diagnostik

Postdiskektomiesyndrom Klinik: Schmerzen durch Narbengewebe oder Verwachsungen nach Bandscheibenoperation

. Abb. 45.1 Multisegmentale Osteochondrosen (Höhenminderung


der Bandscheibenzwischenräume plus subdiskale Knochenverdich-
tung plus Spondylophyten) mit konsekutiver Fehlstatik der Wirbelsäule

. Abb. 45.2 Spondylosis hyperostotica – ventral ausgeprägte hy-


perostotische Knochenbrücken, meist mit unauffälligen Zwischen-
wirbelräumen über 3 Segmente

tischer, radikulärer, neurogener, viszeral-reflektorischer,


psychogener Rückenschmerz? Essenziell ist daher eine
diagnostische Abgrenzung von degenerativen und nicht-
mechanischen Ursachen. Die bei der Bildgebung patholo-
gischen Befunde korrelieren dabei nicht immer mit einer
entsprechenden klinischen Symptomatik.
Bei den Differenzialdiagnosen müssen entzündliche
Wirbelsäulenerkrankungen (besonders die ankylosierende
Spondylitis), Tumoren, Skeletterkrankungen (Osteoporo-
. Abb. 45.3 Ankylosierende Spondylitis – durchgehende Ankylose
se, Osteomalazie, Tumoren), statische Wirbelsäulenverän-
durch Syndesmophytenbildung, Verknöcherung der kleinen Wirbel- derungen, psychosomatische Störungen und Erkrankun-
gelenke und des Ligamentum ileolumbale beidseits gen anderer Organe bedacht werden.
502 Kapitel 45 · Rheumatologische und neurologische Differenzialdiagnosen

45

. Abb. 45.4 Spondylitis psoriatica – . Abb. 45.5 Antlantoaxiale Dislokation (Pfeil) bei rheuma- . Abb. 45.6 Bakterielle Spon-
überbrückende Parasyndesmophyten toider Arthritis in der lnklinationsaufnahme dylitis und Diszitis LWK 4/5 mit
(Pfeile oben) und Sakroiliitis beidseits Abszessbildung in den Epidu-
(Pfeile unten) ralraum (Pfeil rechts) des Spinal-
kanals und den vorderen Para-
vertebralraum (Pfeil links); MRT
Tl-gewichtet nach KM-Gabe

. Abb. 45.7 Osteoporose mit multiplen . Abb. 45.8 a Paget-Krankheit isoliert an BWK 12 (Pfeil) mit Wirbelkörperkompression und
Wirbelkörperfrakturen konsekutiver Myelonkompression; b Kombination von osteoplastischen und osteolytischen
Knochenveränderungen im Wirbelkörper, grotesk wirkende Spongiosastruktur
45.1 · Differenzialdiagnostik von Rückenschmerzen aus rheumatologischer Sicht
503 45

LWK 2

LWK 3

a b

. Abb. 45.9 Pseudospondylolisthesis . Abb. 45.10 Bandscheibenvorfall im Segment LWK2/3: a Myelonkompression (Pfeil),
(»Wirbelgleiten«) b Foramenstenose links (Pfeil)

Therapie und Prävention umfassen folgende Aspekte: Entzündliche Wirbelsäulenerkrankungen


(sog. Spondyloarthritiden)
Medikamentöse Behandlung NSAR, Muskelrelaxanzien, Die Gruppe der seronegativen (»keine Rheumafaktoren«)
lokale Infiltrationen (Lokalanästhetika, z. B. Trigger- Spondyloarthritiden (Gruppe von entzündlich-rheumati-
punktinfiltration, Facettengelenkinfiltration), Analgetika, schen Erkrankungen mit potenzieller Wirbelsäulenbeteili-
Psychopharmaka (z. B. bei therapieresistenten Beschwer- gung, zumindest in Form einer Sakroiliitis) umfasst fol-
den und Diskrepanz zwischen somatischem Befund und gende Krankheitsbilder: ankylosierende Spondylitis (sog.
subjektiven Beschwerden sowie psychovegetativer Dysre- Morbus Bechterew), Arthritis/Spondylitis psoriatica, reak-
gulation). tive Arthritis, juvenile Spondyloarthritis, entzündliche
Darmerkrankungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) mit
Physikalische Medizin Akutstadium: nur kurzzeitige Ru- Sakroiliitis/Spondylitis, Whipple-Krankheit, akneassozi-
higstellung, Thermotherapie. Chronisches Stadium: Kran- ierte Arthritis/Spondylitis, die pustulöse Arthroosteitis
kengymnastik (KG), Wärmeapplikationen, klassische (SAPHO-Syndrom) und die undifferenzierte Spondyloar-
Massage, Elektrotherapie, Ultraschall, TENS, eventuell thritis. Obwohl Ätiologie und Pathogenese meist ungeklärt
Extensionsbehandlung, bei Blockierungen manuelle The- sind, zeigt sich eine genetische Disposition (Nachweis von
rapie. HLA-B27, assoziiert mit Sakroiliitis). Klinisch kommen
begleitend Arthritiden und Enthesitiden vor, eine Augen-
Ambulante/stationäre Rehabilitation Kompaktprogram- beteiligung (Iritis, Konjunktivitis), psoriasiforme Hautma-
me mit Thermen, Radon- und Schwefelquellen, Peloiden nifestationen, Darminfektionen und entzündliche Darm-
(Torf, Moor, Fango), immer mit KG kombiniert. läsionen.
Eine Sakroiliitis zeigt sich klinisch stets durch einen
Operative Therapie Bei Bandscheibenvorfällen mit Pare- persistierenden, tiefsitzenden Rückenschmerz mit Zunah-
sen, Kaudasyndrom, Lockerungen im Bewegungssegment. me in Ruhe und Störung des frühmorgendlichen Nacht-
schlafs (die Patienten werden quasi aus dem Bett getrie-
Prävention Rückendisziplin, Rückenschulprogramme, ben). Der Rückenschmerz kann ein- oder beidseitig in das
richtige Lagerung, Schwimmen, Sauna, geeignete Sportar- Gesäß, ggf. auch ischialgiform imponieren. Je nach Aus-
ten auswählen, richtige Schuhversorgung, KG zur Kräfti- prägung des entzündlichen Wirbelsäulenbefalls kommt es
gung der Rumpfmuskulatur, Haltungstraining. zur Veränderung der Statik und des Habitus.
> Der degenerative Rückenschmerz macht sich in
Differenzialdiagnostisch kommen bei einseitiger Sak-
Ruhe in der Regel nicht bemerkbar und nimmt zu
roiliitis in Betracht: bakterielle Sakroiliitis (cave: Tuberku-
unter Belastung.
lose!), Osteitis condensans ilii, Arthrose des Iliosakralge-
lenks und selten endokrine Leiden. Bei radiologischer
504 Kapitel 45 · Rheumatologische und neurologische Differenzialdiagnosen

Spondylitis sind bakterielle Spondylitiden auszuschließen, (>50. Lebensjahr), Ausgangspunkt ist meist eine benach-
45 einschließlich Osteomyelitis und Spondylosis hyperosto- barte Diszitis oder hämatogene Streuung.
tica, Ochronose, Chondrokalzinose und degenerativer Die Diagnostik umfasst neben der Klinik laborchemi-
Wirbelsäulenveränderungen. sche Untersuchungen (BSG, CRP, Leukozytose mit Links-
verschiebung, Blutkulturen), eventuell eine Biopsie zum
Medikamentöse Behandlung Wie bei degenerativ beding- Keimnachweis und Bildgebung (Sonografie, Röntgen,
ten Rückenschmerzen. Bei therapieresistenter Sakroiliitis Szintigrafie, MRT, CT).
und/oder Spondylitis und nicht ausreichender Wirkung
von NSAR Einleitung einer TNF-Blocker-Therapie (kon- Medikamentöse Behandlung Therapeutisch ist rasches
ventionelle Langzeittherapien sind bei entzündlichem und aggressives Handeln angesagt, um Destruktionen oder
Wirbelsäulenbefall nicht ausreichend wirksam!). septische Komplikationen zu vermeiden. Notwendig ist
insbesondere eine enge Abstimmung zwischen intern-
Physikalische Medizin Präventiv empfiehlt sich nachts istischen und orthopädischen Rheumatologen bzw.
eine flache Lagerung. Krankengymnastik (KG): Mobilisie- Chirurgen.
rung der Wirbelsäule in allen Ebenen, meist lebenslang Neben einer suffizienten Schmerzmedikation (NSAR,
indiziert! Thermotherapie, Elektrotherapie, klassische Analgetika, ggf. kurzzeitiger Einsatz von Opiaten) ist eine
Massage zur Analgesie, Muskeldetonisierung und Durch- Antibiotikagabe nach Antibiogramm (mindestens über
blutungsverbesserung. Bei Enthesiopathien ist Ultraschall 2–4 Wochen) unabdingbar.
oder Kryotherapie sinnvoll. Im subakut-chronischen
Stadium zeigen Hyperthermiebehandlungen (Überwär- Physikalische Medizin Lokale physikalische Therapiemaß-
mungsbad, Radonstollenbehandlung) positive Einflüsse nahmen beinhalten eine nur kurzfristige Ruhigstellung
auf das Beschwerdebild. Eine Therapie mit ionisierenden (cave: Antikoagulation nicht vergessen!), mindestens
Strahlen erfolgt heutzutage kaum noch. 1-mal tägliche Mobilisation, lokale Kryotherapie. Nach
Rückgang der Akutsymptomatik vorsichtige aktive Kran-
Rehabilitation Bei den ambulanten wie auch stationären kengymnastik.
Reha-Maßnahmen kommt der Bewegungstherapie oberste
Priorität zu; diese kann durch reizintensive balneothera- Operative Therapie Nur in besonderen Fällen sind opera-
peutische Maßnahmen (Moorbäder, Radonbäder, Radon- tive Interventionen indiziert, z. B. zur Ausräumung von
stollenbehandlung, Schwefelquellen) sowie Peloidpackun- Herden (vor allem bei tuberkulöser Osteomyelitis), bei
gen und Massage problemlos ergänzt werden. Umsetzung Wirbelkörpereinbrüchen (Stabilisierungsoperation) und
am Arbeitsplatz und eventuelle berufliche Rehabilitation zur perivertebralen Abszessdrainage.
sollten stets bedacht werden. > Das klinische Bild des bakteriellen Rückenschmer-
zes ist oft uncharakteristisch. Nach einer schmerz-
Operative Therapie Sie empfiehlt sich bei atlantoaxialer
freien Phase manifestieren sich zunehmende
Dislokation mit Myelopathie (Fixierungsoperation) und Schmerzen in der betroffenen Region.
bei Kyphosen (Aufrichtungsoperation).
> Der nächtlich und frühmorgendlich auftretende
Rückenschmerz von >30 min Dauer mit Besserung
unter Bewegung ist typisch für den entzündlichen
45.2 Neurologische Differenzialdiagnostik
Rückenschmerz.
bei Rückenschmerzen

V. Lindner
Bakterielle Sakroiliitis/Spondylitis
Durch eine direkte Erregerinvasion manifestiert sich die Grundsätzlich hat die Neurologie in den vergangenen
bakterielle Sakroiliitis und Spondylitis. Klinisch imponiert Jahren einen Wandel erfahren: War es früher vor allem
neben Fieber eine akute und starke Schmerzhaftigkeit im wichtig, im Rahmen einer detaillierten Erfassung des ent-
Bereich der Wirbelsäule mit Druck- und Klopfschmerz standenen Symptomspektrums eine differenzierte diag-
über den befallenen Arealen, und nur selten sind neurolo- nostische Einordnung der jeweiligen Krankheitsbilder
gische Komplikationen, mitunter aber auch blande und unter ätiologischen Gesichtspunkten zu erreichen, so spielt
maskierte Verläufe möglich (u. a. bei immunsupprimier- mittlerweile auch die zeitliche Dimension vor dem Hinter-
ten Patienten und Diabetes mellitus). Eine infektiöse grund der enorm erweiterten therapeutischen Möglichkei-
Sakroiliitis heilt meist in einer Ankylose aus. Infektiöse ten mit z. T. sehr guten Behandlungserfolgen speziell in
Spondylitiden finden sich häufiger bei älteren Menschen den Frühstadien der einzelnen Erkrankungen häufig eine
45.2 · Neurologische Differenzialdiagnostik bei Rückenschmerzen
505 45
ganz entscheidende Rolle. Außerdem richtet sich die Be-
handlungsdringlichkeit natürlich nach dem Läsionsort, da
z. B. eine hochsitzende Myelonschädigung in ihrer Aus-
wirkung auf die künftige körperliche Funktionsintegrität
natürlich sehr viel schwerer wiegt als ein monoradikuläres
Störungsmuster.
Entsprechend haben diese Sachverhalte speziell bei
Rückenschmerzen die Konsequenz, dass die Ursache eines
sensomotorischen Querschnittsyndroms innerhalb von
Stunden ermittelt werden muss, um das residuale Schä-
digungsniveau zu minimieren. Daneben lässt die Mani-
festation eines reinen radikulären Schmerzsyndroms ohne
neuronale Ausfallserscheinungen auch im Akutstadium
zunächst eine symptomatische Schmerztherapie mit an-
schließender elektiver Diagnostik in Abhängigkeit vom
weiteren Verlauf sinnvoll werden.
Im Unterschied zu herkömmlichen Neurologielehrbü-
chern werden in diesem Kapitel daher schwerpunktmäßig
die Aspekte der anatomisch-topischen Diagnostik und die
Anforderungen an die zeitlichen Abläufe beleuchtet.
> Die Evaluation neurologischer Erkrankungen bei
akuten Rückenschmerzen erfordert vor allem ein
sorgfältiges Erfassen möglicher sensomotorischer
oder viszeraler Störungsmuster in ihrer Schwere,
Ausdehnung und topischen Konfiguration. Die
Ergebnisse der klinischen Untersuchung sind das
entscheidende Kriterium für das Ausmaß und die
zeitliche Dringlichkeit weiterführender technischer
Diagnostikverfahren. . Abb. 45.11 Höhenlokalisatorische Zuordnungssystematik
sensomotorischer Ausfallsmuster bei Querschnittsyndromen. (Aus
Hacke [18])

45.2.1 Typische Syndrome


Tonuserhöhung, Steigerung der Muskeleigenreflexe und
Folgende Symptomkonfigurationen sind bei einer neuro- Ausbildung positiver Pyramidenbahnzeichen. Diese Ver-
nalen Mitbeteiligung von Rückenschmerzerkrankungen änderung kann aber Tage bis eventuell Wochen in An-
anzutreffen: spruch nehmen und darf daher auf keinen Fall zur Diag-
nosesicherung während einer Verlaufsbeobachtung »abge-
Myelopathien wartet« werden.
Das Vollbild einer Schädigung des Rückenmarks ist ge- Eine besondere Form der Querschnittssymptomatik ist
kennzeichnet durch die Manifestation eines Querschnitt- das Konussyndrom (. Abb. 45.12). Es betrifft den unters-
syndroms, das sämtliche motorischen und sensiblen Qua- ten Myelonanteil (ca. in Höhe des 1. Lendenwirbels) mit
litäten einschließlich der Blasen- und Enddarmfunktion den nur noch dort vorhandenen Sakralsegmenten, sodass
umfasst bei einem allerdings variablen Schweregrad der sich die Hauptsymptomatik entsprechend auf eine Blasen-
jeweiligen Funktionsdefizite. Die topische Ausdehnung Mastdarm-Lähmung beschränkt, mit eventuell nur leicht-
zeigt eine Transversalkonfiguration unterhalb des Schädi- gradigen zusätzlichen Sensibilitätsstörungen im Reithose-
gungsorts (. Abb. 45.11). Folglich hat die Akutdiagnostik nareal. Dennoch muss auch hier – wie bei allen akut auf-
den gesamten Myelonabschnitt oberhalb der somatotopi- tretenden Myelopathien – eine schnelle Diagnostik er-
schen Querschnittsbegrenzung zu erfassen. Bei fortbeste- folgen.
hender Schädigung erfahren die entstandenen motori-
schen Defizite einen Symptomwandel bei initial schlaffen
Paresen mit aufgehobenen Muskeleigenreflexen bis hin zu
einem spastischen Lähmungsbild mit entsprechender
506 Kapitel 45 · Rheumatologische und neurologische Differenzialdiagnosen

45

. Abb. 45.12 Konussyndrom mit Läsionsort in Höhe des 1. Lenden- . Abb. 45.13 Brown-Séquard-Syndrom mit ventrolateraler Läsion
wirbels des thorakalen Myelons links bei kontralateraler dissoziierter
Empfindungsstörung (gepunktetes Areal) und ipsilateraler zentral-
motorischer Lähmung kaudal des Schädigungsorts (gestreiftes
Areal). (Aus Baron et al. [19])

Das im späteren Verlauf eventuell entstehende neuropathi-


Mögliche Ursachen der beschriebenen sche Schmerzsyndrom manifestiert sich häufig zirkulär auf
Querschnittsyndrome einer mehrere Dermatome umfassenden Übergangszone
5 Raumfordernde Prozesse: mediale Bandscheiben- in Höhe des entstandenen Schadens oder aber als Deaffe-
vorfälle, ZNS-eigene Tumoren in Form von renzierungsschmerz in den kaudal gelegenen, partiell oder
Gliomen, Meningeomen und Ependymomen sowie vollständig denervierten Körperarealen, wobei immer
Metastasen, Abszessen, Lymphomen wieder auch eine relativ irregulär anmutende Schmerzaus-
5 Erregerbedingte Entzündungen: z. B. Borrelien, breitung ohne eine Orientierung an dermatombezogenen
Lues, Tuberkulose, Herpes zoster oder zentral konfigurierten Innervationsmustern auffällt.
5 Autoimmunologisch entstandene Entzündungen: Ferner kann im späteren Verlauf eine starke spastische
z. B. Querschnittsmyelitis, eventuell im Rahmen Tonuserhöhung in den Körperpartien, die von der zentral-
einer multiplen Sklerose oder einer Neuromyelitis motorischen Lähmung betroffen sind, zur Entwicklung
optica, bzw. eine ZNS-Beteiligung im Rahmen schwerer Myalgien führen.
eines Lupus erythematodes, einer Wegner- Die kausale Therapie richtet sich nach den für die je-
Granulomatose, eines Behcet-Syndroms und einer weiligen Grunderkrankungen geltenden Algorithmen.
Sarkoidose Für die algesiologische Behandlung gelten die allge-
5 Spinale Durchblutungsstörungen mikro- oder meinen Prinzipen der Behandlung akuter bzw. chronischer
makroangiopathischer Genese (z. B. bei Schmerzsyndrome; für im Verlauf entstehende Spastikzu-
Aortendissektionen), arteriovenöse Malforma- stände werden Myotonolytika angewendet.
tionen Als weitere Form einer Myelonschädigung ohne das
5 Myelonherniationen Vollbild einer Transversalsymptomatik ist das Brown-
Séquard-Syndrom (. Abb. 45.13) zu nennen.
45.2 · Neurologische Differenzialdiagnostik bei Rückenschmerzen
507 45
Hierbei beschränkt sich der Läsionsumfang einseitig > Auch bei chronischen Rückenschmerzen bleibt ein
oder eventuell auch doppelseitig auf die vorderen Myelon- Monitoring des neuronalen Beeinträchtigungs-
anteile mit der Ausbildung einer zentral-motorischen Läh- profils im Verlauf wichtig, um eventuell voranschrei-
mung und einer dissoziierten Empfindungsstörung unter- tende Erkrankungsprozesse mit kausaler Behand-
halb des myelopathischen Schädigungsorts; dabei befindet lungserfordernis auch dann rechtzeitig zu erken-
sich die zentral konfigurierte motorische Störung ipsilate- nen, wenn ihre Manifestation durch die vorbeste-
ral und die Empfindungsstörung kontralateral aufgrund hende Schmerzkrankheit zunächst »maskiert« ist.
der »Leitungsbesonderheiten« im Myelon.
Dieses Schädigungsmuster ist charakteristisch für Radikulopathien
Durchblutungsstörungen der Arteria spinalis anterior, die Das Schädigungsmuster einzelner Nervenwurzeln ist ge-
die entsprechenden Myelonareale versorgt. Die A. spinalis kennzeichnet durch die Manifestation eines Ausfalls bzw.
anterior ist bei ischämischen Ereignissen besonders häufig Defizits der zugehörigen sensomotorischen Funktionen und
betroffen und hat deshalb zum Begriffssynonym des eventuell durch die Entwicklung eines dermatomal zuzuord-
Spinalis-anterior-Syndroms geführt. Als mögliche andere nenden radikulär-neuropathischen Schmerzsyndroms.
Ursache kommt noch die Ausbildung einer Syringomyelie Neben monoradikulären Affektionen sind insbeson-
als isoliertes Syndrom oder im Rahmen einer komplexeren dere auch im Lumbalbereich unterhalb des Myelons poly-
Missbildung in Betracht. radikuläre Affektionen anzutreffen. Als Vollbild ist das
Das in der Region der dissoziierten Empfindungs- Kaudasyndrom zu nennen mit einer Schädigung sämtli-
störung im weiteren Verlauf eventuell entstehende cher im lumbosakralen Spinalkanal verlaufenden Nerven-
Schmerzsyndrom trägt in aller Regel einen typisch neuro- wurzeln. Als Ursache finden sich im praktischen Alltag
pathischen Charakter. In Korrelation zum Ausmaß einer meist Bandscheibenvorfälle, wobei diese bei lateraler oder
spastischen Tonuserhöhung der gelähmten Muskelgrup- mediolateraler Konfiguration in aller Regel ein monoradi-
pen kann sich auch ein lokales Myalgiesyndrom ent- kuläres Störungsbild verursachen. Bei medialer Ausdeh-
wickeln. nung aber sind sie durchaus in der Lage, das Vollbild eines
Die Therapie der Durchblutungsstörung richtet sich so Kaudasyndroms hervorzurufen mit entsprechend dring-
weit wie möglich gegen die systemischen oder lokalen lich entstehendem Handlungsbedarf. Allerdings dürfen
Ursachen bzw. hat eine stark protektive Ausrichtung zur andere Entstehungsmöglichkeiten nicht außer Acht ge-
Vermeidung weiterer spinaler oder auch zerebraler Insulte lassen werden: Radikulitis bei Borrelien-, Zoster- oder
(z. B. mit der Verordnung von Thrombozytenaggrega- Luesinfektion, Guillain-Barrè-Polyradikulitis mit einer
tionshemmern). entsprechend polyradikulopathischen Störungskonfigura-
Für eine Syringomyelie stehen kausale Behandlungs- tion, lokale Raumforderungen wie Abszesse, Granulome,
verfahren nicht zur Verfügung, neurochirurgische Korrek- Neurinome, Meningeome oder eine Meningeosis carcino-
turmaßnahmen können vereinzelt versucht werden. matosa bzw. blastomatosa, häufig mit polyradikulärer
Für die algesiologische Behandlung gelten die allge- Konfiguration und Durchblutungsstörungen der Spinalar-
meinen Prinzipen der Behandlung akuter bzw. im Verlauf terien bei schweren Gefäßprozessen unter Einbeziehung
chronisch-neuropathischer Schmerzsyndrome bzw. der der Aorta degenerativer oder vaskulitischer Natur. Grund-
Beeinflussung einer ggf. entstandenen spastischen Muskel- sätzlich sollte ein radikuläres Störungsbild, für das bildge-
tonussteigerung. bend kein entsprechendes Korrelat im Bereich der Wirbel-
Weitere Teilläsionen des Rückenmarks sind in recht säule zu identifizieren ist, nicht »sich selbst überlassen
variabler Ausprägungsform denkbar, was sich auch aus werden«; es bedarf einer Komplettierung der Abklärung
neuroanatomischen Querschnittskonfiguration plausibel mittels einer Liquorpunktion inkl. einer sofortigen zyto-
ableiten lässt. pathologischen Aufarbeitung des Nativpunktats und even-
Im klinischen Praxisalltag lässt sich beobachten, dass tuell auch einer erweiterten vaskulären Diagnostik.
schleichend entstehende Myelopathien während einer Eine klinische Besonderheit stellt die Claudicatio spi-
chronischen Druckeinwirkung – durch langsam wachsen- nalis dar. Hierbei berichten die Patienten über die Ent-
de extramedulläre Tumoren oder durch schwere dege- wicklung mono- oder polyradikulärer Schmerzen nach
nerative Verschleißerscheinungen mit fortschreitender einer gewissen Gehstrecke mit regelhafter Besserung durch
knöcherner Einengung des Spinalkanals – häufig das Einlegen einer Ruhephase. Eine Entlastung erfahren die
Symptomprofil einer spastischen Paraparese kaudal des Patienten häufig auch durch ein Vornüberbeugen des
Läsionsorts induzieren. Dies geschieht als Ausdruck einer Rumpfs mit einer Entfaltung der Neuroforamina. Aus
Pyramidenbahnläsion ohne wesentliche Sensibilitäts- diesem Grund wird auch eine Fortbewegung mittels
störungen und oft auch nur mit geringer Schmerzent- Fahrrad entsprechend positiv erlebt. Die beschriebene
wicklung. Symptomkonfiguration ist relativ pathognomonisch für
508 Kapitel 45 · Rheumatologische und neurologische Differenzialdiagnosen

eine Einengung der betroffenen Nervenwurzeln durch Anamnese und Untersuchung zur Erfassung folgender
45 eine degenerativ entstandene Spinalkanalstenose. Hierbei neuronaler Schädigungsmuster (s. auch 7 Abschn. 12.3,
sind laterale Rezessuseinengungen mit einem jeweils »Klinisch-neurophysiologische Diagnostik bei Rückenschmer-
monoradikulären Erscheinungsbild abzugrenzen von zen«):
zentralen Stenosen für den Lumbalkanal mit einer Kneif- 4 motorische Paresen,
zangenkompression der Kauda und einer bilateralen Be- 4 Sensibilitätsausfälle,
schwerdeausbildung entsprechend der Konfiguration 4 Blasen- und Mastdarmstörungen.
eines Kaudasyndroms unterhalb der betroffenen Höhe.
Betroffen von diesem Störungsbild sind in der Regel ältere Das weitere diagnostische und therapeutische Vorgehen
Patienten. Als Ursache wird (insbesondere aufgrund des richtet sich insbesondere in zeitlicher Hinsicht nach dem
typischen Erschöpfungscharakters) ein Zusammenwirken gefundenen Symptomprofil auf der Ebene der Syndrom-
zwischen mechanischer Kompression und vaskulären Ver- beschreibung:
änderungen wie z. B. einer Kongestion des Venenplexus 4 Akuter/subakuter Rückenschmerz ohne/mit
diskutiert. dermatomaler Fortleitung:
Eine wichtige differenzialdiagnostische Abgrenzung 5 orthopädisch-rheumatologische Untersuchung,
ist hierbei die ebenfalls mit einer Claudicatio intermittens 5 Bestimmung der Entzündungsparameter,
einhergehende Manifestation einer arteriellen Verschluss- 5 symptomatische Schmerztherapie.
krankheit. Diese lässt allerdings den Entlastungseffekt 4 Akutes einseitig-radikuläres Schmerzsyndrom ohne
durch ein Vornüberbeugen des Rumpfs vermissen. neuronale Defizite:
Die geltenden Behandlungsrichtlinien sind zunächst 5 Bestimmung der Entzündungsparameter,
weitgehend an einer Ursachenbeseitigung ausgerichtet. klinischer Ausschluss eines Herpes zoster,
Hier aber aber verlangt insbesondere die Bewertung der 5 symptomatische Schmerztherapie.
tatsächlichen Symptomrelevanz von bildgebend dar- 4 Subakut therapieresistentes, einseitig-
gestellten Auffälligkeiten (z. B. in Form von Bandscheiben- radikuläres Schmerzsyndrom ohne neuronale
vorfällen oder Rezessusstenosen) eine differenzierte Kor- Defizite:
relation mit dem klinisch bestehenden Störungsmuster, 5 Bestimmung der Entzündungsparameter,
um tatsächlich eine beeinträchtigungsgerechte Therapie- klinischer Ausschluss eines Herpes zoster,
konzeption gewährleisten zu können. 5 Bestimmung der Borrelien-Antikörper und
Die symptomatische Therapie radikulärer Schmerzen elektive MRT-Diagnostik,
richtet sich insbesondere im Fall einer Chronifizierung nach 5 Ausweitung der symptomatischen Schmerz-
den Behandlungsprinzipen für neuropathische Schmerzen, therapie.
wobei aber speziell ein »Mixed-pain-Syndrom« ohne beglei- 5 Zu differenzierende Diagnosen:
tende sensomotorische Ausfälle in seiner differenzialtypi- – Bandscheibenvorfälle,
schen Zuordnung häufig ein Problem darstellt mit entspre- – hochgradige Rezessusstenosen,
chend hohen Anforderungen an die Behandlungsplanung. – Frakturen oder tumoröse Raumforderungen
(z. B. Neurinome) mit Kompression der
betroffenen Nervenwurzeln,
45.2.2 Untersuchungsgang – Monoradikulopathien (Verdickung bzw. KM-
Enhacement von Nervenwurzeln).
Die Anamnese zur Charakterisierung des Beschwerdebilds 5 Eventuell Planung einer Liquordiagnostik zum
verläuft nach folgenden Kriterien: Ausschluss einer Meningeosis carcinomatosa oder
4 Schmerzausdehnung: Lokalisation auf den Rücken Radikulitis.
beschränkt, mit oder ohne dermatomale Fortleitung 5 Weitere Therapie nach Diagnose.
bzw. radikuläre Ausstrahlung; 4 Beidseitiges mono- oder polyradikuläres
4 Schmerzqualität: neuropathischer Charakter Schmerzbild ohne neuronale Defizite:
(brennend, stechend, einschießend) oder nozizeptiv- 5 Bestimmung der Entzündungsparameter und
muskuloskeletal generierte Beschwerdecharakteristik Borrelienantikörper, klinischer Ausschluss eines
(z. B. drückend-ziehend, bohrend); Herpes zoster und Planung einer MRT-Diagnostik
4 Schmerzintensität: numerische Analogskala von der Wirbelsäule zeitnah, entsprechend der neuro-
0 bis 10; anatomisch-topischen Eingrenzbarkeit des Ent-
4 Schmerzmodulation: Besserung oder Verschlechte- stehungsorts;
rung durch Ruhe/Bewegung, bestimmte Körper- 5 symptomatische Schmerztherapie.
haltungen, Handlungsabläufe; zeitliche Rhythmik. 5 Zu differenzierende Diagnosen:
45.2 · Neurologische Differenzialdiagnostik bei Rückenschmerzen
509 45
– Bedrängung von Kaudafasern oder bds. 5 Therapiemaßnahmen müssen notfallmäßig
Nervenwurzelirritation durch Bandscheiben- anhand der erhobenen Befunde festgelegt und
vorfälle, umgesetzt werden zur Vermeidung irreversibler
– Spinalkanalstenosen, neuronaler Ausfälle (z. B. Notoperation eines
– Frakturen (evtl. pathologisch) bzw. Tumoren akuten Bandscheibenvorfalls).
jeglicher Art oder durch Polyradikulopathien 4 Zentrales neuropathisches Schmerzsyndrom mit
(Verdickung bzw. KM-Enhancement von einer vollständigen oder partiellen Querschnittskon-
Nervenwurzeln). figuration sensibler und/oder motorischer Ausfälle
5 Eventuell Planung einer weiteren Liquordiagnostik und/oder mit Blasen- und Mastdarmstörungen:
zum Ausschluss einer Meningeosis carcinomatosa 5 notfallmäßige MRT-Diagnostik der spinalen
oder Polyradikulitis). Achse,
5 Weitere Therapie nach Diagnose. 5 symptomatische Schmerztherapie.
4 Einseitiges radikuäres Schmerzsyndrom mit 5 Zu differenzierende Diagnosen:
sensiblen Ausfällen: – Bandscheibenvorfälle,
5 Bestimmung der Entzündungsparameter und der – ausgeprägtere Spinalkanaleinengungen und
Borrelienantikörper, klinischer Ausschluss eines tumoröse Raumforderungen (z. B. Neurinome,
Herpes zoster, Planung einer MRT-Diagnostik Metastasen, Meningeome, Gliome) mit
zeitnah, Kompression des Myelons bzw. der Cauda
5 symptomatische Schmerztherapie. equina,
5 Zu differenzierende Diagnosen: – vaskuläre oder entzündliche Myelopathien,
– Bandscheibenvorfälle oder hochgradige – seltener zentrale Spaltbildungen,
Rezessusstenosen mit Kompression der – Myelonherniation.
betroffenen Nervenwurzeln, 5 Eventuell weitere Liquordiagnostik zum Aus-
– tumoröse Raumforderungen schluss einer Myelitis z. B durch Borreliose, Lues
(z. B. Neurinome), oder autoimmunologisch generiert, wobei eine
– Frakturen (evtl. pathologisch), multiple Sklerose oder ein systemischer Ent-
– Monoradikulopathien (Verdickung bzw. zündungsprozess ebenso wie eine Sarkoidose
KM-Enhancement von Nervenwurzeln). oder ein Lupus erythematodes zugrunde liegen
5 Eventuell Planung einer weiteren Liquordiagnostik können.
zum Ausschluss einer Meningeosis carcinomatosa 5 Eventuell vaskuläre Diagnostik zum Ausschluss
oder Monoradikulitis. eines Aortenaneurysmas oder einer Dissektion
5 Weitere Therapie nach Diagnose. vor allem auch bei apoplektoform aufgetretener
4 Einseitiges oder doppelseitiges mono- oder Symptomatik.
polyradikuläres Schmerzsyndrom mit ent- 5 In diesem Zusammenhang entstehen (wie oben
sprechenden motorischen oder sensomotorischen beschrieben) auch inkomplette Myelopathien der
Ausfällen: vorderen Rückenmarkanteile für das Versorgungs-
5 Bestimmung der Entzündungsparameter und der gebiet der A. spinalis anterior. Diese gehen außer
Borrelienantikörper, klinischer Ausschluss eines mit einer zentralmotorischen Symptomatik in
Herpes zoster, akute MRT-Diagnostik, charakteristischer Weise mit einer sog. dissozi-
5 symptomatische Schmerztherapie. ierten Empfindungsstörung einher – schwer-
5 Zu differenzierende Diagnosen: punktmäßig für die Schmerz- und Temperatur-
– Bandscheibenvorfälle, empfindung in den kaudal gelegenen Körperberei-
– ausgeprägtere Spinalkanaleinengungen, chen –, die unbemerkt bleiben kann, wenn bei der
– hochgradige Rezessusstenosen klinischen Untersuchung in Notfallsituationen
– tumoröse Raumforderungen (z. B. Neurinome, evtl. nur auf die epikritische Wahrnehmung fokus-
Metastasen, Meningeome, Gliome), siert wird.
– Frakturen (evtl. pathologisch) mit Kompression
der betroffenen Nervenwurzeln, Über einem Querschnittsyndrom darf »die Sonne nicht
– Monoradikulopathien (Verdickung bzw. auf- oder nicht untergehen«, da die Regenerationsfähigkeit
KM-Enhacement von Nervenwurzeln). des Myelons insbesondere bei mechanischer Affektion
5 Eventuelle Planung einer weiteren Liquordiagnos- sehr begrenzt ist und innerhalb von Stunden abnimmt.
tik zum Ausschluss einer Meningeosis carcinoma- Daher sind insbesondere erforderliche operative Dekom-
tosa oder Radikulitis. pressionseingriffe immer als Notfallmaßnahme durch-
510 Kapitel 45 · Rheumatologische und neurologische Differenzialdiagnosen

zuführen. Für den Untersuchungsablauf ergibt sich daraus Denervierungspotenziale in den dazugehörigen Myotom-
45 folgende Konsequenz: Die Diagnose »muss stehen«, noch muskeln – erst nach Tagen eintreten.
bevor die neurologischen Befunde z. B. eine sichere Insgesamt ist das Ursachenspektrum vertebragener Be-
Unterscheidung zwischen einem zentralen, auf das Myelon schwerdebilder auf neurologischem Fachgebiet sehr breit
zu beziehenden und einem peripheren Schädigungs- gefächert. Aufgrund des sehr unterschiedlichen Ge-
muster offenbaren, da sich insbesondere das Rückenmark fährdungspotenzials der einzelnen Erkrankungsformen
über viele Tage im Stadium des »spinalen Schocks« be- für die künftige Funktionsintegrität der betroffenen Pa-
finden kann – mit Fehlen von Pyramidenbahnzeichen tienten bedarf es immer einer zeitgerechten und genauen
oder einer spastischen Steigerung des Muskeltonus mit differenzialdiagnostischen Abklärung.
gesteigerten Muskeleigenreflexen. Auch eine isoliert
auftretende, akute Blasen- und Mastdarmlähmung spina-
len Ursprungs ist eine absolute Notfallkonstellation. Als Literatur
eine mögliche Ursache kommt z. B. eine Konusmyelitis
Literatur zu Abschn. 45.1
infrage (Diagnosesicherung durch MRT- und Liquordia- 1. Bolten W (2001) Rückenschmerz. UNI-MED, Bremen
gnostik). 2. Giehl J, Willms R (2001) Deformitäten der Wirbelsäule und des
Rückens. In: Zeidler H, Zacher J, Hiepe F (Hrsg) Interdisziplinäre
klinische Rheumatologie. Springer, Berlin, S 973–997
3. Giehl J, Willms R (2001) Sonstige Deformitäten der Wirbelsäule
45.2.3 Zusammenfassung
und des Rückens. In: Zeidler H, Zacher J, Hiepe F (Hrsg)
Interdisziplinäre klinische Rheumatologie. Springer, Berlin,
Die Dringlichkeit diagnostischer und ursachenbezogener S 998–1003
therapeutischer Maßnahmen bei vertebragenen Beschwer- 4. Hettenkofer HJ (Hrsg) (2003) Rheumatologie: Diagnostik-Klinik-
debildern richtet sich hauptsächlich nach dem neuronalen Therapie, 5. Aufl. Thieme, Stuttgart
Störungsmuster und erst in zweiter Linie nach Art und 5. Hämmerle G (2008) The non-operative treatment of the
degenerative lumbar spine. arthritis + rheuma 28:81–88
Ausmaß des entstandenen Schmerzsyndroms. Das 6. Lichti G (2008) Kreuzschmerz. In: Lange U (Hrsg) Physikalische
Syndrom des »plötzlichen Wurzeltods« bei schwerer radi- Medizin in der Rheumatologie unter Berücksichtigung evidenz-
kulärer Kompression ist sogar gekennzeichnet durch ein basierter Daten. Ligatur-Verlag, Stuttgart, S 121–130
Nachlassen des Schmerzes bei einer gleichzeitig zu beob- 7. Mau W, Zeidler H, Willms R, Giehl J (2001) Spondylopathien.
achtenden massiven Verstärkung sensomotorischer Aus- In: Zeidler H, Zacher J, Hiepe F (Hrsg) Interdisziplinäre klinische
Rheumatologie. Springer, Berlin, S 1004–1038
fallserscheinungen. Obwohl diese Zustandsveränderung
8. AWMF (2010) Nationale VersorgungsLeitlinie Kreuzschmerz.
von den Patienten selbst oft als Erleichterung erlebt wird, Version 1.0, 30. November 2010, AWMF-Register: nvl/007.
stellt sie tatsächlich ein Bedrohungsmerkmal dar mit der http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/kreuzschmerz.
Notwendigkeit einer sofortigen Notfalltherapie. Zugegriffen: 13. August 2015
Die Möglichkeit einer »funktionellen« Beschwerdeent- 9. Rudwaleit M (2004) Integrierte Schmerztherapie bei Rücken-
schmerzen. In: Wendler W, Baerwald C (Hrsg) Rheuma und
stehung oder -überlagerung mit einer entsprechenden
Schmerz. UNI-MED, Bremen, S 139–148
Akzentuierung der sensomotorischen Ausfallsmuster wird 10. Willms R, Giehl J (2001) Sonstige Erkrankungen der Wirbelsäule
speziell für das Krankheitsspektrum der Rückenschmer- und des Rückens. In: Zeidler H, Zacher J, Hiepe F (Hrsg) Inter-
zen häufig zur Realität. Allerdings ist die somatische Aus- disziplinäre klinische Rheumatologie. Springer, Berlin, S 973–997
schlussdiagnostik immer in aller Konsequenz durchzu-
Weiterführende Literatur zu Abschn. 45.2
führen, ehe dann im weiteren Verlauf eine Evaluation des
1. Baron R, Freynhagen R (2006) Neuropathischer Schmerz. Pfizer,
psychosozialen Belastungsspektrums unter dem Blick- Karlsruhe
winkel einer erhöhten körperlichen Affektresonanz mit 2. Bitsch A, Prange H (2006) Neue Virustatika. Aktuelle Neurologie
der Ausbildung einer somatoformen Schmerz- und/oder 33:257–262
Körperstörung zu erfolgen hat. 3. Casser HR (2008) Der chronische untere Rückenschmerz.
Elektrophysiologische Untersuchungen (Neurografie, Nervenheilkunde 27:251–264
4. Dietz V (2001) Syndrom der spastischen Parese. Aktuelle
motorisch bzw. sensibel evozierte Potenziale, Elektromyo-
Neurologie 28:49–52
grafie) sind im Verlauf eine wichtige Hilfe zur genaueren 5. Dietz V (2007) Komplikationen und Spätfolgen nach Rücken-
Eingrenzung des neuronalen Schädigungsmusters in Aus- marktrauma. Aktuelle Neurologie 34:478–487
maß und topischer Schwerpunktbildung. Für die akut zu 6. Eicker S et al (2010) Diagnostik und Therapie der spinalen
fällenden Therapieentscheidungen sind sie aber allenfalls vaskulären Malformationen. Nervenarzt 81(6):719–726
7. Kaiser R, Fingerle V (2009) Neuroborreliose. Nervenarzt
in Ausnahmesituationen von richtungsweisender Be-
80(10):1239–124
deutung, da die charakteristischen Veränderungen einer 8. Lindner V, Rehm S (2011) Neurologische Erkrankungen und
Waller-Degeneration peripherer Nervenstämme distal des Schmerz. In: Baron R, Koppert W, Strumpf M, Willweber-Strumpf A
Schädigungsorts – oder myografisch nachweisbare frische (Hrsg) Praktische Schmerztherapie. Springer, Berlin, S 477–486
Literatur
511 45
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10. Mumenthaler M et al (2007) Läsionen peripherer Nerven und
radikuläre Syndrome. Thieme, Stuttgart
11. Mumenthaler M, Mattle H (2008) Neurologie. Thieme, Stuttgart
12. Paulig M (2009) Schmerzen bei Multipler Sklerose. Nerven-
heilkunde 28:875–878
13. Platz T (2009) Rehabilitatives Management der Spastik. Nerven-
heilkunde 28:129–134
14. Rupprecht TA et al (2008) Schmerzen bei Neuroborreliose.
Schmerz 22:615–622
15. Schoser B (2009) Zur Therapie von Muskelkater, Myalgien, Krampi
und Myotonie. Aktuelle Neurologie 36:270–274
16. Strik H, Prömmel P (2010) Meningeosis neoplastica. Nervenarzt
81(2):229–241
17. Winter T, Wissel J (2006) Management und medikamentöse
Behandlung einer spastischen Bewegungstörung Nerven-
heilkunde 25:147–157
18. Hacke W (Hrsg) (2015) Neurologie, 14. Aufl. Springer, Heidelberg
19. Baron R et al (Hrsg) (2011) Praktische Schmerztherapie. Springer,
Heidelberg, S 59
513 IX

Besondere
Patientengruppen
Kapitel 46 Rücken- und Nackenschmerzen bei Kindern
und Jugendlichen – 515
J. Forst

Kapitel 47 Rücken- und Nackenschmerzen im Leistungssport – 523


T. Mierswa, M. Kellmann

Kapitel 48 Ältere Patienten – 529


C. Leonhardt, H.-D. Basler

Kapitel 49 Geschlechtsunterschiede bei chronischen


Muskel- und Rückenschmerzen – 541
S. Lautenbacher
515 46

Rücken- und Nackenschmerzen


bei Kindern und Jugendlichen
J. Forst

46.1 Epidemiologie – 516

46.2 Diagnostik – 516


46.2.1 Anamnese – 517
46.2.2 Untersuchung – 518
46.2.3 Weiterführende Diagnostik – 518

46.3 Spezifische Krankheitsbilder – 519


46.3.1 Schulter- und Nackenschmerzen – 519
46.3.2 Muskulär bedingte Rückenschmerzen – 519
46.3.3 Bandscheibenvorfall – 519
46.3.4 Apophysenverletzungen der Wirbelsäule – 519
46.3.5 Spondylolyse und Spondylolisthese – 519
46.3.6 Scheuermann-Krankheit – 520
46.3.7 Entzündliche Erkrankungen – 521
46.3.8 Rheumatologische Erkrankungen – 521
46.3.9 Tumoren – 521

Literatur – 521

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_46, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
516 Kapitel 46 · Rücken- und Nackenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen

Nacken- und Rückenschmerzen bei Kindern und Jugend-


. Tab. 46.1 Subjektive und klinische Befunde (Alarmsignale,
lichen sind eine diagnostische Herausforderung. Die
»red flags«), die eine intensive Abklärung von Rückenschmer-
Differenzialdiagnosen in dieser Altersgruppe umfassen zen bei Kindern und Jugendlichen einleiten sollten (nach [2])
46 einen weiten Bereich möglicher Pathologien: traumatische,
systemische, neoplastische, infektiöse, kongenitale, psycho- Anamnese Klinik
somatische Erkrankungen neben muskulären oder konstitu-
Alter <10 Jahre Fieber
tionellen Ursachen. Die Häufigkeit von Rückenschmerzen
bei Kindern und Jugendlichen kann bisher nur geschätzt Funktionelle Beeinträchtigung Tachykardie
werden und wird je nach Studienbedingungen mit einer Schmerzdauer >4 Wochen Gewichtsverlust
Häufigkeit zwischen 20 und 80 % angegeben. In mehr als
Rezidivierende Schmerzen Lymphadenopathie
50 % kann eine morphologische Ursache der Beschwerden
trotz aufwendiger Diagnostik nicht gefunden werden. Aus Zunehmende Schmerzen Abdominelle Masse
der strukturierten Anamnese und dem subtilen klinischen Morgensteife Verändertes WS-Profil
Befund lassen sich Kriterien für eine frühzeitige erweiterte
Nachtschmerz Veränderte WS-Beweglich-
Diagnostik (Röntgen, MR, Labor, CT, Szintigrafie) ableiten. keit

Fieber Druckschmerz über der


Wirbelsäule
46.1 Epidemiologie
Gewichtsverlust Hinken oder andere
Gangveränderungen
In 1980er Jahren wurde angenommen, dass Rücken-
schmerzen bei Kindern und Jugendlichen extrem selten Krankheitsgefühl Neurologische Symptome

sind. Rückenschmerzen wurden in aller Regel nur mit pa- Haltungsänderung (Kyphose/ Blasen- oder Mastdarm-
thologischen Befunden assoziiert, da Kinder und Jugend- Skoliose) dysfunktion
liche nur in seltenen Fällen mit primären Rückenschmer- Hinken oder andere
zen einen Arzt in Anspruch nahmen. In den vergangenen Gangveränderungen
20 Jahren konnten jedoch unterschiedliche Kohorten- Trauma
studien zeigen, dass Rückenschmerzen je nach Studien-
bedingungen bei etwa 20–80 % der Kinder und Jugend-
lichen auftreten. Mädchen scheinen häufiger betroffen zu
sein als Jungen. Genaue epidemiologische Daten sind Tumoren wie Osteoblastom, Osteosarkom oder Lymphom
jedoch nicht verfügbar, da die durchgeführten Studien auftreten. Bei der aneurysmatischen Knochenzyste und
bezüglich der Schmerzdefinition, der untersuchten dem Osteoidosteom an der Wirbelsäule findet man keinen
Schmerzen (z. B. »neck and/or shoulder pain, low back altersspezifischen Gipfel [1, 2, 4, 7]. Psychosomatische Be-
pain, back pain«), des untersuchten Zeitraums (Frage nach schwerden treten eher bei Adoleszenten auf. Die Diagnose
Rückenschmerzepisoden in einem bestimmten Zeitraum) eines psychosomatisch verursachten Schmerzes kann je-
und des Alters der Patienten keine einheitlichen Kriterien doch erst nach Ausschluss einer relevanten Erkrankung
aufweisen [1–4,6–9]. Spezifische Ursachen scheinen gestellt werden [3, 4].
jedoch insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, die
wegen ihrer Rückenschmerzen einen Arzt aufsuchen, häu-
figer aufzutreten als bei erwachsenen Patienten. Je jünger 46.2 Diagnostik
die Patienten, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für
eine spezifische Organpathologie als Ursache der Be- Um die häufigen unspezifischen Rückenschmerzen von
schwerden (. Tab. 46.1). Prinzipiell können unspezifische ernsthaften Erkrankungen zu differenzieren, müssen eine
Rückenschmerzen bei Kindern in jedem Alter auftreten, ausführliche Anamneseerhebung (Eigenanamnese, Fami-
bei Kindern unter 10 Jahren werden Rückenschmerzen lienanamnese und Schmerzanamnese), eine eingehende
jedoch überproportional häufig durch Entzündungen oder klinische Untersuchung und ggf. eine Röntgenunter-
Tumoren (auch außerhalb des Bewegungsapparats) suchung der betroffenen Region durchgeführt werden.
hervorgerufen. Jugendliche über 10 Jahre leiden dagegen Weiterführende diagnostische Verfahren wie Kernspinto-
häufiger unter unspezifischen Rückenschmerzen oder mografie und Computertomografie oder gar nuklearmedi-
Rückenschmerzen, die durch ein Trauma oder eine Über- zinische Verfahren zur weiteren Abklärung sind dagegen
belastung bei anlagebedingten Erkrankungen wie Spondy- nur mit eindeutiger Fragestellung indiziert [1–4, 6–9].
lolyse, Spondylolisthese oder Scheuermann-Krankheit Für eine Übersicht zur Diagnostik und Therapie von
hervorgerufen werden. Aber auch in diesem Alter können Rückenschmerzen bei Kindern siehe . Abb. 46.1.
46.2 · Diagnostik
517 46

Anamnese und klinische Untersuchung

Kurze Schmerzanamnese, klinischer Auffälliger klinischer Befund,


Befund eindeutig zuordenbar auffällige Anamnese
(Alarmsignale)

Unspezifische Rückenschmerzen

tNSAR, ggf. Physiotherapie, klinische


Kontrolle in 2 Wochen

Schmerzfrei Anhaltende Beschwerden

Abschluss der Behandlung Weiterführende Diagnostik:


Röntgenbild in 2 Ebenen,
MRT,
ggf. Entzündungslabor
(CRP, Leukozyten, LDH)

Diagnose Keine Diagnose

Weitere Diagnostik:
MRT der betroffenen Region,
ggf. gesamte Wirbelsäule,
ggf. CT und/oder Szintigrafie.
Bei Ausschluss einer Erkrankung
des Bewegungsapparats pädiatrische,
urologische oder gynäkologische
Abklärung, ggf. psychologische Exploration

Diagnose Keine Diagnose


Anhaltende Beschwerden

Behandlung der Grunderkrankung Strukturierte Schmerztherapie

. Abb. 46.1 Algorithmus zur Diagnostik und Therapie von Rückenschmerzen bei Kindern und Ju-gendlichen. (Adaptiert nach Bernstein und
Cozen [1])

46.2.1 Anamnese weise auf muskuläre Ursachen zurückzuführen. Langsam


beginnende oder anhaltende Schmerzen sind dagegen eher
Bei der Schmerzanamnese ist zunächst der Schmerz – Be- bei der Scheuermann-Krankheit, benignen Tumoren und
ginn, Dauer, Charakter und Lokalisation – genau zu malignen Erkrankungen zu finden. Rezidivierende
bestimmen. Akute Schmerzen, zumeist innerhalb eines Schmerzen im Zusammenhang mit spezifischen Belastun-
Tages beginnend, in Verbindung mit einem kurz zurück- gen sind häufig mit angeborenen Veränderungen wie
liegenden Trauma hängen in aller Regel mit Verletzungen Spondylolyse, Spondylolisthese, bei Scheuermann-Krank-
des Knochens, der Bänder oder Bandscheiben zusammen. heit oder mit Bandscheibenvorfällen vergesellschaftet.
Vorübergehende, kurz anhaltende Schmerzen nach sport- Anhaltende und nächtliche Schmerzen treten häufig bei
licher Belastung, die sich in Ruhe bessern, sind üblicher- Tumoren oder Infektionen auf. Anhaltende bzw. im Ver-
518 Kapitel 46 · Rücken- und Nackenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen

lauf zunehmende Schmerzen deuten in aller Regel auf eine 46.2.3 Weiterführende Diagnostik
ernsthafte Ursache hin [1–4, 7].
Auch Schmerzlokalisation und Schmerzausstrahlung Neben der Anamneseerhebung und der klinischen Unter-
46 geben Hinweise auf die mögliche Ursache: Die Scheuer- suchung ist die Röntgenuntersuchung in 2 Ebenen in vie-
mann-Krankheit verursacht eher thorakale Schmerzen, len Fällen erforderlich. Bei Kindern unter 10 Jahren mit
eine Spondylolyse oder Spondylolisthese eher lumbale Rückenschmerzen sollte sie zum Ausschluss von Tumorer-
Schmerzen. Entzündliche Erkrankungen und Überlastun- krankungen immer im Rahmen der Erstvorstellung durch-
gen verursachen eher diffuse Schmerzen, ausstrahlende geführt werden. Ebenfalls bei einer Schmerzanamnese von
Schmerzen können auf einen Bandscheibenvorfall oder mehr als 2 Monaten, zunehmenden Schmerzen oder
andere intraspinale Ursachen (Tumor, Entzündung) hin- unklarer Anamnese und Befundkonstellation sollte ein
deuten [1, 2, 4, 7]. Röntgenbild in 2 Ebenen der betroffenen Region durch-
Neben der reinen Schmerzanamnese ergeben auch geführt werden. Bei Adoleszenten mit kurzer eindeutiger
Nebensymptome wie z. B. B-Symptomatik (Fieber, Nacht- Schmerzanamnese (z. B. kurz zurückliegende sportliche
schweiß, Krankheitsgefühl, Gewichtsabnahme, Leistungs- Belastung) und klinisch eindeutig zuordenbarer Ursache
einbußen) oder neurologische Ausfälle bzw. Schmerzaus- (z. B. muskuläre Ursache der Schmerzen) kann während
strahlungen Hinweise auf mögliche zugrunde liegende der Erstuntersuchung ggf. auf eine primäre Röntgenunter-
Erkrankungen [1, 2, 4, 7]. suchung verzichtet werden. In diesem Fall ist jedoch unbe-
Zur frühzeitigen Identifikation behandlungsbedürf- dingt eine klinische Kontrolle nach spätestens 2 Wochen
tiger Ursachen bei gleichzeitiger Vermeidung von Über- durchzuführen. Bei anhaltenden Beschwerden ist dann
diagnostik bietet sich ähnlich wie beim Vorgehen mit er- eine Röntgenuntersuchung obligat durchzuführen [1, 2, 4,
wachsenen Patienten die Erhebung von Warnhinweisen an 7, 8].
(. Tab. 46.1).
Labor
Spezifische Laboruntersuchungen in der Differenzial-
46.2.2 Untersuchung diagnostik von Nacken- und Rückenschmerzen gibt es
nicht. Bei Kindern unter 10 Jahren mit Rückenschmerzen
Die klinische Untersuchung sollte prinzipiell am entkleide- sowie anamnestischem oder klinischem Verdacht auf eine
ten Patienten, ohne Strümpfe, durchgeführt werden. Im entzündliche oder entzündlich-rheumatische Ursache
Bereich der Füße kann z. B. ein Ballenhohlfuß auf eine sollten ein Differenzialblutbild, CRP sowie in Absprache
neurologische Grunderkrankung (HMSN, intraspinale mit dem Kinderrheumatologen Antikörperuntersuchun-
Deformität) hindeuten. Bei der Inspektion sind auffällige gen durchgeführt werden [4].
Befunde wie Hautdefekte über den Dornfortsätzen (Häm-
angiome, Lipome, Zysten, »Haarfellchen«) häufig mit da- Weiterführende bildgebende Verfahren
runterliegenden Veränderungen der Nervenstrukturen Spezielle bildgebende Verfahren (Kernspintomografie,
(z. B. Spina bifida occulta, Dysraphie) verbunden. Multip- Computertomografie, Skelettszintigrafie) sind nach ent-
le Café-au-Lait-Flecken können auf eine syndromale sprechender Primärdiagnostik (Anamnese, klinische Un-
Erkrankung (z. B. Neurofibromatose) hinweisen. Ab- tersuchung, Röntgen) in der Regel nur mit einer konkreten
schließend sollte auch eine allgemeine Untersuchung zum weiterführenden Fragestellung indiziert. Aufgrund der
Ausschluss nichtorthopädischer Ursachen durchgeführt fehlenden Strahlenbelastung ist die Kernspintomografie
werden, wie z. B. abdominelle, urologische und gynäkolo- hier das Mittel der Wahl in der weiterführenden Diagnos-
gische Ursachen, Pneumonie. Die orthopädische Unter- tik, Computertomografie (CT) und Mehrphasenszinti-
suchung umfasst neben der Beurteilung des Gangbilds, der grafie (inkl. SPECT) sind bei Kindern und Jugendlichen
klinischen Bestimmung der Beinlänge, der Inspektion, nur noch in Ausnahmefällen indiziert. Im Zweifelsfall
Palpation und Funktionsuntersuchung der Gelenke der sollte die weitere bildgebende Diagnostik mit dem Kinder-
Extremitäten und der Wirbelsäule eine orientierende neu- radiologen koordiniert werden [8].
rologische Untersuchung [1, 2, 4, 7]. Liegen klinische und/
oder anamnestische Auffälligkeiten entsprechend der jKernspintomografie
. Tab. 46.1 vor, sollten je nach Verdachtsdiagnose weitere Die Kernspintomografie (auch MRT) ist heute das Mittel
Untersuchungen veranlasst werden. der Wahl zur weiterführenden Diagnostik bei Rücken-
schmerzen. Durch unterschiedliche Techniken, inkl.
kontrastmittelgestützter Untersuchung, lassen sich heute
pathologische Prozesse der nervalen Strukturen, der
Bandscheiben, Wachstumszonen sowie der ossären und
46.3 · Spezifische Krankheitsbilder
519 46
ligamentären Strukturen darstellen. Für die Qualität der pie mit tNSAR und ggf. physikalischer Therapie rasch ab.
Untersuchung ist aber die konkrete Fragestellung eine Bei anhaltenden Beschwerden unter adäquater Therapie
unerlässliche Voraussetzung, da hierdurch die genaue sollte nach 2 Wochen eine weitere Abklärung erfolgen [1,
Durchführung und der Umfang der Untersuchung defi- 2, 4, 7]. Nicht eindeutig geklärt sind die Zusammenhänge
niert werden. Nachteile der Kernspintomografie sind die von Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen, die
hohen Kosten und bei Kleinkindern die Notwendigkeit beim Tragen schwerer Schulrucksäcke auftreten [4, 7].
einer Sedierung oder Narkose, sodass die Verfügbarkeit
dieser Methode eingeschränkt sein kann.
46.3.3 Bandscheibenvorfall
jComputertomografie (CT)
Die CT ist heute – nach Verfeinerung der MR-Diagnostik Auch bei Kindern und Jugendlichen können Bandschei-
in den vergangenen Jahren – nur noch als ergänzende Un- benvorfälle beobachtet werden. Typischerweise klagen die
tersuchung bei ossärer Ursache von Rückenschmerzen, Patienten über Rückenschmerzen mit Ausstrahlung in die
z. B. zur OP-Planung bei Frakturen, indiziert. Durch CT- Beine, gelegentlich über Schmerzverstärkung beim Husten
gestützte Technik kann in minimal-invasiver operativer oder Niesen. Auch eine Lendenstrecksteife kann auftreten.
Technik z. B. die Ausbohrung eines Nidus bei Osteoidos- Bei der klinischen Untersuchung besteht häufig eine
teom erfolgen. verminderte Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule, die
Nervendehnungszeichen (Lasègue, umgekehrter Lasègue
jMehrphasenszintigrafie bzw. Femoralisdehnungsschmerz) sind positiv. Neurologi-
Die Mehrphasenszintigrafie hat nach der allgemeinen Ver- sche Defizite (motorische bzw. sensible Ausfälle) sind
fügbarkeit von MRT als Screeningmethode an Wertigkeit seltener als bei Erwachsenen, ihr Fehlen schließt einen
erheblich eingebüßt. Aufgrund des Verfahrens, das ledig- Bandscheibenvorfall aber nicht aus. Röntgenaufnahmen
lich eine lokale Steigerung des Knochenstoffwechsels zeigen häufig einen Normalbefund, die MRT-Diagnostik
darstellen kann, ist die Spezifität der Methode in der Dif- kann auch mögliche Differenzialdiagnosen wie einen int-
ferenzialdiagnose nur gering. Zusätzlich ist die Bewertung raspinalen Abszess, Tumoren des Spinalkanals, Verände-
insbesondere bei jüngeren Kindern aufgrund der norma- rungen im Conus- und Kaudabereich oder Verletzungen
len Aktivität der Wachstumsfugen diffizil. der Apophysen ausschließen (. Tab. 46.2). Die Therapie
ist in der Regel konservativ, bei anhaltender radikulärer
Symptomatik unter adäquater konservativer Therapie
46.3 Spezifische Krankheitsbilder kann eine operative Behandlung indiziert sein [1, 2, 4, 7].

46.3.1 Schulter- und Nackenschmerzen


46.3.4 Apophysenverletzungen
Schulter- und Nackenschmerzen werden bei Kinder und der Wirbelsäule
Jugendlichen mit einer Häufigkeit von 20–40 % [3, 8] beob-
achtet. Prins et al. [8] fanden eine Korrelation zwischen Diese seltenen Verletzungen können bei einem akuten
unspezifischen Schulter- und Nackenschmerzen bei Trauma mit einer raschen Flexion und axialen Kompres-
Kindern und Jugendlichen und Haltungskonstanz vor sion auftreten, als Sportverletzung sind sie z. B. bei Ge-
allem durch sitzende Tätigkeiten, wie Arbeiten am Compu- wichthebern zu beobachten. Die Patienten klagen über
ter; die Beschwerden traten aber auch hier statistisch signi- akut aufgetretene Rückenschmerzen mit Ausstrahlung in
fikant häufiger bei Mädchen auf als bei Jungen. Zudem die Beine. In den Röntgenaufnahmen in 2 Ebenen kann
konnten sie eine signifikante Beziehung von Schulter- und man gelegentlich eine kleine knöcherne Absprengung an
Nackenschmerzen und psychischen Faktoren wie Stress der Deckplatte beobachten. Die MRT zeigt dann das Aus-
und Depression sowie psychosomatischen Faktoren finden. maß der Verletzung. Im Gegensatz zum Bandscheibenvor-
fall besteht hier eine primäre Operationsindikation mit
Entfernung des knöchernen Fragments bei Irritation von
46.3.2 Muskulär bedingte Rückenschmerzen nervalen Strukturen [4].

Muskulär bedingte Rückenschmerzen bei Kindern und


Jugendlichen treten häufig bei sportlich aktiven Patienten 46.3.5 Spondylolyse und Spondylolisthese
ab dem 10.–12. Lebensjahr auf. Üblicherweise klingen die
Beschwerden – bei typischer Anamnese und klinischem Spondylolyse und Spondylolisthese, in der Regel an der
Befund – unter Sportkarenz und symptomatischer Thera- Lendenwirbelsäule, werden vor allem bei sportlich aktiven
520 Kapitel 46 · Rücken- und Nackenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen

. Tab. 46.2 Mögliche Differenzialdiagnosen bei spezifischen Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen (nach [1])

Beschwerden Differenzialdiagnosen Begleitende Symptome


46
Nachtschmerzen Tumor, Infektion Fieber, Krankheitsgefühl, Gewichtsverlust

Rückenschmerzen mit B-Symptomatik Tumor, Infektion Nachtschmerz

Akute Schmerzen ohne eindeutiges Bandscheibenvorfall, Spondylolyse Radikuläre Schmerzen, Lasègue-Zeichen positiv
Trauma

Akute Schmerzen mit Trauma Fraktur, Apophysenverletzung Neurologische Ausfallsymptomatik

Chronische Schmerzen Scheuermann-Krankheit Kyphose

Spondylarthropathie Morgensteife, Gelenkschmerzen

Schmerzen bei Inklination der Bandscheibenvorfall, Apophysenverlet- Radikuläre Schmerzen, Lasègue-Zeichen positiv
Wirbelsäule zung

Schmerzen bei Reklination der Spondylolyse, Spondylolisthese Verkürzung der dorsalen Oberschenkelmuskeln,
Wirbelsäule verminderte Lordose

Schmerzen mit frisch aufgetretener Tumor, Infektion, Bandscheibenvorfall, Fieber, Krankheitsgefühl, Gewichtsverlust, Lasè-
Skoliose Syrinx gue-Zeichen positiv

Idiopathische Skoliose

Jugendlichen (z. B. Speerwerfer, Turner, Turmspringer, 46.3.6 Scheuermann-Krankheit


Tänzer) gefunden. Als auslösender Faktor werden rezidi-
vierende Mikrotraumen angenommen. Die Patienten Die Scheuermann-Krankheit, eine Erkrankung der Brust-
klagen über geringe bis mittelstarke Rückenschmerzen, wirbelsäule, ist durch den Nachweis von 3 nebeneinander-
gelegentlich mit Ausstrahlung in das Gesäß oder die Beine. liegenden Keilwirbeln (>5°) im seitlichen Röntgenbild
Die Schmerzen verstärken sich unter Belastung und definiert. Veränderungen der Grund- und Deckplatten
klingen bei Ruhe ab. Klinisch findet sich eine gering ver- können ebenso wie Schmorl-Knötchen auftreten. Häufiges
minderte Beweglichkeit der Wirbelsäule, ein Flachrücken, Erstsymptom ist »eine schlechte Haltung«. Die häufig als
eine Druckschmerzhaftigkeit der lumbalen Rückenstreck- ziehend beschriebenen Schmerzen werden eher als störend
muskulatur, häufig eine Verkürzung der Kniebeuger und empfunden und verstärken sich bei längerem Sitzen oder
ein »schlurfendes Gangbild«. Das seitliche Röntgenbild Stehen und unter Belastung. Neurologische Ausfälle
zeigt eine Spondylolisthese, aber auch eine Spondylolyse werden üblicherweise nicht gefunden. Bei der klinischen
kann im seitlichen Bild üblicherweise gesehen werden. Untersuchung fällt ein vermehrter Rundrücken im Brust-
Schrägaufnahmen können einen weiteren typischen Be- wirbelbereich auf. Die Therapie ist in der Regel konservativ
fund darstellen (»Hund trägt Halsband«), sie sind jedoch mit Physiotherapie zur Dehnung der verkürzten Muskula-
in der Regel nicht erforderlich. Die weitere bildgebende tur und Haltungsschulung. Bei Jugendlichen mit großer
Diagnostik, insbesondere bei Spondylolyse, ist derzeit in Wachstumsreserve und noch erhaltener Flexibilität der
Diskussion. Zum Nachweis von Begleitveränderungen Kyphose kann ein reklinierendes Korsett, dessen Pass-
(z. B. Bandscheibendegeneration, beginnende Osteochon- genauigkeit regelmäßig überprüft werden muss, das Fort-
drose, Knochenmarködem im Bereich der Spondylolyse) schreiten der Kyphose verhindern. Operative Maßnahmen
steht mit der MRT eine strahlungsfreie Diagnostik zur Ver- sind bei Kyphosen >70° zu überprüfen [1, 2, 4, 7].
fügung. Die Therapie der symptomatischen Spondylolyse Abzugrenzen von der »klassischen« Scheuermann-
besteht in Sportkarenz und ggf. in der Gabe von Analgeti- Krankheit ist die lumbale Scheuermann-Krankheit. Hier
ka. Bei starken Schmerzen kann passager eine Orthese tritt eine Kyphose im thorakolumbalen Übergang mit ähn-
(TLSO) zur Limitierung der Bewegungen der LWS verord- lichen radiologischen Befunden wie an der Brustwirbel-
net werden. Bei symptomatischen Spondylolisthesen und säule auf. Häufig wird diese Veränderung in Kombination
einem Gleitweg ≥ Meyerding 2 ist eine Operationsindika- mit einer Spondylolyse beobachtet. Die verstärkte Kyphose
tion zu überprüfen [1, 2, 4, 7]. des thorakolumbalen Übergangs wird hierbei als Kompen-
sation für die verstärkte Lordose bei der Spondylolyse ge-
sehen. Die Therapie der lumbalen Scheuermann-Krank-
Literatur
521 46
heit ist wie bei der klassischen Erkrankung (s. oben); oder die Szintigrafie führt zur Diagnose der CRMO (Nach-
im Langzeitverlauf sollen die Patienten mit lumbaler weis von mind. 2 entzündlichen Läsionen). TNSAR sind
Scheuermann-Krankheit mehr Beschwerden entwickeln das Mittel der Wahl, in den letzten Jahren wird die Thera-
als Patienten mit Scheuermann-Krankheit im Thorakal- pie auch mit Bisphosphonaten durchgeführt [4].
bereich [4]. Die juvenile rheumatoide Arthritis führt nur selten zu
Schmerzen an der Brust- oder Lendenwirbelsäule, sondern
manifestiert sich häufiger an der Halswirbelsäule. Enthesi-
46.3.7 Entzündliche Erkrankungen opathien können im Adoleszentenalter auftreten, bei Jun-
gen häufiger als bei Mädchen. Neben Rückenschmerzen
Diszitis und Spondylodiszitis sind seltene Erkrankungen wird hier häufig auch ein Steifigkeitsgefühl beschrieben.
des Kindes- und Jugendalters. Bevorzugte Altersgruppen Die Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule ist häufig ein-
für eine Diszitis sind das Kleinkindalter und das frühe geschränkt. Die Behandlung rheumatologischer Erkran-
Jugendalter, eine Diszitis kann aber prinzipiell in jedem kungen sollte unter kinderrheumatologischer Kontrolle
Alter auftreten. Die Beschwerden können neben lokalen erfolgen [1, 2, 4, 7].
Rückenschmerzen auch Bauchschmerzen, nächtliche
Schmerzen und Bewegungsunlust umfassen. Bei der klini-
schen Untersuchung kann eine lokale Druck- und Klopf- 46.3.9 Tumoren
schmerzhaftigkeit auftreten, die Kinder versuchen oft, eine
Beugung des Rumpfs zu vermeiden. Im Labor kann ein Bei einer schmerzhaften Skoliose, anhaltenden Schmer-
erhöhtes CRP auf eine Infektion hinweisen, die Leukozy- zen, nächtlichen Schmerzen, im Verlauf zunehmenden
ten sind dagegen häufig normal. In der Bildgebung ist das Schmerzen und Funktionseinschränkungen muss auch an
MRT richtunggebend, die nativen Röntgenaufnahmen zei- einen Tumor oder eine primär maligne Erkrankung ge-
gen häufig, insbesondere im Initialstadium, einen unauf- dacht werden. Häufig sind die Beschwerden und Sympto-
fälligen Befund. Erst bei länger unbehandelter Diszitis me bei Tumorerkrankungen unspezifisch und zunächst
kommt es zu radiologisch sichtbaren Reaktionen an den nur gering ausgeprägt, was zu einer verzögerten Diagnose-
Wirbelkörpern. Die bakterielle Diszitis betrifft häufig nur stellung führen kann. Neurologische Defizite finden sich
ein Segment, bei Nachweis einer Diszitis bzw. Spondylitis primär selten, die Symptomatik ähnelt häufig einer Ent-
mehrerer benachbarter Segmente muss eine Tuberkulose zündung. Neben primär gutartigen Veränderungen, wie
ausgeschlossen werden. Der Verlauf der bakteriellen Osteoidosteom, Osteoblastom, aneurysmatische Kno-
Diszitis im Kindesalter ist im Gegensatz zur Diszitis des chenzyste, Histiozytose X, können auch Leukämien oder
Erwachsenen häufig weniger dramatisch. Die Behandlung primäre Knochentumoren (Ewing-Sarkom, Osteosarkom,
einer Diszitis im Kindes- und Jugendalter ist – bei fehlen- Chordom) als Differenzialdiagnose auftreten. Die Behand-
dem Nachweis eines Abszesses (aerobe und anaerobe lung maligner Tumoren sollte in einem spezialisierten
Blutkultur, ggf. CT-gesteuerte Punktion des Bezirks zur Zentrum erfolgen [1, 2, 4, 7, 8].
Keimgewinnung) – konservativ mit Bettruhe und Gabe
von Antibiotika zu behandeln (i. Allg. Staphylococcus
aureus als Ursache der Erkrankung, Keimgewinnung in
nur 30 % möglich). Operative Maßnahmen sind nur selten Literatur
indiziert [1, 2, 4, 7, 8].
1. Bernstein RM, Cozen H (2007) Evaluation of back pain in children
and adolescents. American Family Physican 76(11):1669–1676
2. Davis PJC, Williams HJ (2008) The investigation and management
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its associated disorders. JOEM 52(4):424–427
chronisch rezidivierende multifokale Osteomyelitis
4. Herring JA (Hrsg) (2008) Tachdjian’s pediatric orthopaedics,
(CRMO). Diese Erkrankung wird, da keine bakterielle 4. Aufl. Saunders Elsevier, München
Ursache gefunden werden kann, den Erkrankungen des 5. Hospach T, Langendoerfer M, von Kalle T, Maier J, Dannecker GE
rheumatischen Formenkreises zugeordnet. Die Haupt- (2010) Spinal involvement in chronic recurrent multifocal osteo-
lokalisation dieser Erkrankung sind die langen Röhren- myelitis (CRMO) in childhood and effect of pamidromat. Eur J
Pediatr 199(9):1105–1111
knochen, gelegentlich manifestiert sie sich aber auch an
6. Jeffries LJ, Milanese SF, Grimmer-Somers KA (2007) Epidemiology
der Wirbelsäule. Die Beschwerden der Patienten sind un- of adolscent spinal pain. Spine 32(23):2630–2637
spezifisch, laborchemisch und radiologisch finden sich 7. Kim HJ, Green DW (2008) Adolescent back pain. Curr Opin Pediatr
keine richtunggebenden Befunde. Die MR-Tomografie 20:37–45
522 Kapitel 46 · Rücken- und Nackenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen

8. Prins Y, Crous L, Louw QA (2008) A systematic review of posture


and psychosocial factors as contributors to upper quadrant
musculoskeletal pain in children and adolescents. Physiother
Theory Pract 24(4):221–242
46 9. Rodriguez DP, Poussaint TY (2010) Imaging of back pain in chil-
dren. Am J Neuroradiol 31:787–802
523 47

Rücken- und Nackenschmerz


im Leistungssport
T. Mierswa, M. Kellmann

47.1 Einleitung – 524

47.2 Relevanz von Rückenschmerz im Leistungssport – 524

47.3 Rückenschmerz bei Athleten und Nichtathleten – 524


47.3.1 Rückenschmerz in verschiedenen Sportarten – 525
47.3.2 Trainingsumfang und Rückenschmerz – 525
47.3.3 Altersunterschiede – 525
47.3.4 Psychologische Einflüsse – 526

47.4 Nackenschmerz im Leistungssport – 526

47.5 Zusammenfassung – 527

Literatur – 527

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_47, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
524 Kapitel 47 · Rücken- und Nackenschmerz im Leistungssport

Der Einfluss körperlicher Aktivität auf die Entstehung und 47.2 Relevanz von Rückenschmerz
den Verlauf von Rücken- und Nackenbeschwerden wird in im Leistungssport
der aktuellen wissenschaftlichen Literatur ambivalent be-
urteilt. Die Betrachtung der derzeitigen Literatur weist auf Bei den Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver
einen komplexen Zusammenhang zwischen sportlicher machten die Beschwerden im lumbalen und thorakalen
Aktivität und dem Auftreten von Rücken- und Nacken- Rücken einen Anteil von insgesamt 9,1 % an allen berich-
47 schmerzen hin. So stehen die ausgeübte Sportart, der zeit- teten Verletzungen aus [3]. Des Weiteren sind Rücken-
liche Umfang und die technische Ausführung des Sports im schmerzen einer der häufigsten Gründe für Trainingsaus-
Zusammenhang mit Rücken- und Nackenschmerzen. Auch fälle und einschränkungen und führen zu starken Be-
das Alter und die psychische Belastung der Leistungssport- einträchtigungen im Alltag der Athleten [4, 5]. So berich-
ler konnten in Studien als relevante Faktoren identifiziert teten Athleten verschiedener Sportarten, dass sie im Mittel
werden. In diesem Kapitel werden die Erkenntnisse zu die- 13–26 Tage pro Jahr aufgrund von lumbalen Rücken-
sen und weiteren Faktoren zusammengefasst und diskutiert. schmerzen nicht am Training teilnehmen konnten [6].
> Die Jahresprävalenz für Rückenschmerzen bewegte
sich in weiteren Studien zwischen 50 % und 68 % für
47.1 Einleitung Leistungssportler aus verschiedensten Sportarten
und ist somit vergleichbar mit Raten, die aus der
Der Einfluss körperlicher Aktivität auf die Entstehung und Allgemeinbevölkerung bekannt sind [7–10]. In
den Verlauf von Rücken- und Nackenbeschwerden wird in diesen Studien wurde der Fokus auf lumbale nicht-
der aktuellen wissenschaftlichen Literatur ambivalent be- spezifische Rückenschmerzen oder Rückenscherzen
urteilt. Einerseits erhöht keine oder nur sehr geringe sport- ohne weitere Differenzierung gelegt; eine Erweite-
liche Aktivität das Risiko für Rückenbeschwerden, ande- rung des Fokus auf andere Rückenregionen wird in
rerseits scheint ein zu hohes Maß an sportlicher Betätigung der Literatur aber empfohlen [11].
das Risiko zu erhöhen [1]. Diesem Ansatz folgend müssten
Leistungssportler verstärkt unter Rücken- oder Nacken- Bezüglich der Diagnosen, die im Zusammenhang mit
schmerzen leiden. Die genauere Betrachtung der derzeiti- Rückenschmerzen im Leistungssport auftreten, bietet der
gen Literatur weist jedoch auf einen deutlich komplexeren Artikel von Lawrence et al. [12] einen guten Überblick. Am
Zusammenhang zwischen sportlicher Aktivität und dem häufigsten (>90 %) wurden Verletzungen des Gewebes
Auftreten von Rücken- und Nackenschmerzen hin. Ziel und der Weichteile berichtet, die meist durch eine konser-
dieses Kapitels ist es daher, einen Überblick über die aktu- vative Behandlungsform innerhalb weniger Wochen
ellen wissenschaftlichen Befunde zur Prävalenz und zu den kuriert werden konnten. Daneben wurden die folgenden
Ursachen von Rücken- und Nackenschmerzen im Leis- spezifischen Diagnosen berichtet: Bandscheibenvorfälle,
tungssport zu geben und zudem wesentliche Faktoren zu degenerative Erkrankungen (Bandscheibendegeneration,
beschreiben, die mit diesen Beschwerdebildern im Leis- Scheuermann-Krankheit, Facettensyndrom), Spondyloly-
tungssport in Verbindung stehen. In der bisherigen Litera- sis oder Spondylolisthesis sowie Tumoren und Frakturen
tur finden sich mehrheitlich Studien zum Thema Rücken- der Wirbelsäule.
schmerz im Sport, und nur ein geringer Prozentsatz bein- Es kann der Schluss gezogen werden, dass Rücken-
haltet Informationen zum Thema Nackenschmerz. Daher schmerzen auch im Leistungssport ein wesentliches ge-
befasst sich auch das vorliegende Kapitel schwerpunktmä- sundheitliches Problem darstellen. Obwohl der Großteil
ßig mit dem Beschwerdebild Rückenschmerz. der Verletzungen einen leichten Verlauf nimmt, führen
Bei Rücken- und Nackenschmerz wird im Sport zum Rückenschmerzen dennoch zu hohen Ausfallraten in
Teil eine Differenzierung in zwei unterschiedliche Formen Training und Wettkampf.
vorgenommen: Einerseits geht es um akute Sportverlet-
zungen, die oftmals durch externe Kräfte wie Körperkon-
takt mit den Gegenspielern oder mit Sportgeräten entstehen. 47.3 Rückenschmerz bei Athleten und
Andererseits werden sportliche Überbelastungen (»over- Nichtathleten
use«) thematisiert, die häufig durch repetitive und hohe Be-
lastungen in Training und Wettkampf entstehen können [2]. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Leistungssport-
In vielen Studien wird auf diese Differenzierung jedoch auch ler ein erhöhtes Risiko für Rückenschmerzen aufweisen, da
verzichtet. Falls nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich sie vermehrt körperlichen Belastungen ausgesetzt sind, die
die nachfolgend dargestellten Ergebnisse auf Rücken- oft stark repetitiv durchgeführt werden [13].
schmerzen im Allgemeinen; eine Differenzierung zwischen
den Beschwerdeformen wird, wo möglich, angegeben.
47.3 · Rückenschmerz bei Athleten und Nichtathleten
525 47
> Ein Unterschied in der Rückenschmerzprävalenz technische Unterschiede zwischen Athleten mit und ohne
zwischen Athleten im Allgemeinen und Nichtathleten Rückenschmerz identifiziert werden [19, 20].
konnte in bisherigen Studien nicht nachgewiesen
werden [14, 15].
47.3.2 Trainingsumfang und Rückenschmerz
Es zeigen sich bei der genaueren Betrachtung aber weitere
Faktoren, die einen Einfluss auf die Entstehung von Zusätzlich zur sportlichen Tätigkeit und zur Technik
Rückenschmerzen bei Athleten haben. In den nachfolgen- deuten einige Studien darauf hin, dass ein sehr hohes
den Abschnitten werden diese Einflussfaktoren und deren Trainingsvolumen und intensive sportliche Aktivität mit
Relevanz für das allgemeine Verständnis von Rücken- Rückenschmerzen in Verbindung stehen. In einer prospek-
schmerz im Leistungssport genauer erläutert. tiven Studie wiesen Athleten, die mehr als 11 h pro Woche
> Ein wesentlicher Unterschied zwischen Nicht-
trainierten, ein 3-mal höheres Risiko auf, Rückenschmer-
athleten und Athleten ist der Umfang und Zeitpunkt
zen zu entwickeln, als solche, die nur 4 h pro Woche
der medizinischen Betreuung. Während die
trainierten [15]. Auch drei weitere prospektive Studien
Allgemeinbevölkerung oftmals erst nach mehreren
zeigten, dass ein hohes Maß an sportlicher Aktivität das
Beschwerdetagen einen Arzt aufsucht, erfolgt eine
Risiko für Rückenschmerzen erhöht, wobei sich die Grenz-
Behandlung im Leistungssport oftmals deutlich
werte für eine hohe sportliche Aktivität stark unterschie-
schneller und auch bei geringeren Beschwerden.
den (6–12 h/Woche) [5, 21, 22].
Dies spiegelt sich auch in deutlich höheren Behand-
Sportartspezifisch konnten Zusammenhänge zwischen
lungszahlen bei Athleten wieder [8, 15].
Rückenschmerz und dem Umfang der sportlichen Aktivi-
tät für Tennis, Gewichtheben und Golf aufgezeigt werden
[17, 23, 24], für die Sportarten Triathlon, Fußball oder
Handball jedoch nicht [8, 25]. Es ist hierbei jedoch zu be-
47.3.1 Rückenschmerz in verschiedenen achten, dass die berichteten Grenzwerte für eine hohe
Sportarten sportliche Aktivität deutlich unter den teilweise üblichen
Trainingszeiten im Leistungssport von mehr als 20 h pro
In vielen Studien wurden nicht nur Athleten und Nichtath- Woche liegen. Dies kann zum einen darauf zurückzufüh-
leten miteinander verglichen, sondern auch Athleten ver- ren sein, dass für eine ausreichend große Stichprobe nicht
schiedener Sportarten. Dabei zeigte sich, dass Athleten nur Spitzenathleten in den Studien eingeschlossen wurden,
bestimmter Sportarten gegenüber anderen Sportarten und oder aber, dass vermehrt Sportarten mit eher geringen
Nichtathleten vermehrt Rückenschmerzen aufwiesen. So Trainingsumfängen berücksichtigt wurden.
gaben Ruderer mehr Tage mit Rückenschmerz an als Ori- > Bewertet man die Beziehung zwischen dem Umfang
entierungsläufer [15] und Ringer mehr beeinträchtigende sportlicher Aktivität und Rückenschmerz anhand
Rückenschmerzen als andere Athleten oder Nichtathleten des Konzepts der Überbeanspruchung, ist davon
[16]. Es konnten zudem erhöhte Prävalenzen und auch ein auszugehen, dass nicht nur Sportart und zeitliches
erhöhtes Risiko für die Entstehung von Rückenschmerzen Volumen von Relevanz sind, sondern auch die
bei Sportarten wie Eishockey, Gewichtheben, Gymnastik Trainingsart und die dadurch erfahrene Gesamt-
und Volleyball identifiziert werden [5, 7, 10, 14, 17]. beanspruchung. Da zu diesem Bereich derzeit noch
> Trotz methodologischer Unterschiede geben die keine Erkenntnisse vorliegen, sollte in zukünftigen
Studien einen Hinweis darauf, dass Sportarten, die Studien versucht werden, sportspezifische
mit einer starken physischen Belastung der Wirbel- Trainingsbelastungen in Bezug auf das Rücken-
säule einhergehen, vermehrt als Rückenschmerz schmerzrisiko zu beurteilen. So sollen Aussagen
fördernd identifiziert werden. Im besonderen Fokus über mögliche Belastungsgrenzen im Training zur
stehen hierbei Sportarten, die mit einer starken Prävention von Rückenschmerz ermöglicht werden.
Überstreckung (»hyperextension«) des Rückens ein-
hergehen [18].

