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Pandemie
Herbst der
»Es muss Beschränkungen
Kanzleramtschef Braun

geben, vor allem bei Feiern«


Lügen, bis der Arzt kommt:
Wie Corona das System Trump zerstört
Der Risiko-Präsident

zu Hause bleiben
Was fehlt, wenn alle
Das Ende der Nacht
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Das deutsche Nachrichten-Magazin
KULTUR
Hausmitteilung
Betr.: Infektionszahlen, Kalifornien, Buchmesse, »Dein SPIEGEL« TRIFFT
Viele Deutsche fürchten sich vor dem Herbst:
Die Infektionszahlen steigen, Behörden und WISSEN-
SCHAFT
Politiker bereiten sich vor. Die Redakteure
Christoph Hickmann und Martin Knobbe tra-
Philipp Schmidt / DER SPIEGEL
fen deshalb Helge Braun, Chef des Bundes-
kanzleramts und Angela Merkels Pandemie-
manager, zu einem Gespräch: über eine zweite Inspiration und Information
Corona-Welle, die gefährliche Verharmlosung
des Virus und die Hoffnung auf einen Impfstoff
zur besten Sendezeit
im kommenden Jahr. Schon jetzt hat sich das
Neufeld, Fong Land verändert, auch in der Nacht. Zum ersten
Mal seit 1949 gibt es in Berlin eine Sperrstun-
de. Klubbesucher, Partygänger, Feiernde sind unter der Herrschaft des Virus verdächtig
geworden, und der Staat wird tatsächlich zum Nachtwächter. Kulturredakteur Tobias
Rapp hat sich in der Klubszene der Hauptstadt umgesehen, Dialika Neufeld besuchte
die eingeschränkte Große Freiheit im Hamburger Stadtteil Sankt Pauli und sprach
mit Dollhouse-Geschäftsführer Christian Fong, Reporter Alexander Smoltczyk
befragte Soziologinnen und Experten für Night Studies. Smoltczyks Fazit: »Mit der
Nacht würden wir mehr verlieren als nur eine Tageszeit.« Seiten 38, 62

Kalifornien stand immer für das bessere Amerika; es war


ein Sehnsuchtsort, an den es viele zog. Die verheerenden Winni Wintermeyer / DER SPIEGEL

Brände der vergangenen Wochen, die deprimierende Aus-


sicht, dass es in den kommenden Jahren eher schlimmer
werden dürfte, treibt nun aber Menschen fort, andere
kämpfen um ihre Heimat. Die Redakteure Guido Mingels
und Marc Pitzke sowie SPIEGEL-Mitarbeiter Daniel C.
Schmidt sind durch den Bundesstaat gereist, haben mit
Klimamigranten, Opfern, Brandbekämpfern gesprochen. Mingels, Smith
Mingels ließ sich von Umweltwissenschaftler Ed Smith er-
klären, wie man den Wald mit absichtlich gelegten Bränden schützen kann. »Mein
wichtigstes Werkzeug ist der Flammenwerfer«, sagt Smith. Seite 88

Am Mittwoch beginnt die Frankfurter Buchmesse, wegen der


Pandemie allerdings deutlich kleiner und vornehmlich virtuell.
Der SPIEGEL berichtet deshalb ausführlicher als in früheren Jah-
ren über die Branche, über das Schreiben, das Lesen von Büchern.
Der Kulturteil im Heft hat einen Literaturschwerpunkt, unter ande-
rem findet sich dort ein SPIEGEL-Gespräch zwischen dem US-
Schriftsteller Richard Ford und seinem deutschen Übersetzer Frank
Heibert, moderiert von der Redakteurin Claudia Voigt. In der
Literaturbeilage SPIEGEL BESTSELLER, die in der Inlandsauflage NANO & KULTURZEIT
zu finden ist, porträtiert Philipp Oehmke die schreibende Tennisspielerin Andrea montags bis freitags
Petković. Zusätzlich begleitet der SPIEGEL die Buchmesse auch online, eine Übersicht 18.30 & 19.20 Uhr
über das Programm lesen Sie auf Seite 118.

»Dein SPIEGEL«, das Nachrichten-Magazin für Kinder, widmet sich


ebenfalls dem Zauber des Lesens und stellt Bücher vor, die Jungen
und Mädchen begeistern. In der neuen Ausgabe gibt es Buchtipps
für jede Lebenslage: die besten Geschichten für Schüchterne, Aben-
teuerlustige, Träumer und Lesemuffel. Bestsellerautorin Kirsten
Boie erzählt im Interview, welche Bücher sie als Kind las und welche
© Shai Gabriely

sie gern gelesen hätte. Außerdem im Heft: Pubertiere – auch Tiere


kommen in die Pubertät. Die Ausgabe erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 5


Inhalt
74. Jahrgang | Heft 42 | 10. Oktober 2020

Titel Schleswig-Holstein Wie eine


Zeitung einen vermeintlichen
USA Donald Trump schien gegen Skandal aufbauschte, der
alles immun, dann versagte drei Top-Polizisten den Job
er beim Kampf gegen Corona – kostete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
nun könnte seine Erkrankung
ihn die Wahl kosten . . . . . . . . . 10 Kriminalität Ist der Deutsche
Christian B. der Mörder von
Maddie McCann? . . . . . . . . . . . 54
Deutschland
Brauchtum Der Kabarettist
Leitartikel Verkehrsminister Jürgen Becker erklärt,
Andreas Scheuer sollte warum die Karnevalsabsage
zurücktreten . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 richtig ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Ausschluss von Verfassungsgeg-


nern aus Parlamenten? / AfD- Reporter
Propaganda aus der Schweiz /
Mehr Steuergeld für Dienst- Familienalbum / Haben wir

Agency People Image USA


reisen / Die Gegendarstellung / zu viel Stress, um zu kochen? 60
So gesehen: Es ist Ihr Urlaub 20
Eine Meldung und ihre Geschichte
Union In der CDU wird Warum ein Jäger unter Mord-
Jens Spahn mehr und mehr verdacht stand . . . . . . . . . . . . . . 61
als Kandidat für den
Parteivorsitz gehandelt . . . . . 26 Freizeit Wie Corona das Nacht-
Der Patient im Weißen Haus leben zerstört – und damit
Karrieren Markus Söder zeigt unsere Gesellschaft und unsere
auf dem Tennisplatz Donald Trump hat die Pandemie-Bekämpfung Städte verändert . . . . . . . . . . . . 62
seine Schmetterqualitäten . . . 32 zur politischen Streitfrage gemacht. Nun kämpft
Kolumne Leitkultur . . . . . . . . . 69
Corona Kanzleramtschef
er um seine Gesundheit – und um sein Amt.
Helge Braun warnt im In Umfragen liegt sein Rivale Joe Biden weit vorn.
SPIEGEL-Gespräch vor einem Hat der US-Präsident noch eine Chance? Seite 10 Wirtschaft
Kontrollverlust im Winter . . . 38
Die Deutsche Bahn wehrt
Diplomatie Oppositionelle aus sich gegen Regierungspläne
Russland und Belarus zur Frauenförderung / Was
hoffen auf Unterstützung der bringt Spahns Deckelung des
Bundesregierung . . . . . . . . . . . 42 Pflegeheim-Eigenanteils? . . . 70

Essay Die Politik darf Handel Die wirtschaftlichen


Reto Klar / FUNKE Foto Services

den Wutbürger nicht aus dem Folgen eines harten Brexits


Diskurs ausschließen . . . . . . . 46 werden immer deutlicher . . . 72

Parlamente Wie sich die Weltwirtschaft Der Ökonom


AfD-Fraktionen in den Gabriel Felbermayr gibt
Bundesländern zerlegen . . . . 48 der EU eine Mitschuld am
Brexit-Debakel . . . . . . . . . . . . . . 76
Parteien AfD-Chef
Jörg Meuthen will nicht Verzweifelt gesucht Medien Viel Lärm, wenig Sub-
in den Bundestag – und stanz – das Geschäftsmodell
erntet Häme . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Die führungslose CDU denkt heimlich über ein Team von Gabor Steingart . . . . . . . . 78
Spahn/Söder nach. Dazu: SPIEGEL-Autor
Biografien Die Feierlichkeiten Wirecard Ex-Minister und
zur Deutschen Einheit hat
Marc Hujer hat den bayerischen Ministerpräsidenten Lobbyist Guttenberg formulierte
ein ehemaliger FDJ-Funktionär zum Tennis getroffen und beschreibt, was der Redenotizen für eine
mitorganisiert . . . . . . . . . . . . . . . 51 Spielstil über die Persönlichkeit verrät. Seiten 26, 32 Chinareise der Kanzlerin . . . 82

6 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Arbeitskampf Sollen Corona- Geschichte War der römische
Helden mehr Geld bekommen, Kaiser Nero wirklich ein
trotz Krise? Ein Tarifstreit im irrer Tyrann oder eher eine
Pandemie-Dilemma . . . . . . . . 84 sensible Künstlerseele? . . . . 111

Kosmologie SPIEGEL-Gespräch
Ausland mit Physiknobelpreisträger
Reinhard Genzel über seine
Steigende Corona-Infektions- Entdeckung des schwarzen
zahlen in Argentinien / Lochs im Zentrum der Milch-
Überläufer aus Nordkorea . . . 86 straße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

USA Kalifornien galt als Ort Expeditionen Was die Forscher


der Zukunft, doch inzwischen der »Polarstern« auf ihrer
machen ihn Brände und ein Jahr langen Reise durch
Klimawandel zunehmend die Arktis erlebt haben . . . . 114

Matthias Schrader / AP
unbewohnbar . . . . . . . . . . . . . . . 88

Migration Der Politikberater Kultur


Gerald Knaus will Europas
Flüchtlingsproblem mit neuen Ausstellung über die Erotik des
Ansätzen lösen . . . . . . . . . . . . . . 94 Niedlichen / Literaturnobelpreis
Im Corona-Herbst für Louise Glück . . . . . . . . . . . . 116
Schweden Wie das Land
die Alten dem Tod durch das Kanzleramtschef Helge Braun warnt im SPIEGEL- Literatur Die Zeiten
Coronavirus überließ . . . . . . . 96 Gespräch vor Reisen, Partys und zu viel Alkohol. sind politisch, die besten
Romane auch . . . . . . . . . . . . . . 118
Analyse Welche Rolle spielt der
Doch was bedeutet es, wenn niemand mehr
türkische Präsident Erdoğan im ausgeht? Ein Streifzug durchs Nachtleben, wo SPIEGEL-BESTSELLER-
neuen Krieg zwischen Arme- Corona einen Lebensstil bedroht. Seiten 38, 62 Buchwoche – die
nien und Aserbaidschan? . . . 98 Programm-Highlights . . . . . . 120

Autoren Richard Ford trifft


Sport seinen deutschen Übersetzer
Eine Messe fürs Buch Frank Heibert – ein SPIEGEL-
Die Neulinge in der Fußball- Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Nationalmannschaft / Die wichtigsten Bücher, die besten Autoren – ein
Gut zu wissen: Was passiert Kulturteil fast nur über Literatur. Darin: ein Verlage Warum wir
beim Wasserball unter der die Frankfurter Buchmesse
Oberfläche? . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Gespräch mit Schriftsteller Richard Ford, ein Besuch weiterhin brauchen –
bei Kinderbuchautor Andreas Steinhöfel ein Plädoyer des Verlegers
Missbrauch Das Beispiel und ein Blick auf politische Romane. Seiten 118 bis 128 Tom Kraushaar . . . . . . . . . . . . 126
der Judoka Marie Dinkel
zeigt, wie einfach es der Kinderbücher Andreas
Sport Sexualtätern macht . . . 100 Steinhöfels wunderbare Reihe
um die Freunde Rico
Forschung Das Bundesinstitut und Oskar wird fortgesetzt 128
für Sportwissenschaft
fördert mit Steuergeldern Filmkritik Die Dokumentation
Absurditäten . . . . . . . . . . . . . . 104 »I Am Greta« . . . . . . . . . . . . . . 130
NASA / JPL-Caltech

Wissen

Abbiegespuren für Radfahrer


erhöhen die Unfallgefahr / Die
Bedeutung der Mathematik
für die Demokratie / Analyse:
Warum es eine Kapitulation Das Monster der Milchstraße
vor dem Virus wäre, auf Herden- Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
immunität zu hoffen . . . . . . . 106 Im SPIEGEL-Gespräch verrät der diesjährige SPIEGEL-TV-Programm . . . . . . 129
Physiknobelpreisträger Reinhard Genzel, wie es ihm Impressum, Leserservice . . . 132
Artenschutz Vom Tiergarten Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
zur Arche Noah – wie
gelungen ist, das schwarze Loch im Zentrum Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Zoos helfen können, bedrohte der Galaxis zu finden, und warum er glaubt, dass er Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Tiere zu retten . . . . . . . . . . . . . 108 die Auszeichnung einer Frau verdankt. Seite 112 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 138

Titelfoto: MANDEL NGAN/AFP via Getty Images 7


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Einfach unwürdig
Leitartikel Verkehrsminister Scheuer muss zurücktreten. Sein Parteichef sollte endlich handeln.

I
mmer wieder warnt Andreas Scheuer mit großer Lei- ereilte beide eine sonderbare Amnesie. Ausgerechnet an
denschaft vor ökologischem Eifer. Der Verbrennungs- das Angebot der Betreiber, die Mautverträge erst später zu
motor dürfe nicht verboten, die Diesel nicht von der unterschreiben (was dem Steuerzahler wohl viel Geld spa-
Straße verdrängt werden. Seine Begründung: Er wolle ren würde), konnten sich beide leider partout nicht mehr
der AfD und anderen Rechtspopulisten keinen Vorschub erinnern. Sie sagten auch nicht, dass es ein solches Ange-
leisten. In Wahrheit trägt kaum ein Bundespolitiker mehr bot nicht gegeben habe. Sie wussten es einfach nicht mehr.
zur Politikverdrossenheit bei als Scheuer. Sein Umgang mit Juristisch spitzfindiger geht es nicht.
der eigenen Mautaffäre fügt der politischen Kultur des Seit seiner Anhörung vor dem Ausschuss glaubt Scheuer
Landes massiven Schaden zu. offenbar, die Sache sei ausgestanden. Von ihm ist keine
Mit seiner Weigerung, sich zu erinnern oder, besser noch, Einsicht mehr zu erwarten. Darum müssen andere diesen
zurückzutreten, spielt er jenen Enttäuschten in die Hände, Minister aus dem Verkehr ziehen. Gefordert sind nun die
vor denen der Minister sonst gern Bundeskanzlerin und der bayeri-
warnt. Der Christsoziale klammert sche Ministerpräsident, der als
sich an sein Amt und verteidigt es CSU-Chef mit der Kanzlerin
mit jenen Tricks, derer die Bürger beraten kann, wer für seine Par-
so überdrüssig sind. Scheuer tei im Berliner Kabinett sitzt.
wird – gut belegt – vorgeworfen, Doch auch Markus Söder und
nicht nur das Haushalts- und Ver- Angela Merkel nähren bislang
gaberecht gebrochen zu haben, er viele Ressentiments, die sich in
soll auch vor dem Parlament die der Bevölkerung gegen den Ber-
Unwahrheit gesagt haben. Früher liner Politikbetrieb festgesetzt
wäre so mancher Politiker nach haben. Sie taktieren aus egoisti-
solchen Enthüllungen zurückgetre- schen Motiven. Die Kanzlerin
ten, oder man hätte ihn freundlich, will auf den letzten Metern ihrer
aber bestimmt dazu gedrängt. Amtszeit Koalitionszwist vermei-
Ein derartiger Schritt wäre ein den. Und Söder traut sich offen-
wichtiger Akt der Selbstreinigung. kundig nicht, weil eine Abberu-
Aber solche Reflexe existieren fung Scheuers als Eingeständnis
nicht mehr, sie werden weggelä- eines Fehlers bewertet würde.
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL

chelt und ignoriert. Wenn Scheu- Dabei ist das Festhalten an ihm
er damit durchkäme, wäre nicht der größere Fehler.
nur das Verkehrsministerium Merkel und Söder wissen
beschädigt. Über eine Vorbild- zudem, dass auch ihr Koalitions-
funktion von Politikern müsste partner sich nicht traut, offen
man dann nicht mehr reden. den Rücktritt des Verkehrsminis-
Vor dem Parlamentarischen ters zu fordern. Die Zurückhal-
Untersuchungsausschuss zur Pkw- tung der SPD könnte mit einem
Maut hatten die Vorstandschefs zweier Firmen, die das weiteren Untersuchungsausschuss zu tun haben, der sich in
Mautsystem aufbauen sollten, Scheuer schwer belastet. Sie dieser Woche konstituiert hat. Er behandelt die Wirecard-
hätten dem Minister angeboten, mit einer Vertrags- Affäre, im Feuer steht SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz.
unterzeichnung zu warten, bis das Projekt rechtlich ab- Vieles deutet auf einen taktisch motivierten Nichtangriffs-
gesichert sei. Scheuer selbst aber habe auf einen raschen pakt hin.
Abschluss gedrängt, erklärten sie den Abgeordneten. Dieses unwürdige Schauspiel, das sich in den nächsten
Zudem hätten sie sich vom Minister gedrängt gefühlt, Wochen abzuspielen droht, beschädigt das politische
öffentlich zu sagen, auch sie wollten schnell unterschreiben. System. Dabei ist auch in Deutschland ein Kampf um die
Das grenzt an Nötigung. Warum aber sollten die beiden demokratische Kultur, um Integrität und Wahrhaftigkeit
Vorstandschefs lügen, wenn sie dadurch riskierten, wegen entbrannt. Dieser Kampf ist aber nur zu gewinnen, wenn
Falschaussage strafrechtlich verfolgt zu werden? Eliten die anerkannten moralischen Maßstäbe nicht ver-
Scheuers Reaktion auf diesen Vorwurf war ebenso wässern, sondern sie als Vorbilder vorleben. Verkehrs-
erbärmlich wie die seines damaligen Staatssekretärs, der minister Scheuer verrät diese Prinzipien mit seinem Verhal-
inzwischen vom Minister auf den mit rund 400 000 Euro ten und seinem Selbstverständnis von Politik. Es ist höchs-
Jahresgehalt dotierten Chefposten bei der staatseigenen te Zeit, dass Söder und Merkel dem ein Ende bereiten.
Lkw-Maut-Firma Toll Collect gehoben wurde. Denn es Gerald Traufetter

8 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


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Titel

Der Superspreader
USA Donald Trumps Ansteckung mit dem Coronavirus rückt sein Totalversagen
als Krisenmanager ins Zentrum der letzten Wahlkampfwochen.
Der Präsident inszeniert sich weiterhin als viriler Macher. Kann ihm das noch helfen?

Eltern trennen und in Käfige sperren las- vonseiten Trumps fast hasserfüllt, und im
sen. Geschützte Gebiete in der Arktis hat Grunde fehlte zum vollendeten Eklat nur,
er für Öl- und Gasbohrungen freigegeben, dass sich der 74-jährige Trump im Stile
er hat das Pariser Klimaabkommen aufge- eines Preis-Catchers auf den 77-jährigen

E
kündigt und die menschengemachte Erd- Biden gestürzt hätte.
erwärmung geleugnet, selbst dann noch, Aber die »Times«-Enthüllung, das TV-
als im Hinterland der amerikanischen Duell, sie wären Trump mutmaßlich nicht
Westküste wochenlang die Feuer wüteten. weiter gefährlich geworden, weil seine
Nichts, so schien es bis vor Kurzem, konn- Wähler derlei Neuigkeiten in ihre Entschei-
te ihm etwas anhaben. Er war immun. dung längst eingepreist haben. Nein, es
Inmitten einer Pandemie hat der US- brauchte einen dramatischen Zufall, um
Präsident die Zahlungen der USA an die Trump zu gefährden, eine Wendung, wie
Weltgesundheitsorganisation ausgesetzt, sie nur den besten Drehbuchautoren ein-
er hat Handelskonflikte gegen Verbündete fällt: Trump, der große Verharmloser,
in Europa und Nordamerika angezettelt, musste sich selbst mit dem Coronavirus
mit Diktatoren in Nah- und Fernost gekun- anstecken. Und so geschah es.
gelt. In den Gremien der Nato, der Verein- Sehr wahrscheinlich vor 14 Tagen brach
he Donald Trump verwundbar wurde, hat ten Nationen, im Uno-Sicherheitsrat hat das Virus in den innersten Zirkel der
er ganze Länder als Dreckslöcher betitelt, er sein Land in die Isolation geführt. Er Macht in den USA ein, in Trumps eigene
die Mexikaner als Vergewaltiger abgestem- hat als Geschäftsmann Steuern in verblüf- vier Wände. Und vor neun Tagen war der
pelt, in seinen Twitter-Gewittern hat er fendem Ausmaß vermieden, Schulden an- Präsident der Vereinigten Staaten, einer
wahllos Fernsehmoderatorinnen, Schau- gehäuft wie ein Hochstapler, er hat seine der bestbehüteten Menschen der Welt,
spieler, Sportler, Funktionäre beschimpft. Privatgeschäfte, trotz aller Versprechen, nachweislich mit Covid-19 infiziert, einer
Er hat die Absetzung von Abgeordneten nie von den Staatsangelegenheiten ge- Krankheit, die er seit Monaten verharm-
verlangt, Senatorinnen beleidigt, die Justiz trennt. lost. Er musste tagelang ins Krankenhaus,
attackiert, die Wissenschaft verspottet, er Und doch hat die längste Zeit nichts da- musste mit einem Cocktail aus starken Me-
hat Menschen mit Behinderung nachgeäfft von gereicht, um seine Hoffnung auf eine dikamenten behandelt werden, alles we-
und das Andenken gefallener Soldaten be- Wiederwahl am 3. November zu erschüt- gen einer Krankheit, die er immer wieder
schmutzt. Groß geschadet hat ihm das die tern. Es mussten erst die vergangenen 10, mit einer saisonalen Grippe verglich. Aber
längste Zeit nicht. 14 Tage kommen, eine Kaskade von Er- das Virus hat das Zeug, den Patienten
Ehe Donald Trumps Macht zu bröckeln eignissen, die Trumps Aussichten auf einen Trump, selbst wenn er wieder ganz gesund
begann, untergrub er mit aggressiver Ener- Sieg stark geschmälert, vielleicht sogar zer- wird, politisch zu erledigen. Weil er es als
gie das von der Verfassung besonders ge- stört haben. Gegner unterschätzt hat. Weil er doch
schützte Grundrecht auf Presse- und Mei- In diesen vergangenen 10, 14 Tagen ist nicht immun war.
nungsfreiheit, er säte Misstrauen gegen- selbst für die Verhältnisse der sich jagen- Scheitert Trump am Wahltag, und zu-
über Fakten und ließ keine Gelegenheit den »News Cycles« in den USA viel ge- mindest die aktuellen Umfragen gehen in
zur Verbreitung spalterischer Propaganda schehen. Die »New York Times« hat vor eine deutliche Richtung, dann wird sein
aus. Er hat Neonazis in Charlottesville als zwei Wochen ihre Enthüllungen über die Management der Corona-Pandemie dafür
»gute Leute« bezeichnet und im Fernseh- Steuerunterlagen Trumps öffentlich ge- ausschlaggebend gewesen sein. Scheitert
duell mit seinem demokratischen Heraus- macht, seine Legende vom erfolgreichen er, dann daran, dass er das Virus nicht als
forderer Joe Biden vor 70 Millionen Zu- Topmanager zerstört und seine gefährliche Gefahr für Leib und Leben ernst nahm,
schauern einen Gruß an die Rassistenbe- Abhängigkeit von Geldgebern dokumen- sondern als Wahlkampfthema seiner Geg-
wegung der »Proud Boys« geschickt. Kri- tiert. Das erste TV-Duell am vorvergange- ner mit aller präsidialen Macht unterdrü-
tikern und Gegnern hat er damit gedroht, nen Dienstag verlief unsachlich, chaotisch, cken wollte. Selbst seit seine eigene Er-
sie ins Gefängnis zu werfen, und in jüngs- krankung die Pandemie auf Platz eins der
ter Zeit schwadronierte er darüber, ohne nationalen Agenda katapultiert hat, ver-
Anlass oder Beleg, dass die Briefwahl dem sucht Trump immer noch, sie kleinzure-
Wahlbetrug Tür und Tor öffne. Es hat ihm Scheitert Trump am den. Amerikas First Patient macht seit sei-
alles nicht geschadet, all die Jahre. Wahltag, dann daran, nem positiven Test eine miserable Figur
Ehe der Boden unter Donald Trump im Umgang mit dieser neuen Lage.
weich wurde, hat er Kinder von Migranten
dass er das Virus nicht Mittlerweile fällt er in den wahlentschei-
an der mexikanischen Grenze von ihren ernst genug nahm. denden Swing States weit zurück. In Mi-

10 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Anna Moneymaker / The New York Times / laif

Patient Trump nach seiner Heimkehr ins Weiße Haus am 5. Oktober: Das ewige Schauspiel toxischer Männlichkeit

11
Titel

chigan führt Joe Biden in Umfragen mit vorn, Ende dieser Woche sind es sogar fast bei vielen Zeitgenossen nicht Erleichte-
rund acht Prozentpunkten, in Pennsylva- zehn Prozentpunkte. rung aus, sondern diffuse Furcht.
nia mit sieben, in Wisconsin mit sieben, in Die Ansteckung, die Erkrankung seiner Die Bilder, mit großem Aufwand aus vie-
Florida mit gut vier. Selbst Arizona, lange Frau und vieler seiner engsten Mitarbeiter len Kameras aufgenommen, sollten von
Zeit fest in der Hand der Republikaner, ist hätten ihn nachdenklicher machen und wo- Stärke erzählen, aber ihre Botschaft war
für Biden erreichbar geworden. Bemer- möglich sogar ein wenig sympathischer er- unfreiwillig eine andere: Trump wirkte wie
kenswert ist, wie deutlich sich die Wähler scheinen lassen können. Es wurde auch, ein deplatzierter Buffo, ein falscher Mann
über 65 Jahre im ganzen Land gerade von anfangs im Krankenhaus, vorübergehend am falschen Ort im falschen Film, ein
Trump abwenden; vor vier Jahren stimm- etwas stiller um ihn, aber seit dem Wo- Clown im Zentrum der Macht, dem alles
ten sie mehrheitlich für ihn. chenende gebärdet er sich großmäuliger zuzutrauen ist, nur nicht die Bewältigung
Natürlich kann sich all das noch zuguns- als je zuvor. An manchen Tagen, in man- einer der größten Krisen, die Amerika in
ten des Präsidenten drehen, natürlich kann chen Nächten wirkt es nun, als entfalteten seiner jüngsten Geschichte durchleben
gut drei Wochen vor der Wahl noch viel die ihm verabreichten Steroide Nebenwir- muss. Trump, indem er mit allen Kräften
passieren, aber Trumps Aussichten auf kungen, die seine schlechtesten Eigenschaf- seinen Zauber inszenieren wollte, entzau-
eine Wiederwahl schrumpfen. ten noch weiter befeuern. berte sich in jenen Momenten selbst.
Gerade hat sein Wahlkampfteam die Seine Rückkehr ins Weiße Haus am
Fernsehwerbespots in vielen Staaten des Montag, per Hubschrauber aus dem nahen

G
Mittleren Westens zurückgefahren, noch Walter-Reed-Militärkrankenhaus, verlegte egen seine Absicht verrieten die
ein Indiz dafür, dass der Präsident hier sei- er in die beste Sendezeit, um siegesgewiss Bilder, dass Stärke und Verant-
ne Chancen schwinden sieht. Sein Lieb- einen weiteren Akt im endlosen Schau- wortung bei ihm entkoppelt sind,
lings-Umfrageinstitut Rasmussen sieht ihn spiel seiner toxischen Männlichkeit zu in- dass er mit Macht nicht umzuge-
in nationalen Umfragen zwölf Prozent- szenieren. Aber das gravitätische Schrei- hen versteht, dass er alles, und sei es eine
punkte hinter Biden. Im nationalen Um- ten und militärische Salutieren, die hoch- globale Pandemie, nur auf den eigenen
fragedurchschnitt der Datenanalysten von gereckten Daumen und das vorgestreckte Vorteil hin abklopft.
FiveThirtyEight lag Biden seit Juni immer Kinn, sie verfehlten plötzlich ihre Wir- Dabei unterlaufen ihm nun grobe Fehler.
mit mindestens sechs Prozentpunkten kung. Dass dieser Mann zurück war, löste Dass er sich auf dem Truman-Balkon de-

Trump beim
Golfspiel wenige
Tage vor seiner
Diagnose

Chronologie Wahlveranstaltung
in Minnesota
des Desasters
Stand 8. Oktober
Quellen: »Politico«, »New York Times«

Sa, 26. September So, 27. Mo, 28. Di, 29. Mi, 30. Do, 1. Oktober

Hope Hicks
Beraterin Trumps

Biden und Trump bei Bekanntgabe der


der ersten TV-Debatte Coronainfektion

Nominierung der Bundesrichterin Amy


Coney Barrett im Rose Garden

12 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


monstrativ die Maske vom Gesicht zog, war Ruhe zu bedenken. Stattdessen griff er zum Es rächt sich nun für Trump, dass er die
als Geste der Rücksichtslosigkeit gegen ihn Smartphone und schickte per Video eine Pandemie – wie es seine Pflicht gewesen
zu verwenden. Denn natürlich war Trump Botschaft in die Welt, dazu geeignet, die wäre – nie als tödliche Seuche ernst nahm,
in jenen Momenten eine Gefahr für seine Gefühle Millionen Angehöriger von Coro- obwohl er über die Dramatik der Lage sehr
Umwelt, sehr wahrscheinlich infektiös, ge- na-Opfern zu verletzen: »Lasst nicht zu«, früh informiert war. Sein Sicherheitsbera-
nauso wie tags zuvor, als er sich von seinen sagte der Präsident, »dass das Virus euer ter Robert O’Brien hatte ihn schon Ende
Sicherheitsleuten rund ums Krankenhaus Leben bestimmt. Habt keine Angst davor.« Januar davor gewarnt, dass die Pandemie
chauffieren ließ, nur um die TV-Stationen Durch Trumps Erkrankung kommen »die größte Bedrohung für die nationale Si-
und die eigenen Ultras mit frischen Bildern nun noch mehr Amerikaner auf die Idee, cherheit während Ihrer Präsidentschaft
von sich zu bedienen. dass es in Sachen Coronavirus hier und da sein« werde. Zum damaligen Zeitpunkt
Es scheint ihm völlig gleichgültig zu sein, doch einen gewissen Klärungsbedarf ge- verzeichneten die USA erst einige wenige
dass er selbst derzeit alle Menschen, denen ben könnte, trotz aller Beteuerungen bestätigte Infektionen, und so dachte
er begegnet, in Gefahr bringt. Und dass Trumps. Wie ist es zu erklären, dass die Trump vermutlich gar nicht daran, die War-
sich alle, die mit ihm zu tun haben, eigent- Einwohner der USA nur etwa 4 Prozent nung ernst zu nehmen. Er verlegte sich
lich direkt in Quarantäne begeben müss- der Weltbevölkerung ausmachen – aber aufs Verharmlosen, Kleinreden, Leugnen,
ten. Es scheint, als hätte Trump angefan- 20 Prozent der weltweiten Covid-19-Toten auf magisches Denken und irriges Hoffen.
gen, die eigenen Lügen über die Harmlo- beklagen? Wie kommt die exorbitant hohe Mitte Februar sagte Trump, dergleichen
sigkeit des Virus zu glauben. Aber mit die- Zahl von mehr als 210 000 Toten zustan- hat er oft wiederholt: »Ich denke, alles
ser Haltung wird er schwerlich eine Mehr- de? Wie passt sie zu Trumps Mantra, seine wird gut. Ich denke, wenn der April
heit der Amerikaner hinter sich versam- Regierung habe auch in Sachen Corona kommt, das wärmere Wetter, dann wird
meln können. Und diese Haltung führt zu »einen fantastischen Job gemacht«? Und das einen sehr negativen Effekt auf diese
immer neuen Fehlern. was wäre, wenn Anthony Fauci, Chef des Art Virus haben. Wir werden sehen, was
Zurück an seinem Arbeitsplatz, hielt der nationalen Instituts für Infektionskrank- passiert, aber ich denke, es wird alles gut
US-Präsident nicht etwa inne, wenigstens heiten, recht behält mit der Warnung, dass ausgehen.«
für einen Moment, eine Nacht, einen Tag, womöglich noch einmal bis zu 190 000 Ein paar Wochen später, als die Infek-
um seine Lage und die seines Landes in Tote hinzukommen könnten? tionszahlen in den USA durch die Decke

Donald Trump Melania Trump Ronna McDaniel


Präsident First Lady Republikanerin

Bill Stepien
Mike Lee Thom Tillis Kampagnen-
Senator Senator manager Trumps
Begrüßung seiner
Anhänger während
der Behandlung

Kellyanne Conway + mindestens


ehem. Beraterin John Jenkins 11 Debattenhelfer
Rückkehr aus dem
Trumps Priester und 3 Journalisten Krankenhaus

Fr, 2. Sa, 3. So, 4. Mo, 5. Di, 6. Mi, 7.

Kayleigh McEnany
Ron Johnson Pressesprecherin Stephen Miller
Senator im Weißen Haus Berater Trumps
Olivier Douliery / AFP;
Dominick Reuter / AFP;
Brendon Smialowski / AFP;
Alex Brandon / AP; Evan
Vucci / AP (2); Stefani
Reynolds / AP; J. Scott
Applewhite / dpa; Manuel Claudia Conway
Balce Ceneta / dpa; Yuri Chris Christie Kellyanne Conways Greg Laurie Charles Ray Gary Thomas
Gripas / ddp images; Ana
Venegas / imago images; Republikaner minderj. Tochter Oberpastor Admiral General
Michael Brochstein / imago
images; Chip Somodevilla /
imago images; Mikhail
Metzel / imago images (2); + 1 demokratischer
imago images; Erin Schaff / Kongress-
The New York Time / laif;
Tasos Katopodis / REUTERS; + mindestens abgeordneter und
REUTERS (2); U.S. Depart- Nick Luna 2 Angestellte im 1 Angestellter
ment of Homeland Security / Trumps Begleiter Weißen Haus des Weißen Hauses
U.S. Coast Guard

13
Titel

gingen, kündigte er an, bestehende Lock- Hauses geschuldet ist. Laut einer Studie delt. Der größte Teil der Mitarbeiter, die
down-Bestimmungen schnell wieder auf- hätten in den USA Zehntausende Men- sich hier in normalen Zeiten Tag für Tag
zuheben und das Land schon im April, zu schenleben gerettet werden können, wäre zu Hunderten die Klinke in die Hand ge-
Ostern, wieder komplett zu öffnen. Gou- am 1. April eine Maskenpflicht für Ange- ben, befindet sich im Homeoffice oder in
verneure, die diesem Wunsch folgten, stellte von Restaurants und Geschäften ein- Quarantäne.
machten aus ihren Bundesstaaten die Hot- geführt worden. Weil auch der Vizekommandeur der
spots der Pandemie. Andere, die sich ver- Stattdessen macht Trump das Tragen Küstenwache erkrankt ist, begab sich am
weigerten, wurden aus dem Weißen Haus von Masken bis heute lächerlich. Schon Dienstag beinahe die gesamte Riege der
beschimpft und mit Mittelentzug bedroht. früh in der Pandemie sagte er einmal: »Ich militärischen Oberbefehlshaber, die Joint
Im März gab Trump gegenüber dem Re- weiß nicht, wie ich hinter dem herrlichen Chiefs of Staff mit ihrem Chef Mike Milley,
porter Bob Woodward offen zu, dass er Schreibtisch im Oval Office sitzen und sicherheitshalber in Quarantäne. Bis Don-
die Gefährlichkeit der Pandemie wohl ken- dort Präsidenten, Premierminister, Dikta- nerstag wurden aus dem inneren Kreis der
ne, aber bewusst verharmlose. »Ich spiele toren und Könige begrüßen soll und gleich- erkrankten Eheleute Trump mindestens
es immer noch herunter, weil ich keine Pa- zeitig eine Maske tragen. Ich jedenfalls 20 Menschen positiv auf das Coronavirus
nik erzeugen will.« Er verkauft das heute werde es nicht tun.« Damit war der Ton getestet, darunter viele enge Berater des
unter Berufung auf den legendären briti- vorgegeben. Präsidenten. Und auch dafür trägt Trump
schen Premierminister Winston Churchill Der Präsident ging mit schlechtem Bei- die Verantwortung.
als das verantwortliche Handeln eines spiel immer weiter voran und definierte

I
weitsichtigen Führers. Tatsächlich dürfte die Haltung, die von einem kernigen Re-
Trump vor allem die Panik beschlichen ha- publikaner erwartet wurde. Statt einfach n all den Monaten seit Ausbruch der
ben, dass die Seuche seine ökonomische dem Rat seiner Experten zu folgen, die Pandemie sorgte er im Weißen Haus
Bilanz verhageln und damit seine Wieder- seit April das Tragen von Masken empfah- für eine Atmosphäre, die Masken-
wahl bedrohen könnte. len, brachte Trump es fertig, das kleine träger als potenzielle Verräter er-
Statt, wie es Churchill gewiss versucht Ausrüstungsstück zur Pandemiebekämp- scheinen ließ, als politisch allzu korrekte
hätte, das Virus mit allen Mitteln einzu- fung zu einem politischen Symbol zu ma- Weicheier. Zu den wenigen, die sich
dämmen, redete Trump weiterhin dessen chen. Trumps Diktat widersetzten, gehörten
Effekte klein, in der Hoffnung, dass frohe Die absurden Folgen sind im heutigen Matthew Pottinger, ein ehemaliger Repor-
Botschaften die Wirtschaft schon irgend- Amerika zu besichtigen: Während in de- ter des »Wall Street Journal«, der heute
wie am Laufen halten würden. Die »Wa- mokratischen Hochburgen wie Washing- als Sicherheitsberater für Chinafragen ar-
shington Post« hat Trumps Auftritte und ton, D. C., oder New York kaum jemand beitet, und Olivia Troye, die bis August
Äußerungen nach verharmlosenden Aus- ohne Maske auf die Straße geht, geschwei- Teil der von Vizepräsident Mike Pence
sagen über das Coronavirus durchforstet ge denn ein Restaurant betritt, gilt im re- geführten Corona-Taskforce des Weißen
und ist für die Zeit von Ende Januar bis publikanischen Amerika ein herzhafter Hauses war, ehe sie frustriert ihren Dienst
heute auf 138 solcher Stellungnahmen ge- Händedruck ohne Maske als Zeichen da- quittierte. »Jeder, der eine Maske trug,
stoßen. Seit Januar sagt Trump beinahe für, dass man sich von den liberalen Warm- wurde verächtlich angeschaut«, sagte
täglich Dinge wie: »Es wird verschwinden. duschern an Ost- und Westküste nicht irre Troye der »New York Times«.
Eines Tages, es wird wie ein Wunder sein, machen lässt. Trump hat es geschafft, das Und der republikanische Mehrheitsfüh-
ist es wieder weg, glaubt mir.« Land auch in diesem Punkt zu spalten. rer im Senat, Mitch McConnell, der Trump
Das Wunder will sich nicht ereignen. Das Weiße Haus selbst ist unter Trumps all die Jahre die Treue hielt, setzte sich
Stattdessen entfaltet sich in den USA eine Führung zum Corona-Hotspot geworden nun erstaunlich deutlich vom Präsidenten
brutale Realität, die auch der unterlasse- und hat sich seit vergangener Woche in ab. »Ehrlich gesagt war ich seit dem 6. Au-
nen Seuchenschutzpolitik des Weißen ein halb verlassenes Geisterhaus verwan- gust nicht mehr im Weißen Haus«, sagte
er am Donnerstag, »weil mein Eindruck
war, dass ich eine andere Einstellung dazu
habe, wie man diese Sache handhaben soll-
te. Ich habe im Senat insistiert, dass wir
Masken tragen und Social Distancing prak-
tizieren.«
Es war ein Ungeist, der von ganz oben
gefüttert wurde. Im September fuhr der
Präsident einmal einen Reporter der Nach-
richtenagentur Reuters mit den Worten an:
»Wenn du das nicht abnimmst, klingst du
sehr dumpf.« Gleichzeitig redete Trump
sich und seinen Leuten ein, alles sei sicher,
weil im Weißen Haus ein rigides Test-
regime herrsche.
Es wurde tatsächlich viel getestet, aber
man verließ sich zum einen auf einen feh-
leranfälligen Schnelltest. Zum anderen
wurden nur jene Mitarbeiter täglich getes-
Chandan Khanna / AFP

tet, die direkt mit POTUS, dem President


of the United States, in Kontakt kamen.
In der Rückschau kommt einem das Infek-
tionsschutzkonzept des Weißen Hauses
vor wie von Kindern erdacht. Jedenfalls
Biden-Unterstützer in Miami: Von Supermännern und Warmduschern funktionierte es nicht. Spätestens im Juli,

14 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Apu Gomes / AFP
Trump-Fans, Gegnerinnen im kalifornischen Beverly Hills am 3. Oktober: »Lasst nicht zu, dass das Virus euer Leben bestimmt«

als Trumps Sicherheitsberater O’Brien er- ten und durch eine Erfolgsstory zu erset- gen. Man will im Weißen Haus nichts hö-
krankte, wurde klar, wie weit das Virus zen. Aber dieser Plan schlug fehl. ren. Nichts sehen. Nichts dazu sagen.
schon in den Kern der Regierungszentrale Die Gartenparty rückte bald aus ganz Für eine gute Show, so viel ist klar, geht
vorgerückt war. anderen Gründen in den Blickpunkt. Trump notfalls über Leichen, das klingt
Aber während im liberalen Washington Denn es begab sich, dass sich auf der Gäs- polemisch, beschreibt aber nur sein Han-
die Bürgerinnen und Bürger immer teliste reihenweise Namen fanden, die bald deln. Als der Präsident am 20. Juni Wahl-
vorsichtiger wurden, wirkte das Weiße mit Corona-Infektionen verbunden wur- kampf in einer Sportarena in Tulsa, Okla-
Haus mehr und mehr wie das Klubhaus den. Die Senatoren Mike Lee aus Utah homa, betrieb, tat er das augenscheinlich
der regierungsamtlichen Corona-Leugner. und Thom Tillis aus North Carolina sind ohne jeden Gedanken an Hygiene oder
Trumps Sprecherin Kayleigh McEnany erkrankt, ebenso Kellyanne Conway aus Seuchenprävention. Er ließ sich einfach
gab fast täglich Pressekonferenzen, deren Trumps innerstem Zirkel, Chris Christie, von Tausenden dicht gedrängten Anhän-
Symbolik kaum deutlicher hätte sein kön- einstiger Gouverneur, heute Trumps De- gern bejubeln und tat so, als wäre nichts,
nen: Unten im Saal saßen Reporter mit battencoach. obwohl er da schon seit Monaten wusste,
Mundschutz und Plastikhandschuhen; Der Nachweis, dass sie sich wirklich im dass sich das potenziell tödliche Virus über
oben am Pult stand eine Pressechefin, Garten des Weißen Haus ansteckten, ist die Atemluft überträgt.
die praktisch nie mit Maske erschien. noch nicht geführt und wird voraussicht- So gesehen war jede seiner »Rally« ge-
McEnany ist heute unter den Infizierten. lich auch nie erbracht werden. Aufnahmen nannten Großveranstaltungen ein wahn-
Gut möglich, dass sie sich, wie einige zeigen, wie sich die Gäste bei den Trumps witziges Experiment mitten in einem Seu-
andere wohl, bei einer Veranstaltung am ausgiebig herzten und die Wangen rieben. chengebiet, in Einzelfällen womöglich mit
26. September angesteckt hat, als, unmerk- Trotzdem wurde diese Woche ein Angebot tödlichen Folgen: In Oklahoma befand
lich erst, Trumps Kontrollverlust über die der Seuchenbehörde CDC, die Nachver- sich auch Herman Cain unter den Zuhö-
eigene Selbstinszenierung begann. An je- folgung von Infizierten im Umfeld des Wei- rern, ein ehemaliger republikanischer Prä-
nem Samstag präsentierte der Präsident ßen Hauses zu übernehmen, ausgeschla- sidentschaftskandidat, der wie die meisten
voller Stolz die Juristin Amy Coney Bar- Leute in der Halle keine Maske trug. Schul-
rett als Kandidatin für den Supreme Court, ter an Schulter mit anderen Trump-Fans
das mächtigste Gericht des Landes, dessen saß Cain und schrieb auf Twitter: »Having
Entscheidungen weit ins Alltagsleben Für eine gute Show, a fantastic time«. Neun Tage später bekam
Amerikas hineinwirken. Das Fest im Ro- so viel ist klar, geht der 74-Jährige einen positiven Corona-
sengarten war von Trump und seinen Stra- Test, vier Wochen später war er tot, ge-
tegen ironischerweise dafür gedacht, das
Donald Trump notfalls storben an den Folgen der Infektion. Es
leidige Pandemiethema endlich totzutre- über Leichen. lässt sich nun nicht beweisen, dass sich

15
POLARIS / laif
Präsidentenhubschrauber »Marine One« auf dem Weg ins Walter-Reed-Krankenhaus*: »Kränker, als offiziell eingeräumt wurde«

Cain das Virus bei Trump in Tulsa geholt Hicks, seine persönliche Beraterin, als eine chef seinen Zustand als kritisch dar, wäh-
hat. Aber es ist so gut wie sicher, dass die der Ersten aus dem engsten Kreis mit dem rend sein Leibarzt ihm nur milde Sympto-
Infektionszahlen in der Stadt auch wegen Virus infiziert hatte. Gemeinsam waren me bescheinigte. Nichts ist gewiss in
der Kundgebung stiegen, das jedenfalls er- sie in Minnesota unterwegs gewesen, am Trumps Welt.
klärte der Chef der städtischen Gesund- vorvergangenen Mittwoch, als sich bei Dass er »kränker war, als offiziell zu-
heitsbehörde später. Hicks Symptome zeigten und sie sich, was nächst eingeräumt wurde«, vermutet Cle-
Trump dachte nicht daran, daraus Kon- immer das heißen mag, auf dem Rückflug mens Wendtner, Chefarzt an der München
sequenzen zu ziehen und auf Veranstaltun- in der Präsidentenmaschine »Air Force Klinik Schwabing. Das bestätigt auch ein
gen mit Publikum womöglich zu verzichten, One« in Quarantäne begab. Blick auf die Medikamente, die Trump be-
im Gegenteil. Noch bis zum vorvergange- Ist der US-Präsident ein Superspreader? kam. Der Antikörpercocktail der Firma
nen Freitag, als er per Tweet seine und Me- Muss man ihm fahrlässige Körperverlet- Regeneron etwa, der dem US-Präsidenten
lanias Ansteckung bekannt geben musste, zung vorwerfen? Dass im Hause des mäch- verabreicht wurde, ist bislang noch nicht
trat er fast täglich bei Veranstaltungen auf, tigsten Mannes der Welt keinerlei Interes- zugelassen; die Studien, in denen er auf
großen und kleinen. Als wäre nichts. Oder se an Aufklärung zu bestehen scheint, dass Wirksamkeit und Sicherheit erprobt wird,
als gälten die Gesetze der Virologie nicht noch nicht einmal bekannt ist, wann genau laufen noch. Dass seine Ärzte bereit wa-
für ihn und seine Anhänger. sich der Führer der freien Welt ansteckte, ren, ihm die Arznei trotz unklarer Risiken
Selbst am Tag vor seiner Diagnose gab wirkt unbegreiflich. zu geben, und dass er offenkundig einver-
Trump in seinem Golfklub in Bedminster, Alle Auskünfte über den berühmtesten standen war, spricht dafür, dass der Zu-
New Jersey, noch einmal den Gastgeber Kranken der Welt und seinen Gesundheits- stand des US-Präsidenten womöglich kri-
für gut 200 Ehrengäste, die einige Tausend zustand sind ungenau, widersprüchlich, tischer war als bekannt.
oder gleich 250 000 Dollar spendeten, um womöglich auf politische Wirkung hin fri- Auch das zweite Medikament, das
mit dem Präsidenten zu essen, zu reden siert. Als Trump ins Krankenhaus einge- Trump erhielt, Remdesivir, das die Ver-
und sich mit ihm fotografieren zu lassen. wiesen wurde, stellte sein eigener Stabs- mehrung des Virus hemmt, deutet darauf
Letzteres war ein höheres persönliches hin, dass seine Infektion weniger harmlos
Risiko, als ihnen klar gewesen sein kann, war als zwischenzeitlich dargestellt. In den
und der Präsident wird es tunlichst ver- USA ist das Mittel, das intravenös verab-
schwiegen oder höchstens Witze darüber Trumps Strategie, sich reicht wird, nur für im Krankenhaus be-
gerissen haben. als viriles Gegenbild handelte Patienten zugelassen. In Studien
Und das, obwohl er in jenen Momenten
in Bedminster, als er mit Fans für Fotogra-
zu Joe Biden in Szene zu * Am Freitag, dem 2. Oktober, mit dem Patienten
fen posierte, schon wusste, dass sich Hope setzen, ist geplatzt. Donald Trump an Bord.

16 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Titel

konnte es bei vergleichsweise schwer Er- Amtszeit offenkundig verrechnet. Seine Aber schon diese Selbstverständlichkei-
krankten, die Sauerstoff bekamen, die Zeit Strategie, sich als viriles Gegenbild zu sei- ten reichten, um bei Trump in Ungnade
bis zur Genesung von 18 auf 12 Tage ver- nem Konkurrenten Joe Biden in Szene zu zu fallen. Im April verbreitete der Präsi-
kürzen; bei leicht Erkrankten hingegen setzen, ist geplatzt. Denn der Lauf der Er- dent den Tweet einer gescheiterten repu-
blieb es wirkungslos. eignisse gibt nun eindeutig Biden recht, blikanischen Kongresskandidatin, der den
Beunruhigend finden medizinische Ex- der nach Beginn der Pandemie seinen Hashtag #FireFauci enthielt. Mitte Juli si-
perten, dass Trump zusätzlich zu den An- Wahlkampf weitgehend per Videoschalte ckerte ein Memo der Pressestelle des Wei-
tikörpern und Remdesivir auch noch De- aus seinem Haus in Delaware führte und ßen Hauses durch, in dem detailliert auf-
xamethason verabreicht wurde. »Dexame- später nur sehr zögerlich wieder unter Leu- gelistet wurde, wie man Fauci in der Öf-
thason hilft vor allem Covid-19-Patienten, te ging. fentlichkeit diskreditieren könne. Es
die richtig schwer krank sind«, sagt Tors- Es war die rationale, die richtige Ant- schien, als führe der Präsident nicht Krieg
ten Feldt, Infektiologe und Oberarzt wort auf eine tödliche Pandemie. Trumps gegen das Virus, sondern gegen die Ver-
am Universitätsklinikum Düsseldorf. Bei Versuche, Bidens Verhalten in einen Be- nunft und ihre Träger.
leicht Erkrankten, die noch keinen Sauer- weis seiner Schwäche umzudeuten, gingen

T
stoff benötigen, könne es möglicherweise ins Leere. Stattdessen steht nun er selbst
sogar schädlich wirken. Das Mittel hemmt als verantwortungslos und unvernünftig rump hat sich bis heute nicht ge-
die Immunreaktion und soll das gefährli- da, und der als »Sleepy Joe« verspottete traut, Fauci vor die Tür zu setzen,
che Entgleisen des Körperabwehrsystems Biden wirkt dagegen gemessen und klug. wohl weil er genug Witterung da-
verhindern, an dem am Ende nicht wenige Viele von Trumps spektakulären Auftrit- für hat, dass eine Entlassung des
Covid-19-Patienten sterben. ten schillern nun in einem giftigen Licht. Wissenschaftlers, der sechs Präsidenten
Dass Trump dieses Medikament bekam, Dass er für seine Rede während des repu- beraten hat, nicht gut aussähe. Aber im
vergleichsweise früh im Krankheitsverlauf blikanischen Parteitags im August das Umgang mit Fauci spiegelt sich die ganze
und ohne dass er künstlich beatmet wer- Weiße Haus entweihte, indem er es als haarsträubende Verantwortungslosigkeit
den musste, hat unter Ärzten Spekulatio- Kulisse für seine Propagandashow miss- Trumps wider, seine Unfähigkeit, die rich-
nen ausgelöst. War sein Testergebnis doch brauchte, dieser Tabubruch ist in den USA tigen Prioritäten zu setzen, seine Eifer-
schon deutlich früher positiv und nicht erst unvergessen. Aber nun rückt in den Blick, sucht gegen jeden, der ihm auf der Bühne
Donnerstag Abend? Bekam er heimlich dass er schon damals, genau wie bei der das Licht nimmt. Covid-19 hat, seit es ihn
Sauerstoff? Oder wurde Trump das Mittel Nominierung der Juristin Barrett vor 14 Ta- selbst befiel, Donald Trump sichtbar ge-
etwa auch verschrieben, damit er sich sub- gen, die Gesundheit, ja das Leben vieler macht als einen Führer ohne Vernunft, als
jektiv besser fühlt und für den Wahlkampf Menschen ohne Not gefährdete. Wie soll einen Menschen ohne Mitgefühl. Er, des-
schneller wieder auf die Beine kommt? einer dem Gemeinwohl dienen, dem schon sen ununterbrochenes Twitter-Gerülpse
Dexamethason ist dafür bekannt, als das Wohl seiner Freunde egal ist? das Netz füllt, findet für die vielen Er-
Nebenwirkung Stimmung und Allgemein- Trump hätte alle Möglichkeiten gehabt, krankten in seiner Umgebung kaum ein
befinden von Patienten zu verbessern, zu- diesen Eindruck zu vermeiden und die Wort des Trostes. Trump kann nur Groß-
mindest vorübergehend. »Mit Dexametha- Pandemie viel besser in den Griff zu be- buchstaben und Ausrufezeichen, aber da-
son bekommen Sie fast jeden Patienten kommen. Die nationale Seuchenbehörde mit sendet er immer öfter am Volk vorbei.
kurzfristig aus dem Bett«, sagt Chefarzt CDC setzt seit Jahrzehnten weltweit den Man glaubt auch seinen Versprechen
Wendtner. »Wir nennen das den Lazarus- Goldstandard im Kampf gegen Infektions- nicht mehr, die mittlerweile ein paarmal
Effekt.« Dass sich Dexamethason-Patien- krankheiten, und mit Anthony Fauci, dem zu oft leer waren. Dass die Mauer zu Me-
ten 20 Jahre jünger fühlten, wie Trump im Chef des nationalen Instituts für Infektions- xiko, Trumps Wahlkampfschlager von
Krankenhaus über sich selbst twitterte, krankheiten, steht Trump ein Mediziner 2016, weder von Mexiko bezahlt noch
habe er auch schon von seinen Dexame- zur Seite, der über Parteigrenzen hinweg überhaupt richtig gebaut ist, lässt sich ge-
thason-Patienten gehört. »Das Mittel er- Respekt genießt. wiss den demokratischen Feinden in die
höht das Selbstwertgefühl.« Nach dem Ab- Fauci, der Mann mit der rauen Stimme Schuhe schieben. Dass sich Trumps lange
setzen könnten die Patienten allerdings und dem unverwechselbaren Brooklyner geschürte Hoffnung nicht erfüllt, es werde
auch in ein Loch fallen. Akzent, ist für einen Präsidenten, der eine noch vor der Wahl einen Corona-Impfstoff
Seuche zu bekämpfen hat, eigentlich ein geben, ist aber nicht hilfreich mit Blick auf

S
Geschenk: Die Expertise des Virologen ist die Wahl.
o groß die Unsicherheiten über unbestritten. Schon früh in seiner Karriere Zuletzt Mitte dieser Woche versuchte
Trumps wahren Gesundheitszu- entwickelte er eine Therapie für tödliche der Präsident wieder, auf die Arzneimittel-
stand sind, so klar fällt mittler- Autoimmunerkrankungen, in den Achtzi- behörde Druck zu machen, ihre Kriterien
weile das Expertenurteil über gerjahren war Fauci, den seine Freunde aufzuweichen, um bei der Entwicklung
Trumps katastrophale Corona-Politik aus. Tony rufen, einer der führenden Wissen- wirksamer Substanzen schneller voranzu-
Das renommierte »New England Journal schaftler bei der Erforschung des HIV-Er- kommen. Aber eigentlich wünscht sich das
of Medicine« hat eigens mit seiner 208- regers. Vor allem aber hat der 79-Jährige außer ihm niemand, nicht einmal die Phar-
jährigen Tradition gebrochen, sich poli- die Gabe, komplizierte medizinische The- maindustrie. Die Behörde hat Trumps Vor-
tisch nicht zu äußern. In der neuen Ausga- men so einfach und praktisch zu erklären, stoß denn auch neuerlich zurückgewiesen
be stampfen die Herausgeber des Journals dass man ihn auch in einer Bar in Ken- und auf die bewährten Verfahren gepocht.
Amerikas »derzeitige Führung« in den tucky versteht. In solchen Situationen wirkt Trump wie
Boden. Ohne Trump namentlich zu er- Zu Beginn der Coronakrise sprach Fauci der idealtypische Repräsentant des von
wähnen, schreiben sie in seltener Schärfe: fast täglich mit dem Präsidenten, und der Wissenschaft beschriebenen Dunning-
»Jeder andere, der derart rücksichtslos wenn er zusammen mit Trump auftrat, riet Kruger-Effekts, der besagt, dass Inkompe-
Leben und Geld verschwenden würde, er das, was alle Seuchenexperten empfeh- tente das eigene Wissen und Können häu-
hätte mit strafrechtlichen Konsequenzen len: Abstand halten, Hände waschen, Kon- fig weit überschätzen. Ein schönes Beispiel
zu rechnen.« takte reduzieren. Er warnte auch davor, dafür lieferte Trump während des Fern-
Trump, der kranke Mann des Weißen das Land zu früh für das Geschäftsleben sehduells mit Biden, als er wieder behaup-
Hauses, hat sich ganz am Ende seiner zu öffnen. tete, ein Impfstoff gegen das Coronavirus

17
Titel

Clinton – für einen demokratischen Kan-


didaten stimmte.
Die erste TV-Debatte war ein Desaster,
auf eine zweite Debatte will er sich nun
womöglich gar nicht mehr einlassen. Weil
die zuständige Kommission ankündigte,
sie virtuell veranstalten zu wollen, sagte
er am Donnerstagmorgen der Fox-Mode-
ratorin Maria Bartiromo, er werde seine
Zeit nicht mit einer virtuellen Debatte ver-
schwenden, in der man ihm jederzeit das

Jabin Botsford / The Washington Post / Getty Images


Mikro abdrehen könne.
Er klang in dem Interview manisch,
zeigte sich unzufrieden mit FBI-Direktor
Christopher Wray und Justizminister Wil-
liam Barr und warf ihnen vor, sie würden
nichts gegen den »Betrug« bei der Brief-
wahl unternehmen und auch nichts gegen
seine politischen Gegner. Am Ende rief er:
»Warum ist Hillary Clinton noch nicht an-
geklagt?« Es wirkte, als steckte Trump im
Jahr 2016 fest, als es noch gegen Clinton
Präsident Trump mit Corona-Beratern*: Nichts ist gewiss in Trumps Welt ging.
Um den Trend im Jahr 2020 noch zu
drehen, ist Trump nun schon bei den un-
werde bald bereitstehen. Vom Moderator kraten über ein weiteres Corona-Hilfs- tersten Schubladen angelangt. Offenkun-
der Sendung damit konfrontiert, dass der paket im Umfang von etwa zwei Billionen dig versucht er es dem brasilianischen
Chef der nationalen Behörde für die Seu- Dollar, das genaue Volumen war noch um- Autokraten Jair Bolsonaro gleichzutun,
chenbekämpfung in den USA, Robert Red- stritten, nicht aber die grundsätzliche Not- der die eigene Covid-19-Erkrankung
field, dies nicht so sehe und frühestens für wendigkeit des Pakets. und -Genesung als angeblichen Beweis
Mitte nächsten Jahres mit einem Mittel Der Federstrich war ein schwerer poli- dafür nahm, dass die Angst vor dem Virus
rechne, antwortete Trump: »Das sehe ich tischer Fehler, den Trump zu allem Über- maßlos übertrieben sei. Die amerikani-
anders.« fluss nur Stunden später und wiederum schen Zahlen widersprechen diesem Be-
Die Folgen solchen Hochmuts schlagen per Tweet wieder einfangen wollte, so als fund nur so eindeutig, dass sich Trumps
sich in den aktuellen Statistiken nieder. wäre er wirklich nicht mehr Herr seiner Thesen nicht mehr so recht durchsetzen
Rund 40 000 Menschen stecken sich in Sinne. So schrumpfen seine Chancen auf können.
den USA derzeit Tag für Tag mit dem eine Wiederwahl jetzt praktisch täglich, Die Mehrheit der US-Bürger ist schon
Coronavirus an, etwa 700 Menschen star- wenn nicht noch etwas geschieht, mit dem lange der Meinung, ihr Präsident manage
ben zuletzt täglich an Covid-19. In über er das Rennen auf den letzten Metern die Pandemie schlecht. Dass er sich selbst
20 Bundesstaaten ist das Virus wieder auf noch herumreißen kann. angesteckt hat, untermauert das nur noch.
dem Vormarsch. Am beunruhigendsten für den Amtsin- Die Zahl seiner Kritiker ist nun weiter ge-
Schlechte Zahlen, die für Trump nun haber ist, dass er in den nördlichen Staaten stiegen: Laut einer CNN-Umfrage glauben
umso verheerender werden, weil sich zeigt, Pennsylvania, Michigan, Wisconsin und zwei Drittel der US-Bürger, dass Trump
dass er mit seiner Politik nicht nur die Pan- sogar in Ohio an Boden verliert, in denen unverantwortlich mit dem Risiko umge-
demie, statt sie zu bremsen, angefacht hat. er vor vier Jahren die Wahl gewonnen hat. gangen sei, sich und andere mit dem Virus
Gleichzeitig ist ihm auch nicht gelungen, Es scheint nicht einmal ausgeschlossen, anzustecken. Vor allem Frauen und ältere
und das beschädigt nachhaltig seine auto- dass er auch Georgia verliert, einen Staat, Wähler sind von Trump enttäuscht – Wäh-
biografische Legende vom Macher und der zuletzt vor 28 Jahren – in der Ära Bill lergruppen, die Trump für einen Sieg un-
Meister des Deals, die Wirtschaft wieder bedingt brauchte.
in Gang zu setzen. Er hat eine Lose-lose- Die schlechten Umfragen sind nicht
Politik ins Werk gesetzt, es gibt nur Ver- Gefangen in der Pandemie verwunderlich. Trump hat während der
lierer, keine Gewinner mehr. Das gilt wo- Gemeldete Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 je vergangenen Monate so getan, als könnte
möglich auch für ihn selbst. 1 Mio. Einwohner, 7-Tages-Durchschnitt ihm das Virus nichts anhaben. Im Spott
Sein auf Twitter verbreiteter Gedanken- gegen seinen Konkurrenten Biden und die
200
strom trägt nicht erst seit seiner Erkran- maskentragenden Demokraten steckte die
kung und harten Medikation häufig Züge abstruse Idee, dass Krankheit eine Willens-
Quellen: Uno, Johns Hopkins
von geistiger Verwirrung. Trotzdem stach University, eigene Berechnungen USA frage sei. Diesen Unsinn hat Trumps eige-
Stand 8. Oktober
diese Woche ein Tweet weit heraus, der 136 ne Erkrankung für alle offenkundig wider-
vorübergehend die Kurse an der Wall legt. Und viele Amerikaner haben das
Europa*
Street in den Keller schickte und zu schar- 100
116 Video vom Montag gesehen, wie Trump
fen Reaktionen in der heimischen Indus- um Luft rang, nachdem er die Treppe zum
trie und in seiner eigenen Partei führte. Truman-Balkon erklommen hatte. Sieger
Trump verkündete, in ein paar Zeilen, das 50 sehen anders aus. Amerikanische Präsi-
Ende der Verhandlungen mit den Demo- denten auch.
* Taskforce-Koordinatorin Deborah Birx, Pandemie- 0
*ohne Ullrich Fichtner, Veronika Hackenbroch,
Russland
berater Anthony Fauci. René Pfister, Christoph Scheuermann
März Mai Juli September

18 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Dagmar Wöhrl, Familienunternehmerin & TV-Investorin:

„ Bei bevorstehenden Vertrags-


abschlüssen hat der persönliche
Kontakt immens hohe Bedeutung.“

Weil persönlicher Kontakt im


Business wichtig ist, tun wir alles
für mehr Sicherheit auf der Fahrt:

Wir reinigen vermehrt unterwegs,


bieten kontaktlose Ticketkontrolle
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Gemeinsam geht das.
bahn.de/sicherreisen
Deutschland

Thomas Lohnes / Getty Images


Baumhaus gegen Autobahn Mit Besetzungen im Dannenröder Forst in Hessen versuchten Umweltschützerinnen
und Aktivisten am letzten Wochenende, die Rodungen für den Bau der A 49 zu verhindern. Rückenwind
erhielten sie von der Spitze der Ökopartei: Die Bundesgrünen fordern, alle geplanten Bundesstraßen zu über-
prüfen und den A-49-Bau zu stoppen. Dem Klima zuliebe.

