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Der mhd. Vers weist, wie gesagt, im Idealfall die regelmäßig alternieren-
de Abfolge von Hebung und Senkung auf. Würde die Alternation jedoch
durch eine zu große Anzahl von Silben in einem Vers gestört, haben die
mhd. Dichter überzählige Silben vielfach durch Wortverschmelzungen
(sog. Metaplasmen) und Wortkürzungen getilgt.
– Die einfachste Möglichkeit ist, ein schwachtoniges /e/ entweder
durch Apokope oder durch Synkope zu tilgen (siehe auch Kap.
I.5.1, S. 38).
– Eine weitere Möglichkeit besteht darin, zwei ursprünglich getrennte
Wörter mittels Proklise oder Enklise zu einem Wort zu verschmel-
zen. Bei der Proklise gibt das voranstehende Wort seine Eigenstän-
digkeit auf und verbindet sich mit dem nachfolgenden Wort, das un-
verändert bewahrt bleibt (z. B. ze Ouwe > zOuwe). Auf diese Weise
erhält man also statt drei zwei Silben. Die Enklise verläuft in genau
entgegengesetzter Richtung zur Proklise, ist also eine Komplemen-
tärerscheinung zu dieser (z. B. ûf daz > ûfz).
– Schließlich können durch Krasis zwei einsilbige Wörter so komplett
miteinander verschmelzen, daß beide ihre Eigenständigkeit aufge-
ben. Oftmals entsteht dabei ein neuer Laut (z. B. daz ist > deist).
1 Überdies gibt es noch die Ekthlipsis (eine Art Synkope), bei der ein unbetontes aus-
lautendes /e/, wenn es zwischen zwei Konsonanten steht, die an der gleichen Artikula-
tionsstelle gebildet werden, getilgt wird (z. B. richte daz). Da es sich bei der Ekthlipsis
nur um eine nachrangige Möglichkeit der Silbenreduktion handelt, lassen wir sie im
weiteren völlig unberücksichtigt.
2 Eine auch graphisch bereits vom Dichter oder Herausgeber durchgeführte Aphärese be-
zeichnet man als Synalöphe.
Das Ende eines Verses, also der Versschluß, wird stets durch zwei auf-
einanderfolgende Längsstriche || angezeigt.
Der Auftakt
Ein Vers kann mit einem Auftakt beginnen, muß es aber nicht, und ge-
legentlich kann in dieser Frage keine absolute Eindeutigkeit erzielt wer-
den. Als Auftakt werden sämtliche Silben bezeichnet, die vor der ersten
Hebung stehen. Häufig handelt es sich hierbei um Präfixe. Steht nun zu
Beginn eines Verses ein Auftakt, so kann dieser einsilbig, zweisilbig oder
manchmal sogar drei- oder viersilbig sein. In der metrischen Zeichen-
sprache stehen die unbetonten im Auftakt stehenden Silben stets vor dem
ersten Taktstrich und werden durch ein nicht eindeutig festgelegtes Zei-
chen (zumeist ein x, einen Punkt oder ein Häkchen) gekennzeichnet. Wir
verwenden im weiteren für jede im Auftakt stehende Silbe das Zeichen x.
Die Länge der jeweiligen Silbe spielt im Auftakt überhaupt keine Rolle.
Beispiele:5
– bî ir und bî ir wîben (Erec, V. 1)
4 Aus den Werken Hartmanns sind auch alle nachfolgenden Beispiele entnommen.
5 Sowohl bei diesem als auch bei den nachfolgend angeführten Beispielen wird stets der
gesamte Vers zitiert, auch wenn das Versende (Kadenz) hier vorläufig unbeachtet bleiben
kann.
Hier liegt mit bî ein einsilbiger Auftakt vor, da die Betonung ein-
deutig auf dem nachfolgenden Pronomen liegt. In der metrischen
Analyse wird dieser Vers folgendermaßen notiert:
~ | | ~ | | ~ | z | } ∧ ||
– die begunden sô gebâren (Gregorius, V. 228)
Hier liegt, da sonst der Vers fünfhebig würde, ein zweisilbiger Auf-
takt vor. Daher lautet dieser Vers in der metrischen Analyse:
~ ~ | | ~ | | ~ | z | } ∧ ||
Das Versinnere
Ab der ersten Hebung beginnt dann der eigentliche Vers. Das Versinnere
wird in Takte untergliedert. Ein Takt beginnt also immer mit einer He-
bung (niemals mit einer Senkung!), endet vor der nächsten Hebung und
ist bei regelmäßiger Abfolge von Hebung und Senkung folglich zweisil-
big. Daneben gibt es aber auch Takte, die nur eine Silbe umfassen, sowie
auch dreisilbig gefüllte Takte. Hier sei aber nochmals darauf hingewie-
sen, daß ein Takt niemals den Wert einer halben Note überschreiten darf!