Neben der Sportart selbst beeinflusst aber auch die techni- 47.3.3 Altersunterschiede
sche Ausführung die Entstehung von Rückenschmerzen:
So wiesen Skilangläufer, die einen klassischen und somit Studien zum Thema Rückenschmerz im Kinder- und
körperlich stark belastenden Stil verwendeten, mehr Rü- Jugendsport verdeutlichen, dass der Faktor Alter eine ent-
ckenschmerzen auf als solche, die den freien Stil (Skating) scheidende Rolle spielt: Zum einen machen Leistungs-
bevorzugten [6]. Auch im Tennis und im Golf konnten sportler ihre ersten Erfahrungen mit Rückenschmerzen
526 Kapitel 47 · Rücken- und Nackenschmerz im Leistungssport

wesentlich früher, als dies in der Allgemeinbevölkerung Sicht steigen kann [39, 40]. Dies gilt sowohl für physische
der Fall ist [10], zum anderen unterscheiden sich die als auch für psychische Belastungen, und es ist daher davon
Ursachen und Diagnosen für Rückenschmerz zwischen auszugehen, dass psychologische Einflüsse auch im Leis-
Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen im Leistungs- tungssport zur Entstehung von Rückenschmerzen bei-
sport [26]. tragen.
> Während bei jugendlichen Athleten die häufigste
Ein weiterer psychologischer Faktor, der sich jedoch
47 auf den Verlauf der Beschwerden bezieht, ist der Umgang
Diagnose Spondylolysis ist, überwiegen im Erwach-
senenalter Muskel- und Bänderzerrungen [27].
mit dem Schmerz (Coping). Leistungssportler sind im
Training und Wettkampf häufig mit Schmerzen konfron-
Als mögliche Gründe für die stark unterschiedlichen Ver- tiert und müssen sie aushalten, um erfolgreich zu sein. Es
letzungsformen werden die Wachstumsphasen und damit wird daher davon ausgegangen, dass sie auch ihre all-
verbunden Instabilitäten und Störungen im Muskelgleich- täglichen Aktivitäten trotz Schmerz verstärkt aufrechter-
gewicht angeführt. Zudem steigen die Trainingsbelastun- halten und sich im Umgang mit Schmerz von Nicht-
gen in den Altersklassen 10–12 Jahre deutlich an und leistungssportlern unterscheiden. Studien hierzu liefern
verschärfen somit das Problem [26]. Da in der Allgemein- jedoch widersprüchliche Ergebnisse [41, 42].
bevölkerung die höchsten Rückenschmerzraten im Alter
von 30 bis 50 Jahren liegen, gleichen sich die Prävalenz-
raten von Athleten und sportlich gering oder nicht aktiven 47.4 Nackenschmerz im Leistungssport
Personen in diesem Alter an [16, 28, 29]. Die Rolle des
Alters muss somit bei der Betrachtung von Rückenschmer- Zur Prävalenz von Nackenschmerz im Leistungssport gibt
zen im Leistungssport berücksichtigt werden. Gerade bei es in der Literatur derzeit nur eine geringe Anzahl an
der Behandlung jugendlicher Athleten sollten die Pro- Studien. Im Vergleich zum Rückenschmerz wurde
bleme beachtet werden, die durch eine frühzeitige hohe Nackenschmerz bei Leistungssportlern in den meisten
Trainingsbelastung und durch die erhöhte Anfälligkeit der Fällen seltener angegeben. In mehreren Erhebungen be-
sich im Wachstum befindenden Wirbelsäule entstehen. richteten die Athleten über 25–50 % niedrigere Prävalenz-
raten für Nackenschmerz im Vergleich zum Rücken-
schmerz [7, 25, 30]. Der bisher einzige Vergleich zwischen
47.3.4 Psychologische Einflüsse Athleten und Nichtathleten bezüglich der Häufigkeit oder
Stärke von Nackenschmerzen führte zu keinem signifikan-
Neben den starken physischen Belastungen, mit denen ten Ergebnis, allerdings war die Stichprobe mit maximal 17
Leistungssportler konfrontiert sind, erfahren sie zudem Athleten pro Sportart und 12 Nichtathleten relativ klein
auch verstärkt psychologische Belastungen, u. a. in Form [7]. Die berichteten Prävalenzen aus dem Sport stimmen
von Stress und Angst im Training und Wettkampf. Wäh- mit denen aus der Allgemeinbevölkerung überein [31].
rend psychosoziale Aspekte der Entstehung und Chronifi- > Studienergebnisse darauf hin, dass Leistungssport
zierung von Rücken- und Nackenschmerzen in der Allge- per se nicht zu einem erhöhten Risiko von Nacken-
meinbevölkerung ausführlich untersucht wurden, gibt es schmerzen führen muss. Ähnlich wie beim Rücken-
im Leistungssport hierzu bisher nur vereinzelte Ergebnis- schmerz weisen Athleten aus Sportarten mit einer
se. So zeigten z. B. van Hilst et al. [9], dass die Zufriedenheit spezifischen hohen Belastung der Nackenregion
von Feldhockeyspielern über ihrer eigene Leistung und ihr vermehrt Beschwerden und Verletzungen in diesem
Trainerteam mit dem Rückenschmerzrisiko zusammen- Bereich auf.
hängt.
> Studien zum Einfluss von Erholung und Bean-
So besteht bei Athleten der Disziplinen American Football,
spruchung auf Verletzungen und Krankheit weisen
Rugby, Ringen und Eishockey ein deutlich höheres Risiko,
darauf hin, dass Verletzungen im Sport auch mit
unter Nackenschmerzen zu leiden [7, 32, 33]. Neben der
Stress, Ängstlichkeit, uneffektivem Copingverhalten
Sportart konnten bisher lediglich vorherige Verletzungen
sowie Ermüdung und fehlender Frische in Ver-
als Risikofaktoren für Nackenschmerz identifiziert werden;
bindung stehen [37, 38].
diese Studien betrachten jedoch nur Triathleten [25, 34].
Bezüglich der Form der Nackenschmerzen im
Theoretischen Überlegungen zufolge führt jede Belastung Leistungssport ist der Großteil den Weichteilverletzungen
einer Person zu einem gewissen Erholungsbedarf, der er- zuzuordnen, und nur selten kommt es zu Verletzungen
füllt werden sollte, da sonst keine ausreichende Wiederher- oder Degenerationen der Bandscheibe oder Frakturen
stellung der persönlichen Ressourcen (z. B. Kraft, Wille, [35]. Ein Einblick in die Epidemiologie gravierender Ver-
Energie) erfolgt und das Risiko für Verletzungen auf lange letzungen des Nackens, die nur einen geringen Anteil an
Literatur
527 47
der Gesamtzahl der Nackenverletzungen ausmachen, skiers, rowers, orienteerers, and nonathletic controls. Spine
findet sich in der Übersichtsarbeit von Banerjee et al. [36]. 29:449–454
7. Jonasson P, Halldin K, Karlsson J, Thoreson O, Hvannberg J,
Swärd L et al (2011) Prevalence of joint- related pain in the
extremities and spine in five groups of top athletes. Knee Surg
47.5 Zusammenfassung Sports Traumatol Arthrosc 19:1540–1546
8. Tunas P, Nilstad A, Myklebust G (2014) Low back pain in female
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Bedeutung von elite football and handball players compared with an active
control group. Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc (in Druck)
Rücken- und Nackenschmerz im Leistungssport beschrän-
9. van Hilst J, Hilgersom NF, Kuilman MC, Kuijer PP, Frings-Dresen
ken sich derzeit im Wesentlichen auf Verletzungsraten und MH (2014) Low back pain in young elite field hockey players,
Prävalenzen. Hierbei zeigt sich, dass Rückenschmerzen in football players and speed skaters: prevalence and risk factors. J
den meisten Sportarten häufiger auftreten als Nacken- Back Musculoskelet Rehabil (in Druck)
schmerzen und zu Einschränkungen und Ausfällen im 10. Schmidt CP, Zwingenberger S, Walther A, Reuter U, Kasten P,
Sportalltag führen. Die bisherigen Vergleiche der Be- Seifert J et al (2014) Prevalence of low back pain in adolescent
athletes – an epidemiological investigation. Int J Sports Med
schwerden von sportlich nicht oder geringfügig aktiven
35:684–689
Personen und Leistungssportlern liefern widersprüchliche 11. Kruse D, Lemmen B (2009) Spine injuries in the sport of gymnas-
Resultate. Es zeigt sich aber, dass gerade Sportarten mit tics. Curr Sports Med Rep 8:20–28
spezifischen Belastungen der Wirbelsäule eine erhöhte 12. Lawrence JP, Greene HS, Grauer JN (2006) Back pain in athletes. J
Rate an Beschwerden in diesen Regionen aufweisen. Am Acad Orthop Surg 14:726–735
13. Bono CM (2004) Low-back pain in athletes. J Bone Joint Surg Am
Zudem scheinen Athleten, die unter Rückenschmerzen
86-A:382–396
leiden, mehr medizinische Behandlungen in Anspruch zu 14. Hangai M, Kaneoka K, Okubo Y, Miyakawa S, Hinotsu S, Mukai N
nehmen als Nichtathleten. et al (2010) Relationship between low back pain and competitive
Bei genauerer Betrachtung der derzeitigen Studienlage sports activities during youth. The Am J Sports Med 38:791–796
wird deutlich, dass neben der Sportart weitere Faktoren 15. Foss IS, Holme I, Bahr R (2012) The prevalence of low back pain
among former elite cross-country skiers, rowers, orienteerers, and
wie Alter, Technik, Trainingsdauer und Trainingsintensität
nonathletes: a 10-year cohort study. Am J Sports Med 40:2610–2616
die Zusammenhänge zwischen Leistungssport und 16. Lundin O, Hellström M, Nilsson I, Swärd L (2001) Back pain and
Rückenbeschwerden beeinflussen. radiological changes in the thoraco-lumbar spine of athletes. A
Neben dem starken Fokus auf physische Belastungen long-term follow-up. Scand J Med Sci Sports 11:103–109
finden sich im Leistungssport bisher kaum Untersuchun- 17. Räty HP, Kujala UM, Videman T, Impivaara O, Crites Battié M,
gen zum Einfluss psychologischer Faktoren auf die Ent- Sarna S (1997) Lifetime musculoskeletal symptoms and injuries
among former elite male athletes. Int J Sports Med 18:625–632
stehung und den Verlauf von Rücken- und Nackenschmer- 18. Hoskins W (2012) Low back pain and injury in athletes. In: Sakai Y
zen. Einflüsse von psychologischen Faktoren konnten in (Hrsg) Low back pain pathogenesis and treatment. InTech.
der Allgemeinbevölkerung allerdings als relevante Risiko- http://www.intechopen.com/books/low-back-pain-pathogene-
faktoren identifiziert werden und sind somit auch im Leis- sis-and-treatment. Zugegriffen: 12. Juni 2015
tungssport vorstellbar. 19. Campbell A, Straker L, O’Sullivan P, Elliott B, Reid M (2013) Lumbar
loading in the elite adolescent tennis serve: link to low back pain.
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528 Kapitel 47 · Rücken- und Nackenschmerz im Leistungssport

28. Baranto A, Hellström M, Cederlund C, Nyman R, Swärd L (2009)


Back pain and MRI changes in the thoraco-lumbar spine of top
athletes in four different sports: a 15-year follow-up study. Knee
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pain management techniques: a comparative study between
athletes and non-athletes. Rev Bras Med Esporte 9:214–222
529 48

Ältere Patienten
C. Leonhardt, H.-D. Basler

48.1 Einleitung – 530

48.2 Epidemiologie – 530


48.2.1 Prävalenz – 530
48.2.2 Verschiedene Schmerzformen – 531
48.2.3 Komorbidität – 532

48.3 Altersspezifische Diagnostik – 532


48.3.1 Schmerzdiagnostik – 533
48.3.2 Diagnostik der physischen Funktionen – 533
48.3.3 Diagnostik der psychosozialen Funktionen – 533
48.3.4 Diagnostik der kognitiven Funktionen – 535
48.3.5 Standardisierte Schmerzanamnese – 535

48.4 Therapeutische Besonderheiten im Alter – 536


48.4.1 Besonderheiten medikamentöser Therapie – 537
48.4.2 Operative Therapie – 537
48.4.3 Physiotherapie – 538
48.4.4 Psychologische und multimodale Schmerztherapie – 538

48.5 Fazit – 539

Literatur – 540

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_48, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
530 Kapitel 48 · Ältere Patienten

Ältere Menschen weisen im Vergleich zu jüngeren eine ver- > Ältere Menschen weisen im Vergleich zu jüngeren
änderte Physiologie sowie eine altersspezifische psychosozi- eine veränderte Physiologie und häufig auch eine
ale Situation auf. Sie stellen jedoch keine homogene Gruppe altersspezifische psychosoziale Situation auf. Sie
dar und müssen entsprechend ihrer kognitiven, affektiven stellen jedoch keine homogene Gruppe dar –
und sozialen Situation mit altersspezifischen diagnostischen eine Unterscheidung entsprechend ihrer Alltags-
und therapeutischen Verfahren versorgt werden. Kombinier- kompetenz (»go go«, »slow go« oder »no go«) ist bei
te Rücken- und Nackenschmerzen mit spezifischer Ursache der Entwicklung therapeutischer Strategien zu be-
kommen bei ihnen öfter vor als bei jüngeren Menschen. Die rücksichtigen.
48 häufig vorhandene physische und psychische Komorbidität
ist in Diagnostik und Therapieplanung zu berücksichtigen.
Statt schriftlicher Fragebögen sollte auf ein strukturiertes 48.2 Epidemiologie
Schmerzinterview zurückgegriffen werden. In der Funktions-
diagnostik sind Beobachtungsverfahren valider als Selbst- 48.2.1 Prävalenz
oder Fremdberichte. Da im Alter eine kausale Therapie des
Schmerzes häufig nicht möglich ist, werden neben der In höherem Lebensalter treten Rücken- und Nacken-
Schmerzreduktion die Verbesserung der Funktion und der schmerzen häufiger zusammen auf. Isacsson et al. [9] fan-
Lebensqualität als angemessene Erfolgsparameter angese- den in einer populationsbezogenen Studie an nicht mehr
hen. Medikamentöse Verfahren sind durch Physiotherapie berufstätigen Männern in Schweden bei 23 % täglich so-
und psychologische Therapie zu ergänzen. wohl Rücken- als auch Nackenschmerzen. In Dänemark
wurden im Rahmen einer Zwillingsstudie alle Personen
interviewt, die zum Zeitpunkt der Befragung mindestens
48.1 Einleitung 75 Jahre alt waren [7]. Gefragt wurde nach Schmerzen im
unteren Rücken bzw. im Nacken oder in der Schulter im
Auch in den kommenden Jahrzehnten wird der Anteil der Monat, der der Befragung vorausgegangenen war. Für
Älteren an der Bevölkerung weiterhin steigen. Menschen Rückenschmerz allein wurde eine 1-Monats-Prävalenz
höheren Lebensalters stellen hinsichtlich ihres körperlichen, von 15 %, für Nackenschmerz allein von 11 % und für
psychischen und geistigen Befindens keine homogene Rücken- und Nackenschmerz gemeinsam von ebenfalls
Gruppe dar und bedürfen daher diagnostischer und thera- 11 % festgestellt. Die Prävalenz des Nackenschmerzes un-
peutischer Strategien, die auf ihren individuellen Zustand terschied sich nicht bei Männern und Frauen, wohingegen
ausgerichtet sind. »Jüngere Alte« müssen z. B. von hochalt- Frauen häufiger als Männer Rückenschmerz sowie
rigen Menschen unterschieden werden, ebenso selbststän- Rücken- und Nackenschmerz angaben. Von denselben
dig Lebende von alten Menschen in Pflegeheimen. Autoren wurde die Studie nach gleicher Methodik an allen
Für den Praktiker ist es insgesamt wichtig zu beachten, dänischen Personen wiederholt, die im Jahre 1905 geboren
dass im Sinne eines biopsychosozialen Krankheitsmodells wurden und zum Zeitpunkt des Interviews 100 Lebens-
folgende Besonderheiten im Alter ein Augenmerk ver- jahre erreicht hatten [6]. Von 459 Personen der Grund-
dienen: gesamtheit konnten 256 (56 %) interviewt werden. Die
4 Die Schmerzphysiologie ist im Alter verändert, von Prävalenzraten unterschieden sich kaum von denen der
einer generell abnehmenden Schmerzwahrnehmung vorausgegangenen Studie. 16 % berichteten ausschließlich
kann aber nicht ausgegangen werden. über Rückenschmerz, 11 % ausschließlich über Nacken-
4 Eine häufige Multimorbidität muss beachtet werden schmerz und 11 % sowohl über Rücken- als auch über
sowie eine seltenere Beschränkung der Schmerzen auf Nackenschmerz. Somit gab mehr als ein Drittel an, unter
nur einen einzigen Ort. spinalen Schmerzen zu leiden. In einer US-amerikani-
4 Bei der psychischen Situation muss an häufige Kor- schen Studie wurde ausschließlich nach Nacken- und
relationen mit Depressivität sowie mit alterstypischen Schulterschmerzen gefragt, die innerhalb des vorausge-
Ängsten gedacht werden. gangenen Jahres mindestens 1 Monat lang angedauert hat-
4 Im Sinne der ICF (Krankheitsfolgenmodell der ten [20]. 11,9 % berichteten über Nackenschmerz und
WHO) gilt es zu berücksichtigen, dass motorische, 18,9 % über Schulterschmerz, wobei Frauen mit 15,4 % für
sensorische oder kognitive Einschränkungen im Alter Nackenschmerz und 24,3 % für Schulterschmerz häufiger
neben chronischem Schmerz zu besonderen Ein- Beschwerden angaben als Männer. Neuere europäische
schränkungen der Lebensführung und Partizipation Studien, die sich auf den chronischen Rückenschmerz be-
führen können. Therapieziele sollten daher immer ziehen, sprechen von ca. 30 % Betroffenen bei den über
die Erhaltung der Funktionsfähigkeit und die 65-Jährigen [4], Frauen scheinen häufiger betroffen zu
Förderung der Lebensqualität beinhalten. sein. Im telefonischen Bundesgesundheitssurvey von 2006
48.2 · Epidemiologie
531 48
zeigte sich bei Frauen eine kontinuierliche und nach dem 4 Schmerzen, die durch Erholung oder Schlaf keine
50. Lebensjahr sprunghafte Zunahme des Rückenschmer- Linderung erfahren,
zes, bei Männern ging seine Häufigkeit nach dem 69. Le- 4 Schmerzen, die trotz angemessener Behandlung
bensjahr zurück. Die 3. Welle der telefonischen Befragung fortschreiten.
durch das Robert Koch-Institut von 2009 sieht die Jahres-
prävalenz des Rückenschmerzes beider Geschlechter bei Gewichtsabnahme und Fieber als bekannte »red flags«
den über 65-Jährigen weniger unterschiedlich, macht können im Alter jedoch auch mit vielen anderen komorbid
aber deutlich, dass der Rückenschmerz auch jenseits des vorhandenen Erkrankungen in Verbindung stehen. Eine
60. Lebensjahrs ein bedeutsames Problem bleibt (55,9 % genaue Kenntnis der Krankengeschichte sowie eine
bei den Männern, 61,5 % bei den Frauen). gründliche körperliche Untersuchung sind daher unab-
Die in den verschiedenen Studien erhaltenen Präva- dingbar.
lenzzahlen sind wegen der unterschiedlichen Kriterien, Bei vorausgegangenen Infektionskrankheiten oder
nach denen der Schmerz erfasst wurde, schwierig zu ver- Entzündungszuständen ist auch eine infektiöse Spondy-
gleichen. Zu beachten ist zudem, dass ältere Menschen, die lodiszitis (Entzündung von Grund- und Deckplatte der
kommunikative Einschränkungen haben, weder in Inter- Wirbel sowie der Bandscheibe) möglich. Diese verläuft im
views noch in telefonischen Surveys erfasst werden, sodass Alter häufig subakut und wird oft spät erkannt, kann dann
wegen vorhandener Komorbidität möglicherweise die jedoch wegen der Gefahr neurologischer Ausfälle zu einem
Prävalenz unterschätzt wurde. Weiterhin muss davon aus- Notfall werden. Typisch dafür sind dumpfe, belastungs-
gegangen werden, dass auf den Rücken oder Nacken abhängige Schmerzen sowie eine Erhöhung von Ent-
beschränkte Schmerzen im Alter seltener sind und dass zündungsparametern im Blut und erhöhte Temperatur.
häufiger als bei Jüngeren andere Schmerzorte hinzukom- Mögliche Erreger sind das Tuberkulosebakterium, aber
men. Die häufige Multimorbidität erschwert die Diagnos- auch Viren oder Pilze (bei immungeschwächten Patienten)
tik. Hinzu kommt, dass Schmerzen von vielen älteren (7 Kap. 42, »Spondylitis und Spondylodiszitis«).
Menschen als normales »Übel des Alterns« wahrgenom- Für subakute und chronische Schmerzen im Alter
men und daher nicht thematisiert werden. Die publizier- kommen häufig mehrere Ursachen gleichzeitig infrage.
ten Prävalenzangaben sind möglicherweise fehlerbehaftet. Grunderkrankungen können zwar mitverursachend sein,
Deutlich wird allerdings in allen Studien, dass Schmerz im müssen es aber nicht und haben daher möglicherweise für
Spinalbereich insbesondere bei einem chronisch rezidivie- eine akute Symptomatik keine Bedeutung. Dennoch kann
renden Verlauf beträchtlich zum Verlust der Alltagskom- es notwendig sein, Pathologien zu berücksichtigen, um
petenz beiträgt [2, 17]. zukünftige Komplikationen zu verhindern. Folgende Er-
krankungen sind bei spinalen Schmerzen im Alter häufig
anzutreffen:
48.2.2 Verschiedene Schmerzformen
Osteoporose Osteoporose verursacht bei vielen Frauen
Die Abgrenzung eines akuten von einem chronischen schmerzhafte Knochenbrüche an der Wirbelsäule. 80 %
Schmerz durch das Kriterium der Zeitdauer erscheint aller Osteoporosen betreffen postmenopausale Frauen.
unter therapeutischen Gesichtspunkten im Alter wenig Dumpfe Schmerzen im Spinalbereich entstehen hier häufig
hilfreich, wichtiger für die Therapieplanung sind die Aus- auch durch Haltungsveränderungen und Fehlbelastungen
wirkungen des Schmerzes auf Funktion und Lebens- (7 Kap. 39, »Osteoporose«).
qualität.
Rheumatoide Arthritis Hier werden oft reißende, ziehende
> Cave: Warnhinweise auf bösartige Erkrankungen
sollten ernst genommen werden!
Schmerzen im Stütz- oder Bewegungsapparat empfunden,
die häufig auch zu funktionellen Einschränkungen führen.
Akute starke Schmerzen im Spinalbereich können im Alter Eine Druckschmerzhaftigkeit im Bereich der Dornfort-
häufiger als bei Jüngeren ein Warnsignal für eine bösartige sätze ist möglich.
Erkrankung sein. Spezifischer Rücken- und Nacken-
schmerz tritt häufiger auf als im mittleren Erwachsenen- Arthrose Dieser häufige Schmerz im Alter kann neben
alter. Geachtet werden sollte auf folgende Hinweise: Knie- oder Hüftgelenk auch die Facettengelenke der Wir-
4 Krebserkrankungen in der Vorgeschichte, belsäule betreffen und wird v. a. als Anlauf- oder Be-
4 unerklärliche Gewichtsabnahme in kurzer Zeit sowie lastungsschmerz wahrgenommen. Die Schmerzen werden
Fieber und Appetitverlust in Kombination mit den nicht durch den abgeriebenen Knorpel, sondern haupt-
Schmerzen, sächlich durch Muskelfehlspannungen und durch das
4 starke Schlafstörungen durch den Schmerz, Fehlen von Gelenkflüssigkeit hervorgerufen.
532 Kapitel 48 · Ältere Patienten

Herpes zoster Die Post-Zoster-Neuralgie kann heftigste, Schmerzzentrum fanden sich im Durchschnitt 5 weitere
oft brennende Schmerzen verursachen. Jeder zweite ältere betroffene Körperbereiche neben dem Hauptschmerz [2].
Mensch mit Herpes-zoster-Infektion ist davon betroffen. Es muss also damit gerechnet werden, dass spinaler
Schmerz nur eine von vielen möglichen Beschwerden ist.
Tumoren oder Metastasen in der Wirbelsäule Tumoren Depression und Ängste sind häufige Begleiterscheinun-
können sich durch brennende Schmerzen im Wirbelsäu- gen. Über die Hälfte der Befragten in der Untersuchung
lenbereich äußern, die am frühen Morgen besonders in- von Basler et al. [2] gab an, sich häufig traurig und nieder-
tensiv sein können. Auffällig ist hierfür auch ein Schmerz, geschlagen zu fühlen. Deutlich erhöhte Depressionsscores
48 der intensiviert wird, wenn die betroffenen Bereiche der wurden auch für Personen mit Nacken- und Schulter-
Wirbelsäule direkt belastet werden. Knochenmetastasen schmerzen berichtet [20].
können jedoch auch schmerzlos auftreten (7 Kap. 44, Angst vor Einschränkung der Mobilität und vor Ab-
»Wirbelsäulentumoren und -metastasen«). hängigkeit von fremder Hilfe kann die Betroffenen ver-
anlassen, den Schmerz nicht zu thematisieren. Neben
Fibromyalgie (v. a. bei Frauen) Fibromyalgie ist auch bei Schmerzängsten muss bei muskuloskeletalen Erkrankun-
älteren Frauen häufig und wird manchmal erst durch ge- gen im Alter auch mit Sturzängsten gerechnet werden, die
zielte Nachfrage aufgrund spontaner Berichte über spinale häufig zur Bewegungsvermeidung führen und die Symp-
Schmerzzustände als Hauptbeschwerden offensichtlich. tomatik z. B. bei Arthrose verschlimmern können [10].
Sturzängste sind bei über 65-Jährigen mit Nacken-
Spinalkanalstenose Patienten mit einer Spinalkanalsteno- schmerzen durchaus begründet. Poole et al. [15] konnten
se leiden unter chronischen Rückenschmerzen, die sich im Vergleich mit gesunden Kontrollpersonen experimen-
beim aufrechten Gehen deutlich verstärken und in die Bei- tell nachweisen, dass Personen mit Nackenschmerzen über
ne ausstrahlen (Claudicatio spinalis). Dabei kommen auch ein schlechtes Gleichgewicht und über ungünstige Gang-
sensomotorische Ausfallserscheinungen und Parästhesien parameter verfügen. Bei den Gleichgewichtsübungen
vor (7 Kap. 41, »Spinalkanalstenose«). wurde das besonders deutlich, wenn die Augen geschlos-
Auch im Alter wird unspezifischer spinaler Schmerz sen blieben, und bei den Gangübungen, wenn der Kopf
eine häufige Diagnose sein, insbesondere wenn Bandschei- von rechts nach links und zurück bewegt wurde.
benverschleiß und Abnutzung der Wirbelgelenke berück- > Spezifischer Schmerz tritt im höheren Lebensalter
sichtigt werden. Genaue Prävalenzzahlen sind nicht zu häufiger auf als im mittleren Lebensalter. Eine
finden. Ursache hierfür sind die uneinheitlichen Defini- Erfassung der »red flags« und der Komorbiditäten
tionskriterien, das unterschiedliche Berichtsverhalten sowie eine gründliche körperliche Untersuchung
älterer Menschen und der Mangel an Studien, die explizit sind daher unumgänglich.
auch Ältere und Hochaltrige einschließen.

48.2.3 Komorbidität 48.3 Altersspezifische Diagnostik

Personen mit Nacken- oder Rückenschmerz in hohem Einer altersspezifischen Diagnostik bedürfen nur gebrech-
Lebensalter weisen so hohe Komorbiditätsraten auf, dass liche Patienten, die aufgrund eingeschränkter physischer,
Hartvigsen et al. [7] zu dem Schluss kommen, es handele psychischer oder sozialer Kompetenz nicht in der Lage
sich nicht um eigenständige Gesundheitsprobleme, son- sind, von den in vorausgegangenen Kapiteln beschriebe-
dern um einen Indikator für einen allgemein schlechten nen Messinstrumenten zu profitieren. Hierbei handelt es
Gesundheitszustand. Neben zahlreichen somatischen und sich im Regelfall um hochbetagte Patienten, die durch den
psychischen Befunden gehören dazu auch Einschränkun- Verlust von Selbstständigkeit und Selbsthilfefähigkeit be-
gen der funktionalen Kapazität. droht sind bzw. ihre Selbsthilfefähigkeit bereits verloren
Im Alterssurvey 2002 des Deutschen Zentrums für haben. Häufig werden sie in der Geriatrie behandelt.
Altersfragen (DZA) zeigte sich, dass im Durchschnitt über Wie in 7 Teil V, »Diagnostik«, dargestellt, bezieht sich ein
die Hälfte der alten Menschen zwischen 2 und 4 Erkran- umfassendes Schmerzassessment neben dem Schmerz auf
kungen aufwies. Je intensiver in der Studie von Vogt et al. die physische Funktion (z. B. Aktivitäten des täglichen
[20] der Nackenschmerz beschrieben wurde, desto häufi- Lebens, Mobilität, Schlaf, Appetit), die psychosoziale
ger wurden Schmerzen auch in anderen Bereichen des Funktion (Stimmung, interpersonale Beziehungen, aktivi-
Skelett-Muskel-Systems angegeben. tätsbezogene Angst) und die kognitive Funktion (schmerz-
In einer Untersuchung älterer Schmerzpatienten in der bezogene Kognitionen, in der Geriatrie auch Gedächtnis
Geriatrie, in allgemeinmedizinischen Praxen und in einem und intellektuelle Kapazität) [3].
48.3 · Altersspezifische Diagnostik
533 48
> Zusätzlich ist bei geriatrischen Patienten auch die nicht durch ein Hindernis (Wand, Möbel) zu verstellen.
Erfassung der Komorbidität von großer Bedeutung. Die Zeit vom Start bis zum Ziel wird bestimmt. Eine
Geschwindigkeit bis zu 0,5 m/sec wird als unauffällig an-
Bei geriatrischen Patienten steht als Therapieziel die För- gesehen.
derung der Alltagskompetenz im Vordergrund. Diese wird
stärker durch das Ausmaß der Komorbidität als durch die Barthel-Index Der Barthel-Index gilt als Goldstandard für
erlebte Schmerzintensität beeinflusst. die Bewertung grundlegender Alltagskompetenzen [12]
(. Tab. 48.1). Ein Patient wird dann als alltagskompetent
angesehen, wenn er über die verschiedenen Beobachtungs-
48.3.1 Schmerzdiagnostik kategorien hinweg einen Punktwert von 100 erreicht. Sin-
kende Punktzahlen geben einen zunehmenden Rehabilita-
Die Diagnostik der Schmerzintensität bei hochbetagten tionsbedarf an. Bei weniger als 40 Punkten wird Pflegebe-
Personen ist bereits im 7 Kap. 11, »Diagnostik der Schmer- dürftigkeit angenommen.
zintensität«, abgehandelt worden. Zur Erfassung der affek-
tiven Komponente des Schmerzes sind über die zuvor be- Schlaf und Appetit Die Güte des Schlafs und des Appetits
schriebenen Instrumente hinaus keine altersspezifischen sollte quantifiziert werden, um Veränderungen dokumen-
Verfahren entwickelt worden. Zur Kennzeichnung der tieren zu können. Hierbei sind Ratingskalen in Analogie
Lokalisation des Schmerzes kann ebenso wie bei jüngeren zur Erfassung der Schmerzintensität einzusetzen (z. B. als
Personen das Körperschema verwendet werden. Schulnotenskala 1 = sehr gut, 2 = gut, 3 = befriedigend,
4 = ausreichend, 5 = ungenügend, 6 = sehr schlecht). Im
Tipp Bedarfsfall können diese Parameter auch durch Tagebü-
cher dokumentiert werden.
Bei geriatrischen Patienten sollte der Diagnostiker die
schmerzenden Körperbereiche mit dem Zeigefinger
umfahren lassen und diese anschließend selbst im
48.3.3 Diagnostik der psychosozialen
Körperschema markieren.
Funktionen

Altersspezifische Erhebungsinstrumente sind sowohl für


die Stimmung als auch für das soziale Verhalten entwickelt
48.3.2 Diagnostik der physischen worden.
Funktionen
Depressivität Als Screeninginstrument hat die geriatri-
Die physische Funktion kann sowohl durch Performance- sche Depressionsskala weite Verbreitung gefunden [22].
tests als durch standardisierte Testverfahren ermittelt wer- Anhand von 15 Fragen, die dem Patienten vorgelesen
den. Beide beziehen sich auf Verhaltensbeobachtungen werden, wird seine emotionale Situation eingeschätzt
und sind daher nicht auf Selbst- oder Fremdberichte ange- (Beispielitems: »Haben Sie viele Ihrer Interessen und Akti-
wiesen, die weniger valide sind. Beim Performancetest vitäten aufgegeben?« – »Fühlen Sie sich oft hilflos?«)
wird die Person gebeten, eine zuvor beschriebene, klar Werden mehr als 6 Fragen im Sinne einer depressiven Ver-
umrissene Tätigkeit auszuführen. Dies ist zwar auch bei stimmung bejaht, sollte eine weiterführende Diagnostik
den Testverfahren der Fall, zusätzlich sind aber psychome- erfolgen.
trische Gütekriterien ermittelt worden.
Angst Von besonderer Bedeutung bei Personen mit spina-
»Timed up and go« Der Patient sitzt auf einem Stuhl mit lem Schmerz ist die Erfassung der aktivitätsbezogenen
Armlehne (Sitzhöhe etwa 46 cm). Die Arme liegen locker Angst, die zu einem Vermeidungsverhalten, zunehmender
auf der Lehne, der Rücken ist angelehnt. Nach Aufforderung Bewegungsunsicherheit und Verstärkung des Schmerzer-
geht der Patient bis zu einer Linie 3 m vor dem Stuhl, kommt lebens führen kann. Zur altersspezifischen Messung ist die
zurück und setzt sich erneut. Dabei ist die Benutzung eines AMIKA (Ältere Menschen in körperlicher Aktion) ent-
Hilfsmittels (z. B. Stock) erlaubt. Die Zeit von der Aufforde- wickelt worden [16] (. Abb. 48.1; . Abb. 48.2). Hier han-
rung bis zur Rückkehr in die Ausgangsposition wird ge- delt es sich um eine fotobasierte Skala, wobei auf den Fotos
stoppt. Bei <12 sec gilt die Alltagsmobilität als unauffällig. ältere Menschen in unterschiedlichen Aktivitäten des täg-
lichen Lebens dargestellt sind. Es sind Bewegungsabläufe
Maximale Gehgeschwindigkeit Es wird eine Strecke von abgebildet, die die Lendenwirbelsäule beanspruchen, wie
3–10 m markiert, wobei es wichtig ist, das Ende der Strecke Bücken, Heben oder Gehen. Sie sind in Haushaltstätig-
534 Kapitel 48 · Ältere Patienten

. Tab. 48.1 Basale Alltagskompetenz: der Barthel-Index. (Mod. nach [3])

Essen Unabhängig, isst selbstständig, benutzt Geschirr und Besteck 10

Braucht etwas Hilfe, z. B. um Fleisch oder Brot zu schneiden 5

Nicht selbstständig, auch wenn oben genannte Hilfe gewährt wird 0

Bett/(Roll-) Unabhängig in allen Phasen der Tätigkeit 15


Stuhltransfer
Geringe Hilfen oder Beaufsichtigung erforderlich 10
48
Erhebliche Hilfe beim Transfer, Lagewechsel, Liegen; Sitz selbstständig 5

Nicht selbstständig, auch wenn oben genannte Hilfe gewährt wird 0

Gehen auf Unabhängig beim Gehen über 50 m, Hilfsmittel erlaubt, nicht Gehwagen 15
Flurebene bzw.
Geringe Hilfe oder Überwachung erforderlich, kann mit Hilfsmitteln 50 m gehen 10
Rollstuhlfahren
Nicht selbstständig beim Gehen, kann aber Rollstuhl selbstständig bedienen, auch um Ecken 5
und an einen Tisch heranfahren, Strecke mind. 50 m

Nicht selbstständig beim Gehen oder Rollstuhlfahren 0

Treppensteigen Unabhängig bei der Bewältigung einer Treppe (mehrere Stufen) 10

Benötigt Hilfe oder Überwachung beim Treppensteigen 5

Nicht selbstständig, kann auch mit Hilfe nicht Treppe steigen 0

Waschen Unabhängig beim Waschen von Gesicht, Händen; Kämmen, Zähneputzen 5

Nicht selbstständig bei oben genannter Tätigkeit 0

Baden Unabhängig bei Voll- oder Duschbad in allen Phasen der Tätigkeit 5

Nicht selbstständig bei oben genannter Tätigkeit 0

An- und Unabhängig beim An- und Auskleiden (ggf. auch Korsett oder Bruchband) 10
Auskleiden
Benötigt Hilfe, kann aber 50 % der Tätigkeit selbstständig durchführen 5

Nicht selbstständig, auch wenn oben genannte Hilfe gewährt wird 0

Toiletten- Unabhängig in allen Phasen der Tätigkeit (inkl. Reinigung) 10


benutzung
Benötigt Hilfe, z. B. wegen unzureichenden Gleichgewichts oder bei Kleidung/Reinigung 5

Nicht selbstständig, auch wenn oben genannte Hilfe gewährt wird 0

Stuhlkontrolle Ständig kontinent 10

Gelegentlich inkontinent, maximal 1-mal/Woche 5

Häufiger/ständig inkontinent 0

Urinkontrolle Ständig kontinent, ggf. unabhängig bei Versorgung eines DK/Cystofix 10

Gelegentlich inkontinent, max. 1-mal/Tag, Hilfe bei externer Harnableitung 5

Häufiger/ständig inkontinent 0

Gesamtpunkte

keiten, Gartenarbeiten oder Freizeitaktivitäten eingebettet. Patienten geschätzt. Eine elektronische Version ist in
Der Patient soll auf einer Ratingskala angeben, wie schäd- Planung, wodurch die Anwendung erleichtert werden soll.
lich er die dargestellten Aktivitäten für den Rücken Die Skala wird bereits im Rahmen einer multimodalen
einschätzt. Aus der Höhe des Summenwerts über alle Seniorenschmerzgruppe bei einzelnen Patienten an der
Aktivitäten wird die aktivitätsbezogene Angst erschlossen. Universitätsklinik Erlangen bei konfrontierenden Thera-
Die Skala zeigt gute psychometrische Gütekriterien auf pieansätzen eingesetzt (s. unter 7 Abschn. 48.4.4, »Fallbei-
und wird wegen ihrer hohen Anschaulichkeit von den spiel«).
48.3 · Altersspezifische Diagnostik
535 48

. Abb. 48.1 Beispielbild aus der AMIKA: Anteflexion mit hoher . Abb. 48.2 Beispielbild aus der AMIKA: Hebebewegung mit
Belastung der Bandscheiben (Bücken zum tiefen Schrank). weitgehender Streckung der Wirbelsäule (Blumentopf heben).
(Aus Quint et al. [16]) (Aus Quint et al. [16])

Sozialverhalten Der am geriatrischen Zentrum der Uni- ruktive Fähigkeiten bewertet. Eine kognitive Beeinträchti-
versität Heidelberg entwickelte Sozialfragebogen dient der gung wird angenommen, wenn weniger als 24 Punkte er-
Erfassung der sozialen Kontakte, der sozialen Unterstüt- reicht werden.
zung, der Aktivitäten im Alltag, der Wohnsituation und
der ökonomischen Verhältnisse [14]. Beispielitems sind: Katastrophisierungs-Vermeidungs-Skala D-65+ Die
»Haben Sie Personen (auch professionelle Helfer), auf die Skala wurde zur Erfassung von katastrophisierendem
Sie sich verlassen und die Ihnen zu Hause regelmäßig hel- Denken und von Vermeidungsüberzeugungen für ältere
fen können?« – »Wie oft verlassen Sie Ihre Wohnung?« – Patienten mit chronischem Rückenschmerz entwickelt
»Regeln Sie Ihre Finanzen selbst?« Maximal 24 Punkte [17] (. Abb. 48.3). Für die Skala konnte eine befriedigende
können für ein kompetentes Sozialverhalten erzielt wer- Messgenauigkeit und Validität nachgewiesen werden. Eine
den. Bei weniger als 17 Punkten gilt das Sozialverhalten als vergleichbare Skala für den Nackenschmerz liegt derzeit
beeinträchtigt. noch nicht vor.

48.3.4 Diagnostik der kognitiven Funktionen 48.3.5 Standardisierte Schmerzanamnese

Die Diagnostik kognitiver Funktionen bezieht sich zum In der Geriatrie sind Schmerzfragebögen zur Erhebung der
einen auf die kognitiven Kompetenzen, deren Einschät- Anamnese ungeeignet. Gerade das Ausfüllen von Frage-
zung sowohl für den Einsatz angemessener diagnostischer bögen ist häufig mit Schwierigkeiten verbunden, über-
Verfahren als auch für die Therapieplanung von Bedeu- fordert Patienten mit kognitiven und sensorischen Be-
tung ist. Zum anderen bezieht sich die Diagnostik auch auf einträchtigungen und lässt eine hohe Anzahl fehlender
kognitive Inhalte, z. B. auf wiederkehrende Gedanken, die Angaben erwarten.
zu einer Intensivierung des Schmerzerlebens führen
können. Hierbei handelt es sich insbesondere um das Tipp
Katastrophisieren und das automatisierte Denken zur
Bei Patienten mit kognitiven und sensorischen Beein-
Vermeidung körperlicher Aktivität. Bei Vorliegen dieser
trächtigungen sollte auf schriftliche Fragebögen in
kognitiven Inhalte ist ein erhöhtes Risiko der Schmerz-
der Anamnese möglichst verzichtet und statt dessen
chronifizierung gegeben.
ein strukturiertes Interview durchgeführt werden.
Mini-Mental-State In der geriatrischen Medizin gilt die
Mini-Mental-State-Examination nach Folstein [5] als Das vom Arbeitskreis »Schmerz und Alter« der Deutschen
Goldstandard für das Screening kognitiver Defizite. In Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) ent-
30 Items werden Orientiertheit, Gedächtnis, Aufmerksam- wickelte strukturierte Interview besteht aus 14 Fragen zum
keit, Benennen, Lesen und Schreiben sowie visuell-konst- Schmerz, die von den Patienten zu beantworten sind, einer
536 Kapitel 48 · Ältere Patienten

Menschen mit Rückenschmerzen finden verschiedene Wege, um auf diesen Schmerz zu reagieren. Wir möchten
wissen, was Sie tun und denken, wenn Sie Rückenschmerzen haben.
Bitte geben Sie unten mit den Ziffern an, wie oft Sie die folgenden Gedanken und Aktivitäten denken/ausführen.
Kreuzen Sie für jede Aussage eine Ziffer von 0 (NIE) bis 5 (IMMER) an.

NIE IMMER
0 1 2 3 4 5
1. Ich denke, wenn meine Schmerzen zu schwer werden,
werden sie nie nachlassen. .............................................................
48 2. Ich werde jede Aktivität beenden, sobald ich fühle,
dass Schmerzen herannahen. ..........................................................
3. Sobald der Schmerz beginnt, nehme ich Medikamente,
um ihn zu lindern. ........................................................................
4. Wenn ich Schmerzen habe, fällt es mir schwer,
an etwas anderes zu denken. ..........................................................
5. Ich vermeide auch wichtige Aktivitäten, wenn ich Schmerzen habe. .........
6. Wenn ich Schmerzen spüre, fühle ich mich schwindlig oder matt. ............
7. Wenn es wehtut, denke ich dauernd an die Schmerzen. .........................
8. Wenn Schmerzen stark werden, denke ich, dass ich vielleicht gelähmt
oder noch mehr behindert werde. ....................................................
9. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, wenn es wehtut. ....................
10. Es beängstigt mich, wenn ich Schmerzen habe. ...................................
11. Ich versuche Aktivitäten zu vermeiden, die Schmerzen hervorrufen. .........

. Abb. 48.3 Die Katastrophisierungs-Vermeidungs-Skala-D-65+ (Die Items 1, 4, 6, 7, 8 und 10 bilden die Subskala »Katastrophisierung«. Die
übrigen Items 2, 3, 5, 9 und 11 gehören zur Subskala »Vermeidung«). (Aus Quint et al. [17])

ergänzenden Fremdanamnese sowie einem Screening zur ziehen sich auf die Schmerzdauer und -frequenz, die
Messung der kognitiven Fähigkeiten und erfordert eine Stimmung und die Erwartungen für die Zukunft sowie die
Durchführungszeit von 15 bis 20 min [1]. Kontrolle über den Schmerz.
Die Schmerzlokalisation wird erfasst, indem der Pa- Zusätzlich zum Screening kognitiver Beeinträchtigung
tient gebeten wird, mit dem Zeigefinger das Gebiet zu um- wird die Merkaufgabe aus der Mini-Mental-State-Exami-
fahren, das ihm zum Zeitpunkt des Interviews am meisten nation durchgeführt. Patienten, die sich an kein Item der
wehtut. Dieses Gebiet wird dann vom Interviewer in ein Merkaufgabe erinnern können, sind mit hoher Wahr-
Körperschema eingetragen. In gleicher Weise wird nach scheinlichkeit so stark kognitiv beeinträchtigt, dass das
weiteren Körperstellen gefragt, an denen Schmerzen auf- Interview mit ihnen nicht sinnvoll durchgeführt werden
treten. Ergänzend dazu nennt der Interviewer in einem kann.
zweiten Schritt anhand einer vorgegebenen Liste Körper- In der Fremdanamnese wird auf die Medikation, auf
bereiche (z. B. Kopf/Gesicht oder Hals/Nacken), und der bisherige Behandlungen und auf die Wohn- und Pflege-
Patient gibt an, ob dort Schmerzen auftreten oder nicht. situation eingegangen.
Zur Evaluation der Schmerzintensität werden die Pa-
tienten gebeten, die Schmerzstärke in den letzten 7 Tagen
auf einer 6-stufigen verbalen Ratingskala mit den Polen 48.4 Therapeutische Besonderheiten im
»kein Schmerz« und »unerträglich starker Schmerz« zu Alter
beschreiben.
Die Beeinträchtigung durch den Schmerz wird durch Priorität hat die Therapie der Schmerzursachen. Eine kau-
4 Fragen nach den Fähigkeiten, sich selbst anziehen zu sale Therapie des Schmerzes ist im Alter allerdings seltener
können, eine Treppe steigen zu können, selbst einkaufen möglich als bei Jüngeren. Bei weiterhin bestehendem
zu können und mit anderen etwas unternehmen zu kön- Schmerz werden Schmerzreduktion sowie Verbesserung
nen, gemessen. Des Weiteren wird erhoben, durch welche der Funktion und der Lebensqualität als angemessene Er-
Aktivitäten der Schmerz im Sinne einer Verstärkung oder folgsparameter angesehen. Bei chronischem Schmerz sind
Linderung modifiziert werden kann. Weitere Fragen be- daher medikamentöse Verfahren durch Physiotherapie
48.4 · Therapeutische Besonderheiten im Alter
537 48
und psychologische Therapie zu ergänzen. Das Verhalten beachtet werden, unabhängig davon, ob es sich um
der Therapeuten muss auf mögliche sensorische und Rücken- oder Nackenschmerzen handelt:
kognitive Defizite ausgerichtet werden (z. B. lautes, lang- 4 Die Hepatotoxizität bei Paracetamol kann bei älteren
sames Sprechen sowie räumliche Nähe des Therapeuten). Menschen aufgrund eingeschränkter Leberfunktion
Bei geriatrischen Patienten müssen Partner und An- schneller eintreten.
gehörige sowie ggf. Pflegekräfte mit einbezogen werden. 4 Bei der Einnahme von nichtsteriodalen Antirheuma-
Günstig ist ein konstanter Ansprechpartner, der die ein- tika (NSAR) haben alte Menschen ein deutlich er-
zelnen therapeutischen Maßnahmen koordiniert sowie die höhtes Risiko, gastrointestinale Nebenwirkungen zu
Fragen des Patienten und seiner Angehörigen beantwortet. entwickeln. Außerdem verringern klassische NSARs
die Nierenfunktion, besonders bei gleichzeitiger Ein-
nahme von ACE-Hemmern.
48.4.1 Besonderheiten medikamentöser 4 COX-2-Hemmer sollten nur als Reservemedikation
Therapie genommen werden von Patienten ohne vaskuläre
Grunderkrankungen und Ulkusanamnese.
4 Die NVL empfiehlt für das mittlere Erwachsenenalter
Tipp keinen Einsatz transdermaler Opioide. Obwohl diese
Applikationsform bei geriatrischen Patienten Vorteile
Im Vergleich zu jüngeren Patienten sollte beachtet
bieten kann, sollten Nutzen (z. B. Umgehen des
werden, dass sich im Alter einige Medikamente
Magen-Darm-Trakts) und Gefahren (z. B. Haut-
verstärkt negativ auf die kognitive oder körperliche
zustand, Verrutschungsgefahr, Überdosierung) gut
Leistungsfähigkeit auswirken können, wodurch
abgewogen werden.
aktivierende Verfahren (Physiotherapie, Psycho-
4 Unter den Opioiden gelten Hydromorphon und
therapie) erschwert werden.
Buprenorphin als günstiger im Vergleich zu Morphin,
da sie keine sedierenden Metabolite bilden und kaum
über die Nieren ausgeschieden werden. Diese Opioide
Polymedikation (> als 5 Medikamente) stellt ein gravie- können vorteilhaft sein, gerade wenn Kontraindika-
rendes Problem dar. Besonderes Augenmerk ist auf die sog. tionen für NSARs vorliegen.
FRIDS (»fall risk increasing drugs«) zu richten. Sie er-
höhen das Risiko, zu stürzen und sich schmerzhafte Tipp
Knochenbrüche zuzuziehen. Hierzu gehören neben den
Bei älteren Menschen sollte mit einer geringeren
psychotropen Arzneimitteln (Benzodiazepinen) auch
Medikamentendosierung begonnen werden als bei
Diuretika, Nitrate und Neuroleptika. Auch Opioide
jüngeren Patienten. Die Dosisanpassung sollte indivi-
können zu Schwindel und Gangunsicherheit führen. Eine
duell langsam steigernd erfolgen nach dem Prinzip
wichtige Maßnahme zur Sturzprophylaxe in der Geriatrie
»Start low, go slow«. Das gilt insbesondere für den
ist daher stets die Überprüfung und ggf. die Reduzierung
Einsatz von Opioiden. Der Praktiker kann sich über
von Medikamenten. Einfache Einnahmeschemata nach
potenziell inadäquate Medikamente im höheren
festem Zeitplan sowie die Applikation per os oder trans-
Lebensalter anhand der sog. PRISCUS-Liste informie-
kutan sind bei älteren Schmerzpatienten günstig.
ren, die im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde
Pharmakokinetik und -dynamik sind im Alter ver-
und bezüglich der klinischen Anwendbarkeit derzeit
ändert, was bei der Dosierung und Wahl des Medikaments
überprüft wird [8, 18].
beachtet werden muss. Ältere Menschen weisen eine
relative Zunahme des Körperfettgewebes und verringertes
Gesamtkörperwasser auf, die Nierenfunktion und der
Leberstoffwechsel sind zunehmend eingeschränkt. Serum-
proteine können durch chronische Krankheiten und Kach- 48.4.2 Operative Therapie
exie im Alter verringert sein, daher können Medikamente
mit hoher Eiweißbindung eine verstärkte pharmakologi- Indikationen zur Operation bei verschleißbedingten spi-
sche Wirkung zeigen. nalen Schmerzen wird es selten geben – ggf. kann dies bei
Insgesamt gilt der Stufenplan der WHO zur Therapie Lähmungserscheinungen oder Schließmuskelschwäche
von Tumorschmerzen. Folgende Besonderheiten auch im notwendig sein. Der Wille des Patienten und die Belast-
Vergleich zu den Empfehlungen der Nationalen Ver- barkeit für Narkose und Operation müssen berücksichtigt
sorgungsleitlinie Kreuzschmerz (NVL) für das mittlere werden. Manchmal kann eine Operation einen größeren
Erwachsenenalter müssen bei älteren Schmerzpatienten Vorteil für die Lebensqualität erbringen als eine medika-
538 Kapitel 48 · Ältere Patienten

mentöse Therapie, wenn dadurch problematische Arz- 48.4.4 Psychologische und multimodale
neimittelinteraktionen umgangen werden können. Das Schmerztherapie
Risiko eines »failed back/neck surgery syndrom« muss
stets beachtet werden. Auch ältere Menschen können von psychologischen Ver-
Bei einer reinen Claudicatio spinalis können auch fahren profitieren, wenn altersspezifische Modifikationen
geriatrische Patienten von einer operativen Therapie pro- vorgenommen werden [21]. Anpassungen der kognitiven
fitieren. Verhaltenstherapie für Ältere werden wie folgt empfohlen:
Die infektiöse Spondylodiszitis benötigt bei kompli- 4 Die Anweisungen müssen klar und deutlich erfolgen,
48 ziertem Verlauf eine operative Versorgung mit Ausräu- dabei eventuell wiederholt werden. Eine schriftliche
mung des entzündlichen Gewebes und stabilisierender Anleitung zum Nachlesen ist ergänzend sinnvoll.
Rekonstruktion des Defekts. 4 Es sollte eine Anpassung an mögliche sensorische
oder kognitive Defizite erfolgen (z. B. sich vergewis-
sern, ob Hörgeräte vorhanden sind und getragen wer-
48.4.3 Physiotherapie den, laut und deutlich sprechen, große Schrifttypen in
Handouts mit gutem Kontrast verwenden).
Die amerikanische geriatrische Gesellschaft gibt die mit 4 Ziele und Inhalte der Therapie sollten verständlich
hoher Evidenz belegte Empfehlung, allen älteren Schmerz- erklärt werden; es sollte Zeit gegeben werden, eine
patienten ein Training körperlicher Aktivität anzubieten, Entscheidung über die Mitarbeit zu fällen.
wobei Komorbiditäten, Medikation und körperliche Ein- 4 Partner und Angehörige (»caregivers«) sollten mit
schränkungen zu berücksichtigen sind. Spezifische Anfor- einbezogen werden, besonders wenn es um die Ent-
derungen an die Physiotherapie sind z. B. bei Osteoporose scheidung zur Teilnahme an der Therapie geht.
und Arthrose nötig. 4 Das Tempo innerhalb der Sitzungen sollte verlang-
Aktivierende Physiotherapie ist eine wichtige Maß- samt werden, kürzere, dafür häufigere Sitzungen sind
nahme bei chronischen Rückenschmerzen auch im Alter. günstig.
Ältere Menschen wünschen sich jedoch häufig eher passi- 4 Der Therapeut sollte sich vergewissern, dass die
ve Verfahren und müssen oft erst für ein selbstständiges Hausaufgaben verstanden wurden, und wichtige
Üben zuhause motiviert werden. Sturzängste spielen bei Inhalte durch die Teilnehmer wiederholen lassen.
der Reduzierung der Aktivität womöglich eine bedeutsa- 4 Informationen sollten durch multimediale Angebote
mere Rolle als die aus der Schmerzforschung bekannten unterstützt werden (schriftliche Zusammenfassungen,
»fear avoidance beliefs«. Auch die Ängstlichkeit von Tonaufzeichnungen der Sitzungen, um diese zu
Pflegenden kann zu einer Aktivitätseinschränkung älterer Hause erneut abspielen zu können).
Pflegeheimbewohner führen. Interdisziplinäre Abstim- 4 Es sollten altersentsprechende Empfehlungen für
mung ist daher sehr wichtig [10]. physische und soziale Aktivitäten gegeben werden.
Bei körperlichen Übungen sollten Belastungen in sehr 4 Durch häufiges Feedback sollten positive Verhaltens-
kleinen Stufen gesteigert werden, um eine Überlastung änderungen verstärkt werden.
und eine damit einhergehende Schmerzverstärkung zu
vermeiden. Sinnvoll kann es aber auch sein, bei mobilen Neben den an Schmerzbewältigung, Veränderung ungüns-
älteren Patienten gezielt bisher vermiedene Bewegungen in tiger Kognitionen und an operanten Techniken orientier-
konfrontierender Weise zu üben (7 Abschn. 48.4.4, »Fallbei- ten psychologischen Verfahren empfehlen andere Autoren
spiel«). Ein gemeinsames Üben in Gruppen kommt vielen auch eine »Akzeptanz- und Commitmenttherapie« (ACT)
älteren Patienten entgegen, die gleichzeitig einen Mangel bei chronischem Schmerz im Alter. Diese Therapieform
an sozialen Kontakten haben [13]. integriert Meditationspraktiken sowie Elemente der
Die australische Schmerzgesellschaft regt für Schmerz- Gestalttherapie [11]. Primäres Therapieziel dabei ist die
patienten in Pflegeheimen an, isotonische Kräftigungs- achtsame Akzeptanz nicht veränderbarer Empfindungen
übungen insbesondere bei Personen mit stärkerer Be- (z. B. der Schmerzen) und Lebensumstände bei gleichzei-
einträchtigung durchzuführen, da hierdurch auch bei tigem Klären des Noch-Erreichbaren.
dieser Gruppe Schmerzintensität und depressive Stim- Multimodale Schmerztherapie ist besonders für noch
mung verringert werden könnten. gehfähige chronisch kranke ältere Patienten geeignet. Im
Schmerzzentrum des Universitätsklinikums Erlangen
erwies sich solch eine Therapie im Gruppensetting für
Ältere hinsichtlich der Kriterien Schmerz, Beeinträchti-
gung, Lebensqualität und körperlicher Leistungsfähigkeit
als erfolgreich [13]. Hier wird auch die zuvor beschriebene
48.5 · Fazit
539 48
AMIKA im Rahmen einer Konfrontationstherapie (»gra- petenzen und schließlich die Alltagskompetenz zu ver-
ded exposure«) eingesetzt, um Patienten mit aktivitätsbe- lieren.
zogenen Ängsten zu therapieren (s. Fallbeispiel). Auch in Prävalenzangaben zum Rücken- und Nackenschmerz
Pflegeheimen sollten physiotherapeutische wie auch psy- im Alter sind aufgrund methodischer Einschränkungen
chologische Verfahren genutzt werden, um eine über die schwierig zu bewerten. Es ist jedoch davon auszugehen,
medikamentöse Therapie hinausgehende Schmerzreduk- dass der spinale Schmerz auch im Alter ein gravierendes
tion zu erreichen, die Funktion zu fördern und die Lebens- Problem für die Betroffenen darstellt. Spezifischer Schmerz
qualität zu steigern [10]. tritt häufiger auf als bei jüngeren Menschen, weshalb auf
mögliche pathologische Ursachen besonderes Augenmerk
Fallbeispiel1 gerichtet werden muss. Weiterhin ist die häufig vorhande-
Frau S., 67 Jahre, hatte LWS-Beschwerden seit der Jugend ne physische und psychische Komorbidität zu beachten
und war bereits mit 50 Jahren schmerzbedingt erwerbsun- und in der Therapieplanung zu berücksichtigen.
fähig. Sie hatte mehrere Rücken-OPs hinter sich, es be- Auch im Alter soll das Schmerzassessment multi-
standen Bewegungseinschränkungen in der Wirbelsäule dimensional erfolgen und physische, psychische, soziale
und in den Schultern. Selbstüberforderung und Perfek- und kognitive Aspekte berücksichtigen. Dafür stehen
tionismus verursachten Schmerzspitzen, die katastrophisie- altersspezifische Messverfahren zur Verfügung. Diese Ver-
rende Gedanken, Niedergeschlagenheit und Rückzug aus- fahren sollten allerdings nur bei solchen Personen ange-
lösten. Die Patientin hatte starke Alltagseinschränkungen wendet werden, die ihrer bedürfen, d. h. deren Selbststän-
bei vielen Bewegungen und war sehr auf die Hilfe ihres digkeit und Selbsthilfefähigkeit durch Einschränkungen
Mannes angewiesen. der physischen, psychosozialen oder kognitiven Funktio-
Frau S. nahm an einem multimodalen Gruppenprogramm nen gefährdet sind.
für Senioren teil. Da sich erhöhte Werte in den Angst-/ In solchen Fällen ist auf schriftliche Fragebögen zu
Vermeidungsüberzeugungen zeigten, wurden Frau S. Einzel- verzichten. Stattdessen ist in der Anamnese ein struktu-
sitzungen mit Konfrontationstherapie anhand der AMIKA riertes Schmerzinterview durchzuführen. Zum Assess-
angeboten. Sie erprobte mehrere bedrohliche Alltagsbewe- ment der Funktion ist möglichst auf Beobachtungsverfah-
gungen in gemeinsamen Sitzungen mit einem Psychologen ren zurückzugreifen, da diese valider sind als Selbst- oder
und einem Physiotherapeuten, kombinierte dies mit Fremdberichte.
»Pacing« (Einplanen bewusster zeitkontingenter Pausen) im Obwohl auch im Alter die Therapie der Schmerzur-
Alltag bei anstrengenden Haushaltstätigkeiten und erwei- sachen erste Priorität besitzt, ist eine kausale Therapie des
terte ihre Möglichkeiten, angenehme Unternehmungen Schmerzes seltener möglich als bei Jüngeren. Bei weiterhin
durchzuführen (»Genusstraining«). Die AMIKA-Werte von bestehendem Schmerz werden daher die Schmerzreduk-
Frau S. fielen von anfangs 239 auf 75 bei Therapieende und tion sowie eine Verbesserung der Funktion und der
lagen 3 Monate nach Therapieende bei 94. Ähnlich positiv Lebensqualität als angemessene Erfolgsparameter ange-
veränderten sich die Werte in der Katastrophisierungs- sehen. Um diese Erfolge zu erreichen, sind medikamentöse
Vermeidungs-Skala KVS 65+ und ebenso die angegebene Verfahren durch Physiotherapie und psychologische
Schmerzintensität. Therapie zu ergänzen.
Als schwierig erwies sich bei Nutzung der AMIKA die Im Rahmen multimodaler Therapien muss beachtet
Eingrenzung auf den Rückenschmerz, da die Patientin werden, dass sich einige Medikamente negativ auf die
multilokuläre Schmerzen hatte. kognitive oder körperliche Leistungsfähigkeit auswirken
können, wodurch aktivierende Verfahren (Physiothera-
pie, Psychotherapie) erschwert werden. Medikamente, die
48.5 Fazit das Sturzrisiko erhöhen, bedürfen einer kritischen Bewer-
tung. Bei geriatrischen Patienten müssen Partner und
Ältere Menschen weisen im Vergleich zu jüngeren eine Angehörige sowie ggf. Pflegekräfte einbezogen werden.
veränderte Physiologie und häufig auch eine altersspezifi- Günstig ist ein konstanter Ansprechpartner, der die ein-
sche psychosoziale Situation auf. Sie sind jedoch keine zelnen therapeutischen Maßnahmen koordiniert sowie
homogene Gruppe und müssen entsprechend ihrer kogni- die Fragen des Patienten und seiner Angehörigen beant-
tiven, affektiven und sozialen Situation mit spezifischen wortet.
diagnostischen und therapeutischen Verfahren versorgt
werden. Stärker als jüngere Menschen sind sie gefährdet,
bei fortwährendem Schmerz ihre funktionellen Kom-

1 Für das Fallbeispiel danken wir Herrn Dipl.-Psych. P. Mattenklot


540 Kapitel 48 · Ältere Patienten

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541 49

Geschlechtsunterschiede
bei chronischem
Muskel- und Rückenschmerz
S. Lautenbacher

49.1 Epidemiologische und klinische Hinweise


auf Geschlechtsunterschiede – 542

49.2 Experimentelle Hinweise auf Geschlechtsunterschiede – 543


49.2.1 Experimentelle Simulation von Muskelschmerzen – 543
49.2.2 Druckschmerzhaftigkeit – 544
49.2.3 Zeitliche Summation und inhibitorische Mechanismen – 545

49.3 Sonderfall Rückenschmerz – 546

49.4 Abschließende Bemerkungen – 547

Literatur – 547

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_49, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
542 Kapitel 49 · Geschlechtsunterschiede bei chronischem Muskel- und Rückenschmerz

Dieses Kapitel beschäftigt sich überwiegend mit zwei


. Tab. 49.1 Geschlechtsprävalenz (w/m-Ratio) verschiede-
Fragen: Erstens, gibt es Geschlechtsunterschiede bei
ner Schmerzbeschwerden für Erwachsene aus der Allgemein-
chronischen Muskelschmerzen, speziell bei chronischem bevölkerung. (Mod. nach LeResche [22])
Rückenschmerz, und zweitens, gibt es dafür schon Er-
klärungsansätze? Kurz gesagt, scheinen die meisten Studien Körperstelle/ Anzahl der w/m-Ratio: w/m-
Geschlechtsunterschiede nahezulegen. Frauen leiden offen- Beschwerdeform Studien Range Ratio:
Median
bar häufiger unter Muskelschmerzen als Männer, wobei die
Geschlechtsunterschiede beim Rückenschmerz nicht Kopfschmerz 15 1,1–3,1 1,3
sonderlich ausgeprägt zu sein scheinen. Epidemiologische (allgemein)
Daten, die im Folgenden präsentiert werden, können über
Migräne 14 1,6–4,0 2,5
49 die mit den Geschlechtsunterschieden assoziierten Faktoren
Burning-mouth- 2 1,3–2,5 1,9
erste Auskünfte geben. Weitergehende Aufschlüsse können
Syndrom
gewonnen werden, wenn zusätzlich experimentelle Er-
gebnisse herangezogen werden, die im zweiten Teil des Knieschmerz 4 1,0–1,9 1,6
Kapitels überblicksartig dargestellt werden. Abdominelle 4 1,2–1,3 1,25
Schmerzen