Kein Mandat für Verfassungsfeinde


Extremismus SPD-Landeschef fordert den Ausschluss von Demokratiegegnern aus Parlamenten.

 Der baden-württembergische SPD-Lan- Demos. Ende September hatte der baden- »In meiner Auffassung wiegt der Aufruf
desvorsitzende Andreas Stoch will Parla- württembergische Landtagsabgeordnete zum gewaltsamen Sturz der Regierung
mentariern, die extremistisches Gedan- Stefan Räpple in Mainz öffentlich zum schwerer«, schreibt nun Stoch. Er konsta-
kengut verbreiten, das Mandat entziehen. Staatsumsturz aufgerufen: »Wir müssen tiert, dass die Mandatsaberkennung bis-
In einem internen Schreiben an die Frak- uns gewaltsam Zutritt zum Kanzleramt her in acht Bundesländern möglich sei.
tionsvorsitzenden von Grünen, CDU und verschaffen.« Räpple war daraufhin aus Als eine weitere Verfechterin von ex-
FDP schlägt Stoch, zugleich SPD-Frak- der AfD-Fraktion ausgeschlossen worden, tremistischem Gedankengut in deutschen
tionschef, vor, in der Landesverfassung bleibt aber Parlamentarier. Parlamenten nennt Stoch die Ex-AfD-
»Sanktionsmöglichkeiten bis hin zur Man- Laut Landesverfassung ist eine Man- Frau Doris von Sayn-Wittgenstein. Sie ist
datsaberkennung« zu verankern. Als datsenthebung bislang nur möglich, wenn nach wie vor Landtagsabgeordnete in
Anlass nennt er die »zunehmende Radika- ein Abgeordneter seine Stellung »in Kiel und hatte 2014 für einen rechtsextre-
lisierung« im Zuge sogenannter Corona- gewinnsüchtiger Absicht« missbraucht. men Verein geworben. BHR

20 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


EU-Beschlüsse Kämpfer gegen Steuerschlupf- Alexander Neubacher Die Gegendarstellung
löcher besonders peinlich:

Hotspot Kreuzberg
Deutschland trödelt Eine Richtlinie mit »Vorschrif-
 Gegen die Bundesregie- ten zur Bekämpfung von
rung laufen 50 Vertragsverlet- Steuervermeidungspraktiken«
zungsverfahren durch die von 2016 wartet noch immer In Friedrichshain-Kreuzberg herrscht Recht und
EU-Kommission. Das geht aus auf ihre Umsetzung. Ordnung: Das Heizpilzverbot bleibt! Andere Ber-
einer Antwort des Wirt- Weniger auffällig sind liner Bezirke mögen wegen Corona neuerdings
schaftsministeriums auf eine etwa Umweltministerin ein Auge zudrücken. Friedrichshain-Kreuzberg
Anfrage des Abgeordneten Svenja Schulze (SPD), sechs nicht. Am Heizpilzverbot für Kneipen wird nicht
Markus Herbrand (FDP) her- Säumnisfälle, und Landwirt- gerüttelt, sagt die grüne Bezirksbürgermeisterin.
vor. Spitzenreiter sind mit je schaftsministerin Julia Klöck- Verstöße werden streng verfolgt.
zehn Fällen Wirtschaftsminis- ner (CDU) sowie Justizministe- Die harte Linie ist erstaunlich, steht sie doch im Kontrast
ter Peter Altmaier (CDU) und rin Christine Lambrecht (SPD) zum Legal-Illegal-Scheißegal, für das der Kiez und seine Politi-
Verkehrsminister Andreas mit je fünf. »Die schlechte ker weit über die Grenzen Berlins hinaus berühmt sind.
Scheuer (CSU), gefolgt von Umsetzungsquote kompromit- Corona-Pandemie? Bekümmert hier offenbar kaum jeman-
Olaf Scholz. Der Finanzminis- tiert die deutsche Ratsprä- den, wie der lässige Umgang mit Abstandsgeboten und die
ter und SPD-Spitzenkandidat sidentschaft«, bemängelt Her- dramatisch steigenden Infektionszahlen zeigen. Seit dieser
hat in neun Fällen versäumt, brand. Es sei blamabel, dass Woche betrachten mehrere Bundesländer Friedrichshain-
europäische Vorgaben in die Bundesregierung es Kreuzberg und seine Nachbarbezirke als Risikogebiete. Was
deutsches Recht zu überfüh- nicht schaffe, überfällige EU- wie ein Einreisestopp für Auswärtige und ein Ausreisestopp
ren. Für den selbst ernannten Beschlüsse umzusetzen. REI für Einheimische klingt; da werden bei älteren Berlinern Erin-
nerungen wach.
Kriminalität? Die Machenschaften der Clans galten jahre-
lang eher als Folklore, wie meine Kollegen Thomas Heise und
Rechtsterrorismus Anschläge auf Moscheen Claas Meyer-Heuer in ihrem Buch über arabische Großfami-
geplant haben. Welche Verbin- lien und ihre kriminellen Imperien beschreiben, das in dieser
TNT und dungen der in Polen lebende Woche erschienen ist. Das aktuelle »Lagebild Organisierte Kri-
Sprengkapseln Deutsche genau zur »Gruppe minalität« des LKA beschreibt dies so:
S.« hatte, werde noch geprüft, Der Bereich »geht einher mit einer Ableh-
 Der Ende September von hieß es. Die Festnahme von K. Was sind nung des in Deutschland vorherrschenden
polnischen Spezialkräften fest- erfolgte offenbar nach einem Corona, Werte- und Normensystems«.
genommene Jürgen K. wird Hinweis deutscher Ermittler Clans und Staatliches Gewaltmonopol? Just die-
dem Umfeld einer mutmaß- an die polnischen Kollegen. ses Wochenende wollen sich in der Liebig-
lichen rechtsextremen Terror- Wie die Landesstaatsanwalt- prügelnde straße wieder die Hausbesetzer mit der
zelle in Deutschland zugerech- schaft Danzig auf Anfrage Hausbesetzer Staatsmacht prügeln. In Haus Nummer 34
net. Nach Angaben aus Sicher- mitteilte, wurden bei Durch- im Vergleich hat sich vor Jahren ein »anarcha-queer-
heitskreisen soll der 62-jährige suchungen der Wohn- und zu Heizpilzen? feministisches Projekt« einquartiert, das
Elektriker zeitweise eine Kon- Arbeitsstätten von K. in der seither mit seinen Unterstützern die Nach-
taktperson der »Gruppe S.« Woiwodschaft Kujawien-Pom- barschaft terrorisiert, um sogenannte
gewesen sein, gegen die der mern auch 1,23 Kilogramm Gentrifizierer abzuschrecken, also praktisch alle, die pünktlich
Generalbundesanwalt wegen TNT-Sprengstoff entdeckt. Da- Miete zahlen. Es wurden Autos angezündet, Scheiben einge-
des Verdachts der Bildung ei- neben seien 15 Schuss Muni- schmissen und Anwohnern der Satz »Yuppie-Schweine, Schüs-
ner terroristischen Vereinigung tion sowie Sprengkapseln si- se in die Beine« ans Haus gesprüht, dabei zählten sich viele
ermittelt. Die Gruppe soll chergestellt worden. SRÖ, WOW Nachbarn doch ebenfalls zum linksalternativen Milieu.
Dass die Besetzertruppe nun endlich von der Polizei vertrie-
ben werden soll, geht nicht auf die Initiative der Politiker im
Bezirk zurück. Im Juni beschlossen die Bezirksverordneten auf
Antrag von Grünen und Linken eine Resolution, in der stand,
Nachgezählt dass die Liebigstraße 34 ein »einzigartiger Schutzraum« sei
Polizeinachwuchs bei
und mit seinem »solidarischen Kiezbezug« das Viertel präge.
Bund und Ländern
Viel Sympathie für militante Hausbesetzer zeigt vor allem

39200
Baustadtrat Florian Schmidt, Spitzname Gitarren-Flori, ein
Soziologe, der sich selbst als Aktivist bezeichnet. Unliebsame
Die Zahl der Polizeianwärter Immobilienprojekte bremst er mit der Macht des Bürokraten.
und -anwärterinnen hat sich Als jedoch in einem teilbesetzen Haus Stromkabel aus der
im vergangenen Jahrzehnt Wand baumelten und Falltüren beseitigt werden sollten, wies
mehr als verdoppelt.
er seine Behörde an, die Sache bis auf Weiteres zu ignorieren,
12800 von ihnen Brandschutz hin, Bauvorschriften her.
sind Frauen. Ich frage mich, was in Mitarbeitern des Ordnungsamts vor-
Zum Vergleich:
geht, wenn sie am Wochenende durch den Bezirk laufen,
17600
2010 waren
es 5600 Frauen. vorbei an Corona-Partys, Clans und prügelnden Hausbesetzern.
Bis sie einen Heizpilz finden, den sie aufschreiben können.
2010 2019
Quelle: Destatis; Zahlen An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen und Alexander Neubacher
gerundet, Stand Juni 2010 und Juni 2019 im Wechsel.

21
Nordrhein-Westfalen Chappattes Welt
Rüttgers Club
 Ein Treffen von Mitarbeitern des
Ex-Ministerpräsidenten von Nordrhein-
Westfalen Jürgen Rüttgers (CDU) in
einem Kölner Brauhaus bringt Teilneh-
mer in Erklärungsnot. Anfang Septem-
ber lud Tim Arnold, ehemals Chef der
NRW-Landesvertretung in Berlin, Ex-
Kollegen zum »Wiedersehen mit unse-
rem Freund und Staatsmann Prof. Dr.
Jürgen Rüttgers«. Arnold, heute Part-
ner der Unternehmensberatung Bos-
ton Consulting Group (BCG), schrieb,
es handle sich »um ein privates, in-
formelles Abendessen«, ergänzte aber,
dass er dazu »im Namen von BCG
herzlich einladen darf«. Offenbar im
Wissen, dass Beamte derlei Einladun-
gen in der Regel nicht annehmen dür-
fen, fügte Arnold im »P. S.« hinzu:
»Sollten Sie/solltet Ihr diese Einladung
aus dienstlichen Gründen nicht an-
nehmen können, sorgen wir selbstver-
ständlich für getrennte Rechnungen.« Außenpolitik SPIEGEL: Wären das nicht bloß warme
Auf die SPIEGEL-Anfrage an Staats- Worte?
sekretärin Annette Storsberg, wer
»Deutschland muss sich für Liebich: Nein. Es zeigt Solidarität. Hal-
ihren Teil der Rüttgers-Sause bezahlt Biden aussprechen« tung. Es wäre das Richtige. Als Frank-
habe, antwortete eine Mitarbeiterin reichs heutiger Präsident Emmanuel
des NRW-Kultusministeriums, Frau Linkenpolitiker Stefan Macron vor drei Jahren gegen die Rechts-
Ben Gross Photography

Storsberg habe »die Fahrtkosten Liebich, 47, Vizevorsitzen- extremistin Marine Le Pen antrat, hat
selbst getragen«. Patrick Opdenhövel, der der USA-Parlamen- der deutsche Regierungssprecher ihm
Staatssekretär im Finanzministerium, tariergruppe im Bundes- alles Gute gewünscht. Außenminister und
ließ seinen Sprecher ausrichten, sein tag, über Deutschlands Kanzleramtschef haben sich geäußert.
Chef sei nicht als Staatsdiener dort Rolle im US-Wahlkampf Das Mindeste wäre, dass Deutschland
gewesen: »Herr Dr. Opdenhövel sich jetzt so verhält wie damals. Das traut
hat die Einladung als Privatperson SPIEGEL: Herr Liebich, wie sollte sich sich aber niemand.
wahrgenommen.« BCG-Berater die Bundesregierung angesichts SPIEGEL: Vielleicht ja aus gutem Grund.
Arnold schrieb, er habe »sämtliche der bevorstehenden US-Wahl verhalten? Könnte eine Einmischung Deutschlands
Kosten« der Freibier-Runde mit Rütt- Liebich: Deutschland muss seine Neutra- in den USA Trump nicht sogar die Wäh-
gers übernommen – allerdings privat. lität aufgeben und sich für den Heraus- ler in die Arme treiben?
»Die von Ihnen zitierte Erwähnung forderer des amerikanischen Präsidenten Liebich: Davor wurde auch gewarnt, als
von BCG« habe er nur »gewählt, um Donald Trump aussprechen, für den es um Frankreich ging. Damals hat man
auf meinen aktuellen beruflichen Demokraten Joe Biden! Das ist kein nor- sich davon nicht abhalten lassen, das
Hintergrund hinzuweisen, wenngleich maler Wahlkampf. Es handelt sich Richtige zu tun. Jetzt sollte man das auch
die Formulierung sicherlich miss- nicht um den Wettstreit zweier Parteien, nicht tun.
verständlich war«. Für wen Arnold sondern es geht um den Fortbestand SPIEGEL: Ist es nicht im Interesse aller
arbeitet, konnten die Ex-Kollegen frei- der Demokratie. Das bedeutet auch für Nato-Bündnismitglieder, dass
lich schon in seiner Mailadresse lesen. uns eine Gefahr. Deutschland und die USA gesprächs-
Sie endet auf @bcg.com. AMP, GLA SPIEGEL: Würde denn ein Sieg des fähig bleiben?
Präsidenten tatsächlich das Ende der Liebich: Auch Auseinandersetzungen mit
US-Demokratie bedeuten? China oder Russland kosten etwas und
Liebich: Trump lügt laut »Washington erschweren die internationale Zusam-
Post« 16-mal am Tag. Er zweifelt an, dass menarbeit. Sie werden trotzdem geführt,
Biden ohne Wahlbetrug gewinnen kann. wenn sie geboten sind.
Er sichert keine friedliche Amtsübergabe SPIEGEL: Sie sagen, es mangle der
zu. Er zeigt immer mehr Anzeichen eines Bundesregierung an Mut. Was hält denn
Diktators. Also: Ja. aus Ihrer Sicht den deutschen Außen-
SPIEGEL: Ein Statement der deutschen minister davon ab, im US-Wahlkampf
Regierung würde allerdings kaum etwas Farbe zu bekennen?
am Wahlergebnis ändern … Liebich: Dann wird es noch ungemütli-
Liebich: … es würde aber denen in den cher, keine Frage. Aber Außenpolitik
Facebook

USA, die sich Sorgen um die Demo- muss Werte auch dann verteidigen, wenn
kratie machen, zeigen, dass ein wichtiger es etwas kostet. Deutschland muss sich
Rüttgers mit Gästen in Köln Verbündeter an ihrer Seite steht. für Trumps Abwahl einsetzen. JOS

22
Bundestagsfraktionen des Bundestags als Vorsitzen-
der des Haushaltsausschusses,
AfD-Propaganda kritisieren die Abgeordneten,
aus der Schweiz darunter Eckhardt Rehberg
(CDU), Otto Fricke (FDP)
 Der Vorsitzende des Haus- und Gesine Lötzsch (Linke).
haltsausschusses, Peter Boeh- Sie weisen Schäuble darauf
ringer (AfD), bekommt Ärger hin, dass sich Boehringer die
wegen einer Anzeige in der Anzeige von einem Schweizer
»Neuen Zürcher Zeitung«. In Privatmann habe sponsern

Mikael Grunwaldt / DER SPIEGEL


einem gemeinsamen Schrei- lassen, dem er ein paar Tage
ben an Bundestagspräsident später über Facebook gedankt
Wolfgang Schäuble (CDU) habe. Die Kosten dafür
werfen die Chefhaushälter der hätten sich auf 17 000 Schwei-
übrigen fünf Fraktionen dem zer Franken belaufen. In
AfD-Mann vor, er habe »meh- ihrem Schreiben äußern die
rere Grenzen überschritten«. Abgeordneten den Verdacht,
In seiner halbseitigen Anzeige Boehringer habe gegen das
vom 20. Juni verbreite Boeh- Parteiengesetz verstoßen, Die Augenzeugin
ringer »Verschwörungstheo- weil er eine zu hohe Spende
rien über die EU, die EZB und
die Flüchtlingspolitik«. Noten-
banker zum Beispiel bezeich-
aus dem Ausland annahm.
»Wir möchten Sie daher bit-
ten zu prüfen, ob der Vor-
»Kescher voll mit Müll«
nete er darin als »Herren des sitzende des Haushaltsaus- Die deutsche Ostseeküste hat Probleme mit Meeres-
›realen Falschgelds‹«. Nir- schusses sowohl gegen die müll. Rebecca Kain, 35, vom Umweltverband
gends lasse er erkennen, dass Verhaltensregeln für Mitglie- Nabu sammelt ihn in Rostock mit Hunderten Helfern
er AfD-Mitglied sei, stattdes- der des Deutschen Bundes-
ein – doch das allein reicht ihr nicht.
sen signiere er mit dem Adler tages verstoßen hat als auch
seine Rolle als Vorsitzender
des Ausschusses missbräuch-  »Ich habe ein festes Ritual: Immer, wenn ich hier in Rostock
lich verwendet hat«, fordern am Strand entlanglaufe, sammle ich mindestens drei Müllteile
die Parlamentarier Schäuble auf. Meistens werden es mehr, weil ich nicht aufhören kann.
auf. Auf Anfrage teilt Boeh- Mich ärgern vor allem Zigarettenkippen, die achtlos auf den
ringer mit, er habe nicht Boden und in den Sand geworfen werden. Die Filter der
Jakob Hoff / imago images

gewusst, dass es sich um eine Kippen sind aus Kunststoff, schlecht abbaubar und voll mit
Anzeige handelte. Er sei Giftstoffen aus dem Zigarettenrauch.
davon ausgegangen, dass ein Seit knapp zwei Jahren bin ich Projektkoordinatorin für den
Boehringer redaktioneller Beitrag vor- Naturschutzbund (Nabu) Mittleres Mecklenburg in Rostock.
gesehen war. REI Die Stadt hat ein riesiges Problem mit Meeresmüll. Das will
ich gemeinsam mit dem Nabu und anderen Institutionen und
Privatpersonen aus der Stadt lösen. Deshalb haben wir einen
›Meeresmüllstammtisch‹ gegründet und organisieren große
Union Berlin (plus 46), Sachsen- Küstenputztage. Dieses Jahr waren wir mit etwa 450 Helfern
Talfahrt gestoppt? Anhalt (plus 36) und Bran- in Rostock, um aufzuräumen. In nur zwei Stunden sind
denburg (plus 13) aus. Mit 920 Kilogramm Müll zusammengekommen, im letzten Jahr
 Zum ersten Mal seit drei Stand September hatte die waren es sogar 2,7 Tonnen. Beide Male hätten wir noch viel
Jahren verzeichnet die CDU Partei 401 519 Mitglieder. FLO mehr sammeln können.
in einem Monat einen positi- Je nach Küstenabschnitt gibt es anderen Müll. Am Strand in
ven Mitgliedersaldo. Stand Warnemünde sind viele Touristen, dort liegen meist Essens-
September liegt die Partei 128 778 CDU-Mitglieder verpackungen, im Hafen gibt es viele Kippen und im Osten der
im Plus. Mehr Eintritte als in Tausend Stadt hauptsächlich Industriemüll wie Folien, Styropor, Bau-
Austritte konnten die Konser- 617 schaum und Helme. Mir reicht es aber nicht, den Müll zu
vativen zuletzt im September sammeln. Kaum haben wir einen Abschnitt aufgeräumt, wird
2017 vermelden. Damals wieder Müll angespült oder weggeworfen. Stattdessen muss
lag der Saldo allerdings bei 505 die Industrie ihre Produktion ändern, wir müssen uns fragen,
gerade einmal plus 1. Die wo überall Plastik eingespart werden kann.
Christdemokraten leiden 402 Und wir müssen deutlich machen, was für ein großes Pro-
weniger an Austritten, sondern blem der Müll ist. Beim Nabu leite ich derzeit ein Umwelt-
aufgrund ihrer Altersstruktur bildungsprojekt. Ich erkläre Schulklassen den Fluss Warnow
eher daran, dass Mitglieder und die Küste und zeige ihnen, was hier lebt. Dafür habe ich
versterben. Besonders gute Quellen: Parteiangaben, einen Kescher dabei, nach wenigen Minuten ist er aber voll mit
Zahlen wiesen für den vergan- Oskar Niedermayer »Zeitschrift Müll. Spätestens dann spreche ich mit den Schülern auch über
für Parlamentsfragen« 2/2020;
genen Monat die Landesver- Jahresendwerte, 2020 Monatswert Umweltverschmutzung. Die meisten sind total entsetzt und
bände Niedersachsen (plus (gerundet) verstehen, dass sich etwas ändern muss. Auch deshalb habe ich
105), Nordrhein-Westfalen Sept. die Hoffnung noch nicht aufgegeben.«
1990 2000 2010 2020
(plus 100), Hessen (plus 69), Aufgezeichnet von Christian Volk

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 23


So gesehen

Es ist Ihr Urlaub


So geht’s ganz einfach: Trotz
Corona in die Herbstferien.
 Ausgerechnet in den Herbstferien
schlägt die Pandemie wieder zu – und
viele Eltern fragen sich: Können wir
jetzt noch die Oma besuchen?
Neueste US-amerikanische Erkennt-
nisse geben nun Entwarnung: Reisen
sind sogar möglich, wenn eine Corona-
Infektion vorliegt. Sie sollten nur einige

Stephan Schütze / dpa


wenige Vorsichtsmaßnahmen beachten.
1. Achten Sie auf eine angemessene
medizinische Grundversorgung. Stellen
Sie ein mindestens 30-köpfiges Team Merkel, Regierungsmaschine
aus Ärzten und Pflegepersonal unter
Leitung eines Osteopathen zusammen.
Ihr Gesundheitsamt ist Ihnen dabei Bundesregierung pläne – des Kanzleramts um 21 Prozent:
gerne behilflich. von 820 000 Euro auf 990 000 Euro,
2. Starten Sie eine Behandlung mit einem
Mehr Geld für Dienstreisen so Dürr. Nur vier Bundesministerien –
Cocktail aus Zink, Vitamin D, Famo- trotz Pandemie Familie, Finanzen, Gesundheit und
tidin, Melatonin, Aspirin und Remdesi- Justiz – setzen weniger Mittel 2021 an
vir aus der Apothe-  Trotz der Coronakrise steigt der Etat als in diesem Jahr. Gespalten ist die Aus-
Setzen Sie ke um die Ecke. vieler Bundesministerien für Dienst- gabepolitik im Auswärtigen Amt: Hier
Schlucken Sie zur reisen, wie Berechnungen des FDP-Haus- darf 2021 für inländische Dienstreisen
sich nicht Sicherheit auch haltspolitikers Christian Dürr zeigen. 18 Prozent mehr ausgegeben werden,
selbst noch das Steroid Die Gesamtkosten für Reisen der Mitar- für Reisen ins Ausland dagegen knapp
Dexamethason. beiter von Bundesministerien und 6 Prozent weniger. Angesichts der Krise
ins Cockpit Wegen der Begleit- Bundeskanzleramt sind im Etatansatz für fordert Dürr, Vize der FDP-Fraktion
Ihres Hub- erscheinungen 2021 gegenüber den Ausgaben 2014 im im Bundestag, eine Änderung der Reise-
Euphorie und/oder Bundeshaushalt stark gewachsen. Im praxis. »Die Corona-Pandemie hat
schraubers! geistige Umnach- Jahr 2014 gaben demnach alle obersten gezeigt, wie einfach man von Dienstrei-
tung aber sollten Regierungsbehörden 35,3 Millionen Euro sen auf digitale Treffen umsteigen kann«,
Sie sich einige Tage von ihrem Twitter- für Reisen ihrer Mitarbeiter aus, für so Dürr. »Das schont den Haushalt und
Account fernhalten. das Jahr 2021 sind 51,8 Millionen in den das Klima.« Laut einem Regierungsspre-
3. Eine experimentelle Antikörper-The- Etats angesetzt – eine Erhöhung um cher habe sich die Zahl der Stellen im
rapie wirkt möglicherweise Wunder! rund 47 Prozent. Spitzenreiter ist das Bundeskanzleramt von 2014 bis 2020
Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker Bundeskanzleramt, dessen Mittel für um rund ein Drittel erhöht. Das Kanzler-
lieber nicht nach Risiken und Neben- Dienstreisen im Haushaltsplan für amt habe »zusätzliche Aufgaben« im
wirkungen. 2021 gegenüber 2014 um 131 Prozent internationalen Bereich übernommen.
4. Setzen Sie sich nicht selbst ins Cock- zulegte. Allein zwischen 2020 und 2021 Auch seien kostengünstige Flugverbin-
pit Ihres Hubschraubers! Überlassen steigen die angesetzten Etats – Soll- dungen für den Bund entfallen. SEV
Sie den Transport qualifiziertem Fach-
personal. Keine Sorge, diese Leute wer-
den sich schon nicht anstecken.
5. Am wichtigsten jedoch: Es ist Ihr Vorratsspeicherung daten aller Bürger unzulässig sei. Bei
Urlaub. Lassen Sie das Virus nicht Ihr den sogenannten IP-Adressen, die
Leben dominieren.
Datensammeln gegen sich Internetnutzern zuordnen lassen,
Nach so einer kleinen Reise fühlen Kinderpornografie sieht das Gericht jedoch Spielraum –
Sie sich gleich 20 Jahre jünger. Gute in Abkehr von seiner bisherigen Linie.
Besserung! Stefan Kuzmany  Die Union drängt darauf, zur Bekämp- »Um die Verbreitung von Kinderporno-
fung von Kinderpornografie Internet- grafie zu unterbinden, sollten wir die
adressen mehrere Monate auf Vorrat zu Speicherung der IP-Adressen schnell
speichern. »In Tausenden Fällen kann ermöglichen«, sagt Frei. Er schlägt vor,
die Polizei Täter nicht ermitteln, weil die dies im Gesetz zur Bekämpfung sexua-
Daten, um Verdächtige zu identifizieren, lisierter Gewalt gegen Kinder zu ver-
nicht vorliegen«, sagt Unionsfraktions- ankern, das bald in den Bundestag gehen
vize Thorsten Frei. Bestätigt sieht sich soll. Die deutsche Regelung zur Vorrats-
der CDU-Politiker durch eine Entschei- datenspeicherung ist derzeit ausgesetzt,
dung des Europäischen Gerichtshofs. sodass Anbieter weder Internetadressen
Dieser hatte zwar erneut geurteilt, dass noch Telefonverbindungen ihrer Kunden
eine anlasslose Speicherung der Telefon- speichern müssen. WOW

24 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


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Deutschland

Tobias Schwarz / AFP

CDU-Politiker Spahn: Joker im Rennen?

Der vierte Mann


Union In der CDU wächst der Frust über die drei Kandidaten für den Vorsitz – die Unterstützung
für Jens Spahn steigt. Der steht nicht zur Wahl, doch viele halten ihn für den besten
Parteichef. Auch weil er den Weg für einen Kanzlerkandidaten Markus Söder frei machen könnte.

26
E
in Gespenst geht um in der CDU. einen Konsenskandidaten zu machen«. liebsten hätte ich euch heute persönlich
Es taucht in diesen Tagen auf, so- Und aus Spahn, der bislang lediglich als gesehen«, sagt der Minister, der auf zwei
bald sich in Berlin-Mitte zwei, drei Vize von Armin Laschet antreten will, »die Leinwänden erscheint. Er wünsche sich
oder mehr Bundestagsabgeordne- neue Nummer 1«. Löbel sagt: »Ich glaube, »eine CDU, die weltoffen ist«, doch nicht
te treffen. Es taucht in der Provinz auf, dass viele Mitglieder sich eine solche ein- vergesse, was sie präge. Nach knapp fünf
wenn dort Christdemokraten miteinander vernehmliche Lösung wünschen.« Minuten ist er fertig. »Seid gegrüßt und
reden. Das Gespenst taucht auf, wenn das Und schon wird aus einem Gespenst bleibt gesund, euer Jens.« Jubel. So sehen
Gespräch auf den Parteitag Anfang De- fast ein Kandidat. Punktsieger aus.
zember kommt, es ist gerade überall und Löbel ist kein Schwergewicht in der Par- Es ist nur eine Momentaufnahme, das
nirgends, sein Name ist Jens Spahn. tei, aber er ist einer der Ersten, die sich öf- schon. Aber eine, die zur Stimmung in der
Bevor das Gespenst auftaucht, so be- fentlich dazu äußern. Und er ist nicht al- Partei passt. Spricht man die drei Kandi-
richten es Teilnehmer solcher Gespräche, lein, es gibt noch mehr, die sich jetzt zu daten allerdings darauf an, wiegeln alle ab.
geht es erst mal darum, wer wohl nächster Wort melden. Die Frage ist, ob sich daraus Laschet glaubt, er werde schon deshalb
Parteichef wird. Armin Laschet, Friedrich bis zum Parteitag etwas entwickeln, ob gewählt, weil niemand in der CDU den
Merz oder Norbert Röttgen, die drei ste- eine Bewegung entstehen kann. Wie der Umsturz wolle. Merz glaubt, er schaffe es,
hen zur Wahl. Es dauert dann nicht lange, Weg zu einer solchen Lösung überhaupt weil die Union sich nach klaren Ansagen
bis die Defizite der Kandidaten zur Spra- aussehen könnte. Und vor allem: was das sehne. Röttgen meint, er gewinne, weil er
che kommen: der eine zu fahrig, der an- für die Frage heißt, die über allem schwebt, der natürliche Kompromisskandidat sei.
dere zu gestrig, der nächste zu arrogant. die Frage nach der Kanzlerkandidatur. Doch das Unbehagen über das Trio,
Oft sei man sich rasch einig, so wird es aus Zwei Monate sind es bis zum Parteitag. dieser Eindruck ergibt sich nach zahlrei-
der Partei berichtet: Leider überzeuge kei- Noch kann viel passieren. chen Gesprächen, wird von Tag zu Tag
ner der drei auf ganzer Linie. Das sei der Samstag, Tag der Deutschen Einheit, größer. Über Spahn hingegen sagt ein ost-
Moment, in dem das Gespenst auftauche. Köln: In der Festhalle Gürzenich trifft sich deutscher CDU-Bundestagsabgeordneter:
Was denn mit dem Jens sei oder dem die Junge Union, für Grußworte sind auch »Hinter ihm könnten sich alle sammeln,
Herrn Spahn? Ob der nicht antreten kön- die drei Kandidaten Laschet, Merz und und er könnte die Partei wieder einen.«
ne? Wäre der nicht der Beste? Röttgen eingeladen. Es ist ihr erstes öffent- Laschet hat sich in der Coronakrise eine
Das Problem: Jens Spahn, 40, Bundes- liches Aufeinandertreffen. Reihe unglücklicher Auftritte geleistet, in
gesundheitsminister, steht im Dezember
gar nicht zur Wahl. Noch nicht jedenfalls.
Es ist eine seltsame Stimmung, in der Auf Profilsuche zum Vergleich:
die CDU ihrem Parteitag entgegengeht. Beliebtheit der Kandidaten für den CDU-Vorsitz Jens Spahn Markus Söder
Was dort in zwei Monaten vollzogen wer- CSU
unter Unionsanhängern unterstützt als dessen
den soll, ist nicht weniger als ein Epochen- designierter Stellver-
wechsel: Wer in Stuttgart zum Vorsitzen- treter die Kandidatur 81
Kantar für den SPIEGEL vom 22. bis 24. September: von Laschet
den gewählt wird, hat beste Aussichten,
»Wichtige Rolle gewünscht…«, 259 befragte
Angela Merkel als Kanzler zu folgen, nach Anhänger der CDU/CSU
16 Jahren. Es könnte eine Zeit des Auf- 68
bruchs sein, ein Wettbewerb der Ideen. Ist
es aber nicht. Stattdessen fühlt es sich un- Friedrich Merz
gefähr so an wie im Ortsverband, wenn
noch ein Delegierter für den Kreisparteitag 51 % Norbert Röttgen
gewählt werden muss, aber eigentlich kei- Armin Laschet
ner Lust hat. Einer muss es halt machen. 41
Der Bundestagsabgeordnete Nikolas
Löbel spricht aus, was immer mehr Christ- 36
demokraten denken: »Wir haben drei re-
spektable und gestandene Persönlichkei-
ten als Kandidaten, aber keiner steht so
richtig für Aufbruch und Erneuerung.«
Das ist auch deshalb von Bedeutung,
weil Löbel aus Mannheim kommt, also
aus dem Landesverband Baden-Württem-
berg – von dem es immer wieder hieß,
Friedrich Merz habe ihn auf seiner Seite. Laschet beginnt. »Am Kurs der Mitte der CDU hat sich seither die Sorge festge-
Doch Löbel setzt nicht mehr auf Merz, dürfen wir nichts ändern«, ruft er in den setzt, dass es für den Ministerpräsidenten
stattdessen hofft er auf einen »Konsens- Saal. Er hält eine Sowohl-als-auch-Rede. von Nordrhein-Westfalen schlicht nicht rei-
kandidaten, der einerseits über Regierungs- Röttgen redet über sein »Projekt 2030«, chen könnte, ganz oben mitzuspielen. Und
erfahrung verfügt und andererseits als über »eine Politik der modernen Mitte«. während Merz die konservative Wende
Person für eine CDU der Zukunft steht«. Merz gibt den Nörgler. Die vergangenen verkörpert und Röttgen die Partei grüner
Wer das sein könnte? 16 Jahre seien »im Großen und Ganzen machen will, steht Laschet für – ja, für was
»Die aktuellen Umfragen zeigen dabei gute Jahre« gewesen, sagt er, doch es rei- eigentlich? Dafür, dass die CDU irgendwie
auf, dass nach der Bundeskanzlerin der che nicht, jetzt einfach so weiterzumachen. beieinander bleibt. »Ich kann die Leier
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Jeder der drei wird mit Standing Ova- jetzt schon nicht mehr hören«, sagt einer
die besten Umfragewerte in der Bevölke- tions entlassen, doch Euphorie löst keiner aus der Bundestagsfraktion.
rung erzielen kann.« Das, sagt Löbel, von ihnen aus – anders als Jens Spahn. Merz hat ein anderes Problem. Der frü-
könnte für die CDU doch »ein Wink mit Dabei ist der nur per Video zugeschaltet. here Fraktionschef ist bislang in so viele
dem Zaunpfahl sein, aus drei Kandidaten »Liebe Freundinnen und Freunde, am Fettnäpfe getreten, dass sich viele in der

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 27


Deutschland

Federico Gambarini / DPA


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Konkurrenten Röttgen, Laschet, Merz: Einer muss es halt machen

CDU fragen, wie er eigentlich einen Bun- Mangel an Masken und anderem Schutz- die Sache auszusitzen. Schließlich, so das
destagswahlkampf überstehen will. Weit material, der sich bereits früh abzeichnete. Kalkül, kommt es nicht auf Umfragen an,
verbreitet ist zudem das Gefühl, dass Merz Als er den Fehler bemerkte, drängte sein sondern darauf, die Mehrheit unter den
oft die ganz großen Fragen anspricht, sie Ministerium darauf, ein Exportverbot für 1001 Delegierten zu gewinnen.
nur leider nie wirklich beantwortet. Und Schutzmaterial zu erlassen. Die Bundes- »Ich arbeite gut mit Jens Spahn zusam-
viele fragen sich, ob einer, der mehr als regierung löste damit schwere Irritatio- men, wir telefonieren regelmäßig und stim-
ein Jahrzehnt lang draußen war, eine Par- nen bei den europäischen Partnerstaaten men die Grundlinien miteinander ab«, sagt
tei führen kann, geschweige denn ein Land. aus – getrieben von Spahn, der sich gern Laschet nur. Zurückziehen und den Ge-
Und Röttgen? Der Außenpolitiker und als Vorzeigeeuropäer gibt. Und als es im sundheitsminister antreten lassen? Kommt
ehemalige Bundesumweltminister macht Frühjahr um ein Verbot von Großveran- nicht infrage. So klingt es jedenfalls.
eine gute Figur in Talkshows, hat aber das staltungen ging, zögerte Spahn und ver- Schon die Debatte ist unangenehm für
Problem, seit 2012 so gut wie keine Freun- wies darauf, dass er formal gar nicht zu- Laschet, sie schadet seiner Autorität. Im
de mehr in Nordrhein-Westfalen zu haben. ständig sei. Spät reagierte er auch, als es Sommer gab es erste, vorsichtige Rufe
Damals scheiterte er mit dem Versuch, Mi- um Corona-Tests für Reiserückkehrer ging. nach einer Kandidatur Spahns, jetzt wer-
nisterpräsident zu werden, und verscherzte Das Muster war stets ähnlich: Spahn den die Forderungen an Laschet und den
es sich mit dem kompletten CDU-Landes- musste erst in Bedrängnis kommen, um Minister lauter, die Rollen zu tauschen. So
verband – der beim Parteitag immerhin zu handeln. Geschadet hat es ihm offenbar sagt Olav Gutting, CDU-Vorstandsmit-
fast ein Drittel aller Delegierten stellt. Rött- nicht, in Umfragen steht er gut da. Sein ei- glied und Abgeordneter aus Schwetzingen:
gen beteuert, er habe aus seinen Fehlern gentliches Problem ist ein anderes. »Ich würde mich mit vielen anderen freu-
gelernt – doch vielen ist er zu arrogant. Spahn hing lange das Image des Ehr- en, wenn Jens Spahn zur Wahl stünde.«
Berlin, Dienstag Mittag, Jens Spahn geizlings an, dem es um sich selbst geht Tino Sorge, Kollege aus Magdeburg, sagt
empfängt in seinem gut durchlüfteten Mi- und sonst nicht viel. Als Angela Merkel zu einer möglichen Spahn-Kandidatur:
nisterbüro. Er wirkt entspannt. 2018 ihren Rückzug vom CDU-Vorsitz an- »Meine Unterstützung hat er.« Zu Spahns
Spahn nimmt die Unzufriedenheit mit kündigte, hob er sofort die Hand, landete Anhängern gehört auch der Esslinger
den drei Kandidaten wahr, er hört die Rufe, aber hinter Annegret Kramp-Karrenbauer Abgeordnete Markus Grübel, bis 2018 Par-
er wird, so heißt es in der Partei, gerade und Friedrich Merz auf Platz drei. Hätte lamentarischer Staatssekretär im Vertei-
immer wieder angesprochen: ob er nicht er im Februar, als Kramp-Karrenbauer ihr digungsressort. »Er ist konservativ und
doch antreten wolle? Aber er will das alles Scheitern eingestand und den Weg frei kommt auch in Großstädten an«, sagt er.
nicht kommentieren, nicht in dieser heik- machte, erneut seine Kandidatur erklärt, »Spahn kann für seine Meinung streiten
len Lage. Seine Situation ist komfortabel. hätte er sein hässliches Image zementiert. und bleibt dabei verbindlich im Ton.«
Spahn dürfte bewusst sein, dass er kaum Von einer Pandemie und der Möglich- Grübels Kollege Michael Hennrich aus
so beliebt wäre, wenn er die ganze Zeit in keit, sich in der Krise zu profilieren, ahnte Nürtingen sagt: »Jens Spahn steht auch
der ersten Reihe gestanden hätte. Als Ge- Spahn damals offenbar noch nichts. Statt- für moderne Debattenkultur sowie Aufge-
sundheitsminister kommt ihm in der Co- dessen signalisierte er, indem er sich hinter schlossenheit gegenüber den großen The-
rona-Pandemie eine Schlüsselrolle zu. Hät- Laschet einreihte: Seht her, ich kann auch men der Gegenwart, was gerade auch von
te er für den Vorsitz kandidiert und damit dienen. In der Partei kam das gut an. der jüngeren Generation eingefordert
mittelbar Anspruch auf die Kanzlerkandi- Das hemmt ihn nun. Würde sich Spahn wird.« Außerdem habe Spahn »mit dem
datur erhoben, wären seine Fehler und von Laschet distanzieren, würde er mit Management der Coronakrise seine Feuer-
Versäumnisse wohl deutlich schärfer aus- einem Mal die alten Vorurteile über sich taufe bestanden«. Und Hennrich geht
geleuchtet worden. Es gab einige davon. bestätigen. Es müsste Laschet sein, der von noch einen entscheidenden Schritt weiter.
In der Anfangsphase ließ er die Dinge selbst beiseitetritt – doch der macht keine Der Parteivorsitz ist die eine Sache, hier
lange laufen und reagierte zu spät auf den Anstalten. Er scheint entschlossen zu sein, könnten viele Christdemokraten wohl

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auch mit Laschet oder Merz leben. Die an-
dere Sache ist die Frage, wie die Union bei
der Bundestagswahl abschneidet. Viele
Abgeordnete fürchten, dass sie mit einem
schwachen Kandidaten ihr Mandat verlie-
ren könnten. Daher wünschen sich auch
in der CDU immer mehr den derzeit be-
liebtesten Unionspolitiker als Kanzlerkan-
didaten: Markus Söder. Und auch hier
kommt Spahn eine Schlüsselrolle zu.
»Jens Spahn würde gemeinsam mit Mar-
kus Söder für einen echten Generationen-
wechsel stehen«, sagt Hennrich. »Deshalb
würde ich es sehr begrüßen, wenn Spahn
als CDU-Chef kandidiert.«
Das Gedankenspiel dahinter: Laschet
und Merz halten an ihrem Anspruch fest,
als Parteichef auch Kanzlerkandidat zu
werden. Einzig Röttgen lässt durchblicken,

Stephan Rumpf
dass er den Weg für Söder freimachen
könnte, doch seine Chancen gelten nach
wie vor als nicht besonders hoch. Bei
Spahn sähe das anders aus – und er ist im CSU-Chef Söder: »Es wird nicht nur eine Person gewählt, sondern auch ein Stil«
Gegensatz zu Laschet und Merz jung ge-
nug, um ohne Gesichtsverlust Söder die
Kandidatur zu überlassen. Mal angenom- findet er sich in Phase drei: Er schaut sich weise bescheidenen Wahlergebnisse in
men, der CSU-Chef würde Kanzler und an, was in der CDU passiert. Und wartet ab. Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg
bliebe es für zwei Amtsperioden – dann Mit Laschet hat er sich während der ers- angehängt bekommt? Es ist kompliziert.
wäre Spahn erst Ende vierzig. Und viel- ten Corona-Welle ein Duell geliefert: Sö- Es wäre Zeit für eine ordnende Hand,
leicht der geborene Nachfolger. der gab den Verfechter harter Einschnitte, für eine Autorität. Doch wer sollte das
Es ist acht Uhr morgens, als Markus Sö- Laschet den Anführer der Lockerungsfrak- sein? »Das Schiff treibt führungslos vor
der an der sächsisch-bayerischen Grenze tion. Mittlerweile hat Söder etwas abge- sich hin«, sagt einer, der die CDU von in-
steht, in den Händen hält er einen Kaffee rüstet – mit Laschet als CDU-Chef könnte nen kennt wie kaum jemand.
und eine Brezel. Es ist der Tag der Deut- er wohl besser leben als mit Merz. Neulich Annegret Kramp-Karrenbauer ist zwar
schen Einheit, Laschet, Merz und Röttgen stellte Söder sogar die Laschet-Biografie noch Chefin, hat aber nicht mehr viel zu
werden später in Köln auftreten. Der baye- zweier Journalisten vor. Zur Kanzlerkan- sagen. Als sie kürzlich die drei Konkurren-
rische Ministerpräsident trifft sich lieber didatur sagte er dort: »Es wird nicht nur ten öffentlich vor einem »ruinösen« Wett-
mit seinem sächsischen Amtskollegen Mi- eine Person gewählt, sondern auch ein Stil bewerb warnte, gab es Ärger. Bei einem
chael Kretschmer von der CDU, stapft mit und eine inhaltliche Richtung.« Treffen mit den Kandidaten musste sie sich
ihm über einen Feldweg und plauscht über dem Vernehmen nach einiges anhören.
seinen Großvater aus Leipzig. Auch das Wer also könnte vermitteln, schlichten,
ist ein Signal: Mir geht es nicht nur um »Das Schiff treibt vielleicht doch noch eine Einigung herbei-
Bayern, sondern ums ganze Land. führungslos vor sich hin«, führen? Die Lage ist so verfahren, dass
Eine ältere Dame tritt an ihn heran. »Ich manche sogar auf Angela Merkel und
verfolg’ Ihr ganzes Zeug in Bayern«, sagt sagt einer, der die CDU Wolfgang Schäuble hoffen. Nur sie, so das
sie. Söder zieht die Augenbrauen hoch und wie kaum jemand kennt. Kalkül, hätten wohl die nötige Autorität
tritt einen Schritt zurück. Er solle weiter- einzuschreiten. Das Planspiel geht so: Mer-
machen wie bisher, sagt die Frau. »Und kel bewegt Laschet zum Rückzug, Schäub-
bleiben Sie in Bayern, gehen Sie nicht nach Welcher Stil den Deutschen gerade der le seinen Ziehsohn Merz, anschließend
Berlin.« Einige Passanten lachen. liebste wäre, weiß er genau: seiner. wäre der Weg frei für das Duo Spahn und
»Lassen Sie sich von dem, wie heißt er Aber wie könnte die Spahn-Söder- Söder. Eine hübsche Theorie. Aber die
noch mal, dem Laschet. Lassen Sie sich Operation überhaupt gelingen? Idee dürfte schon an Merkel scheitern: Sie
von dem nicht provozieren!« Söder macht Söder darf sich ebenso wenig wie Spahn will sich weiterhin raushalten.
ein genervtes Gesicht. »Gut«, druckst er, bei irgendetwas erwischen lassen. Er müss- Jens Spahn dürfte nun ohnehin erst mal
dann verlässt er rasch die Szenerie. te gerufen werden. Sollte er selbst nach anderes zu tun haben. Mit der zweiten
Vor einigen Monaten hätte Söder wo- der Kandidatur greifen, könnte sich die Corona-Welle und den rasant steigenden
möglich noch anders reagiert. Mittlerweile CDU das kaum gefallen lassen. Infektionszahlen ist er auch als Gesund-
hört er die Aufforderung, in Bayern zu Spahn wiederum weiß, dass er keines- heitsminister wieder stärker gefordert.
bleiben, offensichtlich nicht mehr so gern. falls wie Söders Steigbügelhalter wirken Und womöglich muss sich Spahn dem-
Was die Frage einer möglichen Kanzler- darf. Er sagt: »Wer sich für den CDU-Vor- nächst mit der unangenehmen Frage be-
kandidatur angeht, ist er durch mehrere sitz bewirbt, muss den Anspruch haben, schäftigen, ob in dieser Lage ein Parteitag
Phasen gegangen. In Phase eins ließ er Kanzlerkandidat der Union zu werden.« mit 1001 Delegierten Anfang Dezember
noch jedes Interesse dementieren. Dann Und dann ist da noch die Frage, wann überhaupt stattfinden kann.
kam Corona, Söder stieg informell zum eigentlich über diese Kandidatur entschie- Lukas Eberle, Florian Gathmann,
obersten Krisenmanager auf, seine Umfra- den werden soll. Gleich nach dem Partei- Christoph Hickmann, Timo Lehmann,
gewerte stiegen mit. Es folgte Phase zwei, tag? Oder lieber erst im Frühjahr, damit Veit Medick, Sabrina Winter
Söder begann zu kokettieren. Derzeit be- nicht der Kanzlerkandidat die möglicher-

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Deutschland

Sonja Och / DER SPIEGEL


Tennisspieler Hujer, Söder: »Es gibt die, die einfach draufhauen, aber dann auch die mit Drall«

Winning Ugly
Karrieren Lange war Markus Söder fast jedes Mittel recht, um nach oben zu kommen.
Jetzt, da er die Nummer eins ist, versucht der bayerische Ministerpräsident,
lässig zu sein. Auch auf dem Tennisplatz, wo er zu einer Revanche antritt. Von Marc Hujer

M
arkus Söder war 13 Jahre alt, Nach der Schule ging Söder auf den Gilbert war zwar nie die Nummer eins,
als er zum ersten Mal Tennis Tennisplatz, forderte andere Jungs heraus aber die Besten seiner Zeit hat er alle mal
spielte. Sein Vater Max, Mau- und schaute Mädchen in Tennisröckchen geschlagen: John McEnroe, Jimmy Con-
rermeister aus der Nürnber- hinterher. nors, Boris Becker, Andre Agassi. Am
ger Westvorstadt, hielt nicht viel von Als er gut genug war, spielte er mit der Ende seiner Karriere schrieb er ein Buch,
Sport, erst recht nicht von Tennis. Wenn Vereinsmannschaft in der Bezirksliga. Er das er »Winning Ugly« nannte, »hässlich
er schon Sport treiben wolle, riet ihm der wurde von einem Kroaten trainiert, »dem gewinnen«, und als Ratgeber für »mentale
Vater, solle er lieber einen Kasten Bier in Jugo«, der ihn mit Brad Gilbert verglich, Kriegsführung im Tennis« verkaufte.
den Keller tragen. einem amerikanischen Tennisprofi, der in Er beschreibt darin, wie er die Großen
Sein erster Schläger war einer von In- den Achtzigerjahren für seine hässliche zur Verzweiflung trieb, zum Fluchen, zum
tersport für 20 Mark. Zur Konfirmation Art, Tennis zu spielen, gefürchtet war. Gil- Schlägerwerfen, ja zu dem Entschluss, die
bekam er einen besseren geschenkt, einen bert spielte bodenständiges Tennis, ohne Karriere zu beenden, auch aus Scham, ge-
Völkl-Schläger aus Carbon. Seine Mutter spektakuläre Schläge, quälte aber seine gen ihn verloren zu haben.
zahlte ihm heimlich Trainerstunden beim Gegner mit Psychotricks und unangeneh- »Wenn ich gegen Spieler wie ihn verlie-
ATV Nürnberg, und so lernte er alles, was men Schlägen und gewann. re«, zitiert Gilbert McEnroe, »was soll ich
man als Tennisspieler können muss: Vor- Markus Söder fand das interessant: ein noch auf dem Platz?« »Winning Ugly«
hand, Rückhand, Aufschlag, Volley und Mann, der die Hässlichkeit seines Spiels wurde ein Bestseller, weltweit.
Smash, auch den Unterschied zwischen zu einer speziellen Form von Cleverness Auch Markus Söder hat das Buch ge-
Topspin und Slice. erhob. lesen.

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Vor dem Spiel Zwei Jahre zuvor haben Söder und auf dem Tennisplatz noch so viel Minis-
Wenn das Match beginnt, hat es schon ich ein Match gespielt, das er gewann, terpräsident wie möglich zu bleiben, gera-
längst begonnen. wenn man es tatsächlich ein Match nen- de er, der lange für seinen Hang zu Ver-
Brad Gilbert, »Winning Ugly« nen will. Denn mehr als zwei Aufschlag- kleidungen bekannt war.
spiele wollte er nicht spielen, bis es ent- Bevor er Regierungschef wurde, war die
An einem Februarmorgen im Jahr 2020 weder 1:1 oder 2:0 für den einen oder den Prunksitzung des Fastnacht-Verbandes
sitze ich in der Tennishalle des 1. FC Nürn- anderen stand. Franken in Veitshöchheim bei Würzburg
berg und warte auf Markus Söder. Wir sind Ein ganzes Match war ihm zu lang, ein sein wichtigster Termin, das größte baye-
zum Tennisspielen verabredet, zum zwei- ganzer Satz ebenfalls. Nach zwei Auf- rische Fernsehereignis mit rund vier Mil-
ten Mal. schlagspielen führte Söder 2:0, er spielte lionen Zuschauern; mehr Menschen auf
Das erste Mal ist zwei Jahre her, gleicher überraschend fehlerfrei dafür, dass er, wie einen Schlag konnte er für den Rest des
Ort, ein Morgen Anfang März, ebenfalls er sagte, zuletzt kaum auf dem Platz ge- Jahres kaum erreichen. Der Aufwand, den
die Tennishalle des 1. FC Nürnberg, und standen hatte. Keinen einzigen Doppelfeh- er dafür betrieb, war außergewöhnlich
doch liegen zwischen diesen beiden Tagen ler machte er, auch keinen leichten Fehler, groß. Ein Maskenbildner, den er eigens
Welten. weder mit der Vorhand noch mit der Rück- vom Nürnberger Staatstheater engagierte,
Damals war Söder noch nicht Minister- hand. Ans Netz ging er nie, er wartete auf verwandelte ihn in jeweils mehrstündigen
präsident, sondern lediglich designiert, meine Fehler. Sitzungen in die Figur seiner Wahl.
noch nicht CSU-Vorsitzender, sondern Ich verlangte schon damals eine Re- Mal ging er als Shrek, mal als Homer
lediglich Vorstandsmitglied, er stand vanche. »Noch mal zwei Aufschlagspiele«, Simpson, mal als Marilyn Monroe, mal als
kurz davor, die Spitze zu erstürmen. rief ich ihm über das Netz hinweg zu. Eisbär »Flocke« aus dem Nürnberger Zoo
Den letzten Machtkampf mit Horst See- »Wenigstens einen Tiebreak!« Aber er oder als Punk im schwarzen Muskelshirt
hofer, dem Ministerpräsidenten und CSU- schüttelte den Kopf. Ich würde jetzt ohne- mit der Aufschrift: »Hast Du mal nen
Vorsitzenden, hatte er noch nicht ge- hin gewinnen, wegen meiner besseren Euro?«, eine Verkleidung, mit der er es
wonnen. Kondition. 2012 sogar auf die Titelseite des »Wall
Als ich damals zur Tennishalle lief, rief »Ich schenke Ihnen das Spiel«, rief er Street Journal« schaffte.
mich seine Pressesprecherin an und wollte demonstrativ großzügig. Im Fasching 2018 schließlich, dem letz-
wissen, wie lange ich noch brauchen wür- Tennisspieler teilen ihre Gegner gern ten, bevor er Ministerpräsident wurde, trat
de. Es überraschte mich: Der Anruf kam in zwei Kategorien ein: auf der einen Seite er als Prinzregent Luitpold auf. Seitdem
zehn Minuten vor dem vereinbarten Ter- die Spieler, die alles beherrschen, die tech- kommt er unverkleidet. Er ist jetzt, auch
min, ich war vielleicht zwei Minuten ent- nisch perfekt und vielseitig sind, die eigent- im Fasching, nur noch er selbst.
fernt. Aber ich fühlte mich ertappt. Söder lichen Stars, die man für ihr Spiel respek- Als ich ihn das erste Mal zum Tennis
war offenbar schon da und wartete auf tiert, ja verehrt; auf der anderen Seite die traf, hatte er sich dafür sein »Wimbledon-
mich. Ich bekam ein schlechtes Gewissen sogenannten Schüttler, Zurückspieler, die Shirt« herausgesucht. Ein gestreiftes Polo-
und war, noch bevor das Match begonnen sich vor allem dadurch auszeichnen, dass hemd mit einem Wimbledon-Emblem, das
hatte, in der Defensive. sie jeden Ball zurückschlagen, egal wie. Sie er bei einem Besuch des Tennisturniers al-
Über Söder heißt es, dass er immer strampeln sich ab, und was sie vor allem ler Tennisturniere gekauft hatte.
schon dort ist, wo seine Gegner erst hin- brauchen, ist Zähigkeit und Kondition. In dieser Zeit schien er offenbar zu glau-
kommen wollen. Als Landesvorsitzender Es ist deshalb nicht unbedingt freund- ben, er müsse, was Weltläufigkeit betrifft,
der Jungen Union stand er im Ruf, auf je- lich gemeint, wenn ein Spieler dem ande- noch etwas beweisen. Sein Rivale Horst
dem Schrebergartenfest der Erste zu sein ren eine »bessere Kondition« bescheinigt. Seehofer reiste damals als bayerischer Re-
und im Zweifel auch noch das Fass Bier Als Markus Söder endlich die Tennis- gierungschef um die Welt und schickte ihm
selbst mitzubringen. halle des 1. FC Nürnberg betritt, folgt ihm vergiftete Grüße in die fränkische Provinz,
Später, als bayerischer Minister der Fi- eine Gruppe älterer Männer, unter denen aus Peking etwa, wo Seehofer im Kaiser-
nanzen, für Landesentwicklung und Hei- auch der langjährige stellvertretende Vor- palast auf einem goldenen Stuhl Platz
mat, verteilte er regelmäßig neue Förder- sitzende der Tennisabteilung des 1. FC nahm und den Mitreisenden erklärte, auf
bescheide, die er auch persönlich übergab, Nürnberg ist, der Söder nicht nur den so einem Stuhl würde der Markus jetzt
lud Kommunalpolitiker zu Heimatempfän- Herrn Ministerpräsidenten nennt, sondern sicher auch gern sitzen.
gen ein oder bedachte sie mit Ehrungen. »unseren Landesvater«. Aber das hat Söder nun hinter sich. In-
Wenn es darum ging, Mehrheiten zu orga- Söder hat einen breiten, leicht schwan- zwischen war er im Kreml und sprach dort
nisieren, hatte er die entscheidenden Leute kenden Gang, ein Baumstamm auf Beinen, eine halbe Stunde lang mit Wladimir Putin.
schon angerufen, bevor andere es tun konn- der auch seit seiner Wahl zum Minister- Er empfing auf der Münchner Sicherheits-
ten. Damals hieß er der »Immer da«-Söder, präsidenten nicht eleganter geworden ist. konferenz Staats- und Regierungschefs
der es stets schaffte, allen zuvorzukommen. Er trägt einen Trainingsanzug des 1. FC und ist jetzt alles, was er immer werden
Nur diesmal nicht, das hatte ich mir fest Nürnberg, schwarz, nur mit dem rot-wei- wollte: Ministerpräsident, CSU-Parteivor-
vorgenommen. ßen Vereinswappen auf der linken Brust, sitzender, sogar als Kanzlerkandidat für
Ich bin weit vor der vereinbarten Zeit dazu schwarze Allzweckschuhe, die auch die Bundestagswahl 2021 ist er im Ge-
da. Aber diesmal versucht er nicht einmal, gut zu einem schwarzen Anzug passen spräch. Er muss kein Wimbledon-Shirt
pünktlich zu sein. würden. Es ist, als versuchte er, selbst mehr tragen.
Am Tag zuvor hat sich wieder einer sei- »Naaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa«, sagt
ner Sprecher gemeldet, um zu erfahren, Söder zur Begrüßung, befreit seinen
was ich von Söder wolle, außer ein biss- Schläger von der Hülle, greift einen
chen Tennis mit ihm zu spielen und ihn Mal ging er als Shrek, der Tennisbälle, die ich mitgebracht
dabei fotografieren zu lassen, was er bei
unserer ersten Begegnung auf dem Platz
mal als Homer Simpson, habe, und beginnt, den Ball mit dem Schlä-
ger auf den Boden zu prellen.
nicht zulassen wollte. Ich sage seinem mal als Marilyn Monroe, »Ich weiß, Sie haben jetzt monatelang
Sprecher, ich würde ihn gern zu einer mal als Eisbär »Flocke«. trainiert«, sagt Söder. »Aber für ein Match
Revanche herausfordern. haben wir heute keine Zeit.«

33
Deutschland

Aufschlag »Kennen Sie Max Wünschig?«, fragte


Ich möchte, dass Sie wie eine Boa con- mich Söder bei unserem ersten Treffen.
strictor spielen. Wissen Sie, wie eine Boa Man muss den Namen nicht kennen. Max
constrictor tötet? Sie erdrückt ihre Beute Wünschig war mal deutscher Meister im
nicht. Sie sorgt dafür, dass ihre Opfer ersti- Herreneinzel. Es gibt größere Idole im
cken. Jedes Mal, wenn das Opfer ausatmet, Tennis. Aber Söder redet über Wünschig,
zieht die Boa constrictor die Schlinge um als hätte man etwas verpasst, wenn man
den Körper des Tieres ein wenig enger. Das noch nie von ihm gehört hat. »Max Wün-
Opfer kann immer weniger Luft einatmen. schig, der Slicegott. Siebzigerjahre«, sagte
Und irgendwann kann es überhaupt nicht Söder, »sein Slice war wirklich wie ein
mehr atmen. Keine großen Aktionen. Nur Strich.«
ein ständiger Druck. Der Slice ist Söders Lieblingsschlag, er
Brad Gilbert, »Winning Ugly« ist eklig für den Gegner, weil der Ball sich
langsam in den Platz gräbt, kaum ab-