Für das Innere des klassischen mhd. Reimpaarverses gibt es insgesamt
vier Möglichkeiten der Taktfüllung.
1. Die einsilbig volle Kadenz (in der älteren Forschung auch als ein-
silbig männliche Kadenz bezeichnet). Diese liegt generell bei allen ein-
silbigen Reimwörtern vor, ist also nicht an bestimmte phonetische
Bedingungen geknüpft. Sie wird metrisch mit den Zeichen | | ∧ ||
wiedergegeben. Beispiele: tac, man, naht.
Beachte: Die einsilbig volle Kadenz liegt nicht nur bei einsil-
bigen Reimwörtern vor, sondern auch bei schwe-
ren Suffixen oder zweiten Teilen von Komposita.
In der Mehrzahl der Fälle ist dann das korrespon-
dierende Reimwort einsilbig. So reimt z. B. bei
den dreisilbigen Wörtern missetât und müedecheit
nur die letzte Silbe (z. B. auf hât bzw. leit).
2. Die zweisilbig volle Kadenz (in der älteren Forschung auch als
zweisilbig männliche Kadenz bezeichnet). Dieser Kadenztypus liegt
nicht automatisch bei allen zweisilbigen Reimwörtern vor, sondern
ist an eine bestimmte phonetische Bedingung geknüpft: Die erste
(betonte) Silbe muß kurz sein! Die zweisilbig volle Kadenz wird
metrisch mit zwei Achteln wiedergegeben. Zusammen mit dem ob-
ligatorischen pausierten Viertel ergibt sich also wiederum der Wert
einer halben Note: | ∪
´ ∪ ∧ ||. Beispiele: tugent, komen, sehen.
6 Die in der älteren Forschung auch gebräuchliche Bezeichnung „weibliche Kadenz“ sollte
unbedingt vermieden und einer anderen Kadenz, die allerdings in der klassischen Epik
nicht vorkommt, nämlich | | ~ ||, vorbehalten bleiben.
Zusammenfassung:
Es empfiehlt sich stets, bei der metrischen Versanalyse mit der Kadenz
zu beginnen, da diese ja in der höfischen Epik unumstößlich auf ei-
nen der genannten vier Kadenztypen festgelegt ist. Bei der Taktfüllung
im Versinneren sowie bei der Entscheidung, ob ein Auftakt zu lesen ist
oder nicht, gibt es hingegen bisweilen gewisse Entscheidungsfreiheiten.
Zusammengefaßt ist die Bestimmung des vorliegenden Kadenztypus im
wesentlichen festgelegt durch die Anzahl der im Reim stehenden Silben.
Ein einsilbiges Reimwort bedingt zwangsläufig die einsilbig volle, ein
dreisilbiges Reimwort hingegen stets die dreisilbig klingende Kadenz.
Nur bei einem zweisilbigen Reimwort stehen wir vor der Entscheidung,
ob eine zweisilbig volle oder eine zweisilbig klingende Kadenz zu lesen
ist. Hier entscheidet allein die Quantität der jeweiligen ersten (betonten)
Silbe. Ist diese kurz, so liegt die zweisilbig volle Kadenz vor, ist sie
hingegen lang, so handelt es sich um die zweisilbig klingende Kadenz.
Der höfische Reimpaarvers fordert ja, wie gesagt, in der Regel die Vier-
hebigkeit. Hierbei ist es völlig unerheblich, ob es sich bei den Hebungen
um Haupt- oder um Nebenhebungen handelt. Das heißt, es verbleiben,
je nachdem ob eine volle oder klingende Kadenz vorliegt, für das Ver-
sinnere entweder drei oder nur zwei Hebungen. Hier muß der Leser
dann, je nach Anzahl der verbleibenden Silben, möglicherweise (bei zu
hoher Silbenanzahl) eine Elision oder Aphärese durchführen bzw. eine
Hebung oder eine Senkung spalten oder (bei zu geringer Silbenanzahl)
eine beschwerte Hebung setzen.
Fertigen Sie für die folgenden Verse aus dem Iwein Hartmanns von Aue
(V. 1597–1608) eine metrische Analyse an. Welche Kadenztypen liegen
jeweils vor?
diu vrouwe beleip mit ungehabe
alters eine bî dem grabe.
dô sî her Îwein eine ersach
1600 unde ir meinlich ungemach,
ir starkez ungemüete
unde ir stæte güete,
ir wîplîche triuwe
und ir senlîche riuwe,
1605 dô minnet er sî deste mê,
und im wart nâch ir alsô wê
daz diu minne nie gewan
grœzern gewalt an deheinem man.