Rückenschmerz 4 0,9–1,3 1,2


49.1 Epidemiologische und klinische
Nackenschmerz 5 1,0–3,3 1,4
Hinweise auf Geschlechtsunterschiede
Schulterschmerz 5 1,0–2,2 1,3
Epidemiologische Veröffentlichungen machen deutlich, Temporomandi- 10 1,2–2,6 1,5
dass Muskelschmerzen im Allgemeinen und der Rücken- bulärer Schmerz
schmerz im Besonderen bedeutsame medizinische und Fibromyalgie 4 2,0–6,8 4,3
ökonomische Probleme darstellen. Leijon et al. [21] be-
richteten, dass ungefähr 30 % aller Krankheitstage in
Schweden auf Nacken-, Schulter- und Rückenschmerzen
zurückzuführen sind und dass die krankheitsbedingten Rekola et al. [33] beobachteten, dass bei Frauen speziell die
Fehlzeiten im Allgemeinen und speziell aufgrund von Altersgruppe zwischen 55 und 64 Jahren diejenige war, die
Muskelschmerzen bei Frauen deutlich höher sind als bei medizinische Hilfe für Muskelschmerzen, speziell im
Männern. Passend hierzu beobachteten Wijnhoven et al. Nacken- und Schulterbereich, nachfragte. Bei Männern
[46] in einer holländischen populationsbasierten Untersu- fand sich die stärkste Nachfrage in der Altersgruppe
chung eine Prävalenz von Muskelschmerzen bei Frauen zwischen 45 und 54 Jahren, wobei Rückenschmerzen die
von 45 % und bei Männern von 39 %. Je nach Geschlecht häufigste Beschwerdeform war. Diese Befunde sprechen
variierte die Stärke des Schmerzes bei verschiedenen dagegen, dass Geschlechtsunterschiede bei Muskelschmer-
Körperstellen. Frauen hatten vor allem mehr Schmerzen zen mit dem Alter verschwinden.
an der Hüfte und der Hand sowie am Handgelenk. Keine Die bislang präsentierten Daten legen nahe, dass die
bedeutsamen Geschlechtsunterschiede fanden sich hinge- Geschlechtsunterschiede bei Muskelschmerzen an ver-
gen in dieser Studie für die Knie und den unteren Rücken. schiedenen Körperorten unterschiedlich stark ausfal-
Aber nicht allein die Stärke der Muskelschmerzen diffe- len.  Dementsprechend lassen sich auch wechselnde
riert zwischen den Geschlechtern, sondern auch schmerz- Geschlechtsunterschiede für verschiedene Diagnosen
bedingte Funktionseinschränkungen und Störungen der von Muskelschmerzen erwarten. Übersichtsarbeiten von
Alltagspraxis, die bei Frauen auch stärker ausgeprägt sind LeResche [22, 23] argumentierten dafür, dass monolokulä-
und sich nicht allein durch Unterschiede in psychischen re Muskelschmerzen bei Frauen nur geringfügig prävalen-
Faktoren wie Angst und Depression erklären lassen [43]. ter sind als bei Männern (. Tab. 49.1); hier fallen die Ge-
Da sich das Alter sicherlich auf die biologischen und schlechtsunterschiede kaum anders aus als bei chronischen
psychosozialen Grundlagen der Geschlechtsunterschiede Schmerzen nichtmuskulärer Genese. Es sind hauptsäch-
auswirkt, ist es wichtig, Muskelschmerzen auch bei älteren lich die multilokulären oder anatomisch ausgedehnten
Frauen und Männern zu erfassen. Leveille et al. [25] unter- Muskelschmerzen, die im Extremfall als Fibromyalgie
suchten eine große Gruppe von Frauen und Männern, die diagnostiziert werden, bei denen die Frauen deutlich
alle 72 Jahre und älter waren. 63 % der Frauen berichteten dominieren.
von Schmerzen in einer oder mehreren Körperregionen, Lassen sich die Geschlechtseffekte allein oder zumindest
verglichen mit 52 % der Männer. Ganzkörperschmerzen zum Teil durch körperliche Risikofaktoren erklären? Eine
waren häufiger bei Frauen (15 %) als bei Männern (5 %). Reihe von Erklärungen dieser Art wurde bereits diskutiert;
49.2 · Experimentelle Hinweise auf Geschlechtsunterschiede
543 49
hierzu gehören Unterschiede in der Risikoexposition am Hinweise auf Geschlechtsunterschiede zu verstehen, als
Arbeitsplatz, beispielsweise durch Anpassung des Arbeits- ihre Existenz nachzuweisen. Männer und Frauen unter-
platzes an für Männer geltende Normen, Unterschiede in scheiden sich in der Körpergröße und vielen physischen
der Muskelkraft, Übergewicht sowie Unterschiede in der Funktionen wie etwa auch in der Mischung von Typ-I- und
Art, wie Erkrankungen und Verletzungen diagnostiziert Typ-II-Muskelfasern und der kardiovaskulären Ausdauer
und behandelt werden und zu Rehabilitationsmaßnahmen [32]. Endokrine Einflüsse, bedingt durch den menstruellen
führen. In diesem Sinne berichteten Fredriksson et al. [7], Zyklus, hormonelle Verhütung, Schwangerschaft, Hyster-
dass Nacken-, Schulter- und Beinbeschwerden positiv kor- ektomie etc., können das Risiko von Muskelschmerzen
reliert waren mit schwerem Heben, monotonen oder stark frauenspezifisch beeinflussen [45]. Speziell der Zusam-
repetitiven Arbeitstätigkeiten, einseitiger Körperhaltung, menhang zwischen Muskelschmerzen und dem menstruel-
Vibrationen und einer hohen Arbeitsgeschwindigkeit. Diese len Zyklus verdient eingehendere Untersuchungen. Studien
Risikofaktoren waren bei Frauen in dieser Studie durchgän- an Patientinnen mit temporomandibularem Schmerz be-
gig häufiger zu finden. Die Autoren erwähnten jedoch auch weisen, dass die Verschreibung von Östrogen bei postme-
vermehrt psychosoziale Risikofaktoren bei Frauen wie ge- nopausalen Frauen das Risiko, unter orofazialen Schmer-
ringe Arbeitszufriedenheit, wenig soziale Unterstützung, zen zu leiden, erhöht [49, 24]. Als psychosoziale Risikofak-
hohe subjektive Arbeitsbelastung und Stress, großen Zeit- toren lassen sich bei Frauen u. a. nennen: Sie erfahren grö-
druck, wenig Kontrolle über die Arbeit sowie hohe psycho- ßeren Stress innerhalb und außerhalb der Arbeitswelt, sie
logische Anforderungen durch die Arbeit. haben weniger Kontrolle über den Arbeitsprozess, ihnen
Interessanterweise erwiesen sich in einer langjährigen werden weniger Möglichkeiten zur Beförderung gegeben
Längsschnittstudie [28] psychosoziale Faktoren wie und das Beklagen von Schmerzen sowie das Bemühen um
Monotonie und hohe mentale Belastung bei der Arbeit als Kompensationszahlungen haben andere soziale Konse-
prognostisch für Nacken- und Armbeschwerden bei quenzen als bei Männern. Aus dieser Mischung geschlechts-
Frauen (doppelt so hohe Prävalenz bei Frauen wie bei spezifischer biologischer und psychosozialer Faktoren
Männern), während bei Männern körperliche Faktoren müssen in Zukunft diejenigen isoliert werden, die von
ein erhöhtes Beschwerderisiko vorhersagten. Jedoch kritischer Relevanz sind. Hierbei können experimentelle
widersprachen die Autoren einer zu simplen Annahme Ansätze zumindest teilweise helfen.
einer Dichotomie von Risikofaktoren getrennt nach
Geschlechtern, indem sie feststellten, dass »diese zwei As-
pekte der Arbeitsumwelt so eng miteinander verknüpft 49.2 Experimentelle Hinweise auf
sind, dass es nicht möglich ist, ihre getrennte Wirkung auf Geschlechtsunterschiede
Muskelbeschwerden mit dieser Studie abzuschätzen«
(Übers. des Autors) [28]. Die Idee, dass Frauen besonders Die in den folgenden Abschnitten dargestellten Ge-
empfänglich für die Wirkung psychosozialer Risikofakto- schlechtsunterschiede in der Schmerzverarbeitung wurden
ren und Männer besonders empfänglich für die Wirkung experimentell bestimmt. Die Ergebnisse lassen sich nach
physischer Faktoren sind, trifft so einfach formuliert offen- folgenden Themen gruppieren:
bar nicht zu. Wijnhoven et al. [47] beobachteten geradezu 1. Geschlechtsunterschiede bei der experimentellen
die gegenteilige Tendenz. Biologische Risikofaktoren mit Simulation von Muskelschmerzen,
einer geschlechtsspezifischen Assoziation waren Überge- 2. Geschlechtsunterschiede in Druckschmerzhaftigkeit,
wicht und höheres Alter, die nur bei Frauen als Prädiktoren die ein besonders interessanter Parameter ist, weil in
taugten; hingegen war das Schmerzkatastrophisieren bei ihn auch die nozizeptive Sensibilität aus muskulärem
Männern für die Entstehung chronischer Muskelschmer- Gewebe eingeht,
zen prognostisch relevanter als bei Frauen. 3. Geschlechtsunterschiede in der zeitlichen Summation
Möglicherweise unterscheiden sich nicht nur die rele- und in inhibitorischen Mechanismen, soweit sie
vanten Risikofaktoren für Muskelschmerzen zwischen Muskelschmerzen betreffen.
den Geschlechtern, sondern auch deren Konsequenzen.
Wijnhoven et al. [48], die in den Niederlanden eine beacht-
liche Stichprobe von 2.517 Personen untersuchten, beob- 49.2.1 Experimentelle Simulation von
achteten eine stärkere Nutzung des Gesundheitssystems Muskelschmerzen
bei Frauen, die an Muskelschmerzen litten; hingegen
waren Männer häufiger arbeitsunfähig, aber nur, wenn sie Muskelschmerzen können durch zu starke oder einseitige
an Schmerzen im unteren Rücken litten. Belastung induziert werden. Eine Frage ist dabei, ob sich
Es ist offensichtlich, dass es viel schwieriger ist, die die beiden Geschlechter in der funktionellen Schwelle
Ursachen und Konsequenzen dieser epidemiologischen unterscheiden, die zwischen Belastung und Über- bzw.
544 Kapitel 49 · Geschlechtsunterschiede bei chronischem Muskel- und Rückenschmerz

Fehlbelastung trennt. Karibe et al. [13] untersuchten Die Injektion von hypertoner Kochsalzlösung in einen
beispielsweise, ob schon das Kauen von Kaugummi über Muskel produziert Schmerzen, die klinischen Formen von
6 min Schmerzen in der Kaumuskulatur auslöst. Ge- Muskelschmerzen ähneln. Ge et al. [8] injizierten eine
schlechtsunterschiede traten insofern auf, als lediglich solche Lösung 2-mal beidseitig in den M. trapezius. Unter
Frauen nennenswerten, jedoch nur kurzlebigen Muskel- einer Reihe von Schmerzparametern war es nur der
schmerz entwickelten. »maximale Schmerz«, der die Geschlechter unterschied,
Der klinischen Situation ähnlicher und daher informa- wobei Frauen höhere Werte hatten. Die gleiche
tiver sind experimentelle Schmerzmodelle, die länger an- Forschungsgruppe replizierte diese Ergebnisse in einer
dauernde Schmerzen auslösen. Unter dieser Perspektive zweiten Studie [9]. Wieder gab es kaum nennenswerte
hat ein Phänomen, das »delayed onset muscle soreness« Unterschiede zwischen den Geschlechtern, auch die mit
49 (DOMS) genannt wird, Interesse erweckt. DOMS ist ein dieser Methode auslösbaren »übertragenen Schmerzen«
Muskelschmerz, der 12–48 h nach Belastung auftritt. Be- waren bei Frauen und Männern ähnlich.
lastungen, die DOMS besonders regelmäßig auslösen, sind Eine weitere Alternative für die Auslösung von Mus-
das Neuansetzen oder das Wechseln eines sportlichen kelschmerzen wurde von Cairns et al. [3] getestet, indem
Übungsprogramms sowie die starke Zunahme der Intensi- die Autoren Glutamat in den M. masseter injizierten.
tät und der Dauer von Übungen. Diese Schmerzhaftigkeit Dieses Schmerzmodell lieferte dagegen eine Vielzahl von
ist eine normale Reaktion auf ungewöhnliche Belastungen Geschlechtsunterschieden: Frauen erlebten den Schmerz
und Teil eines Adaptationsprozesses, der zu größerer Aus- stärker, länger und über weitere Körperareale verteilt.
dauer und Kraft führt, wenn sich der Muskel erholt und Dieses Beispiel allein lässt jedoch die anderen negati-
aufbaut. DOMS kann experimentell ausgelöst werden, in- ven Befunde nicht vergessen. Die experimentellen Ver-
dem man die Probanden instruiert, exzentrische Muskel- suche, klinische Muskelschmerzen zu imitieren, scheinen
kontraktionen zu vollführen. Diese können wiederum bislang nicht die pathophysiologischen Mechanismen ab-
durch Bewegungen initiiert werden, bei denen sich der zubilden, die für die Geschlechtsunterschiede in der Klinik
Muskel kraftvoll kontrahieren muss, während er gestreckt verantwortlich sind.
wird. Für Geschlechtsunterschiede im DOMS gibt es
jedoch keine eindeutigen Hinweise. Dannecker et al. [5]
fanden, dass Frauen sogar weniger über Muskelschmerz 49.2.2 Druckschmerzhaftigkeit
berichteten als Männer, wenn DOMS über den M. brachi-
oradialis induziert wurde. Die Erhöhung der Druck- Frauen weisen bei Untersuchungen im Labor häufig eine
schmerzempfindlichkeit, die DOMS regelmäßig begleitet, größere Schmerzempfindlichkeit auf; dieser Unterschied
war bei Frauen und Männern ähnlich. Nie et al. [26] riefen ist besonders groß, wenn mit Druckreizen stimuliert wird.
experimentell DOMS in der Schultermuskulatur hervor Übersichtsarbeiten zu diesen Geschlechtsunterschieden
und erfassten die ausgelöste Schmerzintensität, das gibt es schon einige, sie müssen hier nicht multipliziert
Schmerzareal und die Werte im McGill-Schmerzfragebo- werden [34, 37, 36, 6]. Es sei hier daher hauptsächlich
gen. Alle diese Schmerzparameter waren nach Eintreten darauf eingegangen, dass mit dem Einsatz von Druck-
von DOMS erhöht; die Druckschmerzschwelle war für stimulatoren offenbar in besonders sensitiver Weise die
über 24 h erniedrigt. Jedoch ergaben sich in keinem pathophysiologischen Prozesse beim Muskelschmerz er-
Schmerzparameter Geschlechtsunterschiede. Die gleiche fasst werden können.
Forschergruppe [27] konnte diese Befunde größtenteils > Es gibt wenig Zweifel, dass Frauen vulnerabler für
replizieren. Es ergaben sich nur Geschlechtsunterschiede klinische Schmerzen sind und sich bei experimen-
in der muskulären Kraft und in der EMG-Aktivität. Wäh- tellen Untersuchungen als schmerzempfindlicher
rend der exzentrischen Bewegungen fand sich nur bei den erweisen.
Männern eine signifikante Abnahme der ausgeübten Kraft,
obwohl sie ähnliche Schmerzbeurteilungen abgaben wie Es gibt eine Vielzahl von Belegen, die zeigen, dass mecha-
die Frauen. Gleichermaßen war die EMG-Aktivität nischer Druck die bestgeeignete Form nozizeptiver
während der Übung nur bei den Männern verstärkt. Die Reizung ist, um bei Syndromen mit Muskelschmerzen ver-
Autoren schlossen daraus, dass Frauen eine stärkere änderte Schmerzschwellen zu demonstrieren. Beispiels-
Widerstandsfähigkeit gegenüber muskulärer Ermüdung weise wird die erhöhte Schmerzempfindlichkeit bei Fibro-
haben als Männer. Insgesamt muss man jedoch feststellen, myalgie besonders deutlich, wenn Druckreize zur
dass DOMS als experimentelles Muskelschmerzmodell Schmerzstimulation verwendet werden [15, 42]. Lauten-
bislang nicht ermöglicht hat, die aus der Klinik bekannten bacher et al. [18] berichteten, dass die Effektstärken für
Geschlechtsunterschiede nachzustellen, obwohl es starke Unterschiede zwischen Fibromyalgiepatienten und
Ähnlichkeiten mit klinischen Muskelschmerzen aufweist. schmerzfreien Kontrollpersonen 1,53 für einen Tender-
49.2 · Experimentelle Hinweise auf Geschlechtsunterschiede
545 49
punkt und 1,57 für einen Kontrollpunkt betrugen, wenn treten. Pickering et al. [30] beobachteten verringerte
Druck zur Stimulation verwendet wurde. Die Effektgrößen Druckschmerzschwellen bei Frauen, jedoch nur bei jünge-
nahmen auf 0,65 bzw. 0,84 bei Hitzeschmerz und auf ren und nicht bei älteren. In einer Studie des Autors waren
0,22 bzw. 0,91 bei elektrokutanem Schmerz ab. Ganz ähn- die Effektgrößen für Unterschiede zwischen jungen Frauen
lich erweisen sich Patienten mit myofaszialem und tempo- und Männern für Druckschmerzschwellen 0,79 und für
romandibularem Schmerz als besonders schmerzempfind- Hitzeschmerzschwellen 0,57 [19]; Frauen waren dabei
lich, wenn Druckreize bei der Diagnostik verwendet wer- wiederum die empfindlicheren Personen. Im Gegensatz
den; dies gilt vor allem für die schmerzsymptomatische dazu waren bei Personen über 70 Jahren diese klassischen
Körperregion [1, 35]. Man kann schlussfolgern, dass die Geschlechtsunterschiede verschwunden oder gar ins
Reizung mit Druckschmerz offenbar den Prozessen beson- Gegenteil verkehrt (Druckschmerzschwellen: −0,50;
ders nahe kommt, die zur Pathophysiologie von Muskel- Hitzeschmerzschwellen: −0,06). Solche Befunde machen
schmerzen gehören. Hierzu passt die Beobachtung von kritische Einschränkungen des Geltungsbereichs der
Lautenbacher et al. [18], dass eine signifikante negative bisherigen Untersuchungen insofern notwendig, als die
Beziehung nur zwischen der aktuellen Stärke des Fibromy- meisten Befunde nur für relative junge Personen gelten.
algieschmerzes und der Druckschmerzschwelle bestand;
andere Schmerzinduktionsarten (Hitze, Strom) waren
nicht in ähnlicher Weise mit dem klinischen Schmerz 49.2.3 Zeitliche Summation und
assoziiert. inhibitorische Mechanismen
> Die verstärkte Vulnerabilität von Frauen für
klinische Schmerzen scheint im Besonderen auch
Die häufigen Hinweise bei Muskelschmerzen auf eine ge-
für Muskelschmerzen zu gelten, wenn man
neralisierte erhöhte Druckschmerzempfindlichkeit kön-
chronische Schmerzen mit Ganzkörperausbreitung,
nen eine zentrale Sensitivierung oder eine mangelhafte
speziell die Fibromyalgie, und die Druckschmerz-
Schmerzinhibition oder beides zusammen anzeigen. Die
empfindlichkeit zur Beweisführung heranzieht.
Paradigmen, die in der Regel genutzt werden, um diese
Fragen zu beantworten, sind die Messung der zeitlichen
Dies führt unweigerlich zu der Frage, ob der Muskel- Summation bei Druckreizen und die Untersuchung der
schmerz die Schmerzschwellen erniedrigt oder ob ein Schmerzhemmung (Conditioned-pain-Modulation-Para-
Zustand erhöhter Schmerzempfindlichkeit, sei er peripher digma/CPM-Paradigma, das das Phänomen »Schmerz
oder zentral verursacht, Muskelschmerzen bedingt. unterdrückt Schmerz« abbildet) mit Druck als Testreiz.
Muskelschmerzen scheinen nicht notwendigerweise zu Sarlani et al. [38] untersuchten die zeitliche Summa-
einer Abnahme der Schmerzschwelle zu führen. Babenko tion, indem sie in kurzen, aber regelmäßigen Abständen
und Kollegen [2] induzierten experimentell Muskel- 10 leicht schmerzhafte Druckreize auf die Finger von je
schmerzen durch verschiedene chemische Wirkstoffe, 25 Frauen und Männern verabreichten. Die Summations-
ohne die lokale Druckschmerzschwelle zu verändern. effekte auf den ausgelösten Schmerz waren bei Frauen
Ganz ähnlich konnten Graven-Nielsen et al. [11, 12] keine deutlich stärker. In einer späteren Studie an Patienten mit
Abnahme der lokalen Druckschmerzschwelle herbei- temporomandibulären Schmerzen konnten Sarlani et al.
führen, indem sie Muskelschmerzen durch Infusion von [39] diesen Befund im Wesentlichen replizieren. Im Ge-
hypertoner Kochsalzlösung auslösten. Hinweise von Slade gensatz dazu konnte der Autor dieses Beitrags in 2 Studien
et al. [41] aus einer Längsschnittstudie legen hingegen [16, 20] mit 5 Druckreizen im Abstand von je 2 sec zwar
nahe, dass eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit zu den eine deutliche zeitliche Summation auslösen, die aber war
wichtigen Risikofaktoren gehört, die eine Entstehung von bei den weiblichen und männlichen Probanden ähnlich
temporomandibulären Schmerzen wahrscheinlicher groß. Folglich ist die Datenlage im Hinblick auf Ge-
machen. Ließe sich der Befund, dass die erhöhte Schmerz- schlechtsunterschiede in der zeitlichen Summation von
empfindlichkeit der Entwicklung klinischer Schmerzen Druckschmerzreizen bislang keineswegs eindeutig.
vorausgeht, erneut bestätigen, so könnten die üblicher- Als Nächstes geht es um die Hypothese, ob eine man-
weise erniedrigten Schmerzschwellen bei Frauen einen gelhafte Schmerzhemmung für Druckschmerz den Ge-
hyperalgetischen Zustand anzeigen, der Frauen für die schlechtsunterschieden in der Druckschmerzempfindlich-
Entwicklung von Muskelschmerzen prädisponiert. keit zugrunde liegen könnte. Solche Geschlechtsunter-
Die potenzielle Wechselwirkung von Geschlecht und schiede könnten auch helfen zu verstehen, warum die
Alter auf die Druckschmerzempfindlichkeit ist noch fast CPM-Hemmung bei chronischen Schmerzsyndromen
kaum untersucht worden. Zwei Untersuchungen legen mit starker Dominanz des weiblichen Geschlechts häufig
nahe, dass eindeutige Geschlechtsunterschiede in der defizitär zu sein scheint [17, 14]. Aber gibt es solche
Druckschmerzhaftigkeit nur bei jungen Personen auf- Geschlechtsunterschiede überhaupt?
546 Kapitel 49 · Geschlechtsunterschiede bei chronischem Muskel- und Rückenschmerz

Ge et al. [8] untersuchten Geschlechtsunterschiede in bekannte Befund einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit


der CPM-Hemmung, indem sie die Druckschmerzschwel- bei chronischen Schmerzen vor. Solche ätiologische Sub-
len auf dem M. trapezius und der posterolateralen Nacken- gruppen können auch für andere chronische Schmerz-
muskulatur erhoben, während und nachdem sie hypertone syndrome angenommen werden, sind aber beim Rücken-
(konditionierender Schmerzreiz) oder isotone Kochsalz- schmerz vermutlich besonders relevant.
lösung bilateral in den M. trapezius injizierten. Die Druck- Interessanterweise findet sich auch bei der Epidemio-
schmerzschwellen erhöhten sich – eine Hemmung an- logie des Rückenschmerzes kein konsistentes Muster für
zeigend – nur bei den Männern, nicht aber bei den Frauen. das Auftreten von Geschlechtsunterschieden [22], was an
Pud et al. [31] untersuchten gesunde Kontrollpersonen, die Existenz von ätiologischen Subgruppen denken lässt.
indem sie die Wirkung eines mehrminütigen Eintauchens Ehrlicherweise muss jedoch gesagt werden, dass die Unter-
49 der Finger in eiskaltes Wasser auf die Wahrnehmung von schiede zwischen den Studien vermutlich nicht nur auf die
mechanischen Schmerzreizen in unmittelbarer Nach- inkludierte Ätiologie der Rückenschmerzen, sondern auch
barschaft und auf der kontralateralen Körperseite testeten. auf andere Faktoren zurückgeführt werden können.
Die Empfindlichkeit für die Schmerzreize ließ an beiden Welche Geschlechtsunterschiede finden sich nun spe-
Orten nach, wobei jedoch keine Unterschiede zwischen ziell in der deutschen Bevölkerung, für die epidemiologi-
weiblichen und männlichen Probanden auftraten. sche Daten in diesem Buch besonders informativ sind?
Die imposanten Unterschiede in den Druckschmerz- Rückenschmerzen scheinen insgesamt bei Frauen (40 % –
schwellen zwischen Frauen und Männern lassen sich folg- 7-Tage-Prävalenz) leicht häufiger zu sein als bei Männern
lich bislang noch nicht ausreichend eindeutig durch Unter- (32 %), bezieht man sich auf die Daten einer repräsentati-
schiede in der zeitlichen Summation von Druckreizen oder ven bevölkerungsbasierten Studie an 5.315 Personen [40].
durch Unterschiede in der Hemmung der Schmerzemp- Diese Geschlechtsunterschiede ließen sich durch eine
findlichkeit für Druckreize erklären. Reduzierte Druck- Vielzahl erhobener soziodemografischer und biologischer
schmerzschwellen sind – wie bereits ausgeführt – wieder- Variablen nicht erklären. Nur die bei Frauen erhöhte
um charakteristisch für eine Reihe von chronischen Somatisierungsneigung war zumindest eine Teilerklärung.
Muskelschmerzen, für die auch Geschlechtsunterschiede Eine Erhebung an einer ebenfalls stattlichen Stichprobe
nachgewiesen wurden. Somit lassen sich die Geschlechts- von 1.342 Patienten zeigte zudem, dass bei Frauen die
unterschiede in der klinischen und experimentellen Tendenz zur Chronifizierung des Rückenschmerzes und
Schmerzsymptomatik leider bislang nicht durch die be- zur folgenden funktionellen Einschränkung erhöht ist [4].
schriebenen physiologischen Mechanismen der Schmerz- Ein stärkeres Ausmaß an Chronifizierung bei Frauen als
summation und inhibition zufriedenstellend erklären. bei Männern, die zudem mit höheren psychischen und
schmerzbezogenen Belastungen verbunden war, bestätig-
ten auch Tlach und Hampel [44].
49.3 Sonderfall Rückenschmerz > Weibliche Rückenschmerzpatienten sind häufiger
als männliche, ihr Rückenschmerz chronifiziert
Es war bislang viel vom Muskelschmerz, aber noch wenig leichter, sie weisen eine höhere psychische
direkt vom Rückenschmerz die Rede. Diese gewählte Belastung auf und sind schmerzempfindlicher.
Perspektive ist dadurch gerechtfertigt, dass dort, wo der
Rückenschmerz überwiegend auf muskuläre Funktions- Die direkte experimentelle Überprüfung der Geschlechts-
störungen und nicht auf neuropathische Probleme zurück- unterschiede in der Schmerzsensibilität von Rücken-
zuführen ist, die bislang dargelegten Geschlechtsunter- schmerzpatienten ist bislang selten geblieben. George et al.
schiede auch für den Rückenschmerz gelten. Für eine sol- [10] untersuchten den Einfluss des Geschlechts und einiger
che ätiologische Zweiteilung bezüglich der Schmerzverar- psychologischer Variablen auf die Hitzeschmerzempfind-
beitung sprechen beispielsweise Befunde aus einer lichkeit von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen,
Übersichtsarbeit von Peters [29] zur Schmerzempfindlich- wobei Patienten mit Nervenwurzelkompressionen und
keit bei Rückenschmerzpatienten. So scheinen die Befunde Wirbelsäulenanomalien ausgeschlossen worden waren.
einer reduzierten oder unveränderten Schmerzempfind- Frauen hatten eine geringere Schmerztoleranz und höhere
lichkeit, die bei chronischen Schmerzpatienten eher selten zeitliche Schmerzsummation als Männer. Die erhobenen
sind, überwiegend bei Rückenschmerzpatienten mit neu- psychologischen Größen wie Schmerzkatastrophisieren
rologischen und orthopädischen Diagnosen (z. B. Disko- und Furcht-/Vermeidungsüberzeugungen konnten diese
pathien, spinale Anomalien, Osteoarthritis, Wirbelsäulen- Unterschiede nicht erklären.
degeneration) zu finden zu sein. Hingegen herrscht bei
rein funktionellen Rückenschmerzen, also vermutlich bei
Rückenschmerzen mit muskulären Dysfunktionen, der
Literatur
547 49
49.4 Abschließende Bemerkungen evaluation using repeated bilateral experimental induction of
muscle pain. Pain 110:72–78
9. Ge HY, Madeleine P, Cairns BE, Arendt-Nielsen L (2006) Hypo-
Es gibt wenig Zweifel, dass Frauen vulnerabler für klini-
algesia in the referred pain areas after bilateral injections of
sche Schmerzen sind und sich bei experimentellen Unter- hypertonic saline into the trapezius muscles of men and women:
suchungen als schmerzempfindlicher erweisen. Die Frage a potential experimental model of gender-specific differences.
stellt sich, ob diese Unterschiede bei Muskelschmerzen Clin J Pain 22:37–44
besonders ausgeprägt sind. Dies lässt sich bejahen, wenn 10. George SZ, Wittmer VT, Fillingim RB, Robinson ME (2007) Sex and
pain-related psychological variables are associated with thermal
man chronische Muskelschmerzen mit Ganzkörperaus-
pain sensitivity for patients with chronic low back pain. J Pain
breitung, speziell die Fibromyalgie, betrachtet und wenn 8(1):2–10
man die Testung der Druckschmerzempfindlichkeit her- 11. Graven-Nielsen T, Babenko V, Svensson P, Arendt-Nielsen L
anzieht, zu der auch muskuläre Nozizeptoren beitragen. (1998a) Experimentally induced muscle pain induces hypoalgesia
Nicht ganz so eindeutig fällt die Antwort aus, wenn man in heterotopic deep tissues, but not in homotopic deep tissues.
monolokuläre Muskelschmerzen mit geringerer anatomi- Brain Res 787:203–210
12. Graven-Nielsen T, Fenger-Gron LS, Svensson P, Steengaard-
scher Ausbreitung und andere Stimulationsformen als den
Pedersen K, Arendt-Nielsen L, Staehelin JT (1998b) Quantification
Druckschmerz zur Beweisführung heranzieht. Spezielle of deep and superficial sensibility in saline-induced muscle pain
experimentelle Funktionstests (DOMS, zeitliche Summa- – a psychophysical study. Somatosens Mot Res 15:46–53
tion, CPM-Hemmung) konnten bislang noch nicht ein- 13. Karibe H, Goddard G, Gear RW (2003) Sex differences in
deutig klarlegen, welche pathophysiologischen Mechanis- masticatory muscle pain after chewing. J Dent Res 82:112–116
14. Kosek E, Hansson P (1997) Modulatory influence on somatosen-
men zugrunde liegen. Ist der Rückenschmerz in diesem
sory perception from vibration and heterotopic noxious condi-
Zusammenhang eine Ausnahme? Sehr wahrscheinlich tioning stimulation (HNCS) in fibromyalgia patients and healthy
nicht, vor allem, wenn hauptsächlich die funktionell-mus- subjects. Pain 70:41–51
kulär bedingten und nicht die neuropathischen Formen 15. Kosek E, Ekholm J, Hansson P (1996) Sensory dysfunction in
des Rückenschmerzes berücksichtig werden. Weibliche fibromyalgia patients with implications for pathogenic
mechanisms. Pain 68:375–383
Rückenschmerzpatienten sind also häufiger, chronifizie-
16. Lautenbacher S (2008) Sex-related differences in clinical and
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548 Kapitel 49 · Geschlechtsunterschiede bei chronischem Muskel- und Rückenschmerz

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549 X

Management
Kapitel 50 Versorgungskonzepte in der Schmerzmedizin – 551
B. Arnold

Kapitel 51 Struktur der schmerzmedizinischen Versorgung


in Deutschland: Klassifikation schmerzmedizinischer
Einrichtungen – 557
G.H.H. Müller-Schwefe, J. Nadstawek, T. Tölle, P. Nilges,
M.A. Überall, H.J. Laubenthal, F. Bock, B. Arnold, H.R. Casser,
T.H. Cegla, O.M.D. Emrich, T. Graf-Baumann, J. Henning,
J. Horlemann, H. Kayser, H. Kletzko, W. Koppert, K.H. Längler,
H. Locher, J. Ludwig, S. Maurer, M. Pfingsten, M. Schäfer,
M. Schenk, A. Willweber-Strumpf

Kapitel 52 Leitlinie Nackenschmerz der Deutschen Gesellschaft für


Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) – 567
JM. Scherer, A. Wollny

Kapitel 53 Integrierte Versorgung für Patienten


mit Rückenschmerzen – 577
G. Lindena

Kapitel 54 Lendenwirbelsäulenbegutachtung – 591


J. Kuhn

Kapitel 55 Halswirbelsäulenbegutachtung – 599


F. Schröter

Kapitel 56 Gesundheitsökonomische Aspekte


von Rückenschmerzen – 617
O. Damm, D. Bowles, W. Greiner

Kapitel 57 Leitlinien für die Primärversorgung:


vom runden Tisch zur realen Praxis – 631
G. Egidi, A. Becker
551 50

Versorgungskonzepte
in der Schmerzmedizin
B. Arnold

50.1 Einleitung – 552

50.2 Ambulante Versorgung – 552

50.3 Stationäre und teilstationäre Versorgung – 553

50.4 Rehabilitation – 554

50.5 Fazit – 555

Literatur – 555

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_50, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
552 Kapitel 50 · Versorgungskonzepte in der Schmerzmedizin

Die Versorgung chronisch schmerzkranker Patienten in nach KV-Angaben über 90 % mindestens die Hälfte ihrer
Deutschland ist nach wie vor mangelhaft, obwohl mehr als kassenärztlichen Tätigkeit den Schmerzpatienten, 37,5 %
5.000 ausgebildete Schmerzmediziner zur Verfügung stün- sogar ausschließlich. Die Daten des Weißbuchs Schmerz-
den. Im ambulanten Versorgungssektor sind die wichtigsten medizin bestätigen aber auch, dass bei Weitem nicht alle
Gründe dafür die ungenügende Umsetzung multidiszipli- niedergelassenen Schmerztherapeuten an der Qualitäts-
när-integrativer Versorgung und die insgesamt geringe Zahl sicherungsvereinbarung teilnehmen und dass 18,6 % der
an niedergelassenen Schmerztherapeuten, was u. a. der Schmerzmediziner die vorgegebene Grenze von 300 Fällen
geringen wirtschaftlichen Attraktivität der Fachrichtung ge- pro Quartal überschreiten.
schuldet ist. Deutlich besser ist die Situation im (teil-)statio- Die Qualität der schmerzmedizinischen Versorgung
nären Sektor, da hier die strukturellen Vorgaben integrative kann also noch verbessert werden. Legt man 300 Fälle pro
Versorgung ermöglichen, wenn auch nicht durchweg aus- Quartal zugrunde, können die niedergelassenen Schmerz-
reichende Therapieintensität. Umfassender Verbesserungs- mediziner etwa 310.000 Schmerzpatienten pro Quartal
bedarf besteht zudem im Bereich der Rehabilitation. betreuen. Angesichts von 5–8 Mio. chronischen Schmerz-
50 patienten belegen die verfügbaren Zahlen also eine er-
hebliche Unterversorgung. Deshalb dauert es auch lange,
50.1 Einleitung bis Schmerzpatienten zum Schmerzmediziner finden,
nämlich durchschnittlich 4 Jahre.
Die Beschreibung der schmerztherapeutischen Versorgung Die genannte Qualitätssicherungsvereinbarung enthält
der Bevölkerung in Deutschland ist mit derzeitigem Kennt- neben den Qualifikationsanforderungen an den Leistungs-
nisstand nur in begrenztem Umfang möglich. Insbesondere erbringer und strukturellen Anforderungen an die Ein-
lassen sich definierte Konzepte in der Regelversorgung richtung keine Vorgaben für den eigentlichen Behand-
nicht darstellen. So gibt es sehr wohl bindende Vorgaben lungsprozess, sodass von einheitlichen Behandlungs-
für die Ausbildung zum Führen der Zusatzbezeichnung konzepten nicht ausgegangen werden kann. Entsprechend
»Spezielle Schmerztherapie«, eine Qualifikation, die bis inhomogen stellt sich die Struktur- und Prozessqualität der
2014 immerhin 5.128 Ärztinnen und Ärzte erworben ha- befragten Einrichtungen in der zitierten Arbeit [8] dar.
ben (GBE Bund [4]). Diese Inhalte finden sich seit dem Auch das Weißbuch Schmerzmedizin zeigt ein breites
01.04.2005 in der »Qualitätssicherungsvereinbarung zur Spektrum an therapeutischen Angeboten, die schulmedi-
schmerztherapeutischen Versorgung schmerzkranker Pati- zinische konservative und interventionelle Maßnahmen
enten« [7] auch in der ambulanten Versorgung wieder. ebenso umfassen wie psychotherapeutische und komple-
2008 wurde aber als Ergebnis einer Umfrage von 526 mentärmedizinische Verfahren [2].
ambulanten Schmerztherapieeinrichtungen angegeben, Die derzeit gültige Form des EBM ist grundsätzlich
dass nur in 75 % der Fälle die Zusatzbezeichnung und in eine deutliche Verbesserung der Vergütung schmerz-
41 % die Qualitätssicherungsvereinbarung als Qualifika- therapeutischer Leistungen. Insbesondere wurde dem
tion gegeben war [8]. Die hier angegebene Zahl von hohen Zeitaufwand, den Schmerzpatienten erfordern, mit
526 ambulanten Schmerztherapieeinrichtungen dürfte eigenen Abrechnungsziffern Rechnung getragen, begleitet
nicht alle Einrichtungen erfasst haben, jedoch der tatsäch- von einer Fallzahlbegrenzung. Andererseits wurden aber
lichen Zahl nahekommen. Dies würde bedeuten, dass im noch immer nicht zentrale Anforderungen wie die Inter-
Durchschnitt auf 282 niedergelassene Mediziner eine disziplinarität der Versorgung oder gar integrative Ver-
spezialisierte Schmerztherapieeinrichtung kommt. Die sorgungsstrukturen ermöglicht. Damit orientiert sich die
Zahlen belegen aber auch, dass nicht einmal 10 % der aus- ambulante Regelversorgung gezwungenermaßen weniger
gebildeten Schmerztherapeuten im ambulanten Sektor an den Erkenntnissen der modernen Schmerztherapie als
tätig sind. vielmehr an den Vergütungsmöglichkeiten, wie der exor-
bitante Anstieg von Akupunkturleistungen als »freie«, also
nicht bedarfsgeregelte Leistung 2009 zeigte. Die als Reak-
50.2 Ambulante Versorgung tion auf solche Entwicklungen eingeführten »qualitätszen-
trierten Zusatzvolumina« (QZV) wirken sich als ver-
Das »Weißbuch Schmerzmedizin« des Berufsverbands der gütungsrechtlicher Knebel zusätzlich negativ auf die
Ärzte und psychologischen Psychotherapeuten in der Versorgungsqualität in der Schmerzmedizin aus: Leistun-
Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland (BVSD gen, die nicht abrechenbar sind, werden auch nicht erbracht.
e. V.) [2] listet für 2010 nach Angaben der Kassenärztlichen Um integrative Strukturen im ambulanten Versor-
Bundesvereinigung immerhin 1.027 Schmerzmediziner gungssektor zu ermöglichen, fehlen zudem als eminent
auf, die die Voraussetzungen der oben genannten Quali- wichtiger Bestandteil Psychotherapeuten, die speziell in
tätssicherungsvereinbarung erfüllen [2]. Davon widmen der Betreuung chronischer Schmerzpatienten ausgebildet
50.3 · Stationäre und teilstationäre Versorgung
553 50
sind. Die erforderlichen Ausbildungscurricula sind ausfor-
. Tab. 50.1 Kriterien der multimodalen Schmerztherapie.
muliert, und bereits mehr als 200 Therapeuten haben die (Adaptiert nach Arnold et al. [1])
Ausbildung abgeschlossen [3]. Allerdings wird der Ausbil-
dungsgang bisher mit einer Ausnahme von den Psychothe- Ärztliche Leitung: »Spezielle Schmerztherapie«
rapeutenkammern nicht anerkannt. Flache Hierarchie, Disziplinen gleichberechtigt
Einen erfolgreichen Gegenentwurf zu den unzu-
Feste Teamstrukturen
reichenden Vorgaben der Regelversorgung bieten Selektiv-
verträge, die sich zunehmend an den in der »Nationalen Team Ärzte
Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz« zusammengefassten Psychologen/Psychotherapeuten
wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren, wie
Physio-/Ergo-/Moto- oder Sporttherapeuten
beispielsweise das Programm »RückenPlus« der KKH-
Allianz. Hier werden frühzeitig im Behandlungsverlauf Kotherapeuten

integrative Strukturen mit enger Einbindung von körper- Vorgehen Kleingruppe mit max. 8 Patienten
lich übenden, edukativen und psychotherapeutischen Ver- Übereinstimmendes Therapieziel
fahren genutzt, um einer Chronifizierung der Schmerzen Abgesprochenes Vorgehen
vorzubeugen.
Engmaschiger, regelmäßiger Informations-
Zusammenfassend ist festzustellen, dass im ambulan-
austausch
ten Sektor in den letzten Jahren Verbesserungen in der
Struktur Vorgegebener Behandlungsplan
schmerztherapeutischen Versorgung vor allem durch die
Anpassung der Erlösstrukturen erreicht wurden, auch Inhaltliche Abstimmung
wenn diese zunehmend durch Punktwertverfall und Zeitliche Abstimmung
Mengensteuerung konterkariert werden. Immer noch aber Therapie- Medizinische Behandlung
stehen die Vergütungsstrukturen der Regelversorgung bausteine
Körperlich übend
zentralen Anliegen wie Interdisziplinarität, regelmäßige
und zeitnahe Falldiskussion und die regelmäßige Ein- Psychologisch übend
bindung fachkompetenter Psychotherapie entgegen. An Psychotherapeutisch
aktuellen medizinischen Erkenntnissen orientierte selekti- Ziel Wiederherstellen der Funktionsfähigkeit
ve Versorgungswege zeigen Wege, wie die Versorgung
Steigerung von Kontrollfähigkeit und der
Schmerzkranker auch unter Wahrung der Kosteneffektivi- Eigenkompetenz
tät verbessert werden kann.

50.3 Stationäre und teilstationäre somatische, körperlich übende, psychologisch üben-


Versorgung de und psychotherapeutische Verfahren nach vorge-
gebenem Behandlungsplan mit identischem, unter
Für den stationären Versorgungssektor werden hinsicht- den Therapeuten abgesprochenem Therapieziel
lich integrativer Teamstrukturen klarere Vorgaben über eingebunden sind. Die Behandlung wird von einem
Prozedurenziffern zur multimodalen Schmerztherapie ge- Therapeutenteam aus Ärzten einer oder mehrerer
macht, die Vorgaben sowohl zur Struktur- als auch zur Fachrichtungen, Psychologen bzw. Psychotherapeu-
Prozessqualität enthalten (. Tab. 50.1). Insbesondere die ten und weiteren Disziplinen wie Physiotherapeuten,
OPS-Ziffer 8-91c.xx »Teilstationäre Multimodale Ergotherapeuten, Mototherapeuten und anderen in
Schmerztherapie« ist differenziert ausformuliert. Diese Kleingruppen von maximal 8 Patienten erbracht. Un-
Festlegungen ermöglichen es, hochintensive konservative ter ärztlicher Leitung stehen die beteiligten Therapie-
Schmerztherapie entsprechend der Definition der Ad- formen und Disziplinen gleichberechtigt nebeneinan-
hoc-Kommission »Multimodale interdisziplinäre der. Obligat ist eine gemeinsame Beurteilung des Be-
Schmerztherapie« der Deutschen Schmerzgesellschaft zu handlungsverlaufs innerhalb regelmäßiger vorgeplan-
erbringen [1]: ter Teambesprechungen unter Einbindung aller
Therapeuten.
» Als »Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie« Zentrales Behandlungsziel ist die Wiederherstellung
wird die gleichzeitig inhaltlich, zeitlich und in der Vor- der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeit
gehensweise aufeinander abgestimmte umfassende (»functional restoration«) mit Steigerung der Kontroll-
Behandlung von Patienten mit chronifizierten fähigkeit und des Kompetenzgefühls der Betroffenen,
Schmerzsyndromen bezeichnet, in die verschiedene die Vorgehensweise ist ressourcenorientiert. [1]
554 Kapitel 50 · Versorgungskonzepte in der Schmerzmedizin

Die Ad-hoc-Kommission hat zudem zur Struktur- und Pro- modaler Schmerztherapie ausreichend Rückhalt zu geben.
zessqualität multimodaler Schmerztherapie die Ergebnisse Zudem wurde bei der Berechnung des DRG-Erlöswerts
einer Befragung von 23 Einrichtungen vorgelegt, die ein lediglich eine 7-tägige Behandlung mit niedriger Behand-
hohes Maß an Übereinstimmung struktureller Vorgaben lungsintensität zugrunde gelegt, sodass länger dauernde
insbesondere bezüglich der Ausstattung mit medizini- und intensivere Behandlungen derzeit nicht kostende-
schem, psychotherapeutischem und bewegungstherapeu- ckend darstellbar sind. Gleichwohl konnte anhand der
tischem Personal mit weitgehender Deckungsgleichheit Daten einer Krankenkasse inzwischen die wirtschaftliche
der eingesetzten Therapiemaßnahmen ergab [10]. Trotz Überlegenheit stationärer multimodaler Schmerztherapie
durchgängiger Standardisierung von Therapieplänen zeig- gegenüber interventionellen und operativen Therapie-
ten sich aber auch Unterschiede in Umfang und Um- verfahren belegt werden [9].
setzung der Therapieprogramme. Allen Einrichtungen Über Suchmaschinen wie den AOK-Gesundheits-
gemeinsam waren ausgeprägt integrative Strukturen, die navigator oder den Gesundheits-Kompass der DAK lässt
sich etwa in einer gemeinsamen Zielsetzung, in der grund- sich die Anzahl der Krankenhäuser, die in Deutschland
50 sätzlichen Interdisziplinarität des diagnostischen und Leistungen nach der OPS-Ziffer 8-918.xx anbieten, gut dar-
therapeutischen Vorgehens sowie in der hohen Frequenz stellen. Demnach haben 2013 in Deutschland 427 Kliniken
von Teambesprechungen zeigten. diese Leistung angeboten. Bei genauerer Betrachtung fällt
Die Implementierung teilstationärer Schmerztherapie- jedoch auf, dass die Mehrzahl der abrechnenden Kranken-
abteilungen an Krankenhäusern wird in den einzelnen häuser nur eine sehr geringe Fallzahl – häufig weniger als
Bundesländern sehr unterschiedlich gehandhabt. Wäh- 10 Fälle pro Jahr – angibt. In diesen Fällen ist eine Fehlko-
rend Bayern diese Versorgungsform fördert und für die dierung sehr wahrscheinlich, da die geringe Fallzahl die
Einrichtungen Erlössicherheit auf gesetzlicher Grundlage Bereitstellung des spezialisierten ärztlichen und psycholo-
durch Aufnahme in den Krankenhausbedarfsplan des Lan- gischen Personals nicht trägt. Strukturen, die den Vorgaben
des erwirkt, sieht Baden-Württemberg diese Versorgungs- der OPS-Ziffer entsprechen, dürften damit eher nur bei
form grundsätzlich nicht vor und setzt auf ambulante etwa 200 Häusern deutschlandweit gegeben sein.
Strukturen. In Rheinland-Pfalz wiederum zeigten sich die Für den OPS-Katalog (Operationen-und-Prozeduren-
Kostenträger offen, über Einzelverträge die teilstationäre schlüssel-Katalog) 2009 wurde die Ziffer 8-918.xx er-
Schmerztherapie zu finanzieren, was wiederum in Nord- weitert und teilweise präziser ausformuliert, sodass nun
rhein-Westfalen oder Niedersachsen sehr restriktiv ge- auch intensivere und länger dauernde stationäre Behand-
handhabt wird. In einzelnen Ländern wie Sachsen und lungen zumindest kodiert werden können. Dabei wurden
Berlin sind bisher nur erste Pilotprojekte entstanden. auch Vorgaben zur Prozessqualität aufgenommen, soweit
Dabei wurde gerade und bisher nur in Deutschland für dies ergänzend zum bereits bestehenden Text möglich war.
die zeit- und personalaufwendigen teilstationären Thera- Ob sich dieser Fortschritt allerdings auch auf die Erlös-
pieprogramme der Nachweis hoher und lang anhaltender situation auswirkt, wird sich zeigen müssen. Auch diese
Therapieeffektivität geführt, auch im Vergleich mit ande- intensiveren Behandlungen werden bisher in gleicher
ren Therapieverfahren [11, 12, 13]. Dieser Nachweis der Höhe wie weniger intensive 7-tägige Behandlungen ver-
Effektivität gilt dabei nicht nur für subjektive Parameter gütet, sodass ein systemimmanenter Negativanreiz für die
wie Schmerzintensität, schmerzbedingte Behinderung Durchführung der nachweislich erforderlichen Thera-
oder Lebensqualität, sondern auch für objektive Messgrö- pieintensität [5] vorliegt. Hier limitiert sich das als »ler-
ßen wie die Rückkehrrate an den Arbeitsplatz. Zudem nend« ausgelegte DRG-System in seiner Entwicklung
wurde für diese Programme der Nachweis der Kosteneffi- selbst, und notwendige Anpassungen der Versorgungs-
zienz geführt, wenn auch für Deutschland zunächst nur strukturen werden verhindert.
anhand hochgerechneter Zahlen [6]. Wegen der hohen
wirtschaftlichen Kosten chronischer Schmerzen wäre es
also durchaus im Interesse der Kostenträger, aber auch der 50.4 Rehabilitation
Bundesländer als Verantwortliche für die Krankenhaus-
planung, diese Form der Schmerzbehandlung weiter zu Der weitaus größte Teil der Schmerzpatienten wird früher
fördern. oder später im Verlauf der Erkrankung im Rahmen
Weniger homogen und wohl auch weniger effektiv einer Rehabilitation behandelt. Es ist erstaunlich, dass
stellt sich die multimodale Schmerztherapie im vollstatio- die seit Jahrzehnten stattfindende therapeutische Ausein-
nären Sektor dar, die über die OPS-Ziffer 8-918.xx defi- andersetzung mit dem chronischen Schmerz in diesem
niert wird. Hier wurden bei der Einführung der Ziffer Versorgungssektor noch nicht zur breiten Umsetzung
strukturelle und prozessuale Kriterien zunächst nicht spezifischer Therapieprogramme geführt hat, die dem
exakt genug definiert, um der obigen Definition multi- vielschichtigen Störungsbild Rechnung tragen würden.
Literatur
555 50
Während sich im Bereich der Akutversorgung neue vorgesehen ist, allenfalls in ersten Ansätzen ausgegangen
Therapieansätze herausgebildet haben mit aktivierenden werden – von sektorenübergreifenden Versorgungswegen
und übenden Verfahren, die in integrativen Strukturen auf ganz zu schweigen. Gut ausgearbeitete Selektivverträge
Verhaltensänderung zielen, blieben die Rehabilitations- zeigen, dass eine abgestufte Versorgung unter Berücksich-
programme weitgehend bei dem tradierten Ansatz über- tigung integrativen Vorgehens sehr wohl möglich und ge-
wiegend passiver physiotherapeutischer Maßnahmen, sundheitsökonomisch sinnvoll ist. Es ist aber falsch, die
wobei aber die medizinische Trainingstherapie im Gefolge Ursache dafür nur in den – durchaus zu verbessernden –
des Göttinger Rücken-Intensiv-Programms weite Ver- Vergütungsstrukturen und formalen Rahmenbedingun-
breitung insbesondere in der orthopädischen Rehabilita- gen oder in der mangelnden Bereitschaft der Kostenträger
tion fand. So weist der Katalog Therapeutischer Leistungen zur Finanzierung innovativer Versorgungspfade zu suchen.
(KTL) der Rehabilitationsträger bisher keine der multi- Ein wesentlicher Grund für die fehlende Homogenität in
modalen Schmerztherapie vergleichbare Behandlungsart der Versorgung chronisch Schmerzkranker liegt auch in
aus. Auch Teambesprechungen als unverzichtbares Instru- der fehlenden Einigkeit der Schmerztherapeuten unter-
ment der eng abgestimmten Behandlungssteuerung sind einander, wobei nicht selten der kurzfristige (wirtschaft-
bisher nicht Bestandteil des Katalogs. Zudem gibt der KTL liche) Vorteil das Interesse an solider Krankenversorgung
für Edukation oder psychotherapeutische Gruppenbe- überwiegt.
handlung eine maximale Gruppengröße von 15 Patienten
vor, sodass auch die formalen Vorgaben die Intensität der
Therapie ausdünnen. Andererseits ist es nicht Aufgabe der Literatur
Rehabilitation, das Störungsbild selbst zu therapieren, viel-
mehr sollen die Auswirkungen der Erkrankung, also auch 1. Arnold B, Brinkschmidt T, Casser HR, Gralow I, Irnich D, Klimczyk K,
der Schmerzerkrankung, auf die Leistungsfähigkeit des Müller G, Nagel B, Pfingsten M, Schiltenwolf M, Sittl R, Söllner W
Betroffenen abgemildert werden. Aber auch für diese im (2009) Multimodale Schmerztherapie – Konzepte und Indikation.
Schmerz 23:112–120
Vergleich zur Akutversorgung unterschiedliche Ziel- 2. Berufsverband der Ärzte und psychologischen Psychotherapeu-
setzung werden erst in Ansätzen strukturelle Änderungen ten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutschland BVSD
in der Rehabilitation erkennbar. e. V. (2012) Weißbuch Schmerzmedizin. http://www.bv-schmerz.
de/medien/pdf/weissbuch%20-%20druckversion%20final%20
120612.pdf. Zugegriffen: 17. August 2015
3. Curriculum der Schmerzgesellschaften DGPSF, Deutsche
50.5 Fazit Schmerzgesellschaft, DGS, DMKG. http://www.schmerzpsycho-
therapie.net//. Zugegriffen: 17. August 2015
Für keinen Versorgungssektor sind ausreichend gut imple- 4. Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE). http://www.
mentierte Versorgungsstrukturen festzustellen. Insbeson- gbe-bund.de. Zugegriffen: 13. August 2015
dere im ambulanten Sektor und in der Rehabilitation sind 5. Guzman J, Esmail R, Karjalainen K, Malmivaara A, Irvin E,
Bombardier C (2001) Multidisciplinary rehabilitation for chronic
noch grundlegende Veränderungen erforderlich, bevor
low back pain: systematic review. BMJ 322(7301):1511–1516
Behandlungswege erreicht werden können, die dem der- 6. Hildebrandt J (1998) Kosten und Nutzen differentieller
zeitigen Verständnis der Schmerzerkrankung entsprechen. Therapieprogramme für chronische Rückenschmerzen. In:
Im voll- und teilstationären Sektor sind diese Vorarbeiten Pfingsten M, Hildebrandt J (Hrsg) Chronischer Rückenschmerz
weitgehend geleistet. Es mangelt jedoch sehr an einer aus- – Wege aus dem Dilemma. Huber, Bern
reichenden Zahl qualitativ hochwertiger, insbesondere 7. Kassenärztliche Bundesvereinigung (2005) Mitteilungen: Neu-
fassung einer Qualitätssicherungsvereinbarung zur schmerz-
personell ausreichend ausgestatteter Einrichtungen, die therapeutischen Versorgung chronisch schmerzkranker
diese Konzepte umsetzen könnten. Dass diese Qualitätsan- Patienten. Dtsch Ärztebl 102:A-780/B-656/C-612
sprüche grundsätzlich umgesetzt und auch wirtschaftlich 8. Kayser H, Thoma R, Mertens E, Sorgatz H, Zenz M, Lindena G
erbracht werden können, ist inzwischen gut belegt. Vor (2008) Struktur der ambulanten Schmerztherapie in Deutschland.
allem im stationären Sektor mangelt es an einer differen- Ergebnisse einer Umfrage. Schmerz 22:424–438
9. Marschall U, L’hoest H, Wolik A (2012) Vergleich der Kosteneffek-
zierteren Vergütungsstruktur, über die auch hochintensive
tivität von Operation, multimodaler und interventioneller
Programme kostendeckend vergütet werden können. Schmerztherapie bei Rückenschmerzen: Eine Analyse mit
Weiterhin mangelt es angesichts der erheblichen kon- Krankenkassendaten. In: BARMER GEK Gesundheitswesen
zeptionellen Unterschiede im therapeutischen Vorgehen aktuell 2012. Beiträge und Analysen. http://www.barmer-gek.de/
in den einzelnen Sektoren an einer klaren Definition der barmer/web/Portale/Versicherte/Rundum-gutversichert/
Infothek/Wissenschaft-Forschung/Publikationen/Gesundheits-
Nahtstellen zwischen ambulanter und (teil-)stationärer
wesen-aktuell-2012/12-Marschall-Wolik-2012,property=Data.pdf.
Versorgung ebenso wie zwischen Akutmedizin und Reha- Zugegriffen: 17. August 2015
bilitation. Damit kann von einer abgestuften Versorgung, 10. Nagel B, Pfingsten M, Brinkschmidt T, Casser HR, Gralow I, Irnich
wie sie grundsätzlich im deutschen Gesundheitswesen D, Klimczyk K, Sabatowski R, Schiltenwolf M, Sittl R, Söllner W,
556 Kapitel 50 · Versorgungskonzepte in der Schmerzmedizin

Arnold B (2012) Struktur- und Prozessqualität multimodaler


Schmerztherapie. Schmerz 26:661–669
11. Pfingsten M, Hildebrandt J, Leibin E, Franz C, Saur P (1997)
Effectiveness of a multimodal treatment program for chronic
low-back pain. Pain 73:77–85
12. Pöhlmann K, Tonhauser T, Joraschky P, Arnold B (2009) Die
Multimodale Schmerztherapie Dachau (MSD) – Daten zur
Wirksamkeit eines diagnoseunabhängigen multimodalen
Therapieprogramms bei Rückenschmerzen und anderen
Schmerzen. Schmerz 23:40–46
13. Schiltenwolf M, Buchner M, Heindl B, von Reumont J, Müller A,
Eich W (2006) Comparison of a biopsychosocial therapy (BT) with
a conventional biomedical therapy (MT) of subacute low back
pain in the first episode of sick leave: a randomized controlled
trial. Eur Spine J 15:1083–1092
50
557 51

Struktur der schmerz-


medizinischen Versorgung in
Deutschland: Klassifikation
schmerzmedizinischer
Einrichtungen
Konsens der »Gemeinsamen Kommission der Fachgesellschaften
und Verbände für Qualität in der Schmerzmedizin«

G.H.H. Müller-Schwefe, J. Nadstawek, T. Tölle, P. Nilges, M.A. Überall,


H.J. Laubenthal, F. Bock, B. Arnold, H.R. Casser, T.H. Cegla, O.M.D. Emrich,
T. Graf-Baumann, J. Henning, J. Horlemann, H. Kayser, H. Kletzko, W. Koppert,
K.H. Längler, H. Locher, J. Ludwig, S. Maurer, M. Pfingsten, M. Schäfer,
M. Schenk, A. Willweber-Strumpf

51.1 Hintergrund – 558

51.2 Bedarf schmerzmedizinischer Versorgung – 558

51.3 Unübersichtliche Versorgungsstrukturen – 558

51.4 Versorgungsrelevanz – 564

51.5 Gültigkeit – 565

Literatur – 565

G.H.H. Müller-Schwefe, J. Nadstawek, T. Tölle, P. Nilges, M.A. Überall, H.J. Laubenthal, F. Bock, B. Arnold,
H.R. Casser, T.H. Cegla, O.M.D. Emrich, T. Graf-Baumann, J. Henning, J. Horlemann, H. Kayser, H. Kletzko,
W. Koppert, K.H. Längler, H. Locher, J. Ludwig, S. Maurer, M. Pfingsten, M. Schäfer, M. Schenk, A. Willweber-
Strumpf (2015) Struktur der schmerzmedizinischen Versorgung in Deutschland: Klassifikation schmerzmedizini-
scher Einrichtungen. Konsens der »Gemeinsamen Kommission der Fachgesellschaften und Verbände für
Qualität in der Schmerzmedizin«. Schmerzmedizin 31(4). DOI 10.1007/s00940-015-0124-1 Published by Springer
Medizin Verlag – all rights reserved 2015

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_51, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
558 Kapitel 51 · Struktur der schmerzmedizinischen Versorgung in Deutschland: Klassifikation schmerzmedizinischer Einrichtungen

Im Auftrag der schmerzmedizinischen/psychologischen gen die vorliegende Klassifikation schmerzmedizinischer


Fachgesellschaften, der Selbsthilfeorganisation der Einrichtungen in Deutschland erarbeitet und konsentiert.
Schmerzpatienten und des Berufsverbandes der Schmerz- Aus den ursprünglich 3 Arbeitsgruppen (Qualifika-
therapeuten und Schmerzpsychologen hat die »Gemein- tion, Struktur und Qualität) wurde aufgrund inhaltlicher
same Kommission der Fachgesellschaften und Verbände für Überschneidungen die Arbeitsgruppe Qualifikation und
Qualität in der Schmerzmedizin« unter Mitwirkung der je- Struktur zusammengelegt.
weiligen Präsidenten überprüfbare Struktur- sowie Prozess-
kriterien entwickelt, um schmerzmedizinische Einrichtun-
gen in Deutschland klassifizieren zu können. Grundlage ist 51.2 Bedarf schmerzmedizinischer
das in Deutschland etablierte System der abgestuften Versorgung
Versorgung sowie bestehende Qualifikationen, Weiter-
bildungen und Zusatzbezeichnungen. Die Einführung eines Die Zahlen über die Prävalenz chronischer Schmerzen in
Fachkundenachweises Schmerzmedizin wird empfohlen. Deutschland, die Behandlungsbedürftigkeit und notwen-
Neben den erstmals beschriebenen schmerzpsychothera- dige Strukturen divergieren weit. Ging die Bundesregie-
peutischen Einrichtungen können anhand der Kriterien fünf rung im Jahr 2003 noch von 5–8 Mio. Erwachsenen mit
51 Ebenen von der Einrichtung mit Fachkunde Schmerz- behandlungsbedürftigen Schmerzpatienten aus (Deut-
medizin über spezialisierte Einrichtungen bis zum Zentrum scher Bundestag, Drucksache 15/2209 vom 22.12.2003),
für Interdisziplinäre Schmerzmedizin definiert werden. Ziel beziffern Breivik et al. [1] 2006 die Prävalenz chronischer
der Empfehlungen ist es, verbindliche und überprüfbare Schmerzen aufgrund von Telefoninterviews auf 17 % in
Kriterien zur Qualitätssicherung in der Schmerzmedizin zu Deutschland, und Häuser et al. [2] beschreiben 2014 an-
etablieren und die Versorgung zu verbessern. hand einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe unter
Anwendung validierter Fragebogeninstrumente eine Prä-
valenz von 23 Mio. Deutschen mit chronischen Schmerzen
51.1 Hintergrund und einer Prävalenz von 2,2 Mio. Deutschen mit chroni-
schen, beeinträchtigenden, nicht tumorbedingten Schmer-
Die Versorgungsnotwendigkeit von Patienten mit akuten, zen und assoziierten psychischen Beeinträchtigungen
chronifizierenden und chronischen Schmerzen ist heute
unbestritten. Einigkeit besteht für die fachgebietsbezogene
Notwendigkeit der Akutschmerztherapie, die hierfür not- 51.3 Unübersichtliche
wendige Qualifikation und notwendigen Strukturen. Versorgungsstrukturen
Kontrovers wird demgegenüber die Prävention, Dia-
gnostik und Therapie chronischer Schmerzen und der Ein Blick auf die Versorgungslandschaft ergibt ein völlig
chronischen Schmerzkrankheit sowohl hinsichtlich der uneinheitliches Bild: Fachgebietsspezifische Praxen,
epidemiologischen Daten als auch der notwendigen Ver- Schmerzpraxen, Schmerzzentren und Schmerzambulan-
sorgungsstrukturen und Qualifikationen diskutiert. zen wie auch teil- und vollstationäre schmerztherapeuti-
Unter dem Aspekt, dass eine Verbesserung der sche Einrichtungen sind in Deutschland keine klar defi-
schmerzmedizinischen Versorgung in Deutschland sich nierten Strukturen. Hinter ihnen kann sich sowohl ein
nur erzielen lässt, wenn alle betroffenen Fachgesellschaften monodisziplinärer Zugang als auch ein multidisziplinärer
und Berufsverbände einheitliche Anforderungen an Struk- und multimodaler Zugang zu Schmerzdiagnostik und
tur, Qualität und Qualifikation in der Schmerzmedizin Schmerzmedizin verbergen (. Tab. 51.1).
definieren, haben die Deutsche Gesellschaft für psycholo- Die Einführung der fachgebietsbezogenen Zusatzbe-
gische Schmerztherapie und -forschung e. V. (DGPSF), zeichnung »Spezielle Schmerztherapie« durch den 99. Deut-
Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (DGS), schen Ärztetag am 8. Juni 1996 wie auch die Einführung der
Deutsche Schmerzgesellschaft e. V., Deutsche Interdis- Qualitätssicherungsvereinbarung nach § 135 Abs. 2 SGB V
ziplinäre Vereinigung für Schmerztherapie e. V. (DIVS), im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung [3] haben
Interdisziplinäre Gesellschaft für orthopädische/unfallchi- kaum zu einer erkennbaren Verbesserung der Struktur der
rurgische und allgemeine Schmerztherapie e. V. (IGOST), schmerzmedizinischen Versorgung geführt, da sie überwie-
Berufsverband der Ärzte und Psychologischen Psychothe- gend persönliche Qualifikationen und allenfalls vereinzelt
rapeuten in der Schmerz- und Palliativmedizin in Deutsch- Struktur- und Prozessqualität definieren.
land e. V. (BVSD) sowie die Deutsche Schmerzliga e. V. Obwohl bereits Loeser [4] 1991 im Auftrag der IASP
(DSL) im Oktober 2011 eine »Gemeinsame Kommission eine Klassifikation schmerztherapeutischer Einrichtungen
der Fachgesellschaften und Verbände für Qualität in der mit abgestufter Versorgung vorgenommen hat (aktuali-
Schmerzmedizin« gegründet und in insgesamt 13 Sitzun- siert auf der Homepage der IASP [5]), ist dieses Modell in
. Tab. 51.1 Klassifikation schmerzmedizinischer Einrichtungen – Kriterienkatalog

Von den jeweiligen Einrichtungen (1–6) zu erfüllende Kriterien

Zentrum Interdiszi- Ambulanz/ Praxis/Ambulanz Einrichtung Schmerz-


für inter- plinäres Praxis für mit gebietsbezog. mit Fach- psycho-
diziplinäre Kopf- spezielle + schmerzmed. Ver- kunde therapeuti-
Schmerz- schmerz-/ Schmerz- sorgungsstruktur, Schmerz- sche Ein-
medizin Rücken- therapie nicht ausschließlich medizin richtung
zentrum Schmerzmedizin

Kriterien Kommentar 1 2 3 4 5 6

1. Die Einrichtung verfügt über einen eigen- Das heißt, die Räumlichkeiten stehen Ja Ja Ja Ja Nein Ja
51.3 · Unübersichtliche Versorgungsstrukturen

ständigen Bereich und eine eigene Organi- primär der Schmerzeinrichtung zur
sationsstruktur. Verfügung und werden von dieser
Entsprechend wird eine dafür erforderliche überwiegend zur Diagnostik und
Infrastruktur vorgehalten (z. B. Sekretariats- Behandlung von Schmerzpatienten
wesen, Anmeldung). genutzt.

2. Schriftlich niedergelegte SOPs (»standard SOPs müssen regelmäßig aktualisiert Ja Ja Ja Ja Ja Ja


operating procedures«) für ausgesuchte werden.
Krankheitsbilder, Interventionen, Notfall-
management sowie eindeutige Festlegung
der Zuständigkeitsbereiche der verschiede-
nen Professionen vorhanden.

3. Dokumentation mit von der Fachgesell- Hier gelten die jeweilig aktuellen Ja Ja Ja Ja Ja Ja
schaft anerkannten Instrumenten zur inter- Vorgaben/Empfehlungen der zuständi-
nen und externen Qualitätssicherung. gen Fachgesellschaften.

4. Ständiger ärztlicher Leiter mit Zusatzquali- Das Zentrum muss in der Lage sein, Ja Ja Ja Ja Nein Nein
fikation »Spezielle Schmerztherapie«. sowohl physische als auch psychische
und soziale Aspekte der Schmerzer-
5. Ständiger psychologischer Leiter mit Zusatz- Nein Nein Nein Nein Nein Ja
krankung zu diagnostizieren und zu
qualifikation »Spezielle Schmerzpsychothe-
behandeln.
rapie«.
Für den Nachweis der erforderlichen
6. Leiter der Einrichtung weist jährlich 40 h Zusatzbezeichnungen gilt eine Über- Ja Ja Ja Ja Nein Ja
schmerzmedizinischer Fortbildung und min- gangsregelung von 1 Jahr.
destens 10 offene Schmerzkonferenzen nach.
559

7. Mindestens ein psychologischer Psychothe- Ja Ja Ja Ja Nein Ja


rapeut mit Zusatzqualifikation »Spezielle
Schmerzpsychotherapie« oder ein ärztlicher
Psychotherapeut mit der Zusatzbezeich-
nung »Spezielle Schmerztherapie«.
51
51
560

. Tab. 51.1 (Fortsetzung)

Von den jeweiligen Einrichtungen (1–6) zu erfüllende Kriterien

Zentrum Interdiszi- Ambulanz/ Praxis/Ambulanz Einrichtung Schmerz-


für inter- plinäres Praxis für mit gebietsbezog. mit Fach- psycho-
diziplinäre Kopf- spezielle + schmerzmed. Ver- kunde therapeuti-
Schmerz- schmerz-/ Schmerz- sorgungsstruktur, Schmerz- sche Ein-
medizin Rücken- therapie nicht ausschließlich medizin richtung
zentrum Schmerzmedizin

Kriterien Kommentar 1 2 3 4 5 6

8. Verbindliche Kooperationen mit einem Siehe Punkt 7. Ja Ja Enfällt


Psychologen.

9. Verbindliche Kooperationen mit einem Arzt. Enfällt Ja

10. Verbindliche Kooperation mit Physiothera- Siehe Punkt 11. Ja Ja Ja Ja


peuten und/oder Ergotherapeuten.

11. Behandlerteam aus unterschiedlichen Pro- Obligat: Ja Ja Nein Nein Nein Nein
fessionen. Die beinhaltet Ärzte und psycho- Pflegeassistenzberufe sowie weitere
logische/ärztliche Psychotherapeuten und nichtärztliche Professionen wie Physio-
nichtärztliche Berufsgruppen. therapeuten und/oder Ergotherapeu-
ten.

12. Nichtärztliche Mitarbeiter mit fachspezifi- Mindestens ein Mitarbeiter der jeweils Ja Ja Ja Nein Nein Nein
scher Zusatzqualifikation. nichtärztlichen Berufsgruppe sollte
(sofern vorhanden oder etabliert) über
eine von den hier beteiligten Fachge-
sellschaften anerkannte schmerzspezi-
fische Zusatzqualifikation verfügen
(z. B. Algesiologische Fachassistenz).
Für den Nachweis der erforderlichen
Zusatzbezeichnungen gilt eine Über-
gangsregelung von 1 Jahr.

13. Es existiert eine verbindlich institutionali- Tägliche Visiten (bei stationären Patien- Ja Ja Ja Nein Nein Nein
sierte Zusammenarbeit zwischen den Pro- ten) und/oder tägliche interne Fallbe-
fessionen und Disziplinen. sprechungen sowie eine mindestens
wöchentliche interdisziplinäre Teambe-
sprechung sind obligat. Ausschließli-
che Konsiliar- oder Liaisonmodelle
Kapitel 51 · Struktur der schmerzmedizinischen Versorgung in Deutschland: Klassifikation schmerzmedizinischer Einrichtungen

erfüllen diesen Punkt nicht.


14. Die schmerzmedizinische Versorgung wird Es müssen feste Behandlungszeiten Ja Ja Ja Nein Nein Nein
an 5 Wochentagen (ausgenommen sind angeboten werden.
Feiertage) (mind. 35 h/Woche) angeboten.

15. Mindestens 200 Neuvorstellungen pro Jahr Neuvorstellung bedeutet, dass ein Ja Siehe Ja Nein Nein Nein
sind an der Einrichtung dokumentiert durch- Patient mindestens 1 Jahr nicht wegen Punkt 16.
zuführen. derselben Schmerzerkrankung in
dieser Einrichtung behandelt worden
sein darf.
Ein Patient, der von einer anderen
schmerzmedizinischen Einrichtung
vorbehandelt wurde und an eine
weitere schmerzmedizinische Einrich-
tung überwiesen wird, gilt für letztge-
51.3 · Unübersichtliche Versorgungsstrukturen

nannte Einrichtung als Neuaufnahme.

16. Mindestens 120 Neuvorstellungen pro Jahr Die besondere Versorgungseinrichtung Siehe Ja Siehe Punkt 15.
sind an der Einrichtung dokumentiert durch- begründet eine verminderte Neuvor- Punkt 15.
zuführen. stellungszahl.

17. Die Einrichtung verfügt über ein umfassen- Umfassend bedeutet hier, dass die Ja Nein Ja Nein Nein Nein
des diagnostisches Angebot und Behand- Behandlung dem jeweils aktuellen
lungsspektrum für die in der Bevölkerung wissenschaftlichen Standard ent-
am häufigsten vorkommenden Schmerzer- spricht. Das diagnostische Angebot
krankungen an. sowie das Behandlungsspektrum sollte
für alle vorhandenen Professionen die
von den zuständigen Fachgesellschaf-
ten und/oder Kammern geforderten
Weiterbildungsinhalte widerspiegeln.
Diagnostische sowie therapeutische
Verfahren und die behandelten
Schmerzsyndrome sollten vertreten
sein.
Zu den relevanten Schmerzerkrankun-
gen, die diagnostiziert und therapiert
werden müssen, zählen:
(1) Tumorschmerzen,
(2) Schmerzen des muskuloskelettalen
Systems,
(3) Kopf- und Gesichtsschmerzen,
561

(4) neuropathische Schmerzen,


(5) Schmerzen mit psychischen Co-
Faktoren für Auslösung und Chronifi-
zierung.
51
51
562

. Tab. 51.1 (Fortsetzung)

Von den jeweiligen Einrichtungen (1–6) zu erfüllende Kriterien

Zentrum Interdiszi- Ambulanz/ Praxis/Ambulanz Einrichtung Schmerz-


für inter- plinäres Praxis für mit gebietsbezog. mit Fach- psycho-
diziplinäre Kopf- spezielle + schmerzmed. Ver- kunde therapeuti-
Schmerz- schmerz-/ Schmerz- sorgungsstruktur, Schmerz- sche Ein-
medizin Rücken- therapie nicht ausschließlich medizin richtung
zentrum Schmerzmedizin

Kriterien Kommentar 1 2 3 4 5 6

18. Angebote der multimodalen Therapie ent- Ja Ja Ja Nein Nein Nein


sprechen den aktuellen konsentierten Kon-
zepten der Fachgesellschaften [10].

19. In angemessenen Umfang werden Patienten Zu den Risikokonstellationen gehören Ja Ja Ja Nein Nein Nein
mit hohem Chronifizierungsstadium und u. a. Medikamentenfehlgebrauch,
anderen Risikokonstellationen (z. B. Medika- Medikamentenabhängigkeit, psychi-
mentenfehlgebrauch, Abhängigkeit, psychi- sche und/oder somatische Komorbidi-
sche/somatische Komorbidität) behandelt. täten und sozialmedizinische Proble-
matiken (z. B. Rentenbegehren, Ar-
beitsplatzproblematiken).

20. Mindestens 2 verbindlich und regelmäßig Die einzelnen ärztlichen Fachgebiete Ja Ja Nein Nein Nein Nein
verfügbare ärztliche Fachgebiete sollen im werden nicht festgelegt. Sie sollten
Behandlungsteam vertreten sein. sich aber sinnvoll ergänzen, um somit
ein möglichst breites diagnostisches
und therapeutisches Spektrum abde-
cken zu können.

21. Bei der Erstvorstellung chronischer Schmerz- Das Eingangsassessment erfolgt obli- Ja Ja Nein Nein Nein Nein
patienten müssen die Voraussetzungen für gat durch mind. 2 unterschiedliche
ein multimodales Eingangsassessment Fachdisziplinen (spezieller Schmerzthe-
erfüllt werden. rapeut und psychologischer/ärztlicher
Psychotherapeut) sowie ein Physiothe-
rapeut.
Im Anschluss an das Eingangsassess-
ment muss eine gemeinsame Konfe-
renz mit Festlegung der weiteren
diagnostischen/therapeutischen
Schritte erfolgen.
Kapitel 51 · Struktur der schmerzmedizinischen Versorgung in Deutschland: Klassifikation schmerzmedizinischer Einrichtungen

22. Möglichkeit der ambulanten und stationä- Ja Ja Nein Nein Nein Nein
ren/teilstationären Behandlung vorhanden.
23. Die Einrichtung führt auch Schmerzfor- Forschungsaktivitäten können u. a. Ja Ja Nein Nein Nein Nein
schung durch. durch bewilligte Anträge, wissenschaft-
liche Publikationen, Posterpräsentatio-
nen auf wissenschaftlichen Tagungen,
betreute Dissertationen, Erstellung und
Aktualisierung von Leitlinien und
systematischen Übersichtsarbeiten, die
nach wissenschaftlichen Kriterien
erarbeitet wurden, nachgewiesen
werden.
Als Zeitfenster für den Nachweis gilt
eine Zeit von 3 Jahren.

24. Die Einrichtung ist aktiv in der Ausbildung Ärztliche/psychologische Aus-und Ja Ja Nein Nein Nein Nein
51.3 · Unübersichtliche Versorgungsstrukturen

und/oder Weiterbildung und/oder Lehre Weiterbildung.


beteiligt.

25. Durchführung von regelmäßigen institutio- Ja Ja Nein Nein Nein Nein


nalisierten schmerzmedizinischen Fortbil-
dungsmaßnahmen (mind. 2 zertifizierte
Fortbildungsmaßnahmen pro Jahr).
Durchführung von 12 offenen Schmerzkon-
ferenzen jährlich.

26. Die volle Weiterbildungsberechtigung (ein Ja Nein Nein Nein Nein Nein
Jahr) für den Erwerb der Zusatzbezeichnung
»Spezielle Schmerztherapie« muss vorliegen.