COLORSPORT / SHUTTERSTOCK
Markus Söder überlegt, wann er zuletzt springt und schwer zu retournieren ist.
Tennis gespielt hat, ich habe ihn gar nicht Man muss sich bücken, und wenn man
danach gefragt. »Ich hab das letzte Mal ge- nicht seinerseits mit einem Slice antworten
spielt …«, sagt er und macht eine lange will, muss man den Ball auf kürzester Dis-
Kunstpause, die offenbar demonstrieren tanz wieder beschleunigen, also einen
soll, wie ernsthaft und intensiv er darüber Tempowechsel wagen, der nicht ohne Ri-
nachdenkt. »Letztes Jahr irgendwann«, Tennisprofi Gilbert 1986 siko ist. Der Slice ist eine Folter, vor allem
fällt ihm schließlich ein. »Wie eine Boa spielen« für einen Topspinspieler wie mich.
Würde man die vergangenen Jahre in Nachdem wir weniger als fünf Minuten
Markus Söders Karriere als Tennismatch lang Bälle hin und her gespielt haben, sagt
beschreiben, müsste man sagen, dass er in landet, schlägt er ihn nicht zurück, viel- Söder: »So, jetzt haben wir’s doch bald.«
glatten zwei Sätzen gewonnen hat, ein leicht nur, um sich nicht übermäßig anzu- Sein Pressesprecher wendet sich an die
Durchmarsch ohne Spielverlust. strengen, vielleicht aber auch, um das Ri- Fotografin: »Haben Sie’s im Kasten?«
Er dreht mir den Rücken zu, um an die siko zu minimieren, nicht optimal zum Aber die Fotografin bittet Söder, ob er
Grundlinie zu gehen. Ball gestanden zu haben, was einfach nicht noch kurz im Aufschlagfeld spielen kann,
»Klein- oder Großfeld?«, rufe ich ihm gut aussieht auf Fotos. näher am Netz.
hinterher. Söder produziert gern Bilder. Mit Par- Söder zögert; es könnte ein Bild entste-
Gerade wenn man wie Söder lange teifreunden. Mit Landräten. Auf Schützen- hen, das ihm möglicherweise nicht gefällt.
nicht gespielt hat, ist es üblich, sich kurz festen. Er ließ sich mit Fernglas, Kapitäns- »Da werden die Leute wahrscheinlich sa-
im Kleinfeld zwischen Netz und Aufschlag- mütze und Steuerrad fotografieren, um sei- gen, die zwei Kerle können gar kein Tennis
linie einzuspielen, ein paar Schläge, um in ne Sympathie für die Binnenschifffahrt zu spielen, die spielen doch Babytennis«, sagt
den Rhythmus zu kommen. demonstrieren, er besorgte sich eine Ang- Söder. Dann aber macht er es doch.
Aber für Söder kommt es nicht infrage, lerhose, um als Minister für ein Foto am Wir schlagen ein paar Bälle, Söder eher
klein anzufangen. Er will gleich im ganzen Wöhrder See in Nürnberg ein paar Setz- widerwillig. »Es macht nur leider keinen
Feld spielen, mit voller Kraft von der linge Schilfgras in den Boden einzupflan- Spaß«, sagt er.
Grundlinie aus. zen, damit jeder sieht, wie sehr er hinter Wir beginnen, Volleys zu spielen, bei
»Kein Babytennis«, ruft er mir zu. der sogenannten Renaturierung des Nürn- denen der Ball nicht den Boden berührt.
Es gibt ein Bild von Markus Söder, das berger Sees steht. Das macht ihm mehr Spaß.
oft verbreitet wird: ein skrupelloser Macht- Bilder sind ihm meist wichtiger als die Er meint jetzt: »Wir sollten vielleicht
mensch, dem jedes Mittel recht ist, um nach Geschichten, die dazu geschrieben werden. zusammen Doppel spielen.«
oben zu kommen. Seehofer sprach gern Bilder bleiben. Im Doppel kommt es, mehr als beim
von Söders »Schmutzeleien« und verband Es ist nicht das erste Mal, dass sich Mar- Einzel, auf Volleys an.
damit auch die unausgesprochene Unter- kus Söder auf dem Tennisplatz aufnehmen Wir schlagen ein paar schnelle Volleys,
stellung, es sei Söder gewesen, der den Me- lässt. Aber auf den Fotos, die es vor unse- dann versuche ich einen Lob, einen hoch
dien Informationen über Seehofers unehe- rem Treffen gab, stand er nur da, den und weit über ihn gespielten Ball. Er
liches Kind gesteckt habe, um sich im Schläger vor der Brust, lächelnd, schweiß- schmettert. Ich lobbe noch mal. Er schmet-
Machtkampf mit ihm einen Vorteil zu ver- frei, entspannt. Er vermied Bilder, die ihn tert wieder.
schaffen. Ein Vorwurf, den Söder, der selbst mitten im Spiel zeigen. Es gibt viel, was Die Fotografin, die Söder endlich in Be-
ein außereheliches Kind hat, immer bestritt. dabei nicht gut aussehen kann. Ein ver- wegung sieht, ruft begeistert: »Noch mal!«
Er würde das Bild gern korrigieren, zerrtes Gesicht. Gerötete Haut. Zu viel Aber das ist Söder zu viel. Er möchte
jetzt, da er niemanden mehr beiseiteräu- Schweiß. Diesmal aber will er eine Aus- die Kontrolle nicht aus der Hand geben.
men muss, um nach oben zu kommen, zu- nahme machen. »Nee«, sagt er, »zweimal reicht. Das ist
mindest in Bayern. »Locker, nicht zu verbissen«, ruft Söder, ein Foto, kein Stress.«
Söder steht an der Grundlinie und spielt so will er heute spielen. Der Pressesprecher, der noch immer
schöne, gerade Bälle, er holt aus, lässt den an der Seitenlinie steht, versteht das
Schläger hinter dem Rücken sinken, dann Wort »Stress« offenbar als klares Sig-
schlägt er zu und schwingt nach vorn aus, nal seines Chefs zu intervenieren. Er
eine runde Bewegung mit großer Schleife, »Da werden die Leute wendet sich an die Fotografin, die
so wie er sie lehrbuchgemäß beigebracht wahrscheinlich sagen, noch am Netz kniet und auf das nächste
bekommen hat. Foto wartet, und fragt wieder: »Wie
Er scheint bedacht darauf zu sein, dass die zwei Kerle spielen schaut’s aus, alles im Kasten?«
alles gut aussieht, locker, schwerelos, doch Babytennis.« »Machen wir die Runde noch fertig«,
schweißfrei. Wenn ein Ball knapp im Aus sagt Söder. »Dann ham wir’s jetzt.«

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Deutschland

Rückschlag Vor ihm steht jetzt die Fotografin, die


Wenn Sie einen Zahnarzt besuchen, sind ihn gern weiter fotografiert hätte, aber Sö-
Sie mental vorbereitet. Sie sagen sich: »Es der erzählt ihr lieber etwas über Tennis.
wird sicher schmerzhaft, aber es ist bald Bei Spielern, die Tennis nicht so richtig
vorbei.« Sie nehmen eine gewisse Haltung beherrschen würden, sagt er, könne man
an. In dem Augenblick, in dem Sie »Mund das an der Bewegung analysieren. »Der
auf, es wird ein bisschen wehtun« hören, brutalste Schlag ist der Aufschlag, wer’s
sind Sie mental auf Schmerzen eingestellt. nicht so richtig kann, macht’s so.« Er zeigt
Gegen einen Zurückspieler sollten Sie ge- einen Aufschlag, absichtlich ungelenk, so

dpa
nau das Gleiche tun. Bereiten Sie sich da- wie man sich einen Rentner beim Feder-
rauf vor, leiden zu müssen. Ehepaar Söder* ballspielen vorstellt.
Brad Gilbert, »Winning Ugly« »Der brutalste Schlag ist der Aufschlag« Und dann richtig, so wie er es macht
und alle anderen richtigen Tennisspieler.
Söder packt den Schläger in die Hülle, »Die ganze Bewegung hier aus dem
plötzlich hat er es überhaupt nicht mehr an einen Besuch des Hallenbads, in dem Knie heraus«, sagt Söder und zeigt, wie
eilig. er regelmäßig trainiert. man den Ball hochwerfen und dann zu-
Er zählt seine größten Sportidole auf. Und so vergingen Wochen und Monate, schlagen muss, am maximalen Punkt, ma-
Boris Becker. Lothar Matthäus. Michael bis wir uns in Nürnberg am Wöhrder See ximale Streckung. »Und dann gehst du so
Groß. zum Sonntagsspaziergang trafen, im Fe- nach vorn«, sagt er, zieht den beschriebe-
Becker ist klar: Tennisspieler, jüngster bruar 2018. Es war viel zu kalt zum nen Schwung nach und lässt sein Gewicht
Wimbledonsieger, ein logischer Held sei- Schwimmen, aber in diesem Moment er- auf den rechten Fuß fallen. »Da musst du
ner Jugend. Matthäus: Franke wie er, eben- schien es mir als die beste Annäherung aufpassen, dass du dich extrem aufwärmst,
falls ein deutscher Held, auch wenn er an das, was seine eigentliche Leiden- sonst kannst du dich echt verletzen.«
trotz seiner großen Erfolge immer ein biss- schaft war. Söder ist bei den unterschiedlichen Auf-
chen belächelt wird. Es war Karnevalssonntag um elf Uhr, schlagarten angekommen. »Es gibt die, die
Aber Groß, der dreifache Olympiasie- kein gewöhnliches Wochenende für ihn, einfach draufhauen«, sagt Söder. »Aber
ger im Schwimmen? weil das der Sonntag vor seiner großen dann auch die mit Drall.« Vor allem fürs
»Schwimmen fand ich bei den Olympi- Rede zum politischen Aschermittwoch in Doppel seien die wichtig.
schen Spielen faszinierend«, sagt Söder. Passau war, seiner ersten, mehr als einstün- »Beim Doppel kannst du nicht Kra-
Das sei damals noch in der »Sportschau« digen Grundsatzrede als designierter Mi- wumm machen«, sagt Söder, »deshalb
gezeigt worden. Es ist nicht ganz klar, wa- nisterpräsident, in der er den Bayern ab- musst du beim Doppel schauen, dass du
rum das für Groß als Idol sprechen soll, solute Treue versprechen sollte: »Ich bin den Ball möglichst weit rausbringst. Ich
aber vielleicht ging es ja nur um dessen der Markus, da bin i dahoam, und da will schau mir immer Borg oder McEnroe an,
Erfolg und natürlich das Schwimmen. ich auch bleiben.« vor allem McEnroe.«
Söder spielt nämlich nicht nur gern Auf diesem Spaziergang um den Wöhr- Er stellt sich an die Aufschlaglinie, um
Tennis, er schwimmt auch gern. der See erzählte er mir, was man über einen John-McEnroe-Aufschlag vorzuma-
Beim Schwimmen hat Markus Söder sei- ihn und Nürnberg wissen muss, über seine chen, die beiden Füße nicht wie üblich
ne spätere Frau, die Unternehmertochter Verdienste als Sohn dieser Stadt und über schräg oder leicht seitlich zur Grundlinie,
Karin Baumüller, kennengelernt, an einem den Wettbewerb, den er sich mit dem lang- sondern parallel dazu. »Der McEnroe war
Sommertag im Jahr 1992 im Nürnberger jährigen SPD-Oberbürgermeister Ulrich Wahnsinn«, sagt Söder.
Naturgartenbad, wo er mit ihr über das Maly um Heimatverbundenheit lieferte. Er pendelt mit dem Schläger hin und
Thema Sonnenbrand ins Gespräch kam. Gerade hier am Wöhrder See, der früher her, wie es McEnroe vor jedem Aufschlag
Selbst als Politiker ist er schwimmen ein großer stinkender Tümpel war und gemacht hat, einmal, zweimal, dreimal,
gegangen, gern auch öffentlich. heute die »Wasserwelt im Herzen Nürn- dann wirft er einen imaginären Ball in die
Es gibt ein Video von Söder im Wöhrder bergs« genannt wird, mit drei aufgeschüt- Höhe, lässt den Schläger in den Rücken
See, den er im Sommer 2016 in einem teten Inseln und einem Badestrand, der fallen, dreht seinen Oberkörper zum Netz
Ganzkörperanzug durchquert. Er wirkt im Volksmund »Söderstrand« heißt oder und schlägt zu. »Diese extreme Drehung«,
ein bisschen atemlos, als er dabei sagt: auch »Söder Bay«. sagt Söder voller Bewunderung.
»Hallo, ich schwimm in der Norikusbucht, Wir setzten uns in die Cafeteria des Pfle- Dann steht er wieder am Netz, breitbei-
sensationell, geb zu, ein bisschen kalt, aber geheims Sebastianspital mit Blick auf das nig, mit seinem Schläger vor der Brust,
echt sauber, das Wasser.« Nicht unbedingt Wasser, bestellten ein Stück Sahnetorte und sagt, bei Boris Becker sei das ganz an-
eine Sternstunde seiner Karriere, aber ein und redeten weiter, bis Söder irgendwann ders gewesen, die Wucht, mit der er Tennis
immer wieder gern angeklicktes Video, den ATV Nürnberg erwähnte, seinen ehe- gespielt habe, der Beckerhecht, die Becker-
das zumindest beweist, dass er brust- maligen Tennisklub. faust, der Schweiß, die Tränen. »Bei Becker
schwimmen kann. »Sie spielen also Tennis?«, fragte ich ihn. war alles: uaaaaaahhhhhh«, sagt Söder,
Bevor ich auf die Idee kam, mit Söder »Nicht mehr so oft«, sagte er. um den Unterschied zu demonstrieren. Er
Tennis zu spielen, wollte ich mit ihm Aber wer einmal Tennis kann, verlernt lächelt zufrieden.
schwimmen gehen. Wir konnten uns erst es nicht. War es bei Becker nicht ein bisschen
nicht darauf einigen, wann und wo. Söder wie bei ihm?
gefiel die Idee, im Starnberger See schwim- Nichts fiel Söder einfach so zu. Er
men zu gehen, genau an der Stelle, an der musste stets ein bisschen früher als
König Ludwig II., Bayerns Märchenkönig, »Ich bin an dem Tag, an andere aufstehen und stets ein biss-
im Jahr 1886 ein letztes Mal in den See dem Becker Wimbledon chen länger bleiben, um erfolgreich zu
gestiegen war. Ich hielt das für zu viel Kla- sein. Er hat nie etwas bekommen, nur weil
mauk, ich dachte eher an etwas Normales, gewonnen hat, Vereins- man ihn nett fand oder weil er bewundert
meister geworden.« wurde.
* Als Marge und Homer Simpson zu Fastnacht 2017. »Wie alt sind Sie?«, fragt Söder.

36
»Ein Jahr jünger als Boris Becker«, ant-
worte ich.
Flexibel bleiben.
»Unsere Generation«, stellt Söder zu-
frieden fest.
Lesen Sie den SPIEGEL,
Er ist Beckers Jahrgang, aber mit Becker
verbindet ihn mehr.
»Ich bin an dem Tag, an dem Boris Be-
solange Sie möchten.
cker zum ersten Mal Wimbledon gewon- Frei Haus.
nen hat, bei uns Vereinsmeister gewor-
den«, sagt Söder, »im Doppel.«
Der SPIEGEL jede Woche direkt nach Hause
Die ganze Zeit habe er sich kaum auf Rund 4% sparen.
sein eigenes Spiel konzentrieren können. Für nur € 5,30 pro Ausgabe statt € 5,50 im Einzelkauf
Ständig habe er gefragt: »Wie steht’s beim
Becker, wie steht’s beim Becker?« Und als Ohne Risiko.
er dann vom Platz kam, begannen gerade Jederzeit kündbar, Urlaubsservice möglich
die letzten Spiele des entscheidenden Sat-
Vergünstigte Tickets.
zes, und er, der gerade frisch gekürte Ver-
einsmeister, saß verschwitzt vor dem Fern- Für ausgewählte SPIEGEL-Veranstaltungen
seher und drückte Becker die Daumen, der auf www.spiegel-live.de
dabei war, Nationalheld zu werden.
Söder weiß nicht mehr, ob er sein eige-
nes Match in zwei oder drei Sätzen gewon-
nen hat, aber das, behauptet er, sei ihm
völlig egal gewesen.
Es sei ihm nur um Boris Becker gegangen.
Nach dem Spiel
Einfach jetzt anfordern:
Ihre Gegner werden sagen: »Hey, deine
Schläge haben sich doch gar nicht verbes-
abo.spiegel.de/flexibel
sert. Wie kommt es, dass du mich plötzlich oder telefonisch unter 040 3007-2700
schlägst?« Legen Sie ein Lächeln auf und
(Bitte Aktionsnummer angeben: SP-FLEX)
antworten Sie: »Es war heute einfach mein
Tag, glaube ich.«
Brad Gilbert, »Winning Ugly«
Keine
Die Fotografin will zum Abschluss noch
Mindest-
ein Porträtfoto am Netz machen, Söder laufzeit
im Stehen. Söder stellt sich breitbeinig ne-
ben das Netz, nimmt seinen Schläger vor
die Brust und verschränkt die Arme davor.
Die Fotografin hält das für keine beson-
ders vorteilhafte Pose, aber Söder besteht
darauf.
»Tennisspieler machen das so«, sagt er.
»Die halten den Schläger genau so.«
Er wird langsam ungeduldig. Warum
glaubt sie ihm nicht?
»So sind alle Tennisspieler«, sagt Söder,
»so schützen die ihre Schläger, von Borg
bis McEnroe, von Connors bis Ðjoković,
schauen Sie mal die alten Bilder an.«
Die Fotografin gibt nach.
Als sie ihn schließlich in der gewünsch-
ten Pose aufgenommen hat, ruft er ihr zu:
»Schicken Sie mir auch mal ein Bild?«

Diese Geschichte finden Sie auch im neuen


Buch von SPIEGEL-Redakteur Marc Hujer

Auch nur ein


Mensch. Politiker
und ihre Leiden-
schaften – und
was sie uns über
sie verraten
SPIEGEL-Buch bei DVA;
288 Seiten; 24 Euro

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 37


Deutschland

»Uns droht eine zweite Welle,


wenn wir jetzt nicht schnell und
entschieden handeln«
SPIEGEL-Gespräch Kanzleramtschef Helge Braun, 47 (CDU), warnt vor einem
exponentiellen Anstieg der Corona-Infektionen, fordert Menschen aus
Risikogebieten auf, nicht zu verreisen, und hofft auf einen Impfstoff im nächsten Jahr.

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL

Krisenmanager Braun

SPIEGEL: Herr Braun, befinden wir uns und Winter nicht in vollem Umfang auf- Braun: In Städten wie in Berlin geht es
noch am Anfang oder schon mitten in der rechterhalten werden können. Die Vorsicht nicht darum, den Anstieg zu begrenzen
zweiten Corona-Welle? in der Bevölkerung muss insgesamt wieder oder zu verlangsamen. Sondern das Ziel
Braun: Wir haben derzeit einen flächen- steigen. Bei einzelnen Hotspots muss man muss ganz klar sein, wieder unter eine In-
deckenden Anstieg der Infektionen, und wiederum zielgerichtet vorgehen und zeit- zidenz von 50 zu kommen, also in einer
wir haben in Großstädten wie Berlin oder lich begrenzte Einschränkungen verhän- Woche deutlich weniger als 50 Neuinfek-
in Bremen eine extreme Zunahme. gen, damit haben wir bislang gute Erfah- tionen pro 100 000 Einwohner zu haben.
SPIEGEL: Was wollen Sie tun? rungen gemacht. Mehr Sorgen bereitet uns SPIEGEL: Ist die Berliner Landesregierung
Braun: Wir brauchen weiterhin eine Mi- die Entwicklung in einzelnen Großstädten, da konsequent genug?
schung verschiedener Maßnahmen. Allge- wo es ein diffuses Infektionsgeschehen gibt. Braun: Ich habe mir vorgenommen, nicht
mein kann man sagen, dass die Freiheiten, Hier ist Konsequenz gefragt. einzelne Noten zu verteilen. Aber jeder
die wir den Sommer über hatten, im Herbst SPIEGEL: Das heißt? Oberbürgermeister, jeder Senat einer be-

38 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


troffenen Großstadt muss jetzt hart daran sperren und Quarantäneanordnungen, das SPIEGEL: Zur Wirtschaft gehören aber
arbeiten, eine Wende herbeizuführen. Es mildere Mittel ist. Einige Länder waren auch die Tourismusbranche, Gastronomie,
dauert ohnehin zehn Tage, bis die Maß- auch nach langem Ringen dagegen, aber die Veranstaltungsbranche und der Kultur-
nahmen greifen, aber dann müssen die ein komplett einheitliches Vorgehen war betrieb. Was sagen Sie denen?
Zahlen auch wirklich nach unten gehen. in dieser Lage nicht hinzubekommen. Uns Braun: Das sind die Wirtschaftszweige,
Und dazu braucht es Konsequenz. Erwei- allen ist bewusst, dass das viele Probleme die jetzt besonders betroffen sind. Denen
terte Maskenpflichten reichen nicht aus, mit sich bringt. müssen wir mit staatlicher Unterstützung
da muss es auch Beschränkungen geben, SPIEGEL: Wer trotz dieses Beherbergungs- durch diese schwierige Zeit helfen. Es wäre
vor allem bei Feiern und Veranstaltungen, verbots verreisen will, muss einen aktuel- aber falsch, in diesen Bereichen jetzt eine
die nach jetzigem Stand der relevanteste len negativen Corona-Test vorlegen. Tou- Art von Normalität zu ermöglichen, die
Treiber des Infektionsgeschehens sind. risten sollen also Testkapazitäten wegneh- es gerade nicht geben kann. Das würde
Eine Hochzeit im Herbst 2020 kann eben men, die für ernste Fälle benötigt werden? nur dazu führen, dass die gesamte Wirt-
keine große, ausgelassene Feier sein. Die Braun: Sowohl die Länder als auch die schaft zum Erliegen kommt.
kann man im nächsten Jahr nachholen. Bundesregierung appellieren eindringlich SPIEGEL: Ist der Kontrollverlust über-
SPIEGEL: War die Politik zu nachlässig und an die Menschen aus Risikogebieten, Rei- haupt noch zu verhindern?
hat über den Sommer ein falsches Sicher- sen in diesem Herbst nach Möglichkeit zu Braun: Ja. Uns droht aber eine zweite Wel-
heitsgefühl entstehen lassen? vermeiden. Es ist doch klar, dass zum Bei- le, wenn wir jetzt nicht sehr schnell und
Braun: Die Entwicklung konnte man so spiel in den Berliner Bezirken mit einer sehr, sehr entschieden handeln. Das heißt,
nicht vorhersehen. Als die Reisesaison be- hohen Inzidenz nicht die Kapazität be- dass die Beschränkungen und Regeln auch
gann, waren die Zahlen flächendeckend steht, allen Urlaubern pünktlich vor der durchgesetzt werden müssen, zum Bei-
niedrig. Dann ist Folgendes passiert: In Abfahrt einen Test zu ermöglichen. Unse- spiel durch Kontrollen und über empfind-
den Ländern um uns herum wurde eben- re Prioritäten liegen ganz woanders. liche Bußgelder. Es ist eben kein Kavaliers-
falls gelockert, und zwar auch dort, wo der SPIEGEL: Wo liegen diese Prioritäten? delikt, wenn Gäste in der Gastronomie
öffentliche Gesundheitsdienst nicht so leis- Braun: Es geht jetzt darum, dass die Men- ihre Kontaktdaten nicht angeben oder ir-
tungsfähig ist wie hier. Dort sind die Zah- schen weiter arbeiten können, dass Schule gendwelche Fantasienamen eintragen und
len dann sehr schnell wieder gestiegen – und Bildung funktionieren, dass unser Ge- die Gesundheitsämter dann tagelang ver-
und das führte auch bei uns zu einem Wie- sundheitswesen funktioniert. Alles andere suchen müssen, etwas nachzuvollziehen,
deranstieg. Im August gingen 50 Prozent wird in diesem Herbst und Winter ein was eigentlich auf einen Blick klar sein
unserer Infektionen auf Reisende aus dem Stück hinten anstehen müssen. Das wird müsste.
Ausland zurück. Das war natürlich eine nicht leicht, das ist mir klar. SPIEGEL: Eine Sperrstunde, wie sie jetzt
schlechte Ausgangsposition für den Herbst. SPIEGEL: Welche Perspektive können Sie in Berlin gelten soll, ergibt so etwas Sinn?
SPIEGEL: Sie sagen, das konnte niemand den Menschen geben? Braun: Ja, ich finde das richtig und wichtig.
vorhersehen. Aber genau das hätte doch Braun: Die Signale aus der Forschung an Wir alle wissen doch aus Erfahrung, dass
jeder Laie vorhersehen können. einem Impfstoff sind sehr optimistisch. Es die Menschen sorgloser werden, je mehr
Braun: Noch einmal: Die Zahlen waren besteht also Hoffnung, dass wir im nächs- Alkohol im Spiel ist. Von daher finde ich
nicht nur bei uns, sondern in ganz Europa ten Jahr schrittweise den Alltag normali- es gut, wenn von einer bestimmten Uhr-
so niedrig, dass es schlicht keine Recht- sieren können. Vorher müssen wir aufpas- zeit an Schluss ist.
fertigung gab, den Menschen den Sommer- sen, dass die Wirtschaft nicht noch einmal SPIEGEL: Treiben Sie damit die Menschen
urlaub zu verbieten. Trotzdem hat mich in eine Lage kommt wie im Frühjahr. Das nicht erst recht in die Innenräume, wo
das Reisegeschehen schon damals sorgen- würde sie schwer treffen, wir hätten dann nichts mehr kontrolliert wird?
voll gestimmt. Es ist ja kein Geheimnis, auch große Nachteile gegenüber Ländern Braun: Grundsätzlich am wichtigsten ist
dass Mobilität die Verbreitung einer sol- wie China und Südkorea, die sich gerade in dieser Krise die Bereitschaft der Bevöl-
chen Krankheit stark begünstigt. sehr diszipliniert verhalten und wirtschaft- kerung, mitzumachen und achtzugeben.
SPIEGEL: Führen Sommerurlaub, Partys lich auf einem guten Weg sind. Dort lässt Da kann ich nur an jeden Einzelnen ap-
und Hochzeiten dazu, dass bald wieder sich studieren, dass eine positive ökono- pellieren, nicht immer nur darüber nach-
Schulen und Kitas schließen müssen? mische Entwicklung und niedrige Infek- zudenken, was erlaubt ist und was kon-
Braun: Es gibt keine Veranlassung, darü- tionszahlen Hand in Hand gehen. trolliert wird – sondern sich immer wieder
ber pauschal nachzudenken, so wie es in zu fragen: Wie schütze ich mich am wirk-
der ersten Jahreshälfte war, als wir noch samsten? Und wie helfe ich am besten da-
wenig über das Virus wussten. Das sollten Es geht wieder los bei, eine Ausbreitung zu verhindern, und
wir auch unbedingt vermeiden. Bildungs- Gemeldete Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 schütze damit andere, die ein höheres Ri-
einrichtungen dürfen nicht als Erstes, in Deutschland siko für einen schweren Verlauf haben?
sondern müssen als Letztes geschlossen 6000 Quelle: RKI, Stand 8. Oktober SPIEGEL: Der mit Corona infizierte US-
werden. Präsident hat gesagt, man solle das Virus
SPIEGEL: Wir sitzen hier in Berlin-Mitte. nicht das eigene Leben dominieren lassen.
Wenn wir von hier aus verreisen wollten, Der Bonner Virologe Hendrik Streeck
dürften wir nach heutigem Stand in Bay- 4000 warnt davor, das Virus überzudramatisie-
Tageswert 4058
ern nicht übernachten, in Bremen schon. ren. Übertreibt die deutsche Politik?
Wie sollen die Menschen das verstehen? Braun: Der Blick ins Ausland erklärt ei-
Braun: Ich habe am Mittwoch lange mit 7-Tages- gentlich alles. In den Ländern, die die Kon-
den Chefs der Staatskanzleien in den Bun- Durchschnitt 2632 trolle über die Infektionszahlen verlieren,
2000
desländern darüber gesprochen, welche leidet auch die Wirtschaft dramatisch.
Maßnahmen die richtigen sind. Mir war Und irgendwann kommt der Punkt, an
wichtig, dass nicht jeder seine eigenen dem das Gesundheitssystem überlastet ist.
Konsequenzen zieht. Am Ende ist das tou- Kein Land schafft es zu sagen: Das halten
ristische Beherbergungsverbot herausge- wir jetzt aus. Am Ende kommen dann
kommen, das, verglichen mit Einreise- Feb. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. doch harte Beschränkungen.

39
Deutschland

SPIEGEL: Der Virologe Streeck sagt, dass hält sich sehr vorsichtig. Hinzu kommt:
auch die von der Kanzlerin prognostizier- Durch die Abstandsregeln hindern wir
ten knapp 20 000 Neuinfektionen am Tag auch alle anderen herbstlichen Infektions-
zu bewältigen seien, da sich eben mehr krankheiten an der schnellen Verbreitung.
Junge anstecken, deren Krankheitsverlauf SPIEGEL: Im März haben Sie im SPIEGEL-

Andreas Chudowski / DER SPIEGEL


milder ist. Hat er recht? Gespräch gewarnt, dass man sich das Ver-
Braun: Diejenigen, die sich in diesem Som- halten der Bevölkerung genau ansehen
mer getraut haben, in den Urlaub zu fah- werde. Was ist Ihr Appell für den Herbst?
ren, waren eher die Jüngeren. Die Älteren Braun: Ich erinnere an den Appell der
sind aus eigenem Antrieb viel vorsichtiger Kanzlerin am Ende ihrer Haushaltsrede:
und infizieren sich weniger, was erklärt, Es kommt jetzt auf uns alle an. Wir können
dass wir momentan so wenige schwere Fäl- uns im Herbst und Winter nicht alle Frei-
le haben. Aber wenn die Infektionszahlen Braun beim SPIEGEL-Gespräch* heiten nehmen, die wir uns in anderen Jah-
sehr hoch sind, wird der Schutz der beson- »Sehr, sehr optimistisch« ren genommen haben. Wir müssen vor-
ders gefährdeten Gruppen immer schwie- sichtiger sein. Dann wird sich die Welt im
riger. Und es steigt die Gefahr, dass es zu mal, in diesem Herbst könnte es so weit Frühjahr ganz anders darstellen. Und dann
einer Infektion etwa in einem Pflegeheim sein. haben wir die Chance, dass Deutschland
kommt. Die Vorstellung, wir könnten auf Braun: Da kann man nichts versprechen. wirklich gut durch diese Krise kommt.
einem hohen Niveau das Infektionsgesche- Wir sehen momentan, dass es eine ganze SPIEGEL: Ist Corona vielleicht doch eine
hen kontrollieren, ist falsch. Wir haben Anzahl von Impfstoffen gibt, die jetzt Krise ohne Ende?
nur die Wahl: Entweder wir halten es nied- schon am Menschen getestet werden und Braun: Wenn wir in diesem Herbst nicht
rig, und die Gesundheitsämter schaffen die tatsächlich eine Immunität vermitteln. diszipliniert durchhalten und die Wirt-
das. Oder wir verlieren diese Kontrolle, Da kann es beim einzelnen Impfstoff im- schaft erneut einbricht, werden wir die
dann verbreitet sich das Virus sehr rasant mer auch Rückschläge geben, und nicht wirtschaftlichen Folgen noch sehr lange
in der Bevölkerung. jeder wird zur Zulassung kommen. Aber spüren. Dann hat die Krise zumindest ein
SPIEGEL: Das Konzept der Herdenimmu- weil es so viele sind und auch die ersten sehr langes, trauriges Ende. Das fände ich
nität, wonach möglichst viele erkranken Firmen in die Zulassungen gehen, bin ich bitterschade.
müssen, um dann immun gegen Corona sehr, sehr optimistisch, dass wir im nächs- SPIEGEL: Könnten uns Luftfilter helfen,
zu sein, ist vom Tisch? ten Jahr einen Impfstoff haben werden. besser über den Winter zu kommen?
Braun: Um das Virus auf diese Weise aus- SPIEGEL: Damit ist es aber noch nicht ge- Braun: Ja, wir haben für die Umrüstung
bremsen zu können, müsste über die Hälf- tan. Dann müssen ja auch möglichst viele von Filteranlagen ein 500-Millionen-Pro-
te der Deutschen die Infektion durchge- geimpft werden. gramm auf den Weg gebracht, weil gerade
macht haben. Selbst wenn man dafür ei- moderne Filteranlagen stark auf Umluft
nen Zeitraum von anderthalb Jahren setzen. Das ist energetisch sehr günstig,
nimmt, müssten sich jeden Tag 80 000 »Wir können uns aber für die Virenbekämpfung eben nicht
Menschen anstecken. Ich glaube nicht, im Herbst und Winter so günstig.
dass wir dann noch sagen können: Unser SPIEGEL: Was ist mit Massentests?
Gesundheitswesen steckt das locker weg. nicht alle Braun: Einfach blind zu testen ergibt an
Wenn wir das Gefühl hätten, es wäre aus- Freiheiten nehmen.« vielen Stellen keinen Sinn. Es wird ja jetzt
sichtslos, dass wir bald einen Impfstoff Schnelltests geben, aber auch die brauchen
kriegen, dann müsste man anders nach- medizinisches Fachpersonal. Und sie ha-
denken. Aber es gibt eine echte Chance, Braun: Dann wird es sicher noch etliche ben eine andere Aussagekraft. Sie finden
deshalb müssen wir über den Winter die Monate dauern, bis wir genügend Impf- heraus, ob ich akut ansteckend bin, aber
Infektionszahlen niedrig halten. stoff bekommen und impfen. Darauf be- sie können nicht ausschließen, dass je-
SPIEGEL: Bei welcher Zahl werden Sie reiten wir uns logistisch vor, und wir wid- mand infiziert ist und danach ansteckend
richtig nervös? Wann lässt sich die Kurve men uns der Frage, wer wann geimpft wer- wird. Außerdem sind auch da die Kapazi-
nicht mehr umdrehen? den soll. Wir haben die Ständige Impfkom- täten über den nächsten Winter hinweg
Braun: Es gibt nicht die eine Zahl. Alar- mission beim Robert Koch-Institut beauf- nicht unbegrenzt. Deswegen müssen sie
mierend wäre ein exponentielles Wachs- tragt, diese Fragen mit der Nationalen Aka- im Gesundheitswesen eingesetzt werden
tum, weil das bedeuten würde, dass man demie der Wissenschaften Leopoldina und und in Schulen und Kindergärten.
die Kontrolle über die Infektionsketten dem Ethikrat frühzeitig zu beantworten. SPIEGEL: Wünschen Sie sich den März
verliert. Wir müssen die Infektionskontrol- SPIEGEL: Durch Corona gab es bei uns bis- zurück, als die Ministerpräsidenten mit
le behalten, das heißt: Wir informieren die lang keine Übersterblichkeit, es sind also Ihnen und der Kanzlerin noch an einem
Kontakte so frühzeitig und schicken sie in durch die Pandemie nicht mehr Menschen Strang gezogen haben? Das ist jetzt ja
Quarantäne, dass einer, der sich infiziert als sonst gestorben. Ist das Virus weniger nicht mehr so.
hat, höchstens einen weiteren ansteckt. tödlich als gedacht? Braun: Es ist ein ständiges Ringen darum,
SPIEGEL: Wenn das nicht gelingt, kann Braun: Nein, das glaube ich nicht. Denken einheitliche Standards zu finden. Es muss
man nicht mehr viel tun? Sie an die Bilder aus dem Kreis Heinsberg ja nicht alles gleich sein, aber schon ver-
Braun: Dann steckt einer im Schnitt drei und die damals höhere Sterblichkeitsrate. gleichbar. Das schaffen wir im Wesent-
bis fünf andere an, und es geht rasant auf- Mittlerweile ist es so, dass in unserem lichen immer noch.
wärts. Und deshalb ist das, was wir in Ber- Gesundheitswesen vorbildlich gearbeitet SPIEGEL: Herr Braun, wir danken Ihnen
lin-Mitte in den letzten Tagen gesehen ha- wird. Im Gegensatz zum Beginn haben für dieses Gespräch.
ben, nämlich ein exponentielles Wachs- wir vergleichsweise wenige Fälle in Pfle-
tum, wirklich alarmierend. geheimen. Und die ältere Bevölkerung ver-
Lesen Sie auch auf Seite 62
SPIEGEL: Wie sicher sind Sie, dass wir im
‣ Wie die Coronakrise das Nachtleben
nächsten Frühjahr tatsächlich auf einen * Mit den Redakteuren Christoph Hickmann und Mar- zerstört hat
Impfstoff hoffen können? Es hieß schon tin Knobbe im Bundeskanzleramt in Berlin.

40 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


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Deutschland

Fluchtpunkt Berlin
Diplomatie Regimekritiker aus der ganzen Welt suchen Hilfe in der deutschen Hauptstadt. Die belarussische
Oppositionsführerin Tichanowskaja erhielt allerdings vor allem symbolische Unterstützung.

S wetlana Tichanowskaja ist mit nichts


als ihrer Hoffnung nach Berlin ge-
kommen. An ihrem ersten Abend in
der deutschen Hauptstadt steht die bela-
zu werden, ebenfalls nach einem Gift-
anschlag.
Auch Dissidenten anderer Länder füh-
len sich von der deutschen Hauptstadt an-
Im Bundestag sprach Merkel anerken-
nend vom »Mut der Frauen« in Belarus,
die »für ein freiheitliches, von Korruption
freies Leben« auf die Straße gingen: »Ich
russische Oppositionsführerin in einem gezogen. Der türkische Journalist Can bewundere das.« Den Anschlag auf Na-
großen Saal, eine schlanke Frau in hellem Dündar hat hier eine neue Heimat gefun- walny hatte die Kanzlerin ungewöhnlich
Rock und dunkler Bluse mit streng zurück- den. Die Witwe des Friedensnobelpreis- scharf und direkt verurteilt.
gebundenem Haar. trägers Liu Xiaobo lebt seit zwei Jahren »Die Bundeskanzlerin ist stinksauer auf
Bei ihrer Rede ist ihr anzumerken, wie in Berlin. Dem chinesischen Künstler und Putin«, sagt Matthias Platzeck, Vorsitzen-
schwer die Verantwortung auf ihr lastet, Regimekritiker Ai Weiwei, der von 2015 der des Deutsch-Russischen-Forums, »sie
die Sorge, wie es weitergeht mit ihrem bis 2019 in Berlin gelebt hatte, war die Un- wollte zum Ende ihrer letzten Amtszeit
Land, in dem der Diktator Alexander Lu- terstützung für Chinas Dissidenten hinge- eine vernünftige Balance im Verhältnis
kaschenko die Demokratiebewegung nie- gen zu halbherzig. Er zog inzwischen nach zu Russland halten, aber der Fall Nawal-
derknüppeln lässt. Cambridge. ny hat ihr einen Strich durch die Rech-
Ihre Hoffnung heißt Deutschland, Gleichwohl: »Deutschland ist ein Hoff- nung gemacht.« CDU-Außenpolitiker
»eines der mächtigsten Länder der Welt«, nungsland für viele Verfolgte in der Welt«, Norbert Röttgen meint, Merkel sei »in
ihre Hoffnung heißt auch Angela Merkel, sagt Nils Schmid, außenpolitischer Spre- ihren Reden im Bundestag selten so apo-
»eine der größten Führungspersonen der cher der SPD-Fraktion im Bundestag. diktisch und deutlich« gewesen wie gegen-
Welt«, wie Tichanowskaja sagt. Aber bis- »Das liegt auch an Angela Merkel.« über Putin.
her ist Lukaschenko nicht einmal ans Te- Merkel knüpft damit an die Frühzeit Allerdings hatten Merkels Treffen mit
lefon gegangen, als die deutsche Kanzlerin ihrer Kanzlerschaft an, als sie trotz chine- Nawalny und Tichanowskaja eher über-
versuchte, ihn anzurufen. sischer Proteste den Dalai-Lama im Kanz- schaubare politische Substanz. Die Kanz-
Tichanowskaja setzt zudem darauf, dass leramt empfangen hat. Das war vor 13 Jah- lerin war zuletzt vor allem wegen ihres
Merkel ihren bislang guten Kontakt zu ren. Danach hat sich die Kanzlerin mit Festhaltens an der Ostseepipeline Nord
Russlands Präsident Wladimir Putin nut- demonstrativer Unterstützung für Op- Stream 2 in die Kritik geraten, man warf
zen kann, um die Lage in Belarus zu ent- positionelle lange zurückgehalten. Doch ihr zu große Rücksicht auf den Kreml vor.
schärfen oder um wenigstens zu verhin- das ändert sich jetzt. Der Krankenbesuch bei Nawalny und der
dern, dass Putin zugunsten Lukaschenkos Zwar nannte Merkels Sprecher ihren Be- Empfang von Tichanowskaja sind ein
interveniert. such an Nawalnys Krankenbett eine priva- Weg, Solidarität mit den verfolgten De-
Doch auch um den Draht zum Kreml te Angelegenheit. Aber natürlich konnte mokraten zu zeigen, ohne Putin direkt an-
steht es derzeit nicht gerade gut. Seit dem das auch als deutliche Botschaft an Putin zugreifen.
Giftanschlag auf den Oppositionellen Ale- verstanden werden, genauso die Honneurs Sanktionen gegen Nord Stream 2 schei-
xej Nawalny haben die deutsch-russischen für Tichanowskaja im Kanzleramt. nen dagegen vom Tisch zu sein. Außen-
Beziehungen einen neuen Tiefpunkt er- minister Heiko Maas kündigte in dieser
reicht. Während Tichanowskaja im Regie- Woche an, dass Deutschland sich im Rah-
rungsviertel empfangen wird, beginnt zu- men der EU für »zielgerichtete und ver-
dem vor dem Berliner Kammergericht der hältnismäßige Sanktionen gegen die Ver-
Prozess um den sogenannten Tiergarten- antwortlichen« des Anschlags einsetzen
mord. Mitten in Berlin und am helllichten werde. Das klang nicht nach einem Bau-
Tag wurde ein Mann aus Georgien erschos- stopp für die Pipeline, eine Maßnahme,
sen, mutmaßlich im Auftrag staatlicher die Putin wirklich wehgetan hätte.
Stellen in Russland. Für die belarussische Oppositionelle Ti-
Es herrscht wieder Eiszeit zwischen Ber- chanowskaja öffneten sich in Berlin zwar
lin und Moskau, und die deutsche Haupt- viele Tore, sie wurde bewundert und ge-
stadt ist gerade dabei, so etwas wie eine feiert, ist aber natürlich nicht wegen der
Pilgerstätte der Gegner Putins und Luka- warmen Worte nach Berlin gekommen,
schenkos im Westen zu werden. sondern weil sie dringend Hilfe braucht.
Auf Einladung der Kanzlerin wurde Na- Artig bedankte sich die einstige Präsi-
walny nach seiner Vergiftung in der Berli- dentschaftskandidatin bei der Kanzlerin
ner Charité behandelt. Zugleich war Ende für die bisherige Unterstützung. Es sei, so
Peter Rigaud / DER SPIEGEL

September die belarussische Oppositio- Tichanowskaja, »eine Ehre, Angela Mer-


nelle Weronika Zepkalo mit ihrem Mann kel zu treffen«. Doch hinter verschlosse-
in der Stadt, um mit dem Auswärtigen nen Türen machte die Belarussin deutlich,
Amt und mit Abgeordneten des Bundes- dass sie sich von Berlin weit mehr erhofft.
tags zu reden. Und schon vor zwei Jahren Tichanowskaja dürfte die Kanzlerin nicht
kam der Ehemann der »Pussy Riot«- nur darum gebeten haben, dass sie ihren
Künstlerin Nadeschda Tolokonnikowa Anschlagsopfer Nawalny Einfluss auf Putin einsetzt, damit der
nach Berlin, um in der Charité behandelt Eiszeit zwischen Berlin und Moskau wiederum Lukaschenko dazu bewegt, sich

42
Clemens Bilan / EPA-EFE / SHUTTERSTOCK
Ex-Präsidentschaftskandidatin Tichanowskaja in Berlin: Weder antirussisch noch proeuropäisch

auf einen Dialog mit der Opposition ein- ziell«, forderte sie am Mittwochmittag im schen und europäischen Projekten die Zi-
zulassen. Auswärtigen Ausschuss nach Angaben von vilgesellschaft in Belarus unterstützt«, sagt
Es ging aber auch um Konkretes. Und Teilnehmern. Hinterher erläutete sie: »Wir Michael Roth, Staatsminister im Auswär-
das ist ein besonders heikles Thema. Bis- brauchen finanzielle und humanitäre Un- tigen Amt. »Unser Engagement werden
her betont die Opposition immer ihre Un- terstützung zuallererst für die Verwunde- wir fortsetzen und gezielt ausbauen.« Un-
abhängigkeit, um sich nicht dem Vorwurf ten und Verletzten, die zur Rehabilitation ter anderem sollen die Mittel der deut-
auszusetzen, Geld aus dem Westen anzu- ins Ausland fahren müssen. Und für unsere schen Botschaft in Minsk zur Förderung
nehmen. Dies könnte Putin zum Anlass Studenten, Menschenrechtsaktivisten und von Projekten an Ort und Stelle nochmals
nehmen, Lukaschenko noch aggressiver Journalisten, die in Belarus im Moment erhöht werden, heißt es im Auswärtigen
zu unterstützen. Hilfe für die Demokraten nicht arbeiten können.« Amt. »Bitten um finanzielle Unterstützung
könnte also deren Untergang bedeuten. Ob die Demokratiebewegung nicht von Vertretern der Demokratiebewegung
Denn gegen eine russische Intervention Angst habe, vom Regime Lukaschenko als beziehungsweise des Koordinierungsrats
könnten sie nichts ausrichten. »ausländische Agenten« verunglimpft zu sind dem Auswärtigen Amt nicht be-
Tichanowskaja wiederholte deshalb bei werden, fragte der Grünenabgeordnete kannt«, so ein Sprecher.
ihren Auftritten, dass die Demokratie- Manuel Sarrazin. »Das werden wir doch Die deutsche Opposition hat den Gast
bewegung weder antirussisch noch pro- ohnehin«, antwortete Tichanowskaja. Sie aus Belarus da anders verstanden. »Wir
europäisch sei. Das Ganze sei eine innere schwankte zwischen den Botschaften »Wir sollten die Zivilgesellschaft wenigstens
Angelegenheit von Belarus. Aber ohne brauchen dringend Hilfe« und »Wir müs- so unterstützen, dass sie arbeitsfähig
Hilfe von außen können die Demokraten sen unabhängig bleiben«. bleibt«, sagt der grüne Abgeordnete Omid
auf Dauer wohl nicht gegen das brutale Die Bundesregierung hat sich daher of- Nouripour.
Regime ankommen. Das ist das Dilemma. fenkundig entschlossen, zurückhaltend zu Die Bundesregierung gehe bei ihrer Hil-
Um sich Lukaschenkos Propaganda zu helfen. »Bereits vor den Präsidentschafts- fe für die Zivilgesellschaft in Belarus »viel
erwehren, brauche die Zivilgesellschaft wahlen haben wir mit zahlreichen deut- zu bürokratisch vor«, kritisiert der stell-
zum Beispiel auch mediale Unterstützung, vertretende FDP-Fraktionsvorsitzende
erläuterte Tichanowskaja. Konkret nannte Alexander Graf Lambsdorff. Jemand wie
sie die Deutsche Welle. Sie wünsche sich Gegen eine russische Tichanowskaja könne »nicht erst mal
mehr Berichterstattung über Belarus von Intervention könnten einen langen Antrag stellen und nachwei-
dem deutschen Auslandssender. sen, dass sie eine Institution der Zivilge-
Zugleich bat Tichanowskaja in Berlin die Demokraten nichts sellschaft vertritt«.
aber eben doch um Geld. »Wir brauchen ausrichten. Christiane Hoffmann, Christoph Schult
Unterstützung – politisch, aber auch finan-

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 43


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Deutschland

Herrschaft. Wut und Hass wurden radikal unterdrückt.


Dirk Kurbjuweit
Aber das gelang in Frankreich zunächst nur bis zur
Revolution von 1789, die dann allerdings in Terror um-

Das Jahrzehnt des schlug.


Auch die Demokratien, die sich allmählich etablierten,
standen vor dem Problem, die Wut ihrer Bürger zähmen
zu müssen, bis heute ist das eine Herausforderung. Auf

Wutbürgers Hobbes können sie dabei nur begrenzt zurückgreifen, da


sie an Werte wie Freiheit oder die Würde des Menschen
gebunden sind. Ihre Mittel gegen die Wut sind daher be-
grenzt. Wenn sie hart reagieren, wenn der demokratische
Essay Die Gesellschaft hat sich erneut aufgespalten. Staat sich zu stark gebärdet, setzt er sich sofort dem Ver-
Die alten Streitpunkte Klasse, Religion und Nation dacht aus, seine Ideale zu verraten.
Also müssen Demokratien besonders darauf achten,
laden die Politik wieder emotional auf. Wie lassen sich dass es nicht zu heftigen Wutausbrüchen kommt. Anderer-
amerikanische Zustände verhindern? seits braucht gerade diese Staatsform den permanenten
Streit, denn das politische Programm entsteht im Konflikt
der Interessen, im Kampf der Parteien um die Macht.

A
Das Konzept ist dieses: Streitet ständig, aber nur so viel,
m Anfang war die Wut. Die modernen Demo- dass euch die Wut nicht packt und ihr die Kontrolle
kratien sind aus hochkochenden Emotionen ent- verliert. Ein schmaler Grat. Gleichwohl ist es den Demo-
standen. Viele Franzosen waren empört über die kratien zunächst ganz gut gelungen, ihre Gesellschaften
Ausbeutung durch die Monarchie, Kolonisten in zu pazifizieren.
Amerika hatten es satt, aus der Ferne von Großbritannien

D
regiert zu werden. Die Boston Tea Party am 16. Dezem-
ber 1773 und der Sturm auf die Pariser Bastille am 14. Juli rei Hauptursachen politischer Wut sind Klassen-
1789 waren kollektive Wutausbrüche, die später zu den kampf, Religion und Nationalismus. Bei diesen
Gründungsmythen der USA und der französischen Repu- Themen kochen die Emotionen hoch oder lassen
blik wurden. sich leicht schüren; die Wut gegen die Reichen
Heute gilt ausgerechnet die Emotion, aus der die De- oder die Ausbeuter, die Wut gegen Katholiken oder Pro-
mokratien hervorgingen, als ihre größte Herausforderung. testanten, gegen Muslime oder Juden, die Wut gegen das
Mit Wut kann sie nur schlecht umgehen, der »Wutbürger« Nachbarland oder gegen Menschen anderer Herkunft.
wurde zur Chiffre für eine permanente innere Bedrohung. Die Demokratien konnten diese Einflüsse stark redu-
Vor genau zehn Jahren erschien im SPIEGEL ein Essay, zieren. Die Religionen wurden aus der Politik zurück-
der dieses Wort in die Welt setzte. Damals ging es um gedrängt, die Ungerechtigkeiten durch Sozialpolitik und
Proteste gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Es ging aber Umverteilung gelindert, der Nationalismus in Europa
auch schon um Bürger, die sich bei einer Veranstaltung nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs einge-
wütend dagegen verwahrten, dass Thilo Sarrazin kritisch dämmt. Im Zuge des europäischen Vereinigungsprojekts
befragt wurde. Ihnen gefiel offenkundig ein Buch, dessen sprach man schon von postnationalen Gesellschaften.
Thesen zum Teil als fremdenfeindlich gedeutet wurden. Die Bundesrepublik bearbeitete ihr Zähmungsprojekt
Seither hat die Wut Karriere ge- besonders gründlich. Nach dem Nationalsozialismus,
macht. Geburt und Aufstieg der AfD der aus Massenwut Massenmord gemacht hatte, wurden
Die neue Mittel- seit 2013, islamophobe Proteste im Politik und Gesellschaft die Emotionen weitgehend
klasse blickt verächt- rüstete Namen von Pegida seit 2014, die ent- ausgetrieben. Es bildete sich die nivellierte Mittelstands-
Ablehnung von Angela Merkels gesellschaft, konsensorientiert, friedlich, europäisch.
lich auf Mitbürger, Flüchtlingspolitik seit 2015, der Brexit Zwar gab es bis in die Neunzigerjahre hinein wütende
die eher traditionell und die Wahl Donald Trumps zum Debatten in den Parlamenten, vor allem zwischen SPD
Präsidenten der USA 2016, die franzö- und Union, aber da war viel Show dabei. Mein Groß-
orientiert sind. sischen Gelbwesten 2018 – das alles onkel, der für die Stadt Essen arbeitete, hat sich oft
wurde auch mit Wut erklärt. Und vor darüber amüsiert, dass sich die Herren im Stadtrat wut-
wenigen Wochen überschrieb die entbrannt stritten und hinterher an der Theke ein Bier
»Zeit« einen Leitartikel zu Demonstrationen gegen die miteinander tranken.
Corona-Politik mit der Zeile »Wutbürger 2.0«. Viele Positionen der beiden Parteien näherten sich
Was ist passiert? Warum erlebt der Westen ein Zeitalter immer stärker an. Ein Wutausbruch wie der demonstra-
der Wut? Und wie ist sie in den Griff zu bekommen? tive Auszug der Ministerpräsidenten der Union aus dem
Die Geschichte der Politik in der Neuzeit lässt sich Bundesrat 2002 war vorher vereinbart, war gespielte
auch als Zähmungsgeschichte erzählen. Der Mensch wird Emotion. Schon vor Angela Merkels Kanzlerschaft wurde
von seinen Leidenschaften getrieben, neigt zu Ausbrü- die Bundesrepublik von einer informellen Großen Koali-
chen von Wut und Hass, damit zur Gewalt. Gerade die tion regiert.
Zeit des Staatstheoretikers Thomas Hobbes war davon ge- Wenn in der Gesellschaft Emotionen ausbrachen, dann
prägt. Auf dem europäischen Kontinent tobte in der ers- vor allem bei den Jüngeren, den Achtundsechzigern
ten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Dreißigjährige Krieg, und ihren Epigonen in der Friedens- und Anti-Atomkraft-
in England ein Bürgerkrieg. Hobbes’ Antwort auf Chaos Bewegung. Ihre Wut wurde über die Grünen parlamen-
und Grauen war der starke Staat, der das Gewaltmonopol tarisiert und kalmiert. Mit den grünen Abgeordneten tra-
auch zum Schutz der Bürger behauptet. Für die Monar- fen sich die Kollegen von der Union bald in der soge-
chen war das die passende Philosophie zu absolutistischer nannten Pizza-Connection. Statt Bier gab’s gute Weine.

46 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


orientiert sind. Vor allem die alte Mittelklasse empfindet
das als Entwertung ihrer traditionellen Werte. Sie ist
»kulturell in die Defensive geraten«, schreibt Reckwitz.
»Seit 2010 ist es durch die Etablierung des Rechtspopu-
lismus zu einer Gegenreaktion gekommen, welche die
politische Landschaft in vielen Ländern vollends um-
strukturiert.«
Die AfD stieß in die Repräsentationslücke, die die
traditionellen Parteien in ihrem Grundkonsens gelassen
hatten. Ein Teil der Bevölkerung fand die eigenen Sorgen
und Interessen darin nicht mehr gespiegelt, diesmal auch
viele Ältere, vor allem in Ostdeutschland. Sie wendeten
sich, so Reckwitz, einem »aggressiven Populismus« zu.
Damit begann ein neuer Klassenkampf, der zu einem
großen Teil auf dem Feld der Nation ausgetragen wird.
Erst kämpfte die AfD gegen den Euro, dann gegen die
liberale Flüchtlingspolitik und den Islam. Die drei Emo-
tionsbomben der Politik, Klassenkampf, Nationalismus
und Religion, sind wieder da.

E
s wird mehr gestritten als früher, das ist gut, aber
dieser Streit lässt sich nicht im Kompromiss auf-
lösen, das ist übel. Die Politiker der AfD sind nicht
die Leute, mit denen die Kollegen und Kolleginnen
der traditionellen Parteien nach der Debatte ein Bier oder
einen Wein trinken möchten. Die Positionen sind unverein-
bar, liberale und illiberale Demokratie prallen aufeinander.
Es wird nicht innerhalb der Demokratie gestritten, son-
dern über die Demokratie, und damit wird aus der Geg-
nerschaft die Feindschaft, wie der Politikwissenschaftler
Philip Manow in seinem Buch »(Ent-)Demokratisierung
der Demokratie« herausgearbeitet hat. Feindschaft ist die
wutentbrannte, die unversöhnliche Gegnerschaft. Der
Staatsrechtler Carl Schmitt könnte sich bestätigt fühlen.
Für ihn gehörte das Freund-Feind-Denken zum Wesen
des Politischen.
In den USA ist zu beobachten, was das heißt. Seit
Donald Trump sind Republikaner und Demokraten keine
Hermann Bredehorst / DER SPIEGEL

Gegner mehr, sondern Feinde. Genauso verhält es sich


mit einem großen Teil der Anhänger. Nicht umsonst heißt
Bob Woodwards Buch über die Trump-Jahre »Rage«, Wut.
Wie lässt sich eine solche zerstörerische Entwicklung
aufhalten, verhindern? Für den belgischen Demokratie-
Aktivisten David Van Reybrouck heißt die Antwort auf
die Wut: Liebe. Im Vorwort der deutschen Ausgabe
Anti-Merkel-Demonstrantin im Wahlkampf 2017 seines Buchs »Für einen anderen Populismus« schreibt
er an die Adresse der neuen Mittelschicht: »Wir müssen
lernen, diejenigen zu lieben, die wir allzu gern und allzu
Im Jahr 2006 schrieb der Philosoph Peter Sloterdijk in leicht hassen.«
seinem Buch »Zorn und Zeit« von der »Zornzerstreuung Lieben? Das wird schwer. Zuhören reicht vielleicht
in der Ära der Mitte«. Ewiger innerer Friede schien aus- auch, nicht sofort ablehnen, nicht verachten, nicht aus-
gebrochen. schließen. Insofern ist das Wort Wutbürger ein Teil des
Problems, das es benennt. Es kann abwertend verstanden

W
werden.
enig später begann das Jahrzehnt des Wutbür- Ohne Frage muss es rote Linien geben: Jede Form
gers. Was hat diesen Wandel bewirkt? Einfach gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, also Rassismus
gesagt: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft oder Antisemitismus, liegt hinter dieser Linie, ebenso
hat sich wieder aufgespalten. Der Soziologe Faschismus und Gewalt. Diesseits davon sollten die libe-
Andreas Reckwitz spricht in seinem Buch »Das Ende der ralen Demokraten die Sorgen der alten Mittelschicht
Illusionen« von einer neuen und einer alten Mittelklasse und der prekären Schicht allerdings ernst nehmen, um
sowie einer »prekären Klasse«. Diesmal geht es nicht nur die Gesellschaft zusammenzuhalten. Die furchtbaren
um soziale Unterschiede, sondern auch um Lebensweisen, Zustände in den USA haben nicht nur mit Donald Trump
um Haltungen. und den Republikanern zu tun, sondern auch mit den
Die neue Mittelklasse, die sich cool und liberal geriert, Demokraten, die genau diese Sorgen aus den Augen ver-
blickt verächtlich auf die Mitbürger, die eher traditionell loren haben. I

47
Deutschland

gen, was die beiden Lager anschließend in

Ab in die letzte Reihe getrennten Pressekonferenzen zu erklären


versuchten.
Vielleicht hätte sich die Truppe längst
Parlamente Die AfD feierte bei Landtagswahlen zwar Erfolge. Doch in zwei Fraktionen gespalten, wie es in
Baden-Württemberg 2016 für einige
jetzt zerlegen sich die Fraktionen in bizarren Grabenkämpfen. Monate der Fall war. Doch das geht in
Bayern nicht: Mitglieder derselben Partei

E s war nicht leicht, die niedersächsi-


sche AfD-Fraktion zu sprengen. Die
damalige Vorsitzende Dana Guth
versuchte es am 22. September auf einer
Landtagsfraktion«, heißt es in seiner
Mail. Es war also niemand mehr da, der
die Austrittserklärungen der Abtrünnigen
noch hätte entgegennehmen können. Die
dürfen nur eine Fraktion bilden. So blei-
ben die AfDler zwangsvereint und streiten,
wo sie können.
Die Gegner der Fraktionsführer ver-
Sitzung im Landtag. Nach einem hitzigen 100 000 Euro für den Monat Oktober suchten, diese abzuwählen, doch dazu
Streit verkündete sie ihren Kollegen im schienen in greifbarer Nähe. Inzwischen fehlte ihnen die nötige Zweidrittelmehr-
Fraktionsvorstand drei Austritte: ihren ei- hatte sich auch die Bundes-AfD eingeschal- heit der Stimmen. Andere Sanktionen
genen und den zweier Mitstreiter. Die un- tet: Alexander Gauland, Co-Fraktionsvor- konnten sie hingegen beschließen. Die
terschriebenen Austrittserklärungen hielt sitzender im Bundestag, schimpfte über Chefs sollen nun ohne Dienstwagen und
Guth demonstrativ in die Luft, dann ver- Guth, andere folgten. Fahrer auskommen. Am Mittwoch ver-
ließ sie den Raum. Der Streit in Niedersachsen ist nur eine kündete die Fraktion zudem, dass für
Die zurückgebliebenen Abgeordneten von vielen Querelen, die sich die Partei Fraktionsämter keine Zulagen mehr ge-
waren wenig begeistert. Eine Fraktion im leistet. In den vergangenen Jahren ist sie zahlt werden. Außerdem sollten die Vor-
niedersächsischen Landtag muss mindes-
tens sieben Mitglieder haben, nach den
Austritten wären es nur noch sechs. Das
würde bedeuten: weniger Redezeit, weni- Mandat für Streitereien
ger Bürofläche, weniger Zuschüsse. Rund Sitze der AfD in den Landesparlamenten
jeweils zum Zeitpunkt der vergangenen Wahl
100 000 Euro Fraktionsgelder pro Monat
würden verloren gehen, 13 AfD-Vollzeit-
Sachsen 38 von 119 Sitzen
mitarbeiter und 3 Teilzeitkräfte stünden
vor der Entlassung. Sachsen-Anhalt 25 /87
Aber: Dana Guth hatte die schriftlichen Berlin 25 /160
Erklärungen ja wieder mitgenommen –
vielleicht könnte man es irgendwie als Brandenburg 23 /88
Fraktion zumindest bis in den Oktober Baden-Württemberg 23 /143
schaffen? Einer aus dem Sextett teilte der
Bayern 22 /205
Landtagspräsidentin mit, dass ihnen keine
Austrittserklärungen vorlägen. Thüringen 22 /90
Guth und ihre beiden Mitstreiter be- Hessen 19 /137
merkten den Fehler und schickten die Kün-
digungen als E-Mail an zwei Vorstands- Meckl.-Vorp. 18 /71
kollegen. Doch so einfach war das nicht. Nordrhein-Westfalen 16 /199
Als Antwort erhielten sie automatische Rheinland-Pfalz 14 /101
Abwesenheitsnotizen. »Ich werde Ihre
E-Mail erst am 1. 10. 2020 lesen können«, Niedersachsen 9 /137
hieß es in einer Antwort. In der anderen: Hamburg 7 /123
»Vom 23. September bis zum 1. Oktober Fraktionsstatus
H.C. Plambeck / laif

2020 bin ich nicht erreichbar.« Bremen 5 /84 verloren

Neuer Versuch: Dana Guth lud ihre Schleswig-Holstein 5 /73


Fraktion, »um noch mal über alles zu Abgeordnete Guth
Saarland 3 /51
reden«, für den 28. September zu einem
Treffen ein. »Die Fraktionskollegen waren
nicht abgeneigt, forderten aber eine Ga-
rantie, dass wir unsere Austrittserklärun- bei Landtagswahlen von Erfolg zu Erfolg sitzenden wie früher Grundschüler, die
gen bei der Gelegenheit nicht doch noch geeilt. Seit die AfD 2018 auch in Bayern den Unterricht störten, in der letzten Rei-
übergeben«, sagt Guth. Das wollte sie und Hessen die Fünfprozenthürde über- he sitzen. Allerdings weigert sich die Frak-
nicht zusichern. »Wir haben von 10 bis sprang, ist sie in allen Landesparlamenten tionsspitze bislang, neue Plätze im Plenum
15 Uhr auf die anderen gewartet.« Nie- vertreten (siehe Grafik). Doch die meisten einzunehmen.
mand sei erschienen. Fraktionen geben ein erschütterndes Bild In einem Anliegen immerhin waren sich
Auch die Mitarbeiter der AfD-Fraktion ab, viele sind heillos zerstritten. die Abgeordneten diese Woche einig: Das
waren plötzlich alle verschwunden. Man Beispiel Bayern: Hier existiert noch eine bayerische Parlament tagte aus Gründen
hatte sie ins Homeoffice geschickt. Der Fraktion, allerdings nur auf dem Papier. des Infektionsschutzes nur mit halber
inzwischen neu bestimmte Fraktions- Von den ursprünglich 22 Mitgliedern sind Besetzung, die AfD aber mochte sich dem
geschäftsführer schrieb sogar den Sicher- zwei bereits ausgetreten. Die verbliebenen Beschluss der anderen Fraktionen im
heitsdienst des Landtags an. »Am 28. Abgeordneten sind einander so spinne- Ältestenrat nicht anschließen und beharrte
und 29. September haben alle Mitarbeiter feind, dass im Herbst eine Fraktionsklau- auf ihrem Recht zur vollen Stärke.
der AfD-Landtagsfraktion ein Zugangs- sur abgebrochen wurde. Sie konnten sich Beispiel Hessen: Die Fraktion ist eben-
verbot zu allen Räumlichkeiten der AfD- schlicht nicht auf eine Tagesordnung eini- falls zerrissen, zwei Abgeordnete stritten

48 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Buch-
Fragen Sie Ihren
sogar vor Gericht miteinander. Der Rich- verband der Partei. So blieben nur drei
ter musste klären, ob der eine den an- Abgeordnete übrig – zu wenige für eine
neuen
händler nach dem
deren als »stolzes Mitglied« der rechts- Fraktion. »Die Abwicklung beziehungs-
extremen »Identitären Bewegung« be- weise Liquidation, also das geordnete
zeichnen dürfe. Das Landgericht Frank-
furt am Main hielt es für zulässig. Das
Zurückfahren der Geschäftstätigkeiten,
der Fraktion läuft bereits«, teilt eine Spre-
Joysie -Magazin!
»stolze Mitglied«, der unterlegene Abge- cherin des Landtags mit. Die Partei ver-
ordnete Andreas Lichert, darf dennoch in liere »finanzielle Zuschüsse, Mitsprache-
der Fraktion verbleiben. rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten
Zwei andere Fraktionsmitglieder sollen im Parlament«.
hingegen rausgeworfen werden. Über 850 000 Euro pro Jahr sind demnach
Rainer Rahn, Spitzenkandidat bei der an Fraktionsmitteln im Haushalt des Land-
vergangenen Wahl in Hessen, und Rolf tags veranschlagt. Die beiden Dienstwa-
Kahnt, Alterspräsident des Landtags, hat- gen für den Fraktionsvorsitzenden und
ten Fraktionsmitarbeiter monatelang um- den Parlamentarischen Geschäftsführer
fangreiche Dossiers erstellt, um ihnen seien bereits zurückgegeben worden, sagt
»Verfehlungen« nachzuweisen. Rahn wird die Sprecherin, nun gehe es unter anderem
darin unter anderem vorgeworfen, sich um das Rederecht. Wenn es eine ähnliche
bei einer Veranstaltung »öffentlichkeits- Regelung gibt wie bei Doris Sayn-Wittgen-
wirksam« nicht mit Parteikollegen, son- stein, werden die AfD-Abgeordneten kaum
dern mit CDU-Politikern unterhalten zu noch zu Wort kommen: Ihr stehen pro Sit-
haben. Beide hätten Arbeitstreffen ge- zungstag drei Minuten zu.
schwänzt und seien in Ausschüssen von In Niedersachsen werden sich jetzt
der AfD-Linie abgewichen. ähnliche Fragen stellen. Denn am Ende
Rahn fühlt sich an »Stasi-Methoden« bestand auch dort kein Zweifel mehr,
erinnert. Kahnt sagt, die Liste mit den dass die Fraktion nicht mehr existierte,
Vorwürfen nie gesehen zu haben. Ein Frak- auch wenn so viel versucht worden war,
tionssprecher bestreitet das. Er bestätigt die Abtrünnigen um Dana Guth abblitzen
indes, dass die beiden ausgeschlossen zu lassen.
werden sollen: Über die Anträge, unter- Die drei hatten es noch auf weiteren
schrieben von einer großen Mehrheit der Wegen probiert, wie sie erzählen. In der
AfD-Abgeordneten, werde am 20. Okto- Poststelle des Landtags ließen sie sich
ber entschieden. Kopien der Austrittserklärungen abstem-
So geht es landauf, landab in den Frak- peln, die sie dann den beiden Vorständen
tionen der AfD zu. Dahinter steht meist in die Postfächer legten. Sie klebten
der Richtungsstreit innerhalb der Partei Kopien an die Bürotüren der beiden und
zwischen dem gemäßigten »bürgerlichen« hielten eine Tageszeitung daneben, weil
Lager und dem extremen »Flügel«. sie so das Datum dokumentieren woll-
Der Streit macht auch vor der kleinsten ten. Schließlich, sagt Guth, habe sie sogar Joysie ist das neue Büchermagazin für
AfD-Fraktion in einem deutschen Land- einen Gerichtsvollzieher damit beauf- bewusste Lebenskultur! Es präsentiert
tag nicht halt, den drei Abgeordneten im tragt, die Kündigungsbriefe der Fraktion zweimal pro Jahr empfehlenswerte
Saarland. Dort ging es vor allem ums zuzustellen. Bücher aus den Themenwelten Natur,
Geld. Zwei warfen im Juli einen hinaus. Das wäre wohl gar nicht mehr nötig
Dieser dritte Mann, Lutz Hecker, erklärte gewesen. Die irritierte Landtagsverwal- Umwelt, Gesundheit, Familie, Genuss
daraufhin öffentlich, es sei kaum zu ver- tung hatte inzwischen einen Nachweis da- und Reisen. Die druckfrische Erstaus-
mitteln, warum man an der Saar noch rüber verlangt, dass der Fraktion noch gabe jetzt kostenlos im Buchhandel!
AfD wählen solle. mindestens sieben Abgeordnete angehö-
In Rheinland-Pfalz schrieb Fraktions- ren. Den konnte es nicht geben, und damit Lesen Sie u. a., was man selbst im Sinne
chef Uwe Junge vor wenigen Tagen in war die Fraktion erledigt. der Nachhaltigkeit tun kann, warum Um-
einem Brandbrief, er sehe sich »inmitten Am 30. September beorderte der AfD- armungen positiv auf die Seele wirken
einer AfD, die sich selbst schulterklopfend Bundesvorstand daraufhin die niedersäch-
auf den politischen Abgrund zubewegt«. sischen Landtagsabgeordneten zum Rap-
und wie man auch in unsicheren Zeiten
In Berlin trat die Vizefraktionschefin Kris- port nach Berlin. Eine Mediation soll dabei die innere Ruhe bewahrt.
tin Brinker zurück. Sie begründete dies helfen, dass sich die Niedersachsen wieder
mit dem von ihr »seit Langem kritisierten vertragen. Alle Beteiligten stimmten dem
Finanzgebaren« und einem »menschen- Prozess zu. Die Bedingung: Die Mediato- Inkl. Digitalausgabe
verachtenden Umgang mit Mitarbeitern rin oder der Mediator dürfe nicht aus der unter www.joysie.de
der Fraktion«. Partei kommen.
In Schleswig-Holstein ist die Fraktion Zwei Vorgespräche mit den zerstrittenen
bereits aufgelöst. Zuerst wurde die Ab- Abgeordneten haben bereits stattgefun-
Das Magazin Joysie erscheint in der
geordnete Doris von Sayn-Wittgenstein, den. Eine Lösung des Konflikts, heißt es, Harenberg Kommunikation Verlags- und Medien
einst Landesvorsitzende, aus Fraktion und sei nicht in Sicht. Nun soll geprüft werden, GmbH & Co. KG, Königswall 21, 44137 Dortmund
Partei ausgeschlossen, weil sie für einen ob es überhaupt Sinn ergibt, alle zusam-
rechtsextremen Verein geworben hatte. men an einen Tisch zu bringen.
Ende September erklärte dann Frank Bro- Matthias Bartsch, Annette Bruhns,
dehl seinen Austritt mit der Zunahme »völ- Jan Friedmann, Hubert Gude
kisch-nationalistischer Kräfte« im Landes-

49
www.buchaktuell.de
Deutschland

der eigenen Partei. Hier in Brüssel, das Damit ist sie immerhin größer als die

Sicher im ließ Meuthen seine Partei vorige Woche


wissen, gedenke er, vorerst zu bleiben.
Schien es bislang so, als wollte Meu-
der Grünen. Doch die Ökopartei hat zu-
sammen mit Liberalen, Christ- und So-
zialdemokraten einen Sperrgürtel um die

Exil then den Machtkampf mit den Rechts-


extremen in der AfD bis zum Ende durch-
fechten und deshalb auch für den Bun-
ID-Fraktion gezogen – man verhandelt
nicht mit ihr. »Cordon sanitaire« heißt der
Gürtel im EU-Sprech, und es klingt nicht
Parteien AfD-Chef Jörg Meuthen destag kandidieren, so scheint ihn nun zufällig so, als wollte man eine anstecken-
kandidiert nicht für den der Mut verlassen zu haben. Er werde in de Krankheit einhegen. Die Folge: Die ID-
Brüssel gebraucht, sagt er, als wichtige Fraktion ist mit Änderungsanträgen zu Ge-
Bundestag – weil er angeblich Stimme der Opposition. Das Problem setzesvorhaben meist chancenlos. In den
in Brüssel gebraucht werde. ist nur: Das Argument nimmt ihm in der 26 Ausschüssen des EU-Parlaments stellt
Darauf reagieren viele mit Häme. Partei kaum einer ab, da der Einfluss der sie keinen einzigen Vorsitzenden.
AfD in Brüssel und Straßburg gegen null »Skandalös« findet Meuthen das. »Den
tendiert. Cordon sanitaire müssen wir knacken.

D er AfD-Vorsitzende ist sichtlich in


seinem Element. Ein »Gipfel an
Ratlosigkeit und Realitätsverweige-
rung« sei das Treffen der EU-Staats- und
»Ich finde das, was ich hier mache, wirk-
lich wichtig«, sagt Meuthen, als er nach
seiner Rede in seinem schmucklosen Büro
im sechsten Stock des Brüsseler Parla-
Und das bekommen wir auch hin.« Wie
das gehen soll, verrät er nicht.
»Die AfD und Herr Meuthen finden im
Europaparlament konstruktiv nicht statt«,
Regierungschefs vergangene Woche gewe- mentskomplexes sitzt. Er werde in der EU- sagt Daniel Caspary, Vorsitzender der
sen, schimpft Jörg Meuthen ins Rund des Zentrale gebraucht, »von unserem Land«. CDU/CSU-Gruppe. Ähnlich äußert sich
Brüsseler Europaparlaments. Die Klima- Jens Geier, Chef der deutschen Sozial-
schutzpläne der EU hätten »absolut töd- demokraten im EU-Parlament: »Die AfD
liche Nebenwirkungen für unsere Wirt- »Die AfD will die will die EU nicht voranbringen, sondern
schaft«. Und dem »cholerischen Möchte- EU abwickeln. Das sind abwickeln. Das sind die Kinder, mit denen
gernsultan Erdoğan« hätte man nicht nur keiner spielt.«
die »absurden« EU-Beitrittsverhandlun- die Kinder, mit Was also kann die AfD in Brüssel be-
gen, sondern auch gleich die Zollunion auf- denen keiner spielt.« wirken? »Noch zu wenig«, räumt Meuthen
kündigen sollen. ein. Aber das sei in Berlin auch nicht an-
Die Sitze um ihn herum sind weitge- ders: »Wir sind dort in der Opposition und
hend leer, doch Meuthen stört das nicht. In Wahrheit hat Meuthen im EU-Parla- werden stigmatisiert.«
Sein Publikum sitzt an diesem Dienstag ment ziemlich wenig zu melden. Die elf- Wenn die AfD als Partei etwas erreichen
nicht im EU-Parlament, sondern vor Bild- köpfige AfD-Truppe gehört der Fraktion wolle, müsse sie »den schwefligen Geruch
schirmen in Deutschland. Meuthens Auf- »Identität und Demokratie« (ID) an, ei- des schlechthin Bösen« loswerden. Und
tritt ist kaum vorbei, da haben seine Mit- nem bunten Mix aus Rechtspopulisten, da, findet Meuthen, sei man auf einem gu-
arbeiter schon ein Video davon auf You- Rechtsextremen und Separatisten aus Par- ten Weg. Der rechtsextreme »Flügel« sei
Tube hochgeladen. Titel: »Die EU kann teien wie dem belgischen Vlaams Belang, aufgelöst, Kameraden wie Andreas Kalbitz
es einfach nicht!« dem französischen Rassemblement Natio- wurden aus der Partei ausgeschlossen. Und
Manches aber kann die EU ganz gut. nal von Marine Le Pen, der italienischen der Thüringer Landeschef Björn Höcke?
Meuthen etwa bietet sie nicht nur monat- Lega oder der österreichischen FPÖ. Meu- Überschätzt, findet Meuthen.
liche Bruttobezüge von 8932,86 Euro then ist stellvertretender Vorsitzender der Doch so siegreich, wie das klingt, ist
zuzüglich üppiger Zulagen, sondern auch Gruppe, die auf 76 der 704 EU-Abgeord- Meuthen nicht. In mehreren Bundeslän-
einen sicheren Hafen vor den Stürmen in neten kommt. dern hat der offiziell aufgelöste »Flügel«
gerade massive Erfolge eingefahren. Der
Konflikt zwischen dem Meuthen-Lager
und den »Flügelianern« wäre, das glauben
in der Partei viele, durch einen Wechsel
des Parteichefs in den Bundestag eskaliert.
Denn dafür hätte Meuthen mit Bundes-
tagsfraktionschefin Alice Weidel um den
ersten Listenplatz in Baden-Württemberg
kämpfen müssen, um die Spitzenkandida-
tur und am Ende um den Fraktionsvorsitz.
Meuthen sagt, dies wäre »in der jetzigen
Situation nicht gut für die Partei«, da ist
es für ihn sicherer im Exil.
Während seine Gegner mit Häme rea-
gieren, äußern sich andere enttäuscht.
Meuthens Entscheidung zeige, dass sein
Lager schwächer sei, als er es darstelle, so
Johanna Geron / REUTERS

ein Parteikollege. Die Begründung, er sei


in Brüssel unentbehrlich, nimmt ihm kaum
einer ab. »Geseier«, sagt einer. »Was die
EU-Kommission macht, ist uns egal«, sagt
ein anderer. »Wir sind eh dagegen.«
Markus Becker, Ann-Katrin Müller
Europaabgeordneter Meuthen: Sperrgürtel um die Fraktion

50
denklich, dass die Feierlichkeiten durch
eine Firma organisiert werden, die sich
durch Privatisierung von FDJ-Geldern ihre
Startchancen in die Marktwirtschaft gesi-
chert hat.« Die Vergabe solcher Aufträge
folge »aber nicht moralischen, sondern ver-
gaberechtlichen Kriterien«.
Wohlthat gründete gemeinsam mit
anderen im Dezember 1989 die Power
Music GmbH. In einem Bericht der
Unabhängigen Kommission zur Über-
prüfung des Vermögens der Parteien und
Massenorganisationen der DDR heißt
es zu dieser Firma: »Das Stammkapital
betrug 500 000 Mark, hiervon hielten
475 000 Mark die FDJ.« Später gründete
Wohlthat dann sein eigenes Unter-

A. Friedrichs / imago images


nehmen.
Während viele Menschen in Ostdeutsch-
land nach dem Mauerfall in eine ungewis-
se berufliche Zukunft blickten, wendete
er sich blitzschnell der Marktwirtschaft zu:
Als die Rolling Stones im August 1990 ihre
»EinheitsExpo« in Potsdam: »Ein Schlag ins Gesicht« ersten und zugleich letzten Konzerte in
der Noch-DDR gaben, war er als Mit-
veranstalter dabei. In einem ZDF-Inter-

Das Kapital
Leidenschaft und Fingerspitzengefühl bei view erinnerte er sich später lächelnd, wie
der Umsetzung von Events jeder Größen- er den Stars die Hand geschüttelt habe.
ordnung«, heißt es auf der Homepage der 30 Jahre später ist Rainer Wohlthat

ruft
Wohlthat Entertainment GmbH. Seit 2003 immer noch der Mann für die großen Büh-
veranstaltet sie auch das jährliche Einheits- nen. Über den Auftrag für die »Einheits-
fest am Brandenburger Tor. Expo«, die im Corona-Jahr 2020 das
Ihr Geschäftsführer Rainer Wohlthat traditionelle Bürgerfest ersetzte, sagt der
Biografien SED-Opfer kennt sich mit Events aus. Zu DDR-Zeiten Regierungssprecher des Landes Bran-
protestieren: Warum durfte kümmerte er sich als hauptamtlicher Funk- denburg: »Das Vertragsvolumen belief
tionär in Berlin um Propagandaveranstal- sich auf 2,9 Mio. Euro brutto.« Eine end-
ein ehemaliger Genosse von tungen der FDJ, wie Eberhard Aurich be- gültige Summe könne noch nicht genannt
den Feierlichkeiten zur stätigt, bis Ende November 1989 Erster Se- werden, »da die Abrechnung noch nicht
Wiedervereinigung profitieren? kretär des Zentralrats der FDJ. Der Rat abgeschlossen ist«.
hatte 1961 nach dem Mauerbau die Jugend- Hätte Wohlthat den Auftrag nicht erhal-
lichen zum freiwilligen Dienst in der Na- ten sollen? Die Staatskanzlei in Potsdam

W enn ein ganzes Land sich feiert,


geht es nicht ohne Pathos und
Public Viewing. Gleich 30 Tage
lang wurde in Potsdam der 30. Jahrestag
tionalen Volksarmee aufgefordert (»Das
Vaterland ruft!«); zum Mauerfall zählte
die Jugendorganisation knapp zwei Mil-
lionen Mitglieder.
weist Kritik zurück. »Die Firma Wohlthat
Entertainment wurde nach einer EU-
weiten Ausschreibung mit der Durch-
führung des Bürgerfestes zum Tag der
der Wiedervereinigung gefeiert. Die »Ein- DDR-Widerständler sind empört über Deutschen Einheit 2020 beauftragt«, teilt
heitsExpo«, eine Freiluftausstellung in Wohlthats Karriere. »Es ist ein Schlag ins der Sprecher mit. Der Ministerpräsident
Schwarz-Rot-Gold, stand unter dem Mot- Gesicht der Opfer der SED, dass ausge- sei nicht eingebunden gewesen und kom-
to »Wir miteinander«. Der Festakt mit rechnet zum 30. Jahrestag der Wiederver- mentiere »grundsätzlich keine Vergabe-
dem Bundespräsidenten und der Bundes- einigung Menschen, die schon zu DDR- entscheidungen«.
kanzlerin wurde live auf eine Großbild- Zeiten vom Angepasstsein finanziell pro- Rainer Wohlthat wollte auf SPIEGEL-
leinwand übertragen. fitiert haben, millionenschwere Aufträge Anfrage weder über seine FDJ-Vergangen-
Bei so viel Einheit hätte man fast ver- aus Steuergeldern erhalten«, sagt der Leip- heit noch die aktuelle Feier reden. Der Pots-
gessen können, dass es mal eine Zeit der ziger Bürgerrechtler Uwe Schwabe. Der damer Auftrag muss ihn schon deshalb ge-
Teilung gab. Hinter den Kulissen wirkte Bundesvorsitzende der Union der Opfer- freut haben, weil seine Branche unter der
allerdings ein Mann, der manche auf verbände Kommunistischer Gewaltherr- Coronakrise besonders leidet. »Aus über
äußerst unangenehme Weise an die Ver- schaft, Dieter Dombrowski, 30 Jahren Erfahrung als Veran-
gangenheit erinnert: Die »EinheitsExpo« sieht es ähnlich: »Die Freie Deut- stalter von einigen der größten
wurde von Rainer Wohlthat organisiert, sche Jugend ist dabei – und Hun- deutschen Events wissen wir,
der in der DDR einst Veranstaltungen derttausende SED-Opfer blei- dass unsere Branche auch in der
für die Freie Deutsche Jugend (FDJ) aus- ben außen vor.« Vergangenheit immer mutig sein
Charles Yunck / imago images

gerichtet hat. Die Beauftragte zur Aufarbei- und neue Wege gehen musste«,
Im wiedervereinigten Deutschland ist tung der kommunistischen Dik- heißt es auf der Homepage seiner
der heute 68-Jährige gut im Geschäft: tatur in Brandenburg, Maria Firma. »Deshalb schauen wir
Schlössernacht in Potsdam, Fußball-Fan- Nooke, ist mit der Entscheidung auch in Krisenzeiten nach vorn.«
meile in Berlin, Silvesterfete am Branden- der Landesregierung gleichfalls Wohlthat Thomas Purschke
burger Tor. »Wir vereinen Expertise mit nicht glücklich: »Es stimmt nach-

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 51


Modrow lässt über seinen Chefredakteur
ausrichten, zu den Vorwürfen nichts sagen
zu wollen. Auch Nommensens Anwalt teilt
mit, sich bis auf Weiteres zu den Vorwürfen
nicht äußern zu wollen. Die behaupteten
Motive seines Mandanten streitet er ab.
Die Modrow-Nommensen-Connection
begann im Sommer 2017. Sie befeuerte
einen Skandal an der Waterkant, der
als sogenannte Rockeraffäre bundesweit
Schlagzeilen machte und erhebliche Fol-

Hans Steen / EyeEm / Getty Images


gen hatte: Erst musste die komplette Poli-
zeiführung abtreten, dann, zweieinhalb
Jahre später, traf es den Innenminister. Es
war ein einzigartiger Vorgang in der bun-
desdeutschen Geschichte. Doch der ver-
meintliche Polizeiskandal, so zeigt sich
nun, war ein Popanz. In Wahrheit geht es
vor allem um überehrgeizige Journalisten.
Im Zentrum der Affäre stehen die »Kie-
ler Nachrichten«, verkaufte Auflage etwa
80 000 Exemplare. Im Frühjahr 2017
berichtet die Zeitung über zwei frühere
Rocker-Ermittler des Landeskriminalamts.
Die Beamten behaupten, es gebe in ihrer
Behörde schwere Missstände. Auf Geheiß
von Vorgesetzten seien Akten manipuliert
worden. Die Polizisten fühlen sich ge-
mobbt, weil sie versetzt wurden. Funk-
tionär Nommensen tritt in der Presse als
polemischer Ankläger auf.
Achim Zweygarth / Lichtgut
Die »Kieler Nachrichten« holen aus, fa-
bulieren von einem »Netzwerk der Poli-
zeiführer« und nehmen die drei ranghöchs-
ten Polizisten des Landes ins Visier: den
Chef des Landeskriminalamts, den Chef
des Landespolizeiamts, den zuständigen
Abteilungsleiter im Innenministerium. Die
Kieler Innenstadt, Journalisten Modrow, Longardt (M.)*: Politik auf eigene Faust drei Männer stünden, heißt es in einem
Artikel voll anonymer Anschuldigungen,
für ein »Klima der Angst«.

Unter Feuer
Der Fall nimmt rasch Fahrt auf. Der
neue Innenminister Hans-Joachim Grote
(CDU) sägt das Trio ab. Die Landtags-
fraktionen richten einen Untersuchungs-
ausschuss ein. Es geht, so scheint es, um
Schleswig-Holstein Ein vermeintlicher Polizeiskandal belastet die Grundpfeiler des Rechtsstaats.
die Kieler Landesregierung massiv. Nun zeigt sich, wie Was die Sache zusätzlich brisant macht,
Journalisten dabei tricksten und die Öffentlichkeit in die Irre führten. ist ein exklusiver Artikel der Zeitung im
Juli 2017, der nach Waterkantgate klingt:
Das Blatt behauptet, man habe Journalis-

A n einem Frühsommertag 2019


ist Bastian Modrow wütend.
Der Reporter der »Kieler Nach-
richten« hat einen Artikel über eine
vize der Deutschen Polizeigewerkschaft.
»Exakt«, schreibt Nommensen.
Der bislang unbekannte Chatverlauf
entstammt einer umfangreichen Ermitt-
ten »offenbar« überwacht. Chefredakteur
Christian Longardt macht sich und seinen
Reporter Modrow zum Thema des Tages,
großes Foto auf Seite eins inklusive.
mächtige Polizistin geschrieben. Jetzt lungsakte, die der SPIEGEL einsehen konn- Eine Spezialfirma, so heißt es in dem
meldet er sich bei einem Informanten. te. Kürzlich hat die Staatsanwaltschaft Kiel Artikel, habe am Dienstwagen des Chef-
»Widerliches Weib«, tippt er ins Handy, Nommensen wegen Geheimnisverrat an- redakteurs Longardt Signale einer Funk-
»blöde Fotze«. Er habe »jetzt noch geklagt. Der Polizeioberkommissar soll quelle festgestellt, Messfehler seien »aus-
mehr Hass«. dem Journalisten in zehn Fällen Interna geschlossen«. Die Vermutung der Journa-
Der Empfänger der WhatsApp-Nach- gemeldet haben, es gibt mehr als 40 wei- listen: Wegen ihrer kritischen Berichte
richten ist Modrows Vertrauter und Zuträ- tere Verdachtsfälle. Als Motive vermuten über die Rockeraffäre habe die Staats-
ger: Thomas Nommensen, damals Landes- die Ermittler Geltungsdrang und Frust macht sie überwacht. Longardt schreibt:
über mangelnde Karrierechancen. Es steht »Ein Peilsender an einem Journalistenauto,
* Mit Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert (l.)
der Verdacht im Raum, dass der Polizist das ist ein schlimmer Verdacht, der auto-
und Jurysprecherin Heike Groll bei der Verleihung des und der Reporter auf eigene Faust Politik matisch auf die Polizeiführung fällt und
Deutschen Lokaljournalistenpreises im November 2018. gemacht haben. das Vertrauen in sie weiter beschädigt.«

52
Deutschland

Im November 2018 nehmen Longardt suchungsausschuss klar: »Es ging nur um Ergebnis der Staatsanwaltschaft wolle er
und Reporter Modrow für ihre Enthüllun- eine fachliche Auseinandersetzung.« »nicht bewerten«.
gen in der sogenannten Rockeraffäre einen Was den angeblichen Abhörskandal bei Lars Harms, Fraktionsvorsitzender der
Journalistenpreis entgegen. In der Lauda- den »Kieler Nachrichten« angeht, hat die Partei der dänischen Minderheit SSW,
tio lobt die Jury den Mut der Redakteure, Staatsanwaltschaft Lübeck sämtliche Vor- nennt Longardts Auftritt entlarvend. Die
die Anfeindungen aus Polizei und Politik würfe entkräftet. Der Peilsender-Verdacht Vorwürfe »lösten sich in nichts auf«. Und
standgehalten hätten. In Wahrheit sind die beruhte demnach lediglich auf dem Piepen weiter: »Die ›Kieler Nachrichten‹ scheinen
Methoden und die Ergebnisse der Recher- eines Messgeräts, mit dem ein Geschäfts- sich hier auf Kosten der Polizei eine Story
che nicht preisverdächtig, sondern windig. partner der Zeitung offenbar ohne Fach- zurechtgelegt zu haben.«
Wie Reporter Modrow mitunter arbei- kenntnis um den Wagen des Chefredak- Im Landtag hadern inzwischen viele mit
tete, zeigt sich etwa im August 2018. Da- teurs gegangen ist. Die von ihm gemesse- dem Untersuchungsgremium. »Die Politik
mals gibt es in Lübeck eine versuchte Ver- nen Frequenzen nutzt nur die Luftfahrt, hat sich von den ›Kieler Nachrichten‹ in den
gewaltigung, verdächtig ist zunächst ein nicht die Polizei. Eine Wanze am Auto Ausschuss treiben lassen«, sagt der Vorsit-
Sudanese. Gewerkschafter Nommensen wurde nie gefunden. Eine Richtigstellung zende Tim Brockmann (CDU). Es sei klar:
ärgert sich darüber, dass die Polizei dessen veröffentlichte das Blatt trotzdem nie. »Erhebliche strukturelle Defizite« seien in
Nationalität nicht nennt. Erst vor wenigen Wochen vernimmt der der Polizei nicht zu erkennen. Man wolle
Er sei dafür, schreibt er Modrow, dass Untersuchungsausschuss Chefredakteur den Ausschuss, der bereits 73 Sitzungstage
die Zeitung den Ermittlern »die Hammel- Longardt zu der Sache. Der Journalist win- angehäuft hat, daher beenden – »möglichst
beine« lang ziehe. Modrow bittet um ein det sich, verschanzt sich hinter anonymen schnell«. Annette Bruhns, Ansgar Siemens
Foto des Opfers. Er schreibt: »Dann fick Quellen, die er nicht nennen könne. Das
ich diese verlogene Bande morgen.« Nom-
mensen erwidert, man tue etwas dafür,
dass »Gutmenschen« nicht durchkämen,
und schickt dem Journalisten Bilder des
im Gesicht verletzten Opfers. Am 16. Au-
gust nennt Modrow in einem Artikel die
Herkunft des ursprünglich Verdächtigen
i l V L H !
Vorte
und Details zum Opfer.
Im August 2019 fliegt die Verbindung
.2021
von Reporter und Polizist auf. Es gibt
V LH : bis 28.02
Durchsuchungen bei Nommensen. Die g mit ttung
»Kieler Nachrichten« eilen ihm zu Hilfe. Verlängerun u erersta
in die e S t e
Jetzt mein
Groß transportiert die Zeitung den Vor-
wurf der Gewerkschaft, wegen der Rocker-
Das ist
affäre wolle die Regierung den kritischen
Funktionär »mundtot« machen.
In den »Lübecker Nachrichten«, Schwes-
terblatt der »Kieler Nachrichten«, assis-
tiert SPD-Oppositionschef Ralf Stegner,
damals Vizechef der Bundespartei. Die
Landesregierung gefährde »das Vertrauen
in den Rechtsstaat«, sagt er.
Im April schlägt die Affäre in der Regie-
rung ein. Ermittler haben die gelöschten
WhatsApp-Nachrichten auf Nommensens
Handy wiederherstellen können. Nun
wird klar, wie eng der Kontakt des Repor-
ters Modrow zu Innenminister Grote war.
Im Chat mit seinem Kumpel Nommensen
prahlte der Journalist damit, er habe den
Politiker in der Hand.
Zum Beweis leitete er dem Polizisten
vertrauliche Korrespondenz mit dem Mi- Aufnahme-
nister weiter. Ministerpräsident Daniel gebühr sparen
Günther (CDU) stellt Grote zur Rede. Der mit dem Stichwort
bestreitet vertrauliche Kontakte, dabei „Spiegel“
sind sie in der Akte nachzulesen. Der Mi- Gültig bis 28.02.2021

nister muss gehen.


Mitten in der Coronakrise läuft an der
Förde eine Schlammschlacht, die zu gro-
Steuern? Lass ich machen.
ßen Teilen auf Fake News beruht. Die Von der VLH.
Rockeraffäre in der Polizei, das Mobbing
im Landeskriminalamt – gab es das über- Full-Service vom Steuerprofi
haupt? Nein, sagt Jan Marcus Rossa (FDP),
ein Landtagsabgeordneter, der als Arbeits- Durchschnittlich mehr als 1.300 Euro Erstattung*
rechtler auch den SPIEGEL berät. Für Ros- Marktführer mit rund 3.000 Beratungsstellen
sa ist nach Jahren Kärrnerarbeit im Unter- Mehr als 1 Mio. Mitglieder
* in Erstattungsfällen
DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 53
Wir beraten im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG. www.vlh.de
Deutschland

Spuren des Bösen


Kriminalität Seit mehr als einem Jahrzehnt versuchen Fahnder, den Fall Madeleine McCann
zu lösen. Der Deutsche Christian B. wird verdächtigt,
das kleine Mädchen in Portugal ermordet zu haben. Wer ist dieser Mann?

B
raunschweig, im Juni 2013. Anja leine McCann. Das dreijährige Mädchen Und nun, nach 13 Jahren, die Lösung?
K. besucht gemeinsam mit ihrer verschwand im Frühjahr 2007 aus einer Der Mörder ein Mann aus Deutschland,
Tochter einen Mann, den sie über Ferienanlage im portugiesischen Praia da den Ermittler lange nicht im Blick hatten,
das Internetportal Chat2000 ken- Luz. »Wir gehen davon aus«, sagt ein obwohl er damals schon einschlägig vor-
nengelernt hat. Christian B. lebt mit zwei Sprecher der Behörde, »dass das Mäd- bestraft war und in der Nähe des Tatorts
Hunden im Hinterzimmer eines herunter- chen tot ist.« gewohnt hatte?
gekommenen Kiosks in Braunschweig. Kurz bevor Madeleine McCann ver-
Viel sei mit ihm nicht gelaufen, nur einmal Praia da Luz, im September 2020. Stra- schwand, war ein Prepaid-Handy mit der
seien sie sich körperlich nähergekommen, ßenlaternen tauchen die weißen Häuser portugiesischen Nummer 00351 912 730
wird Anja K. später der Polizei sagen. Sie und die Reste einer antiken Mauer in ein 680 in die Funkzelle des Tatorts einge-
habe ihn als kinder- und tierlieb kennen- warmes Licht. Vom Strand geht man, an loggt. Es war, wie sich erst viel später he-
gelernt. der Kirche vorbei, nur ein paar Hundert rausstellen sollte, das Handy von Christian
Als sie am Abend wieder zu Hause ist, Meter zum Luz Ocean Club, einer weit- B. Mit wem hat er damals 30 Minuten lang
schickt sie ihm eine SMS: »Wir sind gut läufigen Appartementanlage mit hübschen telefoniert? Einem Komplizen? Oder je-
angekommen, es war wieder mal schön, Rundbögen. mandem, der ihm ein Alibi geben könnte?
die Zeit mit dir tut mir gut! Du bist für Der Kieler Rechtsanwalt Friedrich Sein Rechtsanwalt will sich dazu nicht äu-
mich auch jemand besonderes. Ich bin Fülscher, der Christian B. verteidigt, ist ßern. Er sagt: »Mein Mandant hat diese
froh, dich zu kennen.« hierhergereist. Er will sich ein Bild vom Tat nicht begangen.«
Für die Tochter, vier Jahre alt, war der Tatort machen, eigene Erkenntnisse ge- Vom Fenster des Schlafzimmers geht Fül-
Besuch ein Albtraum. Als die Polizei im winnen. Vor einem Fenster mit herunter- scher um die Ecke, zu der Stelle, an der da-
nächsten Sommer den Kiosk durchsucht, gelassenen Rollläden an der Nordseite der mals mehrere Zeugen standen. In einer
entdeckt sie eine Digitalkamera. Auf der Appartementanlage bleibt er stehen. Es Sackgasse liegt die Rückseite des Apparte-
SD-Karte sind neben Hunderten Bildern gehört zur Erdgeschosswohnung 5A. Die ments, dessen Terrassentür offen gestanden
und Videos mit Kinderpornos auch Fotos Uhrzeit, die Ruhe in der Seitenstraße – haben soll. Eine Freundin der McCanns
von jenem Besuch gespeichert. Eines zeigt es ist wie damals. sagte aus, einen Mann gesehen zu haben,
die Tochter mit gespreizten Beinen auf ei- Zwischen 21.10 Uhr und 22 Uhr ver- der ein Kind von der Ferienanlage wegtrug.
ner Wiese, B. hat ihre Unterhose zur Seite schwand Madeleine Beth McCann am Fülscher sagt: »Dieser Mann ist später
geschoben und berührt das Mädchen an 3. Mai 2007 aus diesem Zimmer. »Wenn identifiziert worden und hat mit dem Ver-
der Scheide. Auf einem anderen ist zu se- die Zeugenaussagen zutreffen, gab es ein schwinden nichts zu tun.« Der Fall sei voller
hen, wie das Mädchen auf einen Baum Zeitfenster von einer Minute und 30 Se- »Ungereimtheiten und Widersprüche«.
klettert, dazu hält B. seinen erigierten Pe- kunden, in dem das Kind damals entführt
nis ins Bild. worden sein könnte«, sagt Fülscher. »Ma- Würzburg, in den Siebzigerjahren. Chris-
Das Landgericht Braunschweig verur- ximal hatte der Täter drei Minuten.« tian B. war ein Jahr alt, als er gemeinsam
teilt Christian B. im Herbst 2017 wegen Fotos der portugiesischen Ermittler mit seinen Brüdern in eine Adoptivfamilie
»sexuellen Missbrauchs eines Kindes« so- zeigen ein schlichtes Schlafzimmer mit in Würzburg kam. Einer Sozialarbeiterin
wie des Besitzes von 391 Kinderporno- einer Kiefernholzkommode. In der Mitte erzählte er später von seiner kaputten
grafiefotos und 68 -videos zu einem Jahr des Zimmers stehen zwei Reisekinder- Kindheit: Schläge und andere Bestrafun-
und drei Monaten Haft. Das Gericht setzt betten für die Zwillinge der Familie gen seien die bevorzugten Erziehungsme-
die Strafe ausdrücklich nicht zur Bewäh- McCann, damals zwei Jahre alt. Daneben: thoden gewesen, jeden Tag seien seine
rung aus. Es sei davon auszugehen, dass das Bett von Madeleine, die blau-weiß Brüder und er misshandelt worden. Mit
der Verurteilte ein »Bewährungsversager« karierte Bettdecke ist ordentlich zurück- 14 Jahren zog er in die Wohngruppe eines
sei, befindet die Kammer. geschlagen. Kinderheims. Dort sei es ihm besser er-
Christian B. ist in seinem Leben schon Seit jenem Abend vor mehr als 13 Jah- gangen, sagte er.
oft bestraft worden. Zurzeit sitzt er in ei- ren ist das Mädchen verschwunden. Noch Nach der Hauptschule begann Christian
nem Gefängnis in Kiel, weil er kiloweise in der Nacht informierten die Eltern B. eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker.
Marihuana nach Sylt geschmuggelt hat. Zu- Kate und Gerry McCann den britischen Er brach sie ab, weil er unbedingt weg aus
dem wurde er im Dezember zu sieben Jah- Fernsehsender BBC und weitere Medien. Deutschland gewollt habe. Mit 18 sei er
ren verurteilt, weil er eine 72-jährige Ame- Sie starteten eine europaweite Suche nach nach Portugal »ausgewandert«, dort habe
rikanerin in Portugal überfallen und ver- ihrem Kind. Prominente wie David er bei einer deutschen Zeitung, in Hotels
gewaltigt haben soll; dieses Urteil ist noch Beckham spendeten, der damalige Papst und Autowerkstätten gejobbt, so B.
nicht rechtskräftig. Benedikt XVI. empfing die Eltern im Tatsächlich ist Christian B. damals nicht
Die große Frage ist: Wird noch ein Vatikan und segnete ein Foto ihrer ver- ausgewandert, sondern geflohen. Die erste
Urteil hinzukommen? Diesmal lebens- missten Tochter. Später gerieten die Eltern Strafe, damals noch zur Bewährung aus-
lang, wegen Mord? Die Staatsanwaltschaft selbst ins Visier der portugiesischen Er- gesetzt, erhielt er schon mit 16. Es ging um
Braunschweig ermittelt gegen Christian B. mittler, eine von so vielen Wendungen in mehrere Diebstähle und Fahren ohne Fahr-
im Fall der vermissten Engländerin Made- diesem Fall. erlaubnis.

54 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Dann missbrauchte er, immer noch als
Jugendlicher, ein Mädchen. Er folgte ihm
in ein Gebüsch, hielt es am Oberarm fest,
holte seinen Penis aus der Hose, hob den
Rock der Sechsjährigen und griff ihr zwi-
schen die Beine. Das Mädchen weinte, B.
flüchtete. Wenig später verging er sich an
einer Neunjährigen.
B. erhielt zwei Jahre Haft wegen »sexu-
ellen Missbrauchs eines Kindes, versuch-
ten sexuellen Missbrauch eines Kindes und
Vornahme sexueller Handlungen vor ei-
nem Kind«. Kurz darauf reiste er nach Por-
tugal, wo ihn Fahnder nach rund fünf Jah-
ren aufspürten. B. wurde nach Deutsch-
land ausgeliefert und kam ins Gefängnis.
Nach seiner Entlassung Ende 2000 reiste
er an die Algarve zurück.
»Er war ein Hallodri, ein Hansdampf in
allen Gassen«, erzählt Anja P. in einem
Berliner Café. Sie sei nach dem Abi nach
Portugal gereist und mehrere Jahre lang
dort geblieben, »wie der Christian auch
Beschuldigter B.
und so viele andere«. Zusammen mit einer
um 2007
Freundin habe sie ihn auf der Eröffnungs-
feier des Restaurants Taberna de Lagos
kennengelernt, Christian B. habe dort ge-
kellnert. »In der ausländischen Communi-
ty kannte ihn jeder. Er war auffällig, weil
er immer diese Sakkos trug und einen al-
Patricia de Melo Moreira / AFP / Getty Images
ten Jaguar fuhr. Für mich war er damals
ein ganz netter und hilfsbereiter Typ, der
sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser
hielt und nie Geld hatte.«
Später habe auch sie in der Taberna de
Lagos gearbeitet und ihn einige Male in
seinem Haus in Praia da Luz besucht.
»Das Haus war in der Nähe eines Golf-
Ferienanlage in Praia platzes. Christian hat damals Golfbälle
da Luz, Schlafzimmer gesammelt, die er später verkaufen wollte,
der Familie McCann und am Hafen von Lagos Tickets für Boots-
im Mai 2007 touren verkauft.«
Mit seinem Jaguar habe er, als sie
auf einer Landstraße liegen geblieben war,
ihren alten Fiat Punto abgeschleppt,
was in Portugal verboten ist. »Ihn inte-
ressierte das nicht. Er brachte meinen
Wagen über Schleichwege auf seinen
Hof.« Dann habe er ihr gesagt, dass der
Fiat nicht mehr zu reparieren sei. »Ich ließ
ihn stehen und besorgte mir ein anderes
Auto. Irgendwann sah ich, dass er selbst
»Man wusste immer, mit dem Punto herumfuhr, was mich aber
dass der Christian nicht weiter störte.«
Hält sie es für möglich, dass Christian
auch krumme Sachen B. der Mörder von Madeleine ist? »Man
macht.« wusste immer, dass der Christian auch
krumme Sachen macht, aber doch nicht
so was«, sagt Anja P. Als die ZDF-Sendung
»Aktenzeichen XY Ungelöst« im Juni über
den Verdacht berichtete, »hat mich das
wirklich geschockt«.
Vermisste Madeleine
Ähnlich formuliert es die Freundin, die
Uncredited / AP / dpa

McCann um 2007
auf der Eröffnungsfeier der Restaurants
dabei war. »Das hätte ich nie gedacht, ob-
wohl jeder wusste, dass er mit Sicherheit
einen an der Waffel hatte«, sagt die Frau,

55
die noch immer in Portugal lebt. »Wenn
jemand im Jackett rumläuft, einen Jaguar B. vor geliehenem
fährt und großtut, dann aber als Kellner VW-Bus
arbeitet, weißt du, dass du lieber einen gro-
ßen Bogen um ihn machst.«

Praia da Luz, im Sommer 2003. Andrea


B. und Yvonne B., zwei junge Frauen aus
München, lernten in ihrem Urlaub einen
netten »Lebenskünstler« kennen – so be-
trachteten sie den Mann, der Orangen ver-
kaufte und seinen Hund »Charlie« nannte,
den »ewig hechelnden Charlie«.
Gemeinsam gingen sie ins Kasino.
Chris, wie sie ihn nannten, liebte das
Glücksspiel und erzählte von seinem Plan,
mit 40 Jahren Millionär zu sein. Nach der
Heimreise blieben sie in Kontakt. Chris
schrieb E-Mails, die er mit »Wölkchen« un-
terzeichnete.
Hallo Mädels,
wie die Zeit vergeht! Jetzt ist es schon
September! Ich habe gestern einen Flug ins
gute alte München gebucht. Für schlappe
215 Euro!!! Alles Verbrecher! Halt Stop, ich
fliege nach Stuttgart.
Die erste Nacht werde ich in Augsburg
übernachten. Danach würde ich gerne mei-
ne Nase nach Süden strecken und zu Euch
Bundeskriminalamt / epa-efe / shutterstock

kommen. Es gibt wieder sooo viel zu erzäh-


len, da reichen zwei Monate nicht aus, Die Kriminal-
Euer
WÖLKCHEN
beamten
»Wölkchen« durfte bei ihnen in Mün- gehen immer
chen übernachten. Ihr sei nie etwas auf- neuen
gefallen an diesem Mann, wird Yvonne B.
später gegenüber der Polizei sagen. Viel- Spuren nach,
leicht habe er sich ab und zu nicht ganz
Ehemaliges Haus von B.
prüfen
korrekt über die Oberweite einer Frau
geäußert, sonst nichts. Als besonders in Praia da Luz immer neue
aggressiv habe sie Christian B. nie wahr- Fälle.
genommen.
Dass B. auch eine unheimliche Seite hat,
erfuhr ein deutscher Musiker und IT-Tech-
niker, der ihn 2005 nach einem Gig in ei-
ner Musikkneipe von Lagos kennenlernte.
Der SPIEGEL erreichte Christian P., 53,
per Skype in dem Städtchen Kampot in
Kambodscha.
»Ich habe Christian ab und zu getroffen,
er reparierte mein Auto, ich half ihm mit
dem Fernseher«, sagt er. Manchmal hätten
sie Wein getrunken. »Er war ein ziemli-
cher Messie. Das Haus in Praia da Luz war
total unaufgeräumt und ungepflegt.«
Bei einem Besuch seien ihm drei Stapel
ausländischer Reisedokumente aufge-
fallen. »Es waren 30 bis 50 Pässe, die da
ganz offen rumlagen.« Darauf angespro-
chen, habe Christian B. von Diebstählen
in Praia da Luz und Umgebung erzählt.
»Er sei immer mal wieder auf Tour ge-
gangen, hat er erzählt, und dabei auch
Fassaden hochgeklettert.«
B.s Jaguar vor einer
Das deckt sich mit Erkenntnissen der
Autowerkstatt
Ermittler. Demnach finanzierte Christian
B. sein Leben in Portugal Mitte der 2000er-

56
Deutschland

Jahre nicht mit Gelegenheitsjobs, sondern Im Januar 2016 durchsuchte die Poli- Die Ermittler gingen von drei gefilmten
durch Einbrüche und Diebstähle. Im April zei das Gelände der ehemaligen Fabrik. Vergewaltigungen aus und stellten Anfra-
2006 wurden er und ein österreichischer Nachbarn hatten sich über Verwesungs- gen in Portugal. In einem Fall kamen sie
Komplize an einer Tankstelle auf frischer geruch beschwert. Er stammte von weiter: Eine 72-Jährige war 2005 in Praia
Tat ertappt, als sie Diesel an einem Lkw einem toten Hund, den B. dort ver- da Luz in ihrem Haus nahe dem Strand
abzapften. Ein portugiesisches Gericht ver- scharrt hatte. Unter dem Kadaver ent- missbraucht worden. Am Tatort hatte die
urteilte sie zu 258 Tagen Haft. deckten die Beamten ein Stoffetui mit portugiesische Polizei ein Haar sicher-
»Ich habe ihn damals auch im Gefängnis sechs USB-Sticks und Speicherkarten gestellt, das mit einer Wahrscheinlichkeit
besucht«, so erinnert sich Christian P. voller Bilder und Filme, die missbrauchte von 244 Milliarden zu eins Christian B.
»Er klagte über die schlechten Haftbedin- Kinder zeigten. zuzurechnen ist.
gungen und das miese Essen. Weil es im Zu diesem Zeitpunkt war der Kiosk in Helge Lars B. erzählte noch mehr:
Knast keinen Alkohol gab, sollte ich ihm Braunschweig bereits durchsucht worden, Später habe er Christian B. wiedergesehen,
mit Wodka gespritzte Orangen mitbringen, Christian B. drohte wegen der dort sicher- auf dem sogenannten Drachenfestival im
was ich aber nicht wollte.« Da sei B. wü- gestellten Kinderpornos eine Gefängnis- spanischen Orgiva. Da habe Christian B.
tend geworden. strafe. Er flüchtete erneut an die Algarve. eingeräumt, mit dem Verschwinden von
Während der Haft erhielt B. die Kün- In São Bartolomeu de Messines nahmen Madeleine McCann zu tun zu haben.
digung für das Haus, das er in Praia da ihn portugiesische Ermittler 2017 fest. War es wirklich so? Ist das die Lösung
Luz gemietet hatte. Christian P. wollte Mehrere Kinder hatten berichtet, dass ein des Kriminalfalls, der weltweit so viele
seinem Freund helfen und ein paar Kisten Mann sein Glied entblößt und obszöne Be- Schlagzeilen gemacht hat wie kaum ein
für ihn unterstellen. »Da waren aber so wegungen gemacht habe. B. wurde nach anderer? Indizien sprechen gegen Chris-
ekelige CDs mit Ferkeleien wie Tier- Deutschland ausgeliefert. tian B., aber über Schuld oder Unschuld
pornos dabei, mehr als hundert CDs«, wird erst ein Gericht entscheiden, falls es
sagt Christian P. Er habe das ganze Zeug Mit Madeleine McCann und ihrem Ver- denn überhaupt zu einer Anklage kommt.
weggeworfen. Christian B. habe ihn an- schwinden hatte ihn bis dahin noch kein Noch gehen die Kriminalbeamten im-
schließend nicht mehr sehen wollen, »so Ermittler in Verbindung gebracht. Die mer neuen Spuren nach, prüfen immer
wütend war der«. Spur entstand, weil der notorische Krimi- neue Fälle. Portugiesische Behörden ha-
Nach seiner Entlassung lebte B. in ei- nelle B. selbst Opfer eines Verbrechens ben ihre Kollegen über ein zehnjähriges
nem alten VW-Bus. Einige Monate später geworden war. Mädchen aus Deutschland informiert, das
verschwand Madeleine McCann, was Als er in Portugal wegen der Diebstähle vier Wochen vor Madeleines Verschwin-
damals niemand mit ihm in Verbindung inhaftiert war, hatten zwei Diebe sein Haus den an einem Strand in der Nähe von Praia
brachte. in Praia da Luz heimgesucht. Sie stamm- da Luz missbraucht wurde. Die heute
ten ebenfalls aus Deutschland und hatten 23-jährige Frau sagte aus, sie sei sich in-
Sachsen-Anhalt, 2010. Christian B. war es auf die Beute von B. abgesehen. Einer zwischen zu 99 Prozent sicher, dass es sich
viel herumgefahren, in einem großen von ihnen, Helge Lars B., meldete sich um B. gehandelt habe. Zudem meldete
amerikanischen Reisemobil der Marke mehr als zehn Jahre später, im August 2017, sich eine Frau aus Irland und beschuldigte
Winnebago. Nun kaufte er sich wieder aus einem griechischen Gefängnis bei Scot- B. als den Mann, der sie 2004 an der Al-
eine feste Unterkunft. In Sachsen-Anhalt, land Yard. garve überfallen und vergewaltigt habe.
in der Gemeinde Am Großen Bruch, er- Ein paar Monate danach besuchten »Mein Mandant will sich zu den laufen-
warb er für 20 000 Euro das Gelände einer ihn deutsche Fahnder in Griechenland. den Ermittlungen nicht äußern und bestrei-
alten Kistenfabrik. Helge Lars B. erzählte ihnen, dass er nie- tet die Vergewaltigung der 72-jährigen Frau
B. hatte in dieser Zeit große Pläne. Er mals mit dem »Oberkellner« befreundet in Portugal«, sagt Rechtsanwalt Fülscher.
wolle dort einen Campingplatz eröffnen, gewesen sei, den er ein paar Monate vor
erzählte er einer Freundin. Tatsächlich der Verhaftung kennengelernt habe. Als Portugal, im September 2020. Man fährt
dealte er mit Drogen, kaufte kiloweise Christian B. im Gefängnis gesessen habe, rund eine halbe Stunde von Praia da Luz
Marihuana bei einem Dealer in Oranien- seien er und ein Komplize nach Praia da zu dem Mann, der Christian B. damals den
burg und verkaufte es auf Sylt. Die Dro- Luz gefahren. Zunächst hätten sie 200 bis VW-Bus geliehen hat. Der Schrauber aus
gengeschäfte flogen auf, gegen ihn wurde 300 Liter Diesel aus dem Tank hinter dem Deutschland lehnt mit langen grauen Haa-
ermittelt. Christian B. zog in den Kiosk Haus abgezapft, dann das Haus durch- ren und einem grauen Vollbart an einem
nach Braunschweig. sucht. Es sei voller Diebesgut gewesen, Auto mit platten Reifen, die Hände sind
In Internetchats, die aus dieser Zeit Kameras, Kleidung, Laptops. Im Kleider- ölig, die Hose zerrissen.
stammen, schrieb er nicht als »Wölkchen«, schrank habe er eine Schwimmbrille ge- Auf dem abgelegenen Hof in der Nähe
sondern »wahnsinnderholger«. Auch über funden, die merkwürdigerweise von innen von Messines stehen rostige VW-Golf und
seine Perversionen, etwa im Chat mit mit grauer Farbe bemalt gewesen sei. Er Mercedes, wie sie in den Achtzigerjahren
»panikspatz66«. habe zwei Videokameras und etwa 20 Kas- modern waren. »Zu Christian will ich
wahnsinnderholger: »will endlich ne setten mitgenommen, sein Komplize einen nichts sagen«, sagt der Mechaniker gleich,
kleine ficken!« Revolver. »der war halt ab und zu hier.« Die ganze
panikspatz66: »wer will das nicht« Auf einigen Videos, so erzählten es bei- Aufregung könne er nicht verstehen.
wahnsinnderholger: »etwas kleines ein- de Diebe später übereinstimmend in Mit dem weiß-gelben VW-Bus seien sein
fangen und dann tagelang benutzen, das Braunschweig vor Gericht, hätten sie ge- Sohn und er noch einige Jahre lang herum-
wärs …« sehen, wie Christian B. eine Frau, zwi- gefahren, nachdem B. ihn zurückgegeben
panikspatz66: »… ist auch nicht unge- schen 70 und 80 Jahren alt, vergewaltigt hatte, erzählt der Mann. Vor etwa zwei
fährlich.« habe. Eine andere Aufnahme habe ein Jahren kamen dann Beamte des Bundes-
wahnsinnderholger: »och wenn die be- Mädchen gezeigt, etwa 14 Jahre alt, das kriminalamtes vorbei und holten den Bus
weise hinterher vernichtet werden …« an einen Holzpfosten gefesselt gewesen ab. Sie glauben, dass Madeleine McCann
panikspatz66: »mm« sei. Die Aussagen der beiden Männer wi- damit entführt worden sein könnte.
wahnsinnderholger: »wenn zum Bei- dersprachen sich in Teilen; die Filme sind Hubert Gude
spiel der deepthroat zu lange dauerte …;)« nicht mehr aufzufinden.

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 57


Deutschland

»Hurra, wir leben noch«


dent der alternativen, satirischen »Stunk-
sitzung« einen inoffiziellen Karnevalszug
angeführt.
Becker: Wir haben einfach gesagt: »Wir
Brauchtum 1991 fiel der Straßenkarneval offiziell feiern doch!« Alle haben mitgemacht: die
aus, Köln feierte trotzdem. Das lag auch an Jürgen Becker. konservativen Kräfte, das Traditionskorps
Hier erklärt er, was man daraus lernen kann. Rote Funken und Teile des traditionellen
Karnevals. Aber es war auch die ganze
Alternativszene auf den Beinen. Viele Teil-
Becker, 61, tourt seit Jahr- gehört, dass man feiert, trinkt, sich hin- nehmer waren als Gespenster und Geister
zehnten als Kabarettist terher in den Armen liegt und verbrüdert. mit Sensen und Totenköpfen verkleidet.
durch Deutschland und Das können die Leute ab einem gewissen Sie haben den Golfkrieg mit Transparen-
moderiert die WDR- Alkoholpegel nicht mehr steuern. Des- ten und politischen Parolen thematisiert:
ddp images

Sendung »Mitternachts- wegen habe ich vorgeschlagen, den Kar- »Kein Blut für Öl« oder Ähnliches. Daraus
spitzen«. neval in den Mai oder Juni zu verschieben, ist die Tradition der Geisterzüge entstan-
dann ist die Situation vermutlich besser. den, die es bis heute gibt. Die Menschen
SPIEGEL: Herr Becker, Sie sind Kabarettist Verzichten lässt sich viel besser, wenn auf der Straße haben sich einfach riesig
und eingefleischter Kölner Karnevalist. man weiß, dass man es später doch noch gefreut, dass der Karneval doch stattfindet.
Straßenumzüge und die großen Sitzungen bekommt. Mich hat das an die Schilderungen von
werden diesmal nicht stattfinden. Wie lus- SPIEGEL: Wie gehen Sie als Kabarettist Karneval nach dem Krieg erinnert, als die
tig ist die Absage des Karnevals? dieses heikle Thema an? Leute einen Zug durch die Schuttberge der
Becker: Gar nicht. In manchen Städten mit Becker: Ich behaupte: Der Karneval in zerstörten Stadt machten. Das war nach
vielen Protestanten wäre das verkraftbar. Köln ist eigentlich sicher. Da ist nichts dem Motto: Hurra, wir leben noch, und
Aber in Köln? Da gerät der Psycho-Haushalt passiert im Frühjahr. Das waren doch nur jetzt gucken wir in die Zukunft. Ich denke,
der Stadt schwer durcheinander. Denn im die Karnevalsflüchtlinge, die uns die Ka- genau das wäre in Corona-Zeiten auch
Kölner schlummert der Karneval das ganze tastrophe eingeschleppt haben! Die sind wichtig.
Jahr. Wie ein Grizzlybär in der Winterruhe. abgehauen vom Karneval zum Skifahren SPIEGEL: Vergleichbar ist die Situation
Nur nicht dranpacken, sonst explodiert er. nach Ischgl. Ohne die hätten wir die ganze aber nicht.
SPIEGEL: Woher kommt diese Leiden- Pandemie nicht. Gut, es gab Heinsberg, Becker: Natürlich nicht, wir haben keinen
schaft für den Karneval? aber wer fährt schon dorthin zum Feiern? Krieg, sondern nur Verzicht. Und der war
Becker: Die Lust am Leben ist hier tief Kölner Karneval und Kölner Klüngel hin- in der Coronakrise gar nicht so schlimm:
verwurzelt, man will schon auf Erden das gegen haben Corona schon immer effektiv Wir waren ja viel näher an Schweden als
Paradies. Und: Jeder kann beim Karneval bekämpft. an Italien oder Frankreich, wir konnten
mitmachen. Das ist eine große Gemein- SPIEGEL: Wie das? noch vor die Tür und uns zumindest zu
schaft, der Kölner nimmt sich dann eigent- Becker: Der Kölner Klüngel hat als Mot- zweit treffen. Man sollte nicht nur jam-
lich jeden unter seine warme Decke. Die to eine Hygienemaßnahme: Eine Hand mern, sondern nach vorn schauen und an-
Integrationskraft des Karnevals ist sehr wäscht die andere. Und die Sicherheitsre- packen. Das kann man ganz gut vom Kar-
groß. Der Karneval hat eine gute Wirkung geln lassen sich schon an Karnevalsritualen neval lernen.
auf die psychische Gesundheit. Es müsste erkennen – die Kamelle wird eben nicht SPIEGEL: Im Rückblick hatte die Absage
ihn eigentlich auf Arztrezept geben. persönlich überreicht, sondern wegen der des Zuges 1991 also etwas Gutes, weil sie
SPIEGEL: Haben Sie dennoch Verständnis Abstandsregeln geworfen. den Karneval veränderte?
für die Absage? SPIEGEL: Schon einmal ist der Straßenkar- Becker: Not macht eben erfinderisch. Ich
Becker: Ich glaube sogar, der Karneval neval abgesagt worden, 1991 während des finde, der Karneval hat seitdem eine etwas
musste abgesagt werden. Zum Karneval Golfkriegs. Damals haben Sie als Präsi- andere Richtung genommen. Viele wuss-
ten das auch hinterher zu schätzen. So
etwas kann jetzt wieder passieren. Die Co-
rona-Einschränkungen zeigen ja, was im
Leben wirklich wichtig ist.
SPIEGEL: Was denn?
Becker: Sicher nicht der Flug auf die Ma-
lediven oder Shopping in New York. Wich-
tig sind letztlich Beziehungen. Andere
Menschen, Freunde. Und genau das macht
den Karneval aus. Wie viele Paare ha-
ben sich dort kennengelernt? Da kommt
»ElitePartner« nicht mit.
SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, dass
2021 erneut spontan ein alternativer Stra-
Oliver Multhaup / picture alliance / dpa

ßenkarneval stattfindet wie 1991?


Becker: Das wäre diesmal nicht wün-
schenswert, aber genau das ist das Problem.
Damals haben wir ja niemanden gefährdet.
Jetzt aber ginge eine gewisse Gefahr vom
Karneval aus. Ich würde mir wünschen,
dass wir diesmal diszipliniert bleiben.
Interview: Christoph Gunkel
Jecken vor Kölner Dom 1991: »Eine gute Wirkung auf die psychische Gesundheit«

58 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


LESE
P RO
BE

»Das Immer-mehr-und-
mehr ist falsch«
Nächste Woche im SPIEGEL: Die Stilbeilage S-Magazin beleuchtet, wie Corona unser
Verständnis von Genuss, Luxus und Lebensqualität auf den Prüfstand stellt.