27. Behandlungskonzepte mit einer vorwiegend Ja Ja Ja Ja Ja Ja


kontinuierlichen und individuellen Thera-
peuten-/Patientenbeziehung.
51 563
564 Kapitel 51 · Struktur der schmerzmedizinischen Versorgung in Deutschland: Klassifikation schmerzmedizinischer Einrichtungen

Deutschland nicht einmal an universitären Einrichtungen Des Weiteren stellt der Deutsche Ärztetag fest, dass
umgesetzt [6]. eine flächendeckende Bildung regionaler Netzwerke auf
In einer Untersuchung von Gerbershagen und Limm- allen Versorgungsebenen sowie die Umsetzung integrier-
roth [7] deklarieren 70 % der teilnehmenden neurologi- ter Versorgungsprogramme Voraussetzungen dafür seien,
schen Abteilungen in Krankenhäusern eine eigene eine unter Koordination des Hausarztes stehende abge-
Schmerzambulanz. Die häufigsten dort behandelten stufte Versorgung sicherzustellen. Darüber hinaus wird
Schmerzsyndrome sind Kopfschmerzen, Polyneuropathi- die »Berücksichtigung schmerztherapeutischer Einrich-
en und Nervenkompressionssyndrome. Rückenschmerz, tungen mit definierten Strukturmerkmalen« in den Be-
die Schmerzerkrankung mit der höchsten Prävalenz, spielt darfsplänen der Landesvertragspartner nach § 99 SGB V
hier offensichtlich nur eine untergeordnete Rolle. Dies gefordert. Dies diene »zum einen der Sicherstellung einer
zeigt, wie sehr die fachgebietsspezifische Ausrichtung für adäquaten und wohnortnahen schmerzmedizinischen
vorgehaltene Versorgungsstrukturen bestimmend ist. Versorgungsstruktur, zum anderen ist sie Voraussetzung
Auch die von Sabatowski et al. [8] 2011 publizierte für angemessene Vergütung und wirtschaftliche Planungs-
Empfehlung der Klassifikation schmerztherapeutischer sicherheit schmerztherapeutisch tätiger Ärzte« [9].
Einrichtungen berücksichtigt in ihrer 4-stufigen Struktur- Die Bedingung hierfür ist jedoch, dass überprüfbare
51 empfehlung nicht die in Deutschland etablierten Ver- Kriterien die Strukturen in einem abgestuften Ver-
sorgungsformen und abgestufte Versorgung und lässt be- sorgungssystem definieren. Diesem Anspruch folgt die
stehende Einrichtungen wie beispielsweise psychothera- nachfolgende tabellarische Darstellung der verschiedenen
peutische Schmerzeinrichtungen unbeachtet. schmerztherapeutischen/schmerzmedizinischen Ein-
Die »Gemeinsame Kommission der Fachgesellschaften richtungen. Sie schafft damit die Voraussetzung für eine
und Verbände für Qualität in der Schmerzmedizin« hat zukünftige Bedarfsplanung schmerzmedizinischer Ver-
deshalb – basierend auf dem Modell der abgestuften Ver- sorgung.
sorgung der medizinischen Betreuung – eine Analyse Grundlage schmerzmedizinischer Diagnostik und
bestehender Versorgungsformen erstellt und diese mit Versorgung bleibt weiterhin der Hausarzt/Facharzt als
Strukturkriterien und teilweise auch mit Prozesskriterien primäre Anlaufstelle für Patienten. In der . Tab. 51.1 wer-
hinterlegt. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass die den Strukturen definiert und beschrieben, deren Quali-
hier beschriebenen Strukturen überwiegend auf den bisher fikation über die allgemeinmedizinische/fachärztliche
bestehenden Qualifikationen/Weiterbildungen und Schmerzqualifikation hinausgeht und die im Rahmen
Zusatzbezeichnungen beruhen (mit Ausnahme eines einer abgestuften Versorgung entweder durch eine beson-
»Fachkundenachweises Schmerzmedizin«, den die »Ge- dere Spezialisierung oder durch zunehmend komplexere
meinsame Kommission der Fachgesellschaften und Ver- Strukturen der Einrichtung gekennzeichnet ist.
bände für Qualität in der Schmerzmedizin« bereits kon- Anders als alle bisher vorliegenden Klassifizierungen
sentiert hat). hat die »Gemeinsame Kommission der Fachgesellschaften
Diese Klassifikation definiert damit ausschließlich und Verbände für Qualität in der Schmerzmedizin« als
Strukturen, die im jetzt bestehenden kurativen Versor- dem Allgemeinarzt/Facharzt nachfolgende Struktur eine
gungssystem bereits umsetzbar und überprüfbar sind und Einrichtung mit einer zu schaffenden »Fachkunde
gegebenenfalls künftigen Entwicklungen schmerzmedizi- Schmerzmedizin« definiert. Da erst im Jahr 2016 das
nischer Qualifikation angepasst werden müssen. Der reha- Querschnittsfach Schmerzmedizin als Prüfungsfach in die
bilitative Sektor, dessen grundsätzliche Zielsetzung eine Approbationsordnung für werdende Ärzte eingeführt
andere ist, wird davon nicht berührt. wird, sind schmerzmedizinische Grundkenntnisse in den
vorangegangenen Ärztegenerationen eher zufällig.
Aus diesem Grund schlägt die »Gemeinsame Kommis-
51.4 Versorgungsrelevanz sion der Fachgesellschaften und Verbände für Qualität in
der Schmerzmedizin« eine Verbesserung der schmerz-
Im Mai 2014 hat der 117. Deutsche Ärztetag dezidiert eine medizinischen Basisversorgung durch die Schaffung einer
bessere flächendeckende und wohnortnahe schmerz- »Fachkunde Schmerzmedizin« vor, mit der die primärärzt-
medizinische Versorgung mit abgestuften Versorgungsbe- liche Versorgung verbessert werden kann. Die hierauf
reichen beschlossen [9]. Unter anderem wird konstatiert, nachfolgenden Einrichtungen zeichnen sich durch zuneh-
dass jeder Patient Anspruch auf eine qualitativ hochwerti- mende Spezialisierung bzw. Komplexität aus. Nach fach-
ge medizinische Versorgung habe, dazu gehöre eine dem gebietsbezogenen Einrichtungen, die nicht ausschließlich
akutellen Stand der Wissenschaft entsprechende Präven- schmerzmedizinisch tätig sind, in denen aber auch eine
tion und Behandlung von akuten und chronischen schmerzmedizinische Versorgung vorgehalten wird, folgen
Schmerzen. die Praxis/Ambulanz für Spezielle Schmerztherapie, die
Literatur
565 51
– immer noch gekoppelt an die fachgebietsbezogene spe- 7. Gerbershagen K, Limmroth V (2008) Pain therapy in german
zielle Schmerztherapie – ausschließlich oder überwiegend neurology. Structures and standards of evaluation. Eur Neurol
60(4):167–173
schmerzmedizinisch tätig ist, danach das Zentrum für In-
8. Sabatowski R et al (2011) Empfehlung zur Klassifikation schmerz-
terdisziplinäre Schmerzmedizin mit einem multiprofes- therapeutischer Einrichtungen in Deutschland. Schmerz
sionellen und multimodalen Diagnose- und Therapiekon- 25(4):368–376
zept. Sonderformen stellen schmerzpsychotherapeutische 9. Deutscher Ärztetag (2014) Entschließungen zum Tagesordnung-
Einrichtungen dar, die in der Versorgung ebenfalls eine spunkt IV: Schmerzmedizinische Versorgung stärken. Dokumen-
tation. Dtsch Arztebl 111(23-24):A-1094/B-938/C-888
wesentliche Rolle spielen, wie auch interdisziplinäre syn-
10. Arnold B et al (2009) Multimodale Schmerztherapie: Konzepte
dromorientierte Zentren (Kopfschmerz-/Rückenschmerz- und Indikation. Schmerz 23(2):112–120
zentren).
Die Autoren sind überzeugt, dass mit den hier definier-
ten Struktur- und Qualitätskriterien die schmerzmedizini-
sche Versorgung in Deutschland überprüfbar verbessert
werden kann und dass sie gleichzeitig Grundlage für Ver-
gütungsregelungen darstellen kann.
Inwieweit multiprofessionelle multimodale schmerz-
medizinische Zentren mit aufwendigen permanenten
Kommunikationsprozessen in der Lage sind, eine nen-
nenswerte Anzahl von betroffenen Patienten zu versorgen,
bleibt weiteren Untersuchungen vorbehalten.

51.5 Gültigkeit

Die vorgelegte Klassifizierung der schmerztherapeu-


tischen Einrichtungen in Deutschland wurde von den be-
teiligten Fachgesellschaften, Berufsverbänden und Patien-
tenorganisationen am 13. November 2013 konsentiert und
tritt mit Veröffentlichung in Kraft.

Literatur

1. Breivik H et al (2006) Survey of chronic pain in Europe: prevalence,


impact on daily life, and treatment. Eur J Pain 10(4):287–333
2. Häuser W et al (2014) Chronische Schmerzen, Schmerzkrankheit
und Zufriedenheit der Betroffenen mit der Schmerzbehandlung
in Deutschland – Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungs-
stickprobe. Schmerz 28(5):483–92
3. Kassenärztliche Bundesvereinigung (2005) Qualitätssicherungs-
vereinbarung zur schmerztherapeutischen Versorgung chronisch
schmerzkranker Patienten gem. § 135 Abs. 2 SGB V (Qualitäts-
sicherungsvereinbarung Schmerztherapie) Dtsch Arztebl
102(11):A-781/B-657/C-613
4. Loeser JD (1991) Desirable characteristics for pain treatment
facilities: report of the IASP taskforce. In: Bond MR, Charlton JE,
Woolf CJ (Hrsg) Proceedings of the VIth World Congress on Pain.
Elsevier, Amsterdam, S 411–415
5. Loeser JD et al. for the Task Force on Guidelines for Desirable
Characteristics for Pain Treatment Facilities (1990) Desirable
characteristics for pain treatment facilities and Standards for
physician fellowship in pain management. International
Association for the Study of Pain, Seattle, WA
6. Lindena G et al (2004) Schmerztherapeutische Angebote an
Kliniken in DeutschlandSchmerz. 18(1):10–16
567 52

Leitlinie Nackenschmerz
der Deutschen Gesellschaft
für Allgemeinmedizin
und Familienmedizin (DEGAM)
M. Scherer, A. Wollny

52.1 Fallbeispiel – 568

52.2 Hintergrund und Zielsetzung – 568

52.3 Entwicklungsschritte – 569

52.4 Wichtige Empfehlungen der Leitlinie – 570


52.4.1 Abwendbar gefährliche Verläufe – 570
52.4.2 Diagnostisches Vorgehen – 570
52.4.3 Therapeutisches Vorgehen – 572

52.5 Abschließende Diskussion zum Fallbeispiel – 574

Literatur – 574

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_52, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
568 Kapitel 52 · Leitlinie Nackenschmerz der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

Bei der Behandlung von Patienten mit Nackenschmerzen 52.2 Hintergrund und Zielsetzung
folgen hausärztliche Behandlungsoptionen zumeist dem
Modell einer monokausalen Pathophysiologie. Da jedoch Die aus dem obigen Beispiel resultierenden hausärztlichen
die Wirksamkeit der meisten Behandlungsmaßnahmen Fragestellungen betreffen vor allem das Erkennen abwend-
häufig fraglich und unzureichend durch klinische Studien bar gefährlicher Verläufe sowie die Entscheidung über
gestützt ist, fehlte es lange an einer deutschsprachigen Be- Diagnostik und Therapie und werden unter Verwendung
handlungsempfehlung. Für die Versorgung von Patienten der Leitlinie Nackenschmerzen der Deutschen Gesellschaft
mit unspezifischen Nackenschmerzen wurde von der für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)
Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familien- am Ende dieses Beitrags beantwortet. Zuvor soll ein Über-
medizin (DEGAM) die Leitlinie Nackenschmerzen für die blick über die Entstehung der DEGAM-Leitlinie Nacken-
hausärztliche Praxis entwickelt. Im vorliegenden Beitrag schmerzen sowie über die wichtigsten Inhalte gegeben
sollen an einem Beispiel hausärztliche Fragestellungen zum werden.
Thema unspezifische Nackenschmerzen aufgeworfen und Leitlinien sind systematisch entwickelte Empfehlun-
beantwortet werden. Im Vordergrund stehen dabei neben gen, die Grundlagen für die gemeinsame Entscheidung
der Entstehungsgeschichte und den wichtigsten Inhalten von Ärzten und ihren Patienten zu einer im Einzelfall
der Leitlinie das Erkennen abwendbar gefährlicher Verläufe sinnvollen gesundheitlichen Versorgung darstellen. Die
sowie die Entscheidung über zu erfolgende Diagnostik und Leitlinien der DEGAM zielen auf die Beschreibung ange-
Therapie. messenen, aufgabengerechten Handelns im Rahmen haus-
52 ärztlicher bzw. allgemeinmedizinischer Grundversorgung.
Nach dem Stufenkonzept der Arbeitsgemeinschaft der
52.1 Fallbeispiel Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften
(AWMF) sind S3-Leitlinien systematisch nach den Prinzi-
Eine 42-jährige Patientin kommt mit Nackenstütze in die pien der evidenzbasierten Medizin entwickelte Empfeh-
hausärztliche Sprechstunde. Auf die Bitte um Präzisierung lungen, die darüber hinaus durch einen formalen Konsens
ihrer Beschwerden und Wünsche schildert die Patientin un- aller Benutzergruppen über die Inhalte gekennzeichnet
gehalten, seit dem Wochenende wieder ihr »chronisches sind [1].
HWS-Syndrom« zu haben. Schuld seien die Arbeit in der Nackenschmerzen sind mit einer Punktprävalenz von
Firma und die fehlende Rücksicht ihrer Kollegen. Sie wolle etwa 10–15 % [2, 3] ein häufiger Beratungsanlass in der
jetzt eine »Überweisung zum Röntgen, am besten in die Hausarztpraxis. Unspezifischen Nackenschmerzen liegen
Röhre«. Im weiteren Gespräch äußert die Patientin zudem keine raumfordernden, entzündlichen, traumatischen
den Wunsch nach einem stark wirkenden Schmerzmittel oder systemischen Prozesse zugrunde. Klinisch handelt es
und Massagen. Aus der Anamnese ist bekannt, dass sie nach sich um teils in den Hinterkopf, teils in die Arme ausstrah-
einer gescheiterten Ehe aus der benachbarten Großstadt lende schmerzhafte Muskelverspannungen (Muskelhart-
wieder zu ihrer Mutter gezogen ist, früher als Serviererin spann, lokalisierte Myogelosen), teils verbunden mit
gearbeitet hat und jetzt als ungelernte Arbeitskraft in einer schmerzhaften Bewegungseinschränkungen.
feinmechanischen Firma tätig ist. Es existieren zahlreiche Die häufig verwendeten Synonyme für Nackenschmer-
fachärztliche Berichte, insgesamt ohne wegweisenden zen (Zervikalneuralgie, HWS-Syndrom, zervikozephales
Befund. Die von der Patientin erwähnten röntgenologisch Syndrom, Zervikobrachialsyndrom, Zervikalsyndrom)
nachgewiesenen Schäden werden als mäßiggradige haben rein deskriptiven Charakter und lassen keinen
degenerative Veränderungen der unteren HWS beschrieben. Rückschluss auf die Kausalität zu. Nach ihrem klinischen
Bei der körperlichen Untersuchung findet sich eine druck- Erscheinungsbild teilt man Nackenschmerzen ein in:
dolente nuchale Muskulatur. Bei passiver Kopfrotation in 4 akute (0–3 Wochen Dauer),
Inklination äußert die Patientin beidseits bei 45° starke 4 subakute (4–12 Wochen Dauer),
Schmerzen. Der Tonus der Schultermuskulatur ist erhöht, 4 chronische (länger als 12 Wochen Dauer) und
die Schultergelenke sind frei beweglich. Die orientierende 4 rezidivierende (beschwerdefreies Intervall maximal
Prüfung der Hirnnerven sowie der Motorik und Sensibilität 4 Wochen).
der Arme ist unauffällig. Hinweise auf eine Infektionserkran-
kung oder Beeinträchtigung des Allgemeinzustands finden Als wichtige Einflussfaktoren für das Auftreten von
sich nicht. Die Frage nach sportlichen Aktivitäten wird mit Nackenschmerzen werden Übergewicht, Schwangerschaft,
einem knappen »Nein« beantwortet. körperliche Arbeit (besonders Bauarbeiter und Kranken-
schwestern), Komorbidität [4], subjektive Gesundheits-
einstellung [5], chronischer Stress und Lebensalter [6] ge-
nannt. Eine besondere Rolle spielen Ängstlichkeit und
52.3 · Entwicklungsschritte
569 52

. Tab. 52.1 10-Stufen-Plan der DEGAM (Kurzform)

Stufe Aufgaben

1 Beauftragung eines koordinierenden Zentrums

2 Konstituierung einer themenbezogenen Arbeitsgruppe und Durchführung einer Literaturreview

3 Erstellung eines Erstentwurfs sowie erste Konsensbildung

4 Strukturierte Stellungnahme eines Ärztepanels (10–25 Allgemeinärzte aus Forschung, Lehre und Praxis)

5 Erstellung eines resultierenden Zweitentwurfs, Benennung und Votum der Paten

6 Konsentierungsprozess: Konsensusbildung mit Fachgesellschaften, Berufsverbänden, Patientenvertretern und Vertretern


anderer Berufsgruppen, ggf. Erstellung eines Drittentwurfs

7 Nach Feststellung der Praxistesttauglichkeit durch die Paten: Praxistest in Qualitätszirkeln, Praxisnetzen und Einzelpraxen

8 Erstellung eines Viertentwurfs und formale Überprüfung durch die Paten und der Ständigen Leitlinien-Kommission

9 Autorisierung durch das DEGAM-Präsidium als Empfehlung der DEGAM

10 Erstveröffentlichung in der »ZFA – Zeitschrift für Allgemeinmedizin« in einer Druckfassung sowie einer (gekürzten) allgemein
zugänglichen Internetpublikation

Depressivität bei der Entstehung und der Verarbeitung von Patienten und Gesellschaft vor verhältnismäßig
Nackenschmerzen. Hier scheint eine Dosis-Wirkungs- riskanten oder unnötigen Prozeduren zu schützen.
Beziehung vorzuliegen: Je stärker die Nackenschmerzen,
desto stärker die psychosoziale Belastung [7].
Bei der Behandlung von Patienten mit Nackenschmer- 52.3 Entwicklungsschritte
zen folgen hausärztliche Behandlungsoptionen zumeist
dem Modell einer monokausalen Pathophysiologie. Unter Die Leitlinie Nackenschmerzen wurde entsprechend dem
dem Druck der eigenen und der Patientenerwartung wer- DEGAM-Konzept zur Entwicklung, Verbreitung, Imple-
den häufig Verfahren angewendet, die auf einen schnellen mentierung und Evaluation von Leitlinien für die haus-
Behandlungserfolg zielen [8, 9]. Die Wirksamkeit der ärztliche Praxis [10] entworfen. In der Leitlinienentstehung
meisten Behandlungsmaßnahmen ist jedoch häufig frag- folgt sie dem von der DEGAM entwickelten standardisier-
lich und unzureichend durch klinische Studien gestützt. ten 10-Stufen-Plan zur Leitlinienentwicklung, der im
Aufgrund fehlender deutschsprachiger Behandlungs- Februar 2008 aktualisiert wurde (. Tab. 52.1).
empfehlungen bestand das Ziel, dem bislang noch sehr Nach Konstituierung einer themenbezogenen Arbeits-
variablen Vorgehen in der Versorgung von Patienten gruppe an der Abteilung Allgemeinmedizin der Univer-
mit unspezifischen (nicht klassifizierten, nicht auf eine sität Göttingen, wurde zunächst eine systematische Litera-
erkennbare spezifische Ursache zurückzuführenden) turrecherche durchgeführt, die sich auf die diagnostischen
Nackenschmerzen eine Leitlinie gegenüberzustellen, die es und therapeutischen Empfehlungen in der zukünftigen
erleichtert, Leitlinie bezog.
4 Chronifizierung zu verhindern und Symptome Auf Grundlage dieser Literaturrecherche wurde ein
nachhaltig zu lindern, Erstentwurf der Leitlinie erarbeitet, der dann in einem
4 Nackenschmerzen nach Dauer und Ätiologie weiteren Schritt 2006 einem Ärztepanel aus 26 Bremer
einzuteilen, Hausärzten vorgelegt wurde. Nachdem die Ärzte die
4 eine klare und einfache Nomenklatur zu verwenden, Leitlinie zunächst zum Lesen für einen 2-wöchigen Be-
4 Differenzialdiagnosen seltener Ursachen von Nacken- obachtungszeitraum zugesandt bekamen, wurden sie
schmerzen abzuwägen, anschließend mit einem 14 Items umfassenden standardi-
4 unter der überwiegenden Mehrzahl der unkompli- sierten Fragebogen zu Inhalten der Leitlinie und deren
zierten Verläufe die gefährlichen zu erkennen, Anwendbarkeit befragt.
4 die Indikation zur bildgebenden Diagnostik gezielt Die überarbeitete Version der Leitlinie wurde dann den
und rationell zu stellen und »Paten« (Mitglieder der Ständigen Leitlinien-Kommis-
4 eine effektive und risikoarme sowie auf das Not- sion, die sich gesondert mit den Inhalten der Leitlinie
wendige fokussierte Therapie einzuleiten, um damit auseinandersetzen) und danach der Ständigen Leitlinien-
570 Kapitel 52 · Leitlinie Nackenschmerz der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

Kommission der DEGAM zur Feststellung der Praxis-


testreife vorgelegt. Abwendbar gefährliche Verläufe
Der Praxistest wurde von der Abteilung für Allgemein- 5 Komplizierende Faktoren, die auf gefährliche
medizin und Versorgungsforschung der Universität Ursachen hinweisen (z. B. Dissektion, spontane
Heidelberg ab Dezember 2007 durchgeführt [11]. Hierzu Subarachnoidalblutung, Beginn eines epiduralen
wurde die Leitlinie »Nackenschmerzen« an 20 Hausärzte Hämatoms)
versendet, die gebeten wurden, die Leitlinie für ca. 4 Wo- 5 Schwere körperliche Erkrankungen, die extrem
chen in ihrem Alltag praktisch anzuwenden. Bezüglich der selten und praktisch immer mit Auffälligkeiten in
Fragestellung zu Verständlichkeit, Relevanz, Umsetzbar- der Anamnese bzw. Untersuchung verbunden sind
keit und Praktikabilität fanden 2 Fokusgruppensitzungen (z. B. zervikale Osteomyelitis, epidurale Abszesse,
im Februar und März 2008 statt, in denen über die An- Meningitis)
wendbarkeit und Umsetzung der neuen Leitlinie Nacken- 5 Monokausale, auf biologische Ursachen fixierte
schmerzen diskutiert wurde. Herangehensweisen, die eine Medikalisierung und
Die überarbeitete Version der Leitlinie (Drittentwurf) chronische Verläufe begünstigen und einer
wurde dann erneut den Paten und danach der Ständigen frühzeitigen Aktivierung des Patienten entgegen-
Leitlinien-Kommission der DEGAM zur Feststellung der stehen können
Konsensusreife vorgelegt.
Infolgedessen wurden alle für die Behandlung von Pa-
52 tienten mit Nackenschmerzen in Betracht kommenden
Fachgruppen zu einem Konsensustreffen im November 52.4.2 Diagnostisches Vorgehen
2008 in Göttingen eingeladen. Das Konsensusverfahren
fand als nominaler Gruppenprozess unter der Moderation Anamnese
der AWMF statt. Aufgrund der konsentierten Empfehlun- Aus der Vorgeschichte der Patienten sollte erfragt werden,
gen wurde der Viertentwurf der Leitlinie erstellt. Dieser ob eine Neoplasie, Osteoporose, eine andere systemische
wurde wiederum durch die Paten und die Ständige Leit- Erkrankung oder ein Trauma bekannt ist. Zu Erheben ist
linien-Kommission der DEGAM überprüft, bevor die des Weiteren eine medikamentöse Anamnese, insbesonde-
Leitlinie durch das DEGAM-Präsidium als Empfehlung re im Hinblick auf eine Kortikoidlangzeitmedikation.
der DEGAM autorisiert wurde. Wichtige Informationen sind außerdem, ob evtl. ungewoll-
Für eine ausführliche Lektüre der Methodik aber auch te Gewichtsabnahme oder nächtliche Schmerzen bzw.
der Inhalte sei auf die Langfassung der Leitlinie verwiesen Dysphagie oder retrosternale Schmerzen bekannt sind. Bei
[69] (7 http://leitlinien.degam.de/). einem hohen kardiovaskulären Risiko sollten klinische
Zeichen der KHK erfragt werden.
Bei Verdacht auf einen chronischen Verlauf sollten die
52.4 Wichtige Empfehlungen der Leitlinie dafür in Betracht kommenden Risikofaktoren berücksich-
tigt werden (z. B. Angst, Beunruhigung und depressive
52.4.1 Abwendbar gefährliche Verläufe Stimmungsanlage [17]). In diesem Zusammenhang sind
auch mögliche berufliche Einflüsse zu beachten (wie u. a.
Zu den wichtigsten und dramatischen abwendbar gefähr- fehlende Weiterbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten,
lichen Verläufen zählt neben der Dissektion die spontane hohes Arbeitspensum, Arbeitsbelastung und mangelnde
Subarachnoidalblutung, die sich u. a. als plötzlicher Ver- Kooperation) [18].
nichtungsschmerz bemerkbar macht [12]. Extrem selten
kommen zervikale Osteomyelitis und epidurale Abszesse Klinische Untersuchung
als Ursache von Nackenschmerzen vor [13]. Über zervika- Die allgemeine Inspektion fokussiert auf den Allgemein-
le Diszitis liegen gar keine Studien, für septische Arthriti- zustand, insbesondere auf Aspekte einer konsumierenden
den im Bereich des Nackens ausschließlich Fallstudien vor oder systemischen Erkrankung (Meningitis mit Nacken-
[14]. Eine Meningitis verursacht ebenfalls Nackenschmer- steifigkeit). Aus der Beobachtung der funktionellen Ein-
zen – allerdings nur als ein Symptom eines komplexen schränkung (z. B. Kopfhaltung) und des Schmerzver-
klinischen Bilds. Hier eignet sich neben anderen diagnos- haltens können häufig schon erste Rückschlüsse gezogen
tischen Möglichkeiten ein positives Kernig-Zeichen zur werden. Bei der Inspektion des Nackens ist die Kopf-
Abgrenzung gegen unkomplizierte Nackenschmerzen. stellung wichtig. Eine schmerzbedingte Fehlhaltung muss
Zum Beginn seiner Entstehung kann ein epidurales Häma- von einer seltenen strukturellen Fehlhaltung unterschie-
tom mit Nackenschmerzen einhergehen – noch Stunden den werden. Asymmetrien des Gesichts oder des Schädels
vor dem Auftreten sensomotorischer Defizite [15, 16]. weisen auf angeborene Fehlstellungen (Blockwirbel,
52.4 · Wichtige Empfehlungen der Leitlinie
571 52
muskulärer Schiefhals etc.) hin. Bei Miosis, Ptosis oder Bildgebende Diagnostik
Enophthalmus (Horner-Syndrom) sollte eine Dissektion Bei nichttraumatischen Nackenschmerzen ist auf eine
hirnzuführender Gefäße bzw. ein Pancoast-Tumor aus- Röntgenuntersuchung zu verzichten, wenn Hinweise auf
geschlossen werden. Schließlich sollte sich die Inspektion abwendbar gefährliche Verläufe zuvor ausgeschlossen
auf die gesamte Wirbelsäule ausdehnen und die Prüfung wurden [22]. Unter der Prämisse einer zuvor erfolgten
von Deformitäten oder Fehlhaltungen beinhalten. Dabei sorgfältigen Anamnese und körperlichen Untersuchung ist
sollte insbesondere auf Schulterschiefstand, Skoliose, der potenzielle Erkenntniszuwachs durch eine Röntgenun-
Beinlängendifferenz sowie auf die Krümmungsverhältnis- tersuchung überaus gering. Als Screeninginstrument bei
se der Wirbelsäule geachtet werden (HWS-Lordose, BWS- Nackenschmerzen ist sie gänzlich ungeeignet. Osteoarth-
Kyphose, LWS-Lordose). rosezeichen im Röntgenbild der HWS korrelieren nicht
Bei der Palpation des Weichteilgewebes geht es vor mit Schmerzen [23, 24, 25]. Eine Röntgenuntersuchung
allem darum, ein Gefühl für die Gewebsqualität zu ent- der zervikalen Wirbelsäule sollte bei Patienten mit lang-
wickeln. Dabei werden Hauttemperatur, Gewebsschwel- fristigen Schmerzen, Trauma und Verdacht auf eine
lungen (Kibler-Falte) und Muskeltonus erfasst. Zum Teil knöcherne Veränderung (z. B. bei steroidaler Dauermedi-
können lokalisierte schmerzhafte Punkte im myofaszialen kation, Osteoporose, Polyarthritis) erfolgen [22].
Gewebe gefunden und manchmal auch getastet werden. > Bei nichttraumatischen Nackenschmerzen (wie im
Diese werden als Triggerpunkte bezeichnet. Davon nicht vorliegenden Fall) ist auf eine Röntgenunter-
eindeutig abzugrenzen sind die sog. »tender points« bei suchung zu verzichten, wenn Hinweise auf
Fibromyalgie im Nackenbereich [19]. Vom ersten Hals- abwendbar gefährliche Verläufe zuvor ausge-
wirbel (C1, Atlas) sind nur die Querfortsätze zwischen schlossen wurden.
Mastoid und Unterkieferast tastbar, während bei den
übrigen Halswirbeln nur die Spinalfortsätze tastbar sind. Wenngleich die Computertomografie (CT) sehr hilfreich
Beim ersten tastbaren Spinalfortsatz handelt es ich um den beim Verdacht auf eine Radikulopathie oder Myelopathie
2. Halswirbel (C2). Der 7. Halswirbel (C7, Vertebra promi- ist, eignet sie sich ebenso wenig wie konventionelles
nens) ist leicht durch seinen prominent hervorstehenden Röntgen als Routineuntersuchung zur Abklärung von
Dornfortsatz zu finden. Die anderen Halswirbel können Nackenschmerzen ohne Warnsymptome [26, 27]. Ein CT
durch eine Orientierung an diesen Landmarken identifi- sollte nur bei Verdacht auf osteoligamentäre Läsionen oder
ziert werden. Normalerweise verursacht der Druck auf C7 auffälligem bzw. ungenügend aussagekräftigem Röntgen-
keinen Schmerz. befund durchgeführt werden [28].
Alle diese Untersuchungen zeigen bei systematischer Bei akuten unkomplizierten, unspezifischen Nacken-
Überprüfung eine geringe Reliabilität sowie eine ausge- schmerzen (ohne Warnzeichen oder neurologische
prägte Untersucherabhängigkeit [20, 21]. Dennoch kann Symptome) ist keine Magnetresonanztomografie (MRT)
eine sorgfältige Palpation richtungweisend sein und ist indiziert. Einer Studie von MacGregor et al. [29] zufolge
zudem ein Signal, dass die Beschwerden ernst genommen haben HWS-Veränderungen im MRT keine prognostische
werden. Wir halten die Palpation für unverzichtbar. Relevanz. Einen Zusammenhang zwischen radiologischen
Die genaue Angabe von Gradzahlen nach der Neutral- Veränderungen und Schmerzen gibt es ausschließlich für
Null-Methode ist im hausärztlichen Praxisalltag nicht radikuläre Syndrome im HWS-Bereich [30]. Als Indika-
notwendig. Allerdings sollte eine orientierende Bewe- tionen für ein MRT gelten progressive, frische oder thera-
gungsprüfung erfolgen: Reklination, Inklination, Rotation, pieresistente neurologische Defizite, radikuläre Schmerzen
Seitneigung und Rotation bei Inklination. mit anamnestisch vermutetem Bandscheibenprolaps in-
nerhalb der letzten 2 Jahre [22] sowie der Verdacht auf eine
Tipp Gefäßdissektion.
Die Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) sollte
Grunduntersuchung
ermittelt werden, wenn der Verdacht auf eine spinale In-
5 Inspektion: Haltung, Deformitäten, Verletzungs-
fektion [31], Malignität oder eine Systemerkrankung (z. B.
zeichen, Mobilität
rheumatoide Arthritis oder Osteoporose) besteht. Eine
5 Palpation: Dornfortsätze und Querfortsätze,
normale BSG schließt aber einen pathologischen Prozess
muskuläre Verspannungen, Hauttemperatur
nicht aus [32, 33]. Spinale Infektionen zeigen in der Regel
5 Beweglichkeitsprüfung: Ante-, Retroflexion,
hohe Leukozytenzahlen [34] und eine deutliche Erhöhung
Rotation und Seitenneigung
des C-reaktiven Proteins [35]. Um die Gefahr zu ver-
ringern, ein malignes Geschehen zu übersehen, kann die
Bestimmung der alkalischen Phosphatase [36] und des
Serumkalziums veranlasst werden [37] – jedoch nur bei
572 Kapitel 52 · Leitlinie Nackenschmerz der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

entsprechendem Verdacht und nicht als routinemäßiges Studien zu Krankengymnastik zeigen, dass Ausdauer-,
Screening. Sobald Hinweise auf abwendbar gefährliche Kräftigungs- und Koordinationstraining zu einer Ver-
Verläufe vorliegen, sollte der Patient zu einem auf die vor- besserung der Muskelfunktion führen [39, 40].
liegende Symptomatik spezialisierten Facharzt überwiesen Weitere Bestandteile der Beratung sollten der zumeist
werden. harmlose Charakter der Nackenschmerzen, die hohe
Spontanheilungstendenz und die Neigung zu Rezidiven
sein. Die Grenzen von Diagnostik und Therapie sollten
Indikationen zur bildgebenden Diagnostik
offen angesprochen werden. Patienten sollten auf mögliche
5 Zustand nach HWS-Trauma (z. B. Auffahrunfall) mit
Risikofaktoren für Nackenschmerzen aufmerksam ge-
neurologischen Symptomen
macht (z. B. Übergewicht, Schwangerschaft und Arbeits-
5 Verdacht auf Bandscheibenprolaps mit Erwägung
situation) und offen auf chronischen Stress, Depressivität
spezifischer Therapie
oder Ängstlichkeit angesprochen werden [41].
5 Vollständiger Verlust der HWS-Beweglichkeit
Bei chronischen Nackenschmerzen ist eine verhaltens-
5 Verdacht auf neoplastische/entzündliche Prozesse
therapeutische Mitbehandlung zu empfehlen [42]. Mittler-
5 Alkoholabusus
weile existieren einige Manuale und Patientenratgeber zur
psychologischen Schmerztherapie [43, 44, 45].
Lokale Anwendung von Wärme kann die Mikrozirku-
lation der Haut verbessern [46]. Eine Verbesserung mus-
52 52.4.3 Therapeutisches Vorgehen kuloskeletaler Schmerzen oder des Bewegungsumfangs
der Halswirbelsäule mithilfe von Wärme wurde nicht
Behandlungsprinzipien und durch Studien nachgewiesen. Jedoch sollten Patienten zu
Patienteneinbeziehung Therapien ermutigt werden, die sie als lindernd empfinden
Die Wirksamkeit vieler Behandlungsmaßnahmen bei und selbst anwenden können – sofern sie kostenneutral
Nackenschmerzen ist fraglich und häufig nur unzu- sind und nicht schaden. Allerdings sollten Patienten zum
reichend durch wissenschaftliche Evidenz gestützt. Auf- vorsichtigen Umgang mit Wärme (z. B. Wärmflasche in ein
grund des meist selbstlimitierenden Charakters von Tuch einwickeln) angehalten werden, um Verbrennungen
Nackenschmerzen muss aber die oberste Maxime der zu vermeiden.
Therapie lauten: Primum non nocere (lat.: »zuerst einmal Patienten mit Nackenschmerzen fragen häufig nach
nicht schaden«). geeigneten Kopfkissen, um die Beschwerden nachts zu
Darüber hinaus sollte bei der Behandlung von Patien- lindern. Auf der Grundlage der verfügbaren Literatur kann
ten mit Nackenschmerzen noch ein weiteres Prinzip gelten, kein bestimmtes Kissen empfohlen werden. Daher sollte
nämlich das der partizipativen Entscheidungsfindung dem Patienten zum Gebrauch der ihnen am bequemsten
(»shared decision making«). Voraussetzung dafür ist ein erscheinenden Kopfunterlage geraten werden.
frühzeitiges Erfragen der Patientenkonzepte und -vor-
stellungen, die für jeden Patienten ein individuelles Medikamentöse Therapie
kommunikatives Vorgehen erfordern. Gerade in der Be- Die medikamentöse Therapie bei Nackenschmerzen ist
handlung von Patienten mit Nackenschmerzen sind im rein symptomatischer Natur und soll den Patienten unter-
Spannungsfeld zwischen Patientenwunsch, eigenen Vor- stützen, frühzeitig seine übliche Aktivität wieder auf-
stellungen, Budgetierung und Evidenz vielfach Kompro- zunehmen. Im Gegensatz zu Kreuzschmerzen [47] gibt es
misse erforderlich – insbesondere bei häufig nachgefrag- wenige Daten über die medikamentöse Behandlung von
ten physikalischen Anwendungen, die in hausärztlichen Patienten mit Nackenschmerzen. In der vorhandenen
Praxen gut umsetzbar, jedoch zum Großteil nicht durch Literatur wird entweder gar nicht oder nur unzureichend
wissenschaftliche Evidenz gestützt sind. Ziel der Beratung auf die Tatsache eingegangen, dass unterschiedliche Be-
ist es, die Patienten empathisch zu begleiten, sie aktiv in die reiche innerhalb der Nackenregion auch unterschiedlich
Behandlung einzubeziehen und zu einer baldigen Wieder- auf medikamentöse Interventionen ansprechen.
aufnahme der Alltagsaktivitäten zu ermutigen. Randomisierte kontrollierte Studien zu Paracetamol
Des Weiteren sollte auf den prognostisch günstigen bei Nackenschmerzen waren nicht zu finden. Obwohl die
Effekt von sportlicher Betätigung hingewiesen werden Wirksamkeit nichtsteroidaler Antirheumatika (NSAR) bei
[38]. Über den Einfluss von sportlicher Aktivität speziell akuten muskuloskeletalen Schmerzen gut belegt ist [48,
bei Nackenschmerzen existieren keine Daten. Allerdings 49], gibt es nur wenig Literatur für NSAR bei Nacken-
ist davon auszugehen, dass Krankengymnastik bei subaku- schmerzen.
ten und chronischen Nackenschmerzen zur Reduktion Aufgrund der ausgesprochen dünnen Evidenzlage
von Schmerzen und Funktionseinschränkungen beiträgt. zur oralen Medikation bei Nackenschmerzen schlägt die
52.4 · Wichtige Empfehlungen der Leitlinie
573 52
Leitlinie vor, sich bei akuten Nackenschmerzen am Stufen- Amplitude an den zervikalen Gelenksegmenten zu ver-
schema der WHO zu orientieren [50]. Bei nicht ausgepräg- stehen (diese therapeutische Option ist in Deutschland an
ten Nackenschmerzen ist Paracetamol das Mittel der ersten die Zusatzbezeichnung manuelle Medizin/Chirotherapie
Wahl, sofern der Patient es nicht bereits selbst in ausrei- gebunden). Mobilisation bedeutet entweder eine passive
chender Dosierung eingenommen hat. Seine Wirksamkeit Bewegung der Halswirbelsäule mit niedriger Geschwin-
ist bei verschiedenen Schmerzzuständen belegt. Bei un- digkeit und wechselnder Amplitude oder neuromuskuläre
genügender Wirkung können Acetylsalicylsäure (ASS) Techniken innerhalb des normalen Bewegungsumfangs
und nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) eingesetzt des Patienten. Bei Patienten, die mindestens einen Monat
werden. Aufgrund ihrer unerwünschten Arzneimittel- unter Beschwerden leiden, führen Manipulation und
wirkungen (v. a. gastrointestinale Blutungen) sind sie ins- Mobilisation in Kombination mit Physiotherapie zu
besondere bei entsprechender Anamnese zurückhaltend Schmerzreduktion und zur Förderung täglicher Aktivitä-
einzusetzen und bei älteren Patienten mit eingeschränkter ten [58]. Obwohl Manipulation und Mobilisation mit Phy-
Nierenfunktion zu vermeiden. Ibuprofen oder Diclofenac siotherapie offenbar einen positiven Einfluss auf das
zeigen die geringste Wahrscheinlichkeit für gastrointesti- Schmerzerleben haben, bleibt unklar, ob die genannte
nale Komplikationen [49, 51]. Diazepam ist bei subakuten Dreierkombination wirksamer ist als Physiotherapie allein
Nackenbeschwerden nicht wirksam [52, 53], während [60]. Für Manipulation oder Mobilisation ohne Kranken-
Tetrazepam im Vergleich zu Paracetamol durchaus posi- gymnastik liegt kein überzeugender Beleg der Wirk-
tive Effekte bei akuten Beschwerden aufwies [54]. samkeit vor [58], sodass wir Manipulation und/oder
Einigen Interventionsstudien zufolge sind intramusku- Mobilisation in Kombination mit Krankengymnastik
läre Injektionen in myofasziale Triggerpunkte mit Lido- empfehlen.
cain sowohl kurzfristig (2 Wochen) [55] als auch langfristig Wenngleich Manipulation und Mobilisation einander
(3 Monate) [56] wirksam, sofern sie mit Dehnungsübun- ebenbürtig sind (weil für keines der beiden Verfahren
gen kombiniert werden. Allerdings kann hier nicht näher Überlegenheit gezeigt werden konnte), weist die zervikale
konkretisiert werden, um welche Dehnungsübungen es Manipulation eine deutlich höhere Komplikationsrate auf
sich im Einzelnen handelt. Ein im Zusammenhang mit [61, 62] (u. a. Schmerzzunahme, Kopfschmerzen oder in
Injektionen bekanntes Problem ist das der iatrogenen den Arm ausstrahlende Schmerzen). Aufgrund des oben
Fixierung. Dies sollte auch in der Behandlung von Patien- beschriebenen Risikospektrums der chirotherapeutischen
ten mit Nackenschmerzen berücksichtigt und ggf. offen Manipulation sollte mobilisierenden Maßnahmen grund-
angesprochen werden. Gerade im Hinblick auf diese mög- sätzlich der Vorzug gegeben werden. Sollte dennoch Mani-
liche Fixierung sollten Injektionen mit Bedacht angewandt pulation erwogen werden, sollten bestimmte Bedingungen
werden. Falls Injektionen durchgeführt werden, ist nur die erfüllt sein (7 Tipp):
Wirksamkeit von Lidocain als tiefe paravertebrale intra-
muskuläre Infiltration in Studien belegt. Tipp

Nichtmedikamentöse Therapie Wird bei Nackenschmerzen eine Manipulation er-


wogen, sollten folgende 3 Bedingungen erfüllt sein:
Wenngleich Krankengymnastik ein sehr heterogener
5 Abwesenheit von Kontraindikationen
Begriff ist, der die unterschiedlichsten therapeutischen
5 Aufklärung und Einverständnis des Patienten
Interventionen umfasst (je nach Spezialisierung des Phy-
(ggf. schriftlich)
siotherapeuten), ist sie in den unterschiedlichsten Kombi-
5 Entsprechende Befähigung/Ausbildung des
nationen mit anderen Therapien wirksam [57]. So ist bei
Behandlers
chronischen Nackenschmerzen (sowohl mit als auch ohne
Kopfschmerzen) eine Kombination aus Krankengymnas-
tik und manueller Therapie zu empfehlen. Hierbei wird – Obwohl klassische Massagetherapie immer seltener ver-
im Gegensatz zu klassischer Massagetherapie – ein nach- ordnet wird, wird sie von Patienten nach wie vor häufig
haltiger Effekt herbeigeführt, der durchschnittlich mind. gewünscht. In einem aktuellen Cochrane-Review zeigen
3 Monate anhält [58, 59]. Leider bleibt unklar, welche kran- sich durchweg insignifikante Effekte für Massage als
kengymnastischen Übungen im Einzelnen empfohlen Monotherapie [63]. Eine Reihe von Studien untersuchte
werden können und welcher therapeutische Nutzen ihnen die Wirksamkeit von Massage in Kombination mit ande-
innerhalb einer multimodalen Behandlung zugeschrieben ren, zum Teil sehr heterogenen Behandlungsmodalitäten
werden kann. (Lymphdrainage, Exercise, Traktion, Mobilisation und
Unter Manipulation im Rahmen einer chirotherapeu- andere) [64] mit meist positivem Effekt. Allenfalls ist
tischen Behandlung ist eine lokalisierte mechanische Massage als Bestandteil eines multimodalen Behandlungs-
Einflussnahme mit hoher Geschwindigkeit und niedriger programms wirksam – wenngleich auch hierfür keine
574 Kapitel 52 · Leitlinie Nackenschmerz der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

ausreichende Evidenz vorliegt. Aufgrund der mangelnden licher und körperlicher Aktivität, die Verbesserung der
Evidenz für oder gegen Massage als Monotherapie kann emotionalen Beeinträchtigung sowie die Anregung einer
über diese Therapieform keine Aussage getroffen werden. begleitenden Psychotherapie mit dem Ziel der Schmerz-
Im Überblick über die aktuelle Literatur finden sich in bewältigung und kontrolle.
erster Linie Studien über Akupunktur bei Patienten mit
chronischen Nackenschmerzen. Verschiedene Varianten
der Scheinakupunktur wurden mit Akupunktur vergli- Literatur
chen, die moderate Belege für ihre Wirksamkeit ergaben
[65, 66, 67]. Um einen therapeutisch akzeptablen Erfolg zu 1. AWMF. Wissenschaftlich begründete Leitlinien für Diagnostik und
erzielen, sind mindestens 6 Sitzungen erforderlich [68]. Therapie. www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/ll_index.htm.
Vermutlich ist Akupunktur auch wirksamer als Massage, Zugegriffen: 23. Mai 2013
wobei aber der positive Einfluss von Massage ohnehin 2. Borghouts JAJ, Koes BW, Vondeling H (1999) Cost-of-illness of
neck pain in the Netherlands in 1996. Pain 80:629–636
begrenzt ist. Akupunktur kann eine Therapieoption der
3. Vonk F, Verhagen AP, Geilen M et al (2004) Effectiveness of
Wahl bei Patienten mit chronischen Nackenschmerzen behavioural graded activity compared with physiotherapy
sein, obwohl unklar ist, wie lange der therapeutische Effekt treatment in chronic neck pain: design of a randomised clinical
anhält. trial. BMC Musculoskeletal Discord 5:34 (Abstract)
Trotz einer breiten Auswahl elektrotherapeutischer 4. Hartvigsen J, Christensen K, Frederiksen H (2004) Back and neck
pain exhibit many common features in old age: a population-
Geräte ist der Nutzen der Elektrotherapie bei Nacken-
52 schmerzen nicht ausreichend belegt. Es mangelt an positi-
based study of 4,486 Danish twins 70-102 years of age. Spine
29:576–580
ver Evidenz zur Elektrotherapie, sodass sie (von einem 5. Kopec JA, Sayre EC, Esdaile JM (2004) Predictors of back pain in a
möglichen Placeboeffekt abgesehen) weder empfohlen general population cohort. Spine 29:70–77
noch abgelehnt werden kann. 6. Burchfield CM, Boice JA, Stafford BA (1992) Prevalence of back
pain and joint problems in a manufacturing company. J Occup
Med 34:129–134
7. Blozik E, Laptinskaya D, Herrmann-Lingen C, Schaefer H, Kochen
52.5 Abschließende Diskussion zum MM, Himmel W, Scherer M (2009) Depression and anxiety as
Fallbeispiel major determinants of neck pain: a cross-sectional study in
general practice. BMC Musculoskeletal Disord 10:13
Beim Beispiel der 42-jährigen Patientin vom Anfang fällt 8. Aker PD, Gross AR, Charles H et al (1996) Conservative manage-
ment of mechanical neck pain: systematic overview and meta-
besonders die Diskrepanz zwischen dem subjektiven
analysis. BMJ 313:1291–1296
Krankheitsempfinden der Patientin und der objektiven 9. Ylinen J, Takala EP, Nykanen M et al (2003) Active neck muscle
hausärztlichen Problemeinschätzung auf. Die körperliche training in the treatment of chronic neck pain in women: a
Komponente des Schmerzes zeigt sich in einer erhöhten randomized controlled trial. JAMA 289:2509–2516
Muskelspannung im Sinne einer physiologischen Über- 10. Gerlach FM, Abholz H-H, Berndt M et al (1999) Konzept zur
Entwicklung, Verbreitung Implementierung und Evaluation von
aktivierung. Die subjektive Schmerzinterpretation ist ge-
Leitlinien für die hausärztliche Praxis. Deutsche Gesellschaft für
prägt von einer massiven Überbewertung der körperlichen Allgemeinmedizin und Familienmedizin. http://leitlinien.degam.
Missempfindungen und einem wenig belastbaren körper- de/index.php?id=konzeptderleitlinienentwicklun. Zugegriffen:
lichen Selbstkonzept. Das Verhalten der Patientin wird 23. Mai 2013
beeinflusst von einer Vermeidungshaltung gegenüber aus- 11. Steinhäuser J, Götz K, Glassen K, Ose D, Joos S, Szecsenyi J (2009)
Praktikabilität und Akzeptanz der DEGAM-Leitlinie »Nacken-
lösenden Situationen, einem spürbaren sozialen Rückzug
schmerzen« im Praxistest. Z Allg Med 85:130–134
und einer unangemessenen Inanspruchnahme medizini- 12. Linn FHH, Rinkel GJE, Algra A, van Gijn J (1996) Incidence of
scher Leistungen. Emotional sind Hilflosigkeit, Ver- subarachnoid hemorrhage – Role of region, year, and rate of
zweiflung, das Gefühl, nicht ernst genommen und miss- computed tomography: A meta-analysis. Stroke 27:625–629
verstanden zu werden, sowie Resignation zu spüren. Das 13. Nolla JM, Ariza J, Gomez-Vaquero C (2002) Spontaneous pyogenic
inadäquate Krankheitsmodell der Patientin und die pas- vertebral osteomyelitis in nondrug users. Semin Arthritis Rheum
31:271–278
sive Grundeinstellung werden, abgesehen von den (gut
14. Muffolerro AJ, Nader R, Westmark RM et al (2001) Hematogenous
gemeinten) Ratschlägen aus dem Laienumfeld (Nacken- pyogenic facet joint infection of the subaxial cervical spine. A
stütze), durch die bisherigen diagnostischen und therapeu- report of two cases and review of the literature. J Neurosurg
tischen Maßnahmen aufrechterhalten. Vordringliche Spine 95:135–138
Aufgaben des Hausarztes sind die Motivierung der Patien- 15. Williams JM, Allegra JR (1994) Spontaneous cervical epidural
hematoma. Ann Emerg Med 23:1368–1370
tin zur Verhaltensänderung (frühzeitige Aktivierung,
16. Lobitz B, Grate I (1995) Acute epidural hematoma of the cervical
Förderung der körperlichen Ausdauer, Erlernen eines spine: an unusual cause of neck pain. South Med J 88:580–582
häuslichen Übungsprogramms), eine Veränderung der 17. Linton SJ (2000) Psychological risk factors for neck and back pain.
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576 Kapitel 52 · Leitlinie Nackenschmerz der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM)

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Leitlinien/LL-13_Nackenschmerzen-13_Langfassung_ZD.pdf.
Zugegriffen: 30. September 2015
577 53

Integrierte Versorgung für


Patienten mit Rückenschmerzen
G. Lindena

53.1 Einleitung – 578

53.2 Aktuelle Situation – 578


53.2.1 Keine Transparenz – 579
53.2.2 Keine Vergleichsdaten – 579

53.3 Ziele – 579


53.3.1 Patienten – 579
53.3.2 Versorger – 580
53.3.3 Krankenkassen – 580
53.3.4 Vertragspartner – 580
53.3.5 Gesundheitspolitik – 580

53.4 Ablauf von Integrationsversorgungsprojekten – 581


53.4.1 Patienten – 581
53.4.2 Versorger – 581
53.4.3 Krankenkassen – 581

53.5 Typische Projekte – 582

53.6 Erfolgskriterien und Therapieergebnisse – 584

53.7 Bewertung der Integrationsversorgung – 585


53.7.1 Vorteile: Versuchsraum für neue Ansätze – 585
53.7.2 Nachteile – 586
53.7.3 Bewertung aus schmerztherapeutischer Sicht – 586

53.8 Fazit – 587

Literatur – 588

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_53, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
578 Kapitel 53 · Integrierte Versorgung für Patienten mit Rückenschmerzen

Integrationsversorgungs-IV-Projekte sind wegen der Chancen und Ergänzungen durch die Integrationsver-
Häufigkeit von Rückenschmerzen, der Differenzierung nach sorgung (IV) für die Patientenversorgung aus schmerz-
Risikogruppen und der verschiedenen Diagnostik- und Be- therapeutischer Sicht im Vordergrund stehen.
handlungsoptionen sinnvoll. Im Folgenden sind jahrelange
Erfahrungen und eine Übersicht über Projekte zusammen-
gestellt. – IV-Konzepte bieten die Chance, Patienten mit 53.2 Aktuelle Situation
Rückenschmerzen nach einer entsprechenden Diagnostik
nach ihrem Versorgungsbedarf zu steuern und solche mit Die Integrationsversorgung (IV) wurde im Jahr 2000 in das
Risikofaktoren frühzeitig multimodal schmerztherapeutisch deutsche Gesundheitswesen eingeführt und 2004 mit einer
zu behandeln. Die laufenden Projekte haben die diesbezüg- Anschubfinanzierung (§ 140 SGB V) von bis zu 1 % der
lichen Leitlinien umgesetzt und um wichtige Informationen jährlichen vertragsärztlichen und Krankenhausvergütun-
ergänzt. Die Konzeptdiskussion, die Vorbereitung und die gen ergänzt. Seit 2009 müssen die bis dahin abgeschlosse-
gemeinsame Umsetzung der Konzepte mit den multipro- nen 6.183 IV-Verträge [7] ohne die Anschubfinanzierung
fessionellen Versorgungspartnern nutzen den Patienten. getragen werden. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch die
Allerdings fehlen bei insgesamt fehlender Transparenz des Krankenkassen aufgefordert, ihre Erfahrungen mit IV zu
Versorgungsgeschehens auch in den entsprechenden bilanzieren. Diese Informationen standen als Bericht [17]
IV-Projekten patientenbezogene Erfahrungen und Kosten- bei der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung
daten zum Nachweis der Chronifizierungsvermeidung und (BQS) zur Verfügung. Darin wurde ein bundesweites, aber
ganz besonders der Folgekosten. verhältnismäßig niedriges Volumen für IV je Versicherten
beschrieben. Die Erkrankungen von Muskeln, Skelett und
53 Bindegewebe bezogen eine mittlere Position mit 120 Pa-
53.1 Einleitung tienten je Vertrag mit jeweils etwa 1.000 Euro Vergütungs-
volumen.
Integrationsprojekte sollen mit neuen Vorgehensweisen – Die aktuellen Hinweise des Bundesministeriums für
im Wettbewerb untereinander und gegenüber der Regel- Gesundheit (BMG) zur integrierten Versorgung beziehen
versorgung – die Versorgung der Patienten verbessern. Sie Rückenschmerzen und einen komplexen Versorgungsbe-
stehen dabei als Selektivverträge neben den Möglichkeiten darf ein: Integrierte Versorgungsnetze sollen seit dem GKV-
des § 63 des SGB V zu Modellvorhaben mit Initiativen, die Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) 2007 stärker die
von Krankenkassen ausgehen, und des § 73c zu »besonde- flächendeckende Behandlung von Volkskrankheiten, wie
rer ambulanter ärztlicher Versorgung« mit Initiativen, die z. B. Diabetes mellitus oder Bandscheibenerkrankungen,
meist von einer kassenärztlichen Vereinigung ausgehen. zum Ziel haben [7]. Die Deutsche Gesellschaft für Inte-
Auch international werden ähnliche Möglichkeiten von grierte Versorgung (DGIV) ergänzte in ihrem Motto für
Strukturveränderungen diskutiert, die je nach Sichtweise den Kongress 2010 noch den Begriff »nachhaltig« [10]. Die
die Patientenorientierung oder die Einsparpotenziale DGIV war es auch, die 2010 die Kostenträger zu ihrer
priorisieren. aktuellen Haltung nach dem Auslaufen der Anschubfinan-
Dieser Abschnitt beschreibt Erfahrungen aus über- zierung befragte. Danach wird die Bedeutung der IV – zu-
regionalen Rückenschmerzkonzepten, deren Daten auf- sammen mit weiteren besonderen Versorgungsformen –
wendig erfasst und leider nur z. T. veröffentlicht wurden. weiterhin hoch eingeschätzt. Hauptziele der Kostenträger
Integrationsversorgung sollte als Ideenlieferant dienen sind dabei Kostensenkung (auch durch Unterlassen nicht
und müsste dazu die Erfahrungen zugänglich machen. sinnvoller Leistungen) und fast gleichauf Qualitätsver-
Jedoch stehen die Daten zur Versorgungsforschung und besserung.
weiteren Entwicklung der Versorgungsprozesse häufig Bei Rückenschmerzen, das zeigen die Analysen von
nicht zur Verfügung. Kohlmann und Schmidt [24] sowie Diemer und Burchert
Dies ist einerseits darin begründet, dass es für die [11], sind IV-Projekte wegen ihres Änderungs- und Ver-
Diskussion von Versorgungsprozessen kein unabhängiges besserungspotenzials gegenüber der Regelversorgung
Forum gibt, andererseits stehen meist keine Vergleichs- besonders sinnhaft. Trotz der einmütigen Einschätzungen
daten aus der Regelversorgung bereit. Zudem werden die zu notwendigen Veränderungen der Regelversorgung
Projekte meist nicht als wissenschaftliche Forschung be- und der hohen ökonomischen Belastungen durch Patien-
wertet, und die Zuständigkeit für die Evaluation und deren ten mit Rückenschmerzen erscheinen die Anforderungen
Kosten ist in der Regel nicht definiert. an IV-Projekte (zu) komplex. Insbesondere wegen fehlen-
Trotz dieser Einschränkungen sollen die verfügbaren der Transparenz und fehlenden Vergleichsdaten ist die
Informationen – dabei auch solche ohne wissenschaft- Umsetzung von IV für Patienten mit Rückenschmerzen
lichen Hintergrund – dargestellt werden. Dabei sollen die derzeit gebremst.
53.3 · Ziele
579 53
53.2.1 Keine Transparenz
– Erfassung von psychosozialen Risikofaktoren
Nach dem Auslaufen der Anschubfinanzierung und damit (gelbe Flaggen)
der zentralen Anmeldung an die Registerstelle für IV-Ver- – Reduktion von somatischer Diagnostik bei
träge gibt es nicht einmal mehr eine Übersicht über die psychosozialen Risikofaktoren (Bildgebung)
Anzahl der Verträge, die einbezogenen Patienten oder die 5 Therapie nach Leitlinien:
über IV abgerechneten Leistungen. Auch die bekannten – Steuerung der Patienten nach Versorgungs-
Krankenkassen, die Verträge mit Leistungserbringern für bedarf mit der notwendigen Intensität
Patienten mit Rückenschmerzen abgeschlossen haben, – Aufforderung und Anleitung zu körperlicher
sind sehr zurückhaltend mit Informationen. Aktivität
Die angestrebte Transparenz wird durch den induzier- – Frühzeitige multimodale Therapie
ten Wettbewerb zwischen den Kassen sowie zwischen den – Reduktion invasiver Maßnahmen, insbesondere
Gruppen von Vertragspartnern konterkariert: Die Propa- bei psychosozialen Risikofaktoren
gierung des eigenen Konzepts steht anstelle einer wissen- – Beachtung sozialer Faktoren und Beibehaltung
schaftlichen Diskussion zu »best practice« und zu einer der Arbeitsfähigkeit
Evidenzbasierung. – Vermeidung nicht sinnvoller Therapieverfahren
5 Langfristig:
– Vermeidung von Chronifizierung der Rücken-
53.2.2 Keine Vergleichsdaten schmerzen
– Vermeidung von medizinischen und psycho-
Vergleichsdaten aus der Regelversorgung müssten Daten sozialen Konsequenzen
zur Beschreibung der Patienten, zum Schweregrad der
Erkrankung und zu Risikofaktoren sowie Verlaufsdaten
enthalten. Diese gibt es bei den Kostenträgern nicht und
bei den »Leistungserbringern« in diesem Umfang nur Konzeptbezogene Ziele
projektbezogen. Daher ist das Veränderungs- und Verbes- 5 Gestaltung eines systematischen Versorgung-
serungspotenzial durch IV schwer zu ermessen. Insbeson- sablaufs (Expertenpanel »Rückenschmerz« [14])
dere patientenbezogene Kostendaten fehlen. In der ambu- nach Leitlinien
lanten Versorgung gibt es keine Zuordnung von Problem- 5 Gegebenenfalls Ergänzungen mit Zeitraster für
situation und Leistungen. Diagnose- und Therapieschritte
Bei Rückenschmerzen sollen jedoch durch systema- 5 Transparentes Versorgungsgeschehen:
tische Steuerung und Chronifizierungsvermeidung lang- – Konzeptionelle Kommunikation der Versorgungs-
fristig Kosten vermieden werden. Hier fehlen die patienten- ebenen
bezogenen Erfahrungen und Kostendaten ganz besonders. – Patientenbezogene Kommunikation und
Absprachen bezüglich des Therapiekonzepts

53.3 Ziele
Die Partner im Versorgungsgeschehen haben unterschied-
Patientenbezogene und konzeptbezogene Ziele von Pro- liche Aufgaben und Rollen und deshalb z. T. unterschied-
jekten der integrierten Versorgung für Patienten mit liche Ziele und Interessen auch in einer integrierten
Rückenschmerzen sind in den folgenden Übersichten zu- Versorgung:
sammengestellt:

53.3.1 Patienten
Patientenbezogene Ziele
5 Gezielte Steuerung nach Behandlungsbedarf und Patienten haben ein Interesse an einer systematischen Ver-
Risikofaktoren in Versorgungsebenen sorgung unter Berücksichtigung von Leitlinien und ggf.
5 Diagnostik nach Leitlinien: von zusätzlichen Absprachen zwischen den Versorgern,
– Erfassung von körperlich bedrohlichen gleichzeitig haben sie in IV-Projekten auch Pflichten.
Symptomen (dunkelrote Flaggen)
– Erfassung von Hinweisen auf zugrunde liegende IV – positiv Sie werden in IV-Projekten beraten und durch
Erkrankungen (rote Flaggen) die Versorgung geleitet, vermeiden Wartezeiten und Mehr-
fachuntersuchungen. Auch Nachuntersuchungen sind im
580 Kapitel 53 · Integrierte Versorgung für Patienten mit Rückenschmerzen

weiteren Verlauf oft enthalten. Die in Hausarztverträgen Erkrankungen interagieren mit körperlichen Symptomen
enthaltenen Boni für Patienten sind in den Rücken- und treten zunehmend in den Vordergrund.
schmerzverträgen nicht üblich.
IV – positiv Sie können sich an der Steuerung ihrer Ver-
IV – negativ Das Versorgungsangebot für Versicherte sicherten durch das Versorgungssystem beteiligen. Es gibt
unterscheidet sich regional und nach Krankenkasse. Die Angebote von Leistungserbringern an Krankenkassen.
Informationen über die Projekte sind den Versicherten Krankenkassen können IV-Projekte zur Versicherten-
meist nicht frei zugänglich. werbung nutzen.

IV – negativ Bisher haben IV-Projekte bei Rückenschmer-


53.3.2 Versorger zen nur näherungsweise nachweisen können, dass die
Kosten der Krankenkassen reduziert wurden. Dies liegt
Versorger haben je nach Ausgangssituation eine individu- zum Teil daran, dass die Vergleichsgruppen aus den Kran-
elle Haltung zur Integrationsversorgung: von Ablehnung kenkassendaten generiert werden müssen [6, 28]. Zum
über Beteiligung mit möglichst wenig Aufwand bis zu ge- anderen übersteigen die indirekten Kosten die direkten
meinsamer Konzeptdiskussion und Veränderungswillen. erheblich [37], was wiederum die Veränderungsbereit-
schaft der Krankenkassen reduziert. Sie sollen die Kosten
IV – positiv An der integrierten Versorgung können neben für Veränderungen tragen, die Auswirkungen kommen
niedergelassenen Ärzten oder Krankenhäusern auch aber gesamtgesellschaftlich zum Tragen. Diese Aufgabe
ambulante oder stationäre Rehabilitationseinrichtungen wurde kürzlich von Ginsburg [16] in einer Art Appell auf-
53 teilnehmen. Die Leistungen für stark chronifizierungs- gegriffen.
gefährdete Patienten mit Rückenschmerzen in Form z. B.
von medizinischer Trainingstherapie, Psychotherapie und
tagesklinischen Gruppenprogrammen werden definiert 53.3.4 Vertragspartner
und vertraglich vereinbart. In einem der Rückenschmerz-
projekte wird ein Bonus an die Leistungserbringer aus- Krankenkassen und Leistungsanbieter erhalten durch
gezahlt, wenn die Patienten schon nach 4 Wochen wieder Integrationsversorgungsprojekte die Möglichkeit, die Posi-
arbeitsfähig werden. tion der Vertragspartner kennenzulernen.

IV – negativ Die Versorger (Leistungserbringer) haben or- IV – positiv Die Vertragspartner können direkt Verträge
ganisatorische Probleme, wenn sie in mehrere Konzepte verhandeln und abschließen, die nicht an die geltenden
involviert sind, womit nicht nur unterschiedliche Ver- Regeln der Versorgung gebunden sind.
sorgungsaufgaben, sondern auch unterschiedliche Doku-
mentationspflichten verbunden sind. Generell haben sie IV – negativ Die IV-Verträge sind regional sehr unter-
kein Interesse am Wettbewerb zwischen den Kranken- schiedlich verteilt, und die Regionen von verhandlungs-
kassen, weil sie allen ihren Patienten eine möglichst gute willigen Krankenkassen und Leistungserbringern sind
Versorgung anbieten wollen. unter Umständen unterschiedlich. Die Erfahrungen mit
Selektivverträgen sind insgesamt gering, die Vertragsver-
handlungen sehr aufwendig.
53.3.3 Krankenkassen

Krankenkassen haben ein massives Kostenproblem mit 53.3.5 Gesundheitspolitik


Versicherten, die wegen Muskel-Skelett-Erkrankungen
Krankengeld beziehen. Sie wollen diese Kosten gern redu- Die Gesundheitspolitik wollte die Sektorengrenzen und
zieren. Auch junge Menschen und Berufsanfänger haben Schnittstellenprobleme überwinden, Transparenz und
schon erhebliche Probleme mit Muskelverspannungen im Wettbewerb in das Versorgungsgeschehen einführen [7].
Rücken-, Nacken- und Schulterbereich [25]. Sehr viele
Krankenkassen machen niedrigschwellige Informations- IV – positiv Ein Wettbewerb guter Ideen ist nur bei Trans-
und Kursangebote, deren Kosten sie auch bezuschussen. parenz möglich.
Psychische Erkrankungen nehmen in ihrer Bedeutung für
den Krankenstand seit einigen Jahren deutlich zu und sind IV – negativ Wenn Versorger ihre Patienten unterschied-
nun an 3. Stelle der 10 wichtigsten Krankheitsgruppen mit lich versorgen müssen, Dokumentationsanforderungen
Bedeutung für den Krankenstand (u. a. [38]). Diese sich unterscheiden, aus Marketinggründen ein Vergleich
53.4 · Ablauf von Integrationsversorgungsprojekten
581 53

. Tab. 53.1 Patienten mit Schmerzen – Gruppen in integrierten Versorgungsprojekten

Gruppen Patienten Hauptziel Diagnostik Therapieangebot Kontraindiziert!

Gruppe 1 – Erstmals in Be- Schmerzlinderung, Körperliche Wenn nötig, kurzfristig Spritzen, bildgebende
handlung Motivation zu Be- Untersuchung Analgetika, Informa- Verfahren, Bettruhe,
– Keine spezifischen wegung, Sekundär- tionen zu alters- und spezielle Rückenü-
Rückenschmerzen prävention situationsgerechten bungen, Massagen,
Aktivitäten Überweisung

Gruppe 2 – Mit psychosozi- Wiederherstellung Ausführliche Dem individuellen Passive Bewegungs-


alen Risikofaktoren von körperlicher (und körperliche, Problemmuster ange- therapie, teure
(gelben Flaggen) psychischer) funktionelle passte Aktivitäten, Trainingsmaschinen
– Mit andauernden Leistungsfähigkeit und psychoso- wenn möglich intensive
Rückenschmerzen, und Arbeitsfähigkeita, ziale Anamnese Gruppentherapie,
aktuell oder in der indirekte Kosten und Unter- Verhaltenstherapie,
Vergangenheit senken suchung dauerhafte Verhaltens-
arbeitsunfähig änderung stabilisieren

Gruppe 3 – Mit chronifizierten Verbesserung von Ausführliche Intensive Aufarbeitung Weitere invasive
Schmerzen körperlicher (und körperliche, des Krankheitskon- Therapieverfahren,
– Mit diversen psychischer) funktionelle zepts, dem individu- Operationen
Therapieversuchen Leistungsfähigkeit und psychoso- ellen Problemmuster
und Arbeitsfähigkeita, ziale Anamnese angepasste Aktivitäten,
direkte Kosten und Unter- intensive Einzel- und
senken, Verhaltens- suchung Gruppentherapie
änderung versuchen

ainkl. Aktivitäten in Alltag, Familie und Freizeit

verhindert wird, gibt es keinen Wettbewerb guter Ideen. 53.4.2 Versorger


Die regionale Prägung von Versorgungsverträgen erzeugt
eine Intransparenz des Versorgungsgeschehens für Patien- Die Teilnahme von Versorgern an IV-Verträgen ist frei-
ten und Leistungserbringer. willig, Versorger bieten ihre Leistungen an, meist werden
in den Verträgen Qualifikationsanforderungen formuliert.
Die meisten Verträge in Bezug auf Rückenschmerzen wur-
53.4 Ablauf von den von Versorgern auf den Weg gebracht. Die Kommuni-
Integrationsversorgungsprojekten kation mit der Krankenkasse ist erhöht, die Abrechnung
erfolgt direkt fallbezogen. Sowohl für die Koordination der
53.4.1 Patienten Versorgung, z. T. für die Intensität der Versorgung als auch
für die Abrechnung wurden bestehende Strukturen ein-
Patienten lassen sich Gruppen von Belastungssituationen, bezogen und angepasst oder neue gegründet.
Diagnostik und Therapieangeboten zuordnen (. Tab. 53.1)
und werden in den Projekten entweder durch vertraglich
gebundene Ärzte oder gezielt vom Fallmanagement ihrer 53.4.3 Krankenkassen
Krankenkasse angesprochen. Generell gelten zusätzlich zu
den Indikationsdiagnosen bestimmte »Aufgreifkriterien« Die Krankenkassen schließen mit »geeigneten« Versor-
wie psychosoziale Risikofaktoren, längere Arbeitsunfähig- gern Verträge ab; sie wählen Versicherte aus, oder diese
keit und Interesse an der angebotenen Leistung. Patienten werden von den ärztlichen Vertragspartnern in die IV auf-
der definierten Zielgruppe müssen nicht an dem IV-Pro- genommen. Die Zuweisung von Patienten durch die Kran-
jekt teilnehmen, aber wenn sie es tun, dann müssen sie sich kenkassen ist eine Besonderheit der beschriebenen Kon-
einschreiben lassen und die geplanten Versorgungsschrit- zepte gegenüber der Regelversorgung. Dafür erhalten Kas-
te, ggf. eine weitere Diagnostik, absolvieren. Positiv wirken senmitarbeiter Informationen zum Versorgungskonzept
kurzfristige Überleitungsfristen und Terminstellungen und Schulungen zur Ansprache der Versicherten.
zwischen den Versorgern.
582 Kapitel 53 · Integrierte Versorgung für Patienten mit Rückenschmerzen

> Die Vertragsgestaltung ist trotz zum Teil bundesweit

2 Wochen arbeits-

Hannover (KKH)
tätiger Kassen dezentral mit regionalen engagierten

Kaufmännische
Keine Angaben

Krankenkasse
Ansprechpartnern.

unfähig

(2011)

Berlin
Typische Projekte

8
53.5

BKK Nordwest
schmerzkrank

Keine Anga-
Der Gesundheitspfad »Rücken« einer bei der Bertelsmann

ben (2011)
Chronisch

Nordwest
Stiftung agierenden Expertengruppe stellte eine Zusam-
menfassung [13] und ausführliche Papiere zur Prävention,

7
kurativen Versorgung und Rehabilitation zur Verfügung.
In einer Umfrage beschrieben viele Krankenkassen ihr

Barmer GEK und


Arbeitsunfähig-

Keine Angaben
Interesse an IV für Patienten mit Rückenschmerzen, die

Bundesweit
Verträge wurden vorgestellt und anhand eines Kriterien-

(2015)
katalogs bewertet.

BKK
keit
6
> Ein IV-Projekt für Patienten mit Rückenschmerzen
sollte wegen der biopsychosozialen Konstellation

6 Wochen arbeitsunfä-

Berlin/Brandenburg
bei den Patienten, ausgehend entweder von der
1. oder 2. Versorgungsebene, frühzeitig eine

DAK, BKK, AOK


2.500 (2015)
multimodale interdisziplinäre 3. Ebene ansteuern
53 oder von einer 3. Ebene aus die nachfolgenden
Behandler einbinden.

hig
5

Parallel liefen Planung und Umsetzung großer Integra-

triebs, Innungskran-
regionalen Schwer-

Techniker Kranken-

Niedersachsen, IKK
tionsprojekte für Patienten mit Rückenschmerzen weiter.

Nord, weitere Be-


Bundesweit mit

kasse (TK), AOK


arbeitsunfähig

Diese Projekte unterschieden sich nach den einbezogenen


Patienten und den Diagnostik- und Therapieangeboten, 3.268 (2010)

kenkassen
4 Wochen

punkten
nach ihrer Projektlaufzeit und Verbreitung (. Tab. 53.2).
Drei Konzepte beziehen bzw. bezogen alle Patienten
4

mit Rückenschmerzen ab der ersten Rückenschmerzepiso-


de ein (vgl. unter entsprechender Nummer in . Tab. 53.2):
Kaufmännische Kran-
kenkasse Hannover
1. AOK Baden-Württemberg 2004–2008: Informationen
Ab 1. Arztbesuch

und Daten zum Projekt sind aktuell nicht verfügbar.