High Fashion im erzwungenen Wandel: Wenn die Branche nicht untergehen will, muss sie sich neu erfinden

Der Modedesigner Dries van Noten, 62, hat zu Beginn der die Fast Fashion kopieren. Das Immer-mehr-und-mehr ist
Pandemie einen offenen Brief initiiert, der eine Revolution falsch. Covid-19 hat unsere Sicht auf Luxus verändert. Des-
der Fashion-Industrie fordert. halb müssen wir neue Standards finden, ein neues Normal,
das nur die Luxusbranche definieren kann! Wir sind mitten-
SPIEGEL: Herr van Noten, Sie fordern Ihre Kollegen zu mehr drin in dem Prozess. Schließlich können wir ja nicht zurück
Nachhaltigkeit und einem zur Lebenswirklichkeit passenden zu dem System vor Covid-19. Außerdem haben alle schon
Saisonrhythmus auf. Was hat Sie bewogen? genügend Kleider im Schrank.
Van Noten: Schon vor Covid-19 war ja offensichtlich etwas
falsch mit der Mode, sie hat sich überdosiert: zu viele Pro-
dukte, zu viele Kollektionen, zu wenig Verbindung zum Kun-
S-Magazin. Das Stilmagazin vom SPIEGEL Oktober 2020 www.spiegel.de/leben/stil/s-magazin

Weitere Themen im Heft


den. Bevor man etwas kaufen konnte, wurde schon die S-Magazin Nr. 12: Neue Lebensqualität Retro-Charme und digitale Mode – wie wir heute genießen
 Cottagecore: Traum und Wirklichkeit
nächste Kollektion gezeigt. Braucht kein Mensch. Mir wurde des einfachen Landlebens
im Lockdown klar, dass die Welt nach Covid-19 eine andere  Entschleunigung: Wie die Pandemie
sein würde, auch für Designer. Dass wir Verantwortung über- Gelegenheit zur Muße schafft
nehmen müssen. Wir haben Gedanken ausgetauscht, dann  Spiele: Zeit fürs Miteinander – oder
kam die Idee zum Brief: mal gucken, ob andere auch so den- Gegeneinander
ken wie wir. Am Ende hatten wir mehr als 600 Unterschrif- Computer-Schönheit
Das ist Shudu Gram,
das erste digitale
Topmodel der Welt.
Die virtuelle Superfrau
 Radikal vegan: Eine Restaurantköchin
ten von Leuten, die glauben, dass wir etwas bewegen können.
ist zurzeit gut gebucht

plädiert für eine neue Kulinarik


Das macht mich glücklich. Wenn so viele an Veränderung
glauben, sollte sie klappen. Das S-MAGAZIN liegt der SPIEGEL-Ausgabe der kommen-
SPIEGEL: Aber viele kleiden sich weiterhin in Fast Fashion. den Woche bei. Die kostenlose Stilzeitschrift lädt viermal
Van Noten: Stimmt, mir geht es aber um Luxus, und der im Jahr dazu ein, sich Gedanken über die schönen Dinge
muss sorgsam produziert sein, handgefertigt. Der darf nicht des Lebens zu machen.

59
Reporter
Stress
Wie oft darf ich Pizza
essen, Herr Kabisch?
SPIEGEL: Die Tiefkühlindustrie erwartet
für dieses Jahr Rekordabsätze, schon
2019 seien mehr als eine Milliarde Fertig-
pizzen in Deutschland verkauft worden.
Kabisch: Verständlich. Sie lassen sich
einfach zubereiten und liefern schnell
eine große Menge Kalorien. Gerade im
Homeoffice, in dem viele Menschen
wegen Corona arbeiten mussten in die-
sem Jahr, hilft Fertigpizza unseren Alltag
zu organisieren und reduziert Stress.
SPIEGEL: Zu viel Stress, um Kochen zu
können?
Kabisch: Unsere Gesellschaft leidet nun
mal unter Zeitmangel. Wir müssen wie-
der lernen, dass Nahrungsaufnahme Zeit
braucht, dass Essen ein wertvolles Ereig-
nis ist. Wir müssen uns die Zeit zur Vor-
bereitung, zum Kauen und zum Verdau-
en nehmen. Aber es gibt nicht die eine
Familienalbum Papiere in einen Plastikbehälter, der gute Ernährung, das ist ein Irrglaube.
auf ein Förderband gestellt wurde, Und man wird nicht automatisch gesün-
Plastikkugeln, so wie es heute mit dem Handgepäck der, nur weil man niemals eine Pizza isst.
beim Sicherheitscheck am Flughafen SPIEGEL: Wie viel Fertigpizza darf ich
1991 geschieht. Das Förderband bestand denn ungefähr essen, bevor es gesund-
aus kleinen schwarzen Plastikkugeln, heitsschädlich wird?
Klaus Rothbarth, 77, Berlin: darauf rollten die Ausweise zu den Kabisch: Das Produkt enthält – wie vie-
Die junge Frau mit der Jeansjacke ist Beamten. Dann musste man warten. le andere Fertiglebensmittel auch – viele
meine Tochter Gesa. Sie steht in den Die Sonne brannte durch die Auto- einfache Kohlenhydrate und gesättigte
verlassenen Baracken des Kontroll- scheiben, die Kinder auf der Rück- Fettsäuren, außerdem zu viel Salz. Das
punkts Dreilinden. Der war einer der bank weinten. Manchmal ließen sie trägt zu Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck
wichtigsten Grenzübergänge für West- uns sechs Stunden im voll bepackten und Übergewicht bei. Eine »gesunde
Berliner als Transitreisende durch die Auto sitzen. Jeder aus dem Westen Dosis« kennt niemand, je seltener, desto
DDR, nahe Potsdam. Man sieht auf schien verdächtig. Wenn ich an Drei- besser.
dem Bild die zerschlagenen Scheiben, linden denke, werde ich noch heute SPIEGEL: Es gibt gesündere Gerichte, die
den Unrat und den Müll. Als die Mau- wütend. auch schnell gehen, warum ausgerechnet
er fiel, sind die Volkspolizisten ein- An jenem Tag im Frühjahr 1991 Fertigpizza? Haben wir Deutschen einen
fach gegangen und haben alles stehen durchsuchte Gesa den Müll der DDR. schlechten Geschmack?
und liegen gelassen. Irgendjemand hatte randaliert und die Kabisch: Ach. Da sind wir Deutschen
Ich bin in West-Berlin geboren und Förderbänder zerstört, die kleinen gar nicht so besonders. Dass uns die Fer-
aufgewachsen. Der Kontrollpunkt schwarzen Kügelchen lagen überall tigpizza schmeckt, ist evolutionär
Dreilinden war für mich immer ein auf dem Boden herum. Gesa sammel- bedingt: Wir sind darauf programmiert,
Symbol für Kontrolle und Schikane. te sie auf. Sie zog sie auf einen Faden Kalorien zu bunkern. Fettige, aber auch
Wenn wir nach Italien in den Urlaub und machte daraus eine Halskette. Als süße Speisen schmecken uns deshalb
fuhren oder zu Verwandten und habe sie gespürt, dass man aus etwas besonders gut. Behalten Sie ein Stück
Freunden nach Stuttgart oder Mün- Schlechtem etwas Gutes machen kann. Tiefkühlpizza mal länger im Mund. Es
chen, mussten wir hier den Westen Es ist fast 30 Jahre her, aber sie trägt schmeckt nach kurzer Zeit süß wegen
verlassen. Man fuhr damals ein Stück sie manchmal noch. Die Kette sieht der Kohlenhydrate. Das mögen wir.
über die Autobahn, dann sah man schön aus. Wertvoll, irgendwie. SPIEGEL: Wann haben Sie das letzte Mal
meistens schon den Stau, die Autos Aufgezeichnet von Max Polonyi eine Pizza aus der Kühltruhe gegessen?
reihten sich oft kilometerlang anei- Kabisch: Vor mehr als vier Wochen.
nander. Die Volkspolizisten saßen in ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie
Salami. Ich war etwas im Stress. MAP
den kleinen Häuschen und kontrol-
Klaus Rothbarth

uns Ihre Geschichte erzählen möchten?


lierten mit stoischer Ruhe jeden, der Schreiben Sie an: Stefan Kabisch, 37, Studienarzt
passieren wollte. Man gab seine familienalbum@spiegel.de am Deutschen Institut für Ernährungs-
forschung Potsdam-Rehbrücke.

60 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


klingt es wie »Laische«. König engagiert sich im Fußballklub
Eine Meldung und ihre Geschichte
FSG 08 Schiffweiler-Landsweiler und ist beim örtlichen

Die Beute
Heimatverein Strauße 09 im Vorstand. Brauchtum sei ihm
wichtig, sagt König. Das Saarland sei das beste Bundesland
der Welt, er kenne hier im Ort fast jeden. In so einer Gegend
hätten die Leute keine Feinde. Das habe er zumindest ge-
dacht.
Warum ein Informatiker aus dem Saarland Er erzählt von jener Nacht, die ihn zum Verdächtigen
unter Mordverdacht stand machte, die dazu führte, dass in der Lokalzeitung sein Name
in Verbindung mit einer »Mördersuche« stand. Er streichelt
seine schwarze Bracke Chipsy und schüttelt dabei immer wie-

E s sei bestes Büchsenlicht gewesen, sagt Matthias König,


das Gras noch warm vom Tag, und die untergehende
Sonne habe den Himmel rot beleuchtet, als er sich am
Abend des 7. August auf einem Hochsitz bei Illingen auf die
der den Kopf. So, als verstünde er noch immer nicht, wie
das passieren konnte.
Matthias König ist Jäger. Er saß auf seinem Hochsitz, als
plötzlich Wildschweine kamen, eine ganze Rotte. Sie hätten
Lauer legte. König war allein. Er betrachtete die Senke vor richtig Radau gemacht, wie sie mit ihrem Gebrech durchs
ihm und lauschte den Rufen der Waldohreule. Eine Stunde Unterholz pflügten, sagt er. Er nahm sein Gewehr und zielte
lang passierte gar nichts, so erzählt er es. Dann hörte König auf das größte Schwein. Nach dem Schuss kletterte er vom
sie kommen. Es habe geklungen, als fiele eine Panzerarmee Hochsitz und ging zu ihm hin. Auf dem Weg nahm er sein
ins Saarland ein. König nahm sein Gewehr und zielte. Er Handy und rief seinen Bruder an. Er habe Beute gemacht,
drückte ab. erzählte er ihm, ein großes Stück. Er brauche Hilfe beim
»Blattschuss«, sagt er, »knapp über die Schulter. Taumelte Transport. Der Keiler lag reglos im Gras. Ein kompakter
noch zehn Meter in die Hecke und fiel um.« In diesem Mo- Kerl, sagt König, 60 Kilogramm mit Hauern so lang wie
ment, sagt König, habe er Demut Daumen. König legte ihm Tannen-
gespürt. Er sagt, das fühle er jedes zweige ins Maul, so ist es Brauch
Mal, wenn er ein Leben beende. bei Jägern. Das Herz des toten Tie-
König besitzt ein Gewehr der res könne dann zum Himmel fah-
Marke Mauser, Kaliber .30-06. ren, sagt er.
Der Knall schallte über die Felder, Als sein Bruder kam, nahmen
sagt König. Er sei sicher bis ins sie das Wildschwein und fuhren es
nächste Dorf zu hören gewesen. in Königs Auto zu ihrem Eltern-
Es war gegen 1.30 Uhr in dieser haus. Sie nutzen die Garage zum
Nacht, sechs Stunden später, als es Zerlegen der Tiere. Die Brüder tru-
bei Königs an der Haustür klingel- gen den Keiler aus dem Auto in die
te. Erst ein paarmal, dann immer Garage und weideten ihn aus. Sie
energischer. König zog sich hastig legten das Fleisch in einen Kühl-
an und ging zur Tür. Dort sah er schrank, putzten ihre Messer und
drei Polizisten in Uniform. Die Be- fuhren davon. König wohnt mit
amten seien angespannt gewesen. seiner Verlobten bei deren Eltern
Er sei beobachtet worden, wie er im Nachbardorf. Er sei gegen Mit-
eine Leiche in eine Garage im ternacht dort gewesen, sagt König,
Nachbarort getragen habe, sagten er habe sich zu seiner Frau ins Bett
sie. Sie hätten auch Blut gefunden, gelegt und sei sofort eingeschlafen.
an seinem Wagen und drüben vor Anderthalb Stunden, dann klingel-
Privat

der Garage. Am anderen Haus war- te es an der Tür.


teten vier Einsatzwagen, Feuer- Jäger König (l.) mit Bruder Der englische Begriff »Swatting«
wehr und Polizei. Er komme jetzt bezeichnet eine Straftat, bei der je-
mal besser mit. mand mit einem Notruf falschen
Sie fuhren mit ihm ins Nachbar- Alarm auslöst. In Deutschland
dorf. König besitzt dort ein Haus, Von der Website der »Saarbrücker Zeitung« kann Notrufmissbrauch mit bis zu
darin ist er aufgewachsen. Das einem Jahr Gefängnis bestraft wer-
Haus steht in einer Siedlung und den. Es ist ein Phänomen in der
ist unbewohnt. Als er dort ankam, habe alles vor Blaulicht Gaming-Szene, das sich gegen Computerspieler richtet. Man-
geleuchtet, sagt König. Er sah den Blutfleck vor der Garage, che anonymen Täter führen Listen mit Menschen, bei denen
nicht größer als eine Untertasse. Er nahm seine Schlüssel und sie falschen Alarm ausgelöst haben. Ihre Opfer nennen sie
öffnete das Garagentor. Er führte die Polizisten in einen ge- häufig »Prey«, das ist englisch für Beute. König sagt, er spiele
fliesten Raum, in dem Seile von der Decke baumeln. Es gibt keine Computerspiele. Als ihn die Polizisten zur Garage ge-
auch einen Edelstahltisch wie in einer Metzgerei, darauf lag leiteten, habe er sich die ganze Zeit gefragt, welches Arsch-
ein Etui mit scharfen Messern. An der Wand steht ein Kühl- loch ihn angeschwärzt habe.
schrank, darin lag seine Beute. König öffnete ihn. »Frische Jemanden des Mordes zu bezichtigen, schlimmer gehe es
Wildsau«, habe König gesagt. Einer der Polizisten habe sich ja nicht. Er habe jemanden in Verdacht. Die Alteingesessenen
fast übergeben. Dann hätten sich die Beamten bei König ent- des Dorfes munkelten von Jagdgegnern, Zugezogene. Viel-
schuldigt. Sie hätten ihn nach Hause fahren lassen. Er habe leicht hätten sie ihn in der Nacht gesehen und wollten ihm
die ganze Nacht nicht schlafen können, sagt König. einen vor den Bug geben. Er habe überlegt, sie zur Rede zu
Matthias König ist 35 Jahre alt, er arbeitet als Informatik- stellen. »Aber was, wenn’s dann doch jemand anders war?«,
kaufmann. Er ist im Saarland geboren und aufgewachsen, fragt König.
man kann sich ihn nur schlecht woanders vorstellen. Er 25 Kilogramm Fleisch habe der Keiler gebracht, die Hälfte
hat einen breiten Dialekt, wenn er das Wort »Leiche« sagt, hätten sie schon aufgegessen. Max Polonyi

61
Reporter

Das Ende der Party


Freizeit Die Nacht ist in Verruf geraten. Techno-Raves, Bars und
Spontanfeten im Park gelten in Zeiten von Corona und Sperrstunden als
verdächtige Hotspots. Drängt uns die Krise in ein neues Biedermeier?
Über eine Tageszeit, ohne die viele nur schlecht leben können.
Daniel Rosenthal

62 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


D
ie Einladung kommt per Mail. möglich ist und Anderssein und Sichaus-
Ein paar Namen, ein Datum: probieren; wo nicht vor jeder Geste im
Samstag, 16 Uhr bis Sonnenauf- Bürgerlichen Gesetzbuch nachgeschlagen
gang. Dazu ein Link zu Google werden muss. Eine Gesellschaft braucht
Maps: ein Brachgelände, irgendwo in diese Orte, weswegen Gwiazdzinski und
Berlin-Charlottenburg, in der Nähe der andere in ihrem »Night Manifesto« ein
S-Bahn-Trasse. »Recht auf die Nacht« fordern. Ein Bürger-
Es geht dann über das Gelände einer recht auf kontrollierte Transgression.
Spedition, wo ein paar Männer gerade Aber mit der Kontrolle ist das so eine
einen Container mit Kartons beladen. Da Sache. Die Infektionszahlen in vier Berli-
hört man ihn schon, den Puls einer Bass- ner Innenstadtbezirken sind die eines Ri-
drum, UumpUumpUumpWoschUump. Der sikogebiets. Und verantwortlich werden
Zaun am Lagergelände hat eine Lücke, vor allem die jungen Leute gemacht, die
hier geht es durch, noch ein Stück weiter, in der Nacht das gesucht haben, was viele
dann ist man da. Dort, wo die wilden Ra- in der Nacht eben suchen: Nähe zu ande-
ver hausen, im Illegalen, mitten in Berlin, ren, den Rausch, das Ungeplante. Neben
eingeklemmt zwischen Schienen und Ge- der offiziellen Nacht, über die die Ord-
werbegrundstücken. nungsämter Bescheid wissen, scheint es
Zwei Hippies sitzen an einem Camping- noch eine andere Nacht zu geben. Die,
tisch und begrüßen freundlich. Sie haben über die nichts bekannt ist.
ein paar Blätter Papier vor sich liegen. »Hi, Und jetzt also: Kontaktverfolgungsliste?
schön, dass du gekommen bist.« Und dann Sperrstunde?
stellen sie die Frage aller Fragen. Die Als die Sonne untergeht, tanzen die
Nachtfrage. »Trägst du dich in die Kon- Ersten auf der Party in Charlottenburg.
taktverfolgungsliste ein?« Andere sitzen auf Holzbohlen und Bier-
Ist dies eine der Partys, vor denen die kästen. Joints gehen herum, ein Paar teilt
Bundeskanzlerin warnt? Eine der Veran- sich eine Pille. Möglich, dass sich mancher
staltungen, die dieses Land wieder einmal weiße Bahnen von seinem Handydisplay
nur bedingt abwehrbereit zeigen gegen die schnupft, möglich auch, dass andere
unkontrollierte Ausbreitung des Virus? sich zu viert in eine Toilettenkabine zwän-
Wurde hier die relative Sicherheit der ver- gen und erst nach einer Viertelstunde
gangenen Monate verspielt? wieder herauskommen – die Nacht ist
Ab Samstag, dem 10. Oktober, gilt in nicht immer geeignet für die Blicke der
der deutschen Hauptstadt eine Sperrstun- Öffentlichkeit.
de. Zwischen 23 Uhr abends und 6 Uhr Es wird gestritten um die Nacht, aus un-
morgens müssen alle Restaurants und Bars terschiedlichen Gründen. Politiker und
geschlossen sein. Selbst Tankstellen und Virologen sorgen sich wegen der hohen
die berühmten Spätis müssen ihre Bier- Infiziertenzahlen in Bezirken wie Neu-
kühlschränke zusperren. Das gab es seit kölln, Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte
1949 nicht mehr. Egal was los war, ob die oder Tempelhof-Schöneberg. Klubbetrei-
Mauer gebaut wurde oder sich Autonome ber sorgen sich, weil sie Angst um ihre
und die Polizei prügelten: die Freiheit, sich Existenz haben.
rund um die Uhr betrinken zu können, Regulierung, da sind sich fast alle einig,
war heilig. Berlin, die offene Stadt. ist lebenswichtig. Freiheit aber auch. Kann
Doch die Wissenschaft kann gnadenlos beides zusammengehen? Muss beides zu-
sein. Zwei wirksame Maßnahmen gegen sammengehen in einer aufgeklärten Ge-
die Corona-Pandemie, so eine neue Studie sellschaft? Wenn ja, dann wie?
der CDC, das ist die amerikanische Bun- Anders als die aufgeregten Nachrichten
desbehörde für Infektionskrankheiten, über Corona-Partys es behaupten: Das
sind: Maske tragen – und Bars schließen. weltberühmte Berliner Nachtleben steht
Dabei hatten die meisten Klubs im still. Über 140 Klubs gab es im März. Auf
März schon freiwillig zugemacht, noch be- den Flughäfen drängelten sich freitags die
vor der Senat die Kontaktbeschränkungen Gäste, die mit den Billigfliegern gekom-
für die Stadt beschloss. Es war der Versuch, men waren – montagvormittags ging es
vernünftig zu sein – einer Branche, die ei- wieder nach Hause.
gentlich für die organisierte Unvernunft Jetzt ist noch ein Fünftel der Klubs ge-
zuständig ist. öffnet. Die, die einen Garten haben, ver-
Und nun das. Irgendetwas scheint da kaufen draußen Getränke. »Sektgarten«
gründlich schiefgegangen zu sein. nannte es das ://about blank, ein Laden
»In einer Krise wird deswegen als Erstes am Ostkreuz, getanzt werden durfte nicht.
die nächtliche Ausgangssperre verhängt, In Oberhausen oder Ludwigsburg finden
also die Freiheit aufgehoben, sich im Dunk- bereits die ersten »Sitz-Diskos« statt, mit
len zu bewegen«, sagt der französische dem Hinweis: »Keine Tanzveranstaltung«.
Nacht-Geograf Luc Gwiazdzinski. Die Das erinnert an Prohibition oder an ka-
Nacht ist nicht nur eine Tageszeit. Sie ist tholische Jugendgruppen. Das berühmte
Feiernde in der Berliner Hasenheide ein Raum und im Zweifel ein Raum der Berghain ist vorübergehend zur Galerie
Freiheit. Ein Ort, wo soziale Vermischung geworden, Barleute haben umgeschult und

63
Reporter

führen nun durch die Ausstellung. Nie- Die Privaten tragen immer noch ein teristischen Erscheinungen der modernen
mand möchte sein Personal verlieren, die hundertprozentiges Risiko. Sie beklagen städtischen Zivilisation«, schreibt Wolf-
eingeübten Abläufe sollen nicht in Verges- den bürokratischen Aufwand, um an die gang Schivelbusch in seiner »Geschichte
senheit geraten. Corona-Hilfen zu kommen, den Personal- der künstlichen Helligkeit«. Aus den Hof-
Aber nur weil die Klubs fehlen, ist der aufwand, den sich Kleinverdiener nicht festen des Adels wurden die bürgerlichen
Wunsch nach Rausch nicht abgestellt. An immer leisten können. Vergnügungsparks – und später dann die
der Berliner Museumsinsel kommt es bei- Im Sommer haben die Veranstalter be- antibürgerlichen Technobunker.
nahe Wochenende für Wochenende zu reits viel Geld verloren. Anders als in an- Da werden die Schranken des Alltags
Rangeleien zwischen betrunkenen Schü- deren Ländern gab es in Deutschland »ein Stück weit« (Gesundheitsminister
lern und der Polizei, manchmal fliegen kaum Open-Air-Veranstaltungen. Die Fes- Jens Spahn) gehoben. Da schaut man nicht
Bierflaschen. Und in der Hasenheide, ei- tivalsaison, die sonst das Geld einspielt, so genau hin. Da spricht es sich leichter
nem Park zwischen den Stadtteilen Neu- mit dem Künstler, Musiker und Veranstal- mit Leuten, die man bei Tageslicht eher
kölln und Kreuzberg, haben die Beamten ter durch die dunkle Jahreszeit kommen, meiden würde.
mittlerweile so viele Soundanlagen be- fiel aus. »In der Symbolik und den Mythen der
schlagnahmt, dass der Bezirksbürgermeis- Jetzt droht der Herbst, der Winter. Am meisten Völker ist die Nacht das Chaos, der
ter Martin Hikel witzelte, die Polizei könne 25. Oktober endet die Sommerzeit, die Schauplatz der Träume«, schreibt Schivel-
demnächst ihren eigenen Klub aufmachen. Nächte müssten länger werden. Aber es busch, »sie wimmelt von Gespenstern und
Daraus wird wohl nichts werden. Auf sind nicht mehr dieselben Nächte. Es wird Dämonen, wie das Meer von Fischen und
die Schließung der Klubs im März folgen nicht nur eine dunkle Zeit, es wird auch Seeungeheuern. Sie ist weiblich, wie der
nun die Einschränkungen für die Bars. eine leere. Tag männlich ist, und wie alles Weibliche
Die Stadt wird von Abend zu Abend birgt sie Ruhe und Schrecken zugleich.«
stiller, je kälter die Nacht, je ungemütlicher Die künstliche Helligkeit hat die west-
es vor den Türen ist. In Frankfurt, Mün- Ungute Nachtgeschichten liche Zivilisation ebenso stark verändert
chen, Stuttgart das gleiche Bild, auf St. Pau- Die Nacht hatte schon immer einen wie Dampfkraft und Telegrafie. Längst
li wie in St. Anton. Es ist wie beim Älter- schlechten Ruf, von Anfang an. »Und Gott geht es in Großstädten eher darum, sich
werden: Jedem Exzess wohnt plötzlich sah, dass das Licht gut war«, heißt es in gegen die Herrschaft der Photonen zur
eine Wehmut inne, weil nichts mehr so ist der Schöpfungsgeschichte. So blieb es. Das Wehr zu setzen. Nicht nur Astronomen,
wie einst. Die Unschuld ist weg. Es ist, als »finstere« Mittelalter wurde von der »Auf- auch Schlafforscher und Chronobiologen
ob sich die Nacht aus der Öffentlichkeit klärung« abgelöst. Und spätestens seit der beklagen die Folgen der Lichtverschmut-
zurückzieht. Sich verkriecht in die eigenen Nürnberger Elektrobastler Sigmund Schu- zung. Den Städten wird das Schummerige
vier Wände, in Sofaecken, zwischen Kopf- ckert am 7. Juni 1882 den Schalter umlegte ausgetrieben, das Zwielicht samt der Grau-
hörer. Es droht – das Ende der Nacht. zur ersten dauerhaften elektrischen Stra- zone zum Verruchten.
ßenbeleuchtung, ist die Nacht auch in Ausgerechnet in der kürzesten Nacht
Deutschland auf dem Rückzug. der nördlichen Halbkugel, jener zum
Die Nacht ist in Gefahr Klubs und Bars sind sehr eigene, sehr 21. Juni, zeigte die Nacht ihr hässliches
Steffen Berkhahn, alias Dixon, ist einer spezielle Orte. Sie locken Menschen aus Gesicht. In der Stuttgarter Innenstadt lie-
der erfolgreichsten House-Music-DJs der der Provinz in die Stadt, seit je. »Das ferten sich einige Dutzend überwiegend
Welt, mit rund hundert Auftritten im Nachtleben, das sich seit dem 18. Jahrhun- junge Männer eine heftige, teils brutale
Jahr – damals, vor der Pandemie. Jetzt er- dert in den europäischen Metropolen he- Schlägerei mit der Polizei. Es kam zu Plün-
zählt er von einem Auftritt in Basel, von rausbildete, (wurde) zu einer der charak- derungen, Autos wurden demoliert, es war
vorbezahlten Tickets wie beim Opernbe- heiß, eng, laut. Gewalt als pervertierte
such, von QR-Codes und Kontrollanrufen Form der Ekstase.
und dreifacher Kontrollschleife. Es ist gro- Auslöser war eine Polizeikontrolle gewe-
tesk: Vor der erhofften Anonymität der sen. Ministerpräsident Winfried Kretsch-
Nacht steht deren völlige Ausleuchtung. mann stand erschüttert vor dieser »Gewalt-
»Ist das die Zukunft, die wir zulassen orgie« – und vergaß vor Schreck, dass
wollen?«, fragt Berkhahn, es klingt erstaunt, er selbst in seiner eigenen maoistischen
resigniert, aber auch irgendwie zuversicht- Jugend ganz andere Gewaltorgien zumin-
lich. Es wäre immerhin eine Zukunft. Bes- dest geduldet hatte.
ser als das Nichts. Der Stuttgarter Grünenstadtrat Marcel
Die Berliner Clubcommission hat Ver- Roth sieht in den Covid-19-Beschränkun-
anstaltern eine Checkliste an die Hand gen einen Hauptgrund für die Randale.
gegeben. Sie liest sich wie vom Bundes- Die Brutalität erklärt sich für ihn
verwaltungsgericht formuliert und ist ein aus einem toxischen Verständnis von
verzweifelter Versuch zu retten, was zu Männlichkeit, nicht aber der Zeitpunkt:
retten ist. Das Virus hat die Nacht genau »Diese Leute waren seit Monaten ohne
da erwischt, wo sie am empfindlichsten ist, ihre Klubs und Jugendzentren, ohne die
René Lohse / DER SPIEGEL

in ihrem Kern: dem Wunsch nach mensch- üblichen Plätze, wo sie etwas trinken
licher Nähe. und die Nacht durchtanzen können. Also
Die Entwicklung betrifft keine Randgrup- sind sie mit selbst gemischtem Wodka-
pe. Die Veranstaltungsbranche, Deutsch- Cola an den Eckensee.« Die Bilder von
lands sechstgrößter Wirtschaftszweig, hat den Floyd-Protesten in den USA waren
längst die Alarmstufe Rot verkündet. Wer noch frisch.
nicht auf staatliche Zuwendungen hoffen »Der Wunsch, sich fallen »Der Jugend ist die Suche nach Rausch
kann, für den bedeutet eine halb leere
Konzerthalle eben nicht nur getrübten Ge-
zu lassen, geht nicht weg.« innewohnend«, sagt der 28-jährige Stadt-
rat. Auch er vermisse die Nacht, diesen
nuss. Da geht es um die Existenz. Steffen »Dixon« Berkhahn, DJ tranceartigen Zustand, wenn alle um den

64 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Philipp Schmidt / DER SPIEGEL
Spaßbeamtin einer Eventagentur vor dem Hamburger Dollhouse: Druckregulierung ist ein Balanceakt

DJ herumstehen, dicht an dicht und doch zung, Rausch und sexuellem Versprechen himmel so verheißungsvoll bunt wie vor
jeder selbstverloren in seinem eigenen Uni- und kaum künstlich herzustellen. Jeden- Corona. Aus den Bars schwappt Musik
versum. falls nicht von einer Abteilung für kom- nach draußen und vermischt sich zu einem
»Nun ja«, sagt Roth. Eine der ersten munales Stadtmarketing. Brei aus Schlager, Techno und Achtziger-
Maßnahmen nach den nächtlichen Aus- Es gibt keine Formel dafür. »Es geht an Hits, und doch ist etwas anders. Der
schreitungen sei übrigens Aufklärung ge- diesen Orten darum, sich für eine Weile Rausch ist nach wie vor zu haben, aber
wesen: »Das Land, dem die Flächen gehö- zu vergessen«, sagt Norbert Bisky, einer die neuen Regeln, das spürt man, haben
ren, hat ein neues Beleuchtungskonzept der wichtigen deutschen Maler der Gegen- ihn an die Leine genommen.
umgesetzt.« Flutlicht und Scheinwerfer ge- wart und Nachtschwärmer. »Du suchst die Im Shooter’s ist Happy Hour, »Alle
gen junge Männer, die einen Ort und ein Transzendenz. Du möchtest aus dir heraus Cocktails nur 5 Euro« steht da geschrieben,
Ziel suchen. und in einen Zustand der Entgrenzung und dazu gibt es Kurze namens »Orgasm«,
Die Obrigkeit wartet schon lange auf der Ekstase eintreten.« »Mexikaner« und »BMW«. Aber wer trin-
die Ausleuchtung der dunklen Ecken. In ken will, muss sich zuerst vom Türsteher
Johann Heinrich Jungs »Lehrbuch der registrieren und belehren lassen: Hier gilt
Staats-Polizey-Wissenschaft« findet sich Rausch mit Regeln Maskenpflicht. Getrunken wird nur am
1788 die Feststellung: »Jeder, der sich zu Freitagnacht in Hamburg-St. Pauli. Zwei Platz. »Und es ist Tanzverbot. Viel Spaß«,
ungewöhnlicher Zeit, an ungewöhnlichen Tage nach den ersten Berichten über den sagt der Witzbold am Einlass.
Orten und ohne Licht betreffen läßt, muß Ausbruch in der Bar Katze im benachbar- Drinnen läuft »I Wanna Dance With
sich der strengsten Untersuchung unter- ten Schanzenviertel läuft die Große Frei- Somebody« von Whitney Houston. Alle
werfen.« heit nach und nach wieder mit Partygäs- paar Minuten muss ein Mitarbeiter wie
Das gilt 1788 nicht weniger als 2020 in ten voll. Da schwanken die ersten Jung- ein Kindergärtner von Tisch zu Tisch lau-
Stuttgart und in den Brachen und Parks gesellen über die legendären 350 Meter fen und die Betrunkenen daran erinnern,
Deutschlands. Unter dem Diktat des Virus zwischen Reeperbahn und Paul-Roosen- dass sie ihre Körper still halten sollen. So-
wird der Staat wieder zum Nachtwächter. Straße, von ihren Freunden in Engels- bald er sich umdreht, wippen sie wieder.
Unter dem Schild der (gesundheitlichen) kostüme gesteckt, mit weißer Perücke Druckregulierung ist ein Balanceakt.
Aufklärung wird jetzt, in diesen viralen und rosa Tutu. Da sind ITler aus Lübeck Private Versammlungen können außer
Zeiten, der Nacht zu Leibe gerückt. Ihr auf Betriebsausflug, die sagen: »Man muss Kontrolle geraten, darin liegen Reiz und
wird das Eigentliche genommen: das nicht ja nach dem ganzen Corona auch mal Risiko. Wilde Party, das meint: keine Ner-
Kontrollierbare. Das Zwielichtige. leben.« verei mit Behörden. Freiheit. Aber auch
Denn »Nacht«, das ist eine eigenartige Die Neonleuchten vom Dollhouse und Unvorhersehbarkeit, fehlende Kontrolle
Mischung von Dunkelheit, Tabu, Entgren- dem Safari Bierdorf bespielen den Nacht- und Anonymität. Wahrscheinlich genau

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Gordon Welters / NYT / REDUX / laif
Tanzende, DJ im Technoklub Griessmühle in Berlin: »Ist auch ein Therapieraum, so ein Klub«

das, was in den vergangenen Wochen das Party, die das ganze Wochenende dauere, lere Ebene der Klubs, die Barkeeper und
Infektionsgeschehen getrieben hat. habe eine andere Dynamik als eine Feier, Garderobenleute, aber auch die Flaschen-
die nur ein paar Stunden gehe. Doch wenn sammler und ihre Freunde, drängen auf
das Feiern nicht erlaubt sei, gehe es eben Wiedereröffnung der Klubs.
Kontrollierter Kontrollverlust in die Illegalität. Und wenn es draußen ver-
Die Balance zwischen dem Wilden und folgt werde, würden sich die Leute privat
der Ordnung ist das Geheimnis des Nacht- treffen. Aus epidemiologischer Sicht sei es Kleine Freiheit
lebens. Es geht um Räume, die den Kon- da doch auf jeden Fall besser, die Partys in »Wir sind jetzt eine Große Freiheit mit ge-
trollverlust erlauben, aber selbst einiger- Klubs stattfinden zu lassen, glaubt er. stutzten Flügeln«, sagt Christian Fong. Er
maßen kontrolliert sind. Wie das während Klubbetreiber wissen, wie mit Drogen- steigt im Dollhouse, Deutschlands wohl
einer Pandemie gehen soll, ist unklar. Mas- Unfällen umzugehen ist, Amateure nicht bekanntester Tabledance-Bar, auf eine der
ken, die als Fashion-Element verteilt wer- immer. Im September starb in Hamburg Plattformen und zieht einen durchsichti-
den? Darauf hoffen, dass die Leute sich eine 16-Jährige an einer hoch dosierten gen Duschvorhang zu, den er sich umge-
nicht zu nahe kommen? Im Augenblick lie- »Super-Pille«, die sie bei Freunden einge- legt hat. Fong, 52, ist hier Geschäftsführer.
gen die Hoffnungen zumindest der Berli- nommen hatte. Er führt auch die Geschäfte von vier wei-
ner Klubbetreiber auf Schnelltests an der Bei einigen illegalen »Quarantine Raves« teren Läden auf der Großen Freiheit, vom
Tür. Darauf, dass Partys dann eben Partys im Raum Manchester waren es Drogen- Safari Bierdorf zum Beispiel und dem
der Negativ-Getesteten sind. bosse, die das Soundequipment und die Shooter’s schräg gegenüber.
Steffen »Dixon« Berkhahn hat in Klubs DJs organisierten. Der Verkauf von Ko- Die Duschvorhänge seien Teil seines Hy-
in Shanghai gespielt, in Indien, im Bade- kain, MDMA, Ketamin, Cannabis und gienekonzepts, sagt Fong. Außerdem habe
zimmer eines Rapmoguls in Miami. Wer Lachgasbehältern machte die Veranstal- er mehrere Desinfektionsspender im La-
Platten auflegt, kommt herum. Mehrere tung profitabel. Von ähnlichen Raves in den. Er will nun zeigen, wie das geht: Strip-
Jahre war er der Stamm-DJ des wichtigs- Brixton und Carrington wurden eine Ver- pen in Corona-Zeiten, kontaktlos und mit
ten Klubs von Ibiza, die legendäre Royal gewaltigung und teilweise lebensgefähr- Spuckschutz. »Kopf zwischen die Beine
Albert Hall in London hat er schon in ei- liche Messerstechereien gemeldet. und Schein mit dem Mund übergeben geht
nen Technoklub verwandelt. Doch die Konflikte, wie mit der Situa- nicht mehr«, sagt Fong. Was geht: Strip-
»Der Wunsch, sich fallen zu lassen, ist tion umzugehen ist, ziehen sich auch durch pen nur kontaktlos, mit Mundschutz. Die
nicht abzustellen«, sagt Berkhahn. Er sei die Szene selbst. Die meisten Klubbetrei- Scheine würden jetzt von den Gästen un-
auch überall derselbe. Was sich unterschei- ber sind durchaus verantwortungsbewusst, ter dem Duschvorhang durchgeschoben.
de, seien die Zeitfenster, die dafür zur Ver- sie wollen nicht riskieren, dass ihre Läden Das klappe gut, nur manchmal, erzählt
fügung stünden, und die Erwartungen. Eine als Infektionsorte dastehen. Aber die mitt- eine Kellnerin, wollten Gäste einen Kno-

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Reporter

ten in den Vorhang machen. Die müssten »Viele Betriebe haben wegen Überregu- de Ende August zum Super-Spreading-Er-
dann leider gehen. lierung aufgegeben«, sagt Klee. Die Adres- eignis. Tja, sagt Stephanie Klee: »Das
»Die Leute haben keine Lust mehr, ein- se angeben, möglichst auch noch die Tele- kommt von Pfuscherei.«
geschränkt zu sein. Denen fällt die Decke fonnummer zu Hause? Zur Not geht das,
auf den Kopf in Lübeck und Pinneberg aber in die Separees womöglich nur als
und Norderstedt«, sagt Fong. Und die Jun- »gemeinsamer Haushalt«? Das ist nicht das Standortfaktor Nacht
gen seien eh kaum zu bremsen. »Die sagen Gleiche. Scharf gezogen waren sie nie, die Grenzen
sich: Wenn ich dieses Virus kriege, ist das »Große, sehr gut geführte Häuser wie zwischen Puff und Party, zwischen Ver-
doch nicht schlimm. Dann hab ich viel- das Pascha in Köln haben Insolvenz ange- ruchtheit und dem Thrill des Anderen. In
leicht ein bisschen Fieber, Kopfweh und meldet«, sagt Klee. »Die haben zwar viel den vergangenen Jahren ist die »Nacht«
das war’s.« Er habe noch nie so viel mit Personal, das Kurzarbeitergeld bekommt, sogar zum Lieblingskind des Stadtmarke-
Gästen diskutiert wie in den vergangenen das Hilfsgeld deckt aber nur einen Teil der tings geworden, Lieferantin von Bildern
Wochen. Am Ende seiner Schicht könne Betriebskosten.« für die Imagebroschüren. Das Nachtleben
er nur noch krächzen, sagt Fong. Hinter den Regeln vermutet sie Philis- als Indikator von Urbanität und als Aus-
Fast fünf Monate lang hätten sie den La- tertum. In Berlin, wo die Rotlichtbranche weis subkultureller, toleranter Coolness:
den schließen müssen, jetzt haben sie eine mit am runden Nacht-Tisch sitzt, sind die Auch Pinneberg »never sleeps«.
Auslastung von gerade mal 30 Prozent. Bordelle seit Anfang August wieder geöff- Amsterdam ernannte als erste Groß-
Vor allem auch, weil die Touristen fehlen, net, seit September sogar mit Verkehr. »In stadt 2012 einen »Nacht-Bürgermeister«,
die »besonders sauffreudigen« Skandina- Berlin kennt und schätzt man uns«, sagt London folgte mit seinem »Nacht-Zaren«.
vier und Engländer. »Wenn das noch ein Klee, anders in Regionen, die sie als bür- Inzwischen haben immer mehr Metropo-
halbes Jahr so weiterläuft, sind die Lichter gerlich und verspießt bezeichnen würde: len (und solche, die es werden wollen) ver-
aus«, sagt er. Und zwar bei vielen Läden Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein- gleichbare Einrichtungen.
auf dem Kiez. Westfalen, Baden-Württemberg. Aber kaum eine Stadt hat die Nacht so
Eine Gesellschaft braucht Ventile, mit Die meisten Sexarbeiterinnen aus Ost- zu ihrem Markenkern gemacht wie Berlin.
deren Hilfe kontrolliert Druck abgelassen europa seien während der Krise nach Hau- Als Wahrzeichen ist das Nachtleben an die
werden kann. Dieses quasihydraulische se gefahren. Andere hätten sich auf Anzei- Stelle der Mauer getreten. Manchmal
Weltverständnis ist besonders in der Rot- gen in Tinder verlegt oder seien ins Stra- buchstäblich. Als Dimitri Hegemann sich
lichtszene verbreitet, und Stephanie Klee ßengeschäft abgewandert. »Der Markt hat damals von einem Hausmeister durch die
ist zu lang im Geschäft, um sich über die sich verändert. Die guten Kunden sind Ruine des alten Wertheim-Kaufhauses füh-
real existierende Moral dieses Landes weggeblieben, übergeblieben sind die res- ren ließ, gab es davor eine riesige Brache
noch Illusionen zu machen. »Wo gefeiert pektlosen Kunden, die die Preise gedrückt mit Blick auf die Mauerreste. Hier war
wird, wird auch gefickt«, sagt sie. »Egal und Leistungen verlangt haben, die nicht jahrzehntelang lang die Welt zu Ende ge-
ob Karneval oder Oktoberfest. Was im okay waren. Oder übergriffig wurden. Die wesen.
Bierzelt nicht so geht, wird im Bordell Frauen zeigen es nicht an, weil sie nicht Hegemann, ein typischer Kreuzberger
nachgeholt. Ist doch so.« hätten anschaffen gehen dürfen.« Slacker, der aus der Provinz nach West-
Klee ist eine der Sprecherinnen vom Klee fürchtet, dass ein Teil ihrer Branche Berlin geflohen war, der Musik liebte und
BDS, dem »Bundesverband Sexuelle in den Untergrund gehen oder dort blei- Festivals organisiert hatte, entdeckte den
Dienstleistungen«. In jeder Stadt, sagt sie, ben wird. Wie einst bei der Prohibition. ehemaligen Eingang zum Tresorraum des
»gibt es Klubs mit Räumen oder Ecken, in Mit entsprechenden Risiken. Eine privat Kaufhauses.
denen man mit einer völlig fremden Per- organisierte Sexparty in Berlin-Mitte wur- Es ist einer der mythischen Augenblicke
son etwas machen kann. Was ja ungemein der Berliner Kulturgeschichte. Denn was
viel Spaß bringt. Das ist Karneval!« hier begann, hat nicht nur das Bild der
Und dann war jeden Tag Aschermitt- deutschen Hauptstadt in der Welt geprägt
woch. Alles vorbei. Klee ist ernstlich be- und geholfen, aus einer Musik namens
sorgt um den Triebhaushalt der Republik. Techno ein weltweites Phänomen zu ma-
Sie arbeitet als Sexassistentin, in Senioren- chen. Der »Tresor«, so hieß der Klub, der
heimen und Behinderteneinrichtungen. hier 1991 entstand und rasch weltberühmt
Die Kunden seien völlig verzweifelt. Sie wurde, erfand auch eine neue Art des
erzählt von einem Klienten, der sexuell Nachtlebens.
gut eingependelt war mit vierzehntäg- Die Tresortür, eine halbe Tonne verros-
lichen Besuchen. »Jetzt belästigt der Mann teter Stahl, wurde im vergangenen Jahr ins
Bewohnerinnen oder das Personal. Die Humboldt Forum gebracht, sie wird künftig
Leitung hat schon gedroht, ihn zu sedieren. ein zentrales Exponat der Berlin-Ausstel-
Körperverletzung!« lung zu sein. Und Dimitri Hegemann sitzt
Der Kunde sei übrigens 94 Jahre alt. in seinem Büro, holt tief Luft und sagt:
Stephanie Klees Verband verfolgt eine »Was ist hier eigentlich passiert in den ver-
Best-Practice-Politik. Hygienekonzepte, gangenen 30 Jahren? Was war das für ein
René Lohse / DER SPIEGEL

die bei Podologen und Friseurinnen funk- Rausch? Je länger ich darüber nachdenke,
tionieren, seien auch im Bordell umsetz- desto schwieriger fällt es mir, das zu verste-
bar: Lüftung, Desinfizierung, auch Maske hen. Aber dass sie vorbei ist, das ist klar.«
und Kontaktverfolgungsformular. Selbst Hegemann, einer der großen Berliner
Abstand, so Klee, ließe sich halten – »mit Projektemacher, ein Mann, der immer Plä-
entsprechenden Stellungen«. Es sei doch ne hat, für den jedes Scheitern nur Grund
absurd, Familienfeiern mit 50 Teilneh- »Wo soll die verrutschte ist, es noch einmal zu versuchen, dieser
mern zuzulassen, anderswo aber den Intelligenz denn hin?« Hegemann ist erschüttert wie noch nie.
Tresen einer Rotlichtbar zur Problemzone Sein Büro ist ein kleines Zimmer in ei-
zu erklären. Dimitri Hegemann, Veranstalter nem riesigen Gebäude, dem sogenannten

67
Reporter

Kraftwerk, einem ehemaligen Heizkraft- Lösungen.« Miete, Lautstärke, Öffnungs-


werk, das einmal Ost-Berlin mit Wärme zeiten, Platz auf der Straße oder im Gar-
versorgte und danach, leer geräumt, von ten. Da seien vor allem die Behörden ge-
Hegemann und seinen Mitstreitern mit fragt, die jetzt Entgegenkommen zeigen
Kunst und Musik bespielt wurde – bis Co- müssten. Und die Klubbetreiber? »Wir
rona kam. Im selben Gebäude ist der neue brauchen einfach ein bisschen Geduld.
Tresor, 2007 ist er umgezogen. Aber nun Und wir müssen es ins kommende Früh-
steht alles still. jahr schaffen.«
»Ich finde das undenkbar, den Tresor Bei der Frage, wie man mit den Klubs
jetzt aufzumachen. Wie soll das gehen? verfahren soll, gehe es am Ende um mehr
Mit Masken feiern? Mit Angst, dass man als nur um das Nachtleben. »Die Corona-
sich ansteckt? Das geht doch nicht«, sagt Pandemie wird unsere Städte weiter ver-
Hegemann und schüttelt den Kopf. Ein ändern«, sagt Wohlrabe. »Der Onlinehan-
Klub, sagt Hegemann, ist ein Schutzraum. del ist leider noch wichtiger geworden, vie-
Ein Safe Space. Wie könne man den öff- le Geschäfte werden verschwinden. Die
nen, wenn man sich nicht sicher fühlen Arbeit im Homeoffice wird die Büroviertel

René Lohse / DER SPIEGEL


könne? verwandeln. Was für eine Stadt wollen wir
»Raumforscher« wird Hegemann oft ge- dann? Wie wollen wir leben? Welche Rolle
nannt, weil es ihm um die Entdeckung und soll Kultur dabei spielen?«
Entwicklung neuer Räume ging. An der Hochschule für Angewandte
Das ist eine der Berliner Geschichten Wissenschaften in Hamburg arbeitet Anke
der vergangenen 30 Jahre: wie diese ent- von der Heide an der Rettung der Nacht,
deckten Freiräume Menschen anzogen. »Wir brauchen einfach ein genauer: an ihrer Wiedergeburt im virtu-
Und wie diese Menschen die Stadt verän- bisschen Geduld.« ellen Erlebnisraum. Es geht um »Cross
derten. »Wo soll die verrutschte Intelligenz Reality«, kurz XR. »Das Ziel ist, soziale
Europas denn hin?«, sagt Hegemann. Dass Marc Wohlrabe, Klublobbyist und Live-Events in Corona-Zeiten virtuell
Berlin heute auf dem Weg ist, eine Welt- nachzubauen, mit 3-D-Brille und immer-
stadt zu werden, hat mehr mit Techno und sivem Video-Mapping«, sagt die Wissen-
Kunst zu tun als mit Politik und Wirtschaft. ist er in der CDU, sein Vater Jürgen war schaftlerin. Sie habe selbst unter dem
Einige, die zum Tanzen in die Stadt ka- einer der mächtigen Männer der Berliner Nacht-Verbot im Frühling gelitten, dem
men, sind geblieben und haben Firmen ge- Partei, er starb 1995. Sein Sohn, inzwi- Verlust von Klub und Kneipe.
gründet. Das Start-up-Viertel an der Spree schen 48 Jahre alt, beriet den damaligen Natürlich könne XR das »nicht wirk-
ist die ehemalige Klubmeile. Regierenden Bürgermeister Eberhard lich« ersetzen. Aber was ist schon wirk-
Aber darum ging das Nachtleben natür- Diepgen in einem seiner Wahlkämpfe – lich? Die bisherigen Versuche mit Cross-
lich nicht. Dort wollte man spinnen, tan- gleichzeitig ging er aber auf Goa-Raves Realitäten seien in der Szene gut ange-
zen, schwitzen, schreien. »Ist auch ein The- und zog Abend für Abend durch das wilde kommen.
rapieraum, so ein Klub«, sagt Hegemann. Nachtleben im Ost-Berlin der Neunziger. Ein DJ und eine Lichtdesignerin, beide
Aber das Wichtigste sei etwas anderes: Er gründete das Veranstaltungsmagazin leibhaftig, stehen an ihren Pulten, hinter
der Wunsch, Menschen zu treffen, die an- »Flyer«, das für einen kurzen Moment die sich einen »Green Screen«, mit dessen Hil-
ders sind, so anders wie man selbst. »Ich neue deutsche Coolness in die Welt he- fe sie in jeden beliebigen Welten-Raum
habe sie immer ›My people‹ genannt. Die raustrug, es gab nicht nur Ausgaben in eingeblendet werden können.
sucht man. Seine Leute. Man kennt die deutschen Städten, sondern auch in New Das Virale zwingt zum Virtuellen.
gar nicht. Aber man glaubt, dass man ih- York und Tokio. 2003 ging es pleite. Die Klubbesucherinnen tanzen viel-
nen in der Nacht begegnet.« Da hatte Wohlrabe schon die Berliner leicht in ihrem Schlafzimmer in Frankfurt
Clubcommission mitgegründet, heute die oder in einer Küche in Tomsk oder im
mächtigste Lobbyorganisation des Nacht- Wald bei Vancouver, sie tragen Virtual-
Das Morgen der Nacht lebens in Deutschland. Und weil ihm auch Reality-Brillen mit eingebautem Mikrofon.
Das Virus hat die Nacht auf die Tages- das nicht reichte, baute er noch Live DMA Füreinander sind sie als Avatare sichtbar,
ordnung gesetzt. Im Juli tagte in Lissabon mit auf, ein europäisches Pendant der Ersatzwesen mit bläulich glimmenden
die »1. International Conference on Night Clubcommission. Er hat Klubbetreibern Augen im ansonsten leeren Gesicht. Sie
Studies« – wenn auch nur im virtuellen in Tokio erklärt, wie man sich in einer rei- bewegen ihre Körper und Ärmchen im
Raum. Es mangelt nicht an heroischen chen Stadt Verbündete sucht, um Druck Rhythmus; man könnte sich Sätze zurufen
Versuchen, die Nacht und damit die Stadt auf die Politik aufzubauen. Jede Woche oder auch spitze Schreie.
zu retten. Eine Initiative um den ersten ist er in einer Telefonschaltung mit den Es ist live und laut im Kopfhörer, und
»Nacht-Bürgermeister«, den Amsterda- Vertretern der Klubwelt der großen ande- man stellt sich ein Wohngebäude vor, ir-
mer Mirik Milan, hat gerade einen »Glo- ren europäischen Länder. gendwo in den verödeten nächtlichen Vier-
balen Nacht-Rettungsplan« vorgelegt. Mit Wohlrabe kann wie ein Politiker den- teln von Mannheim oder Vilnius, die Fens-
Ersatz-Raves auf kommunalen Bühnen, ken. Er versteht, wie Behörden funktio- ter beleuchtet, und hinter jedem Fenster
Outdoor-Dining unter Heizpilzen, der nieren. Und er weiß, wie man in kompli- ein Mensch mit VR-Brille, in der eigenen
Umwidmung ganzer Straßen zu Party- zierten Situationen, wo gegenläufige Kräf- Küche tanzend, alle im selben Rhythmus,
zonen. Allen sitzt die Angst vor dem te wirken, Druck aufbaut. Zugleich liebt die Arme reckend, jeder für sich verloren
Winter im Nacken, je weiter im Norden, er die Nacht. in der Masse der Einzelnen. Wenn das die
desto mehr. »In Deutschland«, sagt er, »glauben wir Zukunft ist …
Marc Wohlrabe ist die rare Mischung immer, ein perfektes Modell finden zu kön- Dann gute Nacht.
eines visionären Pragmatikers. Selbst un- nen. Das wird es aber für das Nachtleben Dialika Neufeld, Max Polony,
ter den bunten Vögeln der Berliner Nacht nicht geben. Jeder Klub hat andere Pro- Tobias Rapp, Alexander Smoltczyk
ist er eine besondere Figur. Zum Beispiel bleme. Und für jeden Klub gibt es andere

68 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


bin mir nicht sicher, wie relevant der Blick eines alten jü-

Medizinmänner dischen Hippies aus New York auf die deutsche Einheit ist.
Man könnte die Videoinstallation parallel zu all den Fern-
sehsendungen laufen lassen, in denen deutsche Experten die
USA erklären. Ich habe neulich gesehen, wie Jürgen Trittin
Leitkultur Alexander Osang über die Wildnis und der Zukunftsforscher Matthias Horx bei Markus Lanz
außerhalb von Deutschland Amerika erklärten. Bei Anne Will übernahmen das Peter
Altmaier und Cem Özdemir. Özdemir sagte voraus, womit
sich Trump beschäftigen wird, wenn dieser die Wahlen ver-

R eisewarnungen verwandeln die Welt in einen geheim-


nisvollen, nicht ungefährlichen Ort. Ich habe seit einem
halben Jahr das Land nicht verlassen. Wenn man lange
genug zu Hause bleibt, wirkt das Ausland wie ein Abgrund.
liert, als wäre er der Zukunftsforscher und nicht Horx. Mich
würde interessieren, was Michael Müller von der Berliner
SPD über die Fitness von Mike Pence zu sagen hat. Wieso
fragt eigentlich niemand den Zukunftsforscher Horx: Was
Der Chinese züchtet Viren, der Russe mischt Gift, und die ist nu? Wer gewinnt das Ding?
USA erinnern an das Land, das Cormac McCarthy in »The Die deutschen Amerikaexperten erinnern mich an Medi-
Road« beschreibt. Brennende Städte, durch die bewaffnete zinmänner.
Rednecks streifen, angefeuert von einem Präsidenten, der Der Hintergrundbeitrag der Tagesthemen zum großen
auf der Empore steht und seinem Volk salutiert wie ein durch- amerikanischen TV-Duell zeigte eine schlecht besuchte Bar
gedrehter Feldherr. Insofern war ich überrascht, als mein in New Orleans. Das Schlusswort sprach der Barkeeper, ein
alter Kumpel Ira Schneider beschloss, nach Amerika zurück- Mann mit Nasenring und einer Frisur wie einst David Lee
zukehren. Roth. Man hätte auch gut eine Schalte in den Wedding ma-
Vor ein paar Tagen erschien ich zum Abschiedsbesuch im chen könne, wo Ira in seinem Sessel saß.
Wedding, wo Ira in einer Erdgeschosswohnung lebt. Draußen Ira wuchs in Brooklyn auf, wo sein Vater ein Discountkauf-
auf dem Bürgersteig schieben Frauen mit Kopftuch ihre Kin- haus betrieb, er hat an der Brown University experimentelle
derwagen durch die Herbst- Psychologie studiert, er filmte
sonne, hinter heruntergelasse- Jimi Hendrix, der in seiner
nen Rollos sitzt Ira in seinem Nachbarschaft wohnte, er hat
Fernsehsessel und guckt CNN. einen lustigen Kurzfilm über
Es geht um Trump, klar. Ne- die Parkplatzsuche in Manhat-
ben Ira liegen Medikamen- tan gedreht und einen über ein
tenschachteln und Fläschchen Strandwochenende mit Jean-
mit Desinfektionsmitteln, Ira Luc Godard, Wim Wenders
ist 81 Jahre alt und hatte vor und Heiner Müller in Los An-
Kurzem einen Herzinfarkt. geles. Er studierte an der Uni-
Im Hintergrund der kleinen versität Michigan den Hippo-
Wohnung ordnet Matthias, campus, ein Erinnerungsorgan
der einen Newsletter für In- im Gehirn, und an der LMU in
dependentfilme herausgibt, München Wissenschaftsphilo-
Iras Sachen für die Abreise. sophie. Er mochte den Erd-
Alexander Osang

Ein anderer Freund ist beim beerkuchen im Café Schmidt,


Fleischer, um Knochen für sagt er, weniger seinen Profes-
eine Brühe zu besorgen. Ira sor, der sich fast ausschließlich
sitzt im Sessel wie ein König. Schneider (r.) in seiner Wohnung im Wedding mit dem Physiker Werner Hei-
Ich hocke zu seinen Füßen wie senberg beschäftigte, den er
der Narr. einmal getroffen hatte.
Ira fragt mich, warum sein Stimmzettel noch nicht da ist. »Er mochte Heisenberg sehr«, sagt Ira, den Blick auf CNN.
Trump wahrscheinlich, sage ich. Als ich Ira kennenlernte, vor mehr als 20 Jahren lief in
Er schaut durch mich hindurch und schüttelt den Kopf, ge- seinem Wohnzimmer, das sich damals noch im Prenzlauer
nervt, glaube ich. Berg befand, ebenfalls CNN, es ging um den Tod der alten
Ira ist Videokünstler und Fotograf, er filmte in Woodstock Ökonomie. Ira hatte seine Ersparnisse in Aktien angelegt,
und Altamont, hatte Ausstellungen mit Nam June Paik und das meiste am Neuen Markt. Seine Rente. Ein paar Monate
zeigte Installationen im Whitney Museum. Er wurde in New später war sie weg. Auch damals ging die Welt schon unter.
York geboren, kam vor 27 Jahren mit einem Fulbright-Sti- In der schwarzen amerikanischen Wahlnacht vor vier Jahren
pendium nach Berlin und blieb. Er kannte die Stadt bis dahin kochte Ira für uns in einem kleinen Klub in Mitte. Er ist auch
aus dem Buch »Emil und die Detektive«, das im Bücherregal ein großer Koch, er hat es auf seinen Weltreisen gelernt. In-
seines Bruders Harvey stand, als sie Kinder waren, in Brook- donesisch in Amsterdam, türkisch in Istanbul, chinesisch in
lyn. Ira sollte Mitte der Neunzigerjahre die Fortschritte bei New York und osteuropäisch bei seiner Großmutter, die aus
der deutschen Einheit dokumentieren. Wenn ich es richtig einem Schtetl bei Minsk kam. Es gab Chicken Wings und
verstanden habe, bereiste er damals alle Bundesländer, filmte Spareribs und im Morgengrauen Trump. Iras mittlerer Bruder,
und wollte auf einer riesigen Deutschlandkarte die Videos der Saxofon in einer Unterhaltungskapelle spielte, starb im
zeitgleich ablaufen lassen. Die Installation nannte sich Da- Frühjahr mit 88 an Covid-19, sein älterer wurde gerade in
tenraum Deutschland, ist aber nie gezeigt worden. ein Hospiz eingeliefert.
»Ich habe alles noch da«, sagt Ira und nickt zu dem Kisten- Ira Schneider wäre ein perfekter Talkshowgast, aber ich
gebirge, in dem sich Matthias bewegt. habe nur eine Frage. Wieso geht er zurück in diesen Irrsinn?
Für einen Moment scheint es so, als würde Ira seinen Um- »Ich kriege eine Wohnung im West Village«, sagt Ira.
zug noch mal verschieben, wenn wir in den nächsten Tagen Er nimmt den Blick vom Fernseher und schaut mich an.
seine Installation hinbekämen. Datenraum Deutschland. Ich Ohne Zweifel. Für einen Moment steht die wilde Welt still. I

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Wirtschaft

Max Lautenschläger / DEUTSCHE BAHN AG


Vorstandsmitglieder der Deutschen Bahn

Bahnvorstand sperrt sich gegen die Quote


Gleichstellung Manager des Staatskonzerns beklagen »erhebliche negative Auswirkungen«.

 Der Vorstand des Staatskonzerns Deut- minister Andreas Scheuer (CSU). Die bewerbern«, argumentieren die Vertreter
sche Bahn (DB) sperrt sich gegen Pläne Manager befürchten durch die vorge- des Schienenmonopolisten. Zum Ver-
der Bundesregierung zur Frauenförde- schriebene Förderung von Frauen »eine gleich: 2019 wandte die Bahn 186 Millio-
rung. Die Bundesregierung möchte das Verschärfung des ohnehin gravierenden nen Euro auf für Versorgungsansprüche
Gleichstellungsgesetz auf große Firmen Fachkräftemangels in technisch-opera- ihrer Ex-Vorstände, darunter sind nur
im Staatsbesitz ausdehnen. Sie müssten tiven Berufen bei der DB«. Das Ziel, in zwei Frauen. Das Familienministerium
dann eine Frauenquote von 50 Prozent den nächsten Jahren rund 100 000 neue teilte mit, es habe in einem Antwortschrei-
in Führungspositionen erfüllen und die Mitarbeiter einzustellen, werde »unter ben an die Bahn darauf verwiesen, »dass
Zahl ihrer Gleichstellungsbeauftragten diesen Rahmenbedingungen erheblich der Bund und die Unternehmen, an denen
aufstocken. Das Vorhaben sei »mit erheb- erschwert«. Zudem erwarten die Absen- er beteiligt ist, bei der Gleichstellung eine
lichen negativen Auswirkungen verbun- der einen Kostenschub. »Die Bestellung Vorbildfunktion haben«. Derzeit wird der
den«, warnten Bahn-Chef Richard Lutz, von Gleichstellungsbeauftragten würde Referentenentwurf, den Giffey und Justiz-
Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla und finanzielle Ressourcen binden«, schreiben ministerin Christine Lambrecht (SPD) für
Personalchef Martin Seiler Mitte Juni in sie. Der jährliche Personalaufwand sum- das Gesetz vorgestellt haben, innerhalb
einem Brief an Finanzminister Olaf miere sich auf 32 Millionen Euro. »Vor der Bundesregierung abgestimmt, kommt
Scholz und Familienministerin Franziska diesem Hintergrund entstehen der DB AG dort aber wegen der Widerstände einzel-
Giffey (beide SPD) sowie an Verkehrs- Nachteile im Vergleich zu unseren Wett- ner Unionsminister nicht voran. REI

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Corona Noch weniger war es beim
Lokaler Handel Fördertopf für den Ausbau
des Gigabit-Netzes, für das
profitiert kaum insgesamt knapp 12 Milliar-
den Euro zur Verfügung ste-
 Das Einkaufsverhalten der hen werden. Hier flossen erst
Deutschen wird durch Corona 20 Millionen ab. Etwas besser
offenbar weniger beeinflusst läuft es bei den Investitions-
als bislang gedacht: Die Mehr- programmen des Bundes für
heit der Verbraucher erledigt die Kommunen. Zwei Pro-
Besorgungen nicht häufiger gramme, ausgestattet mit
bei lokalen Händlern als vor jeweils 3,5 Milliarden Euro,

Daniel Reinhardt / picture alliance / dpa


der Pandemie. Zu diesem laufen schon länger. Aus dem
Ergebnis kommt eine reprä- Topf, mit dem die kommunale
sentative Umfrage des Mei- Infrastruktur gefördert wer-
nungsforschungsinstituts den soll, flossen bis Mitte Sep-
Civey unter 5000 Teilneh- tember knapp 2,3 Milliarden
mern im Auftrag der Kredit- Euro ab. Aus dem zweiten
kartenfirma American Programm, das Geld für die
Express. Danach würden zwar Sanierung von Schulen ver-
77 Prozent der Konsumenten Schülerinnen am Computer gibt, wurden bis Mitte Sep-
lokale Händler gern unterstüt- tember 415 Millionen Euro
zen, wenn diese von der Krise ausgezahlt. Besonders schlep-
betroffen sind. Tatsächlich Haushalt finanzministeriums hervor. pend läuft jedoch der Kita-
aber melden zwei Drittel der Ungenutzte Aus dem insgesamt 35 Mil- Ausbau. Im Rahmen des
Kunden, gleich oft lokal zu liarden Euro schweren Ener- jüngsten Investitionspro-
shoppen wie vor der Pande- Milliarden gie- und Klimafonds etwa gramms, für das der Bund
mie. Interessant ist dabei die stehen für dieses Jahr 8,4 Mil- 2020 und 2021 insgesamt eine
Unterscheidung nach Berufs-  Trotz des hohen Investi- liarden Euro bereit. Ausgege- Milliarde Euro bereitstellt,
und Altersgruppen: Während tionsbedarfs bei Digitalisie- ben wurden bis Ende August haben die Länder noch über-
mehr als die Hälfte der Stu- rung, Bildung und Energie- lediglich 2,2 Milliarden. haupt keine Mittel erhalten.
denten angibt, nun öfter in wende fließt das Geld, das der Beim Digitalfonds Schule, für Grund für die zähe Geldver-
Geschäften um die Ecke einzu- Bund in Nebenhaushalten den der Bund insgesamt gabe sind oft Engpässe bei
kaufen, sagt über ein Fünftel für diese Zwecke bereitstellt, 5 Milliarden Euro bereitstel- Planungskapazitäten und Ge-
der 40- bis 49-Jährigen, dies nur langsam ab. Das geht aus len will, haben die Länder nehmigungsverfahren in den
seltener zu tun. SBO einer Aufstellung des Bundes- erst 264 Millionen abgerufen. zuständigen Behörden. REI

Die Samstagsfrage

Macht Spahn die Pflege gerecht?


 Als Jens Spahn vor zweieinhalb Jahren sein Amt als Monatliche und auch davon nur einen Teil. Für den Rest der Pfle-
Bundesgesundheitsminister antrat, schuf er eine für Belastung gekosten, derzeit im Schnitt 786 Euro, müssen die
ihn passende Erzählung – Politik müsse den Alltag für einen Pflegebedürftigen in der Senioren aufkommen. Nur diesen pflegebedingten
stationären Pflege, Pflege-
der Menschen ein bisschen besser machen. Im grade 2 bis 5, Bundesdurchschnitt Eigenanteil will Spahn begrenzen, die Ersparnis
Herbst 2020 und im Detail klingt das so: Was den läge demnach bei derzeit 86 Euro im Monat.
Alltag der Senioren belaste, vor allem im Osten, Januar 2018
Juli 2020 Für Senioren mit einer Durchschnittsrente wäre
seien die explodierenden Kosten für die Pflegehei- 2015 € das viel Geld. Dumm nur, dass viele Betroffene von
1772 €
me. Nun verspricht der CDU-Politiker Abhilfe. Er Spahns Versprechen gar nichts haben, denn der pfle-
will den Anteil, den die Bewohner für ihre Heimbe- gebedingte Eigenanteil fällt von Bundesland zu Bun-
treuung selbst aufbringen müssen, auf maximal 700 desland unterschiedlich hoch aus, das liegt vor allem am
Euro und höchstens drei Jahre begrenzen. Das klingt großzü- Lohnniveau. In Thüringen etwa beträgt er durchschnittlich
gig, als würde die Pflege bezahlbar. Aber: Stimmt das auch? nur 490, in Sachsen-Anhalt 560 Euro. Auch Mecklenburg-Vor-
Das Problem beginnt damit, dass Spahn nur einen Teil der pommern, Sachsen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bre-
Heimkosten deckeln kann. Nach Angaben des Ersatzkassen- men bleiben bislang im Schnitt unter dem Deckel von 700 Euro.
verbandes vdek zahlen Senioren heute im Bundesdurchschnitt Dass selbst die SPD Spahns Vorstoß bisher nicht bejubelt,
2015 Euro aus eigener Tasche. Darin enthalten sind neben rei- hat einen verteilungspolitischen Grund: Die Kappung der Pfle-
nen Pflegekosten auch Beträge für die Unterkunft oder für In- gekosten soll für alle Betroffenen gelten – egal, ob vermögend
vestitionen in Gebäude und Ausstattung. Die letzten dieser oder nicht. Wer von einer Minirente leben muss, die für das
Punkte aber fasst Spahn mit seiner Reform gar nicht an. Heim nicht reicht, für den springt im Notfall das Sozialamt ein.
Die Pflegeversicherung, die seit 25 Jahren dem Teilkaskoprin- Im Zweifel schützt Spahns Vorstoß die Mittelschicht und ihre Er-
zip folgt, übernimmt nur die Kosten für die Betreuung am Bett – ben. Das wäre eine ganz andere Erzählung. Cornelia Schmergal

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 71


Wirtschaft

Stoff zum Gruseln


Handel In zwölf Wochen verlässt Großbritannien den EU-Binnenmarkt. Beiden Seiten
droht ein Desaster durch Verkehrschaos, Jobverluste und steigende
Preise. Hektische Verhandlungen in letzter Minute sollen das Schlimmste verhindern.

Aaron Chown / EMPICS / picture alliance / dpa

Lkw-Stau im Hafen von Dover: Es wird nur Verlierer geben

72
P
lötzlich stehen alle Räder still im Als sich die EU-Mitglieder vom »No«- ten auseinandersetzen, der künftig vor
Hafen von Dover. An einem Mitt- Schock des britischen Referendums 2016 allem ein Ziel verfolgen wird: den Euro-
woch im September stauen sich erholt hatten, hofften sie noch, Großbri- päern Marktanteile abzunehmen.
Dutzende Vierzigtonner auf der tannien so eng wie möglich an sich kop- Der Plan von Premier Boris Johnson
vierspurigen Ausfahrt in Richtung Auto- peln zu können. Vier Jahre später ist klar, wiederum, nach dem EU-Austritt eigene
bahn. Dieselschwaden ziehen über das dass sie ihr Ziel verfehlen werden. Das lukrative Handelsabkommen zu schließen,
Hafengelände, einige Fahrer spielen ner- Land wird in der Handelspolitik künftig ist bisher ebenso wenig aufgegangen. Und
vös mit dem Gaspedal. weiter von der EU entfernt sein als Nor- sein groß angekündigtes Konzept, Groß-
Ein roter und ein grauer Lkw waren in wegen oder die Türkei. Mit dem Vereinig- britannien mit niedrigen Steuern und we-
einer Kurve zusammengestoßen. Nichts ten Königreich verliert die EU knapp ein niger Bürokratie zum »Singapur an der
Großes, ein paar Beulen und Kratzer an Sechstel ihrer Wirtschaftskraft. Zugleich Themse« zu machen, ist nicht in Sicht.
den Anhängern. Und doch reicht die Ko- muss sie sich mit einem neuen Konkurren- Die »glorreiche« Zeit des Brexits (John-
lonne zurück bis zu den Fähren, die längst son) könnte stattdessen mit einem Ver-
wieder neue Lkw aufnehmen müssten für kehrs-, Verwaltungs- und Versorgungscha-
die Rückfahrt über den Ärmelkanal. os beginnen, das selbst in der nüchternen
Sie alle werden sich an diesem Tag ver- Sprache der Londoner Regierungsbeam-
späten, die Fährschiffer ebenso wie die ten Stoff zum Gruseln liefert. Von blockier-
Trucker. Dabei ist die kleine Havarie nur ten Häfen, Medikamentenmangel und
ein Vorgeschmack auf den Riesenstau, mit Massenentlassungen ist die Rede. Und es
dem in Dover alle ab dem 1. Januar rech- trägt nicht zur Entspannung der Lage bei,
nen, jenem Tag, an dem Großbritannien dass die Bürger über die konkreten Pläne
nach knapp einem Jahr Übergangsphase ihrer Regierung weitgehend im Dunkeln
endgültig den EU-Binnenmarkt verlässt. tappen. Umso größer sind Angst und Miss-
Über die Details des Austritts wird noch trauen, wie im südenglischen Sevington.
hektisch verhandelt, mal in London, mal Vom Friedhof des Dorfs in der Graf-
in Brüssel. Es geht um Zölle und Zertifi- schaft Kent geht der Blick auf einen viel
kate, um Berufsabschlüsse und Umwelt- befahrenen Kreisverkehr gleich hinter der
auflagen, um Zuschüsse für Start-ups und Dorfkirche, die Autobahn M20 ist nicht
Martyn Wheatley / i-Images / POLARIS / laif

Fischfangrechte vor der britischen Küste. weit, eine der wichtigsten Verkehrsadern
Zuletzt schien es, als könnten sich beide des Landes. Sie verbindet London mit
Seiten wenigstens auf ein rudimentäres dem Haupthafen Dover.
Abkommen einigen, das Zölle und Liefer- Im vergangenen Juli rückten, praktisch
quoten verhindert. Der Schaden, den der über Nacht, Bagger auf einem elf Hektar
EU-Austritt anrichtet, könnte dadurch be- großen Areal südlich der Kirche an. Sie
trächtlich verringert werden, vor allem für walzten eine Wiese mit Mohn, Kreuzkraut
Großbritannien. Doch in Wahrheit ist das Premier Johnson und Brombeerbüschen nieder. Wegen des
ein schwacher Trost: Der Unterschied ist Brexits werde »das jetzt ein riesiges
nur noch der zwischen einer hässlichen Asphaltfeld für Tausende Lastwagen«,
oder einer ganz hässlichen Scheidung. Im Ungleichgewicht sagt die Grünenpolitikerin Mandy Rossi.
Schon jetzt ist der Schaden enorm. Seit Der Außenhandel Großbritanniens »Es ist zum Heulen.«
die Briten vor vier Jahren mit knapper mit der EU, in Milliarden Euro Offiziell heißt es, auf dem Gelände wer-
Mehrheit für den Brexit stimmten, ist der 307,8 de künftig die Zollabfertigung für Lastwa-
gemeinsame Handel eingebrochen. Das gen entstehen. Ein Grenzbau, 34 Kilo-
290,6
Königreich, damals noch Deutschlands meter vom Hafen in Dover entfernt? Wel-
drittwichtigster Exportmarkt, ist auf Platz Importe cher Lkw würde einen solchen Umweg
fünf zurückgefallen. Zugleich sind die aus der EU fahren? »Das wäre quasi eine Einladung
2016
britischen Ausfuhren auf den Kontinent zum Schmuggeln«, sagt Rossi.
Brexit-
allein in den ersten sieben Monaten die- Votum Stattdessen, fürchtet sie, wird aus der
ses Jahres um rund 17 Prozent gegen- Fläche demnächst ein Parkplatz für min-
über dem Vorjahr geschrumpft, stärker destens 1500 Lastwagen. Denn die briti-
als die EU-Exporte Japans oder der USA. 184,3 sche Regierung rechnet mit kilometerlan-
Von einer »Entkoppelung« sprechen Öko- gen Brexit-Staus vor den Fährhäfen.
nomen. Handels- Anfang September hatte Johnson sei-
Als Gewinner dürfen sich allenfalls jene bilanzdefizit –115,0 –113,3 nen Landsleuten noch »ein gutes Ergebnis«
Briten fühlen, die den Brexit als symboli- versprochen. Dummerweise war zuvor ein
schen Akt nationaler Souveränität verste- vertrauliches Regierungspapier an die Öf-
hen. Wirtschaftlich wird es nur Verlierer fentlichkeit gelangt. Das darin ausgebrei-
geben: die Verbraucher, die vor allem im tete »realistische Worst-Case-Szenario«
194,5
Vereinigten Königreich mit höheren Prei- las sich wie das Drehbuch für ein apo-
sen und einem kleineren Warenangebot kalyptisches BBC-Drama – mit Stromaus-
–44,2 175,6
rechnen müssen. Die Unternehmen, de- fällen, Benzinknappheit, Lebensmittel-
nen das neue Handelsregime mehr Büro- Exporte engpässen auf den Kanalinseln und Tau-
kratie und höhere Kosten beschert. Die in die EU senden Lastwagen, die sich über mehr als
Arbeitnehmer, die Jobs verlieren. Und die 100 Kilometer ins Landesinnere stauen.
Regierungen, deren Brexit-Kalkül nicht 140,1 Im No-Deal-Fall würde die Regierung
aufgeht, weder diesseits noch jenseits des Soldaten auf die Straße schicken, um zivile
Kanals. 2009 Quelle: Eurostat 2016 2019 Unruhen einzudämmen, und die Marine

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 73


aufs Meer, um französische Fischer an
einer Seeblockade zu hindern. Da Medi-
kamente an der Grenze stecken bleiben
könnten, sei mit Tierseuchen zu rechnen.
Landesweit könne jede 20. Gemeinde
pleitegehen, wodurch finanzielle Unter-
stützungen für Millionen Menschen aus-
fielen.
Die endgültige Scheidung vom EU-
Binnenmarkt wird Ende Dezember voll-
zogen – mitten im Winter und womöglich
auf dem Höhepunkt einer zweiten Coro-
na-Welle. Dabei hat schon die erste eine
Schneise der Verwüstung durch Großbri-

Toby Melville / REUTERS


tannien gezogen.
Nirgendwo in Europa sind mehr Men-
schen an Covid-19 gestorben, kein anderes
westliches Industrieland verzeichnete im
zweiten Quartal 2020 ein größeres Minus
beim Bruttoinlandsprodukt. Wenn im Großbaustelle für Lkw-Parkplatz in Sevington: »Die Regierung ist zu spät dran«
November ein großzügiges Corona-Hilfs-
programm der Regierung ausläuft, droht
Millionen Beschäftigten die Arbeitslosig- zu. Dafür benötige der Zoll Zehntausende Doch Johnsons sogenannte Global-Bri-
keit. Ein No-Deal-Szenario mitten in der weitere Mitarbeiter. Viele EU-Spediteure, tain-Strategie ist bislang wenig erfolgreich.
Pandemie wäre, so der Ökonom Jonathan fürchtet Burnett, könnten Großbritannien Die Handelsverträge, die in den vergange-
Portes vom King’s College London, »der komplett aus ihrem Fahrplan streichen: nen Monaten etwa mit Japan oder Korea
perfekte Sturm«. »Niemand will Teil dieses Chaos sein.« ausgehandelt wurden, sichern den Briten
Der wunde Punkt für die Inselnation Der Autohersteller Honda hat ausge- lediglich ähnliche Konditionen wie bei ei-
sind die Fähr- und Frachthäfen am Kanal. rechnet, was ihn der zusätzliche Aufwand nem EU-Verbleib. Die Gespräche mit den
Selbst wenn sich beide Seiten auf einen kosten würde. Schon 15 Minuten Verspä- USA, bei denen laut Präsident Donald
Handelsvertrag einigen sollten, müssten tung schlügen danach mit 850 000 Pfund Trump »Großartiges« herauskommen soll,
die Waren in Dover erfasst und kontrol- im Jahr zu Buche. stocken seit Monaten. Das Konzept der
liert werden. Den Grund hat EU-Unter- Etliche britische Firmen aus der Auto- Brexiteers sei deshalb »eine Illusion«, sagt
händler Michel Barnier früh genannt: Man mobil- oder Chemiebranche haben bereits Clemens Fuest, Präsident des Münchner
könne nicht riskieren, dass Waren aus aller Notfallpläne entworfen, um gegebenen- Ifo-Instituts.
Welt in Großbritannien montiert werden falls einen Teil ihrer Produktion auf den Die Europäer sehen das herannahende
»und dann, als britische Güter deklariert, Kontinent zu verlegen. Zehntausende Brexit-Debakel auf der Insel mit einer
in den Binnenmarkt gelangen«. Jobs stehen dadurch in jenen nord- und Mischung aus Fassungslosigkeit und Scha-
Die erforderlichen Kontrollen, prognos- mittelenglischen Industrieregionen auf denfreude. Schaut her, denken viele in
tizieren Experten, werden die Lieferzeiten der Kippe, denen die Konservativen ihren Brüssel, so geht es allen, die es wagen,
um bis zu zwei Tage verlängern. Das wür- triumphalen Wahlsieg vom Dezember Europas erfolgreichen Handelsklub zu
de nicht nur Just-in-time-Speditionen hart verdanken. verlassen.
treffen, sondern vor allem die Lebensmit- Johnsons Brexiteers verbreiten noch im- Doch für Häme gibt es keinen Grund.
telindustrie. Fische, Krustentiere oder Ge- mer die Mär, dass die Verluste im EU-Han- Nicht nur, weil die EU am Brexit eine Mit-
müse könnten in den wartenden Lkw ver- del durch Deals mit anderen Weltregionen schuld trägt, wie der Kieler Handelsöko-
derben. Auch einige Medikamente haben ausgeglichen werden könnten. Der Han- nom Gabriel Felbermayr findet (siehe In-
eine derart kurze Lebensdauer, dass man delsjurist Shanker Singham etwa, der die terview Seite 76). Der britische EU-Aus-
sie nicht einlagern kann. Johnson-Regierung berät, schwärmt von tritt kostet auch die Europäer Wachstum.
Wer die Schuld am Chaos trüge, ist für den Chancen im Geschäft mit »Asien, dem Die Grenzformalitäten etwa, die bei
britische Spediteure keine Frage. »Die Re- Indopazifik und dem Nahen Osten«. einem Deal ebenso anfallen wie beim
gierung ist viel zu spät dran. Wie kann sie No-Deal, belasten allein deutsche Firmen
von uns verlangen, alles vorzubereiten, mit rund 300 Millionen Euro jährlich.
wenn wir keine Informationen kriegen?«, Hart oder härter Hinzu kommen horrende Kosten für neue
fragt Richard Burnett, Geschäftsführer des Jährliche reale Konsumausgaben, Zertifikate, Prüfsiegel oder Transport-
britischen Spediteurverbandes RHA. Veränderung gegenüber 2015 in Prozent papiere.
Nur drei Monate bleiben, und noch ist Noch schlimmer wird es, sollten EU und
vieles unklar: Wo werden Checkpoints für Handelsabkommen* Harter Brexit Großbritannien sich gegenseitig mit Zöllen
die Lkw aufgebaut? Welche Computerpro- überziehen. »Uns haben schon viele Kun-
gramme sollen die Speditionen installieren, – 0,2 den gesagt: ›Wenn die Zölle kommen, lie-
– 0,9 – 0,8
nachdem die Zoll-Software der Regierung fern wir nicht mehr nach Großbritannien,
noch immer getestet wird? Und: Wer soll das lohnt sich nicht‹«, sagt Andy McFar-
Groß- EU-27
die Zollerklärungen für Hunderte Millio- britannien nell, Brexit-Beauftragter der belgischen
nen Lieferungen bearbeiten? Spedition Sitra, die mit 500 Lkw regelmä-
Bislang sind 5000 Beamte mit 50 Mil- ßig Lebensmittel nach Großbritannien
* unterstellt ist ein Abkommen
lionen Zollpapieren jährlich beschäftigt, der EU mit Großbritannien, wie transportiert. Hähnchenteile zum Beispiel,
rechnet Burnett vor. Nach dem Brexit kä- es die EU mit Kanada hat.
–2,8 sagt McFarnell, könnten dann mehr als
men rund 220 Millionen Erklärungen hin- Quelle: IfW/Felbermayr et al. einen Euro je Kilo teurer werden.

74
Bei zwei entscheidenden Themen liegen
beide Seiten noch weit auseinander: den
künftigen Wettbewerbsregeln, etwa für
Staatshilfen oder Umweltstandards, sowie
den Fischfangrechten in der Nordsee.
Obwohl die Fischerei wirtschaftlich fast
bedeutungslos ist, hat sich der Streit um die
britischen Fischgründe zu einer der größten
Hürden für ein Handelsabkommen entwi-
ckelt. Das Thema hat Symbolwert, schon
Marlene Awaad / Bloomberg / Getty Images

weil Johnson hier ausnahmsweise am län-


geren Hebel sitzt. Großbritannien will den
Zugang von EU-Fischern zu seinen Gewäs-
sern begrenzen und für jede der rund hun-
dert Speisefischarten jährlich neue Fang-
quoten aushandeln. Die EU verlangt weiter
Zutritt und will allenfalls langfristig verein-
barten Fangquoten zustimmen.
Ohne eine befriedigende Vereinbarung
Fischer im französischen Boulogne-sur-Mer: Fangquoten für hundert Speisefischarten in der Fischfrage, so die Ansage, will die
EU keinen Vertrag unterschreiben. In
einer Videokonferenz mit Barnier am
Europas Lebensmittelhersteller fürch- einigen Jahren im Ausland die Chance nut- Mittwoch machte Bundeslandwirtschafts-
ten darüber hinaus einen Streit um soge- zen, in die Heimat zurückzukehren. ministerin Julia Klöckner (CDU) die Hal-
nannte Herkunftsbezeichnungen. Mehr als Und viel mehr werden es wohl kaum tung der deutschen EU-Ratspräsident-
3000 derartig zertifizierter Produkte gibt werden. Das liegt auch daran, dass die EU schaft klar: »Ich werde die Fischerei nicht
es in der EU, französischer Champagner inzwischen erkannt hat, dass es im Finanz- für eine Einigung in anderen Sektoren
wird dadurch genauso vor Billigkopien geschäft ohne die Briten nicht geht. Ende opfern«, sagte Klöckner dem SPIEGEL. »Es
bewahrt wie italienischer Gorgonzola oder September beschloss die Europäische kann nur ein gemeinsames Paket geben.«
Nürnberger Rostbratwürstchen. Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde Auch an anderer Stelle zeigt sich die EU
Im Austrittsvertrag mit Brüssel hatte (ESMA), dass die britischen Clearinghäu- hartleibig. Weil die Briten mit ihrem Bin-
Großbritannien noch garantiert, dass sol- ser ihre Dienste in Festlandeuropa mindes- nenmarktgesetz kürzlich wichtige Teile
che Produkte im Königreich »mindestens tens bis Mitte 2022 anbieten dürfen. »Ein des längst vereinbarten Austrittsabkom-
dasselbe« Schutzniveau genießen werden klarer Erfolg für die City«, sagt Väth. mens wieder einkassiert haben, besteht
wie in der EU. Doch Johnsons Unterhänd- Ohne Clearinghäuser können Banken die EU auf einem verbindlichen Mecha-
ler scheinen davon nichts mehr wissen zu und Fonds keine Geschäfte mit Wertpapie- nismus, wie Konflikte künftig beigelegt
wollen. Sie wollten die Regeln »anders ren und Derivaten abrechnen und abwi- werden sollen.
gestalten«, heißt es in einer internen Mit- ckeln. Sie springen ein, wenn ein Deal Zudem will Brüssel erreichen, dass Um-
teilung des Auswärtigen Amts zu den Ver- platzt. Um Chaos an den Kapitalmärkten welt-, Sozial- und Arbeitsmarktstandards
handlungen von Anfang September. zu verhindern, müssen sie für den Ernstfall in Großbritannien auch weiterhin dem EU-
Gut möglich, dass in britischen Super- Milliardenreserven bunkern. Niveau entsprechen. Während die Briten
märkten dann bald Champagner aus Kali- Doch auch Clearinghäuser können in ei- wohl bereit sind, dies für bereits geltende
fornien im Regal liegt. Nur, was passiert ner Finanzkrise in Gefahr geraten. Dann Gesetze zuzusagen, streiten beide Seiten,
dann mit dem schottischen Whisky, dem müssten sie von jenem Land aufgefangen wie mit neuen EU-Regeln verfahren werden
Cheddarkäse oder den übrigen rund 80 werden, in dem sie ihren Sitz haben. Keine soll. Vor allem Paris hält eine Angleichung
britischen Produkten, die heute in der EU europäische Regierung aber hat Interesse, für unverzichtbar, Johnson ist strikt dage-
vor Imitaten geschützt sind? Würde Brüs- im Krisenfall einspringen zu müssen. Kein gen. Ein möglicher Kompromiss: Die Euro-
sel im Gegenzug deren Einfuhr behindern? Wunder also, dass es den Europäern recht päer machen Zugeständnisse bei den Wett-
Die Gefahr ist groß, dass am Ende beide ist, wenn sie weiter von der Insel aus bewerbsregeln, die Briten akzeptieren ein
Seiten verlieren. Geschäfte machen. Verfahren für die Streitschlichtung.
So ist es in vielen Wirtschaftszweigen. Geplatzte Hoffnungen und trübe Aus- Die Zeit für einen Abschluss drängt,
Im Falle eines No Deal, hat der Hallenser sichten – kurz vor dem entscheidenden mal wieder. Nächste Woche wollen sich
Ökonom Oliver Holtemöller errechnet, Datum ist die Stimmung auf beiden Seiten die Regierungschefs auf ihrem Gipfel mit
seien allein in Deutschland rund 180 000 düster. Je weiter sich die EU und Großbri- dem Thema befassen. Bis zum Monats-
Jobs gefährdet, vor allem in Regionen, in tannien voneinander entfernen, desto grö- ende, so heißt es in Brüssel, müssten die
denen große Autobauer beheimatet sind. ßer wird der wirtschaftliche Schaden. Das Grundzüge des Vertragstextes stehen, um
Die Hoffnung der Europäer, dass im Ge- wissen alle Beteiligten. Die Frage ist nur: rechtzeitig zum Jahreswechsel ratifiziert
genzug Zigtausende Londoner Banker auf Werden sie deshalb wenigstens ein Schmal- zu werden.
den Kontinent umsiedeln, hat sich bisher spurabkommen schließen? Der Schaden, den der britische EU-Aus-
nicht erfüllt. Hubertus Väth von der Ini- Von den Regierenden in London, Brüssel tritt hervorruft, würde damit zwar nicht be-
tiative Frankfurt Main Finance und Chef- und Berlin kamen zuletzt zwar optimistische hoben, aber zumindest begrenzt. Oder wie
lobbyist der Finanzmetropole hatte nach Töne. Die Diplomaten dagegen, die auf der es Ökonom Felbermayr ausdrückt: »Ein
dem Referendum mit bis zu 10 000 Geld- Arbeitsebene die Gespräche führen, sind we- Abkommen ist besser als kein Abkommen.«
managern kalkuliert, die von der Themse niger zuversichtlich. Auch ein Telefonat von Tim Bartz, Claus Hecking,
an den Main umziehen würden. Jetzt, vier Boris Johnson mit EU-Kommissionschefin Nils Klawitter, Peter Müller,
Jahre später, sind es gerade einmal gut Ursula von der Leyen am vergangenen Michael Sauga, Jörg Schindler
2500, unter ihnen viele Deutsche, die nach Samstag brachte keinen Durchbruch.

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 75


Wirtschaft

»Brüssel ist zu ängstlich« SPIEGEL: Die Briten wollen aber auch ihre
Industrie subventionieren, ohne auf die
EU-Regeln Rücksicht zu nehmen. Kann
sich Brüssel das bieten lassen?
Weltwirtschaft Hat Boris Johnson allein Schuld am Brexit- Felbermayr: Großbritannien gibt aktuell
Desaster? Nein, sagt der Handelsökonom deutlich weniger Geld für Staatshilfen aus
Gabriel Felbermayr – und zeigt auf die Europäische Union. als die meisten EU-Staaten. Die Regierung
kann es sich auch gar nicht leisten, diesen
Etatposten nennenswert auszuweiten. Um-
Felbermayr, 44, ist im österreichischen SPIEGEL: Daran sind aber nicht die Euro- gekehrt hat die EU in der Coronakrise ihr
Steyr geboren und forschte in Florenz päer schuld. Es ist Boris Johnson, der da- eigenes Subventionsregime gelockert. Mir
und München. Seit März 2019 leitet er rauf besteht, die geltenden Binnenmarkt- scheint, dass Brüssel manche Probleme
das Kieler Institut für Weltwirtschaft. regeln unterlaufen zu dürfen. unnötig großredet.
Felbermayr: Die Sorge vor einem angeb- SPIEGEL: Früher haben Deutschland und
SPIEGEL: Herr Felbermayr, der britische lichen Dumping der Briten bei Sozial- und Großbritannien oft an einem Strang gezo-
Premier Boris Johnson droht mit dem Umweltstandards oder Wettbewerbsre- gen. Bei den Brexit-Verhandlungen aber
Bruch des EU-Austrittsvertrags, den er geln halte ich für völlig überzogen. Die EU ist die Bundesregierung London kaum ent-
selbst unterschrieben hat. Sind Verhand- hat vor einiger Zeit ein Freihandelsabkom- gegengekommen. War das ein Fehler?
lungen unter solchen Bedingungen noch men mit Kanada geschlossen, aber nie- Felbermayr: Ja, Großbritannien steht
sinnvoll? mand in Europa wäre auf die Idee gekom- Deutschland wirtschaftspolitisch traditio-
Felbermayr: Ja, ein Abkommen ist immer men, der Regierung in Ottawa Vorgaben nell näher als Frankreich. Bei den Brexit-
noch besser als kein Abkommen. Natürlich für die Arbeitsmarkt- oder Umweltpolitik Verhandlungen aber hat die Bundesregie-
können es die Europäer nicht hinnehmen, zu machen. rung Paris weitgehend das Feld überlassen.
dass Johnson geltende Verträge aufkündigt. Das zeigt sich schon daran, dass die Ver-
Aber dass die Brexit-Verhandlungen seit handlungen von Michel Barnier geführt
Monaten nicht vom Fleck kommen, ist wurden, der als französischer Spitzen-
nicht nur die Schuld der Briten. Dafür tra- beamter eine deutlich zentralistischere
gen auch die Europäer Verantwortung, die Vision von Europa hat als die Regierung
an London ein Exempel statuieren wollen. in Berlin. Gerade für die deutsche Wirt-
SPIEGEL: In Brüssel finden viele, dass man schaft fällt das Brexit-Ergebnis nun höchst
bei den Brexit-Verhandlungen schon viel unbefriedigend aus.
zu viel Geduld mit den Briten aufgebracht SPIEGEL: Auch viele Unternehmer sind in-
hat, die ständig ihre Ziele und Strategien zwischen der Auffassung, dass man Boris
ändern. Johnson nicht mehr vertrauen kann.
Felbermayr: Das sehe ich anders. Schon Felbermayr: Johnson will den Brexit lie-
als Ex-Premier David Cameron vor dem fern, den er seinen Wählern versprochen
Referendum 2016 mit der EU verhandelt hat. Zugleich ist er vernünftig genug, die
hat, ist ihm Brüssel in der wichtigen Frage Schäden für die britische Wirtschaft zu
Thomas Dashuber / Agentur Focus

der Migration nicht weit genug entgegen- minimieren. Ich halte es zum Beispiel für
gekommen. Die Europäer bestanden auf höchst wahrscheinlich, dass er selbst bei
einem nahezu unbeschränkten Zuzug von einem No-Deal einen Großteil der EU-
Beschäftigten, obwohl sich etwa Deutsch- Güter weiter zollfrei ins Land lässt.
land selbst jahrelang gegen Osteuropa SPIEGEL: Was macht Sie da so zuversicht-
abgeschottet hatte. Brüssel hat die politi- Globalisierungsexperte Felbermayr lich?
sche Stimmung in Großbritannien falsch Felbermayr: Die Regeln der Welthandels-
eingeschätzt. Das gilt auch für die Debatte organisation erlauben das, wenn Johnson
um das Austrittsabkommen. SPIEGEL: Kanada ist vom europäischen auch alle anderen Handelspartner von
SPIEGEL: Inwiefern? Festland mehr als 3000 Kilometer ent- Zöllen verschont. So könnte er für er-
Felbermayr: Es war Taktik der EU, zu- fernt, Großbritannien nur gut 30. Das schwingliche Preise in den britischen Su-
nächst das Austrittsabkommen zu verein- macht es auch viel leichter, eine Billigkon- permärkten sorgen und zugleich Brüssel
baren und erst später mit der Regierung kurrenz aufzuziehen. unter Druck setzen. Plötzlich wäre es
in London darüber zu reden, wie die Be- Felbermayr: Da ist etwas dran, trotzdem die EU, die einseitig neue Handelshürden
ziehung künftig gestaltet werden soll. Das ist die europäische Position in dieser Fra- errichtet.
war ein Fehler, der die Verhandlungen gen zu ängstlich und zu defensiv. Zum SPIEGEL: Mit welcher Strategie sollte die
etwa über Nordirland extrem belastet einen haben die Briten selbst ein großes Europäische Union in die Schlussverhand-
hat. Am Ende muss man nüchtern feststel- Interesse daran, dass es in den meisten lungen gehen?
len, dass die Europäer ihre Ziele nicht er- Industriesektoren bei gemeinsamen Stan- Felbermayr: Brüssel sollte auf einen Ab-
reicht haben. dards bleibt und Ausbildungsabschlüsse schluss zielen und London in der Regulie-
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? oder Sicherheitsvorschriften gegenseitig rungsfrage entgegenkommen. Ein sinn-
Felbermayr: Die EU hatte die erklärte anerkannt werden. Und zum anderen voller Kompromiss könnte beispielsweise
Absicht, die Briten so eng wie möglich an kann die EU Großbritannien kaum ver- darin bestehen, die heutigen Regeln fest-
die Gemeinschaft zu binden. Nun verlas- wehren, was sie ihren eigenen Mitgliedern zuschreiben, aber für zukünftige Felder Ab-
sen die Briten die EU, die Zollunion und erlaubt. Es gibt innerhalb Europas riesige weichungen zuzulassen. Ohne Abkommen
den Binnenmarkt, und es ist nicht einmal Unterschiede in der Arbeitsmarkt- und würde sich das Klima zwischen London und
klar, ob es wenigstens ein minimales Han- Lohnpolitik, und die Länder mit den la- Brüssel dagegen gefährlich verschlechtern.
delsabkommen wie mit Japan oder Korea xesten Steuerregeln sind aktuell Irland und Interview: Michael Sauga
gibt. Das ist keine gute Bilanz. die Niederlande.

76 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


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lich begegnen, gehen wir mit noch besseren Lösungen in die Zukunft. Erfahren Sie mehr
über unsere Haltung unter: dzbank.de/haltung
Wirtschaft

Unbequeme Wahrheiten
Medien Mit einer schwimmenden Redaktion wollte der ehemalige »Handelsblatt«-Herausgeber
Gabor Steingart den Journalismus neu erfinden. Doch das Geschäft läuft
schleppend. Und seine apokalyptischen Thesen verschrecken Redakteure und Unterstützer.

A
ls Gabor Steingart Anfang Mai ab- staubten »Handelsblatt«, das Steingart den Lesern, auf Werbeanzeigen von Kon-
legte, fehlte ihm zu seinem Glück 2010 übernahm und wach küsste, wurde zernen verzichtet er bewusst, angeblich
nur noch eine First Lady. Der Me- er Chefredakteur, Herausgeber, später um »unabhängig« arbeiten zu können.
dienunternehmer hatte den Start Ziehsohn des Verlegers Dieter von Holtz- Steingart inszeniert sich als letzten Auf-
seiner neuen, schwimmenden Redaktion brinck, der ihm drei Prozent seiner Ver- richtigen der Branche, ganz so, als wären
groß geplant. Die Crew auf der »Pioneer- lagsgruppe übertrug. Und ihn vor zwei- die Qualitätsmedien, deren Teil er lange
One«, einem 40 Meter langen und 7 Meter einhalb Jahren herauswarf, weil Steingart war, Hörige von Politik und Wirtschaft.
breiten »Redaktionsschiff«, das Steingart eher den Gesetzen der Aufmerksamkeits- Dabei ist all der Lärm wohl eher ein Ver-
nahe Bonn bauen ließ, sollte nicht wie ein ökonomie huldigte als wirtschaftlicher such, das wankende Geschäftsmodell zu
gewöhnliches Medien-Start-up einfach an- Vernunft. Seine Projekte verschlangen retten.
fangen. Sie sollte eine siebentägige Jung- Millionen. 2019 hatte Steingart den Medienkon-
fernfahrt nach Berlin unternehmen, intern Doch Steingart kann kaum ohne Mega- zern Axel Springer als Investor gewonnen,
»Schöpfungsreise« genannt. Neben Stein- fon und Bühne. Nach dem Rauswurf in der für einen niedrigen einstelligen Millio-
gart auf dem Sonnendeck: Größen aus Poli- Düsseldorf schuf er sich deshalb seine ei- nenbetrag rund 46 Prozent an der Media
tik und Wirtschaft, zum Einlauf in der gene: »ThePioneer«. Einen einstelligen Pioneer Publishing übernahm und ein Dar-
Hauptstadt ein internationaler Showact. Millionenbetrag hat er dafür persönlich in- lehen gewährte. Seit Monaten wirbt Stein-
Der Stargast des Spektakels aber sollte vestiert. Allein das Schiff koste monatlich gart zudem für Premium-Abonnements,
heller strahlen. Steingart wünschte sich rund 20 000 Euro, heißt es intern. Die Ge- die besonders zahlungskräftigen »Pionie-
Michelle Obama, die Gattin des ehemali- hälter der Redakteure nicht eingerechnet. ren« angedient werden sollen. Wer statt
gen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Um Geld und Gewinne gehe es ihm bei des einfachen Abos für einige Dutzend
für die Party nach der Jungfernfahrt. Auch dem Vorhaben nicht, hat Steingart öffent- Euro im Monat Pakete im Wert von
Papst Franziskus I. sei mal Teil der Überle- lich beteuert. Was ihn interessiere, sei die 10 000 bis 100 000 Euro bucht, bekommt
gungen gewesen, erzählen Beteiligte. Stein- Idee: die »PioneerOne« als Dienst an der dafür nicht nur eine Plakette aus echtem
gart auf Augenhöhe mit Gottes Stellvertre- Demokratie, ihre Mission ein Aufbruch in Schiffsstahl samt Gravur, sondern erhält
ter auf Erden. »eine neue journalistische Zeit«, in der auch die persönliche Aufmerksamkeit des
Durch Corona wurde am Ende nichts »unbequeme Wahrheiten« gesucht wer- Herausgebers, etwa bei einem »Floating
aus den Ideen. Weder der Papst noch Oba- den. Bezahlt werden soll die Sache von Dinner«. Sofern man sie will.
ma kamen an Bord. Dafür schaute VW- Im April, die »PioneerOne« hatte ihre
Chef Herbert Diess kurz vorbei, als Stein- Jungfernfahrt noch nicht angetreten, ließ
garts Schiff auf dem Mittellandkanal an Nachrichtendampfer Steingart bereits zwei Dutzend Stahl-
Wolfsburg vorbeischipperte. Anteilseigner der Media Pioneer Publishing AG, plaketten produzieren. Auf einer Liste
Seit fünf Monaten kreuzt die »Pioneer- in Prozent mit angeblichen Unterstützern, die dem
One« nun auf der Spree, regelmäßig fährt Ingo SPIEGEL vorliegt, finden sich illustre Na-
das »Patrouillenschiff der Demokratie« Gabor Steingart Rieper Axel Springer men: Ex-Telekom-Chef René Obermann
(Steingart) das Berliner Regierungsviertel 43,52 5 5 46,48 oder Altkanzler Gerhard Schröder stan-
auf und ab. Eine 30-köpfige Mannschaft den darauf ebenso wie Wolfgang Reitzle,
unter Chefredakteur Michael Bröcker Michael Bröcker Aufsichtsratschef von Linde und Conti-
überwacht den Maschinenraum der Bun- geplante Aktionärsstruktur: nental, die Unternehmensberater-Legen-
desrepublik – und produziert dazu News- de Roland Berger, die Künstlerin Mia Flo-
54 10 36
letter, Videos, Podcasts und Texte. rentine Weiss oder der frühere Präsident
Bescheidenheit und Zurückhaltung wa- Gabor Steingart Leser & Axel Springer des Bundesverbands der Deutschen Indus-
ren Steingarts Sache nie. Für ihn kann es und Management Hörer trie, Heinrich Weiss. Gedacht gewesen sei
nicht groß, schnell, wuchtig, laut genug das Papier auch, um bei Springer Eindruck
sein. Hybris ist für den 58-Jährigen eine zu machen, heißt es in der Redaktion. Auf
Lebenseinstellung. GST, so sein Kürzel Platz drei der Liste: Friede Springer, die
und Spitzname, ist ein Meister der Ver- höchstselbst 100 000 Euro einzahlte.
marktung, vor allem der eigenen. In sei- Das Problem: Nur ein kleiner Teil der
nem »Morning Briefing« und in seinen Bü- Wirtschafts- und Politikgrößen überwies
chern ruft er wahlweise den »Weltkrieg tatsächlich Geld. Gegenüber dem SPIEGEL
Jonas Holthaus / laif

um Wohlstand« aus oder diagnostiziert bestätigen der Unternehmer Dirk Roß-


ein »Weltbeben«, Apokalypse täglich. mann und die ehemaligen Politiker Peter
Weil Steingart aber selbst Steingart noch Gauweiler (CSU) und Bodo Hombach
überbieten muss, wurden seine Thesen (SPD) ihre Unterstützung. Gauweiler will
zuletzt immer aberwitziger. die »Ahnung einer Alternative zur Haupt-
Beim SPIEGEL hatte er es einst zum Redaktionsschiff PioneerOne stadtpresse« fördern. Hombach gehört so-
Büroleiter in Berlin gebracht. Beim ange- Leider ohne Obama gar die Plakette Nr. 1. »Gerne unterstütze

78
Fabian Sommer / picture alliance / dpa
Buchautor Steingart auf der »PioneerOne«: Inszenierung als Gralshüter der Unabhängigkeit

ich einen Journalismus, der nicht im Main- Geschäftsmodell« gezahlt zu haben. »Bei um das Herzensprojekt des Verlegers zu
stream treibt«, sagt er. ihm weiß man ja nicht, wer das Boot zahlt befördern. »Steingart setzte das ›Handels-
Zugleich geben mehrere Angeschriebe- und am nächsten Morgen wie zufällig im blatt‹ gerne und immer häufiger als Druck-
ne an, von den Avancen Steingarts über- ›Morning Briefing‹ auftaucht.« mittel ein, um aus den Unternehmen
rumpelt worden zu sein oder sie nach einer Tatsächlich darf Großunterstützer Hom- Gefälligkeiten herauszubekommen«, sagt
kurzen Bedenkzeit abgelehnt zu haben. bach als »Pioneer Expert« mit eigenem einer, der unter ihm Karriere machte. Wel-
Der Verleger Florian Langenscheidt sagt, Autorenprofil auf der Website gelegentlich cher Konzernchef will schon gern Böses
er habe eine Unterstützung nur »erwo- über Bildung und Politik schreiben. Conti- über sich im »Handelsblatt« lesen?
gen«. Auch der McKinsey-Partner Khaled Aufsichtsratschef Reitzle taucht nicht nur Am 1. Mai 2013 lud Steingart im Han-
Rifai habe von einem »Abonnement« zu auf der Liste potenzieller »Supporter« auf, gar 2 des ehemaligen Berliner Flughafens
fünfstelligen Summen »Abstand genom- sondern auch öfter als Gast im »Morning Tempelhof zu einem Zukunftskongress na-
men«. Sowohl Obermann als auch Schrö- Briefing«-Podcast. Und RWE-Chef Rolf mens »Pathfinder«. Jürgen Fitschen von
der bestätigen schriftlich, nicht gezahlt zu Martin Schmitz wurde mehrfach inter- der Deutschen Bank kam, Tom Enders
haben. Ex-VW-Chef Matthias Müller lehn- viewt, ohne dass dabei je erwähnt wurde, von EADS, Dieter Zetsche von Daimler
te ab, nachdem er keine befriedigende Ant- dass der Energiekonzern den Hybridan- oder Heinrich Hiesinger von Thyssen-
wort auf die Frage nach dem Gegenwert trieb des Redaktionsdampfers kostenlos Krupp. Insgesamt sieben Konzernchefs
seiner Zahlung bekommen habe, heißt es mit Strom versorgt, wie die »Zeit« auf- rückten an, mit jeweils 100 Nachwuchs-
aus seinem Umfeld. Reitzle mag sich nicht deckte. Als die Privatbank Merck Finck talenten. Für eine sechsstellige Summe be-
äußern, und Berger lässt mitteilen, »etwai- das Schiff für ein Event charterte, ließ sich kamen die Firmen eine Bühne für ihre
ge Vermögensdispositionen« seien Privat- Herausgeber Steingart persönlich als Red- Chefs und Bespaßung für den Nachwuchs.
sache, schon die Fragen nach einem Invest- ner einspannen. Das wäre weniger proble- Anschließend gab es eine mehrseitige Be-
ment enthielten zudem Unterstellungen. matisch, würde sich Steingart nicht als richterstattung in der Zeitung.
Bei Media Pioneer heißt es nun offiziell, Gralshüter journalistischer Unabhängig- Steingart habe »das Prinzip des Vermi-
man habe über ein Dutzend Unterstützer. keit inszenieren. schens von redaktionellen Inhalten und
Um Gönner wirbt Steingart mit dem Slo- Dabei stand er schon zu »Handelsblatt«- Veranstaltungen« extrem ausgebaut, sagt
gan »100 Prozent Journalismus. Keine Mär- Zeiten im Ruf, Journalismus und Geschäft Jörg Howe, Sprecher des Autokonzerns
chen«. Doch Steingart vermischt, was ge- bisweilen gefährlich zu verquicken. Um Daimler. »Er hat immer neue Formate er-
trennt gehört – Geschäft und Journalismus. die seit 2014 erscheinende, englischspra- funden. Und auch immer mit der Markt-
Ein Unternehmer erzählt, er habe von chige »Handelsblatt Global Edition« zu macht des ›Handelsblatts‹ argumentiert.«
Steingart ungefragt eine Schiffsplakette zu- unterstützen, klopfte er etwa bei Autokon- Der Büromöbelhersteller Walter Knoll
geschickt bekommen, ohne auch nur einen zernen an. Sie sollten für ihre Mitarbeiter durfte das neu gebaute Medienhaus der
Euro für das aus seiner Sicht »fragwürdige in aller Welt Tausende Abos abschließen, Verlagsgruppe ausstatten. Dafür erschien

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 79


Wirtschaft

Hermann Bredehorst

Andreas Buck / BILD


Dieter Mayr

Steingart-Unterstützer Gauweiler, Roßmann, Hombach: »Journalismus, der nicht im Mainstream treibt«

eine Broschüre mit »Handelsblatt«-Re- sen versucht sein Medienanwalt Christian Marina Weisband und dem Journalisten
dakteuren als Werbeträger, die die Vor- Schertz die Recherchen mit mehrseitigen Richard Gutjahr gehen bereits zwei Unter-
züge von Sesseln und Tischen priesen. Die Schreiben zu unterbinden. stützer öffentlich auf Distanz. Beide hatten
Verlagsgruppe will dazu nichts sagen: Weil der SPIEGEL mit der Liste ver- Anfang des Jahres als Podcast-Moderato-
Man äußere sich nicht zu ehemaligen Mit- meintlicher Unterstützer Daten »ausge- ren auf dem Schiff angeheuert.
arbeitern. späht« habe, behalte man sich für den Fall Sie versuche grundsätzlich, den Dialog
Ein einträgliches Geschäftsmodell – das einer Veröffentlichung »sämtliche denk- zwischen politischen Lagern aufrechtzu-
Steingart nun auf seinem Schiff offenbar baren rechtlichen Schritte vor«. Auf einen erhalten, sagt Weisband. »Aber man muss
fortzusetzen sucht. Nicht nur liefert RWE schriftlichen Fragenkatalog antwortet eine sehr genau gucken, wo ein Mensch noch
kostenlos Strom. Die König-Brauerei spen- Sprecherin schließlich: »Ihre Fragen ent- lernfähig ist.« Demnächst will sie mit Stein-
diert das Pils. Neben Merck Finck durfte halten ein wildes Gemisch aus Spekulatio- gart eine öffentliche Diskussion führen;
der Mobilfunkanbieter Vodafone das Schiff nen, Gerüchten und falschen Aussagen.« wie es mit ihrem Podcast weitergeht, ist
bereits für eine fröhliche »Pioneer Expe- Freunde und Weggefährten berichten, unklar. Ihr Kollege Richard Gutjahr ist
rience« mieten. Und Start-up-Lobbyist Steingart leide unter dem eigenen Bedeu- schon einen Schritt weiter. Seine letzte
Christian Miele liefert mit seinem Verband tungsverlust und dem ausbleibenden kom- Ausgabe moderierte der Journalist Ende
regelmäßig Inhalte für das Pioneer-»Tech merziellen Erfolg. Umso lauter werde er. August, sein Engagement für »ThePio-
Briefing«. In der Redaktion wächst derweil der Un- neer« hat er nach den jüngsten raunenden
Ihre Einnahmen bessert die Redaktion mut über die publizistischen Eskapaden Briefings endgültig beendet. Der ehemali-
zudem mit Live-Events auf, Chefredakteur des Herausgebers, die oft hart an der Gren- ge Außenminister Sigmar Gabriel, seit Jah-
Michael Bröcker persönlich führt mehrfach ze zur Verschwörungstheorie liegen. Auch ren ein Vertrauter Steingarts, kommt da-
im Monat »Politische Sightseeings« durch, Chefredakteur Bröcker distanziert sich da- gegen weiterhin gern an Bord.
bei denen er Abonnenten bei der Fahrt von: Er trage nicht alles mit, was Steingart An einem Montag im September findet
über die Spree für 20 Euro pro Ticket das da so schreibe und tue. auf der »PioneerOne« ein Live-Podcast
Regierungsviertel erklärt. Mit Abos allein Glaubt man seinem Umfeld, will Stein- statt. Thema: »Alle Macht der Wissen-
könne die Redaktion derzeit nicht bezahlt gart eine Nische in der öffentlichen Debat- schaft?« Es geht um Corona, um das Pri-
werden, gestand Bröcker kürzlich im Bran- te besetzen, diejenigen als Leser gewinnen, mat der Virologen und die Fehler der Re-
chenmagazin »Journalist«. Von einer mitt- die sich von den traditionellen Medien gierung Merkel. Steingart ist an diesem
leren vierstelligen Abonnentenzahl spre- nicht verstanden fühlen, gerade jetzt in Tag nicht an Deck, dafür ein SAP-Manager
chen sie an Bord. der Coronakrise. In seinen Briefings be- aus Hessen, ein Steingart-Fan.
Die soll steigen, wenn bald so gut wie zeichnet er den Virologen Christian Dros- »Am Anfang«, sagt er, sei er auch noch
alle »Pioneer«-Inhalte hinter einer Bezahl- ten als umstrittenen »Souffleur« oder, in unkritisch gewesen, was Corona angeht.
schranke stehen. Steingarts bisher kosten- Anlehnung an Botho Strauß, als »Behaup- Den »Lappen« vor Mund und Nase habe
loses »Morning Briefing« mit mehr als tungshäuptling«. U-Bahn-Schaffner, die er einfach aufgesetzt, mittlerweile wisse
hunderttausend Abonnenten allerdings die Einhaltung der Maskenpflicht kontrol- man ja, dass die Viren da »einfach durch-
wird frei zugänglich bleiben. lieren, seien wohl »in einem früheren Le- fliegen«. Steingart schätze er dafür, dass
Gern hätte man Steingart selbst nach ben als Blockwart« tätig gewesen. der andere Meinungen vertrete, »mehr als
der Finanzierung seines Projekts gefragt. Die Anbiederung an die Corona-Skep- dieses Vorgekaute von ARD und ZDF«,
Einem Treffen an Bord stimmt ein Spre- tiker führt in der eigenen Redaktion zu sagt der Manager, für den das hier schon
cher von »ThePioneer« zunächst begeis- Konflikten, zumal ein Mitglied der Beleg- Tour Nummer drei ist.
tert zu, nur um die Einladung kurz vor schaft selbst an Covid-19 erkrankt war. Das Problem: Bei diesem Termin ist er
dem Termin wieder zurückzuziehen und Und auch personell könnte Steingarts der einzige Gast auf Steingarts Arche.
stattdessen ein Wortlautinterview zu Stein- politische Radikalisierung gefährlich wer- Simon Book, Anton Rainer
garts Konditionen anzubieten. Unterdes- den. Mit der früheren Piratenpolitikerin

80 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


12. bis 18. Oktober 2020

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unserer Website teil. Corona-Politik. Moderation: Martin Knobbe
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Karl Lauterbach © Karl Lauterbach, Alice Schwarzer © Bettina Flitner, Linda Zervakis © Elissavet Patrikiou
Wirtschaft

Am 23. August 2019 erreichte die Fach-


ebene eine E-Mail aus dem Bundesfinanz-
ministerium, darin aufgelistet: mehrere
öffentlich zugängliche Regierungsdoku-
mente, die sich unter anderem mit »Geld-
wäschevorwürfen und Marktmanipulatio-
nen« bei Wirecard befassten.
Umso unverständlicher ist, dass sich die
Kanzlerin anschließend für den Zahlungs-
dienstleister einspannen ließ. In seiner
E-Mail vom 3. September informierte Gut-
tenberg den Leiter der Wirtschaftsabtei-
lung im Kanzleramt, Lars-Hendrik Röller,
auch über das vorangegangene Gespräch
mit Merkel: »Wir waren uns einig, dass

Felix Hörhager / picture alliance / dpa


ein kurzer Hinweis im Rahmen des Be-
suchs sehr hilfreich sein könnte.« Im An-
hang: eine Art Argumentationshilfe für sei-
ne frühere Chefin.
Wirecard, so notierte Guttenberg, sei »-
eines der global führenden Technologieun-
ternehmen im Bereich der Finanzdienstleis-
tungen«. Mit dem Einstieg bei der chinesi-
Ex-Minister Guttenberg: »Wir waren uns einig« schen AllScore Payment Service würde es
als erste Firma weltweit die »direkte Mehr-
heit an einem chinesischen Unternehmen
im Bereich Finanzdienstleistung halten«.
Der Ghostwriter Merkel sollte auch herausstellen, wie
weit die Übernahme gediehen sei. Wire-
cards steuer- und finanzrechtliche Über-
Wirecard Ein interner Schriftverkehr zeigt, wie sich Angela Merkel prüfung (»Due Dilligence«) des chinesi-
von Karl-Theodor zu Guttenberg für die Skandalfirma schen Unternehmens stehe kurz vor einem
»erfolgreichen Abschluss«, heißt es in Gut-
einspannen ließ – obwohl ihr Haus über Probleme informiert war.
tenbergs Vorlage. Der Deal sei ein »wich-
tiger Impulsgeber für die weitere Vertie-

I m Bundeskanzleramt arbeiten fast


600 Leute, darunter viele Spezialis-
ten. Doch der geballte Sachverstand
ihres Hauses scheint der Kanzlerin nicht
Seit dieser Woche beschäftigt sich ein Par-
lamentarischer Untersuchungsausschuss
auch mit dem Engagement der Bundes-
regierung für Wirecard. Die Kanzlerin soll
fung der deutsch-chinesischen Finanz- und
Wirtschaftsbeziehungen«.
Die Kanzlerin war offenbar angetan
von dem damals aufstrebenden Dax-Kon-
immer zu reichen. Am 3. September 2019 dann als Zeugin vernommen werden. zern. Einen Tag nach ihrer Rückkehr aus
griff Angela Merkel auf das Know-how ih- Auf Antrag von Abgeordnetenwatch Peking meldete sich ihr Abteilungsleiter
res ehemaligen Kabinettskollegen Karl- und FragdenStaat, zwei Transparenzinitia- Röller bei Guttenberg: »Thema ist durch
Theodor zu Guttenberg zurück. tiven, musste das Kanzleramt nun E-Mails die Chefin angesprochen worden. Bitte
An dem Tag schrieb der Ex-Vertei- zu Wirecard freigeben. Der SPIEGEL konn- halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich
digungsminister an den Leiter der Wirt- te sie vorab einsehen. Die Dokumente wer- werde das auch weiter flankieren«, schrieb
schaftsabteilung im Kanzleramt: »Die Frau fen ein sonderbares Licht auf die Arbeits- er an den ehemaligen CSU-Star.
Bundeskanzlerin bat mich, Ihnen noch weise der Regierungszentrale. Kurz darauf traf Röller mit Wirecard-
einige Zeilen zukommen zu lassen, um die Der Einsatz der Kanzlerin für Wirecard Finanzvorstand Alexander von Knoop
richtige Formulierung an der Hand zu ha- fand zu einem heiklen Zeitpunkt statt. Als und zwei Wirecard-Beratern zusammen,
ben.« Dem Schreiben vorangegangen war sich Merkel bei der Staatsführung in Pe- darunter ein alter Bekannter: Klaus-Dieter
ein Treffen von Merkel und Guttenberg. king für die Expansionspläne des Kon- Fritsche, Ex-Geheimdienstbeauftragter im
In der E-Mail, abgeschickt um 19.50 zerns aus Aschheim ins Zeug legte, hatten Kanzleramt. Thema des Gesprächs sollten
Uhr, ging es um Wirecard, jenen Konzern, die Medien bereits über Manipulations- die »Geschäfte mit Fernost« sein.
der wenige Monate später für den wohl vorwürfe und Verbindungen zu illegalen Dabei war nicht nur Wirecard, sondern
größten Finanzskandal in der Geschichte Onlinekasinos berichtet. auch die chinesische AllScore Payment
der Bundesrepublik sorgen sollte. Gutten- Die Anschuldigungen hatten auch das Service zu dem Zeitpunkt bereits schlecht
bergs Firma Spitzberg Partners lobbyierte Kanzleramt erreicht, wie die Dokumente beleumundet. 2020 musste die Firma
damals für Wirecard und hatte die Kanz- zeigen. Im November 2018 bat Wirecard- schließlich eine Rekordstrafe wegen Ver-
lerin dafür gewonnen, auf ihrer kurz da- Vorstandschef Markus Braun um ein Ge- flechtungen in die Glücksspielbranche zah-
rauf beginnenden Chinareise für den spräch mit der Kanzlerin. Merkels Leute len. Der Wirecard-Konzern fiel einige Wo-
Markteintritt des Konzerns im Reich der sagten ab, offiziell »aus Termingründen«. chen später krachend zusammen. Seitdem
Mitte zu werben. Guttenbergs Zeilen soll- Intern wies ein Beamter jedoch auf einen steht die Regierungschefin nicht nur in
ten wohl zur Vorbereitung dienen. Bericht der »Süddeutschen Zeitung« hin, Deutschland blamiert da, sondern auch ge-
Der Skandal um den inzwischen insol- wonach die Staatsanwaltschaft München genüber der chinesischen Staatsführung.
venten Finanzdienstleister ist längst zum ein Verfahren gegen Wirecard prüfe. Vor Da ist es für Merkel wenig tröstlich, dass
Politikum geworden, nicht nur wegen des diesem Hintergrund sei ein Gespräch mit sich auch andere einspannen ließen. Ab-
Versagens diverser Aufsichtsbehörden. Braun »nicht ratsam«. geordnetenwatch hat auch einen Schrift-

82 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


satz aus dem Aktenbestand des Bundes-
finanzministeriums (BMF) erhalten.
Am 22. Juni 2019, wenige Monate vor
FAKE NEWS
Guttenbergs Intervention im Kanzleramt,
hatte sich einer seiner Mitarbeiter bereits
an das BMF gewandt. Die E-Mail ging von
sind nur der Anfang
Ulf Gartzke, einem Kollegen Guttenbergs
bei Spitzberg Partners, an Staatssekretär
Wolfgang Schmidt, der ein enger Mitar-
beiter von Vizekanzler Olaf Scholz (SPD)
! Auch als
E-BOOK
ist. In vertraulichem Duzton warb der Be- ERHÄLTLICH
rater für den Eintritt Wirecards in China.
Im Anhang übersendete er eine Art Blan- JETZT bequem
von zuhause aus
kobrief (»Dear XYZ«), den Schmidt wohl
kaufen
im Namen der Bundesregierung nach Chi-
na schicken sollte, wo die Erlaubnis für
Wirecards Akquise ausstand.
Laut dem Blankoschreiben sollten die
Chinesen mit dem Argument geködert
werden, der Zusammenschluss werde »un-
ser gemeinsames Engagement für die ge-
genseitige Öffnung des Finanzsektors vo-
ranbringen«. In Peking hätte man sich da-
nach also Hoffnungen machen dürfen, im
Gegenzug auch leichteren Zugang in
Deutschland zu bekommen. Am Ende soll-
te sich die Regierung auf Empfehlung von
Ghostwriter Gartzke bei der chinesischen
Behörde für »die Unterstützung für Wire-
card« bedanken.
Das BMF hat eingeräumt, dass sich
Staatssekretär Schmidt im Anschluss tat-
sächlich an seine »chinesischen Ansprech-
partner« gewandt habe, um »über das In-
teresse des deutschen Unternehmens Wire-
card am Eintritt in den chinesischen Markt
zu informieren«. Wurde dabei auch die
Vorlage von Spitzberg benutzt?
Das Bundesfinanzministerium wollte
sich auf Anfrage nicht dazu äußern. Eine
Sprecherin teilte mit, dass »diplomatische
Korrespondenz zum Schutz der auswär-
tigen Beziehungen der Bundesrepublik
Deutschland der Vertraulichkeit unter-
liegt«. Spitzberg Partners und das Kanz-
leramt ließen Fragen unbeantwortet.
Am liebsten hätte Merkel das ganze
Thema wohl vergessen. Das legt ein wei- 304 Seiten, gebunden · € 22,00 ( D )
teres Dokument nahe, dass die Regierung
jetzt freigeben musste. Als der SPIEGEL
im Juli erstmals Fragen zum Lobbying für Hacker, Bots, Trolle, Putin, der IS oder Trump – sie alle
Wirecard schickte, suchte man im Kanz-
leramt nach Antworten. Bei einem Ver- wollen nicht einfach nur »alternative Fakten« in die Welt setzen,
merk zu der Anfrage kritzelte ein Mitar- sie sind vielmehr dabei, unsere Realität zu verändern.
beiter oder eine Mitarbeiterin des Kanz-
leramts an den Rand: »Die BK’in hat keine Peter Pomerantsev nimmt uns mit an die Front des
Erinnerung daran, dass Herr zu G. entspre- Desinformationskrieges, der inzwischen überall auf der Welt tobt.
chend mit ihr gesprochen hat.«
Er trifft Twitter-Revolutionäre und Pop-up-Populisten,
Guttenbergs Besuch bei der Kanzlerin
und sein E-Mail-Verkehr mit Abteilungs- Islamisten und Identitäre, die aus der Zertrümmerung von
leiter Röller waren allerdings schon akten- Ideen wie »wahr« und »falsch« ihren Nutzen ziehen.
kundig. Merkels Leute räumten schließlich
ein, dass sich die Kanzlerin in China für
Wirecard eingesetzt hatte.
Sven Becker, Rafael Buschmann,
Gerald Traufetter

83
www.dva.de
Wirtschaft

über einen langen Zeitraum gestreckt. Weil


sie auch in der zweiten Verhandlungsrunde
kein Angebot vorlegten, veranstaltet Ver.di
nun quer durchs Land Warnstreiks.
Der öffentliche Dienst ist ein Wimmel-
bild von Berufen: Erzieherinnen gehören
dazu, Flughafenmitarbeiter, Verwaltungs-
angestellte, Bademeisterinnen, Kranken-
schwestern, Förster, Feuerwehrmänner.
So wurden auch Kitas und Krankenhäuser
bestreikt. Vergangene Woche begannen
zudem im öffentlichen Nahverkehr Warn-
streiks. Sie haben zwar wenig mit der
Lohnrunde zu tun, erhöhen aber den
Druck auf die Arbeitgeber.
Alles ist wie immer und doch anders.
Verglichen mit vergangenen Tarifrunden
sind die bisherigen Warnstreiks kaum
mehr als ein kräftiges Flügelschlagen.