. Tab. 53.2 Integrationsversorgung für Patienten mit Rückenschmerzen

3 – beendet

760 (2013)

Das Projekt wurde wegen mangelnder Zusammen-


arbeit zwischen Hausärzten und Orthopäden, den
Berlin

(KKH)

Hauptanlaufstellen für Patienten mit Rückenschmer-


zen, beendet. Es gibt heute zum Stichwort Rücken-
Barmer GEK und

schmerzen ein niedrigschwelliges Angebot aus dem


2 – verändert

22.000 (2010)
Ab 1. Arztbe-

BKK führend,
viele weitere
such wegen

Bundesweit

AOK-Ratgeber »Rückenschmerzen Ade« [1].


schmerzen
Rücken-

2. Die Interdisziplinäre Gesellschaft für orthopädische


Schmerztherapie IGOST bot zusammen mit dem
Forschungs- und Präventionszentrum FPZ ein
Integrationsprojekt ab dem ersten Arztbesuch wegen
Ab 1. Arztbesuch
wegen Rücken-

Württemberg
25.000 (2007)

Rückenschmerzen an. Bis 2008 wurden 9.445 Ver-


1 – beendet

AOK Baden-
Bundesweit
schmerzen

sicherte aus der Gmünder Ersatzkasse GEK und


diversen BKKs in dieses Projekt aufgenommen [15].
Die IGOST hat die Partnerschaft aus 2005 zum Ende
2010 aufgekündigt. Das FPZ arbeitet mit der
Anzahl Patien-
Einbezogene

hauptsächlich involvierten Krankenkasse GEK weiter


ten (Stand)
Patienten

zusammen, die nach der Fusion mit der Barmer


Kranken-
Projekt

Region

kassen

Ersatzkasse das Konzept überprüft und gleichzeitig


ein weiteres für chronische Patienten aufgelegt
hat.
Koordination Nein Ja Ja Nein (nur 3. Ebene) Nein (nur 3. Ebene) Ja Nein Ja
gemäß NVL

1. Ebene Hausarztvertrag Ja Ja Nicht einbezogen Nicht einbezogen Regional unter- Nein Ja


Hausarzt/ schiedlich aus-
Facharzt gestaltet
53.5 · Typische Projekte

2. Ebene Ja Ja Ja Nicht einbezogen Nicht einbezogen Regional unter- Nein Ja


Facharzt schiedlich aus-
gestaltet

3. Interdiszipli- Nicht Regional unter- Nach Konzept ja mit Ja Ja Regional unter- Ja Ja


näre Ebene einbezogen schiedlich aus- Fallkonferenz und schiedlich aus-
gestaltet, psy- Therapieintensivie- gestaltet
chosoziale rung
Maßnahmen
nicht dokumen-
tiert

Interdiszipli- Nach Modell: Nein Nein Ausführliche Dia- »Assessment« durch Nein Ja Nein
näre Diagnos- bei Bedarf gnostik durch Arzt Arzt, Physiotherapeut
tik und Psychologen

Interdiszipli- Nein Nein Intensivierte Einzel- Ja, 4 Wochen Einzel- Ja, interdisziplinäre Außerhalb der Intensivierte Intensivierte
näre Therapie behandlung therapie, ggf. Ver- Gruppenprogramme IV Einzelbehand- Einzelbehandlung
längerung auf 8 unterschiedl. Intensität lung
Wochen und Dauer, stationäre
Einzeltherapie

Bemerkungen Gruppenpro- Informationen zum Kriterium für Thera- Ergebnisse beim Kaum Kaum Infor- Informationen
gramme sind Vertrag im Netz, keine pieende: Arbeits- Assessment steuern Informationen mationen zum Vertrag im
möglich, aber Informationen zur fähigkeit Patienten in Therapie- zugänglich zugänglich Netz, keine Infor-
außerhalb von Nutzung der Ebenen optionen, ggf. auch mationen zum
IV und zu Ergebnissen ohne Therapiepro- Verlauf
gramm

Die Angaben zur Einbeziehung der Berufsgruppen und zur Gestaltung von Diagnostik und Therapie wurden Texten entnommen, ihre Umsetzung wurde nicht überprüft.
53 583
584 Kapitel 53 · Integrierte Versorgung für Patienten mit Rückenschmerzen

3. Die Kaufmännische Krankenkasse Hannover KKH wie wichtig einheitliche Dokumentationskriterien sind,
entwickelte mit der KV Berlin ein Konzept für Patien- um die Projekte vergleichen zu können.
ten mit akuten Rückenschmerzen. Hier sind bis 2013 > Für die Planung eines IV-Projekts sind die multipro-
760 Patienten eingeschlossen worden. Konzept und fessionellen Mitbehandler und Versorgungsebenen
weitere Informationen für Patienten und teilnehmen- konzeptionell zu integrieren. Die Behandlungs-
de Ärzte sind im Internet verfügbar, Auswertungen schritte – der Patientenpfad – und eine gemeinsame
stehen an [26]. Dokumentation werden mit den Vertragspartnern
auf der Krankenkassenseite abgestimmt.
In 5 weiteren Konzepten wählen Krankenkassen Versicherte
mit Arbeitsunfähigkeit wegen Rückenschmerzen aus und Die zu Anfang des Versorgungsprozesses erhobenen Daten
laden sie zu einer ausführlichen Diagnostik und Therapie sollen helfen, die Patienten mit ihrem spezifischen Versor-
ein (vgl. unter entsprechender Nummer in . Tab. 53.2). gungsbedarf durch die Versorgung zu steuern, und lassen
1. IMC/IVR-Projekt für Versicherte der TK und einigen gleichzeitig die Therapieergebnisse messen. Bei einem Ver-
BKKs nach 4-wöchiger Arbeitsunfähigkeit mit indivi- gleich patientenbezogener Daten muss unbedingt die Aus-
duellem Therapieverlauf nach 4 Wochen und ggf. wahl der Patienten beachtet werden. Die unterschiedlichen
weiteren 4 Wochen Einzeltherapie seit 2005 [30, 32, Ausgangsszenarien mit Vorgaben zur Arbeitsunfähig-
36, 22]. keitsdauer wie auch die tatsächliche Auswahl der Patienten
2. Berlin-Brandenburger Rückennetz (BBR) für Versi- haben grundsätzlich erheblichen Einfluss auf die Prognose
cherte der DAK und der AOK mit 6-wöchiger Ar- und damit auch auf die Effekte des Programms. Zusätzlich
beitsunfähigkeit, diese erhalten eine ausführliche Un- sind kurz- und langfristige Effekte zu unterscheiden.
53 tersuchung (Assessment), ggf. mit anschließenden Wenn ein Projekt eine stufenweise Weiterleitung nach
Therapiemodulen unterschiedlicher Intensität in bestimmten Kriterien vorsieht (AOK, IGOST, KKH),
Gruppen, seit 2006 [29] (ähnlich für verschiedene müssen auch diese in der Anwendung überprüft werden.
BKKs mit Rückenzentrum Hamburg seit 2004 [20]. Vor allem in IV-Projekten mit Patientenaufnahme durch
3. FPZ: »Deutschland den Rücken stärken« bietet seit Ärzte wurden projektbezogene Daten erhoben. Diese
2009 ein zweites Versorgungsmodell für chronische beschreiben die Anzahl von Leistungserbringern und Pa-
Rückenschmerzpatienten an. Hierbei werden insbe- tienten, leider meist nicht den Abruf einzelner Leistungen.
sondere Versicherte mit Arbeitsunfähigkeit wegen In Projekten für Patienten mit chronischen Rücken-
Rückenbeschwerden aufgenommen. schmerzen wurden ausführliche Daten zur Ausgangssitu-
4. BKK Rückenschmerz in NRW seit Ende 2009 [4]: In 6 ation der Patienten (Struktur- bzw. Indikationsqualität), zu
Orten gibt es Behandlerteams für chronische Patien- Diagnostik- und Therapieverfahren (Prozessqualität) so-
ten. Erste Ergebnisse (62 % erfolgreich) wurden in ei- wie zum Outcome (Ergebnisqualität) erhoben [20, 22, 29].
ner Pressemitteilung am 20.4.2011 veröffentlicht [5]. In dem von der IGOST konzipierten und vom FPZ umge-
5. Die Kaufmännische Krankenkasse Hannover KKH setzten Projekt wurden sowohl projektbezogene Daten,
führte zum 1.4.2011 ein Konzept für chronische Pati- wie die Steuerung der Patienten durch die Versorgungs-
enten bei der KV Berlin ein [27] – parallel in ver- ebenen, als auch patientenbezogene Daten, wie die Risiko-
schiedenen Bundesländern mit dem Berufsverband faktoren für eine Chronifizierung der Rückenschmerzen,
der Ärzte und psychologischen Psychotherapeuten in zu Beginn und im Verlauf erhoben (Strohmeier et al. 2011,
Deutschland (BVSD). pers. Mitteilung).
Die Zielkriterien unterscheiden sich von Projekt zu
Projekt, enthalten aber meist die Arbeitsunfähigkeit (AU)
53.6 Erfolgskriterien und zur Beschreibung der Ausgangssituation bzw. deren Be-
Therapieergebnisse endigung als Erfolgskriterium. Dieses Kriterium hat den
Vorteil der kurzfristigen Messbarkeit, und das Kranken-
Die Erfolgskriterien umfassen projektbezogen Kriterien geld ist ein wichtiger Kostenfaktor für die Krankenkassen.
zur Teilnahme von Leistungserbringern und zur Steuerung Nachteilig bezüglich der AU sind:
der Patienten sowie patientenbezogen Schmerz-, Beein- 4 Die AU mit Krankengeld ist nur einer von vielen
trächtigungs- und gesundheitsökonomische Parameter. Kostenfaktoren.
Ein andauerndes Problem ist die von Projekt zu Projekt 4 Wenn Patienten mit Krankengeldzahlung nach
unterschiedliche Auswahl von Kriterien zur Beschreibung 6 Wochen Arbeitsunfähigkeit ausgewählt werden, ist
der Patienten und ihrer Ausgangssituation sowie der Er- ihre Prognose für eine Rückkehr an den Arbeitsplatz
folgskriterien, ähnlich der Effektivitätsmessung in Studien schon deutlich schlechter als zu einem früheren
[12]. Hier kann nur wieder darauf hingewiesen werden, Zeitpunkt.
53.7 · Bewertung der Integrationsversorgung
585 53
4 Patienten ohne Krankengeldbezug wie Nicht- 3. Die epidemiologische und Versorgungsforschung hat
berufstätige oder Selbstständige können auch hohe Kostenfaktoren durch Rückenschmerzen auf
erhebliche – andere – Kosten im Gesundheitswesen vielen Feldern des Gesundheitssystems und für die
verursachen. Gesellschaft festgestellt. Dabei sind die Kosten in
4 Die Erfassung muss patientenbezogen bei den Untersuchungen mit patientenbezogener Dokumen-
Krankenkassen erfolgen, um möglichst vollständige tation am höchsten, weil sie nicht nur einzelne
Daten auch bei Arztwechsel zu erhalten. Bereiche des Gesundheitswesens betrachten, sondern
die Gesamtkosten auf Basis direkter und indirekter
Andere Zielgrößen von IV-Projekten bei Rückenschmer- Kostenanteile [37]. Allerdings wurden erhebliche
zen sind die Schmerzsituation und die Lebensqualität, Defizite bezüglich der Datenlage zur schmerzthera-
Arztbesuche, Medikamentenkosten und Krankenhausauf- peutischen Versorgung generell und auch zur Versor-
enthalte als Kostenfaktoren, aber auch als Hinweise auf gung von Rückenschmerzen festgestellt [12]. Es wird
eine bis zum Zeitpunkt des Projekteintritts nicht (mehr) von einer Überversorgung beim Kreuzschmerz im
ausreichende Versorgung bzw. auf die Nachhaltigkeit des aktuellen Versorgungssystem ausgegangen, was Ein-
Projekts in dessen Verlauf. sparmöglichkeiten bei gleichzeitig besserer Versor-
gung erwarten lässt.

53.7 Bewertung der Alle durchgeführten IV-Projekte haben wichtige Informa-


Integrationsversorgung tionen zum heutigen Kenntnisstand über das tatsächliche
Auftreten von körperlichen und psychosozialen Risikofak-
Alle Projekte bauen auf Leitlinien auf, füllen deren Lücken toren sowie über Versorgungswege und Regelungsbedarf
und gestalten Abläufe und Versorgungspfade. Die Lücken beigetragen. Integrationsversorgungskonzepte können nur
in den Leitlinien und der bisherigen Versorgungsforschung erstellt werden, wenn sich eine Gruppe von Versorgern auf
betreffen insbesondere: eine gemeinsame Vorgehensweise und Dokumentation
1. Die DEGAM-Leitlinie geht entsprechend ihrem festlegt und diese mit den Krankenkassen erfolgreich ver-
Adressatenkreis sehr ausführlich auf die Erstunter- handelt. Diese konzeptionellen Absprachen nutzen vor
suchung ein, lässt aber den weiteren Verlauf relativ allem den Patienten, die mehrere Versorgungsebenen
unpräzise [3, 9]. Diese Leitlinie wurde 2011 abgelöst durchlaufen. Die Patienten kämen in den IV-Projekten
durch die Nationale Versorgungsleitlinie. auch deutlich früher in eine interdisziplinäre multimodale
2. Die Nationale Versorgungsleitlinie soll die gesamte Schmerztherapie als bisher in der Regelversorgung.
Versorgungssituation für Patienten mit nichtspezifi-
schen Rückenschmerzen umfassen [2]. Sie empfiehlt
zunächst eine körperliche Untersuchung und ein 53.7.1 Vorteile: Versuchsraum
Screening auf psychosoziale Risikofaktoren, ohne für neue Ansätze
einen optimalen Zeitpunkt hierfür aus den bisherigen
Erfahrungen benennen zu können. Es wird jedoch Die Zusammenarbeit der Fächer und Berufsgruppen wird
empfohlen, spätestens nach 4 Wochen andauernder gefördert durch die gemeinsame Konzeptdiskussion und
Schmerzen in der primärärztlichen Ebene ein Scree- nutzt gerade den Patienten, die abgestuft mehrere An-
ning durchzuführen. Liegen psychosoziale Risikofak- sprechpartner für ihre Versorgung benötigen.
toren vor, ändert dies die therapeutische Vorgehens- > IV-Projekte müssen begleitend evaluiert werden,
weise erheblich und nähert sie an die Vorgehensweise am besten patienten- und projektbezogen von
bei subakuten/chronischen Rückenschmerzen an. Die beiden Vertragsseiten, Leistungserbringer und
Leitlinie geht im Folgenden auf die einzelnen zur Ver- Krankenkassen. Diese Evaluation muss der Öffent-
fügung stehenden therapeutischen Maßnahmen ein, lichkeit und zur Verbesserung der Versorgung zur
u. a. auf die multimodale interdisziplinäre Therapie, Verfügung stehen. Ebenso ist eine laufende projekt-
sie definiert den Zeitpunkt für deren Einsatz »nach und patientenbezogene Kommunikation zwischen
erfolgloser Therapie« und bei Vorliegen von psycho- den involvierten Personen der Vertragsseiten er-
sozialen Risikofaktoren. So wird eine »frühzeitige« forderlich und für den Projektverlauf hilfreich.
multimodale Versorgung mit dem positiven Befund
von Risikofaktoren begründet.. Es ist darauf zu Die neuen Versorgungsformen sind als Chance für die bis-
achten, dass rehabilitative Maßnahmen neue Konzepte her schlecht institutionalisierte interdisziplinäre Schmerz-
zu Rückenschmerzen umsetzen, da die früheren nicht therapie anzusehen. Je nach Patientenzielgruppe können
nachhaltig wirksam waren. abgestufte IV-Konzepte die schmerztherapeutische Ver-
586 Kapitel 53 · Integrierte Versorgung für Patienten mit Rückenschmerzen

sorgung verbessern [19] und Schmerzchronifizierung ver- dass sinnvolle evidenzbasierte und leitliniengemäße
meiden. Konzepte zur interdisziplinären multimodalen Thera-
Die Rolle der Vertreterorganisationen ist nicht klar, die pie bei Rückenschmerzen in einigen Regionen Be-
Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) z. B. hält den standteil der Regelversorgung sind [31, 34], während
Kollektivvertrag für die Basis einer sicheren und gerechten andere Regionen diese in Selektivverträgen [29, 35]
Versorgung der Versicherten in einem sinnvollen Neben- umsetzen konnten und immer noch viele Regionen
einander mit anderen Versorgungsverträgen, in die sie sich ohne eine solche Versorgung auskommen müssen.
regional auch einbringt. Allerdings werden an die Selektiv- 4 Schmerztherapeuten können sich an die regional
verträge höhere Anforderungen gestellt als an die Regel- aktiven Vertragspartner wenden oder ein eigenes
versorgung, wenn sie »kosteneffizient sein, eine hohe Konzept mit einer Krankenkasse entwickeln, in dem
Qualität bieten und die Versorgungsgerechtigkeit ver- sie sich auf vorhandene Konzepte beziehen.
bessern« müssen [23]. 4 Obwohl das Ziel dieser neuen Organisations- und
Versorgungskonzepte eine größere Transparenz ist,
sind die Informationen über den Stand und die
53.7.2 Nachteile Entwicklung nicht unmittelbar zugänglich. Verlaufs-
kontrollen und ein Nachweis der Nachhaltigkeit der
Bisher wurde kein Projekt in die Regelversorgung über- Konzepte sind bisher die Ausnahme und liegen für
setzt, auch wenn die Vertragspartner jeweils von den Vor- eine wissenschaftliche und versorgungspolitische
teilen des Projekts überzeugt sind. Diskussion nicht vor. Es kann jedoch davon ausge-
Die Projekte sind nicht flächendeckend, sondern gangen werden, dass sich die Koordination der
53 müssen sich an der regionalen Verfügbarkeit von Leis- Versorgung und deren Dokumentation in den ein-
tungsanbietern und kooperationswilligen Krankenkassen bezogenen Einrichtungen deutlich verbessert haben.
orientieren. 4 Mit der patientenbezogenen Prozessorientierung, mit
Die Auswahl der Patienten und die folgenden Thera- der Schnittstellen gebahnt werden sollten, wurden
pieangebote sind sehr unterschiedlich, die Projekte auch neue sinnvolle Aspekte in die Versorgungslandschaft
dadurch schwer zu vergleichen. Die unterschiedlichen hineingetragen. Die Kooperation im Sinne eines
Dokumentationsgrundlagen erschweren Vergleiche zu- gemeinsamen Behandlungskonzepts und die Ver-
sätzlich. netzung unterschiedlicher Fachrichtungen und
Versorgungsebenen bringen auch für Patienten mit
Rückenschmerzen erhebliche Vorteile mit sich.
53.7.3 Bewertung aus 4 Wenn die Versorgung von Rückenschmerzpatienten
schmerztherapeutischer Sicht generell und die Projekte der integrierten Versorgung
es schaffen wollen, bei (noch nicht Schmerz-) Patien-
Für die Versorgungssituation bei Rückenschmerzen gibt es ten Chronifizierung zu verhindern, müssten für die
einen erheblichen Verbesserungsbedarf. Hier gibt es konzeptionelle Planung Schmerztherapeuten und
verschiedene Wege und Möglichkeiten, die regional sehr ihre evidenzbasierten Erfahrungen zur frühen Not-
unterschiedlich genutzt werden. wendigkeit einer multimodalen Therapie einbezogen
> Der Behandlungsbedarf und die Risikofaktoren
werden. Ein indikationsbezogener Ansatz wie der für
sollten früh, auch in 1. und 2. Ebene, erfasst werden,
den Rückenschmerz müsste die vielen Beteiligten
damit sie den Versorgungsverlauf für die Patienten
konzeptionell einbeziehen. Projekte der multimoda-
steuern helfen.
len Schmerztherapie der 3. Versorgungsebene
müssten mindestens die Nachbehandler auf die Über-
IV-Projekte tragen dazu bei, dass Patienten mit Rücken- nahme des Konzepts einschwören, um Nachhaltigkeit
schmerzen auf Risikofaktoren untersucht und nach ihrem zu erreichen.
Behandlungsbedarf frühzeitig in die richtige Therapiein- 4 Eine Folge aus IV-Projekten für die Schmerztherapie
tensität gesteuert werden. Die derzeit großen regionalen könnte darin bestehen, die multimodale interdiszipli-
Unterschiede im schmerztherapeutischen Angebot werden näre Schmerztherapie sinnvoll in die Patientenpfade
jedoch möglicherweise durch den darüber hinaus selekti- für Patienten mit Rückenschmerzen zu integrieren.
ven Charakter der Verträge verschärft, die jeweils mit
einzelnen Krankenkassen abgeschlossen werden. Viele Schmerztherapeuten haben sich entsprechend ihren
4 Die IV erlaubt ein Angebot sinnvoller Konzepte, die Erfahrungen auf die Diagnostik und Therapie von Patien-
die Regelversorgung bis heute nicht oder nur regional ten mit Risikofaktoren und/oder Chronifizierungsgefähr-
zulässt. Gerade in der 3. Versorgungsebene zeigt sich, dung konzentriert (3. Ebene im Gesundheitspfad Rücken,
53.8 · Fazit
587 53
Expertenpanel »Rückenschmerz« [14]). Hier findet in versorgung immer noch ohne Nachweis und Sanktionen
IV-Projekten zu Beginn oft ein sog. Assessment statt und nicht sinnvolle Vorgehensweisen honoriert.
danach eine möglichst einrichtungsübergreifende Steue- Krankenkassen tragen die – zunächst höheren – Kosten
rung der Patienten entsprechend ihren Beschwerden in einer systematischen Therapie, können aber nicht alle
unterschiedliche Behandlungsintensitäten. Dazu gehören resultierenden Vorteile nutzen. Daher haben sie ein legiti-
auch die multimodalen tagesklinischen Gruppentherapie- mes Interesse daran, dass ausschließlich die besonders
programme. Besonderes Augenmerk sollte hier auf ein chronifizierungsgefährdeten Patienten einer erforder-
interdisziplinäres Vorgehen mit einem gemeinsamen über- lichen teureren Therapie zugeführt werden. Diese Chroni-
regionalen Konzept gelegt werden. fizierungsgefährdung lässt sich bei Patienten mit Rücken-
Allerdings gibt es auch unter Beteiligung von Schmerz- schmerzen nicht zuverlässig prognostizieren, während
therapeuten regionale Verträge ohne die entsprechende sich die – dann möglicherweise gesenkten – Kosten bei
interdisziplinäre multimodale Ausgestaltung, die für einen bereits chronifizierten Patienten schlecht beziffern lassen.
nachhaltigen Therapieerfolg erforderlich ist [33], und Insbesondere fehlt die Kalkulation der Kosten von Maß-
ohne die Intensität, die nach diversen Studien [18] für eine nahmen, die ggf. unnötig zu einer Chronifizierung geführt
Gruppe chronifizierter Patienten notwendig ist. Damit haben. So kommt es zur zögerlichen Umsetzung evidenz-
wird durch eine halbherzige Umsetzung der Gesamteffekt basierter Konzepte bei Rückenschmerzen, weil der Nutzen
der Maßnahme gefährdet. für die einzelne Krankenkasse nicht konkret beziffert
Die medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft werden kann. Bei dem hohen Kostendruck durch Rücken-
für die Schmerztherapie, die Deutsche Schmerzgesell- schmerzen ist es unverständlich, warum IV-Projekte und
schaft, hat früh die Diskussion aufgenommen und IV-Pro- andere Initiativen nicht stärker beachtet und gefördert
jekte für Patienten mit Rückenschmerzen vergleichend werden.
diskutiert. Auch in der Folge wurde immer wieder die Die integrierte Versorgung kann ähnlich der Ver-
wissenschaftliche Darstellung auf dem jährlichen Schmerz- sorgungsforschung wichtige Daten liefern, z. B. zur Ver-
kongress ermöglicht und die transparente Datenpräsenta- teilung von Risikofaktoren in einer Zielpopulation oder
tion eingefordert. Entscheidend wird auch in Zukunft die zur Nachhaltigkeit von Therapieformen, was in stufen-
Transparenz der Konzepte sein, auf diesen basierend eine weisen Versorgungsprozessen große Anforderungen an
Zieldiskussion und davon abhängend ihre Wertschätzung die Datenorganisation stellt. Diese Nachweise wurden auf-
in Kosten- und Nutzen-Relation. seiten der Versorger erbracht und haben Eingang in die
Formulierung z. B. der Nationalen Versorgungsleitlinie
gefunden.Die IV kann konzeptionell mitarbeiten, müsste
53.8 Fazit aber auch mehr beachtet und in den Versorgungsalltag
übertragen werden.
IV-Konzepte können Lücken von Leitlinien (Leitlinien- Die aktuelle Prioritätensetzung von IV-Projekten bei
Clearingbericht zu Leitlinien bei Rückenschmerzen) in der Rückenschmerzpatienten mit erhöhter Chronifizierungs-
genauen Ausgestaltung aufarbeiten und schließen. Es gibt gefahr ist wegen der Begrenzung auf eine kleinere Ziel-
jedoch auch inhaltliche und zeitliche Vorgaben (z. B. 4 Wo- gruppe und des begrenzten Organisationsaufwands
chen lang keine Bildgebung, dann ggf. weitere Diagnostik), sinnvoll. Diese ausgewählten Patienten werden durch die
die nicht umgesetzt werden, obwohl sie in den Leitlinien Zuweisung von Krankenkassen nach einigen Wochen
enthalten sind. Dafür mag es im Einzelnen Gründe geben, Arbeitsunfähigkeit deutlich früher einer systematischen
die in fächerübergreifenden Diskussionen bei der Bertels- multimodalen interdisziplinären Schmerztherapie zuge-
mann Stiftung und der NVL vorgetragen wurden und die führt als bisher üblich. Patienten sollen dann nach einem
die endgültigen Texte als Kompromisslösung entstehen ausführlichen interdisziplinär-multimodalen Assessment
ließen. risikoadaptiert in die Therapie unterschiedlicher Intensität
Solche Konzeptdiskussionen sind sowohl Chancen als gesteuert werden.
auch Aufgaben für Integrationsversorgungsprojekte. Denn Allerdings müssen weitere wissenschaftliche und orga-
hier werden außerhalb der Regelversorgung und ihren nisatorische Voraussetzungen geschaffen werden, um
Bedingungskonstellationen sinnvolle Angebote für eine qualitativ hochwertige interdisziplinär-multimodale
Rückenschmerzpatienten mit Versorgungspartnern und Diagnostik »Assessment« und eine ggf. intensive Therapie
Krankenkassen verhandelt. umzusetzen. Das Assessment ist bezüglich des Untersu-
Nachteilig sind aufseiten der Leistungserbringer der chungsgangs, der Dokumentation und der prognostischen
Aufwand für die Konzeptdiskussion und die Vertrags- Bedeutung sowie für den Einzelfall einer schwierigen Aus-
verhandlungen, die notwendige laufende Betreuung und gangssituation zu vereinheitlichen und wissenschaftlich
die Qualitätssicherung des Projekts, während die Regel- aufzuarbeiten, während die intensive multimodale Thera-
588 Kapitel 53 · Integrierte Versorgung für Patienten mit Rückenschmerzen

pie mit dem Göttinger Rücken-Intensiv-Programm 10. Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung (2010) Neue
Wege in eine qualitätsgesicherte, transparente und nachhaltige
(GRIP) [21] gut begründet ist.
Gesundheitsversorgung. 7. DGiV-Bundeskongress. http://www.
Die Umsetzung von Leitlinien vom ersten Arztbesuch dgiv.org/cmsMedia/Downloads/Veranstaltungen/dgiv_flyer_v42.
wegen Rückenschmerzen an müsste durch größere An- pdf. Zugegriffen: 8. September 2015
strengungen von allen beteiligten Versorgungspartnern 11. Diemer W, Burchert H (2002) Chronische Schmerzen – Kopf- und
angegangen werden, ein regionales IV-Programm reicht Rückenschmerzen, Tumorschmerzen. Gesundheitsberichterstat-
tung des Bundes, Heft 7. http://www.rki.de/DE/Content/Gesund-
hierfür nicht aus.
heitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsT/
Die Vertragspartner, Versorger und Krankenkassen schmerz.pdf?__blob=publicationFile. Zugegriffen: 8. September
müssen investieren, um die Versorgung zu verbessern und 2015
ggf. zu sparen [16]. Dabei müssten sie parallel zur Prüfung 12. Dietl M, Korczak D (2011) Versorgungssituation in der Schmerz-
von IV-Konzepten die Effektivität (und Kosten) der übli- therapie in Deutschland im internationalen Vergleich hinsichtlich
chen Therapieverfahren prüfen. Über-, Unter- und Fehlversorgung. Herausgegeben von Dimdi
(HTA-Bericht). http://portal.dimdi.de/de/hta/hta_berichte/
Für alle Beteiligten müssen Nutzen, Pflichten und
hta301_bericht_de.pdf. Zugegriffen: 8. September 2015
mögliche Kosteneinsparungen transparent sein. 13. Expertenpanel »Rückenschmerz« (2007a) Gesundheitspfad
Rücken. Innovative Konzepte zur Verbesserung der Versorgung
von Patienten mit Rückenschmerzen. Leitfaden für Entscheider
Literatur und Gestalter. Hrsg. von Bertelsmann Stiftung. http://www.
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591 54

Lendenwirbelsäulenbegutachtung
J. Kuhn

54.1 Auftrag zur Begutachtung und Fragestellung – 592

54.2 Allgemeine Grundlagen der Begutachtung – 592

54.3 Besonderheiten in der Begutachtung – 593


54.3.1 Unterlagen der Vorbefunde – 593
54.3.2 Anamnese – 594
54.3.3 Untersuchung bei nichtspezifischen Kreuzschmerzen – 595

54.4 Diagnose – 595

54.5 Beurteilung – 596

54.6 Grundlegende Schwierigkeiten


einheitlicher Begutachtung – 596

Literatur – 597

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_54, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
592 Kapitel 54 · Lendenwirbelsäulenbegutachtung

Die Begutachtung chronischer bzw. chronifizierter Rücken- werden und ein weiteres Gutachten, z. B. zur Frage
schmerzen ist eine interdisziplinäre Aufgabe und erfordert psychischer Erkrankungen, empfohlen werden.
Kompetenz in der Beurteilung sowohl körperlicher als auch 2. Explizit juristische oder verwaltungstechnische
psychischer Störungen. Zur sicheren Bewertung des Sach- Fragestellungen sind vom ärztlichen Gutachter ab-
verhalts können daher weitere diagnostische Maßnahmen zulehnen. Zum Beispiel ist die Frage nach Verweis-
oder eine Zusatzbegutachtung durch andere Fachgebiete tätigkeiten für arbeitsunfähige Probanden keine
erforderlich sein. Ein »Schmerzgutachten« setzt eine inter- medizinische Fragestellung, da für den Gutachter die
disziplinäre Befundung und Beurteilung voraus, die ent- Frage, inwieweit der Arbeitsmarkt abstrakt oder
sprechend einem Assessment z. B. orthopädische, neuro- konkret verschlossen ist, nicht zu beantworten ist
logische und psychotherapeutische Beteiligung erfordert. [5, S. 6].
Die schmerztherapeutische Begutachtung betrifft vor- 3. Neutralität des Gutachters ist eine wesentliche Vor-
nehmlich vorsorgungsärztliche Gutachten des Sozialent- aussetzung für die Qualität des Gutachtens [5, S. 5].
schädigungsgesetzes und des Schwerbehindertengesetzes. 4. Eine zeitnahe Begutachtung je nach Umfang des
Zivilrechtliche und strafrechtliche Aspekte gewinnen aller- Auftrags – bis zu 3 Monate sind für das Sozialge-
dings zunehmend an Bedeutung. richt akzeptabel – muss im Interesse des Auftragge-
bers erfolgen [5, S. 5]. Begutachtungen nach zu
langer Zeit sind nutzlos. Hat der Gutachter keine
54.1 Auftrag zur Begutachtung Kapazitäten, sollte er den Auftrag ablehnen.
und Fragestellung 5. Eine nachvollziehbare Begutachtung setzt einen
logischen Aufbau der Begutachtung voraus, wobei die
Begutachtungen von Kreuzschmerzen werden in großer einzelnen Kapitel der Begutachtung sich aufeinander
Zahl für die gesetzliche Krankenversicherung, die Renten- beziehen müssen. Die Fragestellung ist der »rote
54 versicherung, die Berufsgenossenschaften und die Sozial- Faden« und verknüpft die einzelnen Abschnitte der
gerichte angefertigt, zudem sind Gutachten wegen der Begutachtung miteinander.
Verletzung der ärztlichen Sorgfaltspflicht, Haftpflichtschä- 6. Für den Auftraggeber ist eine adäquate, lesbare und
den, als Aufträge der gesetzlichen Unfallversicherung und verständliche Begutachtung erforderlich. Die Beur-
aus anderen Gründen zu bearbeiten. teilung muss auch für den Richter oder für Ver-
Ansteigende Sozialversicherungsleistungen und damit waltungsangestellte nachvollziehbar sein. In der
Kostensteigerungen wegen somatoformer Schmerzen sind Befunderhebung sind jedoch dem Laien teilweise
ein zunehmendes Problem [3, S. 249]. Es muss »unter dem nicht verständliche Fachausdrücke erforderlich, um
Aspekt der dringend erforderlichen Gleichbehandlung eine adäquate Beschreibung des Sachverhalts zu er-
aller Versicherten versucht werden, eine einheitliche Linie möglichen.
in der Bewertung« zu erreichen [4, S. 3]. Gleichwohl haben 7. Der Gutachter ist der kritische Beurteiler, der die
die Gutachter unterschiedliche Qualifikationen, Sicht- verschiedenen Interessenlagen von Auftraggeber,
weisen und einen gewissen Ermessensspielraum. Proband und Dritten (Angehörigen) berücksichtigt
Die einzelnen, gesetzlich zum Teil sehr verschiedenen und Beeinflussungsversuche zurückweist. Zu beach-
Grundlagen und Rechtsbegriffe sind zu berücksichtigen ten ist der mögliche sekundäre Krankheitsgewinn,
[2]. Beispiel: »Berufsunfähigkeit« ist in der gesetzlichen z. B. ein finanzieller Vorteil für den Auftraggeber oder
Rentenversicherung anders definiert als in der privaten den Probanden. Hinweise auf finanzielle Notlagen
Berufsunfähigkeitsversicherung. Entsprechend verschie- sind in der Bewertung der geschilderten Symptome
den sind Fragestellung und Begutachtungsaufwand. zu berücksichtigen. Gleichwohl sollten dem Pro-
banden bei kritischer Würdigung aller Informationen
die versicherten Leistungen bei entsprechenden
54.2 Allgemeine Grundlagen medizinischen Voraussetzungen nicht vorenthalten
der Begutachtung werden.
5 Beispiel: Wenn eine kleine Firma schlecht läuft
Der ärztliche Gutachter hat grundsätzlich eine andere Stel- und nur noch mit dem Krankengeld des Firmen-
lung als der ärztlich Behandelnde. Folgende Bedingungen inhabers erhalten werden könnte, kann der Pro-
und Nutzen der Begutachtung sind von Bedeutung: band versuchen, eine Versicherung abzuschließen,
1. Fachliche Qualifikation: Gutachtenaufträge, die durch die eine Gesundheitsprüfung voraussetzt. Dann
die eigene Qualifikation nicht abgedeckt sind, sollte könnten im Sinne einer Dissimulation Symptome
der Gutachter zurückgeben [5, S. 5]. Gegebenenfalls und Beschwerden sowie wesentliche Angaben in
muss die Grenze der eigenen Begutachtung dargestellt der Anamnese verschwiegen werden, um Leistun-
54.3 · Besonderheiten in der Begutachtung
593 54
gen zu erlangen, die vom Versicherer in Kenntnis gen vertraut machen. Zum Beispiel ist der Berufs-
der Vorerkrankungen ausgeschlossen wären. schutz durch den Rentenversicherungsträger bei Ver-
8. Divergenzen sind im Gutachten besonders deutlich sicherten, die nach dem 01.01.1961 geboren wurden,
und möglichst wertneutral darzustellen. anders geregelt: Ein Wirt, der gelegentlich Bierfässer
5 Beispiel 1: Ein Proband gibt an, keine mittel- tragen muss, dies jedoch wegen Kreuzschmerzen
schweren oder schweren Tätigkeiten verrichten zu nicht mehr kann, erlangt keinen Berufsschutz, da er
können. Dem steht im Befund eine ausgeprägte überwiegend leichte bis mittelschwere Tätigkeiten als
Beschwielung der Hände entgegen, was eine Geschäftsführer, Kellner oder an der Theke ausüben
schwere körperliche Arbeit voraussetzt. Die an- kann. Ist er jedoch vor dem 01.01.1961 geboren, so
amnestischen Angaben und der Befund stimmen würde ihm eine Berufsunfähigkeitsrente zustehen.
nicht überein. Dies ist in der Beurteilung be- Von Bedeutung können auch einzelne vertragliche
sonders kritisch zu berücksichtigen. Gestaltungen sein, beispielsweise in der privaten Be-
5 Beispiel 2: Der Proband gibt in der Prüfung nach rufsunfähigkeitsversicherung.
Lasègue einen Schmerz bei 40° an. Bei Über- 13. Eine angemessene Antwort auf die Fragestellung
prüfung kann er aber im Langsitz mit ausgestreck- muss in der Beurteilung und Zusammenfassung des
ten Beinen aufrecht auf der Liege sitzen, was einem Gutachtens formuliert werden. Dies muss im Zusam-
Lasègue von 90°, also einem Normalbefund, ent- menhang mit Vorbefunden und Anamnese erfolgen,
spricht. Damit ist eine Ischialgie nahezu ausge- wodurch der »rote Faden« der Begutachtung darge-
schlossen. stellt wird (z. B. positives und negatives Leistungsbild;
5 Beispiel 3: Der Proband gibt Schmerzen in der »zumutbare Willensanspannung«).
Seitrotation der Halswirbelsäule bei 30/0/30° an.
Nach Ablenkung, beispielsweise durch gezielte
Vertiefung der Anamnese, ist eine schmerzfreie 54.3 Besonderheiten in der Begutachtung
Seitrotation der HWS von 70/0/70° möglich.
5 Fazit: Wenn Befunde in der Nachuntersuchung Zur allgemeinen Erhebung von Anamnese und Befund
um mehr als 30 % abweichen, sind falsche Anga- wird auf 7 Teil IV, »Diagnostik«, verwiesen. Im Einzelfall
ben anzunehmen. kann weitere bildgebende und sonstige Diagnostik für die
9. Ein angemessener Aufwand der Begutachtung orien- Begutachtung erforderlich sein.
tiert sich an der Fragestellung und den Erwartungen
des Auftraggebers. Im Einzelfall kann auch ein gerin-
ger Streitwert eine aufwendige Grundsatzbegutach- 54.3.1 Unterlagen der Vorbefunde
tung erforderlich machen.
10. Ein Bezug auf die aktuelle Fachliteratur, auf Begut- In der Begutachtung sind zunächst die vorliegenden
achtungsleitlinien und den Stand der medizinischen Befunde, die bildgebende Diagnostik, Krankenhausentlas-
Wissenschaft ist Voraussetzung für die Qualität des sungsberichte, Abschlussberichte von Rehabilitations-
Gutachtens. maßnahmen, Haus-und Facharztberichte, sonstige Unter-
11. Ein biopsychosozialer Ansatz in der Begutachtung suchungsbefunde wie elektrophysiologische Diagnostik,
unter Berücksichtigung der Teilhabestörungen psychologische Befunde und andere zu sichten.
(ICF = International Classification of Functioning) > In der Begutachtung sind diese Unterlagen zu
sollte in der Begutachtung Standard sein. Insbesonde- gewichten und auf Plausibilität zu prüfen. Befunde,
re muss der Gutachter, je nach Fragestellung, Wert auf die erheblich vom Gesamtbild der Unterlagen ab-
die Kontextfaktoren legen. Diese werden unter- weichen, sind besonders kritisch zu würdigen. Es
schieden nach persönlichen und umweltbezogenen kommen durchaus widersprüchliche und einander
Kontextfaktoren: Persönliche Kontextfaktoren sind ausschließende Aussagen vor. Häufig überschätzt
Alter, Geschlecht, Ausbildung, Motivation, Umstel- werden Röntgenbilder.
lungsfähigkeit, Komorbidität und andere. Umwelt-
bezogene Kontextfaktoren sind Arbeitsplatz, Haltung Altersentsprechend normale Veränderungen des Bewe-
des Arbeitgebers, Familie, sonstiges soziales Umfeld, gungsapparats werden oft als »Verschleiß« bezeichnet und
Wohnumfeld etc. als vermeintliche Ursache der Schmerzen ausgegeben. Dies
12. Begutachtungen müssen in Übereinstimmung mit wird vom Probanden gern angenommen und mit der
den Gesetzen und maßgeblichen Richtlinien, z. B. des Auffassung, »man habe sich das Kreuz kaputt gearbeitet«,
Gemeinsamen Bundesausschusses, erfolgen. Der Gut- verbunden. Daraus leiten viele Betroffene finanzielle
achter muss sich dazu mit den einschlägigen Regelun- Ansprüche an den entsprechenden Leistungsträger (z. B.
594 Kapitel 54 · Lendenwirbelsäulenbegutachtung

Rentenversicherung) ab. Insbesondere Sklerosierungen der Angestellter« im einen Fall eine leichte Bürotätigkeit im
Wirbelkörperdeckplatten (Osteochondrose), knöcherne öffentlichen Dienst bedeuten, im anderen Fall eine Tätig-
Anlagerungen am Wirbelkörper (Spondylose), Bandschei- keit unter großer psychischer und physischer Belastung
benvorwölbungen und Veränderungen der Zwischenwir- beim weltweiten Aufbau von Industrieanlagen. Im Einzel-
belgelenke werden als Schmerzursache angeschuldigt. Dem fall kann eine Arbeitsplatzbeschreibung vorliegen, die
steht entgegen, dass die Schmerzen in Lokalisation und kritisch zu hinterfragen ist. Hilfreich sind oft Mitteilungen
Intensität wechseln, während die physiologischen Alte- des Werksarztes. Direkte Kontakte des Gutachters mit dem
rungsprozesse der Wirbelsäule über Jahre hin nahezu un- Arbeitgeber verbieten sich wegen der ärztlichen Schweige-
verändert sind. Bandscheibenvorwölbungen (Protrusio- pflicht.
nen) werden häufig bei fehlenden radikulären Symptomen > Besondere Beachtung verdient eine genaue
fälschlich als Schmerzursache bezeichnet. Demgegenüber Schmerzanamnese [4], die vegetative Anamnese
sind Bandscheibenvorfälle mit radikulärer Ausstrahlung und die Medikamentenanamnese – hier besonders
Grundlage für weitere therapeutische Entscheidungen und die aktuelle Medikation und die Strategien der
begründen beispielsweise weitere Arbeitsunfähigkeit oder Krankheitsbewältigung.
sogar Berufsunfähigkeit.
Neurologische, insbesondere elektrophysiologische Wichtig zur Abgrenzung von Kreuzschmerzen und soma-
Untersuchungen zur Bestimmung von Nervenläsionen toformen Schmerzstörungen ist die Beschreibung psycho-
sind wertvoll, da sie Beschwerden der Probanden objekti- somatischer Symptome (7 Übersicht).
vieren und therapeutische und gutachtliche Konsequenzen
haben.
Psychosomatische Symptome
Nach umfassender Sichtung und Zusammenfassung
5 Interesseverlust
der Aktenlage ist zu entscheiden, ob die Fragestellung eine
5 Freudlosigkeit
54 Begutachtung nach Aktenlage plausibel erscheinen lässt.
5 Geringer Antrieb
Die Formulierung des Gutachtenauftrags ist zu berück-
5 Vermehrte Ermüdbarkeit
sichtigen. Dies ist dann der Fall, wenn umfangreiche,
5 Konzentrationsstörungen
qualitativ hochwertige und konsistente Unterlagen eine
5 Minderung des Selbstwertgefühls
gutachtliche Beantwortung ohne Untersuchung des Pro-
5 Schuldgefühle
banden ermöglichen. Insbesondere bei Fragestellungen,
5 Schlafstörungen (mit quantitativer Angabe zu
die die Beurteilung zeitlich weit zurückliegender Sachver-
Ein- und Durchschlafstörungen, Wachzeiten,
halte fordern, kann eine Untersuchung des Probanden
Aufwachen)
nicht mehr zielführend sein. Zum Beispiel: Wenn eine
5 Vermehrte Unruhe
Arbeitsunfähigkeit, die Jahre zurückliegt, im Sozial-
5 Verstärkte Reizbarkeit
gerichtsverfahren zu bewerten ist, kann eine aktuelle
5 Aufgehobene Tagesstruktur
Befunderhebung wegen inzwischen völlig anderer Krank-
5 Sozialer Rückzug
heitssituation überflüssig sein bzw. hinsichtlich der Frage-
stellung zu falschen Bewertungen führen.
In der Anamnese sollten die Einschränkungen in Alltag
und Beruf erfragt werden. Auch bei begrenzter Verwert-
54.3.2 Anamnese barkeit ist von Interesse, wie weit oder, besser, wie lange der
Proband laufen kann (15 min entsprechen etwa 1 km) und
Die Untersuchung des Probanden beginnt mit einer diffe- welche Gegenstände – z. B. eine Kiste mit Getränken – er
renzierten Anamnese. Nach allgemeiner Anamnese der im heben kann. Auf Diskrepanzen ist besonders zu achten.
Mittelpunkt stehenden Erkrankung sind die sonstigen So kann es sein, dass leichte berufliche Tätigkeiten als
Erkrankungen, die Familienanamnese einschließlich der unüberwindbares Hindernis dargestellt werden, gleich-
aktuellen Lebenssituation und die genaue Sozialanamnese zeitig aber über die mit Freude durchgeführte schwere
aufzuzeichnen. Gartenarbeit berichtet wird. In der Fremdanamnese sind
In der Sozialanamnese ist die genaue Beschreibung Äußerungen von Angehörigen festzuhalten. Besondere
der Tätigkeit erforderlich. Die Angabe »technischer Ange- Berücksichtigung verdient die kulturtypische Beschwerde-
stellter« oder »Reinigungskraft« ist ungenau und lässt eine darstellung, wobei der Begriff »Schmerz« soziales oder
weite Interpretation zu. familiäres Leid oder psychische Belastungen ausdrücken
Besonders bei Gutachten zur Arbeitsunfähigkeit sind kann [4, S. 225–239]
präzise Beschreibungen der Tätigkeit und der damit ver-
bundenen Belastungen notwendig. So kann »technischer
54.4 · Diagnose
595 54
54.3.3 Untersuchung bei nichtspezifischen Bewegungsabfolge, die eher unbewusst verläuft und Auf-
Kreuzschmerzen schluss über das tatsächliche Bewegungsausmaß geben
kann.
Von den nichtspezifischen Kreuzschmerzen sind die Auch sollten Schmerzangaben in Bezug auf die Be-
nachweisbar somatischen Erkrankungen der Wirbelsäule weglichkeit bei Ablenkung überprüft werden. Diskrepan-
– wie z. B. Bandscheibenvorfall, Trauma, Entzündung oder zen sind darzustellen. Beispielsweise kann ein Schmerz bei
Tumor – abzugrenzen. Diese sollen im Weiteren nicht einem Finger-Boden-Abstand von 40–60 cm angegeben
erörtert werden. Abzugrenzen sind auch weichteilrheuma- werden, während im Langsitz der Abstand Finger–Zehen
tische Syndrome und Schmerzstörungen, bei denen mehr nur noch 10 cm beträgt. Hier besteht der erhebliche Ver-
oder weniger alle Körperregionen vom Schmerz betroffen dacht, dass der Patient Schmerzangaben macht, die bei
sind. Überprüfung nicht nachvollziehbar sind (vgl. oben).
Bei der Befunderhebung bestimmen die Schmerzen Gleiches gilt für die neurologische Untersuchung.
die Beschwerden [1]. Das Ausmaß der Schmerzen ist nicht Wenn der Patient über seitengleich kräftige Muskulatur
quantifizierbar. Auch Schmerzskalen und Befragungs- und normale Reflexe verfügt, kann eine beklagte ausge-
instrumente geben die subjektive und zuweilen verfälschte prägte einseitige Muskelschwäche durch den Befund nicht
Darstellung des Probanden wieder und sind nicht objekti- nachvollzogen werden [4, S. 248].
vierbar. Notwendig ist es, bei den Probanden Folgendes zu
> Nur die kritische Wertung der anamnestischen An-
unterscheiden:
gaben zu den täglichen Aktivitäten, der Medikation,
1. willentlich falsche Angaben des Probanden;
der bisherigen Behandlung und die Wertung des
2. eine dissoziative Störung mit zum Teil jahrelanger
Untersuchungsbefunds lassen eine gutachtliche
Inanspruchnahme medizinischer Leistungen, bei der
Abschätzung der Schmerzintensität zu.
unbewusste Beschwerdeangaben im Rahmen einer
neurotischen Symptomatik festzustellen sind;
Die Begutachtung findet meist nach längerer Krankheits- 3. eine Verdeutlichung (unbewusst): Der Proband hat
dauer in einer Phase der Chronifizierung statt (Vergleiche den Wunsch, dem Gutachter seine Beschwerden ein-
hierzu auch 7 Teil IV, »Diagnostik«). Vorangestellt wird dringlich darzulegen, was verständlich ist. Dies ist
die organorientierte Untersuchung der Wirbelsäule mit kulturabhängig (z. B. Asiaten im Vergleich zu Proban-
Messung des Bewegungsausmaßes nach der Neutral- den aus Mittelmeerländern).
0-Methode [8, S. 375–381]:
4 Inspektion: Beweglichkeit beim Betreten des Ge- All die Diskrepanzen, aber auch die nachvollziehbaren
bäudes bzw. des Raums, beim Hinsetzen, beim Be- Symptome und Schmerzen sind in einer kritischen Beur-
und Entkleiden, beim Legen auf die Untersuchungs- teilung zusammenzufassen, ebenso die Aggravation bzw.
liege, Ausbildung der Muskulatur, Beckengradstand, die »Feststellung einer bewusstseinsnahen oder bewussten
Biegungen der Wirbelsäule, Schultergradstand, Begehrenstendenz« [4, S. 248].
Atrophien, Schmerzäußerungen, Bewegungsein- Zur Differenzialdiagnose können Kriterien nach
schränkungen, ggf. Verhalten von Angehörigen . Tab. 54.1 herangezogen werden.
4 Palpation der Muskulatur (Schulter, Wirbelsäule,
Rumpf), der Gelenke (Schulter, Hüfte) und der
knöchernen Teile der Wirbelsäule und des Rumpfs, 54.4 Diagnose
ggf. Palpation von »tender points« (obgleich das Kon-
zept der Fibromyalgie nicht von allen Fachrichtungen Dem Gutachter fällt die Aufgabe zu, die für die Frage-
anerkannt wird) stellung wichtigste Diagnose an die erste Stelle zu rücken
4 Messung der Beweglichkeit der HWS (Seitrotation, und weitere Diagnosen in der Reihenfolge ihrer Bedeutung
Seitneigung, Kinn-Sternum-Abstand, Hinterkopf- aufzuführen.
Wand-Abstand), der BWS (Atembreite, Ott) und der Diagnosen, die im Rahmen der Begutachtung wie auch
LWS (Seitrotation, Seitneigung, Schober, Finger- als Kontextfaktoren unerheblich sind, sollten vernach-
Boden-Abstand) lässigt werden und keinesfalls unkritisch aus Fremdbe-
4 Orientierende neurologische Untersuchung (vgl. funden übernommen werden. Sofern der Gutachter zu
7 Teil IV) dem Ergebnis kommt, dass psychiatrische Diagnosen im
Vordergrund stehen, kann er die bislang führenden
Signifikante Einschränkungen der Beweglichkeit müssen muskuloskeletalen Diagnosen verlassen und aufgrund von
mit der Beweglichkeit des Probanden beim Be- und eigener Anamnese und Befunderhebung entsprechend die
Entkleiden verglichen werden. Hier erfolgt eine komplexe führende Diagnose festlegen [7].
596 Kapitel 54 · Lendenwirbelsäulenbegutachtung

. Tab. 54.1 Kriterien zur Differenzialdiagnose

M 54.5 Kreuzschmerz (Lumbago o. n. A.; Lendenschmerz, F 45.4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung


Überlastung in der Kreuzbeingegend; ICD-10-GM-2010 [10]) (ICD-10-GM-2010 [10]; DSM-IV-TR [9])

Wechselhafte, bewegungsabhängige Schmerzintensität Andauernder, schwerer und quälender Schmerz

Eher lokale Schmerzangabe (z. B. lumbal) Multiple Schmerzangaben (z. B. gesamte Wirbelsäule und
Kopfschmerzen und Gliederschmerzen)

Analgetisch beeinflussbare Schmerzsymptomatik Therapeutisch schlecht beeinflussbar

Beim unspezifischen Kreuzschmerz keine organische Läsion Durch organische Läsion nicht erklärbar (Ausschluss organischer
Ursachen)

Zum Teil Verknüpfung mit lokalem Trauma (z. B. Sturz auf den Verknüpfung mit psychischen Belastungen oder Traumata
Rücken)

Circa 90 % Spontanheilung, seltenere Tendenz zur Hohe Neigung zur Chronifizierung (nach 6 Monaten)
Chronifizierung

Gesteigerte Inanspruchnahme medizinischer Leistungen

Ausgeglichen, zum Teil durch Schmerzen gedrückte Stimmung Deprimierte, traurige Stimmung [7, S. 89]

Gesteigertes Bedürfnis nach sozialer Hilfe

Keine Simulation bzw. absichtliche Schmerzäußerungen [3, S. 140]

54
54.5 Beurteilung > In der Praxis gibt es eine große Varianz in der
Beurteilung, und es bleibt dem einzelnen Gutachter
Ausgehend von den Vorbefunden sind die Ergebnisse der und seiner subjektiven Beurteilung überlassen,
eigenen Anamneseerhebung und Untersuchung konsistent für wen eine Erwerbsunfähigkeitsrente oder
zusammenzufassen. Diskrepanzen von Vorbefunden und Leistungen zur Teilhabe empfohlen oder abgelehnt
ggf. vorangegangenen Gutachten – wie auch Diskrepanzen werden. Auch im Sozialgerichtsverfahren besteht
im Untersuchungsgang – sind darzustellen und nachvoll- das gleiche Problem. Vor diesem Hintergrund ist
ziehbar zu bewerten. es Ziel weiterer Forschung, eine größere Standardi-
Die wesentlichen Diagnosen und die entsprechenden sierung und Objektivität ärztlicher Gutachten zu
Einschränkungen des Probanden sind aus den Fremd- und erreichen.
Eigenbefunden abzuleiten. Das Gutachten sollte gleich ei-
nem roten Faden von der Fragestellung über die Fremdbe- Die Häufigkeit der Kreuzschmerzen in der Erwerbs- und
funde, die Anamnese, die Untersuchung und die Diagnose Berufsunfähigkeitsstatistik macht eine möglichst objektive
in der Beurteilung, der Zusammenfassung und der Beant- und nachvollziehbare Begutachtung notwendig, auch hin-
wortung der Fragestellung zu einem konsistenten Gesamt- sichtlich der Kosten für die Versicherungen und andere
werk zusammenwachsen. Es muss für den Nichtmediziner Leistungsträger. Derzeit muss jedoch von einer wenig
allgemein verständlich formuliert sein. nachvollziehbaren Beurteilung und von großer interindi-
vidueller Varianz hinsichtlich der Begutachtungsparame-
ter ausgegangen werden.
54.6 Grundlegende Schwierigkeiten
einheitlicher Begutachtung Mein Dank gilt dem Geschäftsführer des MDK Hessen,
Herrn Dr. Dr. Gnatzy, und dem Leitenden Arzt, Herrn
Die Struktur ärztlicher Gutachten variiert stark. Erste wis- Dr. van Essen, für ihre jeweilige Unterstützung, und Frau
senschaftliche Schritte werden unternommen, um die Be- Dr. Hoell für die Literaturrecherche und beschaffung.
gutachtung von lumbalen Rückenschmerzen und somato-
formen Schmerzen zu objektivieren. Ob ICF-Core-Sets
»eine größere Standardisierung und Objektivität von ärzt-
lichen Gutachten« ermöglichen, bleibt abzuwarten [6].
Literatur
597 54
Literatur

1. AWMF (2007) Leitlinie für die ärztliche Begutachtung von


Menschen mit chronischen Schmerzen. Reg.-Nr. 030/102:1–19
http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030_102k_S2k_
Begutachtung_von_Schmerzen_052012-122016_01.pdf.
Zugegriffen: 14. Oktober 2015
2. Erlenkämper A (2009) Zentrale Rechtsbegriffe. In: Rompe G,
Erlenkämper A et al (Hrsg) Begutachtung der Haltungs- und
Bewegungsorgane. Thieme, Stuttgart, S 5–34
3. Fauchère P A (2008) Somatoformer Schmerz. Huber, Bern
4. Hausotter W (2004) Begutachtung somatoformer und
funktioneller Störungen. Elsevier, München, S 64–70
5. Keller F (2002) Anforderungen an ärztliche Gutachten aus
sozialrichterlicher Sicht. Med Sach 98:4–9
6. Kirschneck M, Winkelmann A et al (2008) Anwendung der ICF
Core Sets in der Begutachtung von Patienten mit lumbalen
Rückenschmerzen und generalisiertem Schmerzsyndrom.
Gesundheitswesen 70:674–678
7. Müssigbrodt H, Kleinschmidt S et al (Hrsg) (2006) Psychische
Störungen in der Praxis. Huber, Bern
8. Rompe G (2009) Befunderhebung an Hals und Rumpf. In: Rompe
G, Erlenkämper A et al (Hrsg) Begutachtung der Haltungs- und
Bewegungsorgane. Thieme, Stuttgart, S 375–381
9. Saß H, Wittchen HU et al (Hrsg) (2008) Diagnostisches und
statistisches Manual psychischer Störungen – Textrevision – DSM-
IV-TR. Hogrefe, Göttingen
10. WHO, DIMDI Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation
und Information (2010) ICD-10-GM-2010. https://www.dimdi.de/
static/de/klassi/icd-10-gm/kodesuche/onlinefassungen/htm-
lgm2010/. Zugegriffen: 14. Oktober 2015
599 55

Halswirbelsäulenbegutachtung
F. Schröter

55.1 Historisches – 600

55.2 Hypothetische Erklärungsversuche – 601

55.3 Bildgebende Diagnostik – 603

55.4 Radiologische Hypothesen – 603

55.5 Folgen hypothetischer Diagnosen – 604

55.6 Gesicherte Erkenntnisse – 604

55.7 Crashversuche und Rechtsprechung – 606

55.8 Schweregradeinteilungen – 606

55.9 Beweisrechtliche Aspekte – 608

55.10 Bedeutung vorbestehender Veränderungen – 610

55.11 Praktische Begutachtung – 610

55.12 Verhalten des Unfallbeteiligten unmittelbar nach Unfall – 611

55.13 Erstbefund – 612

55.14 Lösung des Kausalitätsproblems – 612

55.15 Gutachtliche Systematik – 612

55.16 Häufige gutachtliche Fehler – 614

55.17 Resümee – 614

55.18 Zusammenfassung – 614

Literatur – 615

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_55, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
600 Kapitel 55 · Halswirbelsäulenbegutachtung

Die gutachtliche Feststellung einer Behinderung oder auch vom Erwartungshorizont des behandelnden Arztes.
körperlichen Leistungsbeeinträchtigung, die aus einer Dies gilt im besonderen Maße für die so überaus häufige
Erkrankung oder Verletzung der Halswirbelsäule resultiert, stressinduzierte Anfangssymptomatik ohne tatsächlich
sollte für einen orthopädischen Facharzt selbst ohne eingetretene Verletzung. Diese Probleme fokussieren sich
spezielle gutachtliche Fortbildung einfach zu bewältigen förmlich in der Thematik »HWS-Schleudertrauma«, bei
sein. Sehr viel aufwendiger und schwieriger gestaltet sich dem fast ausnahmslos der klinische, neurologische und
jedoch die gutachtliche Beurteilung einer Kausalitätsver- radiologische Verletzungsnachweis misslingt, aber die sub-
knüpfung zwischen Unfalleinwirkung und nachfolgend be- jektive Symptomenentwicklung seit dem Unfall die Frage
stehenden Halswirbelsäulenbeschwerden ohne fassbares aufwirft, ob diese auch durch den Unfall verursacht ist.
organpathologisches Korrelat. Der vorliegende Beitrag soll Betrachtet man die Entwicklung der – nicht immer
speziell für diese gutachtliche Problematik Hilfestellungen wissenschaftlich-analytisch geprägten – medizinischen,
geben, gestützt auf den derzeitigen Stand der wissenschaft- aber auch juristischen Diskussion, so wird deutlich, dass
lichen Erkenntnisse. – Bei strukturellen Verletzungen der die Vorstellung vom »Schleudertrauma« in den Köpfen
Halswirbelsäule bereitet die gutachtliche Beurteilung kaum von Medizinern, Juristen und betroffenen Personen etwa
Probleme, da hierbei letztendlich nur die eingetretenen bis zur Jahrtausendwende geprägt wurde von Hypothesen
Dauerfolgen einer Bemessung unterzogen werden müssen und eigenwilligen Überzeugungen, verdichtet zu ver-
– in verschiedenen Rechtsbereichen nach unterschiedlichen meintlich schlüssigen Krankheitskonzepten, die ganz
rechtlichen Vorgaben. Diese Art der Begutachtung unter- banale, aber gesicherte pathophysiologische Erkenntnisse
scheidet sich kaum vom gutachtlichen Prozedere nach Ver- förmlich überrannten, als hätte es sie nie gegeben.
letzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule.

Der Auftrag zur Erstellung eines ärztlichen Gutachtens ba- 55.1 Historisches
siert stets auf der Notwendigkeit, einen nicht eindeutigen
medizinischen Sachverhalt so weit zu klären, dass damit Mit dem Bau der Eisenbahnen und ihrer raschen Ver-
eine Entscheidung des Auftraggebers über die Anwend- breitung wurden die Chirurgen konfrontiert mit unge-
55 barkeit einer Rechtsnorm auf einen medizinischen Sach- wöhnlichen Verletzungsbildern infolge von Eisenbahnun-
verhalt möglich wird. Eindeutige Sachverhalte bedürfen fällen, die seinerzeit – ohne die erst 40 Jahre später einge-
einer solchen gutachtlichen Klärung nicht, da in diesen führte Röntgendiagnostik, ohne elektrophysiologische
Fällen der Sachverhalt nicht fehlinterpretiert werden kann. Messungen und andere, heute selbstverständlich zur Ver-
Als Beispiel sei eine Luxationsfraktur z. B. im HWS- fügung stehende diagnostische Methoden – schwer zu
Bereich benannt, die nicht schicksalhaft entstehen kann. durchschauen waren. Da Unfallbeteiligte ohne klinisch
Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Verletzungen erkennbare Verletzungen subjektive Beschwerden an der
struktureller Art, bei denen der Sachverständige nur noch Wirbelsäule beklagten und bei Betasten der Wirbelsäule
gebraucht wird, um dauerhaft verbliebene Defizite der ge- Schmerzen äußerten, entstand der Begriff der »railway
sundheitlichen Integrität zu definieren und das Ausmaß spine«, in dem sich bereits die gleiche Symptomatik des erst
der resultierenden Leistungsminderung einzuschätzen. viel später so bezeichneten »Schleudertraumas« der Hals-
Im Rentenversicherungs- und Schwerbehinderten- wirbelsäule verbarg. So wurde vom englischen Chirurgen
recht spielen Kausalitätsfragen keine Rolle. In diesen John Eric Erichsen – Leibarzt der Königin Victoria – in
Rechtsbereichen bedarf es lediglich einer Objektivierung einer Monografie aus dem Jahr 1882 [16] vorgetragen, dass
der bestehenden Befundverhältnisse, insbesondere der bei einer Eisenbahnkollision eine besondere Verletzungs-
klinisch-funktionellen und neurologischen Befunde, da form entstünde, bei der »… bei heftigen Bewegungen des
diese – anders als die Bildbefunde – für die Beurteilung des Kopfes vor und zurück die Patienten augenblicklich die
verbliebenen Leistungsvermögens von vordergründiger Kontrolle über die Muskelstrukturen des Halses verlieren«.
Bedeutung sind. Diese gutachtliche Aufgabe ist relativ Das vermeintliche Verletzungsbild wurde verknüpft mit
leicht lösbar, sofern die gutachtliche Untersuchung sinn- den subjektiv geäußerten Symptomen wie Kopf- und
voll und zielführend strukturiert wird. Nackenschmerzen, Schwindel, Ohrensausen, Konzentra-
Kausalitätsfragen sind umso leichter zu beantworten, tions- und Merkfähigkeitsstörungen, gelegentlich auch
je schwerer die Verletzung war. Handelt es sich hingegen Empfindungsstörungen in Armen und Händen. Diese Ver-
um harmlose – dann meist nichtstrukturelle – Verletzun- letzungsvermutung, zunächst nur bei Unfallbeteiligten nach
gen (Prellung, Zerrung, Stauchung, Erschütterung etc.), schweren Eisenbahnunglücken, wurde nach und nach über-
sind häufig schon die primären Befundmitteilungen mehr- tragen auf Beteiligte leichter Zugunglücke und Entgleisun-
deutig, der Symptomenverlauf erfahrungsgemäß abhängig gen, letztendlich sogar auf Menschen, die nur mit der Eisen-
vom subjektiven Erleben des betroffenen Patienten wie bahn gefahren waren, ohne dabei einen Unfall zu erleiden.
55.2 · Hypothetische Erklärungsversuche
601 55
Die Fragwürdigkeit dieser »railway spine« wurde im Letzteres wurde als »spezifischer Insult auf die Persönlich-
Laufe der Jahre erkannt und durch die Spruchpraxis der keitsstruktur« gedeutet.
englischen Gerichte wieder zum Verschwinden gebracht, Zu diesem Thema folgten zahlreiche Veröffentlichun-
noch ehe die Ära der Automobilisierung und der dabei gen, zunächst in den Vereinigten Staaten, dann auch erst-
auftretenden Verkehrsunfälle begann. mals in Deutschland von Kuhlendahl 1957 [29], im Weite-
Nach Entwicklung des Automobils und Bau des ersten ren von Vollmar 1957 [54], Bürkle de La Camp 1961 [4]
Autos 1895 erreichten diese Fahrzeuge bereits 1906 bei Au- und vielen anderen Autoren. Die Thematik wurde zum
torennen Geschwindigkeiten von 120 km/h. Auch Auf- Hauptthema zweier Kongressveranstaltungen, nämlich der
fahrunfälle wurden seinerzeit schon registriert, später von 83. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie im
Unterharnscheidt [50] akribisch untersucht und die dabei Jahr 1966 und dem 54. Kongress der Deutschen Ortho-
auftretenden Belastungen verglichen mit den Pilotenbelas- pädischen Gesellschaft von 1967, ohne dass die Diskus-
tungen im ersten Weltkrieg bei Katapultstarts auf Schiffen, sionen zu einer einheitlichen Auffassung über das Wesen
die mit Fortentwicklung der Technik bis hin zum Flug- dieser Verletzungsform führten. Dennoch etablierte sich
zeugträger eine immer größere Dimension erreichten, der Begriff »Schleudertrauma« ab etwa 1959 in der Sozial-
ohne dass jemals bei Piloten ein vergleichbares Krank- gerichtsbarkeit und trat sodann auch seinen Siegeszug an
heitsbild der Halswirbelsäule berichtet wurde. durch die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte
In den 1930er Jahren wiederholte sich die zuvor bei der (private Unfallversicherung und Haftpflicht) bis hin zum
»railway spine« eingetretene Entwicklung mit Ausuferung Bundesgerichtshof, leider mit nicht immer überzeugenden
eines Krankheitsbilds nach Autokollisionen mit den glei- Entscheidungen.
chen Beschwerdeangaben. Der amerikanische Orthopäde Zahlreiche Publikationen lassen eigentümlicherweise
Crowe trat auf einer Orthopädentagung im Jahr 1928 mit erkennen, dass nur die ersten 4 von Gay und Abbott [20]
seiner erst später publizierten Wortschöpfung »whiplash benannten Charakteristika dieser Verletzungsart wahr-
injury« [7] hervor, die im deutschen Sprachraum als genommen wurden, nicht hingegen das 5. Kriterium der
»Peitschenschlagverletzung« übersetzt wurde. Grundlage abnormen seelischen Verarbeitung. In einigen deutsch-
seiner Überlegungen war die – zwischenzeitlich von Walz sprachigen Publikationen ist sogar die Behauptung nach-
im Jahr 1994 [55] widerlegte – Annahme, dass eine zulesen, dass es sich nach Gay und Abbott gerade nicht um
bi-phasische Gewalteinwirkung auf den Halsbereich der solche psychisch überlagerten Symptome handele. Dabei
Entwicklung solcher Beschwerden zugrunde liegt. Diese spielte die enge topografische Nachbarschaft zu der
Begrifflichkeit wurde vom amerikanischen Orthopäden Medulla oblongata eine assoziationsträchtige Rolle.
Davis 1945 [8] übertragen auf die von ihm sehr genau un-
tersuchten 134 Fälle von strukturellen Verletzungen der
HWS, die jedoch entweder durch schwere Frontalkollisio- 55.2 Hypothetische Erklärungsversuche
nen – seinerzeit noch ohne Gurtsicherung – oder auch
Stürze aus großer Höhe, durch Kopfsprung ins flache Was- Die Chirotherapie (manuelle Medizin) – abgeleitet aus der
ser oder andere schwere direkte Gewalteinwirkung gegen in Amerika inaugurierten Osteopathie – wurde Ende des
den Schädel hervorgerufen worden waren. 19. Jahrhunderts erstmals in der Schweiz angewandt; dort
Eindeutig definiert wurde der Begriff »whiplash inju- wurde schon frühzeitig die Schweizer Ärztegesellschaft für
ry« erstmals von Gay und Abbott [20] im Jahr 1953 mit manuelle Medizin gegründet. Obwohl anfänglich vehe-
dem legendär gewordenen Beitrag »Common Whiplash ment als »unwissenschaftliche Methode« bekämpft, wurde
Injuries of the Neck«, in dem sie über 50 Fälle berichteten, sie zunehmend akzeptiert und als Gegenpol zur wissen-
die nach 5 Kriterien übereinstimmende Charakteristika schaftlich geprägten Medizin angesehen. Im bundesdeut-
aufwiesen: schen Raum wurde die Manualmedizin erst seit 1951 – zu-
1. Auffahrunfälle mit stets gleichem Unfallmechanis- nächst von praktischen Ärzten – implementiert und von
mus. Gutmann nach Gründung einer Fachgesellschaft und For-
2. Fehlende äußere Verletzungszeichen besonders im schungsgemeinschaft mit einem kursartigen Lehrsystem
Hals- und Nackenbereich. weit verbreitet, dabei versucht, diese Behandlungstechni-
3. Fehlende objektive radiologische Verletzungs- ken in alle Fachbereiche, besonders aber in die Orthopädie
merkmale an der HWS. und Neurologie hineinzutragen.
4. Zeitliche Ausweitung der Beschwerden weit über das Der Allgemeinmediziner und Chirotherapeut Wolff
gewohnte Maß einer Distorsion hinaus. widmete sich mit einem enormen Engagement der Proble-
5. Abnorme seelische Verarbeitung, die durch psycho- matik des Schleudertraumas. Aufbauend auf der von Jung-
therapeutische Führung positiv beeinflussbar oder hanns eingeführten Lehre von den Bewegungssegmenten
ganz vermeidbar war. und den von Neuhuber und Bankoul [36] aufgezeigten
602 Kapitel 55 · Halswirbelsäulenbegutachtung

Besonderheiten der Innervation des Kopf-Hals-Übergangs »Blockierung« als vermutetes Erstschadensbild zu ver-
vermutete er als Ursache der persistierenden und stets ve- fügen.
getativ geprägten Symptomatik funktionelle Störungen Die von Neuhuber/Bankoul publizierten anatomi-
besonders im Bereich der Kopf-Hals-Gelenke mit Aus- schen Erkenntnisse wurden nunmehr Grundlage der
wirkungen auf die Kerngebiete im Halsmarkbereich [59]. Hypothese einer »multisensorischen Konvergenz« im
Der Begriff »Blockierung« dominierte nach und nach die Kopf-Hals-Bereich, die via dysfunktioneller Störung
Befundberichte zu unfallbeteiligten Personen mit einer (Blockierung) zu Verrechnungsstörungen in den Kern-
zunehmenden Akzeptanz in der orthopädischen, kaum gebieten des Halsmarks führe, was von Neuhuber mit
jedoch der unfallchirurgischen Fachmedizin und gelegent- vorsichtiger Distanzierung im Jahre 1998 als »mehr oder
lich vorgetragen mit einem messianischen Eifer: Wer sich weniger begründete Spekulation« bezeichnet wurde [37].
nicht dieser Untersuchungstechniken und hypothetischen Trotz der hierzu gänzlich fehlenden Erkenntnisse aus
Ableitungen – auch im gutachtlichen Bereich – unterwarf, der neurologischen Wissenschaft wurden von Claussen [6]
wurde als inkompetent gebrandmarkt bis hin zur nach- neue »Diagnosen« kreiert, wie z. B.
drücklich vorgetragenen Forderung, dass sowohl die 4 multisensorische neurootologische Funktionsstörun-
Therapie als auch die Begutachtung des Schleudertraumas gen,
den Manualmedizinern vorbehalten bleiben solle. 4 zentrale Gleichgewichtsfunktionsstörung mit
Zwischenzeitlich konnten sich wieder wissenschaftlich Hirnstammtaumeligkeit,
geprägte Betrachtungsweisen durchsetzen. Führende 4 zentrale Reaktionsenthemmung des optokinetischen
Manualmediziner erkannten die problematische Reprodu- Systems,
zierbarkeit und damit Dokumentierbarkeit eines manual- 4 periphere vestibulospinale Reaktionsstörung mit
medizinisch erhobenen Befunds (so Psczolla im Jahr 1997 longitudinaler Stehataxie,
[43]) und warnten vor übertriebenen gutachtlichen Ein- 4 panchochleäre neurosensorische Hörstörung,
schätzungen, wie sie sehr häufig von Manualmedizinern 4 pontomedulläre Hörbahnstörung,
formuliert wurden. Seit dem Eingeständnis von Fritzsche 4 Syndrom des überempfindlichen Ohrs mit ver-
im Jahr 1997 [19], dass aufgrund der fehlenden Reliabilität minderter akustischer Dynamik.
55 solche Befunde nicht in einer wissenschaftlich geprägten
Denkweise gutachtlich verwertbar sind, hat die Manual- Diese Diagnosen gedachte er mit von ihm neu entwickel-
medizin ihre Bedeutung in der Begutachtung verloren ten diagnostischen Methoden, z. B. mit der sog. Kranio-
[11]. korpografie, nachzuweisen.
Die von dem Anatom Neuhuber erforschte Innerva- Durch sein Engagement auf zahlreichen Tagungen und
tion des kraniozervikalen Übergangs führte Anfang der einem brillanten Vortragsstil – auch im Rahmen des
1990er Jahre zu der Annahme, dass die direkt mit den 32. Deutschen Verkehrsgerichtstag im Jahre 1994 – wurden
Kerngebieten im Halsmarkbereich verschalteten Haut- diese »neuen Erkenntnisse« nach und nach salonfähig, ob-
und Muskelafferenzen sowie auch propriozeptive Hals- wohl seine Hypothesen nur von ganz wenigen HNO-ärzt-
afferenzen speziell der Spinalnerven C2 und C3 über ihren lichen Kollegen übernommen wurden. Erst im Rahmen
direkten, »ungefilterten« Zugang zu vestibulospinalen, langwieriger gerichtlicher Auseinandersetzungen wurden
vestibulookulomotorischen und anderen Neuronen eine diese »neuen Diagnosen« als unseriös zurückgewiesen.
wesentliche Rolle bei der Kontrolle der Balancehaltung Der Neurologe Noth führte hierzu in einem Gutachten für
und Motorik spielen. Hieraus wurde die Hypothese ab- das Landgericht Duisburg im September 1997 Folgendes
geleitet, dass Störungen in diesem Funktionsgefüge zu zer- aus: »… [die] von Herrn Prof. Claussen gestellten Diagno-
vikal bedingten Gleichgewichtsstörungen führen können sen sind eigene Kreationen, die in keinem medizinischen
[35]. Fachbuch zu finden sind und einer erstzunehmenden
Basierend auf diesen anatomischen Erkenntnissen von wissenschaftlichen Grundlage entbehren.«
Claussen wurde die neue Fachrichtung »Neurootologie« Nachdem von Hülse und Hölzl [25] im Jahr 2000 auf-
propagiert. In zahlreichen Veröffentlichungen – u. a. auch gezeigt wurde, dass funktionelle Störungen im Bereich des
in der Laienpresse – wurde besonders von Claussen [6] das Kopf-Hals-Übergangs nur eine leichte koordinative
sog. zervikoenzephale Syndrom als typische Unfallfolge Störung im Sinne einer »zervikogenen Unsicherheit«, je-
eines Schleudertraumas angesehen. Da eine direkte Schä- doch ohne eigentlichen Schwindel bewirken können, und
digung dieser neurogenen Verschaltungen nicht plausibel nachdem auch in den gerichtlich veranlassten Gutachten
erschien, auch seitens dieser Disziplin nie definiert werden regelhaft die mangelnden wissenschaftlichen Grundlagen
konnte, benötigte man die manualmedizinische Hypo- der Hypothesen von Claussen aufgezeigt wurden, hatte
these der »dysfunktionellen Störungen«, um über ein Bin- dieser Spuk ein Ende und ist zwischenzeitlich in gutachtli-
deglied zur Unfalleinwirkung mit daraus resultierender chen Auseinandersetzungen nicht mehr zu finden.
55.4 · Radiologische Hypothesen
603 55
Kügelgen [27] – zunächst ein nervenärztlicher Vertre- fenbaren und forderte eine solche CT-Untersuchung als
ter der manualmedizinischen Hypothesen und des damit »Primärversorgung«, dies besonders in der Laienliteratur
verknüpften zervikozephalen Syndroms – entwickelte in [39]. Diese Technik wurde zur funktionellen Computer-
den Folgejahren die These, dass muskuläre Funktions- tomografie weiterentwickelt, und es wurde versucht, die
störungen als Ursache des vegetativ gefärbten und sich Normvarianz der Drehbeweglichkeit zwischen C0 und C1
stets mit zeitlicher Distanz zum Unfall ausweitenden Be- zu definieren [18].
schwerdebilds anzusehen seien [28]. Die fehlende wissen- Nachdem von Bär 1998 [2] aufgezeigt werden konnte,
schaftliche Basis für eine solche Einschätzung wurde von dass 96 % der Menschheit schon einen asymmetrischen
der Deutschen Gesellschaft für neurowissenschaftliche Bau der Kopf-Hals-Gelenke aufweisen und dement-
Begutachtung (DGNB) aufgezeigt [58]. Danach spielte sprechend auch asymmetrische Beweglichkeit bei so gut
auch diese Hypothese – zumindest in der Begutachtung – wie allen Menschen erwartet werden müssen – verknüpft
keine Rolle mehr. mit der Erkenntnis einer sehr breiten Normvarianz, wie sie
von Pfirrmann et al. 2001 [41] nach kernspintomografi-
schen Untersuchungen aufgezeigt wurde –, konnte sich
55.3 Bildgebende Diagnostik diese diagnostische Methode nicht durchsetzen.
Eine beschwerdeursächliche Schädigung der Ligamen-
Es gilt inzwischen als unstrittig, dass die Nativröntgendia- ta alaria wurde 1987 von Dvorak und Panjabi [10] ver-
gnostik der HWS zum Nachweis einer HWS-Verletzung mutet, von diesen Autoren wurde jedoch relativierend
nur dann ein Ergebnis zeitigt, wenn eine strukturelle 1991 vorgetragen, dass eine isolierte Verletzung der Liga-
Läsion – insbesondere mit knöcherner Beteiligung – ein- menta alare kaum vorstellbar sei, sondern wohl einher-
getreten ist. gehen müsse mit einer Schädigung des Ligamentum
Die von Arlen [1] entwickelte biometrische Röntgen- transversum, vordergründig mit ossären Ausrissen dieser
funktionsdiagnostik erwies sich als so fehlerhaft und auch Bandstruktur, die damit relativ leicht diagnostizierbar
die Normvarianz der Messwerte als so breit angelegt, dass sein müssten [40]. Tatsächlich konnten – allerdings nur
damit keine Filterung funktionsgestörter Segmente mög- extrem selten – solche Verletzungsbilder nachgewiesen
lich war [46]. werden, stets verknüpft mit einer erheblichen Sofortsymp-
Eine technisch einwandfreie Kernspintomografie of- tomatik.
fenbart mit relativ hoher Sicherheit eine in seltenen Fällen Aufbauend auf der Hypothese einer isolierten Schädi-
eingetretene Strukturverletzung – nicht zuletzt durch das gungsmöglichkeit der Ligamenta alare wurde eine funk-
dann zu erwartende »bone bruise« in den knöchernen tionelle kernspintomografische Technik zum Nachweis
Strukturen –, perifokale Ödembildungen oder gar Ein- einer rotatorischen Instabilität C1/2 kreiert (Volle u. a.)
blutungen im Halswirbelsäulenbereich selbst. Somit hat [52]. Diese Untersuchungen wurden mit einem »0,2-Tesla-
sich die Kernspintomografie in den letzten Jahren als die Magnetom open« durchgeführt und – trotz einer mit die-
bedeutendste diagnostische Methode nach bewegungs- ser Methode nur mangelhaften Darstellung dieser Bänder
dynamischen Einwirkungen im Halsbereich etablieren – eine Typeneinteilung von Rupturen und Narbenbefun-
können, nicht zuletzt auch deshalb, weil damit nicht ver- den entwickelt [53].
letzte Personen eindeutig zu identifizieren sind. Diese radiologischen Befunde wurden von Manual-
medizinern und Neurootologen aufgegriffen, was zu zahl-
reichen gegenseitigen Zuweisungen der betroffenen Pa-
55.4 Radiologische Hypothesen tienten und umstrittenen gutachtlichen Beurteilungen
führte. Nur allzu häufig ergab die Nachbefundung der
Die manualmedizinische Hypothese sowie die funktionel- kernspintomografischen Aufnahmen von Volle an anderer
len Störungen im Bereich der Kopf-Hals-Gelenke und Stelle, z. B. in radiologischen Universitätskliniken, dass die
deren Verknüpfung mit den anatomischen Erkenntnissen Befunde nicht nachvollziehbar seien, bis hin zu Feststel-
zur Afferenzverschaltung im Rückenmark führten zu viel- lungen, dass das Bildmaterial die Ligamenta alare gar nicht
fältigen Bemühungen, diese funktionellen Störungen auch abbildete. Dieser Problematik wurde von Pfirrmann et al.
bildtechnisch darzustellen. [41] systematisch nachgegangen mit dem Ergebnis, dass
Von Lindner [32] wurde 1986 die Vermutung geäußert, auch bei völlig gesunden Personen gleichartige »Befunde«
dass im Bereich des Bandapparats der Kopfgelenke zumin- kernspintomografisch produziert werden konnten und es
dest mikrostrukturelle Schädigungen – mit der normalen sich ausnahmslos um Bildartefakte handelte, denen keine
Röntgenanatomie nicht nachweisbar – eintreten könnten. Bedeutung zukommt.
Der Radiologe Novak versuchte mittels einer speziellen Nach Verlegung der radiologischen Praxis von Volle
computertomografischen Technik solche Schäden zu of- nach München wurden mit dem von nun an genutzten
604 Kapitel 55 · Halswirbelsäulenbegutachtung