Jan Scheunert / ddp images


Doch in Corona-Zeiten fühlt sich schon
das an wie ein aufkommender Sturm.
Die Bundesrepublik erlebt den schwers-
ten Wirtschaftseinbruch der Nachkriegs-
geschichte, die Steuereinnahmen von Städ-
ten und Gemeinden sind abgestürzt, das
Demonstration von Pflegekräften in Berlin: Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit Virus hat dazu geführt, dass die Kitas über
Monate abgeriegelt wurden. Die Reaktio-
nen auf den Arbeitskampf reichen denn
auch von Zustimmung bis zu völligem Un-

An der Schmerzgrenze verständnis.


In der Tarifrunde geht es nicht nur um
ein paar Lohnprozente, also darum, wie
die Kosten der Krise verteilt werden. Son-
Arbeitskampf Mit den Warnstreiks im öffentlichen Dienst dern auch um ein Dilemma: Wie geht die
geht die Tarifrunde in die entscheidende Phase. Sollen Corona- Gesellschaft mit ihrer Kluft zwischen An-
Helden mehr Geld bekommen, trotz Wirtschaftskrise? spruch und Wirklichkeit um? Es ist nicht
lange her, da klatschten Bürger und Politi-
ker für die »Helden des Alltags« – Kran-

E s ist kurz vor 10.30 Uhr am Mitt-


woch vergangener Woche, als Frank
Werneke aus dem Haupteingang der
Ver.di-Zentrale in der Nähe des Berliner
Eigentlich sind es nur zwei, drei Kilo-
meter bis zu einem Treffpunkt, aber erst
einmal geht nichts. Die Berliner Mitte ist
gefühlt eine einzige Baustelle. Irgendwann
kenpflegerinnen, Müllmänner, Erzieher –
und versicherten, Wertschätzung müsse
sich auch in Geld auszahlen. Nun sind die
Stimmen leiser geworden.
Ostbahnhofs tritt. Am Bürgersteig wartet ist Werneke auf Höhe des Holocaust- Wenn das Virus nicht schnell verschwin-
schon sein Fahrer mit dem Wagen. Denkmals, aber der Demonstrationszug det – und dagegen spricht gerade vieles –,
Werneke ist ein schwer beschäftigter noch ein Stück weit weg auf der Leipziger muss die Gesellschaft lernen, wie sie
Mann. Der Vorsitzende von Ver.di führt Straße. Auseinandersetzungen führt, die zur Grund-
gerade die Tarifverhandlungen seiner Ge- Kurzerhand steigt er aus, schultert sei- lage der Demokratie gehören. Tarifver-
werkschaft für die rund 2,3 Millionen Be- nen Rucksack und geht zu Fuß zum Pots- handlungen und Streikrecht zählen dazu.
schäftigten im öffentlichen Dienst der damer Platz, dort will er seine Leute tref- Ohne Corona hätten sie sich bei Ver.di
Kommunen und des Bundes an. In zwei fen. Den Demonstrationszug kann er in über eine Forderung von 4,8 Prozent tot-
Wochen beginnt die dritte Verhandlungs- der Ferne schon erahnen. Doch die Polizei gelacht. Bis vor Kurzem sprudelten die
runde. Wie üblich organisiert Ver.di vorher leitet den Zug um, über die Wilhelmstraße. Einnahmen des Staates. Jetzt steckt Wer-
bundesweit Warnstreiks, um Entschlossen- Werneke kommt seinen Leuten über Um- neke in einer Tarifrunde, die er gar nicht
heit zu demonstrieren. wege entgegen. wollte. Bis Juni ging er davon aus, dass sie
Zur Routine gehört, dass der Chef In diesen außergewöhnlichen Zeiten ist verschoben wird.
immer mal wieder auf den Kundge- nichts einfach. Nicht einmal der Weg zur Seine Gewerkschaft hatte den Arbeit-
bungen erscheint und mit markigen Re- eigenen Demo. gebern angeboten, dass diese für 2020 ein-
den die Stimmung hochhält. Jetzt sitzt Seit Ende August läuft die Tarifrunde malig 1500 Euro pro Arbeitnehmer zahlen
er hinten rechts auf den Lederpolstern für die Beschäftigten im öffentlichen und die Tarifverhandlungen dafür auf das
seiner Dienstlimousine. Seit neun Uhr Dienst. 4,8 Prozent mehr Lohn fordern Frühjahr kommenden Jahres geschoben
marschieren rund 500 Beschäftigte der die Gewerkschaften unter anderem, min- werden. »Da hätten wir klarer gesehen,
Berliner Kliniken vom Roten Rathaus in destens aber 150 Euro mehr im Monat. wie es um die Pandemie und die wirtschaft-
Richtung Brandenburger Tor, wo Werne- Und die Arbeitszeiten in Ost und West sol- lichen Folgen steht«, sagt Werneke. Die
ke um 11.30 Uhr eine Rede halten soll. Er len angeglichen werden. kommunalen Arbeitgeber lehnten ab. »Sie
will den Demonstrationszug unterwegs Den Arbeitgebern ist das angesichts der glaubten, wir seien wegen Corona nicht
abpassen und ein Stück an der Spitze mit- schwierigen Finanzlage in der Coronakrise streikfähig und sie bekämen einen billigen
ziehen. zu viel. Sie wollen etwas geben, aber lieber Abschluss«, sagt er.

84 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Tatsächlich war es nicht einfach, Die Hansestadt ist ein Idyll, das Rathaus
die Tarifrunde noch zu starten, das Pro- stammt noch aus der Backsteingotik. In
zedere braucht üblicherweise mehrere einem Besprechungszimmer im ersten
Monate Vorlauf. Da Präsenzveranstaltun- Stock sitzt Ulrich Mädge an einem Konfe-
gen wegen Corona nicht stattfinden konn- renztisch. Der Sozialdemokrat ist hier seit
ten, mussten Werneke und sein Verhand- 29 Jahren Oberbürgermeister. Wie Wer-
lungsteam über Videokonferenzen mit neke ist er ein erfahrener Tarifpolitiker,
Tausenden Mitgliedern sprechen. Erst- aber wie der Ver.di-Chef führt auch Mädge
mals arbeitet Ver.di mit mehr als 6000 so- als neuer Präsident des Verbands der kom-
genannten Tarifbotschaftern in den Be- munalen Arbeitgeber zum ersten Mal die
trieben, die ständig per Video über den Tarifverhandlungen an.
Stand informiert werden und die Informa- Der Verband ist heterogen. Alle leiden

Florian Gaertner / photothek / imago images


tionen in die Belegschaften tragen. »Am unter Corona, aber es gibt reiche Städte,
Anfang hatten wir große Sorgen«, sagt und es gibt arme – solche besonders im
Werneke, »doch angesichts der Ausgangs- Saarland, in Rheinland-Pfalz und Nord-
lage ist die Beteiligung an den Warnstreiks rhein-Westfalen, Bundesländer, die unter
sehr gut.« der Last der Altschulden aus vergangenen
Tarifverhandlungen sind nichts für Krisen leiden. Und während die Sparkassen
Zweifler. Es geht darum, Stärke zu de- unter dem Niedrigzins ächzen, herrscht an
monstrieren. Aber Werneke ist Realist. Ver.di-Chef Werneke vielen Flughäfen, die zum Teil auch im Ta-
Es wird ihm bewusst sein, dass er in der rifvertrag des öffentlichen Dienstes der
Pandemie keinen wirklich harten Konflikt Kommunen sind, blanke Existenzangst, seit
durchziehen kann. Der Verteilungsspiel- Verhandlungssache der Tourismus zusammengebrochen ist.
raum ist beschränkt. Die Forderung nach Entwicklung der Tariflöhne in ausgewählten »Ein Tarifabschluss, wie ihn Ver.di will,
4,8 Prozent hat Ver.di auf kein einziges Branchen in Deutschland, Veränderungen würde Lüneburg drei Millionen Euro im
Plakat geschrieben. Die Bürger, auch die 2019 gegenüber 2000 in Prozent Jahr kosten, das kann ich nicht verantwor-
Ver.di-Mitglieder, sind erschöpft. Dennoch, Quellen: WSI Tarifarchiv, +68,5 ten«, sagt Mädge. Gut 5000 Menschen ar-
die Gewerkschaft muss beweisen, dass sie Destatis beiten für die Hansestadt und ihre Toch-
+63,1
jetzt nicht wehrlos ist. tergesellschaften.
Stefanie De Vries hat 1983 hat ihre Aus- +57,2 Bis vor Kurzem »ging es der Stadt so
bildung zur Krankenschwester beendet. + 53,4 +53,7 weit gut«. Zwar hatte die Finanzkrise Lü-
Seit 1990 arbeitet sie in der Klinik in Buch- neburg hart erwischt, aber dann sprudel-
holz in der Nordheide, kurz vor Hamburg, + 45,8 ten die Einnahmen. »Wir kamen von
ein Akutkrankenhaus mit 275 Planbetten. zum Vergleich:
Verbraucherpreise
150 Millionen Euro Altschulden, im Jahr
Die chirurgische Station hat Platz für 36 +31,7 2022 hätten wir diese final getilgt gehabt«,
Betten, aber es können auch mehr Patien- sagt Mädge, »das ist jetzt Makulatur.« Für
ten zu versorgen sein. 24 Pflegekräfte sind dieses Jahr hatte er bei guter Konjunktur
hier im Einsatz, die meisten in Teilzeit, für mit einem Plus von bis zu zehn Millionen
einen 24-Stunden-Schichtbetrieb an 365 Öffent- Öffent- Gesamt- Euro gerechnet, nun erwartet er ein Minus
licher licher wirt-
Tagen im Jahr. Dienst Dienst schaft von 20 Millionen Euro. Die Gewerbesteu-
Wenn man sie fragt, wie die Stimmung Bund Länder ereinnahmen sind in Lüneburg von 55 auf
Einzel- und Ge- Chem. Metall-
unter den Kollegen ist, sagt sie: »Sehr an- handel meinden Industrie industrie
35 Millionen Euro gesunken. Zugleich
gespannt. Sie wollen endlich sehen und müsse die Stadt weiter investieren, in Bil-
fühlen, dass die Wertschätzung, die man dung, in Infrastruktur, in die Klimawende.
uns mit Klatschen und Lavendelsträuß- »Wir stehen im Wettbewerb um Fachkräf-
chen gezeigt hat, auch ernst gemeint ist. te, deshalb wollen wir auch finanziell et-
Und das zeigt sich in Heller und Pfennig.« was in der Lohnrunde machen. Aber es
Sie will nicht allein mehr Geld, wichtiger muss in den Rahmen passen«, sagt Mädge.
ist ihr zusätzliches Personal, damit die Pfle- Auch die Sicherheit der Jobs müsse einge-
ge besser, aber auch die Belastung durch preist werden.
die Arbeit erträglicher wird. Mädge will einen Tarifvertrag über drei
Als Mitglied der Streikleitung organi- Jahre. Die jüngste Steuerschätzung zeige,
siert De Vries die Warnstreiks. »Pflege- dass die Kommunen frühstens 2024 wie-
kräfte streiken normalerweise nicht, weil der ihr Niveau von 2019 erreichen. Am
sie sich um ihre Patienten sorgen«, sagt 22. Oktober beginnt die dritte Verhand-
sie, »und wenn, gehen sie in ihrer Freizeit lungsrunde. Schon vorher finden Gesprä-
zum Ausstand.« In den vergangenen che zwischen den Tarifparteien statt. Da-
20 Jahren war sie froh, wenn sie mit den bei werden die Arbeitgeber ein Angebot
üblichen 10 bis 15 Verdächtigen vor dem vorlegen »Wir werden unsere Schmerz-
Haus stand. Dieses Mal seien mehr als grenze definieren und nicht darüber
100 Kollegen grundsätzlich zum Streik hinaus gehen«, sagt Mädge.
Niklas Grapatin / laif

bereit. Am 30. September standen sie das Was aber, wenn die Infektionszahlen
erste Mal vor dem Krankenhaus, anschlie- weiter steigen, die Tarifrunde jedoch nicht
ßend fuhren die meisten Kollegen mit abgeschlossen sein sollte? Dann könnte
zwei Bussen und Privatautos zur zentra- Covid-19 die Tarifparteien in die Zwangs-
len Kundgebung ins nahe gelegene Lüne- Krankenschwester De Vries pause schicken. Markus Dettmer
burg. Höherer Lohn statt Klatschen

85
Ausland

Christopher Furlong / Getty Images


Das erleuchtete Blackpool an Englands Westküste hofft darauf, mit der alljährlichen Lichtershow wieder Touristen
in die Stadt zu locken. Eine illuminierte Aschenputtel-Kutsche lädt zur Fahrt über die Promenade des Badeorts
ein, die wegen der Corona-Pandemie in diesem Sommer meist wie leer gefegt war. Blackpool ist bekannt für seine
historischen Fahrgeschäfte, darunter eine Holzachterbahn, sowie für eine alte Wurlitzer-Orgel im Turm der Stadt.

Der Preis Corona-Bekämpfung gepriesen. Im März hatte sie einen strikten


Lockdown verhängt. Im August wurden weitere Beschränkungen
erlassen, weil die Infektionskurve trotzdem weiter anstieg.

des Ungehorsams »Die Leute haben sich nicht an die Auflagen gehalten. Sie sind
ausgegangen, haben sich mit Freunden und Verwandten getrof-
fen«, meint die Infektiologin Carlota Russ, die dem Wissenschaft-
Analyse In Lateinamerika gehen die lerkomitee von Präsident Alberto Fernández angehört.
Im Großraum Buenos Aires flacht die Kurve zwar langsam ab,
hohen Corona-Zahlen endlich zurück – dafür nehmen die Fälle im Landesinneren stark zu. Kontrollen
außer in Argentinien. Warum? hätten nur im ersten Monat funktioniert: »Wir sind Latinos, wir
sind nicht sehr gehorsam«, so Russ. Am Ende hätten sich nur
 Keine andere Weltregion wurde so hart von der Corona- noch alte Leute an die Ausgangssperre gehalten – aber selbst die
Epidemie getroffen wie Lateinamerika, jetzt sinken die Infek- gingen nun immer öfter aus.
tionszahlen in den meisten Ländern wieder. Experten glauben, Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sei es sehr hart, die
dass die Maskenpflicht zu den rückläufigen Zahlen beigetragen Menschen zu zwingen, zu Hause zu bleiben. Deshalb sollen die
habe. Auch herrsche in manchen Regionen, die besonders hart Beschränkungen jetzt nach und nach aufgehoben werden. Zu
betroffen waren, heute großflächig Immunität. Von den zehn früh? »Die Pandemie wird uns noch lange begleiten«, sagt Russ.
bevölkerungsreichsten Ländern Lateinamerikas weist nur Argen- »Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben, und einen Weg
tinien konstant ansteigende Infektionszahlen auf – dabei wurde finden, notwendige Einschränkungen zu überprüfen und so viele
die Regierung in Buenos Aires anfangs als vorbildlich bei der Aktivitäten wie möglich zu erlauben.« Jens Glüsing

86 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Nordkorea Atomwaffen dafür werben, dass auch die
»Angehörige sind Chinesen mit am Verhand-
Kompromiss lungstisch sitzen und sich am
Geiseln« in Sicht Abkommen beteiligen. Vor
der Gesprächsrunde im Juni
Erst jetzt wurde bekannt, dass  Eines der letzten noch be- in Wien hatte US-Unterhänd-
sich der damalige Botschafter stehenden Abkommen zur ler Billingslea auf den Kon-
Nordkoreas in Rom 2018 ab- Rüstungskontrolle, der New- ferenztischen sogar demon-
setzte und später nach Süd- Baek Start-Vertrag zwischen den strativ chinesische Fähnchen
korea ging. Er ist damit einer USA und Russland, wird platziert. Als möglicher Kom-
der ranghöchsten Flüchtlinge ßes Stigma. Viele Menschen, womöglich doch noch verlän- promiss gilt nun die Vertrags-
des Regimes in Pjöngjang. die flüchten, täuschen des- gert. Nach überraschend verlängerung um weniger als
Die amerikanisch-koreanische halb ihren eigenen Tod vor. angesetzten Gesprächen am fünf Jahre, zunächst ohne
Wissenschaftlerin Jieun Baek, SPIEGEL: Wie bindet Pjöng- Montag in Helsinki teilte der chinesische Beteiligung. Nach
33, über Sippenhaft und den jang seine Funktionäre an das amerikanische Verhandlungs- Einschätzung von Rose Gotte-
illegalen Informationsfluss Land? führer Marshall Billingslea moeller, die das Abkommen
in das abgeschottete Land. Baek: Damit sich die Kader mit, dass »wichtige Fortschrit- für die damalige US-Regie-
nicht absetzen, müssen Diplo- te« erzielt worden seien. Der rung ausgehandelt hat, steckt
SPIEGEL: Wie viele Top- maten, Arbeiter, Geschäfts- vor zehn Jahren geschlossene Donald Trump persönlich hin-
Kader fliehen aus Nordkorea? leute oder Spione, die ins Vertrag, der die Aufstellung ter der neuen Dynamik. »Der
Baek: Bisher sind gut 33 000 Ausland gehen, mindestens strategischer Atomwaffen Präsident möchte noch vor
Menschen von dort nach Süd- ein Familienmitglied in Nord- begrenzt, läuft eigentlich im dem Wahltermin einen diplo-
korea geflohen. Drei bis korea zurücklassen. Die Februar aus. Russland hat matischen Erfolg vorweisen
fünf Prozent von ihnen geben Angehörigen sind quasi Gei- großes Interesse daran, die können, darum hat er seinen
an, früher zur Elite Nord- seln. Die Tochter des Bot- Vereinbarung um fünf weitere Leuten gesagt, bringt es zu
koreas gehört zu haben. schafters könnte gefoltert wer- Jahre zu verlängern, weil einem Ende«, sagt sie. Gotte-
SPIEGEL: Erfahren Nord- den, um die Eltern zur Rück- dadurch ein teurer Rüstungs- moeller hält es im Fall einer
koreaner von hochrangigen kehr zu bewegen. wettlauf vermieden würde. Einigung für wahrscheinlich,
Überläufern wie dem SPIEGEL: Was wissen Nord- Die Trump-Regierung hatte dass Trump und der russische
Botschafter aus Italien? koreaner über die Situation bislang jedoch Bedingungen Präsident Wladimir Putin
Baek: Die Leute, die jetzt im Ausland? gestellt, die Moskau als un- »bei einem virtuellen Gipfel-
davon wissen, gehören Baek: Aktivisten bringen annehmbar betrachtete. So treffen eine Rahmenverein-
eher zur Elite. Über einen Micro-SD-Karten, Telefone, sollten die Russen in Peking barung unterzeichnen«. DIP
längeren Zeitraum dürfte gebrauchte Laptops und
sich so eine Nachricht aber Radios ins Land, über die Russische Interkontinentalrakete
auch verbreiten. chinesisch-nordkoreanische
SPIEGEL: Die Tochter des Grenze. US-finanzierte
Botschafterpaares wurde Radiostationen und Sender
nach Nordkorea gebracht. aus Südkorea übertragen
Was muss sie fürchten? Informationen über Kurz-
Baek: Nicht alle Familien welle. Immer mehr Leute
werden getötet, gefoltert oder sehen geschmuggelte Musik-

lexander Zemlianichenko / AP
landen im Lager für politi- videos der K-Pop-Stars, die
sche Gefangene. Aber der geschminkt sind, die Jeans
Druck steigt immens, wenn in tragen und frei leben. Es ist
den Augen des Regimes eine äußerst riskant, solche Me-
Familie einen Verräter hervor- dien zu nutzen, die Menschen
gebracht hat. Das ist ein gro- tun es trotzdem. KGP

Nahost auf. Vergangenen Monat hat- Das hochrangige Mitglied der des Königreichs, Kronprinz
»Versager« ten die Vereinigten Arabi- Herrscherfamilie ließ sich Mohammed bin Salman. Der
schen Emirate und Bahrain in ausführlich über die »Versager« Vater des Thronfolgers, König
 Diplomatische Beziehungen Washington die Normalisie- in der notorisch zerstrittenen Salman, lehnt eine Aussöh-
mit Israel sind für die meisten rung ihrer Beziehungen zu palästinensischen Führungs- nung mit Israel dagegen ab.
Araber noch immer ein Tabu. Israel besiegelt. Inzwischen riege aus. Die Fürsprecher der Würde Saudi-Arabien tatsäch-
Jahrzehntelang bestanden die bröckelt die Unterstützung für Palästinenser wären »geschei- lich Israel anerkennen, wäre
Golfländer geschlos- die Palästinenser auch tert«, während sich die Lob- dies das endgültige Aus für
sen darauf, dass die in Saudi-Arabien, wie byisten Israels »erfolgreich« den Kampf der Palästinenser
Palästinenser erst sich zuletzt bei einem durchgesetzt hätten, sagte um einen eigenen Staat. Einge-
einen eigenen Staat Auftritt des einfluss- Prinz Bandar. Beobachter fädelt hat die Trendwende am
imago images

erhalten müssten, reichen saudischen lesen seine Worte als Empfeh- Golf zugunsten Israels Jared
bevor sie Israel aner- Prinzen Bandar bin lung zur Annäherung an Kushner, Nahost-Beauftragter
kennen. Inzwischen Sultan im TV-Sender Israel, in Übereinstimmung und Schwiegersohn von US-
weichen die Reihen Prinz Bandar Al Arabiya zeigte. mit dem De-facto-Herrscher Präsident Donald Trump. SUK

87
Ausland

Waldbrand bei Calistoga

Traumland ist abgebrannt


USA Kalifornien gilt vielen als Ort der Freiheit, der Visionen, des Fortschritts. Jetzt, da
die US-Westküste zunehmend unbewohnbar wird, droht diese Utopie in Flammen aufzugehen.

J
effrey Bitton ist nicht zu Hause, als er die Nachricht liest, steht er eine halbe Mit seinem Pick-up-Truck liefert Bitton
seine Heimat Feuer fängt. Auf sei- Autostunde weit weg an einer Zapfsäule. Trinkwasserkanister an Privathaushalte,
nem Telefon trifft an diesem Nach- »Ich habe sofort Panik bekommen«, das ist sein Job. Er hat an der Tankstelle
mittag Anfang September eine Text- sagt Bitton, als er zwei Wochen später am Lakeside Market in Oroville haltge-
nachricht der Behörden ein, eine Auffor- seine Geschichte erzählt. Sein Hund macht, kurz vor Feierabend. In den um-
derung, sich unverzüglich in Sicherheit zu Rambo, ein Deutscher Schäferhund, ist liegenden, von der langen Dürre staubtro-
bringen. Er weiß, was das bedeutet: Sein zu dem Zeitpunkt allein zu Hause. »Ich ckenen Wäldern brennt es seit Wochen,
Haus in Berry Creek in den Wäldern Nord- wusste, dass ich da hochmuss, um ihn zu Blitzeinschlag löste die Flammen aus. Weil
kaliforniens ist von Flammen bedroht. Als retten.«  der Wind ungünstig weht, wird daraus

88 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Das kalifornische Paradies, sein Paradies, dunkel, der Energieversorger hat den
das wusste Jeffrey Bitton, kann jederzeit Strom abgestellt. Rambo bellt im Wohn-
in Flammen aufgehen. zimmer, während Bitton durch die Räume
Mehr als 30 Menschen sind in diesem eilt, um das Wichtigste zusammenzusu-
Jahr in Kalifornien Opfer des Feuers ge- chen. »Irgendwann wurde das Leuchten
worden, mehr als 96 000 Menschen wur- draußen immer heller«, sagt er. »Ich spürte
den bislang evakuiert, rund 8000 Gebäu- die Hitze in der Luft.« Als er mit seinem
de sind niedergebrannt. 17 000 Feuerwehr- Hund aus der Tür tritt, weiß er, dass er sein
kräfte bekämpfen derzeit 23 aktive Wald- Haus vermutlich zum letzten Mal sieht.
brände. Fünf der sechs größten bekannten Bitton erzählt die Geschichte seines ka-
Wildfeuer in der Geschichte des Bundes- lifornischen Albtraums auf einem Park-
staats brannten alle in diesem Jahr oder platz, neben einer Anlaufstelle für die Op-
brennen noch. Bezeichnungen wie »mega fer des Feuers. Mehrere Hundert Evaku-
fire«, »freak fire« oder »firenado« finden ierte erhalten hier Essen und Getränke,
Eingang ins Vokabular. Das ist die neue Hygieneprodukte, Decken, für die Kinder
Normalität – oder »die neue Abnorma- Spielsachen. Hier können sie sich melden,
lität«, wie Ex-Gouverneur Jerry Brown um verlorene Dokumente neu zu beantra-
einmal sagte. gen oder Hilfe bei der Unterkunftssuche
zu bekommen. Es sind Szenen wie in einem
Kalifornien ist bedroht. Von Feuern, vom Flüchtlingslager.
Klimawandel, von Hitze und Dürre, von Nur eine gute Stunde ist es von hier bis
rauchverschmutzter Atemluft. Die Ein- in die Hauptstadt Sacramento, zweiein-
schläge werden zum Teil des Lebens in halb Stunden sind es bis San Francisco,
dem mit 40 Millionen Menschen bevölke- und doch wirkt dieser Teil Kaliforniens
rungsreichsten Bundesstaat der USA. wie vergessen von der Moderne. In vielen
Und neben den neuen Verheerungen ländlichen Bezirken des reichen Bundes-
sind da die alten, mit denen der Staat staats war die Arbeitslosigkeit schon vor
schon lange kämpft. In den urbanen Zen- Corona hoch und das Durchschnittsein-
tren wächst die soziale Ungleichheit, der kommen gering. Hier sind viele Häuser
Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist baufällig, die Straßen in üblem Zustand.
eklatant, Gering- und Normalverdiener Hier lösen schlecht gewartete Oberleitun-
können sich das Leben kaum mehr leisten. gen fatale Waldbrände aus.
Tausende Obdachlose leben auf den Stra- Als das Feuer sein Werk in Berry Creek
ßen von San Francisco, Los Angeles oder vollendet hatte und Jeffrey Bitton ein paar
San Diego. Und dann bringt das Horror- Tage später wieder hochfahren durfte, war
jahr 2020 erst ein gefährliches Virus und sein Haus nur noch ein Aschehaufen. Auch
nun eine Feuerwalze. die Häuser der Nachbarn waren ver-
Max Whittaker / The New York Times / laif

Dabei war Kalifornien doch immer das schwunden. Seine Heimat war zu Staub
bessere Amerika, das andere Amerika – zerfallen. Die steilen Hänge rundum,
sowohl in seinem Selbstbild wie auch im vor Kurzem noch von Wäldern bedeckt,
Ansehen der übrigen Welt. Insbesondere sehen heute aus wie schlecht rasiert, mit
seit der Trumpismus Besitz ergriffen hat stoppeligen Baumskeletten. Das bringt ein
von den uneinigen Staaten, schien die
Westküste erst recht die Alternative zu
sein, der amerikanische Traum wurde am
Pazifik verteidigt. Im Norden erfindet die
Tech-Industrie des Silicon Valley die digi-
tale Zukunft. Im Süden inszeniert die Film-
an jenem Nachmittag eine riesige Feuers- industrie Hollywoods Happy Endings für
brunst, die bis heute rund 1300 Quadrat- die Geschichten, mit denen es die ganze
kilometer Land niedergemacht hat. »North Welt unterhält.
Complex Fire« heißt dieses Feuer, weil die Kalifornien galt vielen als Vorhut der
Waldbrände hier Namen erhalten wie an- Zivilisation, als Fortschrittslabor, als Hei-
derswo Hochdruckgebiete und Stürme. Es mat von Abenteurern, Visionären und Er-
ist das sechstgrößte Feuer, das Kalifornien findern. Muss der Mensch nun tatsächlich
in seiner jüngeren Geschichte erlebt hat. langsam den Rückzug antreten aus diesem
Es brennt immer noch. Sehnsuchtsgebiet?
Winni Wintermeyer / DER SPIEGEL

Bitton, 39, ist vor zwölf Jahren aus San


Francisco hierhergezogen, in eine ver- Als Jeffrey Bitton am Tag des Infernos die
schlafene Gemeinde mitten in den Wäl- kurvige Straße von Oroville nach Berry
dern. Spätestens seit dem katastrophalen Creek hochrast, um zu seinem Haus zu ge-
»Camp«-Feuer, das vor zwei Jahren die langen, lässt ihn die Polizei nur deshalb
nur wenige Kilometer weiter nördlich ge- durch die Absperrung, weil er eine gelb
legene Kleinstadt Paradise dem Erdboden leuchtende Warnweste trägt; man hält ihn
gleichmachte und 85 Todesopfer forderte, für einen Katastrophenhelfer. Der Himmel, Brandopfer Bitton, Hund Rambo
müssen die Menschen hier oben im so erzählt Bitton, war schwarz, es regnete Haus weg, Heimat weg
Herbst mit dem Schlimmsten rechnen. Ascheklumpen. In seinem Blockhaus ist es

89
Winni Wintermeyer / DER SPIEGEL
Familie Mayer-Rothbarth in San Leandro: »Wir müssen hier raus«

neues Problem mit sich, fürchtet Bitton: Wochen lang keinen blauen Himmel mehr men die Stromausfälle: Regelmäßig schal-
»Verbrannte Erde, tote Wurzeln – gut mög- gesehen hatte über der Bucht von San Fran- tet der Energieversorger PG & E in Teilen
lich, dass wir hier oben in Zukunft von cisco. Seit Mitte August durften ihre drei Kaliforniens die Versorgung aus, einerseits
Schlammlawinen bedroht sind.« Kinder nicht mehr ins Freie. Die Zwillinge um mit dem durch die Hitze gestiegenen
Emil und Lena, drei Jahre alt, »fingen an, Energiebedarf für die Klimaanlagen zu-
Klischeebilder von Kalifornien werden dauernd zu husten«, sagt der Vater. Der rechtzukommen, andererseits um Wald-
aus Sand, Meer und Palmen gemalt, aber Grafikdesigner mit deutschen Wurzeln, 52, bränden vorzubeugen.
in Wahrheit besteht der Staat vor allem und seine amerikanische Frau, 40, fällten Das Paar recherchierte, wo in den USA
aus Bergen, Wüsten und Wäldern. Seine innerhalb weniger Tage die Entscheidung, die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist,
Forste machen rund ein Drittel seines Kalifornien den Rücken zu kehren. langfristig von den Folgen des Klimawan-
Staatsgebiets aus; sie allein sind doppelt Mayer-Rothbarth, ein Weltenbummler, dels verschont zu bleiben. Der Südwesten
so groß wie Bayern. In diesem Jahr brann- in Deutschland und Chile aufgewachsen, des Landes kam nicht infrage, dort steigen
ten bisher mehr als 15 000 Quadratkilo- kam vor zehn Jahren nach Kalifornien, der die Temperaturen ins Unerträgliche. Im
meter ab, etwa die Größe Schleswig-Hol- Liebe und der Arbeit wegen. Der Westen Süden, in Florida oder Louisiana, peit-
steins, und die Feuerzeit kann noch bis in der USA schien alles zu bieten, was sie schen regelmäßig Stürme und Fluten das
den Dezember dauern. sich wünschten: gut bezahlte Jobs in der Land. Es gibt Studien, die damit rechnen,
Die Rekordsaison hüllt in diesem Jahr Tech-Branche, eine Weltstadt vor der Tür, dass in diesem Jahrhundert bis zu 13 Mil-
große Teile des amerikanischen Westens großartige Natur mit mildem Klima, dazu lionen Menschen innerhalb der USA we-
in graue Schleier und beschert auch den die Nähe zum Pazifik mit guten Wellen gen des Klimawandels migrieren werden.
Metropolregionen von San Francisco und zum Kitesurfen für ihn. »Hier wollten wir Rhode Island, ein Bundesstaat an der
Los Angeles mit ihren mehr als 20 Millio- bleiben«, sagt Mayer-Rothbarth. nördlichen Ostküste, am anderen Ende des
nen Einwohnern über viele Wochen hin- Nun sind die Kinder und deren Zukunft Kontinents, sah sicher aus, fand Mayer-
weg gesundheitsgefährdende Luftwerte. der Hauptgrund dafür, dass sie gehen. Rothbarth. Sie fingen an, sich nach einem
San Francisco liegt im globalen Ranking »Wir wollen die drei nicht jeden Herbst neuen Haus umzuschauen. »Alles dort drü-
der Orte mit der schlechtesten Luftqualität wochenlang einsperren«, sagt Megan. Die ben ist nur halb so teuer wie in San Fran-
derzeit an manchen Tagen auf einem Spit- »Feuersaison«, wie man in Kalifornien in cisco, dafür hat man doppelt so viel Platz«,
zenplatz, mit Städten wie Delhi, Peking Ermangelung echter Jahreszeiten den sagt er. Ohne vorher hinzureisen, kauften
oder Lahore. Herbst nennt, wurde jedes Jahr länger und sie ein Haus, das sie nur per Führung am
»Wir müssen hier raus«, sagte Torsten zerstörerischer, so schien es den beiden. Bildschirm besichtigt hatten.
Mayer-Rothbarth zu seiner Frau Megan im Die vielen Monate des Corona-Lock- Der Flug an die Ostküste ist längst
September, nachdem die Familie mehrere downs haben sie müde gemacht. Dazu ka- gebucht, der Umzugswagen organisiert.

90 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Ausland

Am 15. Oktober endet für Torsten und Womöglich sind Kettensägen und Flam- In Flammen
Megan Mayer-Rothbarth der kalifornische menwerfer da besser – und für Letzteres
Brände in Kalifornien 2020
Traum. ist Ed Smith Experte. Der Forstwissen-
schaftler, 59, steht mit schweren Schuhen
Die Frage, ob man bleiben soll oder ge- und einer Schiebermütze mitten in einem aktive Brände
hen, wird derzeit an vielen kalifornischen kalifornischen Wald in den Bergen der verbrannte Fläche
Familientischen diskutiert. Eine Umfrage Sierra Nevada und sagt von sich selbst, er
ergab in diesem Sommer und lange vor sei »pyrophil« – verliebt in Feuer. Auf sei- OREGON
den aktuellen Waldbränden, dass rund nem T-Shirt prangt ein Ring aus Flammen-
40 Prozent der Tech-Angestellten in der werfern.
San Francisco Bay Area in eine preiswerte- Schon als kleiner Junge, sagt Smith,
re Gegend umziehen würden, wenn sie dau- habe er alles Mögliche anzuzünden ver- August Complex
erhaft von zu Hause aus arbeiten könnten. sucht, Abfälle, Gestrüpp, einmal setzte er bisher sind
ca. 4100 km²
Auf Websites wie exitcalifornia.com oder versehentlich eine Gartenhütte seiner El- verbrannt
leavingthebayarea.com organisieren Um- tern in Brand. Smith ist heute »Experte
zugsdienstleister und Immobilienmakler für gutes Feuer«, wie er das nennt. Für die
die Flucht nach Idaho, Utah oder Colora- Umweltorganisation The Nature Conser- LNU Lightning
do. Mit dem kalifornischen Exodus lässt vancy setzt er Maßnahmen um, die den Complex Paradise
sich Geld verdienen. Wald widerstandsfähiger gegen Großbrän- ca. 1500 km²
Oroville North Complex
Das Silicon Valley, der Tech-Hub bei de machen sollen: indem man ihn aus- ca. 1300 km²
San Francisco, wo zu Giganten gewachse- dünnt, von Totholz und Gestrüpp befreit – Berry Creek
ne Digitalkonzerne wie Google, Facebook und absichtlich abbrennt. »Wir haben das Sacramento
und Apple die Welt zu Datenströmen ge- Feuer in Kalifornien 150 Jahre lang unter- French Meadows
SAN Reservoir
macht und neu sortiert haben, ist bisher drückt«, sagt Smith, »kein Wunder, dass FRANCISCO
erstaunlich gut durch das Horrorjahr 2020 es jetzt brennt wie Zunder.« Stockton

S i
gekommen. Das Leben mit der Pandemie Sein aktuelles Einsatzgebiet ist ein
hat bei digitalen Dienstleistungen die Wald beim Stausee French Meadows Re- NEVADA

e r
C e n t r a l
Silicon
Nachfrage nur verstärkt. Zoom, Google servoir, eine abgelegene, nur über staubige Valley

r a
Classroom und andere Plattformen erwie- Holzfällerstraßen zugängliche Wildnis.
sen sich als essenziell für eine Gesellschaft Hier leitet er ein Projekt, bei dem Teile Creek Fire
im Lockdown-Modus. des Walds bereits weitgehend »gesäubert« ca. 1300 km²

N e v a d a
Doch die sinkende Lebensqualität birgt wurden: Bäume wurden gefällt, Busch-
auch Gefahren für die Tech-Industrie, zu werk gerodet, der Wald wurde befreit von
SCU Lightning

V a l
deren Selbstverständnis es gehört, jedes Pro- einer Überfülle brennbaren Materials.
Complex
blem lösen zu können und den Planeten »zu Was übrig ist, kann im Frühling, wenn küh- ca. 1600 km²
einem besseren Ort« zu machen. Man darf lere Temperaturen und höhere Feuchtig-

l e y
infrage stellen, ob die geballte Innovations- keit ein unkontrolliertes Ausbreiten von
und Finanzkraft Kaliforniens, der fünftgröß- Feuern verhindern, mit gelegten Bränden
ten Volkswirtschaft der Welt, langfristig er- eliminiert werden. »Der Wald braucht das 5 KALIFORNIEN
halten werden kann, wenn hier in jedem Feuer«, sagt Umweltschützer Smith –
Herbst die Apokalypse aufgeführt wird. braucht es, um sich zu regenerieren, um
Insbesondere für Gutverdiener in der Sonnenlicht durchzulassen, um Platz zu Malibu
Tech-Branche sei »ein Wendepunkt er- schaffen für Artenvielfalt. LOS ANGELES
reicht«, glaubt die Silicon-Valley-Investo- Denn vor der europäisch-amerikani-
rin Alison Davis und erwartet, »dass der schen Besiedlung des Westens im 19. Jahr- az
P

ifik
Exodus in den nächsten 24 Monaten deut- hundert brannten hier jährlich im Schnitt
lich an Fahrt aufnimmt«. Die hohen Steu- rund 6000 Quadratkilometer Wald ab.
ern sind ein weiterer Fluchtgrund. Elon Der Himmel über Kalifornien, so vermu-
SAN DIEGO
Musk, Tesla-CEO, drohte im Sommer da- ten Umwelthistoriker, war im Sommer
mit, sein Hauptquartier nach Texas oder und Herbst oft rauchverhangen von vielen, USA
Nevada zu verlegen, als die Behörden pan- aber kleinen Bränden, ausgelöst durch
demiebedingt seine Autofabrik in Fremont Blitzschlag oder durch traditionelle Brand- N MEX
IKO
vorübergehend schlossen. techniken der Ureinwohner. Dann aller- 100 km
Für einen Abgesang ist es zu früh. dings, so Smith, begann die Unterdrü- ARIZONA
Aaron Levie, CEO der Softwarefirma Box, ckung des guten Feuers, das in einer
hofft, dass die Tech-Elite der Westküste modernen Zivilisation nur stört. In der
»vorangehen wird, um technologische Lö- zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 16353
sungen zu finden für diese Probleme«. In brannten in Kalifornien im Schnitt ledig- Verbrannte Fläche
seiner bisherigen Geschichte jedoch hat lich 230 Quadratkilometer Wald pro Jahr. in Kalifornien
das Silicon Valley die Menschheit vor al- Massen von Zündstoff blieben liegen. in Quadratkilometer*
7993
lem mit Onlineshopping und Social-Me- Gleichzeitig fingen die Kalifornier an, 6266
dia-Plattformen beglückt. »Wir wollten ihre Siedlungen immer weiter in Über- 3356 3565
fliegende Autos, stattdessen bekamen wir gangszonen zur Wildnis zu bauen –
140 Zeichen«, lautet ein Bonmot des Tech- Traumlagen in freier Natur zwar, aber
Investors Peter Thiel. Auch Google-Leute eben brandanfällig. Orte wie Berry Creek, 2010 2015 2020
können den Klimawandel nicht einfach wo Jeffrey Bitton lebte und sein Haus ver- * Schätzung
bis 7. Okt.
wegprogrammieren. lor, liegen vollständig im Wald. Die laxe Quelle: Cal Fire, Stand 7. Oktober

91
Josh Edelson / AFP
Überreste von Berry Creek nach Waldbrand im September: Hitze, Dürre, reichlich Zündstoff

Baupolitik Kaliforniens, die das Vordrin- Zahllose Superstars wurden hier geschaf- men, Seerosenteiche, handgemalte Weg-
gen in Risikogebiete zuließ, gilt als wichti- fen, seit langer Zeit hat die Stadt Schau- weiser. »Die Schönheit dieses Landes ist
ger Grund für das Desaster. spieler, Regisseure, Künstler, Musiker an- berauschend«, sagt Funke, als sie sich zum
Schließlich kam der Klimawandel, die gezogen, deren Werke und Gesichter den Gespräch an einen Gartentisch setzt, das
Dürrephasen wurden länger, die Hitze- unablässigen Strom der Populärkultur näh- blondgraue Haar zurückgesteckt, vor sich
monate heißer, sodass sich im Herbst »die ren, der seit Jahrzehnten um die Welt geht. eine Flasche Ingwerbier. Der Lavendel duf-
Häufigkeit der extremen Wetterbedingun- Sie leben hier, weil der Großraum Los An- tet, exotische Vögel kreischen. »Meine wil-
gen für Wildfeuer in den vergangenen geles ein kulturelles Hochdruckgebiet bil- den Papageien«, sagt sie. Es gebe das Ge-
rund 40 Jahren mehr als verdoppelte«, det. Doch der Klimawandel setzt ihm zu. rücht, dass sie von zwei Papageien abstam-
wie der Klimaforscher Daniel Swain von Los Angeles ist auch die Wahlheimat men, die mal Bob Dylan gehörten. Der 79-
der University of California in Los Ange- der wahrscheinlich weltweit bekanntesten jährige Songwriter lebt in der Nähe.
les sagt. deutschen Schriftstellerin der Gegenwart. Das Anwesen ist »gelobtes Land« für
Kann Waldpflege die Westküste in der Cornelia Funke, 61, Fantasy- und Jugend- sie und ihre Gäste – Freunde, Künstler und
Zukunft vor katastrophalen Bränden be- buchautorin, hat 26 Millionen Bücher ver- »Leute, die einfach mal eine Pause brau-
wahren? Die Aufgabe sei »gewaltig«, kauft. Sie ist 2005 wegen einer Preisver- chen«. Einer dieser Gäste, der Komponist
räumt Smith ein. Hunderte oder Tausende leihung hergekommen und geblieben. Javier Navarette, warnte sie: »Diesen gol-
aufwendige Eingriffe, Milliarden Dollar Weil Kalifornien sie betörte, wie so viele denen Glanz wirst du überallhin mitneh-
seien nötig, Tausende Arbeitskräfte. Das Exilanten. Das Licht, die Kreativität, die men, wo du auch hingehst.« Navarette
Pilotprojekt, dem er vorsteht, behandelt Kultur, das Abenteuer. »Wenn du einmal schrieb unter den Avocadobäumen den
gerade mal 100 Quadratkilometer Fläche, in den Ort verliebt bist«, sagt sie, »dann Soundtrack für den Film »Pans Labyrinth«,
und er rechnet mit vollen acht Jahren, bis wird das zur Besessenheit.« den Funke später mit Regisseur Guillermo
allein dieses Stück Wald saniert ist. Selbst Doch auch Funkes Kalifornien wäre bei- del Toro als Buch adaptierte.
wenn es gelingt: »Gegen Megafeuer wäh- nah abgebrannt. 2018 war das, als sich das Nun erhält der goldene Glanz Malibus
rend Extrembedingungen kann man den »Woolsey Fire« über die Berge fraß, bis hässliche Flecken aus Ruß. Viele Probleme
Wald nicht schützen«, sagt Ed Smith. knapp vor ihr Haus in den Hügeln von Ma- lassen sich aussperren mit genügend Geld,
libu. Sie hatte großes Glück. aber Flammen, Rauch und Hitze machen
Raus aus dem Wald, 500 Kilometer süd- Das Grundstück hoch über dem Pacific nicht halt an den hohen Hecken um die
wärts auf der Karte, fast bis ans andere Coast Highway wirkt wie eine ihrer Fan- Villen der Reichen und Einflussreichen.
Ende Kaliforniens: Dort liegt Los Angeles, tasy-Szenerien, ein Paradies im Paradies. Und seit dem Woolsey-Feuer hadert auch
die wahre Weltkulturhauptstadt des vori- Unter knorrigen Avocadobäumen duckt Funke mit dem Californian Dream. In die-
gen und des angebrochenen Jahrhunderts. sich ein Steinhaus, ringsum Kakteen, Blu- sem Herbst packte sie der Fluchtinstinkt.

92
Ausland

»Als das jetzt wieder losging mit der Brand- Bergen und Küsten, gleichzeitig das Rück- als andere Gruppen. Sie machen knapp
saison, habe ich gesagt, Leute, ich glaube, grat und die Rückseite des kalifornischen 40 Prozent der Bevölkerung aus, aber
ich muss jetzt weg. Ich wollte eine Zeit Traums. Touristen kommen hier selten rund 60 Prozent der über 800 000 Infi-
lang weiter nach Norden – aber jetzt vorbei, weil sie den pittoresken Highway 1 zierten des Staates und fast die Hälfte sei-
brennt es dort auch.« entlang der Küste der Interstate 5 vorzie- ner Corona-Todesopfer. Die Arbeiter le-
Immerhin hat sie Möglichkeiten, die die hen, der Hauptschlagader für Kaliforniens ben oft in Mehrgenerationenhaushalten
meisten Bewohner nicht haben. Ihr Para- Landwirtschaft. Es ist das Zielgebiet latein- zusammen, sie werden zusammenge-
dies will sie schützen, indem sie etwa Was- amerikanischer Einwanderer, Hunderttau- pfercht in Bussen auf die Felder gefahren,
sertanks bauen und einen neuen Teich an- sende von ihnen sorgen mit ihrer billigen Social Distancing ist hier eine Illusion.
legen lässt sowie ein Sprinklersystem ge- Arbeitskraft dafür, dass Kalifornien das
gen Funkenflug. »Die Feuer«, weiß Funke, Land mit Früchten und Gemüse versorgen »Wir können so nicht weitermachen«,
»werden jedes Jahr kommen.« kann. Die Packer des Central Valley arbei- ist das Fazit von Farhad Manjoo. Der
ten weiter, egal ob die Sonne mit Rekord- »New York Times«-Kolumnist, eine der
Zurück in der Stadt, auf dem Hollywood hitze brennt, ob das Virus sie verfolgt, ob prominentesten öffentlichen Stimmen Ka-
Boulevard, einer schäbigen Meile, die nur die Flammen näher rücken oder der Rauch liforniens, hofft, dass die Vielzahl von
einmal im Jahr für die Oscarverleihung auf- beim Atmen stört. Krisen seine Heimat nun endlich zum
poliert wird, schlurfen ein paar Touristen So wie Yasmin Acevedo, die seit vielen Umdenken zwingt. Dafür aber, so sagt er,
an den Obdachlosen vorbei. Neulich trieb Jahren in diesen Feldern kniet. Sie ist 39, müsse der kalifornische Urmythos begra-
der Wind dichte Luftschwaden mit krebs- kam vor 20 Jahren aus Mexiko über die ben werden. »Die grundlegende Idee Ka-
erregenden Schadstoffen in den Talkessel, Grenze und hat mit 15 das letzte Mal die liforniens ist die Unbegrenztheit«, glaubt
in dem Los Angeles liegt. »Die Leute zie- Schule besucht, Englisch spricht sie kaum. Manjoo und meint damit das unbegrenzt
hen nach Los Angeles, weil es eine leere Hier, in Stockton im Hinterland von San verfügbare Land, unbegrenzten Treibstoff
Leinwand ist, auf die sie ihre Träume proji- Francisco, hat sie drei Kinder großgezogen für die Autos, den endlosen Vorrat an Was-
zieren können«, sagt der Hollywoodregis- und ansonsten geerntet, was man ihr zu ser, endlosen Optimismus. »Und endlose
seur Jack Bender. »Hier können sie alles ernten befahl. Auch als im Sommer das Parkplätze.« All das zeigt sich in den Vor-
haben: Berge, Strände, Wüste. Und jeden Coronavirus über die USA kam, konnte orten, wo sich die schmucken, aber unfass-
Tag scheint die Sonne.« Bender, ein quir- Acevedo nicht zu Hause bleiben, auf den bar platzraubenden Einfamilienhaussied-
liger Mann mit grauem Strubbelkopf und Feldern gab es keinen Lockdown, und sie lungen bis zum Horizont strecken, durch
schwarzer Hornbrille, sitzt in seinem Ate- hat kein Homeoffice. »Ich muss meine Fa- Autobahnnetze verbunden, bis in die Wäl-
lier in Westwood am Rande von Los Ange- milie ernähren«, sagt sie. der hinein.
les. Bis unter die Decke stapeln sich Gemäl- Östlich und westlich brannten die Wäl- »Kalifornien muss verdichtet werden, in
de: Porträts, Stillleben, ein Elefant. Seine der gleichzeitig, es regnete Asche auf die jeder Hinsicht«, sagt Manjoo. Die Men-
Frau hat ihm diese Gartenlaube bauen las- Felder, während sie mit einer Schutzmaske schen müssten enger beieinander wohnen,
sen, nachdem seine langjährige Kultserie im Gesicht und bei 35 Grad Hitze Pfirsiche müssten sich aus der Wildnis zurückziehen
»Lost« 2010 zu Ende gegangen war und pflückte. Auf einigen Feldern wird Stunden- und ihre Städte aufstocken. Sie müssten
Bender sich selbst etwas verloren fühlte. lohn gezahlt, auf anderen verdient man nur die Energieeffizienz ihrer Transportmittel
»Lost«, dessen Protagonisten mit über- so viel, wie man einsammelt. »Für eine und ihrer Behausungen massiv erhöhen.
natürlichen Mächten kämpfen, bleibt bis 20 Kilo schwere Kiste kriege ich 2 Dollar, »Wenn wir langfristig weiter hier leben
heute ein globales Phänomen. Mit 70 ist 30 Dollar am Tag kommen so im Schnitt wollen, müssen wir begreifen, dass die Un-
Bender einer der meistbeschäftigten Fern- zusammen«, sagt sie. Pausen sind selten. begrenztheit aller Ressourcen ein Trugbild
sehregisseure Hollywoods. Doch seit März Latinos in Kalifornien erkranken und war«, sagt Manjoo.
hat er nicht mehr gedreht. »Das ist die sterben weitaus häufiger am Coronavirus Wahrscheinlicher ist, dass Kalifornien
längste Zeit meines Lebens, die ich nicht sich anpassen wird an die neue Abnorma-
am Set war«, sagt er im Videochat. lität, sich an sie gewöhnen wird, sobald der
Hollywood muss sich umorientieren und Rauch verzogen ist. Manche werden flie-
tut das auch. Schon länger locken Steuer- hen, andere werden kommen. Die Bewoh-
vorteile viele Produktionen nach New ner dieses ungezähmten Landes, die ihre
York City und Georgia, aber auch nach To- Städte an der Nahtstelle zweier tektoni-
ronto und Vancouver in Kanada, das längst scher Platte bauten, haben schon immer
den Spitznamen »Hollywood North« trägt. mit Katastrophen gelebt. Und auch das
2019, noch vor Corona, waren mehr als nächste große Erdbeben, »The Big One«
die Hälfte der Filmproduktionen in Kana- genannt, kann die Menschen hier theore-
da Hollywoodprojekte – so viele wie nie. tisch schon nächstes Jahr treffen, oder in
Corona und das Klima könnten diesen zehn Jahren oder in hundert. Das Wissen
Trend bestärken, sagt Jack Bender. um den möglichen Untergang ist vielleicht
Die ersten Filme unter Corona-Bedin- der Grund für ihre Risikobereitschaft.
gungen entstehen nun gerade wieder – in Jeffrey Bitton hat mit Hund Rambo seit
Winni Wintermeyer / DER SPIEGEL

Kanada und Europa. Bender plant einen dem Feuer wochenlang in seinem Auto
Dreh in North Carolina. Nur wenn Trump übernachtet. In seiner verbrannten Hei-
die Wahl gewinnen sollte und seine Mili- mat Berry Creek sind die Aufräumarbei-
zen mit Waffen anrückten, würde er ab- ten im Gang, Bulldozer räumen die Reste
hauen, sagt Bender. Doch wohin? Er blickt aus dem Weg. Wie geht es weiter für ihn?
ratlos. Er hat keinen Notfallplan. Bitton hat sich schon entschieden: »Sobald
es geht, baue ich mein Haus wieder auf.«
Beinahe über ganz Kalifornien erstreckt Umweltschützer Smith Guido Mingels, Marc Pitzke,
sich das Agrargebiet des Central Valley, Verliebt ins Feuer Daniel C. Schmidt
ein 700 Kilometer langes Band zwischen

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 93


Ausland

»Kanada sollte unser Vorbild sein«


Migration Der Politikberater Gerald Knaus, einer der Erfinder des EU-Türkei-Deals, will irreguläre
Einwanderung verringern, indem Europa mehr Schutzbedürftige direkt aufnimmt.