»1-Tesla-Gerät Magnetom harmony« neue Diagnosekrite- Bleuler [3], der 1921 in seiner Monografie zum »autistisch-
rien kreiert, wie z. B. undiszipliniertem Denken in der Medizin« u. a. formulierte:
4 Kapselrandpathologie der Gelenkkapsel und der
Bursae beidseits, » Im Gegensatz zum kausal-verstehenden Denken des
4 pathologische Konturen im Bereich des Densspitzen- Naturwissenschaftlers und des intelligenten, un-
periosts voreingenommenen Laien verzichtet das autistisch-
4 Gelenkkapselauffälligkeiten der fibrösen Kapsel- undisziplinierte Denken auf die Kontrolle von Thesen,
gelenke. Hypothesen, Dogmata, Erfolgsmeldungen und Er-
wartungen anhand der Realität. Wer an Dogmata
Auf diesem Wege wurde eine Instabilität in dieser Gelenk- glaubt und nach ihnen handelt, neigt erfahrungs-
ebene unterstellt, die zum »Aufbrauch des schützenden gemäß zur Unterdrückung von Kritik.
Pufferraumes mit Tangierung des Rückenmarkes in den
Rotationspositionen …« führe. Auch solche Befundfest-
stellungen und Diagnosen hielten einer Überprüfung des 55.6 Gesicherte Erkenntnisse
Bildmaterials durch erfahrene Radiologen nicht stand.
Nachdem die mangelnde Seriosität solcher kernspintomo- Es ist das Verdienst von Hinz, der in den 1970er Jahren
grafischen »Befunde« auch im gerichtlichen Bereich nach experimentelle Untersuchungen mit Leichen vornahm
und nach bekannt wurde, haben diese Befundberichte ih- und dabei nachweisen konnte, dass selbst hohe Beschleu-
ren Stellenwert verloren. nigungs- bzw. Entschleunigungsimpulse auf der Katapult-
anlage an einer zuvor gesunden Halswirbelsäule (Jugend-
liche und junge Erwachsene) zu keiner nachweisbaren
55.5 Folgen hypothetischer Diagnosen Verletzung der Halswirbelsäule führten [23].
Nur bei Texturstörungen (früher »Degeneration«)
Bei mehr als 500 Patienten wurden basierend auf der kern- konnten an den Bandscheiben Faserringzerreißungen pro-
spintomografischen Diagnostik nach Volle Versteifungs- duziert werden, dies in Abhängigkeit des Ausmaßes der
55 operationen zwischen Okziput und meist C3 vorgenom- vorbestehenden Texturstörungen, sodass bereits vor den
men [34], ehe sich nach und nach – zunächst in unfallchi- Versuchen die Läsionshöhe anhand der Röntgenbilder
rurgischen, dann auch orthopädischen und neurologi- vorhergesagt werden konnte.
schen Kreisen bis hinein in die Rechtsprechung – die Diese Faserringzerreißungen bewirkten jedoch keinen
Erkenntnis durchsetzte, dass hiermit lediglich eine iatroge- Austritt des Gallertkerns mit dem Bild eines Band-
ne Schädigung bewirkt wurde [47]. scheibenvorfalls, sondern nur ein Aufreißen entlang der
Gegen Ende der 1990er Jahre tauchte – eher als Kurio- Luschka-Spalten. Da auch experimentell an einer zuvor
sum – eine weitere Hypothese zur Ursache der prolongier- gesunden, nunmehr artifiziell perforierten Bandscheibe
ten, vegetativ gefärbten Beschwerden nach einem Schleu- mechanisch kein Vordringen des Gallertkerns provoziert
dertrauma auf. Der Internist und Umweltmediziner werden konnte, ist eine Protrusion oder ein zervikaler
Kuklinski nahm sich des Schleudertraumas an und folger- Bandscheibenvorfall stets Ausdruck eines seit Jahren
te, dass diese Störungen »… Folgen diverser mitochondri- ablaufenden Verschleißprozesses und kann somit als Un-
aler Funktionsstörungen …« seien, was zu einer Kohlen- fallfolge nicht anerkannt werden.
hydratverwertungsstörung führe und einer umfangrei- > Eine Bandscheibenverletzung ist im HWS-Bereich
chen, nicht nur umweltmedizinischen Diagnostik u. a. möglich, nicht hingegen ein unfallbedingter
auch mit Einsatz von SPECT und PET bedürfe [30]. Dieser Bandscheibenvorfall. Die Kernspintomografie
Arzt fand seinen Platz in dem Zuweiserring von Claussen, kann zwischen diesen beiden Möglichkeiten gut
Wolff, Müller-Kortkamp, Binz, Volle und Montazem, aber differenzieren.
auch dem Radiologen Hörr, der in zahlreichen Fällen auf
Zuweisung dieser Kollegen eine Positronenemissionsto- Trotz einer gezielten Suche nach lebenden diskoligamentär
mografie (PET) als auch die SPECT-Untersuchung des verletzten Personen konnte – wahrscheinlich infolge
ZNS vornahm, obwohl die produzierten Befundergebnisse muskulärer Schutzmechanismen beim Lebenden – dieses
völlig unspezifisch und nach neurologischer Feststellung Verletzungsbild nur selten nachgewiesen werden, dies in
z. B. bei einer Depression in gleicher Weise zu erwarten der Regel mit einer erheblichen Sofortsymptomatik infolge
waren [42]. der Zerreißung des Faserrings, im weiteren Verlauf mit
Diese vielen hypothetischen Blüten im Umfeld des sog. spontaner narbiger Ausheilung nach ca. 4–6 Monaten.
Schleudertraumas der HWS erinnern an die brillante Von Hinz und Plaue [24] wurde 1972 darauf hingewie-
psychiatrische Analyse des medizinischen Denkens von sen, dass immer dann, wenn strukturelle Läsionen an der
55.6 · Gesicherte Erkenntnisse
605 55
Halswirbelsäulenbandscheibe auftraten, auch Begleitver- men wird und lediglich der Höhepunkt des Schmerzerle-
letzungen zu erwarten waren. Ebenso wurde von ihnen bens – evtl. auch nach einem beschwerdearmen Intervall
darauf hingewiesen, dass Ergebnisse von Leichenver- – zeitlich etwas nachhinkt. Dies geschieht möglicherweise
suchen – aufgrund der hierbei fehlenden muskulären bis hin zum Unfallfolgetag, ehe dann diese Beschwerden
Schutzmechanismen – nicht ohne Weiteres übertragen nach und nach in einer sehr engen zeitlichen Beziehung
werden könnten auf das tatsächliche unfallmechanische zum Unfallgeschehen (binnen Tagen) auch wieder ab-
Geschehen bei lebenden Personen. klingen.
Aufgrund der von Hinz und Plaue zusammengetrage- Handelt es sich um eine strukturelle Läsion (Fraktur,
nen statistischen Erhebungen insbesondere aus den Ver- Zerreißung etc.), wird das primäre Schmerzerleben inten-
einigten Staaten (Analyse von 64.000 Verkehrsunfällen) siver und anhaltender sein und insbesondere immer dann
kamen die Autoren zum Ergebnis, dass es sich in der ganz wieder nachhaltig aufblühen, wenn die betroffene Struktur
überwiegenden Zahl der Fälle allenfalls um Zerrungen am bewegt oder belastet wird. Systematische Untersuchungen
Weichteilmantel, insbesondere an der Muskulatur, ge- haben ergeben, dass wache Unfallbeteiligte ausnahmslos
handelt habe mit temporärer Nackensteifigkeit und einer sofort nach Eintritt einer HWS-Verletzung über nach-
binnen Tagen eintretenden Restitutio ad integrum, allen- haltige lokale Beschwerden im Halsbereich geklagt haben
falls nach 1–2 Wochen. [51], sodass ein Nichtauftreten solcher Sofortbeschwerden
Von Erdmann [14] wurde 1973 einerseits eine sorg- nach dem heutigen Stand der wissenschaftlichen Diskus-
fältige manuelle und palpatorische (Erst-) Untersuchung sion zumindest eine strukturelle Verletzung sicher aus-
angemahnt, andererseits darauf hingewiesen, dass bei schließt.
wachen, noch dazu aufgeregten Menschen immer eine er- > Eine nichtstrukturelle HWS-Verletzung, also eine
höhte Spannung besonders der Schulterrandmuskulatur Zerrung der HWS-Muskulatur, kann nur vorüberge-
bestehe, die man nicht fehlinterpretieren dürfe. Der Rand hend Ursache der Beschwerden sein und heilt stets
des Musculus trapezius sei auch bei gesunden Menschen folgenlos aus.
fast immer druckschmerzhaft. Er beklagte schon seinerzeit
die häufig zu oberflächliche funktionelle Untersuchung Diese umfangreichen, anhand von experimentellen Unter-
der Halswirbelsäule wie auch Beurteilungen, die meist auf suchungsergebnissen und einer großer Zahl von Fallbeob-
bedeutungslosen röntgenanatomischen Bilddetails ab- achtungen solide erarbeiteten Erkenntnisse zu Verlet-
gestellt seien. zungsfolgen an der Halswirbelsäule, wie sie von Hinz und
Erdmann und auch Kamith [26] verwiesen 1986 dar- Plaue [24] publiziert wurden, gerieten seltsamerweise nach
auf, dass die sog. Steilstellung im Röntgenbild als Einzel- und nach völlig in Vergessenheit. Sie wurden ersetzt durch
befund schlicht bedeutungslos sei, dennoch aber bis in die rein empirische Beobachtungen, die im Jahr 1975 von
heutige Zeit in manchen Gutachten förmlich als »Kron- Wiesner und Mumenthaler zu einer umfangreichen ka-
zeuge« für den Verletzungseintritt angeführt wird – und tamnestischen Studie verdichtet wurden mit dem Tenor,
das, obwohl zielgerichtete Untersuchungen, z. B. von dass eben in ca. 20 % der Fälle nach einer Schleuderver-
Helliwell et al. [22], zum Ergebnis hätten, dass mehr als letzung – ganz gleich welchen Schweregrads – mit einem
40 % der gesunden Bevölkerung ein solches Phänomen anhaltenden Beschwerdebild zu rechnen sei [57]. Ohne
erkennen lassen, aber nur 26 % der Patienten mit chroni- Prüfung anderweitiger Parameter wurde aus einer »…
schen Nackenschmerzen und sogar nur 19 % der Patienten glaubwürdigen langen Dauer der Beschwerden …«
nach einem Verkehrsunfall. zurückgeschlossen auf eine Unfallursächlichkeit. Dem be-
Die Unterstellung eines beschwerdefreien Intervalls gegnete seinerzeit schon Erdmann im gleichen Jahr (1975)
trotz eingetretener Verletzung kollidiert mit der ganz [15] mit einer heftigen Reaktion: »Dies ist nun schon das
banalen Erfahrung, dass harmlose Prellungen, Zerrungen unsolideste, was man im Rahmen der Unfallbegutachtung
oder Stauchungen allenfalls mit einer Verzögerung von vorbringen kann.«
Sekunden Schmerzempfindungen zu bewirken pflegen, Mit dieser prägnanten Feststellung wurde von
die sich dann stets relativ rasch, nämlich innerhalb von Erdmann das gutachtliche Kernproblem schlechthin um-
wenigen Minuten, weitgehend verlieren und danach über rissen, das auch heute noch in unzähligen fehlerhaften
wenige Tage hinweg nur dann noch bemerkt werden, wenn Gutachten zu finden ist, nämlich eine unüberlegte Kausal-
das gereizte Gewebe gedehnt wird (Bewegungsschmerz) verknüpfung zwischen fortbestehenden Beschwerden und
oder eine Druckbelastung (Druckschmerz) erfährt. Von einem zuvor erfolgten Unfallgeschehen, häufig ohne Über-
Hinz und Plaue [24] wurde nach Auswertung von 64.000 prüfung der Frage, ob ein Erstschadensbild auch tatsäch-
Unfällen vorgetragen, dass selbst bei leichteren und harm- lich nachzuweisen ist und sich eine pathophysiologishe
losen Verletzungen eine Sofortsymptomatik eintritt, die in Plausibilität für die beklagte Symptomatik aus der Art des
der Regel auch von den betroffenen Personen wahrgenom- primären Verletzungsbefunds herleiten lässt.
606 Kapitel 55 · Halswirbelsäulenbegutachtung

55.7 Crashversuche und Rechtsprechung dung am Ende des 19. Jahrhunderts, die die Diagnose der
»railway spine« ad absurdum führte, hat diese »moderne«
Nach einer langen Phase einer mehr oder weniger pseudo- Rechtsprechung zur Folge, dass auch heute noch selbst die
wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu diesem Thema bagatellhaftesten Unfälle mit vermeintlich eingetretenen
wurde die systematische Forschung fortgesetzt von der »Schleudertraumata« die Gerichte beschäftigen, bedauer-
Arbeitsgruppe um Castro, der Crashversuche mit frei- licherweise nicht selten gestützt auf Gutachten, die diesen
willigen Probanden durchführte und die Ergebnisse erst- Namen nicht verdienen. Gestützt auf eine solide wissen-
mals in einer dann preisgekrönten Publikation im Jahre schaftliche Grundlage ist festzustellen, dass chronifizieren-
1997 veröffentlichte [5]. Mit einem aufwendigen Unter- de HWS-bezogene Syndrome selbst bei relevanten Be-
suchungsdesign konnte er nachweisen, dass es bei einer schleunigungseinwirkungen nicht als andauernde Folge
anstoßbedingten Geschwindigkeitszunahme (Delta-V) einer nichtstrukturellen Verletzung angesehen werden
des gestoßenen Fahrzeugs in einer Größenordnung von können [17]. Die Rechtsprechung im Sozialgerichtsbe-
11–14 km/h in keinem einzigen Fall zu einem Verletzungs- reich hat sich diese Erkenntnis zwischenzeitlich zu eigen
eintritt kam. Lediglich ein älterer Versuchsteilnehmer gemacht (z. B. LSG Berlin-Brandenburg im Urteil vom
klagte bei einem Delta-V von 16 km/h vorübergehend 29.10.2010; Az.: L 2 U 314/07).
über geringfügige Nackenbeschwerden, deren Ursache > Eine prolongierte, subjektiv erlebte Symptomatik
auch mit aufwendigsten diagnostischen Maßnahmen bis kann bei einer nichtstrukturellen Verletzung keine
hin zur Kernspintomografie nicht geklärt werden konnte. Unfallfolge darstellen, unterliegt dann – sofern
Diese Beschwerden klangen jedoch ohne Behandlungs- erforderlich – ausschließlich einer neurologisch-
maßnahme binnen weniger Tage – ohne Eintritt einer psychiatrischen Kausalitätsprüfung.
Arbeitsunfähigkeit – folgenlos ab.
Mit einem raffinierten Studiendesign wurde bei weite-
ren Crashversuchen mit simulierten Auffahrunfällen –
ohne jegliche anstoßbedingte Beschleunigung des 55.8 Schweregradeinteilungen
vermeintlich gestoßenen Fahrzeugs – bei 51 freiwilligen
55 Probanden festgestellt, dass bei etwa 20 % der Versuchs- Obwohl die forensische Psychiatrie mit analytischer Auf-
personen in der Folgezeit »typische« – vegetativ geprägte arbeitung vieler Einzelfälle letztendlich die Überzeugung
– Beschwerdebilder beklagt wurden [21]. Dabei gelang es generierte, dass die Langzeitbeschwerden bei einer chirur-
sogar, mittels einer vor dem Crashversuch durchgeführten gischerseits angenommenen HWS-Distorsion 1. und
psychologischen Untersuchung die Personen vorab zu 2. Grads (Erdmann-Graduierung) einer Verhaltensstörung
identifizieren, die nach dem Crashversuch solche Be- entsprechen [49], wird um keine andere Thematik in der
schwerden beklagten. Unfallbegutachtung häufiger und heftiger gestritten, als
Obwohl sich in der Folgezeit die Informationen mehr- nach einem – tatsächlichen oder vermeintlichen – Schleu-
ten, dass z. B. bei Autoscooterkollisionen und den »demo- dertrauma, zweifellos getriggert von häufig anwaltlich ge-
lition derby drivers« im nordamerikanischen Raum trotz förderten Ansprüchen, denen die BGH-Rechtsprechung
Kollisionsgeschwindigkeiten von mehr als 50 Meilen in der Tor und Tür geöffnet hat.
Stunde (ca. 70 km/h) in keinem einzigen Fall ein Schleu- Stützt man sich auf gesicherte pathophysiologische,
dertrauma beobachtet wurde [33] – selbst bei schwersten experimentelle und empirische Erkenntnisse, wie sie schon
Bandenkollisionen bis hin zu 300 km/h Aufprallgeschwin- seit ca. 40 Jahren infolge der Publikationen von Hinz und
digkeit im Formel-1-Rennsport nie über ein Schleuder- Plaue [24] zur Verfügung stehen, berücksichtigt man die
trauma der HWS berichtet wurde –, meinte der BGH in Ergebnisse der kernspintomografischen Diagnostik, die
einem Urteil vom 28.01.2003 (Az.: VI ZR-139/02) feststel- selbst kleinste Läsionen zumindest anhand der Ödembil-
len zu müssen, dass es nach unten hin keine Harmlosig- der und der Einblutungen darzustellen vermag – jedoch
keitsgrenze – wie seinerzeit von Castro et al. [5] definiert nur seltenst zum Nachweis einer tatsächlichen Verletzung
– geben könne, somit selbst bei geringfügigsten Verkehrs- führt – so erscheint die Einführung des wichtigsten, weil
kollisionen auch ohne Eintritt von Fahrzeugschäden nicht häufigsten Schweregrads 0 in eine neue, strikt befundori-
prinzipiell davon ausgegangen werden könne, dass keine entierte Schweregradeinteilung überfällig (. Tab. 55.1).
Verletzung erfolgt sei. Gutachtlich nicht mehr nutzbar ist die aus dem Jahr
Diese an der Lebenswirklichkeit vorbeigehende Ein- 1973 stammende Schweregradeinteilung von Erdmann
schätzung des BGH wurde von Eisenmenger [13] förmlich (. Tab. 55.2), die an dieser Stelle nur deshalb nochmals an-
gebrandmarkt und den BGH-Richtern mit Hinweis auf geführt wird, um die seinerzeitige ärztliche Hilflosigkeit –
verbindliche Beweisregeln die mangelnde Plausibilität ih- wohl mangels handfester Befunde – anhand der genutzten
rer Rechtsprechung vorgehalten. Anders als die Rechtsfin- 9 Prüfkriterien aufzuzeigen, teils versehen mit Begrifflich-
55.8 · Schweregradeinteilungen
607 55

. Tab. 55.1 Befundorientierte Schweregradeinteilung

Verletzung Klinik Kernspintomo- Therapie Dauer der Arbeits- Dauer- MdE


grafie unfähigkeit schaden

Keine = Grad 0 Stressinduziert er- Leer Entdramatisie- 0 0 0


höhter Muskeltonus rung

Funktionell = Nackensteifigkeit Ödem infolge Keine, evtl. 0 0 0


Grad I Weichteil- temporär
zerrung Analgetika

Mikrostrukturell = Schmerzprovokation Einblutungen Analgetika, evtl. 0 bis ca. 14 Tage Unwahr- 0 bis unter
Grad II durch Bewegung infolge Faser- physikalische scheinlich 10 %
rupturen Therapie

Makrostrukturell = Lokalisierter Schmerz Strukturverlet- Befundorien- Nach Heilverlauf Objektiver Befund


Grad III auch ohne Bewe- zung, »bone tiert maßgebend
gung, evtl. neurolo- bruise«
gische Symptomatik

MdE Minderung der Erwerbsfähigkeit in Prozent

keiten (z. B. »Prostration«), die der heutigen Medizin ist eine strikte Trennung – auch von allen anderen Schwe-
fremd geworden sind. Diese Kriterien entsprechen ganz regraden – vorzunehmen, nicht zuletzt auch, um im kura-
und gar nicht mehr dem heutigen Stand der modernen tiven Bereich einem nicht enden wollenden Heilverfahren
diagnostischen Möglichkeiten. Wie der Publikation von entgegenzuwirken.
Erdmann [14] zu entnehmen ist, standen ihm insgesamt 90 Allein erlebnisreaktive psychische Erscheinungen, die
Fälle für die Entwicklung seiner Schwergradeinteilung zur jeder Mensch infolge eines negativ besetzten Lebensereig-
Verfügung, davon 72 Fälle im Schweregrad I, 17 Fälle im nisses – wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung –
Schweregrad II und nur ein einziger Fall im Schweregrad entwickelt, gehören zum normalen Lebensalltag und
III, was auch die fehlenden Kriterien bei 3 Prüfpunkten haben keinen Krankheitswert, sind damit auch nicht
dieser Tabelle begründet. Eine solche Grundlage für eine entschädigungspflichtig.
gutachtliche Empfehlung würde – anders als 1973 – im Zusammenfassend ist festzustellen, dass diese Quebec-
heutigen Wissenschaftsbetrieb nicht mehr akzeptiert und Klassifikation gutachtlich nicht nutzbar ist und auch im
sollte daher auch nicht mehr angewendet werden. kurativen Bereich inadäquat-prolongierten ärztlichen Be-
> Die Erdmann-Schweregradeinteilung, vordergründig
handlungen Vorschub leistet.
beruhend auf patientenseitigen Subjektivismen,
Die frühe, spätestens in der 2. Woche nach dem Unfall
kann in Anbetracht der heute bestehenden dia-
durchgeführte kernspintomografische Diagnostik könnte
gnostischen Möglichkeiten (insbesondere MRT)
in allen Fällen einer drohenden Chronifizierung subjektiv
nicht mehr sinnvoll angewandt werden und hat
erlebter Beschwerden Klarheit schaffen und dann auch das
nur noch historischen Wert.
gutachtliche Votum nachhaltig prägen, wie es sich aus der
. Tab. 55.1 ergibt.
Aus dem gutachtlichen Blickwinkel erscheint auch die Würden die gesicherten Erkenntnisse zur HWS-
Schweregradeinteilung der Quebec-Task-Force (. Tab. 55.3) Distorsion und die objektiv gesicherten Befunde in jedem
ungeeignet und dürfte im kurativen Bereich unnötigerwei- Einzelfall stringent beachtet und könnte sich auch die
se den Eindruck vermitteln, dass normale, erlebnisreaktive Rechtsprechung zu einer lebensnahen Betrachtungsweise
psychische Erscheinungen eine eingetretene Verletzung entschließen, so stünde zu erwarten, dass das Thema
signalisieren [48], was jedoch nicht zutrifft. »Schleudertrauma der HWS« ein ähnliches Schicksal erlei-
Immerhin enthält diese Einteilung den Schweregrad 0, den würde wie seinerzeit die »railway spine«. Die seltenen
der nichts anderes als eine nicht eingetretene Verletzung tatsächlichen – strukturellen – HWS-Verletzungen wären
signalisiert. Es erscheint unlogisch, wenn dann hiermit dann ein leicht zu bewältigendes Randproblem in der un-
weitere »mögliche Symptome« im Sinne einer psychischen fallmedizinischen Begutachtung.
Reaktionsweise gewissermaßen als Beleg für eine dennoch
eingetretene Verletzung angeführt werden. Diesbezüglich
608 Kapitel 55 · Halswirbelsäulenbegutachtung

. Tab. 55.2 Erdmann-Schweregradeinteilung aus dem Jahr 1973

Symptome Grad I Grad II Grad III

a Annähernd schmerzfreies Intervall Häufig vorhanden Seltener vorhanden (4–8 h) Nicht vorhanden
(12–16 h)

b Schluckschmerzen, Schmerzen im Selten (3–4 Tage lang) Häufig (3–4 Tage lang)
Mundbodenbereich oder in den
Rektusmuskeln des Halses

c Totale Haltungsinsuffizienz der Kopf- Nicht vorhanden Fehlt als Sofortphänomen; Als Sofortphänomen
haltemuskulatur bisweilen nachträglich immer vorhanden

d »Steifer Hals« bzw. schmerzhafte Häufig, meist erst als Meist vorhanden, meist als Immer vorhanden, Dauer
Bewegungseinschränkung von Kopf Sekundärsymptom, Primärphänomen, seltener länger als 2 Monate
und Hals, tastbar bei manueller Dauer 1–2 Wochen nach Intervall
Prüfung

e Schmerzen paravertebral zwischen Gelegentlich (bei etwa Häufiger (bei etwa 30 %)


den Schulterblättern (»Kralle«) 15 %)

f Primäre Parästhesien in den Händen, Selten Häufiger, aber meist ohne


gelegentlich auch in den Unterarmen motorische Lähmungen

g Positive Verletzungsmerkmale im
Röntgenbild der HWS:

1. primäre Fehlen Fehlen Vorhanden

2. sekundäre (nach 3–6 Wochen) Fehlen Bisweilen vorhanden Vorhanden

55 h Prostration, Bettlägerigkeit Fehlt oft (meist nur


2–3 Tage)
Meist vorhanden
(ca. 10–14 Tage)
Immer vorhanden
(4–6 Wochen)

i Dauer der unfallbedingten Arbeits- 1–3 Wochen (fehlt 2–4 Wochen Über 6 Wochen
unfähigkeit gelegentlich ganz)

55.9 Beweisrechtliche Aspekte


. Tab. 55.3 Verletzungsschwere nach der Quebec-
Klassifikation (1995)
Der medizinische Sachverständige muss die ihm zur Ver-
Grad Klinische Präsentation fügung gestellten Informationen dahingehend prüfen, ob
es sich tatsächlich um belegte Tatsachen oder nur um
0 Keine Nackenbeschwerden, keine Interpretationen und hypothetische Ableitungen des
physischen Zeichen
Probanden oder der behandelnden Ärzte handelt, die –
I Beschwerden über Nackenschmerz, obwohl ungeprüft – als sog. Anknüpfungstatsachen an den
-steifigkeit und Berührungsempfindlich-
Sachverständigen weitergegeben wurden. So entspricht es
keit, keine physischen Zeichen
einer fast regelmäßig gemachten Erfahrung, dass in dem
II Nackenbeschwerden und ersten Ambulanzbericht die vom Probanden berichtete
muskuloskeletale Zeichena
Schwere des Unfalls hervorgehoben wird und sich die
III Nackenbeschwerden und neurologische Befunderhebung in der Mitteilung von Muskelverspan-
Zeichenb nungen mit gar nicht wirklich eingemessenen Bewegungs-
IV Nackenbeschwerden und Fraktur oder störungen und einer röntgenanatomischen »Steilstellung«
Dislokation der HWS erschöpft, der jedoch keinerlei Bedeutung zu-
Mögliche – Taubheit, Tinnitus, Schwindel kommt [22]. Damit erhält der beunruhigte Patient ganz
Symptome bei – Gedächtnisstörungen, Kopfschmerz selbstverständlich die diagnostische Etikettierung eines
allen Graden – Schluckstörungen, Kiefergelenkschmerz »HWS-Schleudertraumas«, die auch den Gutachter er-
aDruckschmerz,
reicht, nicht selten auch von ihm weiter ungeprüft durch-
Bewegungsstörung; bsensible Defizite,
Muskel-/Reflexschwäche
gereicht wird bis zum erkennenden Gericht. Dabei bleibt
unbemerkt, dass diese »Befunde« nicht den Kriterien der
55.9 · Beweisrechtliche Aspekte
609 55
Reliabilität und Validität entsprechen. Bei genauerer Prü- Den ärztlicherseits erhobenen Erstbefunden kommt
fung wird häufig erkennbar, dass lediglich eine durchaus ein hoher Stellenwert zu, da das sog. Erstschadensbild
verständliche, aber nicht als Verletzung zu bezeichnende einer hohen Beweisqualität unterliegt. Beweisrechtlich ge-
Aufregung des Probanden über das erlittene Ungemach sehen unterliegen grundsätzlich alle Tatsachen – dazu ge-
mit einem vermehrten Muskeltonus im Nacken im Spiel hören alle Befunde und Diagnosen – dem sog. Vollbeweis
war, gemäß des Sprichworts: »Da sträuben sich die (§ 286 ZPO), vom BGH definiert als ein im praktischen
Nackenhaare!« In geradezu unzähligen Fällen dürfte auf Leben brauchbarer Grad an Gewissheit, der restlichen
solchem Wege ein sog. HWS-Schleudertrauma unbegrün- Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese gänzlich auszu-
det eine Anerkennung gefunden haben. schließen. Ist dieser Vollbeweis weder klinisch noch radio-
> Alle »Tatsachen«, so auch das primäre Verletzungs-
logisch zu erbringen, ist beweisrechtlich von einer nicht
bild, unterliegen beweisrechtlich einer hohen
verletzten Person auszugehen. Ohne Verletzung können
Beweisqualität (Vollbeweis), da ansonsten keine
naturgemäß auch keine verletzungsbedingte Folgen entste-
Unfallfolgen diskutiert werden können.
hen. Folgt man also der reinen beweisrechtlichen Lehre,
wäre bei fehlenden Befundmitteilungen in den Frühbe-
Es entspricht einer pathophysiologisch gesicherten Er- richten die gutachtliche Überprüfung beendet. Die betrof-
kenntnis, dass eine nichtstrukturelle Läsion – Zerrung, fene Person hat dann keine Aussichten mehr, irgendwelche
Prellung, Stauchung, Erschütterung etc. –vorübergehend Ansprüche geltend zu machen. So hat das BSG im Urteil
Beschwerden, so z. B. auch eine Druckdolenz und einen vom 07.09.2004 (Az.: B 2 U 25/03 R) zum »Beweisnot-
Dehnungsschmerz, bewirkt und eine gezerrte Muskulatur stand« festgestellt, dass bei Unaufklärbarkeit eines Um-
auch mit schmerzreflektorisch verminderter Beweglichkeit stands, z. B. infolge unzureichend erhobener Erstbefunde,
einhergehen kann. Ein sog. beschwerdefreies Intervall sig- die Folgen der objektiven Beweislosigkeit dem zur Last
nalisiert in jedem Fall eine fehlende strukturelle Verletzung, fallen, der eine für ihn günstige Rechtslage geltend macht.
da schon von Hinz im Jahr 1972 [24] wie auch in jüngeren Das Erstschadensbild ist somit die entscheidende
Jahren von Velmahos et al. [51] nachgewiesen wurde, dass Brücke zwischen Unfalleinwirkung und später geäußerten
jede strukturelle Läsion im HWS-Bereich zur Sofortsymp- Folgebeschwerden und verbliebenen Symptomen. Allein
tomatik führen muss. Ein beschwerdefreies Intervall kann der vollbeweislich belegte Unfall als solcher reicht hierfür
allenfalls noch mit der Annahme einer nichtstrukturellen nicht aus, da auch schwere Verkehrsunfälle gelegentlich
Läsion z. B. im Sinne einer (Muskel-)Zerrung vereinbar unverletzt von den Fahrzeuginsassen überstanden werden.
sein, wenn die Beschwerden spätestens am nächsten Mor- Insoweit ist es die wichtigste Aufgabe des Sachver-
gen beim Aufwachen mit erneuter Belastung der betroffe- ständigen, diesen Vollbeweis für das Erstschadensbild zu
nen Muskulatur auftreten. Diese Beschwerden klingen je- führen. Hierauf wird jedoch in der übergroßen Zahl der
doch mit rückläufiger Ödemphase in einem relativ kurzen gutachtlichen Prüfungen – zumindest wenn diese von gut-
Zeitraum nach und nach ab (im Regelfall). achtlich unerfahrenen ärztlichen Kollegen erstellt werden
Bei einer hiervon abweichenden Entwicklung des – verzichtet und meist ersetzt durch die Feststellung, der
Symptomerlebens ist grundsätzlich die Frage zu klären, ob Unfall sei aus Sicht des Gutachters »geeignet« gewesen,
über eine solche Bagatellverletzung hinaus eine zuvor nicht eine Verletzung im Hals- und HWS-Bereich herbeizufüh-
erkannte strukturelle Läsion eingetreten ist, deren Patho- ren, und somit seien die zum Untersuchungszeitpunkt
physiologie die Abweichung vom regulären Verlauf be- noch geäußerten Beschwerden automatisch mit dem
gründen kann. Dazu ist die frühe kernspintomografische Unfallgeschehen verknüpft. Dabei wird übersehen, dass
Untersuchung unentbehrlich. dieses »geeignet für« lediglich die nicht sicher ausschließ-
Hat es sich um eine strukturelle Läsion gehandelt, lässt bare Möglichkeit eines Verletzungseintritts umschreibt,
sich diese mit den heutigen modernen bildgebenden Ver- jedoch nicht den Vollbeweis des tatsächlich eingetretenen
fahren, speziell der Kernspintomografie, selbst bei kleins- Erstschadensbilds ersetzen kann.
ten Läsionen infolge der perifokalen Ödembildung und Von Castro et al. [5] wurde angestrebt, mittels der
eventueller kleiner Einblutungen und speziell an den knö- Ergebnisse von Crashversuchen mit lebenden Personen
chernen Strukturen der HWS anhand des »bone bruise« einen technischen Grenzwert, die sog. anstoßbedingte
leicht identifizieren. Strukturelle Verletzungen stellen da- Geschwindigkeitsänderung (Delta-V), mit 11 km/h zu de-
her in der Begutachtung kein Problem dar, zumal man finieren, bei deren Unterschreitung auch eine »funktionel-
über gesicherte Erkenntnisse darüber verfügt, wie viel Zeit le« Verletzung nicht erwartet werden könne. Diese These
die Heilung einer knöchernen oder diskoligamentären wurde jedoch sowohl von medizinischer Seite wie auch
Läsion benötigt, und das Ausheilungsergebnis wiederum von der Rechtsprechung widersprochen mit der Annahme,
bildtechnisch – neben dem klinisch-funktionellen und dass es – wenngleich seltene – Fälle geben könne, bei denen
neurologischen Befund – überprüft werden kann. aber stets eine plausible Begründung für die Ausnahme
610 Kapitel 55 · Halswirbelsäulenbegutachtung

von der Regel gutachtlich erarbeitet werden müsse. So ist > Verschleißveränderungen der Halswirbelsäule
es möglich, dass der im Auto schlafende Mitfahrer bei können unter Umständen den Eintritt einer unfall-
einer denkbar leichten Kollision mit einem Delta-V deut- bedingten strukturellen Schädigung im gleichen
lich unter 10 km/h, unter Umständen sogar bei einer Voll- Bewegungssegment begünstigen, sind also keines-
bremsung eine HWS-Distorsion erleidet, eben weil die wegs nur ein Kriterium kontra Kausalität.
Schutzfunktion der Muskulatur beim schlafenden Mit-
fahrer nicht greifen konnte. Diese Schutzfunktion der In der Begutachtung zum sog. HWS-Schleudertrauma
Muskulatur bringt es beim wachen Fahrzeuginsassen mit kommt es also gar nicht darauf an, ob nun die impulsför-
sich, dass eine tiefer gelegene, aus einer Bewegungsdyna- mige Einwirkung nach Art, Richtung und Größe »geeig-
mik resultierende Verletzung der HWS nicht vorstellbar net« war für einen Schadenseintritt. Es kommt vielmehr
erscheint ohne eine Überwindung dieser Schutzfunktion darauf an, das gesamte Befundbild in all seinen Details
(= Muskelzerrung). (klinisch-funktionell, neurologisch und bildgebend) da-
Bei der Vollversteifung der HWS (Bechterew-Krank- hingehend zu hinterfragen, ob diese Befunddaten tatsäch-
heit) oder bei einer fortgeschrittenen Osteoporose mit Be- lich ein Erstschadensbild – unter Umständen gefördert von
teiligung der Halswirbelkörper können relativ geringe vorbestehenden, den Schadenseintritt begünstigenden
impulsförmige Kopfbewegungen gegenüber dem Rumpf Veränderungen – vollbeweislich belegen können.
zur Fraktur führen. Bei vorbestehender Texturstörung der
Bandscheiben genügen relativ geringe Kräfte zur unfall-
bedingten Schädigung – Einreißen entlang der Luschka- 55.11 Praktische Begutachtung
Spalte. Die Beispiele zeigen, dass für die Ausnahme vom
Regelfall eine solche Plausibilität pathophysiologisch – Nach Auftragseingang sollte der beauftragte Sachverstän-
auch für den medizinischen Laien verständlich – gutacht- dige umgehend prüfen, ob zur Lösung des gutachtlichen
lich aufgezeigt werden kann. Problems eine genügende Kompetenz besteht. Bei dieser
ersten Aktensichtung ist es möglich, die Hinzuziehung der
bereits gefertigten Bilddokumente zu veranlassen, die der
55 55.10 Bedeutung vorbestehender Sachverständige grundsätzlich selbst überprüfen sollte.
Veränderungen Die Fertigung eines Aktenauszugs schon im Vorfeld der
gutachtlichen Begegnung und Untersuchung des Proban-
Diese Überlegungen zeigen aber auch, wie wichtig die den erscheint ratsam, da anhand dieser schriftlich schon
Klärung der Frage ist, wie es um die gesundheitlichen vorliegenden Daten ein zielgerichtetes Hinterfragen von
Verhältnisse der vermeintlich oder tatsächlich verletzten verbliebenen Unklarheiten mit dem Probanden möglich
Person unmittelbar vor dem Unfallgeschehen bestellt ist, insbesondere auch zu den altanamnestischen Daten,
war! die gelegentlich die gutachtliche Beurteilung beeinflussen.
Diese Fragestellung zielt keineswegs – wie häufig un- Der Sachverständige ist gehalten, sich einen Eindruck
terstellt – darauf ab, den unfallfremden Charakter des ver- zu verschaffen über Art, Richtung und Größe der ein-
bliebenen Beschwerdebilds zu begründen. Vielmehr zielt wirkenden Kräfte, um auf diesem Weg eine ungefähre Vor-
diese Eingangsfrage darauf ab, zu prüfen, ob im konkreten stellung zu gewinnen, ob ein Verletzungseintritt zumindest
Einzelfall möglicherweise eine geringere Bewegungsdyna- als möglich angesehen werden kann. Dabei muss der Sach-
mik zwischen Kopf und Rumpf – im Vergleich mit einer verständige auch wahrnehmen, ob besondere Aspekte eine
gesunden Person – ausreichend war, um die vorgeschädig- erhöhte Verletzungsgefährdung – z. B. beim schlafenden
te und damit minderbelastbare Struktur zu schädigen. Ein oder alkoholisierten Fahrzeuginsassen – erkennen lassen.
beim Gesunden bedeutungsloser, weil nicht schädigender Eine abrupte, durch eine Frontalkollision erzwungene
Vorgang mutiert in einer solchen Fallkonstellation zu Kopfbewegung nach vorn bringt die Möglichkeit einer
einem rechtlich bedeutsamen Ursachenbeitrag zum Ver- Nackenmuskelzerrung mit sich, zumindest dann, wenn
letzungseintritt, weil eine schicksalhafte vorbestehende kein ausreichender Airbagschutz zur Verfügung stand. Bei
Komponente den Weg zur Realisierung des Gesundheits- heftigen Frontalkollisionen ist an die Möglichkeit einer
schadens gebahnt hat. Solche grundsätzlichen Überlegun- sog. Abknickverletzung der mittleren bis unteren HWS zu
gen des Sachverständigen – die allerdings nur bei struktu- denken, beim Fahrer ohne Airbagschutz fast immer
rellen Läsionen von Bedeutung sind – können unter verknüpft mit einer Gesichtsschädelverletzung (Lenkrad-
Umständen überhaupt erst das Tor öffnen, um einen Haf- kontakt).
tungsanspruch an den Schädiger plausibel zu begründen. Eine Seitkollision bringt die Möglichkeit einer Muskel-
Dies setzt aber stets auch den Vollbeweis des Erstschadens- zerrung auf der stoßabgewandten Seite mit sich, aber auch
bilds voraus. nur dann, wenn die Kopfbewegung nicht durch einen
55.12 · Verhalten des Unfallbeteiligten unmittelbar nach Unfall
611 55
Seitenairbag oder den Aufprall an der Seitenscheibe unter- getretenen Verletzungen erkundigt, also zielgerichtet
brochen wurde. handelt bis hin zur Verständigung der Polizei oder eines
Der Prüfaspekt »Unfallmechanik« erlaubt dem Sach- eventuell benötigten Kranken- oder Abschleppwagens. In
verständigen zu beurteilen, ob Unfallmechanik und eine diesen Fällen bleibt der Unfallbeteiligte an der Unfallstelle,
vom Erstuntersucher zumindest unterstellte, in den sel- nimmt an der polizeilichen Unfallprotokollierung teil und
tensten Fällen auch befundmäßig objektiv belegte Ver- setzt nicht selten mit dem eigenen beschädigten PKW –
letzung miteinander in Einklang stehen. alternativ mit dem Abschleppfahrzeug – seine Fahrt fort,
räumt dann in aller Regel auch ein, dass anfänglich gar
keine subjektiv wahrnehmbaren Beschwerden bestanden
55.12 Verhalten des Unfallbeteiligten haben. Solche Angaben sind für die Feststellung des Ein-
unmittelbar nach Unfall tritts einer Verletzung – und auch ihrer Schwere – von er-
heblicher Bedeutung, da sie eine strukturelle Verletzung
Für den Gutachter sind Informationen über Verhaltens- ausschließen.
weisen der unfallbeteiligten Person noch an der Unfallstel- Die anamnestische Exploration offenbart gar nicht
le, aber auch zum Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens der selten, dass erst bei einem Kontakt mit Angehörigen oder
subjektiv erlebten Beschwerden von erheblicher Bedeu- am Arbeitsplatz von Unbeteiligten Bedenken geäußert
tung bei der Unterscheidung zwischen funktioneller und werden, dass vielleicht doch eine Verletzung eingetreten
struktureller Läsion. Die diesbezügliche Befragung des sein könnte. Erst dann werden Beschwerden wahrgenom-
Probanden offenbart häufig auch prompt die fast regelhaft men und führen zu einer ärztlichen Konsultation.
auftretenden, durchaus verständlichen psychodynami- Bei der anamnestischen Exploration sollten zielgerich-
schen Reaktionen des als – seelisch – verletzend empfun- tete Fragen zum Frühverlauf gestellt werden (7 Übersicht).
denen unverschuldeten Ungemachs. Auch die so häufigen
emotional gefärbten Überreaktionen, die sich nur allzu oft
Anamnestische Exploration: Fragen im Einzelnen
perpetuierend über Wochen, Monate oder gar Jahre hin-
5 Welche Erinnerung hat der Proband an den
weg fortsetzen, werden bei einem solchen gutachtlichen
Unfallablauf?
Vorgehen leicht erkennbar.
5 Wie hat er sich unmittelbar nach der Kollision
So gut wie immer wird über Schreckreaktionen mit
verhalten?
vielfältigsten Erscheinungsbildern berichtet – über Sekun-
5 Bestand ein beschwerdefreies Intervall?
den anhaltende Bewusstseinseintrübung, subjektiv erlebte
5 Erfolgte eine Mitwirkung an der polizeilichen
Parästhesien an Armen und Beinen, Zittern, Unfähigkeit,
Unfallaufnahme?
geordnet zu denken, Angstreaktionen, fast immer ver-
5 Wie ist er von der Unfallstelle weggekommen?
knüpft mit vegetativen Reaktionen wie Übelkeit, Schwin-
5 Was geschah mit dem beschädigten Fahrzeug?
del und Kopfschmerz etc. –, die bei entsprechend veranlag-
5 Wurde ein Leihwagen in Anspruch genommen?
ten Personen so weit gehen können, dass sie unfähig sind,
5 Wann setzten erstmals Beschwerden ein?
das Fahrzeug aus eigener Kraft zu verlassen – obwohl sie,
5 Welcher Art waren die Erstbeschwerden?
wie sich später häufig herausstellt, körperlich unverletzt
5 Wann und warum fiel der Entschluss, zum Arzt zu
geblieben sind. Dies konnte sogar experimentell bei frei-
gehen?
willigen Probanden mittels vorgetäuschten Crashver-
5 Hat der Arzt klinisch untersucht (»angefasst«)?
suchen nachgewiesen werden [21].
5 Wie hat der erstuntersuchende Arzt den Befund
Dieser Personenkreis ist in der Regel auch unfähig,
gedeutet?
gegenüber dem Gutachter die Unfallentstehung und den
5 Wurden weitere Untersuchungen veranlasst?
Unfallablauf näher zu beschreiben. Gerade diese stressin-
Wenn ja, wie wurden die Befunde gedeutet?
duzierten, psychisch determinierten Beschwerden, laien-
5 Welche Behandlungen wurden durchgeführt?
haft gern als »Unfallschock« bezeichnet, führen dazu, dass
5 Kam es zur Beschwerdebesserung oder
seitens der behandelnden Ärzte von einem »schweren«
Beschwerdeausweitung?
Schleudertrauma gesprochen wird und damit die nach-
5 Erfolgten ein oder mehrere Arztwechsel?
folgende versicherungsrechtliche Auseinandersetzung be-
reits vorprogrammiert ist.
Nicht selten wird berichtet, dass nach einem kurzen Ein solches zeitraubendes anamnestisches Interview zur
Moment der Desorientiertheit die Situation überblickt Frühphase nach dem Unfall und zum ärztlichen Prozedere
wird, die betroffene Person eigentätig den Gurt löst und erscheint gutachtlich unverzichtbar, da hieraus bereits
aussteigt, den Fahrzeugschaden in Augenschein nimmt Rückschlüsse gezogen werden können, die im Weiteren zu
und sich bei anderen Unfallbeteiligten nach eventuell ein- hinterfragen sind anhand der ärztlichen Befundfeststellun-
612 Kapitel 55 · Halswirbelsäulenbegutachtung

gen bei der Erstuntersuchung und im weiteren unfallnahen hauptung – die prinzipiell nicht nachprüfbar ist – reicht
Zeitraum. jedoch grundsätzlich nicht aus, um das Erstschadensbild
objektiv nachzuweisen.

55.13 Erstbefund
55.14 Lösung des Kausalitätsproblems
Zur gutachtlichen Sicherung des Erstschadensbilds genügt
es nicht, die in einem knapp gefassten ärztlichen Attest Hinter einer solchen subjektiv mitgeteilten, aber eben
angegebene Diagnose einer »Distorsion« oder eines unspezifischen Symptomatik kann sich durchaus eine un-
»Schleudertraumas« der HWS ungeprüft zu übernehmen. fallbedingt eingetretene Zerrung der Weichteile verbergen,
Solche ärztlichen Äußerungen beruhen – wie wissen- die sich bildtechnisch dem notwendigen Nachweis
schaftliche Untersuchungen ergeben haben [31] – auf einer entzieht. Eine hilfsweise und indirekte Beweisführung für
dramatisierenden und damit den Arzt beeindruckenden einen solchen tatsächlichen – nichtstrukturellen – Ver-
Schilderung der Schwere des Unfallgeschehens, die beim letzungseintritt ist dann nur noch mehrschrittig mittels
Arzt Assoziationen mit einer dann »selbstverständlich« zu Indizien zu führen (s. folgende 7 Übersicht).
erwartenden Verletzung weckt.
Die sehr häufig mitgeteilten Erstbefunde (z. B. im
Indizien einer nichtstrukturellen Verletzung
D-Arztbericht) mit globalen Angaben über
5 Keine Symptomatik vor dem Unfallgeschehen.
4 Muskelverspannungen – jedoch ohne genaue
5 Verletzungsmöglichkeit unfallmechanisch
Lokalisationsangaben,
plausibel.
4 Druckschmerzhaftigkeiten – meist polytop im
5 Beschwerdearmes Intervall längstens bis zum
gesamten Nacken,
Morgen des Unfallfolgetags.
4 eine schmerzhafte Bewegungsminderung – global
5 Passendes subjektives Beschwerdebild.
ohne Messdaten,
5 Beschwerdeprovokation an den Weichteilen durch
55 entsprechen einem unspezifischen Zervikalsyndrom, sind
Druck und Bewegung im Bereich der gezerrten
Areale.
also nicht verletzungsbeweisend, noch nicht einmal verlet-
5 Beschwerdemaximum im engen zeitlichen
zungsspezifisch oder auch nur verletzungstypisch ist [38,
Verhältnis zur Unfalleinwirkung.
9]. Mit einem solchen Befundrapport kann der Sachver-
5 Abklingen der Beschwerden in einem über-
ständige nichts anfangen.
schaubaren Zeitraum von Tagen bis längstens
Bei einem tatsächlichen Verletzungseintritt und einer
2–3 Wochen.
dann stets – zumindest begleitend – vorliegenden Zerrung
einzelner Muskelabschnitte im Halsbereich wird man im
klinischen Bild, sofern sorgfältig untersucht wird, Folgen- Dieser skizzierte Verlauf entspricht dem Regelfall einer
des erwarten dürfen [12]: nichtstrukturellen (Bagatell-)Verletzung entsprechend
4 Nur der gezerrte Muskel zeigt eine Tonuserhöhung pathophysiologisch gesicherter Erkenntnisse der Heilung,
und Druckdolenz. sodass mit diesen Verlaufsdaten die Kausalitätsfrage
4 Nur diese Muskulatur entwickelt eine sog. Verkürzung. dahingehend beantwortet werden kann, dass es sich tat-
4 Nur hier ist ein Dehnungsschmerz auslösbar. sächlich bei dem nach dem Unfallgeschehen temporär
4 Damit verknüpft ist eine asymmetrische Bewegungs- beklagten Symptomenbild um eine Unfallfolge im Sinne
störung des Kopfs. der »funktionellen« Läsion gehandelt hat.
Eine solche verlaufsorientierte Sicherung des Erstscha-
Solche differenzierten klinischen Befundmitteilungen sind densbilds inklusive Kausalitätsbeurteilung schließt jedoch
jedoch in der Realität selten zu finden. automatisch eine auf Dauer bestehende unfallbedingte
Da nun in der übergroßen Zahl der Fälle die in der Symptomatik aus, die bei den unweigerlich physiologisch
Frühphase gefertigten Bildbefunde nichts hergeben, steht ablaufenden Heilungsvorgängen nach einer »funktionel-
der Sachverständige bezüglich des von ihm abverlangten len« Verletzung grundsätzlich nicht eintreten kann.
Vollbeweises für das Erstschadensbild häufig mit leeren
Händen da. Die »leere« Kernspintomografie aus der Früh-
phase beweist förmlich die nicht eingetretene Verletzung. 55.15 Gutachtliche Systematik
Die einzig verbleibende Argumentation ist die Mitteilung
des Probanden, vor dem Unfall beschwerdefrei gewesen zu In der medizinischen Begutachtung gilt der Grundsatz,
sein, jedoch nicht mehr nach dem Unfall. Eine solche Be- dass der sog. Regelfall keiner besonderen Beweisführung
55.15 · Gutachtliche Systematik
613 55

Unfallkausalität
Prüfschema: Kausalität »Schleudertrauma« zweifelhaft, sobald hier
einzutragen ist
A. EINSTIEGSEBENE der naturwissenschaftlich-philosophischen Kausalität
Wurde der Hals/die HWS bewegungsdynamisch belastet? ja nein
• leichter Unfall (ΔV* niedrig) nein ja
• schwerer Unfall (ΔV* hoch) ja nein
• mit Kopfanprall nein ja
• wacher, nicht alkoholisierter Fahrzeuginsasse nein ja
• Kopfstütze zu niedrig positioniert ja nein
• Anderweitige(r) verletzungsfördende(r) Faktor(en) ja nein
– zu benennen und zu erläutern
*ΔV = anstoßbedingte Geschwindigkeitsänderung

B. REALISIERUNGSEBENE
Nachweis des Erstschadenbildes mittels Indizien
• Zervikalsyndrom im Zeitraum vor Unfall? nein ja
• Sofortsymptomatik im Halsbereich ja nein
• Erstbeschwerden mehr als 24 Stunden später nein ja
• Inadäquate – übermäßige – psychische
Schreckreaktion nein ja
• Informativer klinischer Erstbefund ja nein
• Provozierbare Weichteilsymptomatik ja nein
• MRT: leer, nur Altbestand, kein bone bruise nein ja
• Beschwerdemaximum unfallnah ja nein
• Abklingende Beschwerden binnen Tagen/Wochen ja nein
Gesamtbewertung:
• fehlende Plausibilität für Verletzungseintritt nein ja
• nach Verlauf Weichteilzerrung anzunehmen ja nein
Nachweis des Erstschadens im Vollbeweis
• MRT-belegte mikrostrukturelle Verletzung ja
• definierte makro-strukturelle Verletzung ja
– begünstigende Schadenanlage ja

C. ENTSCHEIDUNGSEBENE Kausalität
• Frische strukturelle Verletzung bildtechnisch belegt bewiesen
– Verletzungsfolgen sind befundorientiert zu bemessen
• Bandscheibenprotrusion oder Prolaps nein
• Weichteil-/Muskelzerrung belegt (keine Dauerfolgen) hoch wahrscheinlich
• Frühverlauf spricht für Zerrung (keine Dauerfolgen) wahrscheinlich
• Verletzungsnachweis weder direkt noch indirekt möglich nein

Inadäquate psychische Reaktionen:


– Neurologische Zusatzgutachten

. Abb. 55.1 Prüfschema: Kausalität »Schleudertrauma«. (Aus Schiltenwolf und Hollo [60]; mit freundl. Genehmigung)

bedarf, während ein Abweichen vom Regelfall den Sach- für Schritt zu einer gutachtlichen Beurteilung gelangen, die
verständigen zwingt, die pathophysiologische Plausibilität sich letztendlich als tragfähig erweist (. Abb. 55.1).
für diesen besonderen Fall herauszuarbeiten, um Über- Stößt er dabei auf eine psychogen identifizierbare
zeugungen zu vermitteln. Zu berücksichtigen sind dabei Symptomatik, endet jedoch die Beurteilungskompetenz
auch eingetretene Komplikationen oder Fehlbehandlun- des organmedizinisch orientierten Sachverständigen (Un-
gen, die – wenn die Behandlung auf die Unfallfolgen aus- fallchirurg, Orthopäde etc.). Die in der Untersuchungs-
gerichtet war – mit ihren Folgeerscheinungen auch dem situation beobachteten Verhaltensauffälligkeiten, wie z. B.
Unfall zuzurechnen sind. berichtete Ängste beim Autofahren, besonders beim Pas-
Geht der Gutachter systematisch in der Reihenfolge sieren der Unfallstelle, Tränenausbrüche bei Schilderung
der hier besprochenen Prüfaspekte vor, so wird er Schritt des Unfallgeschehens und organpathologisch nicht er-
614 Kapitel 55 · Halswirbelsäulenbegutachtung

klärbare Symptomenschilderungen sollten allerdings dung mit einer nachhaltigen juristischen Hilfestellung
nachdenklich stimmen und Veranlassung geben, eine zu- unter der Überschrift »HWS-Schleudertrauma« zu einer
sätzliche nervenärztliche Begutachtung zu empfehlen. in der Summe gewaltigen, durch eine verunsicherte Recht-
sprechung sanktionierten, aber ungerechtfertigten
Schmerzensgeldleistung geführt haben.
55.16 Häufige gutachtliche Fehler

Der häufigste und schlimmste gutachtliche Fehler liegt in 55.17 Resümee


der Behauptung, dass ein Unfall für eine bestimmte Ver-
letzung »geeignet« gewesen sei und damit die aus der Die traumatologische Begutachtung des sog. Schleuder-
Eignung abgeleitete Möglichkeit gleichgesetzt wird mit traumas kann sich an 4 Fallkategorien orientieren:
dem tatsächlichen Verletzungseintritt. Nicht selten wird 1. Die sehr seltenen schweren HWS-Verletzungen struk-
aus der anhaltenden Dauer der Beschwerden ohne jegliche tureller Art sind mit den heutigen diagnostischen
Prüfung anhand anderer Kriterien auf ein »schweres« Möglichkeiten sehr leicht vollbeweislich zu belegen,
Schleudertrauma zurückgeschlossen. Der Sachverständige werden fast immer optimal versorgt und zeigen – von
verzichtet dabei auf die Ausleuchtung der Anfangsbefunde wenigen Ausnahmen abgesehen – einen zeitlich
und damit auf den Vollbeweis des Erstschadensbilds an- plausiblen Heilverlauf über einige Wochen hinweg.
hand belastbarer Befunddaten. Überraschenderweise münden diese Verletzungen
> Eine als »geeignet« angesehene Unfallmechanik
häufig in ein gutes, gelegentlich sogar folgenloses
eröffnet nur die Möglichkeit eines Verletzungs-
Ausheilungsergebnis ein.
eintritts, jedoch nicht die Wahrscheinlichkeit und
2. Die eher seltenen mikrostrukturellen Verletzungen
ersetzt auch nicht den notwendigen Vollbeweis des
sind mittels der Kernspintomografie anhand von Ein-
Erstschadensbilds.
blutungen, Ödembildungen und dem sog. »bone
bruise« problemlos nachweisbar. Sie heilen so gut wie
Ein weiterer häufig zu beobachtender Fehler liegt darin, immer in einem überschaubaren Zeitraum von weni-
55 dass man der Einfachheit halber Beschwerden, die nach gen Wochen folgenlos aus.
dem Unfall beklagt wurden, automatisch gleichsetzt als 3. Die funktionellen, also ohne eine Strukturschädigung
hervorgerufen durch den Unfall, dies dem Prinzip des einhergehenden Verletzungen im Sinne der Zerrung
»post hoc, ergo propter hoc« entsprechend. In der juristi- der Halsweichteile folgen den physiologischen Ge-
schen Gutachtenliteratur wird dies als dummer gutachtli- setzmäßigkeiten der Heilung und klingen stets mit
cher Fehler bezeichnet [45]. ihrer Symptomatik rasch und folgenlos ab. Für eine
Eine solche zeitliche Abfolge ist zwar die Eingangs- subjektiv erlebte lang anhaltende und sich ausweiten-
voraussetzung für einen Kausalzusammenhang, da die de, organüberschreitende Symptomenbildung fehlt
umgekehrte Reihenfolge den Kausalzusammenhang auto- pathophysiologisch jegliche Plausibilität, dies im Üb-
matisch ausschließen würde. Sie ist jedoch nicht bewei- rigen auch bei den höhergradigen Verletzungsbildern.
send für eine Kausalitätsverknüpfung. 4. Die übergroße Zahl der Unfallbeteiligten wird man
Als banalen, nicht dem Anspruch eines professionellen als nicht verletzte Personen zu bezeichnen haben.
Gutachtens entsprechenden Fehler hat die Äußerung »Ich Dennoch gestellte Verletzungsdiagnosen beruhen auf
bin der Meinung, dass …« zu gelten. Persönliche ärztlichen Unsicherheiten und forensischer Vorsicht
Meinungsäußerungen sind im Gutachten nicht gefragt, [44]. Diese vermeintlichen Diagnosen haben weder
sondern ein Abgleich der Fakten des konkreten Einzelfalls die Qualität des Vollbeweises, noch ergeben sie eine
mit gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Der genügende pathophysiologische Plausibilität für die
Sachverständige, der so argumentiert, verzichtet regelhaft nachfolgend ausgeweiteten Symptomenbilder. Diese
auf Darlegungen zu einer pathophysiologischen Plausibili- sind in aller Regel Folge einer inadäquaten ärztlichen
tät, also zur Verknüpfung von Erstschadensbild mit pro- wie auch juristischen Stützung von angstgeprägten
longierter Symptomatik; dies tut er wohl auch deshalb, weil Überzeugungen und einer Entschädigungserwartung
eine solche Verknüpfung zumindest bei funktionellen im Sinne einer Verhaltensstörung [49].
Verletzungen nicht gelingen kann, aber das anerzogene
»Helfersyndrom« des kurativ tätigen Arztes Neigungen
stützt, dem klagenden Patienten dennoch etwas zukom- 55.18 Zusammenfassung
men zu lassen.
Solche inadäquaten ärztlichen Begutachtungen dürf- Parallel zum stetig fortschreitenden wissenschaftlichen Er-
ten in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in Verbin- kenntniszugewinn unterliegen auch gutachtliche Algorith-
Literatur
615 55
men einem stetigen Wandel, zusätzlich noch mitgeprägt 16. Erichsen JE (1882) Concussion of the spine: nervous shock.
von einer fortlaufenden Weiterentwicklung der Recht- Longmans, Green and Co., London
17. Ferrari R, Russell AS, Lang JG (2002) Warum Patienten mit ein-
sprechung. Dies ist besonders deutlich spürbar bei der
facher Halswirbelsäulendistorsion persistierende Beschwerden
Begutachtung zum Thema »Schleudertrauma der HWS«, auf neurologischem Gebiet entwickeln können. Versicherungs-
in früheren Jahrzehnten geprägt von der diagnostischen medizin 54:138–144
wie auch wissenschaftlichen Unsicherheit darüber, was 18. Friedburg H, Nagelmüller T (1997) Welchen Beitrag vermögen CT
sich hinter einer solchen Bezeichnung verbirgt. Weil die und MRT zur posttraumatischen Beurteilung der Kopf-/Hals-
region zu liefern? In: Graf-Baumann T, Lohse-Busch H (Hrsg)
Diagnostik insbesondere durch die Kernspintomografie
Weichteildistorsionen der oberen Halswirbelsäule. Anatomie,
wesentlich sicherer geworden ist und die vielfältigen hypo- Neurophysiologie, Diagnostik, Therapie und Begutachtung.
thetisch-paramedizinischen Lösungsansätze in die Be- Springer, Heidelberg, 135–151
deutungslosigkeit abgerutscht sind, ist die Begutachtung 19. Fritzsche M (1997) Dokumentation des Bewegungsablaufes bei
zum sog. Schleudertrauma – weil nunmehr faktenorien- der ergokinetischen Untersuchung. Man Med 35:136–140
tiert – wesentlich rationaler und damit in der Aussage 20. Gay JR, Abbott KH (1953) Common whiplash injuries of the neck.
J Almer Med Ass 152(10):1698–1704
plausibler und nachvollziehbarer geworden. Ein struktu-
21. Hein MF et al (2000) Gibt es ein »HWS-Schleudertrauma« ohne
riertes Vorgehen im Prüfungsverfahren zur Kausalität ist biomechanische Belastung? Ergebnisse einer interdisziplinären
eine der wesentlichsten Voraussetzungen für die »Annähe- Studie. Osteologie 9:36
rung an die Wahrheit durch Sorgfalt und Gewissenhaftig- 22. Helliwell BS, Stevans BF, Wright V (1994) The straight cervical
keit bei Fertigung der Expertise« [56]. Hierfür steht der spine. Does it indicate muscle spasme? J Bone Joint Surg
76B:103–106
Sachverständige im Sinne der aristotelischen Tradition in
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616 Kapitel 55 · Halswirbelsäulenbegutachtung

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617 56

Gesundheitsökonomische
Aspekte von Rückenschmerzen
O. Damm, D. Bowles, W. Greiner

56.1 Einleitung – 618

56.2 Krankheitskostenanalysen – 618


56.2.1 Ökonomische Krankheitslast von Rückenschmerzen – 618
56.2.2 Krankheitskosten von Rückenschmerzen in Deutschland – 619

56.3 Kosteneffektivität von Interventionen – 624


56.3.1 Passive physikalische Behandlungsmodalitäten – 624
56.3.2 Aktive Bewegungs- und Kräftigungstherapien – 624
56.3.3 Manuelle Behandlungsoptionen – 625
56.3.4 Kognitive Verhaltenstherapie – 626
56.3.5 Multidisziplinäre Ansätze – 626
56.3.6 Pharmakologische Interventionen – 627
56.3.7 Akupunktur – 627
56.3.8 Leitlinien- und qualifikationssystemgestützte Behandlung – 627

56.4 Schlussfolgerung – 627

Literatur – 628

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_56, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
618 Kapitel 56 · Gesundheitsökonomische Aspekte von Rückenschmerzen

Rückenschmerzen gehen nicht nur mit bedeutenden Ein- Krankheitskostenstudien im Feld der Rückenschmerzen
schränkungen der Lebensqualität der Betroffenen durch zu geben sowie die Ergebnisse nationaler und internatio-
Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen einher, naler Studien bezüglich der Kosteneffektivität untersuch-
sondern stellen auch eine enorme wirtschaftliche Belastung ter Technologien strukturiert zusammenzufassen.
für die Gesellschaft dar. Der größte Teil der durch Rücken-
schmerzen verursachten Kosten ist auf Produktionsausfall-
kosten aufgrund von Arbeitsunfähigkeit und verminderter 56.2 Krankheitskostenanalysen
Produktivität am Arbeitsplatz zurückzuführen. Daher sollten
aus gesundheitsökonomischer Perspektive vornehmlich Krankheitskostenstudien werden hauptsächlich eingesetzt,
Therapiestrategien zum Einsatz kommen, die eine Verringe- um den mit einer bestimmten Erkrankung einhergehen-
rung der Arbeitsunfähigkeit zur Folge haben. Die Frage nach den Ressourcenverbrauch zu bestimmen und monetär zu
der kosteneffektivsten Therapieform bei Rückenschmerzen bewerten. Neben der Quantifizierung der direkten medi-
kann jedoch derzeit aufgrund der Vielzahl an möglichen zinischen sowie nichtmedizinischen Kosten, die unmittel-
Behandlungsalternativen sowie der teilweise sehr hetero- bar durch die Leistungsinanspruchnahme entstehen, wer-
genen Ergebnisse bisheriger Evaluationsstudien nicht ab- den häufig auch die indirekten Kosten einer Krankheit, die
schließend beantwortet werden. sich aus den Produktionsausfallkosten der mit einer Er-
krankung verbundenen Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit
ergeben, berechnet. Im Folgenden werden zunächst die
56.1 Einleitung Kernergebnisse einer Reihe europäischer Krankheits-
kostenstudien, die sich mit Rückenschmerzen auseinan-
In allen westlichen Nationen sind Rückenschmerzen mitt- dergesetzt haben, in komprimierter Form dargestellt. An-
lerweile ein wachsendes Gesundheitsproblem und gehören schließend erfolgt eine detaillierte Betrachtung nationaler
aufgrund der hohen Lebenszeitprävalenz zu den häufigs- Studienergebnisse; in diesem Zusammenhang werden
ten und kostenintensivsten Erkrankungen überhaupt. Um auch die Resultate einer eigens durchgeführten Krank-
der an Rückenschmerzen leidenden Bevölkerung Linde- heitskostenanalyse auf Basis von Routinedaten der Gesetz-
rung zu verschaffen, haben sich in den letzten Jahrzehnten lichen Krankenversicherung vorgestellt.
viele unterschiedliche Behandlungsstrategien etabliert, die
56 sich mit der Prävention und Kuration von Dorsopathien
befassen. Zudem ist inzwischen auch ein bedeutender Teil 56.2.1 Ökonomische Krankheitslast von
der in Deutschland durchgeführten rehabilitativen Maß- Rückenschmerzen
nahmen auf Rückenschmerzen zurückzuführen. Neben
medikamentösen und physikalischen Therapieformen so- Die Analyse europäischer Studien zur ökonomischen
wie Programmen mit Bewegungs- und Kräftigungsübun- Krankheitslast von Dorsopathien zeigt, dass die durch
gen haben auch vielfältige Ansätze der Verhaltenstherapie, Rückenschmerzen verursachten indirekten Kosten – d. h.
Manualmedizin sowie Akupunktur zunehmende Verbrei- die volkswirtschaftlichen Produktivitätsverluste infolge
tung gefunden. von Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit – den dominieren-
Rückenschmerzen sind jedoch nicht nur mit bedeuten- den Kostenanteil darstellen [2, 11, 12, 18, 27]. Erkennbar
den Einschränkungen der Lebensqualität der Betroffenen ist jedoch zugleich, dass die Dominanz der indirekten
durch Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen asso- Kosten von der verwendeten Methodik der Kostenberech-
ziiert, sondern sie stellen auch eine enorme ökonomische nung abhängig ist [19, 27]. Während die Humankapital-
Belastung für die Gesellschaft dar – insbesondere, da methode die gesamte Zeit der Arbeits- wie auch Berufsun-
Rückenschmerzen häufig für Arbeits- und Erwerbsun- fähigkeit von Beginn der erkrankungsbedingten Abwesen-
fähigkeit verantwortlich sind. Aufgrund der hohen Ge- heit bis zum Ende des Erwerbstätigenalters berücksichtigt,
sundheitsausgaben im Bereich der Rückenschmerzen sind geht bei der Ermittlung der indirekten Kosten mithilfe der
Entscheidungsträger außer an der klinischen Effektivität in Friktionskostenmethode nur die Friktionsperiode, d. h.
verstärktem Maße auch an der Kosteneffektivität der ein- die durchschnittliche Dauer bis zur Neubesetzung der
gesetzten medizinischen Technologien interessiert. In die- betreffenden Arbeitsstelle, in die Kalkulation ein. Die
sem Zusammenhang dienen ökonomische Evaluationen Berechnung der indirekten Kosten durch die Humankapi-
dazu, die Kosten von Rückenschmerzen zu quantifizieren talmethode führt daher zu höheren Werten und häufig zu
sowie die Relation zwischen der Wirksamkeit einer Inter- einer Überschätzung der Produktionsausfallkosten. Die
vention und deren Kosten zu analysieren, um in der Folge Anwendung der Friktionskostenmethode führt hingegen
eine effiziente Ressourcenallokation zu unterstützen. Ziel vereinzelt sogar dazu, dass die direkt mit der Behandlung
dieses Kapitels ist es, einen Überblick über bisherige bzw. Versorgung von Rückenschmerzen assoziierten Kos-
56.2 · Krankheitskostenanalysen
619 56
ten höher ausfallen als die infolge von Arbeitsunfähigkeit sprochene Heterogenität der ausgewählten Eingangs-
verursachten indirekten Kosten [3, 44]. parameter (insbesondere hinsichtlich der Prävalenz von
Mit Blick auf die Berechnung der indirekten Kosten ist Rückenschmerzen und den Annahmen zur Leistungsinan-
jedoch noch eine weitere Differenzierung vorzunehmen. spruchnahme), abweichende Versorgungsstandards sowie
So wird zunehmend unterschieden zwischen solchen Kos- Unterschiede auf der Ebene des Gesundheitssystems dazu
ten, die durch eine klassische Abwesenheit vom Arbeits- führen, dass ein unmittelbarer Vergleich der verschiede-
platz zustande kommen (Arbeitsausfall), und solchen Kos- nen Studienergebnisse nicht (oder zumindest nur einge-
ten, die durch den Verbleib am Arbeitsplatz trotz Krank- schränkt) möglich ist [10, 19, 27, 43, 44].
heit – mit einer in der Folge geringeren Produktivität – > Der größte Teil der rückenschmerzbedingten Kosten
entstehen (sog. Präsentismus) [4]. Wieser et al. [44] ist aus gesellschaftlicher Perspektive auf indirekte
konnten in ihrer Studie für die Schweiz feststellen, dass Kosten infolge von Arbeitsunfähigkeit und ver-
permanente Arbeitsunfähigkeit durch Rückenschmerzen minderter Produktivität am Arbeitsplatz zurück-
zwar relativ hohe Kosten verursacht, aber vergleichsweise zuführen.
selten vorkommt. Die klassische temporäre Arbeitsun-
fähigkeit ist zwar weiter verbreitet, führt aber im direkten . Tab. 56.1 gibt einen Überblick über die Resultate einer
Vergleich zu geringeren Kosten. Beide Formen werden je- Reihe europäischer Studien zu den Krankheitskosten von
doch sowohl in Bezug auf die Verbreitung als auch auf die Rückenschmerzen und beinhaltet zudem Informationen
assoziierten Kosten durch das Phänomen des Präsentis- zu grundlegenden methodischen Aspekten der berück-
mus übertroffen [44]. Wenig et al. [43] heben die Bedeu- sichtigten Publikationen. Zur besseren Vergleichbarkeit
tung des Präsentismus für die Berechnung der indirekten werden alle Ergebnisse in Euro und für das Preisjahr 2010
Kosten in ihrer Diskussion hervor, verweisen gleichzeitig angegeben.
aber auf bislang inkonsistente Studienergebnisse. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Rücken-
In einigen der analysierten Studien zeigte sich ein deut- schmerzen mit einer substanziellen ökonomischen Krank-
licher Zusammenhang zwischen den Kosten von Rücken- heitslast assoziiert sind – unabhängig von Unterschieden
schmerzen und dem Schweregrad der Erkrankung. Als in der methodischen Vorgehensweise, der daraus resultie-
Indikatoren des Schweregrads von Rückenschmerzen renden Variabilität hinsichtlich der Studienergebnisse und
dienten dabei die von den Studienteilnehmern angegebene im betrachteten Gesundheitssystem. Der überwiegende
Schmerzintensität [43, 44] sowie der Grad der durch Teil der Krankheitskostenanalysen kommt zu dem Ergeb-
Rückenschmerzen verursachten Einschränkungen [10, 12]. nis, dass indirekte Kosten infolge von – temporärer wie
Teilweise deuten die Ergebnisse der analysierten Stu- permanenter – Arbeitsunfähigkeit sowie verminderter
dien darauf hin, dass die Kosten von Rückenschmerzen Produktivität am Arbeitsplatz den größten Anteil an der
eine schiefe Verteilung aufweisen. Das bedeutet, dass ein ökonomischen Krankheitslast von Rückenschmerzen aus-
nur geringer Anteil an Patienten mit Rückenschmerzen machen. Eine Senkung der (gesamtgesellschaftlichen)
einen Großteil der Kosten verursacht; demgegenüber steht Kosten von Rückenschmerzen wäre demzufolge in erster
die Mehrheit von Patienten, die lediglich moderate oder Linie durch den Einsatz solcher Therapiestrategien zu er-
sogar keine Kosten aufweist [43, 44]. In der Studie von reichen, die zu einer Reduzierung der Arbeitsunfähigkeit
Wenig et al. [43] verursachen ca. 10 % der Patienten nahe- beitragen und gewährleisten, dass die Betroffenen mög-
zu 70 % der gesamten direkten Kosten. Eine Übersichts- lichst schnell (und beschwerdefrei) wieder an ihren
arbeit, die vor allem auf Studien aus den USA basiert, be- Arbeitsplatz zurückkehren.
stätigt die Schiefverteilung der Kosten für Rückenschmer-
zen durch besonders kostenintensive Fälle mit einer langen
Krankheitsdauer. Die Autoren kommen daraufhin zu dem 56.2.2 Krankheitskosten von
Schluss, dass die meisten Kosten vermutlich von (einem Rückenschmerzen in Deutschland
relativ kleinen Anteil von) Patienten mit chronischen Rü-
ckenschmerzen verursacht werden [9]. Die bislang für Deutschland vorliegenden Studien zur
Neben der Erkenntnis, dass Rückenschmerzen hohe ökonomischen Krankheitslast von Rückenschmerzen
Krankheitskosten verursachen, macht die vorliegende weisen teilweise erhebliche methodische Unterschiede auf.
Literaturübersicht darüber hinaus deutlich, dass die Da diese Variabilität bezüglich der Methodik bedeutenden
Methodik der einzelnen Studien erheblich variiert. Die Einfluss auf die Studienergebnisse haben kann, soll an
Mehrzahl der analysierten Studien kommt im Rahmen der dieser Stelle eine genauere Betrachtung und Gegenüber-
jeweiligen Diskussion zu dem Schluss, dass Unterschiede stellung der deutschen Krankheitskostenstudien erfolgen.
in der Definition von Rückenschmerzen, die Berücksichti- Die Krankheitskostenstudie von Bolten et al. [2] erfasst
gung unterschiedlicher Kostenkomponenten, eine ausge- unter der Verwendung eines Top-down-Ansatzes, der eine
620 Kapitel 56 · Gesundheitsökonomische Aspekte von Rückenschmerzen

. Tab. 56.1 Krankheitskosten von Rückenschmerzen – Studienübersicht

Publikation Land Art der Studien- Preis- N Methodik Perspektive


Rückenschmerzen zeitraum jahr

Bolten et al. (1998) Deutschland Akute und chronische 1994 1994 – Top-down Gesellschaft
[2] Rückenschmerzen

Boonen et al. Niederlande Chronische Rücken- 2002 2002 110 Bottom-up Gesellschaft
(2005) [3] schmerzen

Depont et al. Frankreich Chronische Rücken- 2001–2002 2007 796 Bottom-up Versicherten-
(2010) [10] schmerzen gemeinschaft

Ekmann et al. Schweden Rückenschmerzen 2001 2001 – Top-down Gesellschaft


(2005) [11]

Ekman et al. Schweden Chronische Rücken- 2002 2002 302 Bottom-up Gesellschaft
(2005) [12] schmerzen

Hansson u. Schweden Rücken- und Nacken- 1994–1995 2001 1.146 Bottom-up Gesellschaft
Hansson (2005) probleme (+ AU mind.
[18] 28 Tage)

Hutubessy et al. Niederlande Rückenschmerzen 1991 1991 – Top-down Gesellschaft


(1999) [19]

Lafuma et al. Frankreich (Akute) Rücken- 1994–1995 1995 2.406 Bottom-up Gesellschaft
(1998) [22] schmerzepisode

Maniadakis u. UK Rückenschmerzen 1998 1998 – Top-down Gesellschaft


Gray (2000) [27]

56
Wenig et al. (2008) Deutschland Rückenschmerzen 2005 2005 5.650 Bottom-up Gesellschaft
[43]

Wieser et al. Schweiz Rückenschmerzen 2003–2004 2005 1.253 Bottom-up Gesellschaft


(2010) [44]

aHK Humankapitalansatz, Methode zur Berechnung von indirekten Kosten


bFK Friktionskostenansatz, Methode zur Berechnung von indirekten Kosten
cIn € (2010), Anpassung an die Preisentwicklung, ggf. Angleichung der Kaufkraft

Analyse stark aggregierter Daten impliziert, die ökonomi- Die wesentlich aktuellere Studie von Wenig et al. [43]
sche Krankheitslast von Rückenschmerzen auf Basis des berechnet die Kosten von Rückenschmerzen auf Basis von
Preisjahrs 1994. Bei einer Anpassung an das Preisjahr 2010 Preisen des Jahrs 2005. Neben der höheren Aktualität folgt
betragen die jährlichen Gesamtkosten aus gesellschaftlicher die Studie dem Bottom-up-Ansatz, sodass detaillierte Aus-
Perspektive ca. 21,5–22,3 Mrd. Euro. Während Rücken- sagen zu den Krankheitskosten von Rückenschmerzen auf
schmerzen auf Grundlage dieser Studie direkte Kosten in Patientenebene möglich sind. Ausgedrückt in Preisen des
Höhe von 6,1 bis 6,9 Mrd. Euro verursachen, belaufen sich Jahrs 2010 entstehen durch Rückenschmerzen durchschnitt-
die indirekten Kosten auf 15,4 Mrd. Euro pro Jahr. Die liche direkte Kosten in Höhe von 662 Euro und durch-
durch Arbeitsunfähigkeit verursachten indirekten Kosten schnittliche indirekte Kosten in Höhe von 768 Euro pro
stellen damit den dominierenden Kostenblock dar. Patient und Jahr. Die mittleren Gesamtkosten pro Patient
56.2 · Krankheitskostenanalysen
621 56

Kostenebene Direkte Kostenc Indirekte Kostenc Gesamtkostenc Verhältnis von direkten


und indirekten Kosten

Bevölkerung 6,1–6,9 Mrd. € pro 15,4 Mrd. € pro Jahr 21,5–22,3 Mrd. € pro Jahr Direkt: 28,2–31,0 %
Jahr Indirekt: 69,0–71,8 %

Patient 5.982 € pro Jahr 3.143 € pro Jahr 9.125 € pro Jahr Direkt: 66 %
Indirekt: 34 %

Bevölkerung – – 6,8 Mrd. € pro Jahr –

Patient 689 € pro Patient – – Direkt: 16 %


und 6 Monate Indirekt: 84 %

Bevölkerung 0,35 Mrd. € pro Jahr 2,1 Mrd. € pro Jahr 2,1 Mrd. € pro Jahr Direkt: 15 %
Indirekt: 85 %

Patient 3.426 € pro Jahr 19.511 € pro Jahr 22.948 € pro Jahr Direkt: 11 %
Indirekt: 89 %

Patient – – 21.140 € pro Jahr –

Bevölkerung – 6,9 Mio. € pro Jahr (HK)a – –


2,3 Mio. € pro Jahr (FK)b

Patient 168 € pro Episode 86 € pro Episode 254 € pro Episode –

Bevölkerung 2,5 Mrd. € pro Jahr 16,5 Mrd. € pro Jahr (HK)a 18,9 Mrd. € pro Jahr (HK)a Direkt (HK): 13,3 %
7,7 Mrd. € pro Jahr (FK)b 10,3 Mrd. € pro Jahr (FK)b Direkt (FK): 24,5 %
Indirekt (HK): 86,7 %
Indirekt (FK): 75,5 %

Patient 663 € pro Jahr 768 € pro Jahr 1.430 € pro Jahr Direkt: 46 %
Indirekt: 54 %

Bevölkerung – – 53 Mrd. € pro Jahr –


– –

Patient 1.925 € pro Jahr 3.057 € pro Jahr (HK)a 4.982 € pro Jahr (HK)a –
1.641 € pro Jahr (FK)b 3.566 € pro Jahr (FK)b

2,7 Mrd. € pro Jahr 4,3 Mrd. € pro Jahr (HK)a 7,0 Mrd. € pro Jahr (HK)a Direkt (HK): 38,6 %
Bevölkerung 2,3 Mrd. € pro Jahr (FK)b 5,0 Mrd. € pro Jahr (FK)b Direkt (FK): 54,0 %
Indirekt (HK): 61,4 %
Indirekt (FK): 46,0 %

und Jahr belaufen sich demnach auf 1.430 Euro. Bei einer pro Jahr. Gemessen an den mittleren Kosten pro Patient er-
Betrachtung der einzelnen Versorgungssektoren und Leis- gibt sich ein erhöhter Anteil an indirekten gegenüber den
tungsbereiche ergeben sich direkte Durchschnittskosten pro direkten Kosten von Rückenschmerzen (54 vs. 46 %); der
Patient und Jahr in Höhe von 150 Euro für die ambulant- Unterschied fällt aber weit weniger deutlich aus als in der
ärztliche Versorgung, 46 Euro für Arzneimittel, 147 Euro für zuvor beschriebenen Studie von Bolten et al. [2].
Physiotherapie/Krankengymnastik, 34 Euro für orthopädi- Eine in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung
sche Hilfsmittel, 191 Euro für die stationäre Akutversorgung durchgeführte und bislang weitestgehend unveröffentlich-
und 96 Euro für Rehabilitationsmaßnahmen. Nach einer te Studie der Autoren dieses Beitrags erfasst die Krank-
Hochrechnung auf die Gesamtbevölkerung Deutschlands heitskosten von Rückenschmerzen auf Basis einer Aus-
ergeben sich Gesamtkosten in Höhe von ca. 53 Mrd. Euro wertung von routinemäßig erhobenen Abrechnungsdaten
622 Kapitel 56 · Gesundheitsökonomische Aspekte von Rückenschmerzen

Ambulantärztliche Heil- und Hilfsmittel Opioide (18,9 %)


Versorgung (41,8 %) (24,4 %)

Andere Analgetika
und
Antipyretika
(13,6 %)

Arzneimittel Topische Mittel


(18,2 %) (8,5 %)

Rehabilitation Krankenhaus Antiphlogistika und Muskelrelaxanzien


(1,7 %) (13,9 %) Antirheumatika (55,4 %) (3,6 %)

. Abb. 56.1 Verteilung sektoren- und leistungsspezifischer Kosten . Abb. 56.2 Verteilung relevanter Arzneimittelgruppen

einer großen deutschen Krankenkasse aus dem Jahr 2005. Krankengymnastik Wärme und Kälte-
Da Routinedaten der Gesetzlichen Krankenversicherung (46,3 %) therapie (14,5 %)
eine personenbezogene, leistungs- und sektorenüber- Massagen
greifende sowie longitudinale Perspektive einnehmen, ver- (11,2 %)
fügen sie über Eigenschaften, die sie für Studien der Ver-
sorgungsforschung besonders geeignet erscheinen lassen.
Ausgedrückt in Preisen des Jahrs 2010 belaufen sich die
durchschnittlichen direkten Kosten von Patienten mit
Rückenleiden der ICD-10-Diagnosegruppen M50, M51, Manuelle
Therapie (9,4 %)
M53 und M54 der Analyse zufolge auf 243 Euro pro Jahr.
Frauen verursachen dabei mit rund 271 Euro pro Jahr Elektrotherapie
56 höhere Durchschnittskosten als Männer, bei denen die (2,0 %)
Sonstiges
Kosten bei 228 Euro pro Jahr liegen. Die Ausgaben für die (16,7 %)
ambulant-ärztliche Versorgung bilden den größten Ausga-
. Abb. 56.3 Verteilung relevanter Heilmittel
benblock, gefolgt von den Heilmitteln, den Arzneimitteln
sowie den Ausgaben für die stationäre Akutversorgung
(. Abb. 56.1). Den geringsten Anteil an den Gesamtausga- Höhe von 532 Euro. Diese Durchschnittswerte basieren
ben weisen die Rehabilitationsmaßnahmen auf. Der hohe auf Berechnungen für den jeweiligen Patientenanteil, der
Anteil der Kosten ambulant-ärztlicher Versorgung ist vor die entsprechenden Versorgungssektoren und Leistungs-
allem auf die fehlende indikationsspezifische Zurechen- bereiche tatsächlich in Anspruch genommen hat.
barkeit der Ausgaben zurückzuführen; daraus ergibt sich Im stationären Bereich zeigt sich eine Dominanz von
eine mögliche Überschätzung der rückenschmerzspezifi- Bandscheibenschäden (ICD-10-Diagnosen M50 und
schen Kosten in diesem Bereich. Bei den rehabilitativen M51), gefolgt von Rückenschmerzen (M54) und sonstigen
Maßnahmen ist hingegen eher von einer Unterschätzung Erkrankungen der Wirbelsäule und des Rückens (M53).
der Kosten auszugehen, da zum einen lediglich Daten der Eine Analyse der abgerechneten DRG-Fallpauschalen ver-
Gesetzlichen Krankenversicherung und keine Daten der deutlicht, dass über die Hälfte der stationären Kranken-
Rentenversicherung vorlagen. Zum anderen ist davon aus- hausfälle konservativ behandelt wurde. Die Therapie von
zugehen, dass dem zugrunde liegenden Datensatz für den Bandscheibenschäden (M50 und M51) verursacht dabei
Bereich der Rehabilitationsmaßnahmen, die von den mit rund 3.466 Euro die höchsten Durchschnittskosten,
Krankenkassen getragen werden, nicht für alle Fälle voll- die stationäre Behandlung von Rückenschmerzen (M54)
ständige Kostenwerte entnommen werden konnten. mit durchschnittlich 1.957 Euro die niedrigsten.
Es ergeben sich sektorenspezifische Durchschnittsaus- Die Analyse der in Anspruch genommenen und für die
gaben pro Patient und Jahr in Höhe von 109 Euro für die Behandlung von Rückenschmerzen potenziell relevanten
vertragsärztliche Versorgung, 176 Euro für die Heil- und Arzneimittel zeigt, dass Präparate der Gruppe der Anti-
84 Euro für die Arzneimittelversorgung. Die Kosten für die phlogistika und Antirheumatika mit Abstand am häufigs-
stationäre Akutversorgung betragen 3.017 Euro; für den ten verordnet werden, gefolgt von Opioiden sowie anderen
Bereich der Rehabilitation entstehen mittlere Ausgaben in Analgetika und Antipyretika (. Abb. 56.2). Für den Be-
56.2 · Krankheitskostenanalysen
623 56
100

90

80

70
Anteil der Kosten (in %)

60

50

40

30

20

10

0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100
Anteil der Patienten (in %)

Gesamtkosten Vertragsärzte Arzneimittel


Heilmittel Krankenhaus Referenz

. Abb. 56.4 Verteilung der Kosten

reich der Heilmittel zeigt sich eine häufige Verordnung der Die vorgestellten Krankheitskostenstudien belegen die
Krankengymnastik. Weitere Heilmittel mit einer relevan- hohe ökonomische Krankheitslast von Rückenschmerzen
ten Größenordnung sind die Wärme- und Kältetherapie, in Deutschland. Aufgrund der unterschiedlichen Studien-
Massagen, manuelle Therapieformen sowie die Elektrothe- designs weisen die Ergebnisse jedoch eine hohe Variabilität
rapie (. Abb. 56.3). auf. Bolten et al. [2] nutzen zur Abschätzung der Krank-
Bei Betrachtung der Verteilung der direkten Kosten heitskosten von Rückenschmerzen beispielsweise den sog.
fällt auf, dass ein relativ geringer Anteil an Patienten einen Top-down-Ansatz. Diese Vorgehensweise zeichnet sich
hohen Anteil der gesamten Kosten verursacht. Diese schie- durch die Verwendung von überwiegend hochaggregier-
fe Verteilung der Kosten zeigt sich besonders extrem in ten Daten aus, sodass der Detaillierungsgrad der Ergebnis-
Versorgungssektoren und Leistungsbereichen, die nur von se zwangsläufig eingeschränkt ist. In der Folge können
einem sehr geringen oder vergleichsweise kleinen Anteil nicht alle relevanten Kostenkomponenten berücksichtigt
an Patienten überhaupt in Anspruch genommen werden und die Ergebnisse in der Regel nicht nach bestimmten
(z. B. die stationäre Akutversorgung). . Abb. 56.4 stellt be- Patientencharakteristika differenziert dargestellt werden.
stimmten Anteilen von Patienten die dazugehörigen Kos- Insgesamt ist davon auszugehen, dass Studien, die dem
tenanteile gegenüber. Insgesamt verursachen 43 % der Top-down-Ansatz folgen, zu geringeren Kostenschätzun-
Patienten mit Rückenschmerzen jährliche Durchschnitts- gen führen als solche Studien, die den Bottom-up-Ansatz
kosten von unter 100 Euro. Bei 49 % der Patienten liegen verfolgen. Obwohl die nach dem Bottom-up-Ansatz
die Kosten zwischen 100 und 500 Euro und bei weiteren konzipierten Analysen, wie beispielsweise die Studie von
5 % der Betroffenen zwischen 500 und 1.000 Euro. Ledig- Wenig et al. [43], einen höheren Detaillierungsgrad der
lich 3 % der Patienten verursachen durchschnittliche Kos- generierten Ergebnisse zulassen, sind auch sie nicht frei
ten von mehr als 1.000 Euro pro Jahr. von Verzerrungen. So kann bei Befragungen von Patienten
624 Kapitel 56 · Gesundheitsökonomische Aspekte von Rückenschmerzen

insbesondere ein fehlerhaftes Erinnerungsvermögen in 56.3.1 Passive physikalische Behandlungs-


Bezug auf die in Anspruch genommenen Ressourcen zu modalitäten
verzerrten Ergebnissen führen. Auch stellt sich die Frage,
ob im Rahmen einer retrospektiven Informationsgewin- Wenige gesundheitsökonomische Studien haben sich bis-
nung der entstandene Ressourcenverbrauch von den Be- lang mit passiven physikalischen Therapiemöglichkeiten
fragten überhaupt indikationsspezifisch wiedergegeben befasst. In einer Studie von Wiesinger et al. [45] kommen
werden kann. Analysen auf Basis von Krankenkassenab- die Autoren zu dem Schluss, dass die Anwendung von pas-
rechnungsdaten nehmen in diesem Zusammenhang eine siven Behandlungsmodalitäten wie Massagen, Ultra-
Zwischenstellung ein. So ist der Detaillierungsgrad solcher schall-, Elektro- oder Hydrotherapie, Schlamm- und Fan-
Studien in der Regel höher als beim Top-down-Ansatz, da gopackungen bei moderaten Kosten die Schmerzintensität
Routinedaten der Gesetzlichen Krankenversicherung alle verringern und somit eine nützliche Ergänzung zu aktiven
relevanten Versorgungssektoren und Leistungsbereiche Übungstherapien darstellen kann. Die Analyse basiert
mit einbeziehen und gleichzeitig Aussagen auf Patienten- jedoch auf einem ohne Kontrollgruppe durchgeführten
ebene ermöglichen. Allerdings ist auch hier der Umfang Studiendesign und liefert daher keine aussagekräftigen Er-
der verfügbaren Informationen begrenzt. So fehlen bei- gebnisse zur Kosteneffektivität im Verhältnis zu anderen
spielsweise klinische und patientenseitige Informationen, Therapiealternativen. Eine Studie von Kominski et al. [21]
d. h. Informationen zu Vitalparametern, zur Krankheits- konnte den Nutzen einer zusätzlichen passiven physikali-
schwere und zur Lebensqualität der Betroffenen. Routine- schen Komponente (Wärme- oder Kältetherapie, Ultra-
datenanalysen bieten aber insgesamt nicht nur den großen schalltherapie, elektrische Muskelstimulation), aber auch
Vorteil, dass die ökonomische Krankheitslast bestimmter einer zusätzlichen Gelenkmobilisation oder von angeleite-
Erkrankungen quantifiziert werden kann, sondern auch, ten Kräftigungsübungen nicht bestätigen. Hier kamen die
dass eine detaillierte Rekonstruktion der zugrunde liegen- Autoren zum Ergebnis, dass eine zusätzlich zur primär-
den Inanspruchnahmemuster möglich ist. ärztlichen oder chiropraktischen Behandlung durch-
geführte physikalische Therapie zwar mit zusätzlichen
Kosten einherging, jedoch keine zusätzlichen gesundheit-
56.3 Kosteneffektivität von Interventionen lichen Effekte zeigte.

56 Obwohl sich Krankheitskostenanalysen mit den ökonomi-


schen Konsequenzen einer bestimmten Erkrankung au- 56.3.2 Aktive Bewegungs- und
seinandersetzen und diese Studienform teilweise sehr Kräftigungstherapien
detaillierte Kostenschätzungen einschließlich der Identifi-
zierung relevanter Kostentreiber liefert, gibt sie keine Hin- Eine relativ große Anzahl von Studien hat sich in den letz-
weise zu einer effizienten Allokation knapper Ressourcen. ten Jahren hingegen mit der Kosteneffektivität von aktiver
Um die Frage zu beantworten, welcher Therapieform aus Physiotherapie und diversen Arten körperlicher Trai-
gesundheitsökonomischer Perspektive aufgrund des besten ningsformen beschäftigt. Rivero-Arias et al. [32] unter-
Verhältnisses von Kosten zu Nutzen der Vorzug zu geben suchten die Kosteneffektivität von Physiotherapie im Sinne
ist, bedarf es einer vergleichenden Evaluation der Kosten einer Kombination verschiedener aktiver und passiver
und Gesundheitseffekte möglicher Handlungsalternativen. Maßnahmen im Vergleich zu einer physiotherapeutischen
In einer systematischen Übersichtsarbeit aus den Beratung, bei der den Patienten empfohlen wurde, körper-
Niederlanden [42] versuchten die Autoren, dieser Frage- lich aktiv zu bleiben. Die Studienpopulation bestand aus
stellung in Bezug auf Rückenschmerzen nachzugehen. Patienten mit subakuten und chronischen Rückenschmer-
Zum einen mussten sie jedoch feststellen, dass die vorhan- zen. Es zeigten sich weder signifikante Unterschiede bei
denen Studien zur Kosteneffektivität von Behandlungs- den direkten Gesamtkosten noch bei der Lebensqualität.
strategien bei Rückenschmerzen häufig methodische Lediglich die Inanspruchnahme von Selbstzahlerleistun-
Schwächen beinhalteten; zum anderen konnten sie keine gen fiel in der Beratungsgruppe niedriger aus. Daher
eindeutige Schlussfolgerung ziehen, da die eingeschlosse- kommen die Autoren zu dem Schluss, dass bei leichten bis
nen 17 Analysen hinsichtlich vieler relevanter Aspekte moderaten subakuten bzw. chronischen Rückenschmerzen
(wie bspw. der Studienpopulation, der zu vergleichenden eher eine physiotherapeutische Beratung zu empfehlen sei.
Interventionen sowie der korrespondierenden Ergebnis- Bei einer Studie von Wright et al. [47] hingegen führte der
größen) stark variierten. Dennoch soll im Folgenden ein frühzeitige zusätzliche Einsatz einer Kombination von
kurzer Überblick über die Resultate ausgewählter Studien individueller aktiver Therapie und Bewegungs- und Kräf-
zur Kosteneffektivität verschiedener Behandlungsstrate- tigungsübungen in Gruppen – im Vergleich zu einer Bera-
gien bei Rückenschmerzen gegeben werden. tung mit dem Ziel einer Verhaltensmodifikation – zu einer
56.3 · Kosteneffektivität von Interventionen
625 56
Reduzierung der Arbeitsunfähigkeitstage und damit ge- konnte bei einem Vergleich zweier physiotherapeutischer
samtgesellschaftlich betrachtet zu Kosteneinsparungen. Interventionen zeigen, dass eine gruppenbasierte Therapie
Torstensen et al. [40] bewerteten eine medizinische Trai- einer individuellen Einzeltherapie hinsichtlich der Kosten-
ningstherapie (»medical exercise therapy« nach Oddvar effektivität überlegen war.
Holten) als ebenso kosteneffektiv wie konventionelle Phy- > Durch die Anwendung gruppenbasierter Ansätze im
siotherapie, bei der eine Kombination aus verschiedenen Rahmen der Bewegungs- und Kräftigungstherapie
passiven Behandlungsformen und physiotherapeutischen lassen sich im Vergleich zu Einzelsitzungen bei
Übungen angewendet wurde. Eine reine Empfehlung, ein vergleichbaren Gesundheitseffekten Ressourcen
normales Level an körperlicher Aktivität beizubehalten, einsparen.
wurde als nicht kosteneffektiv bewertet und war mit dem
Risiko einer Verschlechterung der Funktionsbeeinträchti-
gung und längerer Arbeitsunfähigkeit assoziiert.
Eine weitere Studie [20] bewertete ein auf Prinzipien 56.3.3 Manuelle Behandlungsoptionen
der kognitiven Verhaltenstherapie beruhendes Programm
mit Bewegungs- und Kräftigungsübungen im Vergleich zu Bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen be-
einer reinen primärärztlichen Versorgung als kosteneffek- fanden Haas et al. [17] Chiropraktik im Vergleich zu einer
tiv, da diese Intervention langfristig zu besseren Effekten primärärztlichen Versorgung als relativ kosteneffektiv, vor
und einem geringeren Ressourcenverbrauch führte. allem im Hinblick auf Kurzzeiteffekte. Bei akuten Rücken-
Chritchley et al. [8] verglichen konventionelle individuelle schmerzen waren Kosten und Effekte beider Therapieal-
Physiotherapie mit einem speziellen Stabilisationstraining ternativen jedoch vergleichbar. Legorreta et al. [24] kamen
für die tiefe Rumpfmuskulatur und einem von Physio- zu dem Schluss, dass die Einbindung einer chiroprak-
therapeuten geleiteten Schmerzmanagementprogramm, tischen Versorgung aufgrund des weniger invasiven Be-
bei dem eine Rückenschmerzschulung mit Bewegungs- handlungsprofils einen Beitrag zur Verringerung der ge-
und Kräftigungsübungen auf Basis einer kognitiven Ver- samten Behandlungskosten leisten könne. Carey et al. [5]
haltenstherapie kombiniert wurde. Zwischen den drei verglichen eine chiropraktische, eine orthopädische und
Gruppen konnten keine Unterschiede in der Effektivität eine primärärztliche Behandlung von Patienten mit akuten
festgestellt werden; das Schmerzmanagementprogramm Rückenschmerzen. Während die Effekte in allen drei
verursachte jedoch die geringsten Kosten und ging damit Gruppen vergleichbar waren, führten sowohl die chiro-
als die kosteneffektivste Intervention hervor. praktische als auch die orthopädische Therapie im Ver-
Campbell Gellhorn et al. [6] untersuchten den Effekt gleich zur primärärztlichen Behandlung zu höheren
einer frühzeitigen physiotherapeutischen Behandlung und Kosten. Auch Stano et al. [38] kamen zum Ergebnis, dass
kamen zum Ergebnis, dass eine frühe Behandlung in einer eine chiropraktische Behandlung im Vergleich zu primär-
akuten bzw. subakuten Phase von Rückenschmerzen mit ärztlicher Versorgung bei gleicher Effektivität mit höheren
einem geringeren Risiko der weiteren Inanspruchnahme Kosten einherging.
medizinischer Leistungen einherging, als wenn eine Be- Seferlis et al. [35] fanden hingegen keine Unterschiede
handlung erst zu einem späteren Zeitpunkt bzw. bei bereits hinsichtlich Kosten und Effekten zwischen einer allge-
chronischen Rückenschmerzen erfolgte. meinmedizinischen Behandlung, einer manuellen Thera-
Mannion et al. [28] verglichen drei aktive Therapie- pie und einem intensiven körperlichen Trainings-
formen bei chronischen Rückenschmerzen. Die erste programm. Skargren et al. [36] führten in einer schwedi-
Gruppe erhielt individuelle Physiotherapiesitzungen mit schen Studie einen Vergleich der Kosteneffektivität von
Bewegungs-, Kräftigungs- und Koordinationsübungen. chiropraktischer und physiotherapeutischer Behandlung
Die zweite Gruppe absolvierte im Rahmen eines Pro- bei Patienten mit Rückenschmerzen durch. Bei Betrach-
gramms zur Muskelrekonditionierung neben Aufwärm-, tung der Gesamtpopulation ließen sich bei den untersuch-
Entspannungs- und Dehnungsübungen eine Reihe von ten Kosten und Gesundheitseffekten keine Unterschiede
Kräftigungsübungen an Trainingsgeräten in Zweier- oder feststellen; eine Subgruppenanalyse konnte jedoch zeigen,
Dreiergruppen. Die dritte Intervention bestand aus rhyth- dass Patienten mit akuten Rückenschmerzen eher von der
mischer Gymnastik, bei der zu Musikbegleitung Kräfti- chiropraktischen Behandlung profitierten und dass bei
gungs-, Dehnungs- und Entspannungsübungen in Grup- Patienten mit chronischen Rückenschmerzen physiothera-
pen von maximal 12 Personen durchgeführt wurden. Bei peutische Maßnahmen erfolgversprechender waren.
einem Follow-up von einem Jahr ging das Aerobic- Niemistö et al. [30] befassten sich mit der zusätzlichen
programm aufgrund der Gruppengröße und der geringen Kombination aus spinaler Manipulation und Stabilisie-
Anforderungen an die Infrastruktur als kosteneffektivste rungsübungen im Vergleich zu einer alleinigen, bei ärzt-
Intervention hervor. Auch eine Studie von Lewis et al. [25] licher Konsultation gegebenen Empfehlung zu Haltung
626 Kapitel 56 · Gesundheitsökonomische Aspekte von Rückenschmerzen

und körperlicher Aktivität. Beide Gruppen bekamen eine Rückenschmerzen im Vergleich zu einer alleinigen
Schulungsbroschüre mit Informationen zum allgemeinen standardisierten Kurzberatung mit Anweisungen zum
Umgang mit Rückenschmerzen und zum Verhalten bei Umgang mit Rückschmerzen. Beide Gruppen wurden im
einer akuten Schmerzepisode. Die zusätzliche Kombina- Rahmen der kurzen edukativen Intervention angewiesen,
tion von spinaler Manipulation und Stabilisierungsübun- aktiv zu bleiben, Bettruhe zu vermeiden und eine ange-
gen führte lediglich zu einer geringfügig größeren messene Einnahme von Schmerzmitteln zu praktizieren.
Schmerzreduktion. Bei Berücksichtigung der direkten Allen Teilnehmern beider Gruppen wurde zudem als
medizinischen Kosten sowie der Produktionsausfallkosten weitere Schulungsmaßnahme eine Broschüre (The Back
aufgrund von Arbeitsunfähigkeit stellte sich die alleinige Book) ausgehändigt. Im Vergleich zur Kontrollgruppe
Konsultation (inkl. Beratung, Aufklärung und Empfehlun- führte die Durchführung der kognitiven Verhaltensthera-
gen) jedoch als die kosteneffektivere Alternative heraus, da pie zu einer signifikant stärkeren Schmerzreduktion und
beide Interventionen zu ähnlichen funktionalen Verbesse- Verminderung von Beeinträchtigungen. Die Mehrkosten
rungen und einer Verbesserung der Lebensqualität führ- lagen in einem als kosteneffektiv zu bezeichnenden Be-
ten. Das UK-BEAM-Trial-Team [41] kommt hingegen zu reich und waren im indirekten Vergleich mit anderen In-
dem Schluss, dass die spinale Manipulation zwar kosten- terventionen substanziell niedriger.
intensiver, aber auch wirksamer sei und damit eine kosten-
effektive Ergänzung zu der konventionellen primärärzt-
lichen Versorgung darstelle. 56.3.5 Multidisziplinäre Ansätze
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass
einer eindeutigen Schlussfolgerung zur Kosteneffektivität Gatchel et al. [13] untersuchten die Kosteneffektivität einer
von manuellen Therapieformen widersprüchliche Stu- frühen Intervention durch ein interdisziplinäres Team, bei
dienresultate entgegenstehen. Eine Übersichtsarbeit von der physikalische, psychosoziale und ergotherapeutische
Baldwin et al. [1], die sich mit der vergleichenden Kosten- Maßnahmen mit einem individuellen Fallmanagement
effektivität von chiropraktischer und primärärztlicher Be- verbunden wurden. Ziel der frühzeitigen Intervention bei
handlung auseinandersetzt, geht mit dieser Erkenntnis Patienten mit akuten Rückenschmerzen und einem hohen
konform. Chronifizierungsrisiko war die Verhinderung einer lang-
fristigen Beeinträchtigung durch Rückenschmerzen. Im
56 Vergleich zur Kontrollgruppe, die keine spezielle Inter-
56.3.4 Kognitive Verhaltenstherapie vention erhielt, war die frühzeitige Intervention mit einer
stärkeren Schmerzreduktion, einer geringeren Inan-
In einer deutschen Studie von Schweikert et al. [34] wurde spruchnahme von medizinischen Leistungen und
die Kosteneffektivität einer Rehabilitation mit kognitiver Schmerzmitteln sowie geringeren Kosten assoziiert. Eine
Verhaltenstherapie und mit der einer 3-wöchigen Standard- Studie von Rogerson et al. [33] konnte die Kosteneffektivi-
rehabilitation verglichen. Beide Interventionen erfolgten tät einer frühzeitigen interdisziplinären Intervention zur
im stationären Setting. Es zeigte sich, dass der Zusatz einer Prävention der Schmerzchronifizierung im Vergleich zu
kognitiven Verhaltenstherapie keinen Einfluss auf die einer medizinischen Standardbehandlung bestätigen.
Schmerzintensität und die gesundheitsbezogene Lebens- Unter dem Titel »Mehr ist nicht immer besser« ver-
qualität hatte. Patienten, die an der erweiterten Rehabilita- öffentlichten Smeets et al. [37] eine niederländische Studie,
tion teilnahmen, wiesen in den Folgemonaten jedoch ten- die sich mit der Kosteneffektivität kombinierter Interven-
denziell weniger Arbeitsunfähigkeitstage auf, was zu einer tionen bei chronischen Rückenschmerzen auseinander-
Reduktion der indirekten Kosten führte. Eine frühere setzte. Verglichen wurden ein Bewegungs- und Kräfti-
Studie von Goossens et al. [14] kam zum Ergebnis, dass gungstraining, ein Verhaltens- und Problemlösungs-
durch eine zusätzliche kognitive Verhaltenstherapie trotz training sowie eine Kombination beider Elemente. Die
höherer Kosten keine besseren Effekte erzielt werden kombinierte Therapie erwies sich schließlich als nicht
konnten. Klaber Moffett et al. [20] beurteilten die Kombi- kosteneffektiv, da sie im Vergleich zu den einzelnen Kom-
nation aus körperlichem Bewegungs-, Dehnungs- sowie ponenten bei höheren Kosten keine Ergebnisverbesserun-
Kräftigungstraining und einer kognitiven Verhaltensthera- gen erzielen konnte. Laut den Autoren liegt die zukünftige
pie hingegen als kosteneffektiv. Als Kontrollgruppe diente Herausforderung in der Identifizierung von Subgruppen
in dieser Studie jedoch lediglich eine konventionelle ärzt- von Rückenschmerzpatienten, die auf einzelne Maß-
liche Betreuung ohne spezielle Intervention. nahmen unterschiedlich ansprechen.
Lamb et al. [23] untersuchten die Kosteneffektivität
einer zusätzlichen gruppenbasierten kognitiven Verhal-
tenstherapie bei Patienten mit subakuten und chronischen
56.4 · Schlussfolgerung
627 56
56.3.6 Pharmakologische Interventionen bungspflichtiger Arzneimittel assoziiert war. Eine andere
Studie [48] konnte den Vorteil eines auf einem Klassifika-
Nur wenige gesundheitsökonomische Publikationen haben tionssystem basierenden Ansatzes bei subakuten und
sich bislang mit der Kosteneffektivität pharmazeutischer chronischen Rückenschmerzen aus gesundheitsökonomi-
Behandlungsoptionen beschäftigt. In einer Studie von scher Perspektive jedoch nicht nachweisen. Feuerstein et
Lloyd et al. [26] wurde die Kosteneffektivität von Wärme- al. [15] untersuchten die Kosteneffektivität der auf Leit-
pflastern im Vergleich zu oralen Analgetika (Ibuprofen, linien basierenden Behandlung von akuten Rücken-
Paracetamol) untersucht. Die Behandlung mit einem schmerzen in Abhängigkeit der Leitlinienadhärenz der
Wärmepflaster erwies sich bei geringfügig höheren Kosten behandelnden Ärzte. Eine höhere Leitlinienadhärenz war
als effektiver gegenüber der Therapie mit Paracetamol und sowohl mit Ergebnisverbesserungen als auch mit niedrige-
Ibuprofen. Eine sich anschließende gesundheitsökonomi- ren Kosten assoziiert. Auch McGuirk et al. [29] befassten
sche Modellierung konnte zeigen, dass bei Berücksichti- sich mit der gesundheitsökonomischen Evaluation leit-
gung einer potenziellen Verringerung der Inanspruchnah- linienkonformer Behandlung bei akuten Rückenschmer-
me medizinischer Folgeleistungen mit der Wärmeauflage zen. Die Autoren dieser australischen Studie kamen zu
sogar Kosteneinsparungen realisiert werden könnten. dem Schluss, dass eine evidenzbasierte Leitlinientherapie
im Vergleich zur Standardbehandlung (»usual care«) lang-
fristig nicht nur effektiver, sondern auch kosteneffektiver
56.3.7 Akupunktur sein kann. Die auf Leitlinien basierte Therapie führte so-
wohl zu einer signifikant stärkeren Schmerzreduktion als
Eine Reihe gesundheitsökonomischer Analysen hat sich auch zu geringeren Kosten. Durch die leitliniengestützte
auch mit der Kosteneffektivität von Akupunktur auseinan- Therapie bedurfte ein geringerer Anteil der Patienten einer
dergesetzt. Sowohl Ratcliff et al. [31] als auch Thomas et al. weiteren kontinuierlichen Versorgung, und ein größerer
[39] konnten bei einem Vergleich von zusätzlicher Aku- Anteil der Patienten erlangte eine komplette Genesung.
punktur mit einer alleinigen allgemeinärztlichen Behand- Fraglich ist hingegen, ob eine aktive Implementierungs-
lung in Großbritannien bei den Akupunkturpatienten strategie im Vergleich zu einer Standardverbreitungsstra-
langfristig größere Schmerzverbesserungen feststellen und tegie aus gesundheitsökonomischer Perspektive Vorteile
bewerteten die Akupunkturtherapie bei chronischen bietet [50]. Zudem konnte eine Übersichtsarbeit zeigen,
Rückenschmerzen trotz höherer Kosten als kosteneffektiv. dass nicht alle im Rahmen von Leitlinien empfohlenen
Eine deutsche Studie von Witt et al. [46] konnte dieses Er- Therapieansätze als kosteneffektiv zu bewerten sind [49].
gebnis bestätigen und feststellen, dass eine zusätzliche > Eine Therapie von Rückenschmerzen, die sich an
Akupunkturtherapie bei chronischen Rückenschmerzen evidenzbasierten Leitlinien orientiert, kann lang-
zwar höhere Kosten verursachte, aber auch zu einer Ver- fristig sowohl zu besseren Ergebnissen als auch zu
besserung von Symptomen und der gesundheitsbezogenen geringeren Kosten führen.
Lebensqualität führte. In einer Studie von Cherkin et al. [7]
hingegen war die Akupunkturbehandlung einer An-
wendung von Massagen hinsichtlich der Effektivität unter-
legen. Zudem führte die Behandlung mit Massagen im 56.4 Schlussfolgerung
Verhältnis zur Akupunktur zu einer Reduktion der nach-
folgenden Kosten aufgrund einer geringeren Inanspruch- Der vorliegende Beitrag verfolgte das Ziel, einen Überblick
nahme weiterer medizinischer Leistungen. über bisherige ökonomische Analysen im Bereich der
Rückenschmerzen zu geben und damit für Entscheidungs-
träger sowie Ärzte und Therapeuten eine Informations-
56.3.8 Leitlinien- und qualifikations- basis für die kosteneffektive Gestaltung der Rücken-
systemgestützte Behandlung schmerzversorgung zu schaffen. Die Analyse von Krank-
heitskostenstudien konnte zeigen, dass Rückenschmerzen
Fritz et al. [16] konnten feststellen, dass eine auf einem eine enorme wirtschaftliche Belastung für die Gesellschaft
Klassifikationsschema basierende individuelle physika- darstellen. Besonders der hohe Anteil an indirekten Kosten
lische Therapie von akuten Rückenschmerzen – im signalisiert den Bedarf an effektiven Behandlungsstrate-
Vergleich zu einer an Standardleitlinien orientierten gien, die zu einer Reduzierung der Arbeitsunfähigkeit bei-
Behandlung (ohne individuellen Bezug zur jeweiligen tragen. Aufgrund der Heterogenität der Studiendesigns,
Symptomatik) – kurzfristig sowohl mit besseren klinischen der Vielzahl an eingesetzten Therapieformen, der unter-
Ergebnissen als auch mit einer geringeren Inanspruchnah- schiedlichen Ergebnisparameter und diverser methodi-
me weiterer medizinischer Leistungen und verschrei- scher Differenzen lässt sich jedoch nicht immer eine
628 Kapitel 56 · Gesundheitsökonomische Aspekte von Rückenschmerzen

eindeutige Aussage zur Kosteneffektivität der untersuch- 4. Brouwer WB, Koopmanschap MA, Rutten FF (1999) Productivity
ten Behandlungsstrategien von Rückenschmerzen treffen. losses without absence: measurement validation and empirical
evidence. Health Pol 48:13–27
Während es in der Literatur beispielweise eindeutige Be-
5. Carey TS, Garrett J, Jackman A, McLaughlin C, Fryer J, Smucker DR,
lege für die Schlussfolgerung gibt, dass aktive Therapiefor- North Carolina Back Pain Project (1995) The outcomes and costs
men eine kosteneffektive Maßnahme bei Rückenschmer- of care for acute low back pain among patients seen by primary
zen sind, bleibt die Frage offen, welcher Art von Be- care practitioners, chiropractors, and orthopedic surgeons. N Engl
wegungs- und Kräftigungstherapie unter gesundheitsöko- J Med 333:913–917
6. Campbell Gellhorn A, Chan L, Martin B, Friedly J (2010) Manage-
nomischen Gesichtspunkten der Vorzug zu geben ist.
ment patterns in acute low back pain. Spine 37(9):775–782. doi
Gruppenbasierte Ansätze der Bewegungs- und Kräfti- 10:1097/BRS.0b013e3181d79a09
gungstherapie weisen gegenüber individuellen physiothe- 7. Cherkin DC, Eisenberg D, Sherman KJ, Barlow W, Kaptchuk TJ,
rapeutischen Einzelsitzungen zumindest den Vorteil auf, Street J, Deyo RA (2001) Randomized trial comparing traditional
dass aufgrund der Gruppengröße geringere Ressourcen in chinese medical acupuncture, therapeutic massage, and self-care
Anspruch genommen werden. Für viele weitere Interven- education for chronic low back pain. Arch Intern Med 161:
1081–1088
tionen gibt es lediglich eingeschränkte oder sogar wider-
8. Critchley DJ, Ratcliffe J, Noonan S, Jones RH, Hurley MV (2007)
sprüchliche Evidenz bezüglich ihrer Kosteneffektivität. Effectiveness and cost-effectiveness of three types of physio-
> Aufgrund der Vielzahl an möglichen Behandlungs- therapy used to reduce chronic low back pain disability. Spine
32:1474–1481
alternativen sowie der teilweise sehr heterogenen
9. Dagenais S, Caro J, Haldeman S (2008) A systematic review of low
Ergebnisse bisheriger Evaluationsstudien kann die back pain cost of illness studies in the United States and interna-
Frage nach der kosteneffektivsten Therapieform bei tionally. Spine 8:8–20
Rückenschmerzen derzeit nicht abschließend be- 10. Depont F, Hunsche E, Abouelfath A, Diatta T, Addra I, Grelaud A,
antwortet werden. Lagnaoui R, Molimard M, Moore N (2010) Medical and non-medi-
cal direct costs of chronic low back pain in patients consulting
Zu den zukünftigen Herausforderungen zählt vor allem primary care physicians in France. Fundam Clin Pharmacol
24:101–108
eine pragmatisch orientierte Identifikation von Sub-
11. Ekman M, Johnell O, Lidgren L (2005) The economic cost of low
gruppen unter den Rückenschmerzpatienten, um einzelne back pain in Sweden. Acta Orthop 76:275–284
Therapien gezielter anwenden zu können. Die Identifika- 12. Ekman M, Jönhagen S, Hunsche E, Jönsson L (2005) Burden of
tion und Berücksichtigung spezifischer Patientengruppen illness of chronic low back pain in Sweden. A cross-sectional,
56 ist eine essenzielle Voraussetzung für die kosteneffektive retrospective study in primary care setting. Spine 30:
Behandlung von Patienten mit Rückenschmerzen. In 1777–1785
13. Gatchel RJ, Polatin PB, Noe C, Gardea M, Pulliam C, Thompson J
besonderem Maße gilt es, Patienten mit einem hohen (2003) Treatment- and cost-effectivness of early intervention for
Chronifizierungsrisiko frühzeitig zu erkennen und sie ent- acute low-back pain patients: a one-year prospective study. J
sprechenden Interventionen zuzuführen. Mit Blick auf die Occup Rehabil 13:1–9
hohen indirekten Kosten gehören dazu vor allem Thera- 14. Goossens ME, Rutten-van Mölken MP, Kole-Snijders AM,
pien, die eine Verringerung der Arbeitsunfähigkeit zur Vlaeyen JW, van Breukelen G, Leidl R (1998) Health economic
assessment of behavioural rehabilitation in chronic low back
Folge haben, denn Einsparungen sind bei Rückenschmerz-
pain: a randomised clinical trial. Health Econ 7:39–51
patienten aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive oftmals 15. Feuerstein M, Hartzell M, Rogers HL, Marcus SC (2006) Evidence-
über geringere indirekte Kosten zu realisieren. Bei der Aus- based practice for acute low back pain in primary care: patient
gestaltung zukünftiger Studien sollte besonderer Wert auf outcomes and cost of care. Pain 124:140–149
eine hohe methodische Qualität gelegt werden, da viele der 16. Fritz JM, Cleland JA, Speckman M, Brennan GP, Hunter SJ
(2008) Physical therapy for acute low back pain. Spine 33:
begutachteten gesundheitsökonomischen Analysen deut-
1800–1805
liche Defizite in ihrer Kostenmethodik aufwiesen. 17. Haas M, Sharma R, Stano M (2005) Cost-effectiveness of medical
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631 57

Leitlinien für die Primär-


versorgung: vom runden Tisch
zur realen Praxis
G. Egidi, A. Becker

57.1 Einleitung – 632

57.2 Herausforderungen der Leitlinienimplementierung


aus der Perspektive eines Hausarztes – 632

57.3 Deimplementierung täglicher Routinen – 633

57.4 Kommunikation statt Aktionismus – 633

57.5 Kluft zwischen Empfehlung und Versorgungsrealität – 634

57.6 Wege aus dem Dilemma – 635

Literatur – 637

H.-R. Casser et al. (Hrsg.), Rückenschmerzen und Nackenschmerzen,


DOI 10.1007/978-3-642-29775-5_57, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
632 Kapitel 57 · Leitlinien für die Primärversorgung: vom runden Tisch zur realen Praxis

Die Zahl der Krankenhausfälle und Operationen zur Behand- operative Eingriffe bei Rückenschmerzpatienten durchge-
lung von Rückenschmerzpatienten ist in den letzten Jahren führt. Solche Daten lassen Zweifel aufkommen, ob die gül-
erheblich gestiegen. Auch weiterhin gehören muskuloskele- tigen Leitlinien die Versorgung der Patienten tatsächlich
tale Erkrankungen zu den häufigsten Gründen für Arbeits- erleichtern oder verändern [10].
unfähigkeitszeiten. Sieht man die Zahlen, scheint die Ver- Wesentliche Bedingung für die Umsetzung der Na-
abschiedung einer interdisziplinären Versorgungsleitlinie cken- wie der Kreuzschmerzleitlinie ist ihre Akzeptanz
zum Thema keinen nennenswerten Einfluss auf die Ver- seitens der Ärztinnen und Ärzte. Während die Leitlinie
sorgung der Patienten gehabt zu haben. Noch immer Nackenschmerzen der Deutschen Gesellschaft für Allge-
erhalten Rückenschmerzpatienten Spritzen, »yellow flags« meinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) [6] eine
finden zu wenig Beachtung, und multimodale Therapien rein hausärztliche Leitlinie ist, wurde die Nationale Versor-
werden kaum eingesetzt. Aus der Perspektive von Haus- gungsleitlinie (NVL) Kreuzschmerz [2] interdisziplinär für
ärzten diskutieren die Autoren mögliche Gründe, warum alle an der Primärversorgung von Patienten beteiligten
die Leitlinienempfehlungen nur unzureichend umgesetzt Berufsgruppen angelegt. Die Interdisziplinarität fördert
werden: die Schwierigkeit, alltägliche und etablierte die breite Anwendung der Leitlinie, möglicherweise je-
Routinen zu ändern, die kommunikative Herausforderung, doch um den Preis einer weniger gezielten Ausrichtung auf
Schmerzpatienten zu Aktivität zu ermuntern, und die einzelne Fachgruppe wie hier die der Hausärzte. Im
strukturelle Defizite, die etwaiges Ringen um evidenz- Folgenden sollen Hindernisse in der Umsetzung der Emp-
basierte Vorgehensweisen erfolglos enden lassen. Gerade fehlungen aus der Perspektive eines Anwenders in haus-
bei Rücken- und Nackenschmerzen müssen Implementie- ärztlicher Praxis besprochen werden.
rungsbemühungen alle Bereiche einer komplexen Versor-
gungslogistik adressieren, um Erfolge zeigen zu können.
57.2 Herausforderungen der Leitlinien-
implementierung aus der Perspektive
57.1 Einleitung eines Hausarztes

Muskuloskeletale Beschwerden gehören zu den häufigen Fallbeispiel


Beratungsanlässen in primärversorgenden Praxen. Zahl- Es ist Dienstagmorgen, das Wartezimmer ist voll, der Haus-
reiche Fach- und Berufsgruppen sind in die Behandlung arzt ist etwas in Verzug mit seiner Sprechstunde. Das merkt
von Nacken- und Kreuzschmerzen involviert, und ein man auch dem nächsten Patienten an, einem 46-jährigen,
57 breites Spektrum an diagnostischen und therapeutischen bislang nicht bekannten Mann, der offenkundig in diese
Interventionen wird angeboten. Dem gegenüber stehen die Praxis gewechselt ist. Er bringt seinen Unmut zum Ausdruck,
nachweislich negativen Folgen einer Überversorgung – dass er trotz seiner Schmerzen länger warten musste. Er
nicht nur für das Gesundheitssystem, sondern auch für die habe schon wieder Rückenschmerzen. Er kenne das schon,
Patientinnen und Patienten – und die wachsende Zahl an immer wieder jage es ihm ins Kreuz. Die letzte Episode sei
Studien, die für viele, durchaus verbreitete Behandlungs- erst 3 Monate her. Sein bisheriger Hausarzt (er musste
strategien keine oder sogar schädigende Wirkungen wegen Umzug wechseln) habe ihm immer eine Spritze
zeigen. Die von BÄK, KBV und AWMF [2] sowie der gegeben. Nach der sei er wieder arbeitsfähig gewesen.
DEGAM [6] herausgegebenen Leitlinien für Kreuz- und Wiederholte Arbeitsausfälle könne er sich nicht leisten,
Nackenschmerzen sind somit ein wichtiger und unbedingt außerdem müsse mal geklärt werden, was mit seinem
notwendiger Schritt in Richtung einer verbesserten Ver- Rücken los sei.
sorgung der Patienten.
Aber hat sich seit der Entwicklung der Leitlinien die Dieser Fall zeigt eine typische Situation aus einer hausärzt-
Versorgungslage verändert? Erleiden weniger Patienten lichen Praxis. In einer zeitlich angespannten Situation
einen chronischen Verlauf, und werden seitdem weniger kommt ein Patient mit einem eigentlich unspektakulären
Frühberentungen infolge muskuloskeletaler Beschwerden Beratungsanlass: rezidivierende Kreuzschmerzen. Er-
beantragt? Muskel-Skelett-Erkrankungen verursachen – schwert wird die Situation allerdings dadurch, dass er –
wie in den Vorjahren – auch 2014 noch die meisten Ar- geprägt durch Vorbehandlungen – Behandlungserwartun-
beitsunfähigkeitstage unter DAK-Versicherten [8]. In gen an den Hausarzt hat, die er nicht erfüllen will, da sie
jüngster Zeit hat der Krankenhausreport der Barmer GEK dem aktuellen Stand des Wissens nicht mehr entsprechen.
Aufmerksamkeit erregt: Er zeigte einen Anstieg von Kran- Zudem verlangt der Patient nach ätiologischer Klärung. Es
kenhausfällen aufgrund von Rückenschmerzen um 50 %. steht die »Demontage« des Hausarztes als guter Arzt im
Die interventionelle Schmerztherapie im stationären Kon- Raum, wenn er nicht zu einer ordentlichen Diagnose und
text hat sich mehr als verdoppelt, und zunehmend werden einem beeindruckenden Behandlungsergebnis in Form
57.4 · Kommunikation statt Aktionismus
633 57
schneller Schmerzfreiheit kommt. Sofern aber die Anam- Kreuz- und Nackenschmerzen. So ist der Gebrauch der
nese und die Untersuchung jetzt keine Besonderheiten wie »Kreuzschmerzspritze« oder der Infiltrationsbehandlung
einen Hinweis auf spezifische Kreuzschmerzen zeigen, im Nacken, womöglich in Kombination aus Dexametason
zeichnet sich im Hinterkopf des Arztes eher ein anderer und Diclofenac, kaum aus dem Repertoire der Hausärzte
Konsultationsverlauf ab: Beruhigung – Verzicht auf Bild- herauszubekommen. Viele Patienten kennen diese Be-
gebung – Suche nach psychosozialen, aufrechterhaltenden handlungsmethode aus jahrelanger Erfahrung und fordern
Faktoren – orale symptomatische Therapie – Gespräch sie immer wieder erneut ein, weil sie »gute Erfahrungen
über Aktivitätsverhalten. Wenn der Arzt sich nicht sehr damit« gesammelt hätten. Ebenso geht es mit Massagen
geschickt anstellt, scheint ein Konflikt unausweichlich. und anderen passiven Heilmitteln, deren Anwendung in
> Im Vergleich zu Leitlinien anderer Krankheiten und
der Behandlung akuter Kreuz- und Nackenschmerzen
Beratungsanlässe fallen bei der NVL Kreuzschmerz
abzulehnen ist, von vielen Patienten zum Lösen ihrer
vor allem 3 Eigenarten auf, die die Implementierung
Verspannungen jedoch eingefordert wird. Eine Göttinger
der Empfehlungen erschweren:
Interviewstudie zur Perspektive von Patienten mit Nacken-
1. Eine Vielzahl an Negativempfehlungen
schmerzen bestätigt diese Wahrnehmung. So scheinen
2. Empfehlungen, für deren Umsetzung großes
Patienten der Meinung zu sein, dass sie Anspruch auf spe-
kommunikatives Geschick notwendig ist
zifische Leistungen wie Massagen, Krankengymnastik
3. Eine Diskrepanz zwischen Empfehlungen und
oder Spritzen hätten, für deren Verschreibung die Ärztin/
Umsetzbarkeit in der Versorgung
der Arzt aufgesucht wird [6].
> Die Empfehlungen der Leitlinien Kreuzschmerzen
und Nackenschmerzen brechen mit tradierten
alltäglichen Routinen der Praxis.
57.3 Deimplementierung täglicher
Routinen

Sowohl die DEGAM-Leitlinie Nackenschmerzen als auch 57.4 Kommunikation statt Aktionismus
die NVL Kreuzschmerz empfehlen eine weitgehende Ab-
kehr von einem über Jahrzehnte etablierten und bislang Während lang etablierte Rituale wie der »Spritzenaktionis-
üblichen Vorgehen auf verschiedenen Ebenen der Versor- mus« verlassen werden müssen, wird gleichzeitig an an-
gung. Anders als andere Leitlinien bestehen diese beiden derer Stelle vom Therapeuten ein hohes Maß an kommu-
Leitlinien zu großen Teilen aus Negativempfehlungen nikativem Geschick eingefordert. Der weitestgehende
(keine Spritze, kein Röntgen, keine Massage, keine Aku- Verzicht auf Diagnostik und invasive oder passive Thera-
punktur, keine Bewegungstherapie, keine längere Arbeitsu pien müssen den Patienten vermittelt werden. Schmerz ist
nfähigkeitsbescheinigung, kein TENS etc.). Betrachtet man beängstigend. Infolgedessen sind Patienten mit akuten
die Evidenzlage angesichts der hohen Spontanheilungsrate oder chronischen Schmerzen beunruhigt, verunsichert
bei akuten Rücken- oder Nackenschmerzen und der nega- und haben einen hohen Leidensdruck. Sie begegnen der
tiven Folgen eines unnötigen Aktionismus bei subakuten Ärztin/dem Arzt mit einer Erwartungshaltung auf ursäch-
und chronischen Beschwerden, besteht an der Richtigkeit liche Klärung und Linderung der Schmerzen. Sie zu be-
der Empfehlungen kein Zweifel. In der NVL Kreuzschmerz ruhigen und ihnen zu erklären, dass eine ursächliche
jedoch fehlt es an therapeutischen Alternativen, die den Zuordnung der Rücken- oder Nackenschmerzen nicht
Handlungsdrang der Ärztin/des Arztes und das Bedürfnis notwendig ist, ist schwierig. Gleichzeitig wird bei Kreuz-
der Patienten adäquat aufnehmen und umleiten könnten. und Nackenschmerzen empfohlen, die Patienten dazu zu
Interessanterweise erscheint die Nackenschmerzleit- ermuntern, frühzeitig wieder körperliche Aktivität aufzu-
linie weniger dogmatisch, obwohl sie in gleicher Weise nehmen und nur kurzfristig eine Arbeitspause einzulegen.
Negativempfehlungen ausspricht. Hier kommt ihr wohl Dem geforderten Aktionismus, der in der Wahrnehmung
zugute, dass sie nur an Hausärztinnen und ärzte gerichtet des Patienten immer auch ein Ernstnehmen seiner Be-
ist und so auf entsprechend schwierige Behandlungssitua- schwerden bedeutet, wird also nun die Forderung nach
tionen in der hausärztlichen Praxis vertiefend eingeht. Den Selbstmanagement gegenübergestellt, was manchem Pa-
Ärzten werden Übungen oder Mobilisationstechniken, tienten wie eine Bagatellisierung seiner Beschwerden er-
zumeist auf dem Level einer Expertenempfehlung, an die scheint.
Hand gegeben, und es wird der Umgang mit Konflikt- Beide Leitlinien verweisen auf die Bedeutung psycho-
situationen angesprochen. sozialer Risikofaktoren für die Schmerzwahrnehmung und
Ein typisches Beispiel einer Negativempfehlung mit den Schmerzverlauf. In der NVL Kreuzschmerz werden sie
großem Konfliktstoff ist die Injektionsbehandlung für als »yellow flags« aufgelistet (u. a. ein niedriges Bildungs-
634 Kapitel 57 · Leitlinien für die Primärversorgung: vom runden Tisch zur realen Praxis

niveau, die Angst, den beruflichen Anforderungen nicht auf Spezialisten treffen. Deren Aufgabe ist es eigentlich,
mehr zu genügen und die soziale Absicherung zu verlieren, solche Patienten zu behandeln, deren Hausärzte eine
geringe berufliche Qualifikation, berufliche Unzufrieden- weitere Klärung für notwendig halten oder therapeutische
heit, Verlust des Arbeitsplatzes und Kränkungsverhältnisse Unterstützung brauchen. Hinzu kommt, dass die Kommu-
am Arbeitsplatz). Es wird empfohlen, schon frühzeitig nikation zwischen den Berufs- und Fachgruppen häufig
nach »yellow flags« zu suchen und diese gegenüber dem unzureichend ist. So verstehen viele Ärzte die Über-
Patienten/der Patientin zu thematisieren. Die oben zitierte weisung, sofern sie denn ausgestellt wird, nicht als ein Ins-
Göttinger Studie zu Nackenschmerzen zeigt allerdings, trument zur sinnvollen Strukturierung der Versorgung,
dass Patienten einem Gespräch über die psychischen sondern als Eintrittskarte, vergleichbar mit der Kranken-
Ursachen von Nackenschmerzen eher ausweichen wollen, versicherungskarte: Nicht selten wird auf dem Über-
um nicht als Simulanten und »Psychos« abgestempelt zu weisungsformular nur die Facharztbezeichnung »Ortho-
werden [6] (vgl. auch 7 Kap. 17, »Biopsychosoziale Krank- pädie« ohne weitere Erläuterung aufgeführt [5]. Entspre-
heitsmodelle«). chend gering sind die Möglichkeiten der Fachspezialisten,
Auch das Gespräch über die möglichst nur kurzzeitige gezielt tätig zu werden. Nur selten erfolgt ein Befund-
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann problematisch bericht [5], was eine zielgerichtete Kooperation zwischen
werden, wenn Menschen mit Privilegien wie einem hohem den Fachgruppen erheblich erschwert. Ein Survey unter
Bildungsniveau und einem sicheren Arbeitsplatz weniger Hausärzten zur Umsetzung evidenzbasierter Empfehlun-
privilegierten Schmerzpatienten mitteilen, dass sie gen in der Kreuzschmerzbehandlung bestätigte, dass
möglichst früh wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren mangelnde Kooperation und widersprüchliche Informa-
müssen. Nicht selten haben Kreuzschmerzen Appellcha- tionen zwischen den verschiedenen Leistungserbringern
rakter. Die Patienten wünschen sich, dass ihr Leiden (an zu den Haupthindernissen einer leitliniengerechten
ihrer Situation) anerkannt wird. Entsprechend können die Kreuzschmerztherapie gehören [4].
vielen Negativempfehlungen der NVL Kreuzschmerz so Ein weiteres Beispiel ist die geforderte Zusammenar-
verstanden werden, als gönne man den auch an ihrer beit mit Betriebsärzten, um den Betroffenen eine rasche
psychosozialen Situation krank Gewordenen nicht eine Rückkehr an den Arbeitsplatz zu ermöglichen. Für die
angenehme Entschädigung, wie z. B. Massage, Kranken- meisten kleineren und mittelgroßen Betriebe sind nur ex-
gymnastik oder Akupunktur, oder als halte der Arzt sie für terne arbeitsmedizinische Dienste zuständig, die keinen
Arbeitsverweigerer. großen Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse
> Die Vermittlung einer aktivierenden und inter-
haben. Hinzu kommt, dass gerade unter körperlich Täti-
57 ventionsarmen Vorgehensweise erfordert ein
gen viele sind, die in Leihfirmen und anderen prekären
großes kommunikatives Geschick.
Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Einerseits prädis-
ponieren gerade solche Bedingungen zum Auftreten von
Kreuzschmerzen – andererseits sind ebensolche Leih-
firmen arbeitsmedizinisch eher schlecht versorgt. Eine
57.5 Kluft zwischen Empfehlung zusätzliche Konfliktquelle entsteht, wenn Betriebsärzte
und Versorgungsrealität von den Patienten als verlängerter Arm der Unterneh-
mensleitung erlebt werden, deren Rolle darin besteht, lei-
Einige Empfehlungen der Leitlinien passen nur ein- dende Menschen an ihren Arbeitsplatz zurückzubringen.
geschränkt in die derzeitige Versorgungssituation. Der Schwierig bis unmöglich ist es, entsprechend den
Verzicht auf bildgebende Verfahren erscheint in einem Ge- NVL-Empfehlungen bei Vorliegen von »yellow flags«
sundheitssystem mit nahezu uneingeschränkter Arztwahl möglichst frühzeitig eine psychotherapeutische Behand-
schwierig einzuhalten. So verlässt aktuell kaum ein Patient, lung einzuleiten. Die meisten Psychotherapeutinnen und
der primär einen Orthopäden wegen Kreuzschmerzen auf- therapeuten sind eher in Städten und dort eher in wohl-
sucht, dessen Praxis, ohne dass seine LWS geröntgt worden habenderen Bereichen tätig, wären also für diejenigen, die
wäre. Darin manifestiert sich das Problem des in Deutsch- am stärksten von chronifizierten Schmerzen bedroht sind,
land vergleichsweise wenig strukturierten Versorgungs- nur schlecht zu erreichen. Zudem sind die Wartezeiten für
systems. einen Therapieplatz so lang, dass sie ein zügiges Einschrei-
In Deutschland – als einem der wenigen Länder welt- ten gegen eine Chronifizierung unmöglich machen.
weit ohne Primärarztsystem – sucht ein nicht geringer Teil Multimodale Therapieangebote sind in Deutschland
der Patienten mit Kreuzschmerzen eine orthopädische rar. Dennoch sollten sie bei anhaltenden Kreuz- oder
Praxis primär auf. Die Filterfunktion der Hausärzte ist aus- Nackenschmerzen trotz leitliniengerechter Versorgung in
gehebelt, sodass auch Patienten mit völlig unkomplizierten Erwägung gezogen werden. Schulungsmaßnahmen, die
Verläufen und ohne Hinweise für eine Organpathologie kontinuierlich durchgeführt werden sollen, sind in der
57.6 · Wege aus dem Dilemma
635 57

Wissen Einstellungen Verhalten

• Vertrautheit mit den • Mangelndes Einverständnis • Konflikt zwischen


Inhalten der Leitlinie mit den Empfehlungen Patientenerwartungen
• Bekanntheit der • Unzureichende Akzeptanz und Leitlinienempfehlungen
Empfehlungen von Leitlinien im Allgemeinen • Widersprüchliche Empfehlungen
• Geringe Erwartung eines in Leitlinien
Behandlungserfolgs • Widrige Umstände:
• Geringe Selbstwirksamkeit - Differente Anreize
in der Umsetzung der Empfehlungen - Zeitmangel
- Mangel an Ressourcen
• Geringe Motivation, das bisherige - Unzureichende
Verhalten zu ändern Organisationsstrukturen
• Mangelndes Einverständnis mit - Arzthaftungsproblematiken
dem zugrunde gelegten
Krankheitsmodell

. Abb. 57.1 Hindernisse in der Umsetzung von Leitlinien

Regelversorgung nur in Ausnahmen verfügbar. Hinzu Situation. Wie die Auswertung von Gruppendiskussionen
kommt, dass nicht wenige Einrichtungen der tertiären Ver- mit Hausärzten zeigte, schildern selbst Ärzte, die mit dem
sorgung wie spezialisierte Schmerzambulanzen nicht mit Inhalt der Empfehlungen einverstanden sind, Probleme in
Überweisung aus der primären, hausärztlichen Versor- deren Anwendung [4]: Vorherrschend sind Befürchtun-
gungsebene in Anspruch genommen werden dürfen – eine gen, dass sie als Ärzte den Erwartungen der Patienten nicht
fachspezialistische Überweisung wird gefordert, die unter entsprechen können. Die unzureichende Kooperation mit
Umständen von entsprechenden Fachgruppen aber ver- anderen Fachgruppen könne dazu führen, dass das Vorge-
weigert wird, woraus sich lange und für den Patienten hen nicht einheitlich ist und dass die Patienten zu Ärzten
quälende Wartezeiten ergeben. überwechseln, die auf herkömmliche Weise behandeln.
Zeitliche Restriktionen begrenzen die Abfrage und Der mangelnde Zugang zu multimodalen Behandlungs-
Bearbeitung von »yellow flags« sowie den Einsatz von programmen lässt manche Empfehlung bei subakuten und
Fragebögen. Die in der NVL Kreuzschmerz und der chronischen Beschwerden gegenstandslos werden. Die
DEGAM-Leitlinie Nackenschmerzen empfohlenen Umsetzung der Leitlinienempfehlungen scheint also vor
Screeninginstrumente Mainzer Stadienmodell der allem an Faktoren zu scheitern, die in einer Übersichts-
Schmerzchronifizierung (MPSS), Heidelberger Kurz- arbeit von Cabana et al. [3] als externe Hindernisse be-
fragenbogen Rückenschmerz (HKF-R 10), Risikoanalyse zeichnet werden und die – selbst bei vorhandenem Wissen
der Schmerzchronifizierung-Rücken (RISC-R) oder Neck um die Empfehlungen und einer grundsätzlich positiven
Pain and Disability Scale (NPAD) sind weder im primär- Einstellung ihnen gegenüber – es unmöglich machen, ent-
noch im sekundärmedizinischen Versorgungsbereich eta- sprechend zu intervenieren (. Abb. 57.1). Unterstützende
bliert. Ihre Implementierung geht mit einem erheblichen Maßnahmen müssen hier angreifen.
Aufwand einher – die Effektivität ihres Einsatzes müsste Beispielhaft ist hier eine Studie von Rosemann et al. [9]
erst noch evaluiert werden. zu nennen: Die Autoren konnten zeigen, dass die Ausgabe
einer Patienteninformation zu den Risiken intramuskulär
verabreichter, nicht steroidaler Antirheumatika die Häu-
57.6 Wege aus dem Dilemma figkeit des Patientenwunsches, solche Spritzen zu be-
kommen, signifikant und relevant senkt. Der Erhalt der
Wo immer über Leitlinien versucht wird, Veränderungen Broschüre musste von den Patienten unterschrieben
in die individuelle Behandlungssituation eines Patienten werden [9].
zu tragen, gibt es – selbst bei den Befürwortern von Leit- Neben Aufklärungsmaterialien könnte ein Kommuni-
linien – Widerstände und damit Schwierigkeiten bei der kationstraining zum Umgang mit kontrastierenden Pa-
Umsetzung. Das Zusammenkommen von Negativempfeh- tientenpräferenzen helfen, schwierige Gesprächssitua-
lungen ohne Alternativen und von schwierigen Kommuni- tionen in der Behandlung der Rückenschmerzpatienten zu
kationssituationen sowie die mangelnde Umsetzbarkeit üben. Teile der Gespräche könnten an medizinische Assis-
der wenigen Positivempfehlungen zeugen jedoch insbe- tenzberufe abgegeben werden. Die Implementierung einer
sondere bei der NVL Kreuzschmerzen von einer speziellen Rückenschmerzleitlinie der Deutschen Gesellschaft für
636 Kapitel 57 · Leitlinien für die Primärversorgung: vom runden Tisch zur realen Praxis

. Tab. 57.1 Mögliche Maßnahmen zur Unterstützung der Leitlinienumsetzung

Kommunikation – Erleichterung des Datentransfers und der interdisziplinären Kommunikation, z. B. durch IT-Lösungen
– Schulungen von Leistungserbringern hinsichtlich eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses und
motivationaler Beratung
– Entwicklung von unterstützenden computerbasierten Behandlungsstools zur Entscheidungsfindung und
individualisierten Beratung

Kooperation – Kooperationsvereinbarungen
– Etablierung eines Case-Managements
– Befundaustausch
– Ambulante interdisziplinäre Fallbesprechungen

Selbst- – Entwicklung und Verbreitung von Patienteninformationen/schulungen


management – Förderung gesundheitsförderlicher aktiver Verhaltensweisen

Versorgungs- – Ausbau ambulanter interdisziplinärer Teams


strukturen – Proaktive Versorgung subakuter und chronischer Rückenschmerzpatienten

Gemeinwesen – Etablierung von leicht zugänglichen Bewegungs- und Sportmöglichkeiten für Menschen unterschiedlicher
Altersgruppen und unterschiedlichen Geschlechts
– Etablierung ambulanter Gruppen für Reha-Sport und Funktionsgymnastik für subakute und chronische
Rückenschmerzpatienten

Forschung – Entwicklung und Evaluation von Stratifizierungsmechanismen für die Primärversorgung


– Evaluation von Implementierungsmaßnahmen

Allgemeinmedizin hat tendenziell bessere Ergebnisse in c SGB V. Der gemeinsame Bundesausschuss hat sich zu-
den Patientenzielgrößen gezeigt, wenn die medizinischen dem für die Einführung eines Disease-Management-
Fachangestellten darin geschult sind, eine motivationale Programms (DMP) für Rückenschmerz ausgesprochen.
Beratung zu mehr körperlicher Aktivität durchzuführen. Ob ein solches Programm für Patienten mit chronischen
Die Ergebnisse waren allerdings nicht signifikant [1]. Rückenschmerzen tatsächlich zu einer verbesserten Ver-
Bezüglich der »yellow flags« kann im empathischen sorgung führt, bleibt zu untersuchen. Voraussetzung für
57 Gespräch die psychosoziale Situation der Patienten erfragt dieserart Untersuchung wäre, dass die Einführung eines
werden. Durch das Eingehen auf die Patientenwünsche – DMP in verschiedenen Regionen zeitversetzt erfolgt, da-
selbst, wenn abweichend von den Empfehlungen der NVL- mit zumindest im Verlauf mögliche Erfolge des Programms
oder der DEGAM-Leitlinie – kann eine Vertrauensbasis evaluiert werden können.
zur Patientin/zum Patienten geschaffen werden. Diese er- Sowohl für anhaltende Kreuz- als auch Nackenschmer-
laubt später, erklärend auf das Verständnis der Patienten zen müssen primärmedizinische Interventionen im Be-
darüber hinzuarbeiten, dass ein aktives Vorgehen zu einer reich der Psycho- oder Physiotherapie, der Sozial- oder
besseren Prognose ihrer Schmerzen führt. An dieser Stelle rehabilitativen Medizin für solche Patienten entwickelt
muss angemerkt werden, dass bislang nicht ausreichend bzw. evaluiert werden, die auch von einem niedrigschwel-
untersucht wurde, welche Interventionen bei Auffälligkei- ligen Programm unter nicht spezialistischer Betreuung
ten von »yellow flags« für den primärärztlichen Rücken- profitieren würden. Weitere Forschung ist notwendig, um
schmerzpatienten sinnvoll und effektiv sind. Auch das zu differenzieren, welche Patienten aufgrund biopsychoso-
weitverbreitete Konzept der »red flags« ist nur wenig evi- zialer Kriterien von welcher Therapieart und intensität
denzgestützt. Viele Warnhinweise führen zu keiner oder profitieren, und um so eine effektivere und schnellere Ver-
nur wenig erhöhter Post-Test-Wahrscheinlichkeit von ma- sorgungszuweisung gewährleisten zu können, z. B. bei
ximal 62 %. Erst die Kombination der Kriterien scheint die »yellow flags« oder bei Bedarf an multimodalen Therapie-
Vorhersage deutlich auf Werte zu verbessern von z. B. 90 % formen.
für die Vorhersage von Frakturen. Möglicherweise wäre Ohne Hilfen und ohne strukturelle Änderungen der
die Entwicklung von Scores für die hausärztliche aktuellen Versorgung wird die reine Bekanntmachung
Versorgung erfolgversprechender [7]. von Leitlinien keine ausreichend großen Effekte auf die
Daneben sind strukturelle Änderungen notwendig. Krankheitsverläufe der Patienten und die Kosten im Ge-
Der Überdiagnostik und -therapie kann man mit einem sundheitssystem zeigen. Insbesondere in der Versorgung
primärmedizinischen Versorgungssystem begegnen wie in subakuter und chronischer Kreuz- und Nackenschmerz-
den hausärztlichen Selektivverträgen nach § 73b und patienten können Leitlinien nur ein Element in einer
Literatur
637 57
komplexen Versorgungslogistik darstellen. Das gesamte
System aus Leistungserbringern, dem Gesundheitswesen
und seinen Entscheidungsträgern sowie das Gemeinwesen
müssen auf die Umsetzung der Leitlinienempfehlungen
ausgerichtet sein (. Tab. 57.1; vgl. auch 7 Kap. 36, »Chronic-
Care-Management«).
> Patienten mit subakuten und chronischen Be-
schwerden brauchen Versorgungsstrukturen, die
Anreize und Unterstützung für eine proaktive und
interdisziplinäre Behandlung bieten.

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(KddR) jPatienten-Information.de
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jBundesverband deutscher Rückenschulen (BdR) Bundesvereinigung; Suchergebnis zum Thema Kreuz-
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7 http://bdr-ev.de/. Zugegriffen: 5. November 2015
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jForum Gesunder Rücken – besser leben e. V.
Mitglied der Konföderation der deutschen Rückenschulen jDeutsche Schmerzgesellschaft
(KddR) Patienteninformationen der Deutschen Schmerzgesell-
7 http://www.forum-ruecken.de/. Zugegriffen: 5. November schaft zum Thema Schmerz (2012)
2015 7 http://www.dgss.org/patienteninformationen-start/. Zu-
gegriffen: 5. November 2015
jAktion Gesunder Rücken e. V. (AGR) – Gemeinsam
gegen Rückenschmerzen
jKrankheitserfahrungen.de
7 http://www.agr-ev.de/de/. Zugegriffen: 5. November 2015
Arbeitsgruppe krankheitserfahrungen.de zum Thema
chronischer Schmerz (2014)
Gesundheitsaufklärende Internetseiten 7 http://www.krankheitserfahrungen.de/module/chroni-
von Krankenkassen scher-schmerz. Zugegriffen: 5. November 2015

jRückenschmerzseite der AOK jForum Schmerz im Deutschen Grünen Kreuz e. V.


7 https://www.aok.de/bundesweit/gesundheit/gesunder- Forum Schmerz zum Thema Selbsthilfe bei Rücken-
ruecken-21744.php. Zugegriffen: 5. November 2015 schmerzen (2015)
jRückenschmerzseite der KKH 7 http://www.forum-schmerz.de/schmerz-infos/ruecken-
schmerzen/selbsthilfe.html. Zugegriffen: 5. November 2015
7 https://www.kkh.de/versicherte/a-z/rueckenschmerzen.
html. Zugegriffen: 5. November 2015
jWirbelsäulenliga e. V.
jRückenschmerzseite der Barmer GEK Informationen und Links rund ums Thema Wirbelsäulen-
7 https://www.barmer-gek.de/gesundheit/krankheit-be- schmerz
handlung/schwerpunktthemen/gesunder-ruecken. Zugegrif- 7 http://www.wirbelsaeulenliga.de/. Zugegriffen: 5. Novem-
fen: 5. November 2015 ber 2015
642 Serviceteil

Stichwortverzeichnis

A Algorithmus 7 Behandlungs-
pfad
Arbeitsgemeinschaft der
Wissenschaftlichen Medizi-
Avoidance-endurance-Modell
(AEM) 53, 63, 155, 209, 210,
ABC-Effluxtransporter 70 ALIF (anterior lumbar interbody nischen Fachgesellschaften 306
Ablenkung 303 fusion) 335 (AWMF) 568 Avoidance-Endurance Question-
Abszess 507 Alkohol 61 Arbeitslosigkeit 61 naire (AEQ) 156
– epiduraler 570 Allodynie 42 Arbeitsmedizin 402 Axon 144
AcadiaTM 340 – chronischer Schmerz 31 – Angebotsvorsorge 406 Axonotmesis 145
Accelerometer 48 Alltagsaktivität 50 – Beanspruchung 402
Acetylsalicylsäure 223 AMIKA (Ältere Menschen in – Belastung 402
Adenosintriphosphat 40
Adoleszentenskoliose 471
körperlicher Aktion) 533
Analgetikum 68, 114, 221, 440
– Gefährdungsbeurteilung
403
B
Agenda-Setting 199 – Lebertoxizität 220 – Pflichtvorsorge 406 Baastrup-Phänomen 500
Aggrecan 68 – nicht antipyretisch-anti- – Verordnung zur arbeits- Back Performance Scale 238
Ahshi 353, 355 phlogistisch 224 medizinischen Vorsorge Back-to-Balance-Konzept 186
Aktionspotenzial 41, 43 – nichtsaures antipyretisches 406 Baclofen 227
Aktivität 220 – Wunschvorsorge 406 Ba Gang 354
– berufliche 50 – Pharmakodynamik 69 Arbeitsplatz 60, 285, 390 Bagatellisieren 303
– gesundheitsförderliche 50 – Pharmakokinetik 70 – biomechanische Einwirkung Bakterie, gramnegative 462
– körperliche 48, 61 Analgosedierung 119 60 Ballonkyphoplastie 494
– sportliche 51 Analyse, laborchemische 499 – ergonomische Situation 60 Bandapparat 15
– unspezifische 242 Anamnese 498, 508 – Nackenschmerz 415 Band, dorsales 432
Aktualitätsdiagnostik 266 – biografische 152 Arbeitsplatzfaktor 244 Bandscheibe 15, 432
Akupressur 242 – physiotherapeutische 170 Arbeitsplatzgestaltung, ergo- – Faserring 433
Akupunktur 242, 266, 574 – psychologische 171 nomische 390, 391 – Gallertkern 432, 433
– Ahshi-Punkt 353, 355 – schmerztherapeutische 169 Arbeitsschutz 405 – Instabilität 432
– Ba Gang 354 Änderungsmotivation 201, 202 Arbeitsschutzgesetz 406 – Insuffizienz 432
– Blasenmeridian 356 Angebotsvorsorge 406 Arbeitsunfähigkeit 85, 619 – Wasserkissensystem 432
– DeQi-Gefühl 355 Angst 61, 160 – Gutachten 594 Bandscheibenchirurgie 333
– Diagnostik 354 – schmerzbezogene 156 Arbeitsunfähigkeitstage 9 Bandscheibendegeneration
– Elektrostimulation 355 Angst-Vermeidungs-Modell Arbeitszufriedenheit 60 – genetische Faktoren 68
– Endorphine 353 371 Armplexusläsion 435 – lumbale 68
– Enkephalin 353 Angst-/Vermeidungsüberzeu- Aromataseinhibitor 424 Bandscheibendekompression
– Fernpunkte 355 gungen 62 ART (Acupuncture Randomized 333
– GERAC-Punktauswahl Angst-/Vermeidungsverhalten Trials) 353 Bandscheibenerkrankung 68
356 244 Arthritis 500 Bandscheibenersatz, zervikaler
– Kassenleistung 354 Anpassung – rheumatoide 531 344
– klinischer Nachweis 353 – motorische 253 – septische 570 Bandscheibenhernie, lumbale
– Kosten 627 – sensomotorische 252, 256 Arthrose 124, 531 7 Bandscheibenvorfall,
– Leitlinien 356 – sensorische 252 Arylpropionsäurederivat 223 lumbaler
– Locus-dolendi-Punkt 355 Anschlussdegeneration 335 Arzneimittel 622 Bandscheibenprolaps 438
– Moxibustion 355 Anspannungstest, isometrischer Arzneistofftransporter 70 7 Bandscheibenvorfall
– Nahpunkte 355 126 Aspergillus 462 Bandscheibenprothese 337,
– Neuroakupunktur 355 anterior lumbar interbody Assessment 445
– psychologische Faktoren fusion (ALIF) 335 – inter-/multidisziplinäres 87, Bandscheibenprotrusion 438
354 Antidepressivum 222, 227 235 Bandscheibensequester 332
– Sham-Akupunktur 353 Antiepileptikum 222 – Test 239 Bandscheibenvorfall
– Stimulationstechnik 355 Antikonvulsivum 222, 228 – multimodales 166 – ergotherapeutische Maß-
– Syndrommuster, chinesische Antiphlogistikum, nichtsteroi- Atemdepression 70 nahmen 441
354 dales (NSAID) 70, 440 Atlas 14 – Hydro-, Thermo- und Balneo-
– Wirkungen, unerwünschte Antirheumatikum/Antiphlogisti- ATP 7 Adenosintriphosphat therapie 441
354 kum, traditionelles nicht- Auffahrunfall 601 – Kinder und Jugendliche
Akupunkturpunkt 353 steroidales (tNSAR) 221, – simulierter 606 519
– Auswahl und Stimulation 222 Ausbildungszuschuss 385 – Krankengymnastik 441
355 Antirheumatikum, nichtsteroi- Ausdauer 285 – Lagerungstechniken 440
Akupunkturzone 356 dales (NSAR) 85, 537, 572 Ausdauertraining 234 – lumbaler 82, 432
Akutschmerz, persistierender Anulus fibrosus 432 Äußerung, selbstmotivierende – Anatomie, topografische
31 Apophysenverletzung 519 201 435
Akzeptanz- und Commitment- Arbeitsbedingungen 390 Authorized-concealment- – Blasen-/Mastdarmstörung
therapie (ACT) 538 Arbeitsbelastung 438 Vorgehen 294 437
643 A–C
Stichwortverzeichnis

– Diagnostik, radiologische Beratung Bewertung, funktionale 304 – depressiv-suppressiver Pfad


439 – handlungsorientierte für Beziehungsgestaltung 197 (DER) 211
– Differenzialdiagnosen Schmerzpatienten (HOBS) – Therapeut/Patient 155 – Diagnostik 64
438 284 Bildsteuerung 313 – Einflussfaktoren 207
– Häufigkeitsverteilung – motivierende 198 Bindegewebe 128 – Fear-avoidance-Pfad (FAR)
435 – Kurzanleitung 200 Biofeedback 299 210
– minimal-invasive Behand- – Strategien 201 biopsychosoziales Basiskonzept – heiter-suppressiver Pfad (EER)
lung 443 Berner Schmerzscore für 206 212
– Risikofaktoren 438 Neugeborene (BSN) 113, Bisphosphonat 424 – iatrogene Faktoren 63
– Schweregrade 435 114 Blasen-/Mastdarmstörung 437 – Leitlinien 64
– Symptomatik, klinische berufliche Situation 60 Blasenmeridian 356 – Prävention 86
437 Berufsgenossenschaft 384 Blasen- und Mastdarmlähmung, – psychologische Faktoren
– multimodale Behandlung Berufsgruppe 50 akute 510 61
440 Berufskrankheit 408 Blockierung 602 – Risikofaktoren 58, 59, 362
– Operationsindikationen – anerkannte und entschädigte Blutsenkungsgeschwindigkeit – Schmerztherapie, multi-
442 409 (BSG) 464 modale 363
– Operationsmethoden 442 – Ganzkörperschwingungen Body-Mass-Index 242 – Studien, Evidenz 58
– physikalische Maßnahmen – vertikale 409 Bogenwurzelzeichen 485 Chronifizierungsfaktor 62, 86,
441 – Halswirbelsäule 409 bone bruise 603 440
– Prolaps 432 – Lendenwirbelsäule 408 bone remodelling 7 Knochen- Chronifizierungsmechanismus
– Protrusion 432 – Rücken und Nacken 408 umbau 42
– Sequester 432 – Tragen schwerer Lasten 409 Bragard-Test 83 Chronifizierungsrisiko 64,
– Therapie Berufskrankheitenliste 408 Brighton-Kriterium 130 161
– konservative 439 Berufs- und Arbeitsplatz- Brown-Séquard-Syndrom 506 Chronifizierungsstadium 95
– medikamentöse 440 anamnese 382 Brustwirbelsäule (BWS) 434 CILP (cartilage intermediate
– operative 442 Beschleunigungstrauma 25 – sagittale Ansicht 15 layer protein) 69
– psychologische 441 BESD 7 Beurteilung von Burststimulation 327 Cinderella-Effekt 52
Barrierenmanagement, anti- Schmerzen bei Demenz Circulus-vitiosus-Konzept 43
zipatorisches 202 (BESD) Claudicatio
Barthel-Index 533
Basisdiagnostik
Betriebsarzt 407
Bettruhe 50, 266
C – spinalis 448
clinical prediction rules (CPR)
– neurologische 83 Beurteilung von Schmerzen bei C5-Irritation 345 247
Basisdiagnostika 498 Demenz (BESD) 116 Candida 462 Clinical Standards Advisory
Basismodell, biopsychosoziales Bewältigungseinstellung, Cartilage intermediate layer Group 81
207, 208 passive 62 protein (CILP) 69 Cobb-Winkel 472
Basistherapie 85 Beweglichkeitsprüfung 83 case finding 86 Coblationstechnologie 341
Basisuntersuchung 83 Bewegungen nach McKenzie, Cauda-equina-Syndrom 81, 82 Codein 70
Beck-Depressions-Inventar (BDI) wiederholte 241 Celecoxib 224 CoflexTM 336
160 Bewegungsmuster 131, 371 Cervical-Range-of-Motion- Cold-pressure-Test 252
Beckenkammspan, trikortikaler – Testung 132 Instrument (CROM) 239 Compression-Test 236, 237
343 Bewegungsmusterstörung 130 change talk 200, 201 Computerprogramm
Befunderhebung 284 Bewegungstherapie 233, 267 Chemonukleolyse 443 (7 auch Internettherapie)
Begutachtung – Dosis, optimale 376 Chemotherapie 487 188
– LWS 592 – Dosis-Wirkungs-Beziehung Children‘s Hospital Eastern Computertomografie (CT) 141,
Behandlung 370, 373 Ontario Pain Scale (CHEOPS) 439, 452, 464, 481, 519
– medikamentöse 503, 504 – edukative Elemente 372 112 Conditioned-pain-Modulation
Behandlungserwartung, passive – Exposure-in-vivo-Programm Chirotherapie 601 (CPM) 545
63 372 Chondrosis vertebralis 500 control impairment 84
Behandlungsleitlinie 64 – Forschungsfragen 376 Chordom 485 Cortisol 213
Behandlungspfad 96 – Functional-restoration-Ansatz Chronic-care-Krise 397 Cotrel-Dubousset, Instrumen-
Behandlungsprämisse 180 374 Chronic-Care-Modell 397, 400 tarium 475
Behandlungsprogramm, multi- – Graded-activity-Programm – Informationssysteme 398, COX-2-Hemmer 221, 537
modales 374 372 399 Coxib 224
Beighton-Skala 130, 238 – guarded movement 371 – Patientenselbstmanagement CPM (Conditioned-pain-Modu-
Belastung-Beanspruchung- – Kräftigungsübung 373 398, 399 lation) 545
Bewältigungskonzept 402 – methodische Merkmale 375 – Schmerzpatient 399 CPM-Hemmung 546
Belastung, psychosoziale – Rückenschule 374 – Versorgung, proaktive 399 Crankshaft-Phänomen 477
157 – Stabilisierungsübung 373 – Versorgungsstrukturen 398, Crashversuch 606
Belastungshaltung 53 – Übungsformen im Wasser 399 C-reaktives Protein (CRP) 464
– sternosymphyseale 417 374 chronic lower back pain (CLBP) Cross-talk-Stimulation 327
Bending-Aufnahme 472 – Wirkmechanismen, psycho- 49 Cyclooxygenase 220, 222
benign joint hypermobility logische 371 Chronic Pain Acceptance CYP2D6-Poor-Metabolizer (PM)
syndrome (BJHS) 7 Hyper- Bewegungs- und Kräftigungs- Questionnaire (CPAQ) 156 70
mobilität, konstitutionelle therapie, aktive 624 Chronifizierung 363 Cyriax-Konzept 233
644 Serviceteil

D Differenzialdiagnose, rheumato-
logische 500


Bildungsbroschüre 187
Computerprogramm 188
Embolisierung, präoperative
490
Deafferenzierungsschmerz 506 Dihydrocodein (DHC) 226 – Diagnose 181 e-mental-health 187
Debulging 490 DISCERN-Kriterien 204 – Fibromyalgiesyndrom 184 EMG-Biofeedback 7 Elektro-
DEGAM-Leitlinie Kreuzschmerz Disease-Management- – Functional-restoration-Ansatz myografiebiofeedback
585 Programm 399, 636 185 EMG-Tuningkurve 253
DEGAM-Leitlinie Nacken- Diskektomie, zervikale 341 – Gruppentraining, ambulantes Empathie 196
schmerzen 568, 633 Diskografie 439 185 Empty-can-Test 239
– 10-Stufen-Plan 569 Diskotomie – Informationsbausteine 182 Endorphin 353
degenerative Veränderung 139 – lumbale 442 – Informationsvermittlung Enkephalin 353
Dekompression 454 – mikrochirurgische 443 182, 189 Enneking-System 482
– mikrochirurgische 334 Diskushernie 7 Bandscheiben- – Inhalte 181 Entlordosierung 280
– stabilitätserhaltende 334 vorfall – Lernen/Begreifen 190 Entspannung nach Öst, ange-
Dekompressionseingriff, – lumbale 434 – mangelnde kognitive Fähig- wandte 298
operativer 509 – thorakale 434 keiten 190 Entspannungsverfahren 267,
Dekonditionierung, körperliche – zervikale 433 – Manual 182 300
244 Diskusprolaps 501 – multimodal 181 Entzündungsmediator, endo-
Dekonditionierungsprozess Dislokation – multimodales Gruppen- gener 40
370 – antlantoaxiale 502 programm 186 Epiduralkatheter 443
Dekonditionierungssyndrom Distraction-Test 236, 237 – Münchner Rücken-Intensiv- Epiduralraum 18
363 Distraktionssystem, inter- Programm (MRIP) 186 Epidural single-shot 443
delayed onset muscle soreness spinöses 336 – Muskelverspannung 183 Ergonomie 390
(DOMS) 544 Distress 61, 64 – Nackenschmerz 231 – Arbeitsplatz 390
Demenz 113 Distress-endurance-Reaktion – orientierende 151 – Haushalt 391
Demethylierung 70 306 – pädagogischer Prozess 189 – Hebetechnik 391
Denk-, Gefühls- und Handlungs- Disusesyndrom 53 – Prämissen 190 ERGOS® 383
muster, chronifizierte 190 Diszitis 502, 521 – Printmedien 187 Ergotherapie 267, 284
De-novo-Skoliose 448, 478 – zervikale 570 – Rückenfit 186 – Edukation 285
Depressivität 61, 64, 160 Doktor-Hopping 90 – Rückenschmerz 231 – Hilfsmittel 285
DeQi 355 DOLOPLUS-2-Skala 116 – Schmerzstörung, somato- – Intervention 284
Derangement 243 DOMS (delayed onset muscle forme 184 – Pacing 284
Dermatom-SEP 144 soreness) 544 – Selbstmanagement- und – Rückenschule 286
Derotationsspondylodese, Doppelnadelsystem 317 Bewältigungskompetenz – Wiedereingliederung,
ventrale (VDS) 475 Dorsalgie 265 181 berufliche 285
Deutsche Gesellschaft für Allge- Drei-D-Krümmungskorrektur – Sprachebene 190 Erkrankung, entzündliche 498
meinmedizin und Familien- 475 – subgruppenorientierte 180 Erstkontakt 150
medizin (DEGAM) 568, 632 Drei-Ebenen-Diagnose 95 – tagesklinisches Konzept 185 Erythromelalgie 31
Deutsche Gesellschaft zum Drei-Phasen-Skelettszintigrafie – Verhaltensänderung 185 Etagendiagnostik, klinische
Studium des Schmerzes 481, 485 – Wirksamkeit 180 434, 437
(DGSS) 535 Druckschmerzempfindlichkeit – Zielbereiche 181 Etoricoxib 224
Deutsche Rentenversicherung 544, 545 Edukationsprogramm, standar- Eustress-endurance-Reaktion
384 Druckschmerz, interspinöser disiertes 182 306
Deutsches Institut für Normung 127 EFL (Evaluation der funktio- exercise therapy (7 auch Bewe-
e. V. (DIN) 390 Druckschmerzschwelle 544 nellen Leistungsfähigkeit) gungstherapie) 370, 373
Deutsches Zentrum für Alters- Dura mater 18 383 Experten-Panel \»Rücken-
fragen (DZA) 532 Durchhalteappell 303 Eingliederungsmanagement, schmerz\« 187
Diagnoseüberprüfung 268 Durotomie, inzidentelle 333 betriebliches 407 Exposure-in-vivo-Programm
Diagnostik DXA-Verfahren 425 Eingliederungszuschuss 385 372
– altersspezifische 532 Dynamometrie 239 Einrichtung Exposure-in-vivo-Therapie 242
– apparative 133 Dynesys® 338 – schmerzmedizinische, Klassi-
– bildgebende 84, 499 Dysfunktion, sensomotorische fikation 559
– gestufte 80
– klinisch-neurophysiologische
257, 258 – schmerztherapeutische
361
F
143 Einzelphotonenemissionstomo- F-18-Deoxyglukose 481
– medizinische 169
– multidisziplinäre algesiolo-
E grafie (SPECT) 481
Einzeltherapie, Kosten 625
Faber-/Innenrotationstest 236,
237
gische 166 Early-onset-Skoliose 470 Elektroenzephalogramm (EEG) Faber-Test 83
– psychologische 171 Echtheit/Kongruenz 196 144 Faces Pain Scale 112, 115
– psychosoziale 150, 302 Edukation 179, 231, 268, 285, Elektromyografiebiofeedback Facettendenervation 339
– radiologische 133, 439 302 299 Facettendruckschmerz 126
– Symptomprofil 508 – Abwehrhaltung 191 Elektromyografie (EMG) 21 Facettenersatz 339
DIAM (device for interspinous – Back-to-Balance-Konzept Elektrophysiologie 143 Facettengelenk 14
assisted motion) 336 186 Elektrotherapie 232, 267, 441, Facettengelenkarthrose 82,
Diclofenac 223 – berufsbegleitend 185 453 433, 448
645 D–H
Stichwortverzeichnis

Facetteninfiltration 443 Funktionsbewegung 124 – Druckschmerzhaftigkeit 544 Hämangiom 484


– lumbale 314 Funktionsdiagnostik 266 – Druckschmerzschwelle 545, Handlungsbalance 285
– zervikale 318 – apparative 142 546 Harrington-Instrumentarium
Facettenkoagulation 443 Funktionsfragebogen Hannover – experimentelle Simulation 475
Facettensyndrom 96 Rücken (FfbH-R) 242 von Muskelschmerzen 543 Hausarzt 91, 632
– lumbales 438 Funktionsmyelografie 452 – inhibitorische Maßnahmen – Aufgaben 92
Facettitis 315 Funktionsstörung, primäre und 545 – Versorgungskoordination
Fachassistenz, algesiologische sekundäre 123 – psychosoziale Faktoren 543 101
168 Furchtkonditionierung 34 – Risikofaktor 542 Hautschmerz 40
Fascia thoracolumbalis (FTL) Fusion 341 – Rückenschmerz 546 Heben und Tragen schwerer
44 – anteriore lumbale inter- – Summation, zeitliche 545 Lasten 403
– Innervation 45 korporelle (ALIF) 455 – Ursachen und Konsequenzen Heidelberger Kurzfragebogen
Faserring 7 Anulus fibrosus – interkorporelle 335 543 Rückenschmerz (HKF) 99,
Faserringzerreißung 604 – Pedikelschrauben 455 Gesprächsführung, patienten- 162
Fazilitation 239 – posteriore lumbale inter- zentrierte 196 Heilmittel 622
FBSS (failed back surgery korporelle (PLIF) 455 Gesprächsstil Hemilaminektomie 454
syndrome) 7 Postdiskektomie- – transforaminale inter- – nondirektiver 196 Hepatotoxizität 537
syndrom korporelle (TLIF) 455 – patientenzentrierter 197 Herpes zoster 532
FCE (functional capacity evalua- F-Wellen 144 Gesundheitspfad \Rücken\ Hiatus sacralis 316, 321
tion) 383 582 Hilfe zur Selbsthilfe 183
fear-avoidance-beliefs 290, Gesundheitssurvey, telefonischer Hilfsmittel 285
307
Fear-Avoidance Beliefs Question-
G 6
Gesundheitsversorgung 397
– orthopädisches 278
Hochfrequenzstimulation
naire (FABQ) 156, 244 Gaenslen-Test 83, 236, 237 GKV-Wettbewerbsstärkungs- 327
Fear-avoidance-Modell (FAM) Ganganalyse 131 gesetz 578 Hüfte, Beweglichkeit 83
35, 209 Gangbild 130 Glukokortikoidbehandlung Hüftfraktur 428
Fear-avoidance-Reaktion 306 Ganzkörperschmerzen 542 423 Humankapitalmethode 618
Fehlbildung 498 Ganzkörperschwingung, Göttinger Rücken-Intensiv- HWS-Beschwerden 7 Nacken-
Fehlinformation 179 vertikale 409 Programm (GRIP) 244 schmerz
Fehlstatik 82 Ganzkörpervibration, thera- graded activity 242 HWS-Distorsion 606
Fensterung, weite 454 peutische 241 Graded-activity-Programm 372 – befundorientierte Schwere-
Fibromyalgie 500, 532, 542, Gate-control-Theorie 182 Graded-balance-Ansatz 306 gradeinteilung 607
544 GCH1-Gen 69 Graded-balance-Intervention – Erdmann-Schweregrad-
Finger-Boden-Abstand 83 Gedächtnis 33 304 einteilung 608
Fixateur interne 490 – episodisches 33 Graded Chronic Pain Status – Muskelzerrung 610
Flavektomie 334 – explizites, deklaratives 33 (GCPS) 93 – Nackenschmerz 414
Flexibilität, psychische 53 – implizites 33, 34 Granulom 507 – Quebec-Klassifikation 608
Flexionstest, kraniozervikaler – Schmerzphänomen, Deutung Growing-rod-System 476 – Schutzfunktion der Musku-
(CCFT) 239 35 GTP-Zyklohydrolase 1 69 latur 610
Flexorreflex 40 – semantisches 33 guarded movement (7 auch – Sofortsymptomatik 609
Flupirtin 224 – tertiäres 33 Bewegungsmuster) 371 Hyaluronidase 322
Folgekontakt 154 Gedächtnisprozess 35 Guillain-Barrè-Polyradikulitis Hydrocodon 70
Foramen intervertebrale 315 Gedanken, automatische 53, 507 Hydro-, Thermo- und Balneo-
Foramenstenose 448, 503 304 Gutachten, ärztliches 7 Begut- therapie 441
Foraminotomie 344 Gefährdungsbeurteilung 403 achtung, HWS Hyperalgesie 42
Frage Gefäßversorgung 18 Gutachter, ärztlicher 592 – Schmerz, chronischer 31
– offene 196 Gelenk 122 Hyperalgesie, opioidinduzierte
– öffnende 201 – Bewegungsausschläge 124 225
Fragebogen zur Erfassung der
Schmerzverarbeitung (FESV)
– Kapselmuster 124
Gelenkmuster 125
H Hyperextensionstheorie, HWS
25
156 Gelenkspiel 124 Habituation 34 Hyperlordose 133
Fraktur 82 Gelenktechnik 272 Halsextensor, Verfettung 254 Hypermobilität 498
– osteoporosebedingt 422 Genese, multifaktorielle 65 Halsflexor 254 – konstitutionelle 130
Frakturrisiko 425 Genetik 71 Halswirbelsäule (HWS) 433 – pathologische 130
Frankel-Klassifikation 481 – Variabilität 68 – Begutachtung 599 – segmentale 129
Frau, postmenopausale 424 Genexpression, veränderte 30 – Bildgebung 434 Hyperparathyreoidismus,
– medikamentöse Therapie GERAC-Akupunktur 356 – Differenzialdiagnosen 434 sekundärer 423
427 GERAC (German Acupuncture – Etagendiagnostik, klinische Hyperthyreose 423
French-open-door-Technik von Trials) 353 434 Hypervigilanz 210
Hoshi und Kurokawa 345 Geriatrie 113 – Funktionsstörungen 416, Hypnose 301
Friktionskostenmethode 618 Geschlecht 59 418, 419 Hypomobilität 498
Functional-restoration-Ansatz Geschlechtsdimorphismus 423 – Orthese 281 Hypothalamus-Hypophysen-
180 Geschlechtsunterschied 542 – Steilstellung 605 Nebennierenrinden-Achse
Fünf-A-Strategie 202 – CPM-Hemmung 546 – Therapie 434 (HHNA) 213
646 Serviceteil

I – Arbeitsunfähigkeit 584
– Assessment 587
Katalog Therapeutischer
Leistungen (KTL) 555
Kollagen 68
Kommunikation 196, 197
Ibuprofen 85, 223 – Bewertung 585 Katastrophisieren 156, 210, Komorbidität 451, 532
ICD-10, Diagnoseklassifikation – schmerztherapeutische 303, 371 Kompensationsleistung 52
361 586 Katastrophisierungs-Vermei- Kompressionssymptomatik
ICF-Core-Set 596 – Chronifizierungsgefährdung dungs-Skala D-65+ 535 238
– low back pain 236 586, 587 Katechol-O-Methyltransferase Konditionierung
IDET 443 – Erfolgskriterien 584 (COMT) 69 – klassische 34, 289
Iliosakralgelenkaffektion 82 – Gesundheitspolitik 580 Katheter 322, 324 – operante 34
Iliosakralgelenk (ISG) 315 – Krankenkasse 580 Kaudalanästhesie 316, 322 Konditionierungsprogramm,
Iliosakralgelenksyndrom 96 – Leitlinien 585 Kaudasyndrom 438, 442, 507 körperliches 375
Imaginationsstrategie 300 – Patienten 581 Kennedy-Hawkins-Test 239 Konfrontationstherapie 235,
IMBA (Integration von Menschen – Projekte 582 Kernig-Zeichen 570 242
mit Behinderung in die – Versorger 580 Kernspintomografie 518, 603 Kontextfaktor 49
Arbeitswelt) 383 – Versorgungsprojekt 581 Kieler Schmerzinventar (KSI) Kontrolle, sensomotorische
Impingement, subakromiales – Ziele 579 156 252
239 Intensivpatienten 118 Kinder- und Jugendgesund- Konusmyelitis 510
Implantat Intention-to-treat-Analyse 335 heitssurvey (KiGGS) 8 Konussyndrom 438, 505, 506
– dynamisches 338 Interferenz 267 Kinder und Jugendliche 516 Koordination, muskuläre 24
– interspinöses 456 Interferenzmuster 144 – Bandscheibenvorfall 519 Kopflot 133
Impulsmanipulation 276 Interleukin 69 – Café-au-Lait-Flecken 518 Korpektomie, zervikale anteriore
Inaktivität, körperliche 52 International Association for the – Computertomografie 519 343
Infektion 82 Study of Pain (IASP) 108 – Differenzialdiagnosen 520 Körpergrößenverlust 425
Infiltration am Iliosakralgelenk, Internet 187 – Diszitis 521 Korporektomie 458
ligamentäre (ISG-Block) 315 Internettherapie 188 – Hautdefekt 518 Korsett (7 auch Orthese) 279
Infiltrationsraum 313 Inter-Rater-Reliabilität 108 – Kernspintomografie 518 – nach Cheneau 474
Inflammation 68 Intervallskala 110 – klinische Untersuchung 518 Kortex, somatosensorischer 31
Information (7 auch Edukation) Intervention – Mehrphasenszintigrafie 519 Koryphäenkillersyndrom 189
179 – kognitiv-verhaltenstherapeu- – Nebensymptom 518 Kosten
Informationssystem, klinisches tische 301, 307 – Osteomyelitis 521 – direkte 620
398 – Indikation 308 – red flags 516 – indirekte 618, 620
Informationsvermittlung 181, – pharmakologische, Kosten – Röntgenuntersuchung 518 – sektoren- und leistungs-
189 627 – Scheuermann-Krankheit spezifische 622
Injektion – primärmedizinische 636 520 – Verteilung 623
– epidural-dorsale 316 Interview – Schmerzanamnese 517 Kosteneffektivität 624
– epidural-perineurale 316, – standardisiertes klinisches – Schmerzlokalisation 518 Kräftigungsübung 373
317 172 – Schulter- und Nacken- Kraftleistungsfähigkeit 24
– epidural-sakrale 316 – verhaltensanalytisches 156, schmerzen 519 Krafttraining 234
Injektionsbehandlung, 158 – Spondylodiszitis 521 Krankengymnastik 441
segmentnahe 312 IRENA (Intensivierte Rehabilita- – Spondylolyse und Spondylo- Krankenkasse 580
Injektionstechnik 313 tionsnachsorge) 387 listhese 519 Krankheit, chronische 397
– Methode hängender Tropfen Ischialgie 437 – Tumor 521 – Schmerz 399
321 ISG/SIG-Syndrom 96 Kinder- und Jugendsport 525 – Versorgung optimale 397
– Methode nach Racz 322 Kindliche Unbehagens- und Krankheitsartenstatistik 9
– peridurale 321 Schmerzskala (KUSS) 112 Krankheitsbewältigung 61
– Widerstandsverlustmethode
321
J Kinesiotape 241
KISS-BelRes 158
Krankheitsgeschichte 169
Krankheitskosten 619, 621
Injektionstherapie 85, 288, 312 Jobcenter 384 – Interviewleitfaden 159 Krankheitskostenrechnung 9
– Bildsteuerung 313 Jugendlicher 516 7 Kinder Klopfschmerz Wirbelsäule 126 Krankheitskostenstudie 618
– Erfolgsquote 323 und Jugendliche Knochendichtemessung 425 – Bottom-up-Ansatz 620, 623
– Infiltrationsraum 313 Knochentuberkulose – Top-down-Ansatz 619, 623
– Komplikationen 323, 324 (7 auch Spondilodiszitis, Krankheitslast, ökonomische
– Komplikationsrate 313
– Kontraindikation 313, 324
K spezifische) 462
Knochentumor, primärer
618
Krankheitsmodell
– lumbale 320 Kaltenborn-Evjenth-Konzept (7 auch Wirbelsäulentumor) – biopsychosoziales 206, 302
– Sitzhaltung 314 233 480, 482 – erweitertes 209
Inklinometer 238 Kalzium 427 – Hauptlokalisationsorte 480 – laienhaftes 153
Inspektion 83 Kalzium-Vitamin-D-System Knochenumbau 423 – subjektives 153
Instabilität 423 Knochenzyste, aneurysmatische Krankheitsmodell, biopsycho-
– degenerative 97 Kanalopathie 69 (AKZ) 483 soziales 182
– funktionelle 96 – hereditäre 69 Kognition Krankheitsvorstellungen 181
Instabilitätshypothese 23 Karpaltunnelsyndrom 435 – entspannungsfördernde Kreuzschmerz (7 auch Rücken-
Instruktion, verbale 290 Kassenärztliche Bundesvereini- 304 schmerz) 4, 74, 265, 437
Integrationsversorgung 578 gung (KBV) 586 – schmerzbezogene 61, 64 – akuter nichtspezifischer 275
647 I–M
Stichwortverzeichnis

– Begutachtung 592 – Hindernisse 635 Manual – Tumor 82


– chronischer nichtspezifischer – Negativempfehlungen 633 – Chronische Kopf- und Methocarbamol 227
275 Leitlinienimplementierung 632 Rückenschmerzen 183 Mieder (7 auch Orthese) 279
– pseudoradikulärer 501 Leitungsbahn 145 – Göttinger Rücken-Intensiv- Migräne 183
– psychogener 501 Leitungszeit, zentrale moto- Programm (GRIP) 184 mikrochirurgische Technik 444
Kreuzschmerzspritze 633 rische (ZML) 145 – Interaktionelle Gruppenpsy- Mikrodiskotomie 442
Kurz-Interview, diagnostisches Lendenwirbelkörper 14 chotherapie für somatoforme Mindfulness Based Stress
(Mini-DIPS) 160 Lendenwirbelsäule (LWS) 434 Schmerzstörung 184 Reduction (MBSR) 301
Kurzwelle 268 – Begutachtung 592 – operante Schmerzbehand- Mini-DIPS (diagnostisches
Kyphoplastie 492, 494 – Beweglichkeit 238 lung 185 Kurzinterview) 160
Kyphose, thorakale 472 – Etagendiagnostik, klinische – psychologische Therapie bei minimal-invasive Behandlung
437 Kopf- und Rückenschmerzen 443
– Hyperextension 451 183 Mini-Mental-State 535
L – Hyperflexion 451
– sagittale Ansicht 15
manuelle Medizin
– Befunderhebung 272
Missbrauch, körperlicher
o. sexueller 62
Laboruntersuchung 85, 142 – transversale Ansicht 15 – Definition 272 Mixed-pain-Syndrom 508
Laientheorie 63 Lernen – evidenzbasierte Medizin Mobilisation 233, 268, 273
Laminablockade 320 – assoziatives 33 275 Mobilität 50
Laminektomie 454, 458 – Begreifen 190 – Gelenktechnik 272 Morbus Kahler 7 Plasmozytom
– zervikale 346 – nichtassoziatives 34 – Indikation 273 Morphin 70
Laminoplastie 458 Lerngeschichte, individuelle – Komplikationen 274 Motivational Interviewing (MI)
– zervikale 345 307 – Kontraindikation 274 198
Laminotomie 334 Lernmodell, operantes 214 – Manipulation 273 – Prinzipien 200
– zervikale 344 Leukozyten 464 – Mobilisation 273 Motoriktraining 257
Langzeitbetreuung, patienten- Lidocain 573 – Risiken 274 movement impairment 84
angepasste 204 Lipomatose, spinale 449, 450 – Weichteiltechnik 272 Moxibustion 355
Lasègue-Test 80 Locus-dolendi-Punkt 353, 355 MAO-Hemmer 226 Müdigkeit 52
Laserbehandlung, perkutane Lokalanästhesie, diagnostische Marburger Schmerzbewälti- multidisziplinärer Ansatz,
442 28, 32 gungstraining 183 Kosten 626
Lasertherapie 267 Lokalanästhetikum 312, 320, Massage 232, 275 Münchner Rücken-Intensiv-
Läsion 321 – klassische 268 Programm (MRIP) 186
– radikuläre 145 Lokomotion 22 Massagetherapie 441 Musiker, professioneller 51, 54
– strukturelle 605 Loperamid 70 Massa-lateralis-Schraube 347 Muskel
Late-onset-Skoliose 470 Lordose, lumbale 472 McKenzie-Konzept 233 – global mobilisierender 20
Lateral-gliding-Test 239 Loss-of-resistance-Methode Medikament – global stabilisierender 20
lateral lumbar interbody fusion 7 Widerstandsverlust- – intravenös 222 – Kräftigung 234
(XLIF) 335 methode – perkutan applizierbares 222 – lokal stabilisierender 20
Lebensstilfaktoren 61 Loss-of-resistance-Technik Medikamentenanamnese 169 – M. erector spinae 16
Lebertoxizität 220 316 Medikamentenapplikation, – Mm. multifidi 238, 239
Leibbinde (7 auch Orthese) low force fatigue 52 spinale 324 – M. transversus abdominis
279 Lumbago 4 Medizin 238, 239
Leistenhernie 438 – akute 437 – evidenzbasierte (EBM) 246, Muskelentspannung 241
Leistungen zur Teilhabe am Lumboischialgie 4, 320 275 – progressive 7 Muskel-
Arbeitsleben 383, 384, 386 – manuelle 7 manuelle Medizin relaxation, progressive
– Antrag 384 – physikalische 503, 504 Muskelmuster 128, 129
Leistungssport 51, 54, 524
– Altersunterschied 525
M Mehrphasenszintigrafie 519
Melanokortin-1-Rezeptor
Muskelrelaxans 221, 226
– Nackenschmerz 415
– medizinische Betreuung Magnetfeldtherapie 267 (MC1R) 69 Muskelrelaxation, progressive
525 Magnetresonanztomografie Meningeom 507 232, 267
– Nackenschmerz 526 (MRT) 141, 439, 452, 464, Meningeosis Muskelschmerz 40
– Nackenschmerzprävalenz 480 – blastomatosa 507 – Alter 542
526 – Indikationen 141 – carcinomatosa 507 – DOMS 544
– psychische Belastungen 526 Mainzer Stadienmodell der Meningitis 570 – Frauen, Männer 542
– Rückenschmerz 524 Schmerzchronifizierung 94 Menopause 423 – monolokulärer 542
– Rückenschmerzprävalenz Mainz Pain Staging System Meralgia paraesthetica nocturna – Prävalenz 542
525 (MPSS) 235 438 – Simulation, experimentelle
– Schmerz, Coping 526 Maitland-Konzept 233 Messverfahren, mehrdimensio- 543
– technische Ausführung 525 Mammakarzinom 423, 485 nales 95 Muskelverspannung 43, 438
– Trainingsumfang 525 – hormonsensibles 424 Metakognition 307 Muskulatur
– Weichteilverletzung 524, Mammakarzinommetastase – suppressive 307 – Kraft 127
526 491 Metakognitionen 61 – Schmerz 128
Leitlinie 632 Manipulation 233, 268, 273, Metalloproteinase 69 – Triggerpunkte (TRP) 127
– Deimplementierung 633 274 Metastase – Verlängerbarkeit 127
– Empfehlungen 634 – zervikale 274, 276 – osteolytische 500 Mutation 69
648 Serviceteil

Mycobacterium tuberculosis – Laminektomie, zervikale Nervenblockade, gezielte Nukleotomie


462 346 diagnostische 32 – endoskopische 445
Myelografie 439, 450, 481 – Laminoplastie, zervikale 345 Nervendehnungstest 83 – mikrochirurgische 332
Myelon 507, 509 – Laminotomie, zervikale 344 Nervenendigung, freie 45 – perkutane 442, 443
– multiples 7 Plasmozytom – Leistungssport 526 Nervenfaser, sensible 312 – vollendoskopische 332
Myelonkompression 503 – Leitlinie 568, 569 Nervenfeldstimulation, peri- Numerische Ratingskala (NRS)
Myelopathie 83, 505 – Magnetresonanztomografie phere (PNfS) 327 110, 115
– zervikale 434, 458 (MRT) 571 Nervenkompression 82 – Validität 110
– Nurick-Klassifikation 458 – Manipulation 573 Nervenstimulation NVL (Nationale Versorgungsleit-
– radiologische Diagnostik – Massagetherapie 573 – perkutane elektrische (PENS) linie Kreuzschmerz) 81, 633
458 – Meningitis 570 267
– Schweregrad 458 – Mobilisation 573 – transkutane elektrische
– Therapie 458
myofasziales Syndrom 438
– MRT-Diagnostik 340
– Myelopathie 347
(TENS) 267, 453
Nervenwurzel 432, 435
O
My-Opioidrezeptor (OPMR1) – Nukleoplastie 341 – Parese 435, 438 O-Desmethyltramadol 70
69 – Operationsindikationen 341 – zervikale 433 ODI-Index 69
– Ossifikationen 343 Nervenwurzelkompressions- onkologisches Staging 482
– Palpation 571 syndrom 499 Open-hidden-Paradigma 291
N – Paracetamol 573
– Patienten, ältere 530
Neudisc-Prothese 337
Neurinom 507
Opiatanalgesie 291
Opiatsystem, endogenes 291
Nackenkontraktion 256 – psychosoziale Einflussfak- Neuroakupunktur 355 Opioid 70, 221, 224, 537
Nackenmuskel, Verfettung 254 toren 25 Neurografie 144, 145 – schwach wirksames 224,
Nackenschmerz 25, 252, 340, – Punktprävalenz 568 Neurologie 99, 504 225
414 – Risikofaktoren 572 Neurolyse 324 – stark wirksames 226
– Akupunktur 574 – Röntgen 571 Neurootologie 602 – unerwünschte Wirkungen
– akuter 244 – Schweregrad 416 Neuropathie 97, 146 225
– Anamnese 570 – Sportarten 526 – hereditäre sensorische und OPS-Codes 1-910 166
– Antirheumatikum, nichtstero- – sportliche Betätigung 572 autonome (HSAN) 69 OPS-Katalog 554
idales (NSAR) 572 – Störung, biomechanische – periphere 451 Örebro-Fragebogen 237
– Bandscheibenersatz, zervi- 254 Neuropeptid 41 Örebro Musculoskeletal Pain
kaler 344 – subakuter 245 Neurophysiologie, klinische Screening Questionnaire
– Behandlungsoptionen 569 – Therapie 146 (MPSQ) 161
– Behandlungsprinzipien 572 – medikamentöse 572 Neurotransmittersystem 291 Orthese 268, 278
– Blutsenkungsgeschwindig- – nichtmedikamentöse 573 Neurotrophin 30 – Bandscheibenleiden 280
keit (BSG) 571 – Translationsbewegung 25 Neutral-Null-Methode 122, 417 – dynamische 280
– chronischer 245, 255 – unspezifischer 568 NGF (nerve growth factor) 41 – entlordosierende 453
– Computertomografie (CT) – Untersuchung, klinische Nierenaffektion 438 – Entlordosierung 280
571 570 NMDA (N-Methyl-D-Aspartat) – Halswirbelsäule 281
– Dekompression 342 – verhaltenstherapeutische 225 – Muskelatrophie 281
– Diagnostik, bildgebende Mitbehandlung 572 Noceboeffekt 288 – nach Maß 279
– Indikationen 572 – Verlauf, abwendbar gefähr- – Aufklärungspflicht 294 – operative Behandlung 281
– Diskektomie, zervikale 341 licher 570 – Authorized-concealment- – Osteoporose 280
– Einflussfaktoren 568 – Vermeidung 416 Vorgehen 294 – Schleudertrauma 281
– Elektrotherapie 574 – Wärme 572 – Erwartung 289, 294 – starre 280
– Entscheidungsfindung, Nackenstärke 255 – Lernen 293 – Streckbandage 280
partizipative 572 NaCl-Lösung, physiologische Non-fusion-System 456 – Wirbelfraktur 281
– Fallbeispiel 574 321 North American Spine Society Orthopäde 93
– Foraminotomie 344 Nadelelektromyografie 143 463 Ösophaguskarzinommetastase
– Hyperextensionstheorie 25 Nadelung, tiefe 312 Notfallsituation, orthopädische 493
– Impulsmanipulation 276 Naproxen 224 433 Osteoblastom 478, 483
– Injektion 573 Nationale Versorgungsleitlinie Nozizeption 71 Osteochondrose 82, 432
– Kernig-Zeichen 570 (NVL) Kreuzschmerz 80, 102, – Modulation 69 – erosive 463
– Kinder und Jugendliche 585, 632 – Mutation 69 – multisegmentale 501
519 Nativröntgendiagnostik 603 – Signalwege 69 – radiologisches Bild 436
– klinisches Erscheinungsbild Naturheilverfahren 440 – verminderte 69 Osteochondrose, erosive 463
568 Nearthrose 433 nozizeptives System Osteochondrosis interverte-
– Kopfkissen 572 Neck Pain and Disability Scale (7 auch Plastizität) 29 bralis 500
– Korpektomie, zervikale 239 Nozizeptor 40, 41, 312 Osteodensitometrie 425
anteriore 343 Neck Pain Task Force 416 NRS 7 Numerische Ratingskala Osteoidosteom 477, 478, 483
– Kraftleistung 256 Neer-Test 239 (NRS) – Aspirintest 483
– Krankengymnastik 573 Nefopam 224 NSAID (Antiphlogistikum, – Skoliose 483
– Kyphosierung der HWS 346 Neonatal Pain, Agitation and nichtsteroidales) 70 Osteoklastom 7 Riesenzell-
– Kyphosierung, postoperative Sedation Scale (N-PASS) 113 Nucleus pulposus 432 tumor
346 nerve growth factor (NGF) 41 Nukleoplastie 333, 341 Osteomalazie 500
649 M–P
Stichwortverzeichnis

Osteomyelitis 462 – Depression 532, 533 Penizillin, penicillinasefestes Plasmozytom 485, 500
– rezidivierende multifokale – Diagnostik 532 466 – Leitsymptom 485
521 – Fallbeispiel 539 Periduralanästhesie mit Plastizität 29, 31, 32
– vertebrae 500 – Funktionen Katheter 322 Plattenelektrode, mehrreihige
– zervikale 570 – kognitive 535 Periduralraum 321 327
Osteopathie 241 – physische 533 Periodenprävalenz 6 Plattenfixierung 342
Osteophyt 433 – psychosoziale 533 Personenmerkmal, habituelles Plattenosteosynthese 458
Osteoporose 81, 97, 422, 500, – Gehgeschwindigkeit, 160 PLI (posterior lumbar interbody
502, 531 maximale 533 Pflichtvorsorge 406 fusion)F 335
– Diagnostik 424 – Interview, strukturiertes P-Glykoproteinexpression 71 Pneumothorax 477
– Frakturrisiko 425, 426 535 Phantomschmerz 31 Polyetheretherketon (PEEK)
– Frakturrisikofaktoren 427 – Komorbidität 532 – kortikale Reorganisation 32 335
– Frau 423, 424 – Performancetest 533 Pharmakodynamik Polymedikation 537
– iatrogene 423 – Pharmakokinetik und – Analgetika 69 Positronenemissionstomografie
– Mammakarzinom 423 -dynamik 537 – im Alter 537 (PET) 481
– Männer ab dem 60. Lebens- – Physiotherapie, aktivierende – interindividuelle Variabilität Postdiskektomiesyndrom 326,
jahr 427 538 69 501
– männliche 423 – Polymedikation 537 Pharmakokinetik Postdiskotomiesyndrom 333,
– medikamentöse Therapie – Prävalenz 530, 531 – Analgetika 70 443
426, 427 – Rücken- und Nackenschmerz – im Alter 537 – Gründe 444
– Mortalitätsrisiko 428 – Prävalenz 530 Photograph Series Of Daily – Risikofaktoren 444
– Orthese 280 – spezifischer 531 Activities (PHODA) 242 – Schweregrade 444
– Prävention 428 – Schlaf und Appetit 533 Physiotherapie 440, 538 posterior lumbar interbody
– Pubertät 423 – Schmerz – Assessment, interdisziplinäres fusion (PLIF) 335
– Röntgen 425 – subakuter und chronischer 235 Posterior-Pelvic-Pain-Provoca-
– Therapie, medikamentöse 531 – Edukation 231 tion-Test (P4-Test) 83
426 – unspezifischer spinaler – evidenzbasierte Medizin Postmyelo-CT 450
– Ursachen, sekundäre 423 532 (EBM) 246 Potenziale 143
Osteoporosediagnostik 142 – Schmerzanamnese, standar- – Heilmittelkatalog 246 – Dermatom-SEP 144
Östradiolmangel 423 disierte 535 – Klassifizierung 235 – motorisch evozierte (MEP)
Oswestry-disability-Index (ODI) – Schmerzassessment 532 – Kosten 624 145
236 – Schmerzdiagnostik 533 – Patient, subakuter 243 – sensibel evozierte (SEP) 144
Oswestry-Fragebogen 50 – Schmerzformen 531 – Rahmenverträge für die Präsentismus 619
Overload, physisches 51 – Schmerzintensität 536 Leistungserbringung 239 Prävention 390, 503
Oxycodon 70 – Schmerzlokalisation 536 – red flags 236 – arbeitsmedizinische 403
– Schmerztherapie – spezifische 243 Prävention, arbeitsmedizinische
– multimodale 538 – Übungen, unspezifische 404
P – psychologische 538
– Sozialverhalten 535
246
– unspezifische Übungen
Primärprävention 404
Primärversorgung 64, 397
Pacing 284 – Spondylodiszitis, infektiöse 247 – Behandlungsziele 90
Pacingregeln 284 531 – Weiterentwicklung 245 – Warnhinweise 82
Pädiatrie 112 – Sturzangst 532 Phytotherapeutikum 222 Printmedien 187
Paget-Krankheit 500, 502 – Sturzprophylaxe 537 Pia mater 18 Problemverhalten 199, 203
Pain-adaptation-Modell 24, 43 – Therapie, medikamentöse PILE-Test, zervikaler 239 Prodrug 70
PAINAD-Scale 116 537 Placebobedingung 288 Prolaps 432
Pain Anxiety Symptom Scale – Timed up and go 533 Placeboeffekt 288 Prone-Instability-Test 238
(PASS) 156 – Verhaltenstherapie, kognitive – Additiv 292 Propriozeption 252
Pain Catastrophizing Scale (PCS) 538 – Analgetika 293 Prostaglandinendoperoxid-
156 Patientenberatung 268 – Aufrechterhaltung 291, 293 synthase-2-Gen (PTGS2-Gen)
Pain Disability Questionnaire Patientencompliance 467 – Beobachtungslernen 293 69
(PDI) 242 Patientenselbstmanagement – Erwartung 289, 293 Prostatakarzinom 485
Painful Arc 239 397, 399 – Instruktion, verbale 290 Proton 40
Pain-spasm-pain-Modell 24 Patrick-Test 83 – klinischer Gebrauch 295 Protrusion 432, 433, 448
Palpation 83, 125, 126, 127 Pausengestaltung 51, 54 – Konditionierung 289, 290 Provokationstest 236
Paracetamol 85, 220, 221, 573 – Individualisierung 55 – Lernen 292 Pseudoergonomie 390
– Kontraindikation 222 PCCL-Eingruppierung 361 – Lernen, soziales 290 Pseudospondylolisthesis 500,
Parasit 462 PD-Katheter 322 – Open-hidden-Modell 292 503
Patient-Behandler-Interaktion peak bone mass 7 Spitzen- – Open-hidden-Paradigma Psychologin 100
189 knochenmasse 291 Psychopharmakon 222
Patienten, ältere Pedikelschraube 475 – Opiatsystem, endogenes psychosomatisches Symptom
– AMIKA 535, 539 PEEK (Polyetheretherketon) 291 594
– Angst 532, 533 335 – S3-Leitlinie 294 pulsed electro magnetic fields
– Barthel-Index 533, 534 Peitschenschlagverletzung – Vorabkonditionierung 293 (PEMF) 232
– Besonderheiten 530 601 Placeboeffektivität 293 Pulsoxymetrie 313
650 Serviceteil

Pumpensystem 324 Risser-Zeichen 471 – rezidivierender 5, 75, 265 – temporomandibularer 543


– implantierbares 327 Röntgen 124, 139, 439, 452, – Risikofaktoren 5 – Warnfunktion 28
Punktion, CT-gesteuerte 464 464, 571 – Schnittstellenmanagement Schmerzanamnese 152
Punktprävalenz 6 – Arthrosezeichen 141 93 – standardisierte 153
– degenerativer Wirbelsäulen- – somatische Ebene 58 Schmerzausdehnung 508
befund 140 – spezifischer 74 Schmerzäußerung, nonverbale
Q – funktionelle Fragestellungen
141
– Sportart 525
– subakuter 5, 75, 243
214
Schmerzbewältigungstraining
QCT (quantitative Computer- Rückenfit 186 – Symptomprofil 508 183
tomografie) 425 Rückenmark 16 – unspezifisch/nichtspezifisch Schmerzcharakter 498
Qi 354, 355 – Anatomie, funktionelle 19 5 Schmerzchronifizierung 210,
Quaddelung, intrakutane 440 Rückenmarkstimulation, epidu- – Ursachen 362
Qualitätssicherungsverein- rale 326 – genetische 68 – Neurobiologie 28
barung 552 Rückenmuskulatur, autochthone – spezifische 5 Schmerzdiagnostik 108
Querschnittsyndrom 505 16 – Verhaltensebene 58 – 1-Punkt-Messung 116
– Ursachen 506 – lateraler Trakt 18 – Versorgungskoordination – Behavioral Pain Scale (BPS)
Quinolon 466 – medialer Trakt 17 101 119
QUS (quantitativer Ultraschall) Rückenschmerz – Versorgung, strukturierte 92 – Beobachtungskategorien
425 – akuter 5, 75, 242, 265 Rückenschule 86, 186, 234, 115
– akuter nichtspezifischer 85 268, 286, 374, 391, 441 – Beobachtungsskala 115
– akuter und chronisch-unspe- Rückfallprophylaxe 303 – Berner Schmerzscore für
R zifischer 23
– Ätiologie 5
Rumpfmuskulatur 20, 24
– Beanspruchungsniveau 21
Neugeborene (BSN) 113
– Beurteilung von Schmerzen
Radikulitis 507 – Aufklärung 92 – Funktion 21 bei Demenz (BESD) 116, 117
Radikulopathie 83, 97, 146, 507 – chronischer 5, 75, 244, 265 Rumpforthese 279 – DOLOPLUS-2-Skala 116
Radiofrequenzenergie, bipolare – Behandlungsziele 90 – Expertenstandard 116
333, 341 – Betreuung 92 – Faces Pain Scale 112
Radiofrequenzthermobehand-
lung 333
– Patientenspektrum 91
– Versorgungssituation 91
S – Fremdrating 115
– Geriatrie 113
Radiofrequenzthermo- – Definition 74 S1-Leitlinie \»Chronischer – Intensivpatienten 118
koagulation 339 – DEGAM 5 Schmerz\« 92 – interventionelle 142
railway spine 600 – degenerativ bedingter 499 S3-Leitlinie 116 – Kindliche Unbehagens- und
Ramus-dorsalis-Blockade 320 – degenerative Veränderungen Sacral-thrust-Test 236, 237 Schmerzskala (KUSS) 112
Ratingskala, grafische 109 74 Sakroiliakalgelenk 83, 125 – Krankenhaus 116
Rationalskala 109 – Diagnostik 143 Sakroiliitis 499, 503 – Messskala 108
Ratschlagformulierung 203 – gestufte 80 – bakterielle 504 – Mimik, Neugeborene 115
Rauchen 61, 438 – weiterführende 81 SAPPHIRE-Arbeitskapazitäten- – Neonatal Pain, Agitation and
Recessusstenose 448 – Differenzialdiagnostik, neuro- system 383 Sedation Scale (N-PASS) 113
red flag 81 logische 504 Schädigungsmuster, neuronales – numerische Ratingskala (NRS)
– HWS 417, 418 – diskogener 82, 96 508 110
Regelversorgung 578, 586 – Ein-Jahres-Prävalenz 326 Scheuermann-Krankheit 433, – Pädiatrie 112
Reha-Beratung 384 – Epidemiologie 6, 264 501, 520 – ältere Kinder 112
Rehabilitation 503, 504, 554 – extravertebral 81, 498 Schlaganfall, vertebrobasilärer – Kleinkinder 112
– berufliche 407 – Funktionsstörungen 74 arterieller 416 – Neugeborene 113
– biopsychosoziale 235 – Geschlechtsunterschied 546 Schleudertrauma – PAINAD-Scale 116
– medizinische 382 – Kinder und Jugendliche 516 (7 auch whiplash associated – Parameter, physiologische
Rehabilitationsmaßnahme 622 – muskulär bedingt 519 disorders) 245, 252, 600 113
Reha-Servicestelle 384 – Klassifikation 264 – Kausalität 613 – Patienten, beatmete 119
Reizsubstanz 40 – Klassifizierung 87 – Schweregradeinteilung 606 – Prozessmerkmale 108
Relaxation, postisometrische – klinische Leitfragen 80 Schlingentisch 441 – S3-Leitlinie 116
(PIR) 127, 232 – kognitive u. emotionale Schmerz 210, 256 – Schmerzmimik 116
Renukleotomie 445 Ebene 58 – akuter vs. chronischer 29 – Schmerzschieber 109
Rescuemedikation 70 – Langzeitbetreuung 102 – Chronifizierung 55 – Schmerztagebuch 110
Rezidivbandscheibenvorfall – Lebenszeitprävalenz 326 – chronischer 58 – Sedierungstiefe 119
333 – Leistungssport 524 – Definition 28 – Selbstauskunft 112
Riesenzelltumor 484 – lumbaler 80, 143 – persistierender Aku- – Selbstbeurteilung 50
Risikofaktor – Massage 275 tschmerz 31 – Strukturmerkmale 108
– Screeninginstrument 161 – Merkmale, phänomenolo- – Definition 108 – subjektive Ratingskala 115
Risikogruppe 161 gische 58 – Deutung als Gedächtnis- – Testverfahren 172
Risikoindikator 5 – Multidimensionalität 75 prozess 35 – Underreporting of pain 113
Risikokommunikation 203 – nichtspezifischer 74 – Geschlechtsprävalenz 542 – Unterdiagnostizierung 113
Risikoscreening zur Schmerz- – operativer Eingriff 332 – im Alter 113, 531 – verbale Ratingskala (VRS)
chronifizierung bei Rücken- – Patienten, ältere 530 – Prävalenz 113, 530 109
schmerzen (RISC-R) 162 – Prävalenz 6, 8 – Mimik 115 – Verhaltensänderung 116
651 P–S
Stichwortverzeichnis

– visuelle Analogskala (VAS) – physikalische 265 Single-door-Technik von Somatosensorik, Reorganisation


109 – Prozessqualität 554 Hirabayashi 345 32
– zeitlicher Verlauf 110 – psychologische 538 Single-shot-Verfahren 312 Sorensen-Test 238
Schmerzedukation 7 Edukation – Qualitätssicherung 108 Situationsanalyse 158 Sozialanamnese 172
Schmerzempfindungsskala 95 – Rehabilitation 554 – therapeutische 304, 305 Spacer, interspinöser 336, 337
Schmerzentstehung, Mecha- – spezielle 168, 558 Skala für alte Menschen in Spannungskopfschmerz 183
nismen 29 – (teil)stationäre Versorgung körperlicher Aktivität (AMIKA) Spasmus 43
Schmerzerleben 108, 114 553 242 Spinalanästhesie 324
Schmerzfokussierung 300 – Verordnung 361 Skelettmetastase 480, 485 Spinalis-anterior-Syndrom 507
Schmerzgedächtnis 32 – Versorgungsbedarf 365 Skelettszintigrafie 464 Spinalkanaldekompression
– assoziatives 32 – Versorgungskonzepte 551 Skoliose 97, 133, 470 334, 335
– episodisches 32, 33 Schmerzübertragung 43, 44 – Adoleszentenskoliose 471 Spinalkanalstenose 97, 334,
– implizites assoziatives 35 Schmerzverarbeitung 157, – Beinlängenunterschied 471 346, 508, 532
– nichtassoziatives 32 207, 208 – Bending-Aufnahme 472 – lumbale (LSS) 82, 448
– peripheres 34 – individuelle 52, 55, 155, 209 – Bezeichnungen 470 – Degenerationsprozesse
– Verhinderung der Konsoli- – maladaptive Formen 208 – Cobb-Winkel 472, 473 448
dierung 36 – monodimensionale Aspekte – Compliance 474 Spinalnerv 17
– zentrales 34 156 – Crankshaft-Phänomen 477 Spinalnervanalgesie, lumbale
Schmerzhemmung 545 – suppressive 53, 63 – Derotationsspondylodese, (LSPA) 313, 443
Schmerzintensität 508 Schmerzverhalten ventrale (VDS) 475 Spinalnervenblockade, para-
– Diagnostik 108 – passives 61 – Early-onset-Skoliose 470 vertebrale 320
Schmerzkommunikation 155 – überaktives 64 – Growing-rod-Systeme 476 Spitzenknochenmasse 423
– individuelle 214 Schmerz-Verspannungs-Spirale – Herz-Lungen-Funktion 473 Spondylarthritis, ankylosierende
Schmerzkrankheit, chronische 320 – idiopathische 470, 471 81
– finanzielle Belastung 366 Schmerzverstärkung 52, 290 – Indikation zur Operation Spondylitis 462
– Symptomatik 364 Schmerzzeichnung 59 475 – ankylosierende 500, 501
Schmerzmedizin 558 Schmorl-Knötchen 433 – Infektion 476 – bakterielle 499, 502, 504
Schmerzmodell Schnittstellenmanagement 93 – Intensivrehabilitation 474, – infektiöse 500
– biopsychosoziales 196 Schobert-Test 238 475 – psoriatica 500, 502
– experimentelles 544 Schober-Zeichen 83 – Komplikationen 476 Spondyloarthritis 499, 503
Schmerzmodulation 69, 508 Schock, spinaler 510 – Korrekturverluste 477 – axiale 97
schmerzmodulierendes System, Schrauben-Stab-System 346 – Korsett 474, 475 Spondylodese 458
absteigendes 291 Schweigepflicht, ärztliche 406 – Krankengymnastik 474 Spondylodiszitis 462, 521, 531
Schmerzpatient 197 Scoliosis Research Society – Late-onset-Skoliose 470 – Algorithmus 463
Schmerzprävalenz 6 476 – Lendenwulst 472 – Antibiose 468
Schmerzprovokationstest 83 Screeninginstrument 161 – Magnetresonanztomografie – Bagatellverletzung 464
Schmerzpsychotherapie 151, SCS (spinal cord stimulation) (MRT) 473 – Bettruhe 466
152 7 Rückenmarkstimulation, – minimal-invasives Verfahren – CT-gesteuerte Punktion 464
Schmerzpumpe 7 Pumpen- epidurale 476 – Débridement 465
system, implantierbares Segmentarterie 19 – Physiotherapie 474 – Diagnostik, klinische 463
Schmerzqualität 508 Sekundärprävention 405 – präoperative Vorbereitung – Differenzialdiagnose 463
Schmerzreduktion 302 Selbstbeobachtung 303 476 – einzeitiges Vorgehen 467
Schmerzschwere 93 Selbstbeurteilungsskala 95 – Prävalenz 470 – Labordiagnostik 464
Schmerzspiele 189 Selbstmanagement- und – Prognose 470, 473 – Magnetresonanztomografie
Schmerzsyndrom Bewältigungskompetenz – Progredienz 470, 473 (MRT) 464
– myofasziales 96 181 – Restwachstum 471 – Operationsindikation 467
– neuropathisches 99 Sensibilisierung 34 – Rippenbuckel 472 – Operationsziele 467
Schmerztagebuch 110, 111, – ex- und intrinsische 35 – Risser-Stadium 471 – Patientencompliance 467
153, 154 – periphere 29 – Risser-Zeichen 471, 473 – Prognose 468
Schmerztherapie 440 – periphere nozizeptive – Röntgen 475 – Röntgendiagnostik 464
– ambulante Versorgung 552 Nervenendigung 36 – Rückenschmerzen 473 – Spanfusion, ventrale 468
– anästhesiologische 319 – zentrale 29 – Schmerzen 478 – spezifische 462
– chronischer Schmerz 32 Sequestrektomie 332 – Therapie – endogene Infektion 462
– intrathekale 327 Serotonin-/Noradrenalin- – konservative 474 – exogene Infektion 462
– lumbale epidurale 315 Wiederaufnahmehemmer, – operative 475 – Therapie, tuberkulosta-
– multimodale 166, 538, 553 spezifischer (SSNRI) 227 – Untersuchung tische 466
– Ausschlusskriterien 365 Serotonin-Wiederaufnahme- – klinische 471 – Stabilisierung, ventrodorsale
– Chronifizierung 363 hemmer, selektiver (SSRI) – neurologische 472 468
– Definition 360 228 – radiologische 472 – Status, neurologischer 463
– Indikation 167, 362 Serumeiweißelektrophorese – Ursachen 470 – Symptome 463
– Motivation 364 499 – VEPTR 476 – Therapie
– psychosoziale Faktoren Sexualhormon 423 – Vorneigetest 472, 473 – antibiotische 465
363 Sham-Akupunktur 353 SMA-Klammer 476 – konservative 466, 468
– perioperative 116 Silikonkatheter 324 Somatisierung 64 – operative 467, 468
652 Serviceteil

Spondylodiszitis Subarachnoidalblutung 570 Titan 335 Ultrarapidmetabolisierer (UM)


– thorakale 462 Subfailure-Schäden 23 Titankorb 467 70
– unspezifische 462 Suppression, kognitive 211 Tizanidin 226 Ultraschall 141
– Erreger 462 Symptomprofil 508 TLIF (transforaminal lumbar – therapeutischer 268
– Inzidenz 463 Syndrom interbody fusion) 335 Umbewertung, kognitive 303
– Prädispositionsfaktoren – myofasziales 438 tNSAR (traditionelles nicht- Umschulung 386
463 – oberes gekreuztes nach steroidales Antirheumatikum/ underreporting of pain 113
– zervikale 462 Janda 417 Antiphlogistikum) 221, 222 Unkovertebralarthrose 434,
– zweizeitiges Vorgehen 467 – radikuläres 243, 415 Tolperison 227 500
Spondylolisthese 82, 448, 449, – zervikobrachiales 414 Topodiagnostik 266 Untergewicht 428
500, 519 – zervikoenzephales 602 topping off 336, 339 Untersuchung
– degenerative 450 – zervikozephales 414 TOP-Prinzip 405 – ärztliche 170
Spondylolyse 519, 524, 526 Syringomyelie 507 TOPS (total posterior lumbar – elektrophysiologische 510
Spondylose 432 Szintigrafie 142 arthroplasty system) 340 – klinische 84, 499
Spondylosis hyperostotica 500, traditionelle chinesische – klinisch-neurophysiologische
501 Medizin (TCM) 352 143
Spontanaktivität, pathologische
143, 146
T – Diagnostik 354
– Qi 354
– körperliche 83, 84
– neurologische 84
Sport (7 auch Leistungssport) Tampa Scale for Kinesiophobia – Yin und Yang 354 – neuroorthopädische funktio-
51 (TSK) 156, 242 Training nelle 122
Sportverletzung 524 Tannenbaumphänomen 425 – autogenes 300 – Ablauf 122, 123
Sprache, einfache 190 TCM 7 traditionelle chinesische – kognitiv-behaviorales 58 – physiotherapeutische 170
Spurling-Phänomen 418 Medizin Trainingsbelastung 525 – primärer Befund 129
Stabelektrode, epidurale 327 Teambesprechung 172 Trainingstherapie, medizinische – regionale neuroortho-
Stabilisierung 131 Technik, intradiskale 333 234, 441 pädische 137
– additive, Algorithmus 455 Tertiärprävention 407 Train-the-Trainer-Seminar 191 – sekundärer Befund 122
– dynamische 338 Testökonomie 161 Traktion 233 – spezialärztliche 83
– segmentale 131, 370 Tetrahydrobiopterin 69 Tramadol 70, 225
– Diagnostik 132 TFASTM (total facet arthroplasty transforaminal lumbar inter-
Stabilisierungsübung 373
Stabilität, posturale 252
system) 340
Therapeut-Patient-Beziehung
body fusion (TLIF) 335
Transient-receptor-potential-
V
Staging, Schmerzchronifizierung 197 Kanäle (TRP-Kanäle) 69 VAS 7 Visuelle Analogskala
28 Therapie transtheoretisches Modell der (VAS)
Stand-alone-Methode 455 – elektrothermale (IDET) 333 Verhaltensänderung (TTM) VEPTR (vertical expandable
Staphylococcus aureus 521 – gruppenbasierte 625 198 prosthetic titanium rib) 476
Staphylokokkus 462 – konservative 439, 453, 456, Transversalkonfiguration 505 Veränderung
Statistisches Verfahren 466, 474, 487 Triage, diagnostische 81 – degenerative 498
– nonparametrisches 110 – multimodale Behandlung Trierer Inventar zum chro- – strukturelle 254
– parametrisches 110 440 nischen Stress (TICS) 157 Verbale Ratingskala (VRS) 109,
Status – Kosten 625 Triggerpunkttherapie 273 115
– psychopathologischer 171 – leitliniengestützte 627 Triggerpunkt (TRP) 127, 128 – Validität 110
– sozioökonomischer 60 – manuelle 86, 233, 268, 272, – myofaszialer (MTrP) 43 Verhaltensänderung 198, 199,
Steroid 453 276, 440, 441, 625 Triple-I-Strategie 200 202, 203
Stimulationselektrode 327 – HWS 418, 419 TRP-Palpation 126 Verhaltensbeobachtung 171
Stimulation, subkutane 327 – medikamentöse 221, 426, TTM (transtheoretisches Modell Verhaltensprävention 405
Störung 427, 440, 453, 537 der Verhaltensänderung) Verhaltenstherapie 453
– posturale 255 – multimodale 634 198 – kognitive 188, 234, 300, 301
– psychische 160 – nach Mulligan 233 Tumor 521 – Kosten 626
– sensomotorische 259 – operative 442, 454, 456, 467, Tumormarker 482 Verhältnisprävention 404
Strahlentherapie 487 475, 488, 503, 504, 537 Tuohy-Kanüle 321 Vermeidungsverhalten 305,
– Indikationen 487 – einzeitiges Vorgehen 467 Typ-A-Prothese 337 374
– palliativ 487 – Komplikationen 443, 494 Typ-B-Prothese 337 Versorgung
– präoperativ 487 – Komplikationsrate 443 Typischer-Tag-Technik 199 – ambulant-ärztliche 622
Streckbandage (7 auch Orthese) – Kontraindikationen 442 – ambulante 552
280 – zweizeitiges Vorgehen – integrierte 400
Streptokokkus 462
Stress 244
467
– passive physikalische 624
U – proaktive 399
– schmerzmedizinische 558
Stressachse, psychobiologische – psychologische 440, 441 Überaktivität, körperliche 52 – (teil)stationäre 553
208 Therapieverfahren, physika- Überbelastung, sportliche Versorgungskontext 151
Stressor 207 lisches 266 524 Versorgungskonzept, schmerz-
– physikalischer 61 Thermotherapie 232, 268 Übergewicht 61, 438 therapeutisches 551
– psychosozialer 213 Thoraxerguss 477 Übersichtsuntersuchung, neu- Versorgungsprojekt, integriertes
Stressverarbeitung 157 Tight-thrust-Test 236, 237 roorthopädische 134 581
– individuelle 158 Tilidin/Naloxon 226 U-Funktion 49 Versorgungsstrukturen 558
653 S–Z
Stichwortverzeichnis

Versteifungsoperation 445, 604 – entzündliche Erkrankungen – Bisphosphonat 487 Zervikalsyndrom 417, 433
vertebrales Syndrom 437 498 – Computertomografie (CT) – radikuläres 433
Vertebroplastie 492 – Fehlstatik 500 481 – unspezifisches 612
Vier-Ohren-Modell 197 – Klopfschmerz 126 – En-bloc-Resektion 493 zervikobrachiales Syndrom
Vier-Ohren-Profil 197 – motorische Kontrollsysteme – Frankel-Klassifikation 481 414, 433
visuelle Analogskala (VAS) 109, 19 – Gewebediagnostik 482 – Differenzialdiagnose 435
115 – neutrale Zone 20 – Kortikosteroid 487 – Häufigkeitsverteilung 433
Vitamin-D-Rezeptor 69 – Röntgenindikation 141 – Magnetresonanztomografie zervikozephales Syndrom 414,
Volkskrankheit 422 – Schlüsselregionen 126 (MRT) 480 433
Vorsorge, arbeitsmedizinische – stabilisierendes System 19 – maligner 480 Zielklärung 202
405 – Statik 133 – minimal-invasive Techniken Zuhören, aktives 196
– Steilstellung 133 492 Zwangshaltung 403
Wirbelsäulenbefund, degenera- – neurologischer Status 480 Zwölf-Monats-Prävalenz 6
W tiver 140
Wirbelsäulenbeweglichkeit
– onkologisches Staging 482
– Operationstechniken 490
Zyklooxygenase 2 (COX2) 69
Zyklus, menstrueller 543
Wahrnehmung 303 126 – Positronenemissionstomo- Zytochrom P450 2D6 70
Waller-Degeneration 143, 145 Wirbelsäulenerkrankung grafie (PEΤ) 481
Wallis-Implantat 336 – entzündliche 503 – Röntgen 480
Wechselwirkung, biopsychoso- – rheumatisch entzündliche – Strahlentherapie 487
ziale 207, 208 82 – Therapie, konservative 487
Weichteiltechnik 272 Wirbelsäulenfehlhaltung, – Tumorentfernung 492
Wertschätzung/Akzeptanz 196 abnorme 498 – Weinstein-Boriani-Klassifika-
whiplash associated disorder Wirbelsäulenmetastase tion 489
(7 auch Schleudertrauma) – Absiedlungsweg 486 Wirbelsäulenveränderung
245 – Chemotherapie 487 – degenerative, Komplikationen
whiplash injury (7 auch Schleu- – Diagnostik, extraregionale 140
dertrauma) 601 482 – entzündliche 140
Wide-dynamic-range-Zelle 45 – Embolisierung, präoperative work hardening 234
Widerstand 201 490 Wunschvorsorge 406
Widerstandstest für Außenrota- – gemischtförmige 486 Wurzelkompressionssyndrom,
toren 239 – Indikationen und Scores lumbales 317
Widerstandsverlustmethode 488 Wurzelsyndrom, lumbales,
321 – Klassifikation 486 Differenzialdiagnose 438
Wiedereingliederung, berufliche – Kyphoplastie 492 Wurzeltod, plötzlicher 510
285, 382 – Läsion Wurzelumflutung 440
– Kostenträger 384 – extradurale 486
– Leistungen zur Teilhabe am – intradurale 486
Arbeitsleben 383
– Profilvergleichsverfahren
– Leitsymptom 485
– Operationsziele 489
X
383 – osteoblastische 486 XLIF (lateral lumbar interbody
– stufenweise (STW) 386 – osteolytische 486 fusion) 335
– Testverfahren 383 – Score 488 X-Stop 336
Wirbelblockade 82 – Therapie, operative 488
Wirbelbogen 14 – Indikationen 490
Wirbelgelenk 432
Wirbelgleiten 7 Pseudo-
– Kontraindikationen 490
– Tokuhashi, Evaluationssystem
Y
spondylolisthesis 488 yellow flag 86, 633
Wirbelkörper 14, 462 – Tumormarker 482 Yin und Yang 354
– Stabilität, Schema 489 – Tumorscore nach Tomita Yin-Yang-Zuordnung 355
Wirbelkörperdislokation 500 489
Wirbelkörperersatzimplantat – Überlebenszeit 486
492
Wirbelkörperfaktur 425
– Vertebroplastie 492
– Verteilung 485
Z
Wirbelkörperfraktur 502 Wirbelsäulenorthese (7 auch Zeichen, nichtorganische 62
Wirbelsäule 125 Orthese) 278 Zentralisierungsphänomen
– Beweglichkeitsprüfung 125 Wirbelsäulenschonhaltung, 241, 243
– Bewegungssegment 20, reklinierende 463 Zentralnervensystem (ZNS) 40
432, 448 Wirbelsäulentumor 480, 532 Zentrum Patientenschulung
– degenerative Veränderungen – Basisdiagnostik 480 191
498 – benigner 480 Zephalosporin 466

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