Für Gerald Knaus ist Migration eine per- haben an der Grenze zur Türkei wohl auf SPIEGEL: Bisher scheitern die EU-Mit-
sönliche Angelegenheit. Seine Großmutter, Flüchtlinge geschossen. Ist die Mehrheit gliedstaaten daran, abgelehnte Asylbewer-
eine Kosakin vom Schwarzen Meer, wurde der Europäer inzwischen bereit, die Gren- ber rasch abzuschieben.
nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin von zen mit allen Mitteln gegen Migranten zu Knaus: Über kaum ein Thema wird so rea-
Rotarmisten getötet. Seine Mutter versteck- verteidigen? litätsfern diskutiert wie über Abschiebun-
te sich als Staatenlose in Österreich. Knaus Knaus: Rechtspopulisten wie Viktor Orbán gen. Keinem EU-Land gelingen viele Ab-
wuchs in Wien auf, später lebte er in der oder Matteo Salvini haben den Menschen schiebungen in Länder außerhalb Europas.
Ukraine, in Bulgarien und der Türkei. erfolgreich eingeredet, dass Migrations- In die Balkanländer, in die Ukraine aber
2016 wurde er bekannt, als er mit seinem kontrolle nur mit Gewalt möglich sei. Aber gelingen sie. Diesen Staaten hat die EU in
Thinktank »Europäische Stabilitätsinitia- das stimmt nicht. den vergangenen Jahren visafreies Reisen
tive« den Flüchtlingsdeal zwischen der EU SPIEGEL: Was ist die Alternative? Offene angeboten. Die EU sollte Tunesien und
und der Türkei entwarf und die türkische, Grenzen? Marokko das Gleiche anbieten: einen Visa-
die niederländische und die deutsche Regie- Knaus: Keine Demokratie der Welt hat of- liberalisierungsplan, im Gegenzug für
rung von der Idee überzeugte. Für das Ab- fene Grenzen für jeden. »No borders« ist Rücknahme und den Aufbau funktionie-
kommen wurde er von Linken wie Rechten nur ein Slogan. »No inhumane borders«, render Asylsysteme.
kritisiert, der 50-Jährige sieht sich selbst als also keine unmenschlichen Grenzen, sind SPIEGEL: Wer garantiert, dass zum Beispiel
Pragmatiker. »Welche Grenzen brauchen dagegen ein realistisches Ziel. Grenzen, an Marokkaner nicht einfach in Europa blei-
wir?«, fragt Knaus nun in seinem neuen denen niemand ums Leben kommt, die ben?
Buch*. Darin entwirft er eine neue euro- durchlässig sind. Knaus: Die meisten Regierungen nehmen
päische Flüchtlingspolitik. SPIEGEL: Was heißt das konkret im Mit- abgelehnte Asylbewerber nicht zurück,
telmeer? weil es unpopulär ist. Doch visafreies Rei-
SPIEGEL: Herr Knaus, seit Jahren debat- Knaus: Dort brauchen wir schnelle und sen wäre bei den Marokkanern so beliebt,
tiert die EU über Flüchtlingspolitik und faire Asylverfahren. Wer irregulär, ohne dass die marokkanische Regierung einen
wird sich nicht einig. Was hindert sie daran, Anrecht auf Schutz kommt, sollte rasch echten Anreiz hätte, bei Abschiebungen
eine Lösung zu finden? in das Herkunftsland oder in ein sicheres zu kooperieren. Mit der Ukraine gibt es
Knaus: Wir sprechen viel über Migrations- Transitland abgeschoben werden. Gleich- seit der Visaliberalisierung 2017 aus diesem
druck, obwohl heute regulär und irregulär zeitig sollten Demokratien wie Deutsch- Grund keine Probleme mehr. Bis Anfang
nicht mehr Menschen aus Afrika nach land mehr Flüchtlinge durch Neuansied- der Neunzigerjahre konnten Marokkaner
Europa kommen als vor zwei Jahrzehn- lungen direkt nach Europa bringen – be- und Tunesier außerdem schon einmal ohne
ten. Wir reden über Migrationswellen, vor sie sich in die lebensgefährlichen Boo- Visum in Teile der EU reisen. Ein solches
Fluten, Ströme. Das sind Mythen: irregu- te der Schlepper setzen. Ich bin davon Abkommen ist nicht illusorisch.
läre Migration als Naturgewalt, Flüchtlin- überzeugt, dass die meisten Europäer ein SPIEGEL: Der Flüchtlingsdeal zwischen
ge als mächtige Heerschar. Diese apoka- System der humanen Kontrolle unterstüt- der EU und der Türkei, den Sie entschei-
lyptischen Bilder entsprechen nicht der zen würde, wenn dadurch weniger Men- dend mitentwickelt haben, sah Ähnliches
Realität. schen sterben müssten. vor. Und er ist gescheitert.
SPIEGEL: Welcher Mythos stört Sie be- Knaus: In Griechenland, ja. Gleichzeitig
sonders? ist die Zahl der Menschen, die in der Ägäis
Knaus: Dass Grenzschützer vermeintlich ertrinken, dramatisch zurückgegangen,
irreguläre Migration reduzieren. ebenso die Zahl jener, die mit Schmugglern
SPIEGEL: Ist das denn nicht so? über das Meer kamen. Zudem hat die EU-
Knaus: Polizisten, die sich an EU-Recht Hilfe die Situation für mehr als drei Millio-
halten, verhindern keine Migration. Das nen Syrer in der Türkei verbessert. Als die
schaffen nur gewalttätige Grenzer wie ehe- Türkei Ende Februar versuchte, Flüchtlinge
mals an der Berliner Mauer. EU-Recht ver- an die griechische Grenze zu schicken, wa-
bietet das Zurückstoßen von Asylbewer- ren darunter nur wenige Syrer.
bern. Die eigentliche Frage ist nicht: Kön- SPIEGEL: Auf den griechischen Inseln hau-
nen wir Grenzen schützen? Die Frage ist: sen dafür Zehntausende Flüchtlinge unter
Was sind wir bereit zu tun, um Flüchtlinge erbärmlichen Bedingungen. Im September
aufzuhalten? Damit ist es eine Debatte brannte das Camp Moria auf Lesbos nie-
über uns, nicht über Naturkräfte im Rest der. Wie konnte es so weit kommen?
Gene Glover / DER SPIEGEL

der Welt. Knaus: Dort wurde die Umsetzung des


SPIEGEL: In den vergangenen Jahren ist EU-Türkei-Abkommens von Beginn an
der Flüchtlingsschutz fast überall in Euro- nicht ernst genommen. Es genügt nicht,
pa erodiert. Italien lässt Seenotretter nicht von schnellen Asylverfahren zu reden,
in die Häfen. Griechische Sicherheitskräfte man muss auch die Bedingungen dafür
schaffen. Die Türkei war bereit, jeden von
* Gerald Knaus: »Welche Grenzen brauchen wir?« Politikwissenschaftler Knaus den griechischen Inseln zurückzunehmen,
Piper; 336 Seiten; 18 Euro. »Keine Demokratie hat offene Grenzen für jeden« der keinen Schutz in der EU braucht. Grie-

94
Louisa Gouliamaki / AFP
Flüchtlinge in Griechenland: »Was sind wir bereit zu tun, um Migranten aufzuhalten?«

chenland hätte schnell entscheiden müs- Flüchtlinge vom Festland umverteilen, so Flüchtlingshilfswerk sind weltweit knapp
sen, wer aufs eigene Festland kommt und wie es 2016 und 2017 bereits geschah. 80 Millionen Menschen auf der Flucht.
wen man in die Türkei zurückschickt. Da- SPIEGEL: Die EU-Kommission hat sich Knaus: Diese Zahl führt in die Irre. Die
für fehlte aber der politische Wille. Das im September weitgehend von dem Ziel allermeisten der 80 Millionen haben ihr
hat dazu geführt, dass nicht schnelle Rück- verabschiedet, Flüchtlinge auf EU-Staaten Land nie verlassen, die größte Gruppe da-
führungen, sondern schlechte Zustände zu verteilen. Ist die Idee einer gemeinsa- runter sind Kolumbianer. Auch Palästi-
auf den Inseln dafür sorgen sollten, dass men europäischen Asylpolitik damit er- nenser werden mitgezählt, die längst die
weniger Menschen kommen. Seit März ledigt? jordanische Staatsbürgerschaft besitzen.
dieses Jahres ist klar, dass niemand zurück- Knaus: Manche Regierungen in der EU Wenn man jene Schutzbedürftigen zählt,
geschickt wird, weil die Türkei das Abkom- wollen die Grenzen seit Jahren mit Ge- die in den vergangenen zehn Jahren auf
men ausgesetzt hat. Und trotzdem werden walt dichtmachen. Wenn Deutschland das der Flucht in arme Nachbarländer Gren-
Leute auf den Inseln festgehalten. Das ist nicht mittragen möchte, muss die Regie- zen überschritten haben und in Not sind,
auch der Kern des Problems mit dem jet- rung eine Koalition aus Staaten schmie- kommt man auf rund 15 Millionen.
zigen Migrationspakt: Ohne realistische den, die anders handelt. In Évian kam die SPIEGEL: Die Flüchtlingskrise ist lösbar?
Alternative zur Abschreckung drohen wei- Staatengemeinschaft 1938 zusammen, um Knaus: Ja. Die Europäer sollten sich Ka-
tere Morias im Mittelmeer. 500 000 Juden aus dem Dritten Reich zu nada zum Vorbild nehmen. Die Kanadier
SPIEGEL: Was wäre die Lösung? retten. Die Amerikaner betonten schon in nehmen jedes Jahr 30 000 Flüchtlinge
Knaus: Die EU sollte weiter Geld für die der Eröffnungsrede, nicht mehr Flüchtlin- durch Resettlement auf. Davon kommen
Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei, ge als bislang aufnehmen zu wollen. Die 20 000 durch Patenschaften von Bürgern
aber auch im Libanon bereitstellen. Dazu Konferenz endete im Desaster. 1979 in für einzelne Flüchtlinge ins Land – das
sollten Staaten von dort wieder mehr Genf lief es angesichts schrecklicher Zu- sind 0,05 Prozent der kanadischen Bevöl-
Flüchtlinge direkt aufnehmen. Wenn nur stände im Südchinesischen Meer anders. kerung. Auf Deutschland umgerechnet,
wenige Tausend Menschen im Monat kom- Die USA versprachen, Hunderttausende ergäbe das 60 000 Neuansiedlungen, da-
men, muss es möglich sein, auch auf den In- Menschen aus Lagern in Südostasien auf- von 40 000 durch Patenschaften. So
seln binnen Wochen ein faires Asylverfah- zunehmen, Kanadier und Deutsche schlos- könnte man die Hilfsbereitschaft von
ren zu gewähren. Zum Beispiel durch eine sen sich an. Mehr als zwei Millionen Städten und Bürgern mit der Kontrolle
Kooperation mit Asylbehörden wie dem Flüchtlinge wurden umgesiedelt. Die heu- durch den Staat versöhnen. Die Flücht-
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. tige Diskussion in der EU erinnert an Évi- linge wüssten sofort, dass sie im Land
Wer keinen Schutz benötigt, wird zurück- an. Wir sollten uns an Genf erinnern. bleiben dürfen. Dadurch würde auch die
geschickt. Andere EU-Staaten sollten Grie- SPIEGEL: Es geht aber nicht um einige Integration viel besser klappen. Finanzie-
chenland helfen, indem sie anerkannte Hunderttausend Flüchtlinge. Laut Uno- ren könnte man das Projekt aus einem

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 95


Ausland

EU-Fonds, in den alle 27 Staaten ein-


zahlen.
SPIEGEL: Wie soll dieses Modell der Pa-
tenschaften funktionieren?
Der eingeladene Tod
Knaus: In Kanada läuft es so: Einzelne
Personen, Kirchen oder Verbände tun sich Schweden Warum das Corona-Desaster in den Pflegeheimen eine
zusammen, stellen das Geld für die Über- Vorschau auf die deutsche Zukunft sein könnte. Von Dietmar Pieper
führung und die erste Zeit im Land bereit
und legen einen Integrationsplan vor. Der
Staat legt eine jährliche Obergrenze für
Patenschaften fest. Und er prüft im Ein-
zelfall, ob ein Asylbewerber Schutz ver-
dient oder eine Gefahr darstellt – je nach
W enige Staaten geben sich so viel
Mühe wie Schweden, ihre Bürger
jederzeit und überall vor Gefah-
ren zu schützen. Bald soll es dort keine
dort abspielt, ist nicht schön. Berichte von
Angehörigen und Recherchen zeigen, dass
zahlreiche schwedische Covid-19-Opfer
noch leben könnten.
Ergebnis bringt er den Flüchtling ins Land tödlichen Verkehrsunfälle mehr geben »Man hat nicht versucht, ihr Leben zu
oder eben nicht. (»Vision Zero«). Alkohol darf nur in den retten«, sagt Anders Vahlne, emeritierter
SPIEGEL: Wer könnte ein solches Modell staatlichen Systembolaget-Läden verkauft Professor für Virologie am Karolinska-
international ins Gespräch bringen? werden, mit Ausnahme von Leichtbier. Institut bei Stockholm. Eine leitende Kran-
Knaus: Idealerweise bereiten Kanzlerin Als die Corona-Pandemie das Land er- kenschwester warnte in einem Bericht an
Angela Merkel und der kanadische Pre- reichte, fühlten sich die meisten Bewohner die Sozialbehörde zu Beginn der Pande-
mier Justin Trudeau einen solchen Vorstoß wie üblich gut aufgehoben. Sie hielten den mie, es könne zu Fällen »aktiver Sterbe-
vor. Und die USA könnten dieser Initia- schwedischen Sonderweg, ohne Lock- hilfe« kommen.
tive für Resettlement ab Januar unter ei- down durch die Krise zu manövrieren, für Nur mit Mühe gelang es dem Stockhol-
nem Präsidenten Joe Biden beitreten, so- sicher und vernünftig. Staatsepidemiologe mer Arzt Bengt Hildebrand, seinen 78-jäh-
fern er die Wahl gewinnt. Biden hat jetzt Anders Tegnell und die Regierung beton- rigen Vater zu retten, der sich im Pflege-
schon zugesagt, 120 000 Flüchtlinge pro ten, dass die Risikogruppen, vor allem die heim mit Covid-19 angesteckt hatte: »Sie
Jahr aufnehmen zu wollen. Ich habe mit Alten, umfassend geschützt würden. haben ihm Morphium verschrieben. Er
seinen Mitarbeitern und den Kanadiern Dann aber drang das Virus in die Alten- wäre still gestorben.« Sein Vater kam dann
bereits darüber gesprochen, sie sind n und Pflegeheime ein und verbreitete sich doch ins Krankenhaus, er überlebte.
icht abgeneigt. Wenn sich andere Länder in einigen Einrichtungen nahezu unkon- Die 78-jährige Rita Hemsén aus Gävle
anschließen würden, könnten so jedes trolliert. Die Corona-Todesrate liegt vor erhielt im Wohnheim Morphium und
Jahr 300 000 besonders schutzbedürftige allem deshalb in Schweden rund zehnmal starb, weil angeblich kein Krankenhaus-
Flüchtlinge ausgeflogen werden. höher als in den Nachbarländern Finnland bett frei war. Nach Recherchen eines TV-
SPIEGEL: Ist das nicht völlig unrealistisch? und Norwegen. Für ihn, sagte Tegnell in Senders war diese Auskunft gegenüber
Knaus: Nein. Wir hatten Resettlement in einem Interview, seien die vielen Toten den Angehörigen falsch, es habe mehrere
solchen Dimensionen bereits in den Acht- »wirklich eine Überraschung« gewesen. freie Betten in Gävle gegeben.
zigerjahren. Deutschland, Kanada und die Bei genauem Hinsehen ist allerdings vor Der 72-jährige Moses Ntanda starb in
USA könnten anlässlich des 70-jährigen allem die Überraschung erstaunlich. Der einem Pflegeheim nahe Stockholm an Co-
Bestehens der Flüchtlingskonvention kon- Umgang mit den Alten ist ein eigenes, zu vid-19. »Der Arzt sagte, sie würden den
krete Ideen präsentieren. Deutschland wenig beleuchtetes Kapitel der fortdauern- Richtlinien für die Behandlung älterer Pa-
hat mit dem Bamf die größte Asylbehörde den Coronakrise. Außerhalb des Famili- tienten folgen«, berichtet seine Nichte, »er
der Welt geschaffen. Dort hat man gelernt, enkreises wird nur selten darüber gespro- sei kein Fall fürs Krankenhaus.«
schnelle und faire Verfahren durchzu- chen, welche Fehler Ärzte, Pfleger und Dass es sich nicht um Einzelschicksale
führen. Diese Erfahrung sollte das Bamf andere Verantwortliche gemacht haben, handelte, legen auch offizielle Angaben
exportieren, wenn wir wollen, dass die wo medizinische Ressourcen fehlten und nahe. Selbst auf dem Höhepunkt der Pan-
Flüchtlingskonvention in 30 Jahren noch welchen Härten die Kranken und ihre An- demie habe es genügend freie Intensivbet-
eine Rolle spielt. gehörigen ausgesetzt waren. Doch ihre Ge- ten in den Kliniken des Landes gegeben,
SPIEGEL: Manchmal wirken Sie wie Sisy- schichten verraten viel über den inneren sagte die schwedische Sozialministerin
phos – seit Jahren streiten Sie für eine libe- Zustand und die Werte einer Gesellschaft. Lena Hallengren. Sie verkündete dies als
rale Asylpolitik, meist vergebens. Beim Blick nach Schweden schauen die
Knaus: Ich bin in Österreich aufgewach- Deutschen auf ein anderes Land, aber im-
sen, am Eisernen Vorhang. Damals gab es mer auch ein bisschen auf sich selbst. Ikea, Tödliche Pflege
noch Grenzkontrollen zu Deutschland, Abba, Pippi Langstrumpf – was von den Über 70-Jährige, die in Schweden an den Folgen
heute sind alle Grenzen um Österreich un- Skandinaviern zu uns kommt, scheint von Covid-19 gestorben sind
sichtbar. In Berlin ist 1989 von einem Tag leicht heimisch werden zu können.
auf den anderen eine tödliche Grenze ver- Auf Kundgebungen gegen die Corona- 51 %
schwunden. Und am wichtigsten: Wir ha- Restriktionen hat sich in Deutschland die
ben 2015 gelernt, dass Deutschland rund blau-gelbe Schwedenfahne hinzugesellt,
eine Million Menschen aufnehmen kann. als eine Art Symbol der Freiheit. Die Fah-
Fünf Jahre später ist die verantwortliche nenschwenker sind sich sicher, dass in 28 %
Regierungschefin die beliebteste in Euro- Stockholm klügere Entscheidungen getrof- 21 %
pa. Ich mag Camus’ Beschreibung vom fen wurden als in Berlin.
glücklichen Sisyphos, aber sie ist auch In Schweden sind die Opfer des Virus,
weltfremd. Wer nie Erfolge erzielt, verliert wie anderswo auch, vor allem die Alten. insgesamt
2658 Tote 1486 1096
irgendwann die Motivation. Für humane Tegnell spricht immer wieder von den »äl-
Grenzen zu kämpfen ist nicht vergebens. teren Alten«. Was genau meint er damit? in Alten- und in häuslicher ohne erfasste
Interview: Steffen Lüdke, Maximilian Popp Die naheliegende Antwort führt in eine Pflegeheimen Pflege Pflege
dunkle Zone der Gesellschaft. Was sich Quelle: Behörde für Soziales und Gesundheit, Stand 5. Oktober

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Kultur, in der die Jugend verherrlicht wird
und das Altwerden als eine Verschlechte-
rung mit wachsender Demenz gilt.«
Laut dem World Values Survey, einer
internationalen sozialwissenschaftlichen
Befragung, zählt Schweden zu den Län-
dern, in denen ältere Menschen eher ge-
ringgeschätzt werden. Danach betrachten
kaum mehr als 20 Prozent im Land die
über Siebzigjährigen mit Respekt, weniger
als in den meisten anderen untersuchten
Nationen. Zu diesem Befund passt die in
Schweden bekannte Geschichte über die
Klippen, an denen sich ein blutiges Ritual
abgespielt haben soll.
Für nutzlos befundene Alte stürzten
sich danach zur Wikingerzeit von hoch

David Lidstrom / Getty Images


aufragenden Felsen hinunter, oder sie wur-
den gestoßen. Auch wenn es inzwischen
als unwahrscheinlich gilt, dass die Ättestu-
Senioren im schwedischen Östersund pa-Legende auf einem historischen Kern
beruht, wird sie gern erzählt.
Geschichten über den Senizid, die ge-
sellschaftlich veranlasste Altentötung, ge-
hören auch anderswo zum kulturellen
»Wir leben in einer Peter-Pan-Kultur, in der Erbe, etwa in Russland oder Japan. Ihr
die Jugend verherrlicht wird.« Wahrheitsgehalt wird heute zwar überwie-
gend von Forschern in Zweifel gezogen,
galt jedoch lange als hoch. Ethnologen la-
sen die Legenden als volkstümliche Ge-
Erfolgsmeldung, als Beweis für kluges Ge- Krankenhausärzte berichten, sie hätten schichtsschreibung: In verschiedenen Welt-
sundheitsmanagement. manche der eingelieferten Covid-Patien- gegenden sei es früher üblich gewesen, die
Völlig abwegig ist ihre Sichtweise nicht. ten nicht angemessen behandeln dürfen. Gemeinschaft durch sozial akzeptierten
»Flatten the curve« war im Frühjahr das Einer sagte der Zeitung »Dagens Nyhe- Mord von einer Last zu befreien.
globale Mantra der Virus-Bekämpfung. ter«: »Wir wurden gezwungen, Menschen Das Grausigste daran dürfte sein: In den
Um jeden Preis wollten Politiker und Ärz- vor unseren Augen sterben zu lassen, ob- Vorstellungen vom Senizid schlummert
te verhindern, dass bei steil ansteigenden wohl wir wussten, dass sie bei Intensivbe- das Potenzial, wie eine menschliche Kon-
Infektionszahlen die Krankenhäuser über- handlung eine gute Überlebenschance hat- stante zu erscheinen, die Länder und Zei-
lastet würden. Wer stets freie Intensivbet- ten.« Ein anderer Arzt bestätigte: »Dies ten miteinander verbindet. Der Senizid ist
ten vorweisen konnte, hatte wenigstens passierte mehrmals täglich.« Die Verant- auf archaische Weise brutal – und gleich-
diesen Kampf gewonnen. wortlichen wiesen die Vorwürfe zurück. zeitig technokratisch rational.
Gleichzeitig gehörte es zur Vorsorge im Eine Untersuchung wurde eingeleitet, die Auch in Deutschland gibt es nun Dis-
Corona-Ausnahmezustand, für die mögli- Ergebnisse stehen noch aus. kussionen darüber, dass man sich – wie in
che Überlastung des Systems einen Plan Schon jetzt zeichnet sich ab: Der Tod Schweden – darauf konzentrieren sollte,
zu fassen. Wer wird zuerst behandelt, wer wurde in Schweden geradezu eingeladen. die Freiheit der Jüngeren zu bewahren und
danach, wer gar nicht mehr? Aus der Mili- Es begann mit den gravierenden Mängeln die Älteren nach Möglichkeit zu schützen.
tärmedizin hat sich dafür der Begriff Tria- in den Alten- und Pflegeheimen. Dann fiel Auch da schwingt mit: Wenn es nicht ge-
ge eingebürgert. In den schwedischen dort oft die Entscheidung, palliative Ster- lingt, sollen sie eben sterben.
Richtlinien für die »Priorisierung« sind bebegleitung zu verordnen, statt Kranke Die Frage, wie lange Alte leben dürfen
mehrere Gruppen definiert, die keine In- in die Klinik zu schicken. Und selbst im und wann sie besser sterben sollen, steht
tensivbehandlung erhalten sollen, falls das Krankenhaus mussten Ärzte offenbar aus- aber nicht nur während der Corona-Pan-
Gesundheitssystem seine Belastungsgren- sichtsreiche Behandlungen verweigern. demie im Raum. Sie wird sich in Zukunft
ze erreicht. Ein Kriterium ist das geschätz- Womöglich ist Schweden Ländern wie noch vermehrt stellen. Die gesundheits-
te »biologische Alter«, ein zweites sind Deutschland nur einige Schritte voraus. ökonomischen Modelle, mit denen die Ka-
Vorerkrankungen. Die Lebenserwartung hat dort bereits 85 pazitäten des Gesundheitswesens berech-
Wer nach Ansicht der Ärzte biologisch Jahre für Frauen und 81 Jahre für Männer net werden, handeln letztlich von nichts
zwischen 60 und 70 Jahre alt ist und zwei erreicht (in Deutschland sind es 83,6 und anderem: Wem werden medizinische Res-
Organschwächen aufweist, etwa an Herz 78,9 Jahre). 60 Prozent der Schweden, die sourcen zugeteilt? Und wem nicht?
und Nieren – keine Priorität. Wer biolo- zwischen 65 und 84 Jahre alt sind, fühlen Um davon nicht überrascht zu werden,
gisch zwischen 70 und 80 ist sowie ein Or- sich bei guter Gesundheit, 2002 lag dieser lohnt sich ein Blick auf den schwedischen
ganleiden hat – keine Priorität. Wer zwar Anteil erst bei 53 Prozent. Umgang mit den Alten im Corona-Jahr
keine gravierenden Leiden hat, aber bio- Es gäbe viele Gründe, sich darüber zu 2020. Die meisten dürften darin ein ab-
logisch über 80 ist – keine Priorität. freuen. Doch das alte Bild von den siechen schreckendes Beispiel sehen, eine Verir-
Da die schwedischen Kliniken nie über- Alten dominiert in der Öffentlichkeit. Der rung. Wer die nordische Kälte dieser Tage
lastet waren, hätte diese Anweisung in der Stockholmer Autor Marcus Priftis, der ein hingegen für zukunftsweisend hält, sollte
Schublade bleiben können. Doch so war Buch über »Supersenioren« geschrieben sich fragen, warum.
es anscheinend nicht. hat, sagt: »Wir leben in einer Peter-Pan-

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 97


Ausland

Die Welt hat einen neuen Krieg


Analyse Im Konflikt um Bergkarabach sieht sich Armenien
nicht nur von Aserbaidschan angegriffen, sondern auch von der Türkei.

V
on Eriwan, der Hauptstadt Armeniens, sieht man an Und so sieht sich das kleine Armenien mit seinen drei Mil-
klaren Tagen den schneebedeckten Gipfel des Ararat. lionen Einwohnern derzeit von einer doppelten Übermacht
Der Berg liegt in der Türkei, aber er gilt den Arme- angegriffen: vom dreimal so großen, ölreichen Aserbaidschan
niern als Wahrzeichen ihres Landes. Er erinnert sie im Osten und von der Mittelmacht Türkei im Westen. »Die
an ihre verlorene Heimat jenseits der Grenze und an den Völ- Armenier«, sagt Premier Paschinjan im Interview, »sind im
kermord, dem die Armenier dort ab 1915 ausgesetzt waren. Südkaukasus das einzige Hindernis für eine expansionistische,
In diesen Tagen, da Armenien sich im Krieg mit seinen imperiale Politik der Türkei.« Es geht ihm zufolge also gar
Nachbarn Aserbaidschan und der Türkei sieht, ist die Erin- nicht um Bergkarabach, sondern um eine Art Anschluss Aser-
nerung an den Genozid lebendiger denn je. Wenn man den baidschans an die Türkei, bei dem das dazwischenliegende
armenischen Premierminister Nikol Paschinjan reden hört, Armenien nur störe.
dann ist das Jahr 2020 nämlich so etwas wie die Fortsetzung Die armenische Notlage erklärt die schrillen Töne Paschin-
des Jahres 1915. Was das Osmanische Reich 1915 begonnen jans, aber sie rechtfertigt sie nicht. Der Premier ist ein Popu-
habe, die Ausrottung der Armenier, das wolle die Türkei ein list, der mit scharfen Äußerungen zur jetzigen Eskalation bei-
Jahrhundert später fortsetzen, so erzählte es der Premier getragen hat. Ohne Not, aus innenpolitischen Erwägungen,
diese Woche dem SPIEGEL in hat er 2019 auf einer öffentlichen
seinem Regierungssitz in Eriwan. Kundgebung in Bergkarabach
Die Existenz seines Volkes stehe verkündet, »Arzach ist Arme-
auf dem Spiel. nien. Punkt.« Das war eine laut-
Das sind schrille Töne. Tat- starke Absage an alle Friedens-
sache ist, dass ein drei Jahr- verhandlungen. Sie entsprach
zehnte alter Konflikt zwischen der Stimmung im eigenen Land:
Armenien und Aserbaidschan in Die Bereitschaft, für einen Deal
diesen Wochen neu entbrannt mit Baku Teile der besetzten
ist. Es geht um Bergkarabach, Gebiete abzutreten, ist dort über
eine mehrheitlich armenisch die Jahrzehnte geschwunden.
Pablo Gonzalez / imago images
bewohnte Region, die sich von Aber sie widersprach jeder
Aserbaidschan abgespalten hat. staatsmännischen Vorsicht.
Die nicht anerkannte »Republik In den Ohren der Aserbaid-
Arzach« gehört völkerrechtlich schaner klingt die Unterstellung,
zu Aserbaidschan, kontrolliert ein neuer Völkermord sei ge-
und beschützt wird das Gebiet plant, völlig absurd. Schließlich
von Armenien. Unter den vielen sind viele Gebiete, um die der-
»eingefrorenen Konflikten«, die Zerstörte Wohnhäuser in Stepanakert, Bergkarabach zeit besonders heftig gekämpft
mit dem Ende der Sowjetunion wird, menschenleer, seit armeni-
entstanden sind, stehen sich in diesem die Gegner am un- sche Truppen die aserbaidschanische Bevölkerung von dort
versöhnlichsten gegenüber. vertrieben haben. Sie schufen damals eine »Sicherheitszone«
Aber aus dem uralten Streit ist unversehens ein neuer um das umstrittene Gebiet Bergkarabach herum.
Krieg geworden. Und das liegt auch am türkischen Präsiden- Aber gerade weil der Streit so komplex ist, gilt es, einfache
ten Recep Tayyip Erdoğan. Tatsachen festzuhalten: Was jetzt im Südkaukasus stattfindet,
Anders als in früheren Jahren, als es zu einzelnen Ge- ist mehr als das Aufflammen eines alten Konflikts. Es ist ein
fechten an der Frontlinie kam, hat Aserbaidschans autoritär regelrechter neuer Krieg zwischen Staaten, vom Angreifer
regierender Präsident Ilcham Alijew sich diesmal offenbar kühl geplant und mit neuester Technik und massivem Trup-
zum Ziel gesetzt, ein und für alle Mal das gesamte Territo- peneinsatz geführt. Dieser Krieg richtet sich auch gegen die
rium zurückzuerobern. Auf Zivilisten nimmt er keine Rück- armenische Bevölkerung in Bergkarabach. Ihre Vertreibung
sicht, das zeigt der tägliche Beschuss der größten Stadt von scheint Teil des Rückeroberungsplans.
Bergkarabach, Stepanakert. Beides müsste die Weltgemeinschaft zu klaren Worten gegen
Das einzige Land, das ihn in seinem Vorgehen offen Aserbaidschans Angriff und seine Unterstützung durch Ankara
bestärkt, statt zu einem Waffenstillstand aufzurufen, ist die veranlassen – ohne dabei Armenien durchgehen zu lassen,
Türkei, Aserbaidschans historischer Partner. Die Aserbaid- dass es seinerseits aserbaidschanische Zivilisten beschießt.
schaner sind ein muslimisches Turkvolk, sie sprechen eine Bleibt die Frage, was Russland tut, die traditionelle Schutz-
dem Türkischen eng verwandte Sprache. Als »zwei Staaten, macht Armeniens. Der Kreml hält sich bisher zurück. Russ-
ein Volk« hat Erdoğan das Verhältnis beschrieben. land werde seinen Bündnisverpflichtungen nachkommen,
Die Türkei hat mindestens tausend syrische Rebellen als sagte Paschinjan vorsichtig im Gespräch mit dem SPIEGEL.
Kämpfer gegen Armenien angeworben, türkische F-16-Kampf- So hat das auch Putin formuliert – aber Russlands Präsident
flugzeuge wurden auf einem aserbaidschanischen Flughafen hat klargestellt, dass diese Verpflichtungen sich nur auf das
gesichtet. Der türkische Außenminister sprach offen von »Soli- Gebiet Armeniens beziehen, nicht auf Bergkarabach.
darität auf dem Schlachtfeld wie am Verhandlungstisch«. Christian Esch

98 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Sport

Markus Gilliar / GES


Debütanten in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft unter Bundestrainer Joachim Löw

aktueller Alter beim


in einem Verein Debüt
Zweijahres-
zeitraum Robin Gosens, 26 Niklas Stark, 24 Luca Waldschmidt, 23 Nadiem Amiri, 22 Suat Serdar, 22
nach dem Atalanta Bergamo Hertha BSC Benfica Lissabon Bayer Leverkusen Schalke 04
WM-Turnier* Debüt am 3. Sept. 2020 19. Nov. 2019 9. Okt. 2019 9. Okt. 2019 9. Okt. 2019

2018
11
Debütanten Robin Koch, 23 Lukas Klostermann, 22 Mark Uth, 27 Thilo Kehrer, 21 Kai Havertz, 19 Nico Schulz, 25
Leeds United RB Leipzig Schalke 04 Paris Saint-Germain FC Chelsea Borussia Dortmund
9. Okt. 2019 20. März 2019 13. Okt. 2018 9. Sept. 2018 9. Sept. 2018 9. Sept. 2018 Löw
* jeweils bis
Ende September

im gleichen 2014 2010


Zeitraum
nach der WM 11 13
Bundestrainer Joachim Löw und DFB-Direktor Oliver Bierhoff sprechen nun oft von einem großen personellen Um-
bruch nach der verkorksten WM. Am Mittwoch kamen drei Länderspielneulinge hinzu, zusammen sind es 14 seit
dem Turnier 2018. Doch so ungewöhnlich, wie die beiden Verantwortlichen für die Nationalelf das darstellen, ist es
gar nicht. Nach der WM 2010 und selbst nach dem WM-Titel 2014 rekrutierte Löw fast ebenso viele neue Spieler.

Gut zu wissen

Was passiert unter der Wasseroberfläche?


 Es gibt Sportarten wie Eiskunstlaufen, schaft, er trainiert den deutschen Frauen- Da viel unter der Oberfläche passiere,
bei denen sich Athletinnen und Athle- meister Wasserfreunde Spandau 04. gebe es dort auch sehr eklige Fouls.
ten auf einem Präsentierteller bewegen. Sein Vater Hagen Stamm ist ehemaliger »Wovor man sich relativ schnell zu schüt-
Kampfrichter achten auf jedes Detail, Nationalspieler und Bundestrainer. zen lernt, ist der Griff in die Badehose.
selbst das Lächeln unter größter Anstren- Marko Stamm sagt, Wasserball sei ge- Schläge ins Gesicht, an Hals oder Kinn,
gung kann über Sieg oder Niederlage nerell »ein sehr umkämpfter Sport. das sind genau wie beim Boxen Schwach-
entscheiden. Und es gibt Wasserball, eine Nicht brutal, aber es geht schon körper- stellen, die jeder gern ausnutzt. Oder
Sportart, in der die Schiedsrichter oft lich zur Sache. Aber je höherklassiger die das Knie in die Seite rammen, gerade
nur einen Bruchteil des Geschehens mit- Liga ist, desto fairer wird es.« wenn man nicht anspannt im Rücken-
bekommen. bereich. Das ist schon fies.« Die Folgen
Aber was passiert eigentlich unter der bekomme man als Spieler oft gar nicht
Wasseroberfläche? direkt mit: »Die Schmerzen spürt
»Man wird getreten, gebissen, an der man durch das Adrenalin im Körper erst
Badehose gezogen, notfalls auch an den im Nachhinein.«
Armen gehalten«, sagt Nationalspieler Wasserballer sind darauf trainiert, sich
Marko Stamm, 32, »wenn man versucht, in ihrem Element perfekt zu bewegen.
mit dem Kopf unter Wasser an jemandem Deshalb, sagt Stamm, nähme er es im
PICTURE ALLIANCE / DPA

vorbeizuschwimmen, ist es relativ ein- Becken jederzeit auch mit Boxweltmeister


fach, das Knie oder den Ellbogen stehen Tyson Fury auf: »Wenn er nicht stehen
zu lassen. Man kann den Gegner ja nicht kann und keine Körperspannung hat, um
einfach an sich vorbeitauchen lassen.« die Kraft anzubringen, würde er im
Stamm weiß alles über Wasserball. Der Wasser gegen uns nicht viel ausrichten
Berliner ist Kapitän der Nationalmann- Stamm (l.) können.« SAK

99
Vera Hartmann / DER SPIEGEL

Judoka Dinkel: »Mama, ich muss dir was sagen, der Klaus fasst uns komisch an«

100
Sport

»Ich war wie versteinert«


Missbrauch Marie Dinkel ist 13, als ihr Judotrainer sie misshandelt. Ihr Fall zeigt, wie leicht junge
Sportler Opfer sexualisierter Gewalt werden können – und wie lange sie unter den Taten leiden.

W
enn Marie Dinkel vor dem ausschließlich männliche Trainer, sie wech- diese leise anfängt zu reden: »Mama, ich
Judotraining auf die Sport- seln sich ab. Einer von ihnen ist Klaus L.*, muss dir was sagen, der Klaus fasst uns
halle zuging, suchte sie mit damals Anfang vierzig. komisch an.«
schnellen Blicken den Park- Marie Dinkel weiß nicht mehr genau, Die Worte treffen Anette Dinkel wie ein
platz ab. »Mir ist ein Schauer über den wann es angefangen hat, dass sich die drei Schlag, dann beginnt sie zu verstehen:
Rücken gelaufen, wenn ich gesehen habe, Mädchen vor dem Training in der Um- Marie, die so fürs Judo brannte, hat schon
dass sein schwarzer Mercedes da stand«, kleidekabine gegenseitig die Judohosen länger keine Lust mehr gehabt.
sagt sie, »ich wusste, wenn wir mit ihm enger schnüren. Es wird zur Routine. »Da- Klaus L. genießt in dem Verein hohes
allein sind, dann geht es wieder los.« mit er es nicht so leicht hat.« Ansehen, als langjähriger Trainer, der sich
An einem Nachmittag im September Weil immer zwei gegeneinander kämp- für die Kinder einsetzt, Ausflüge organi-
sitzt Marie Dinkel, 24, am Esstisch ihrer fen sollen, muss eine von ihnen mit Klaus siert und sie sportlich voranbringt.
Wohnung. Eine Frau in schwarzem Kleid, L. trainieren. Marie Dinkel, die Jüngste, Über Verniedlichungen wie »na, meine
die Haare hochgebunden, um den Hals zieht am häufigsten »die Arschkarte«. So Kleine« oder »na, meine Süße«, sagt
trägt sie eine goldene Kette mit einem nennen es die Teenager. Marie Dinkel, habe sich niemand Gedan-
Schutzengel. Das Training findet in einem kleinen, ken gemacht. Klaus L. habe die Judoka
Dinkel gehört zu den besten deutschen abgelegenen Raum in der Schulsport- umarmt und gestreichelt, auch dann, wenn
Judoka, sie kämpft in der Gewichtsklasse halle statt, zu dem die Mädchen über eine Eltern oder andere Trainer in der Nähe
bis 57 Kilogramm in der 2. Bundesliga. Sie kurze Steintreppe gelangen. Der Holz- waren.
will über den sexuellen Missbrauch spre- boden ist mit grünen und roten Judomat- Die Kommission der Bundesregierung
chen, den sie als Kind in ihrem Judoverein ten ausgelegt. will nun wissen, warum sexualisierte Ge-
erlebt hat. Sie will über die Ängste reden, Marie Dinkel erinnert sich noch genau walt im Sport begünstigt wird und wie
die sie jahrelang begleitet haben, und dass daran, wie sie auf dem Rücken liegt, als man ihr begegnen kann. In den Jahren
sich die Taten wie Narben in ihre Gefühls- sich Klaus L. auf sie setzt, sein Becken zuvor hat sie Missbrauch im familiären
welt eingebrannt haben. senkt, sich schwer macht und ihren Körper Umfeld, in der DDR und in Kirchen un-
Körperliche Nähe, Hierarchien und in die Matte drückt. Wie er ihren Ober- tersucht.
Leistungsdruck begünstigen Missbrauch körper fixiert, bevor er mit der Hand in »Wir haben Meldungen aus dem Frei-
in Turnhallen und Schwimmbädern. Aber ihre Hose greift. Sie kann nicht Stopp zeit-, Breiten- und Leistungssport, auch
die wenigsten Fälle gelangen an die Öf- sagen, sich nicht wehren, nicht schlagen aus dem Schulsport«, sagt die Kommis-
fentlichkeit, oft werden sie tabuisiert, oder schreien. »Ich war wie versteinert«, sionsvorsitzende Sabine Andresen. Die
totgeschwiegen. Marie Dinkel hat sich sagt sie. Es sei ihr vorgekommen wie eine Vergehen reichen von anzüglichen Bemer-
der Unabhängigen Kommission zur Auf- Ewigkeit. kungen bis zu schweren Vergewaltigungen.
arbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs Wenn Dinkel davon erzählt, umgreift Andresen vermutet eine sehr hohe
anvertraut, die die Bundesregierung ein- sie die Tasse Tee vor sich so fest, dass ihre Dunkelziffer. Forscher der Sporthochschu-
gesetzt hat. Fingerkuppen weiß anlaufen. Sie sitzt auf- le Köln und des Universitätsklinikums
Vor anderthalb Jahren hat diese Exper- recht, ihre grünen Augen werden feucht. Ulm veröffentlichten im Jahr 2016 eine
tengruppe Personen aufgerufen, sich zu Aber sie weint nicht. Studie, in der sie Kaderathleten in
melden, wenn sie im Sport sexuell miss- Als Klaus L. sie ein anderes Mal von Deutschland befragten. Etwa ein Drittel
handelt oder missbraucht wurden. Seit vorn umarmt, sie mit einer Hand gegen berichtete von Übergriffen, drei Prozent
Mai 2019 haben rund hundert Betroffene den Mattenwagen drückt und von unerwünschten Küssen
ihre Erlebnisse der Kommission offenge- mit der anderen Hand am Gürtel oder Vergewaltigungen.
legt. In der kommenden Woche sollen vorbei in die Hose fasst, sind Rund Sexuelle Gewalt an jungen

100
auf einem Hearing erste Ergebnisse disku- auch Erwachsene in der Halle. Sportlern ist international weit
tiert werden. Er habe sich bewusst so gestellt, verbreitet. Im britischen Fuß-
Marie Dinkel wächst in einem 100-Ein- dass es niemand sehen konnte, ball kamen vor vier Jahren Hun-
wohner-Dorf in Mittelhessen auf. Eigent- sagt Marie Dinkel. Wieder wehrt derte Missbrauchsfälle an die
lich möchte sie reiten. Aber um sich besser sie sich nicht, wieder bleibt die Öffentlichkeit. In den USA wur-
verteidigen zu können, soll sie einen Tat unbemerkt. de 2018 der damalige Turnver-
Kampfsport lernen. So will es ihr Vater. Marie Dinkel behält das Erleb- Personen bandsarzt Larry Nassar für den
Zweimal die Woche trainiert sie bald in te monatelang für sich – bis zu Missbrauch teils Minderjähriger
der Judoabteilung des TV Gladenbach, einem Samstag im Oktober vor
haben ihre zu mehr als 175 Jahren Freiheits-
zehn Autominuten von zu Hause entfernt. zwölf Jahren, wie sich ihre Mut- Fälle seit strafe verurteilt. Als im selben
Bei ihrem ersten Wettkampf ist Marie ter Anette Dinkel, 52, erinnert. Mai 2019 Jahr die Eisschnelllauf-Olympia-
Dinkel acht. Sie ist talentiert, bekommt Die Pharmazeutin fährt ihre siegerin Shim Suk Hee ihren
deshalb nach einigen Jahren ein Extra- Tochter gerade mit dem Auto offengelegt. Trainer beschuldigte, sie verge-
training, immer samstags, gemeinsam mit vom Training nach Hause, als waltigt zu haben, startete Süd-
zwei anderen Mädchen, die 13 und 14 Jah- Quelle: Kommission zur
Aufarbeitung sexuellen
koreas nationale Menschen-
re alt sind. Beim TV Gladenbach gibt es * Name geändert. Kindesmissbrauchs rechtskommission eine Unter-

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 101


suchung. Das Ergebnis: Knapp 15 Prozent rige Polizeibeamte versucht, seine Tochter
aller Eliteathleten hatten Gewalt oder auf Distanz zu trösten, mit Worten.
sexuellen Missbrauch erfahren. Die Beziehung zu ihrem damaligen
»In vielen Ländern lässt sich beobach- Freund zerbricht. Rückblickend sagt Marie
ten, dass es zunächst einen bekannt gewor- Dinkel: »Ich wollte ihn nicht anfassen,
denen Fall braucht, damit das Thema aus wollte nicht, dass er mit mir spricht.«

Vera Hartmann / DER SPIEGEL


der Tabuzone geholt wird und Präventions- Zugleich entwickelt sie eine Art Gerech-
maßnahmen in den Sportorganisationen tigkeitsgefühl für den Täter. »Ich muss ja
ergriffen werden«, sagt Bettina Rulofs, irgendwas ganz Schlimmes gemacht ha-
Sportsoziologin an der Bergischen Univer- ben, dass mir so was passiert«, sagt sie.
sität Wuppertal. Noch heute kommen ihr diese Gedanken.
Zuletzt gelangten auch in Deutschland 2016 begibt sich Dinkel in therapeutische
einige Fälle an die Öffentlichkeit: Dinkel-Tattoo Behandlung, die Diagnose: posttraumati-
‣ Ein ehemaliger Jugendleiter eines Segel- »Was ganz Schlimmes« sche Belastungsstörung.
vereins wurde im Mai in Mittelfranken Es ist ausgerechnet das Judo, das ihr
festgenommen, er wird verdächtigt, wieder Kraft gibt. Marie Dinkel schafft es
mindestens 30 Sportler missbraucht zu Doch für Marie Dinkel ist das Marty- zu den deutschen Meisterschaften und in
haben. Der Mann beging in seiner Zelle rium damit nicht vorbei. Fünf Jahre später die 2. Bundesliga. Wenn sie nicht selbst
Suizid. erhitzt sie ein Bügeleisen und presst es sich trainiert, gibt sie ihr Wissen an den Nach-
‣ Im Juli wurde ein Freiburger Fußball- auf ihren rechten Unterarm. Wieder und wuchs weiter.
trainer zu vier Jahren und sechs Mona- wieder. 36-mal, so sagt sie. Immer dann, 2018 lässt sie sich ein Tattoo stechen,
ten Haft mit anschließender Sicherungs- wenn der Schmerz durch ihren Körper ins als Zeichen ihrer Liebe zum Sport. Zwi-
verwahrung verurteilt. Er hatte sexuelle Gehirn schießt, weiß sie, dass sie noch am schen den Schulterblättern auf dem Rü-
Übergriffe an mehreren Jungen verübt. Leben ist – und die Bilder in ihrem Kopf cken trägt sie die japanische Schreibweise
‣ Ebenfalls im Juli gestand ein Aikido- echt sind. des Wortes Judo, das übersetzt so viel
trainer vor dem Landgericht Dresden, Im Training reißen die Wunden auf. heißt wie: der sanfte Weg.
elf Jungen zum Teil schwer missbraucht Den anderen Judoka sagt sie, ihr sei ein Ihren alten Trainer habe sie seither nur
zu haben, unter ihnen auch Kinder mit Ofengitter auf den Arm gefallen. Dinkel einmal gesehen, sagt sie, vor zwei Jahren
geistiger Behinderung. legt ihren Arm auf den Tisch. Noch immer in der Stadt. Sie sei noch ein paar Meter
‣ Im September wurde in Frankfurt ein sind rötliche Narben zu sehen. gegangen, habe sich dann auf den Boden
Judotrainer angeklagt, der in 27 Fällen Heute kann sie von dieser Zeit souverän gesetzt und geweint.
Mädchen im Alter zwischen 6 und erzählen. Ihre Stimme ist klar, die Pausen Die beiden anderen Mädchen aus dem
13 Jahren missbraucht haben soll. zwischen ihren Sätzen sind kurz. Sie schil- Sondertraining mit L. sind heute 24 und
‣ Ein weiterer Judotrainer muss sich der- dert die früheren Panikattacken, bei denen 25 Jahre alt. Sie wolle »mit der ganzen An-
zeit vorm Landgericht Berlin verantwor- gelegenheit nichts mehr zu tun haben«,
ten, die Vorwürfe der sieben Opfer betref- lässt eine von ihnen ausrichten. Mit dem
fen einen Zeitraum von 13 Jahren. Die Tochter flehte: Judo haben sie längst aufgehört.
Womöglich macht es der Sport den Tä- »Du musst mich Es kommt häufig vor, dass Opfer nicht
tern zu einfach. Derzeit besteht für ehren- über die Taten sprechen können. Oft dauert
amtliche Übungsleiter keine gesetzliche ablenken, ich will, dass es Jahre, bis sich die Betroffenen trauen,
Pflicht, etwa ein erweitertes Führungs- das weggeht.« ihr Umfeld einzuweihen. »Ihnen wird nicht
zeugnis vorzulegen. zugehört oder nicht geglaubt«, sagt die
Auch Dinkels damaliger Verein, der TV Kommissionsvorsitzende Andresen. Und
Gladenbach, forderte zu jener Zeit kein sie auf dem Boden sitzend mit angezoge- noch immer könne es geschehen, dass Täter
Führungszeugnis von seinen Trainern an. nen Knien von vorn nach hinten wippte geschützt werden, selbst wenn die Taten
Rückblickend sagt der Vorstandsvorsitzen- und schrie. Es passierte, dass sie sich er- zweifelsfrei belegt seien. Beim Hearing sol-
de Michaelo Walter: »Das Thema war brach, sobald ihr Körper entkrampfte. Sie len auch Fälle zur Sprache kommen, in de-
nicht auf der Agenda.« fühlte sich wie unter Strom gesetzt, spürte nen Mitglieder oder Vereinsvorstände mit
Einen Tag nachdem Marie Dinkel im ein Kribbeln im Rücken. Weil sie wenig dem Täter verstrickt waren, zum Beispiel
Auto von ihren Erlebnissen berichtet hat, aß, nahm sie stark ab. weil sie selbst bei ihm trainiert hatten.
ruft ihr Vater bei Walter an. Daraufhin, so Anette Dinkel, die Mutter, erinnert sich, Marie Dinkel arbeitet heute als Physio-
sagt Walter, habe er seinen Trainerkolle- wie die Erlebnisse wie aus dem Nichts therapeutin in einer Psychiatrie. Vor einem
gen und damaligen Freund Klaus L. mit »immer mal wieder angeflogen« seien. Jahr ist sie mit ihrem Freund in die
den Vorwürfen konfrontiert. Über dessen Ihre Tochter habe gefleht: »Du musst mich Schweiz gezogen. Auch die Erinnerungen
Reaktion sagt er: »Es war ein Schuld- ablenken, ich will, dass das weggeht.« Für sind mitgezogen. Doch sie blitzen nur
geständnis ohne Worte.« das, was sie aufwühle, habe Marie keine noch selten auf. Etwa wenn sie Patienten
Walter erteilt Klaus L. Hausverbot für Worte gehabt. Sie seien gemeinsam spazie- behandelt, die Ähnliches erfahren haben.
den Vereinssport. Die Dinkels und die ren gegangen, bis es ihr besser ging. Sie macht Akrobatik, geht ins Fitness-
Familien der beiden anderen Mädchen Maries fünf Jahre jüngerer Bruder Bene- studio. Auch mit dem Judo macht sie wei-
erstatten eine Strafanzeige. Der Fall landet dikt bekommt nur beiläufig mit, was mit ter, natürlich. Für Wettkämpfe fährt sie
unter dem Aktenzeichen 1 Js 13679/08 bei seiner Schwester geschieht. Er sagt: »Vieles nach Deutschland, sie kämpft für den JSV
der Staatsanwaltschaft Marburg. Diese davon ist totgeschwiegen worden.« Rammenau in der 2. Bundesliga.
teilt dem SPIEGEL mit, das Verfahren sei Auf Männer reagiert Marie Dinkel hoch- Bei ihrem Heimatverein, dem TV Gla-
am Ende gemäß Paragraf 153a Absatz 1 sensibel, von ihrem Vater will sie nicht denbach, gibt es jetzt zwei Kinderschutz-
nach Zahlung eines Geldbetrags zuguns- umarmt werden. »Sie hat sich steif ge- beauftragte. Einer von ihnen ist Benedikt,
ten einer gemeinnützigen Einrichtung macht und eine abwehrende Haltung ein- Maries Bruder. Markus Sutera
oder der Staatskasse eingestellt worden. genommen«, sagt Kai Dinkel. Der 51-jäh-

102 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


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Sport

Luft im Hintern
Forschung Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft hat mit Steuergeldern für einige der absurdesten
Momente der westdeutschen Sportgeschichte gesorgt – trotzdem soll es jetzt gefeiert werden.

W ie baut man einen Phallografen,


ein Gerät zur Messung der männ-
lichen Erektion? Diese Frage be-
schäftigte Mitte der Siebzigerjahre einen
aber nicht von den Beamten reinreden
lassen. Die Politiker wiederum erwarten
möglichst viele strahlende Sieger, um die
Millionenförderung rechtfertigen und sich
Athleten. Damit sollten sie sich vor den
Wettkämpfen Luft in den Darm drücken.
Untersuchungen hätten ergeben, dass die
Luft die Wasserlage verbessere und so die
Mitarbeiter des Bundesinstituts für Sport- im Erfolg der Athleten sonnen zu können. Leistung um bis zu zwei Prozent gesteigert
wissenschaft (BISp). Für die Methoden interessieren sie sich da- werde.
Er hatte sich eine genaue Anleitung für gegen kaum. Dass die Pumpen keinen Erfolg brach-
das Max-Planck-Institut für Psychiatrie in So war es schon, als 1970 der damalige ten, hatte einen simplen Grund: Im olym-
München überlegt, das die Apparatur für Bundesinnenminister Hans-Dietrich Gen- pischen Schwimmstadion fand sich kein
ihn entwickeln sollte. Die Technik müsse, scher das Institut gründete. Bis dahin hatte Raum, der nahe genug am Beckenrand lag,
so schrieb er, Penisumfang und Penishärte sich der Sport in Westdeutschland eher um die Aktion unauffällig durchzuführen.
einer »Versuchsperson« aufzeichnen. So staatsfern entwickelt. Man wollte sich ab- Die Athleten wurden daher bereits im
könne diese »gleichzeitig bei der Darbie- grenzen von den Zuständen im National- olympischen Dorf aufgepumpt. Allerdings
tung sexueller Stimuli (Film) ihre Penis- sozialismus, als der Sport ein Propaganda- entwich die Luft den Schwimmern auf
reaktion am Monitor wahrnehmen.« instrument Adolf Hitlers gewesen war. dem Weg zum Startblock.
Was hat das mit Sport zu tun? Mit dem Diese Haltung änderte sich, als München Bereitwillig griffen die Forscher auch
Gerät wollte der Forscher herausfinden, den Zuschlag für die Ausrichtung der auf Erkenntnisse von jenseits der Mauer
ob anabole Steroide Auswirkungen auf Olympischen Spiele 1972 bekam. zurück. So verpassten sie in Montreal den
das Triebniveau von Leistungssportlern Erfolge mussten her, zumal die Bundes- Athleten dubiose Spritzen, die angeblich
haben. Denn die umstrittenen Mittel lie- republik im Wettstreit zwischen Ost und die Leistung steigern sollten. Die Kombi-
ßen zwar Muskeln wachsen, womöglich West in die zweite Liga abrutschte. Eine nationspräparate waren von einem Arzt
aber das Glied erschlaffen. Deshalb spritz- wissenschaftliche Zweckforschung sollte empfohlen worden, der kurz zuvor aus der
te der Mann Freiwilligen über Wochen Abhilfe schaffen. Das Ziel war klar: »Un- DDR geflohen war. Das BISp finanzierte
Anabolika. Angeschlossen an das Messge- sere Athleten sollen die gleichen Voraus- im Vorfeld der Spiele zwar Tests mit den
rät, sahen sich die Probanden dann Por- setzungen und Bedingungen haben wie Mitteln. Angesichts der versprochenen
nofilme an, die das BISp aus der Asserva- die Ostblockathleten«, habe damals der Wunderwirkung übersahen die Funktio-
tenkammer des Landeskriminalamts in Minister zu ihm gesagt, berichtete später näre aber wohl Risiken.
Düsseldorf beschafft hatte. Ommo Grupe, der erste BISp-Chef. Dazu Bei dem Ruderer Peter-Michael Kolbe
Den Sport hat die Pornoforschung nicht sei im Prinzip jedes Mittel recht gewesen. jedenfalls könnten die Spritzen statt einer
vorangebracht. Der Phallograf habe sich Organisiert wurde der Weg zum Erfolg Leistungssteigerung das Gegenteil bewirkt
leider als »sehr störanfällig« erwiesen, die wie beim Klassenfeind. Mit einer Art haben. Der 1,94 Meter große Modellathlet
»technische Verfeinerung« sei zu teuer, zentraler Planwirtschaft glaubten die Ver- war eine der größten Goldhoffnungen. Im
notierte der Wissenschaftler. Seine Mess- antwortlichen, Medaillengewinne steuern Gegensatz zu anderen Sportlern hatte er
ergebnisse waren letztendlich unbrauch- zu können. Helfen sollten Wissenschaftler, sich aber geweigert, das Präparat zu neh-
bar. Das BISp verzichtete darauf, einen die daran tüftelten, wie Sportler schneller men. Erst vor dem Endlauf ließ er sich be-
Forschungsbericht zu veröffentlichen. Das laufen, weiter springen oder effektiver trai- handeln. Im Rennen legte er dann mit un-
Erektionsmessgerät geriet in Vergessen- nieren können. glaublichem Tempo los. Zwischenzeitlich
heit. Welche innovativen Wege die Sport- hatte er drei Bootslängen Vorsprung auf
Am 10. Oktober feiert das Institut, das wissenschaftler dabei beschritten, zeigte die Konkurrenz. Doch plötzlich, wenige
dem Bundesinnenministerium untersteht, sich 1976 bei den Olympischen Spielen in Meter vor dem Ziel, brach er ein. Ein Kon-
sein 50-jähriges Bestehen. Ein Festakt wur- Montreal. Während eines Trainingslagers kurrent überholte ihn im letzten Moment.
de wegen Corona abgesagt, stattdessen der Schwimmer im Vorfeld der Spiele ver- Der Deutsche kollabierte.
gibt es eine Internetshow, in der sich das teilte ein Mannschaftsarzt Pumpen an die Nach dem Rennen machte Kolbe die
BISp als »Dienstleister« deutscher Spit- nicht genug erprobten Spritzen für sein
zenathletinnen und -athleten präsentiert. Scheitern verantwortlich. Die Funktionäre
Bürger sollen Videobotschaften mit Glück- verteidigten sich: Die Mittel seien harmlos
wünschen schicken, denn das Jubiläum sei und ihr Einsatz nicht verboten.
ein »großartiger Grund« zu feiern, heißt In den Siebziger- und Achtzigerjahren
es in einem Aufruf. hielten sich die aus Steuergeldern bezahl-
Tatsächlich hat das BISp eine eher be- ten Forscher nicht nur mit primitiven Hilfs-
denkliche Geschichte. Es ist nicht nur für mitteln wie Luft und Vitaminen auf. »Das
peinliche Auswüchse wie die Entwicklung BISp koordinierte, im Einzelfall nachweis-
des Phallografen verantwortlich. Es finan- bar mit Kenntnis des Bundesinnenminis-
IMAGO SPORT

zierte auch Dopingforschung und sogar terium, Forschungen mit Anabolika, Tes-
die Anwendung illegaler Substanzen. tosteron und anderen für Dopingzwecke
Auch politisch ist die Arbeit der Behörde geeigneten Substanzen«, so der Sport-
umstritten. Die Sportverbände schätzen Ruderer Kolbe bei Olympia 1976 in Montreal historiker Giselher Spitzer, der die west-
das BISp zwar als Geldquelle, wollen sich Wenige Meter vor dem Ziel eingebrochen deutsche Dopinggeschichte erforschte.

104
vidualtaktischen Angriffsverhalten im
Kinderhandball« steht ebenso auf der
aktuellen Projektliste wie die Erarbeitung
»taktischer Entscheidungsregeln bei risiko-
reichen Schlägen im Golf«.
Es hört sich unverfänglich an, wofür der
Bund heute das Geld ausschüttet. Doch
die Erwartungen an deutsche Athleten im
internationalen Wettstreit sind nach wie
vor hoch. Als die Sportler bei den Olym-
pischen Spielen in London und Sotschi auf
Rang sechs der Nationenwertung abrutsch-
ten, reichte es Innenminister Thomas de
Maizière: Ein Drittel mehr Medaillen
müssten künftig gewonnen werden, for-
derte er 2015. Die mehr als 150 Millionen
Euro allein aus seinem Haus sollten besser
angelegt werden.
Das BISp war gleich mit Änderungs-
vorschlägen zur Stelle. Der Bund solle ein
»Bundesamt für Sport« gründen und die
Lenkung des Spitzensports selbst überneh-
men, stand in einem Konzept. Als Sport-
funktionäre protestierten, ließ der Minister
seine Sportbehörde im Regen stehen. Die
Veröffentlichung des Papiers sei »einfach
dämlich« gewesen, beschied er.
Stattdessen gibt es seit zwei Jahren ein
»Potenzialanalysesystem« – ein Computer-
verfahren, das einer Kommission hilft, mit
133 Fragen das Erfolgspotenzial eines Spit-
zensportlers zu berechnen. Das hört sich
so an, als ob die Deutschen zumindest im
Bereich der Bürokratie ihren internationa-
len Spitzenplatz behaupten könnten.
Dazu passt Ralph Tiesler, der das In-
stitut seit zwei Jahren als Direktor leitet.
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL

De Maizières Nachfolger Horst Seehofer


(CSU) hat den Sechzigjährigen auf den
Posten gesetzt, weil der einen anderen
Sessel dringend räumen sollte: Tiesler war
Vizepräsident des Bundesamts für Migra-
tion in Nürnberg, als bekannt wurde, dass
BISp-Chef Tiesler in Bonn: Spitzenplatz in der Bürokratie in einer Außenstelle in Bremen massenhaft
Asylanträge falsch bearbeitet worden sein
sollen. Da traf es sich gut, dass der bishe-
Besondere Brisanz hatte eine vom BISp Forschungsmitteln und den Verwaltungs- rige BISp-Chef in Ruhestand ging und sein
finanzierte Testosteronstudie Ende der aufwendungen beklagten die Kontrolleure. Posten frei wurde.
Achtzigerjahre – zu einem Zeitpunkt, als Inzwischen gab es zwar Änderungen Unter Sportwissenschaftlern löste die
das Mittel längst verboten war. Das Hor- bei der Mittelverteilung. Aber an dem mo- fachfremde Rochade wenig Freude aus.
mon galt als Ersatz für synthetische Ana- nierten Verhältnis scheint sich wenig ge- »Dem Institut hätte sicherlich die zusätz-
bolika. Schon bei der Vergabe der Mittel ändert zu haben. Aktuell verteilt das BISp liche Leitung in einer Doppelspitze durch
ging es nicht gerade wissenschaftlich zu – 6,6 Millionen Euro pro Jahr – benötigt einen Wissenschaftler gutgetan«, findet
eher wie in einem Selbstbedienungsladen. aber 4,2 Millionen Euro für Verwaltung etwa Markus Raab, Professor für Sport-
Vertreter der großen sportwissenschaft- und Personal. psychologie an der Deutschen Sporthoch-
lichen Institute in Freiburg und Köln, wo Auch von seiner Dopingvergangenheit schule Köln.
die Professoren Joseph Keul und Wildor will sich das Institut nicht klar distanzieren. Tiesler sagt, er habe schon immer an
Hollmann saßen, verteilten in den BiSp- Forschungen zu Dopingmethoden hätten der Spitze einer Behörde stehen wollen.
Gremien die Gelder und versorgten vor in der BRD einen »vielfältigen Hinter- Der Job sei »äußerst spannend und viel-
allem ihre Klientel. Bis 1990 fand je ein grund« gehabt, heißt es allgemein in einer seitig« und keineswegs ein Versorgungs-
Drittel der finanzierten Projekte an diesen Stellungnahme für den SPIEGEL. Beim posten. Kurz nach seinem Wechsel hatte
beiden Hochschulen statt. Jubiläum solle die Anti-Doping-Arbeit des er in einem Interview allerdings einge-
Unter anderem deshalb attestierte der Instituts gewürdigt werden. räumt, dass es noch einen anderen Grund
Wissenschaftsrat der Bundesbehörde 2007 Tatsächlich finanziert das BISp For- gab, der ihn interessierte: »Mein Ziel war,
nach einer Prüfung »gravierende Mängel« schungsarbeiten zur Dopingprävention. ins Rheinland zurückzukehren.« Dort lebt
in der Forschungsförderung. Auch das Auch sonst hat sich das Forschungsspek- seine Familie. Michael Fröhlingsdorf
»eklatante Missverhältnis« zwischen den trum erweitert. Eine Studie zum »indi-

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 105


Wissen

Jes Aznar / The New York Times / Redux / laif


Bedrohlich wabert eine graue Aschewolke über dem philippinischen Taal-Vulkan nach einer Eruption im Januar.
Seither gab es keine Entwarnung, am Mittwoch bebte wieder die Erde. Vulkanstaub kann aber auch helfen,
dem Klimawandel entgegenzuwirken, schlagen nun Forscher der britischen University of Southampton vor: Weg-
gebaggert und mit Schiffen im Meer versenkt, könnte er Kohlendioxid aus der Atmosphäre in Sedimenten binden.

Kapitulation vor Corona


verhindern. Innerhalb von fünf Tagen haben bereits rund
140 000 Menschen, darunter mehr als 13 000 Wissenschaftler und
Ärzte, diese Erklärung unterschrieben. Die Initiatoren wurden
von Trumps einflussreichem Corona-Berater, Scott Atlas, empfan-
Analyse Die Idee der Herdenimmunität erlebt ein gen, der ebenfalls als Anhänger der Herdenimmunität gilt.
Comeback – doch sie bleibt ein gefährlicher Irrweg. Dabei zeigen alle bisherigen Erfahrungen, dass eine solche
Strategie nichts anderes ist als eine Kapitulation vor dem Virus.
 Schlechte Ideen werden nicht besser, wenn man ihnen einen Es ist unmöglich, alle Alten und Gefährdeten abzuschirmen.
neuen Namen gibt. »Gezielter Schutz« nennen drei Forscher der In Schweden, wo man die Corona-Maßnahmen minimal hielt,
Universitäten Harvard, Oxford und Stanford den alten Gedan- starben bezogen auf die Bevölkerung rund fünfmal so viele
ken der sogenannten Herdenimmunität. In der »Great Barring- Menschen wie in Deutschland. Trotzdem hatten sich bis Mitte
ton Declaration« fordern sie, alte Menschen und solche mit Juni erst sechs bis acht Prozent der schwedischen Bevölkerung
schweren Vorerkrankungen vor Sars-CoV-2 so gut es geht zu mit Sars-CoV-2 infiziert. Von Herdenimmunität keine Spur,
schützen. Alle anderen dagegen sollen wieder ein normales dafür leiden viele Infizierte selbst bei leichten Krankheitsver-
Leben ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen führen können – und läufen an Spätfolgen wie chronischer Erschöpfung.
sich dabei nach und nach mit dem Covid-19-Erreger infizieren. Wie sehr wir uns auch ein normales Leben zurückwünschen –
Nach einer Weile sollen so viele Menschen immun geworden bis es gute Medikamente und einen wirksamen Impfstoff gibt,
sein, dass das Virus nur noch selten ein neues Opfer findet. Das bleibt die beste Option, die Fallzahlen so niedrig wie möglich zu
soll die Wirtschaft wieder auf die Beine bringen und medizini- halten. Durch Masken, Abstandhalten – und Rücksichtnahme
sche Kollateralschäden, etwa durch verschobene Operationen, auf die Risikogruppen. Veronika Hackenbroch

106 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Mobilität Helfer durch das neue Kreu- Fußnote

2,2
Tödliche Kreuzung zungsdesign völlig nutzlos,
zeigt die UDV-Studie. Denn
 Deutschlands Städte riskie- wenn sich ein Fahrradfahrer
ren im Kampf gegen tödliche nach rechts von der Fahrbahn
Fahrradunfälle einen schwe- entfernt, unterstellen die
ren Rückschlag – weil sie Assistenten automatisch, dass Mal so schnell wie der Schall

bicycledutch
gefährliche Kreuzungen nach er ebenfalls abbiegen will. soll ein neuer Passagierjet
niederländischem Vorbild »Objektiv wäre die niederlän- namens »Overture« fliegen,
umbauen wollen. Dabei wird dische Lösung schlechter als dessen Konzept das amerikani-
der Fahrradweg vor der Ein- Verschwenkter Radweg das, was wir bisher haben«, sche Start-up-Unternehmen
mündung um mehrere Meter warnt UDV-Leiter Siegfried Boom vorgestellt hat. Die Flug-
nach rechts verschwenkt. Auf bei Lkw gar nicht. Weil unter Brockmann. Wie das Statisti- zeit zwischen New York und
diese Weise soll verhindert deren Rädern in den vergan- sche Bundesamt unlängst London soll sich auf dreieinhalb
werden, dass rechtsabbiegen- genen Jahren besonders viele bekannt gab, starben 2019 Stunden fast halbieren, ähnlich
de Fahrzeuge Radfahrer über- Fahrradfahrer ums Leben 445 Fahrradfahrer im Straßen- wie bei der »Concorde«, deren
sehen. Wie Versuche und kamen, müssen alle Lkw und verkehr. Rund zwei Drittel Betrieb 2003 auch aus Kosten-
Computersimulationen der Busse ab 2022 mit einem der innerörtlichen Radver- gründen eingestellt wurde.
Unfallforschung der Versiche- Abbiegeassistenten ausgerüs- kehrsunfälle ereignen sich Bereits 2021 könnte eine klei-
rer (UDV) nun aber beweisen, tet sein. Leider würden laut UDV an einer Kreuzung nere Version der »Overture«
funktioniert das ausgerechnet jedoch gerade die digitalen oder Einmündung. GUI zu Testflügen abheben.

Mathematik zunächst, ist aber im Fall der sioniert und glaube nicht, dass
Covid-19-Daten auch damit zu Corona inhaltlich deutliche
»Zahlenblindheit ist gefährlich, erklären, dass in Italien viele Spuren in den Mathecurricula
Ältere leben, das muss man hinterlassen wird. Das fängt
auch für die Demokratie« herausrechnen. schon damit an, dass viele
SPIEGEL: Viele kommen Mathelehrer an der Uni nur
Norbert Henze, 69, gezogener vermeintlicher anscheinend auch ohne Statis- oberflächlich mit der Stochas-
frisch pensionier- Anwendungsbezug verpackt tik gut zurecht. tik, der Mathematik des
ter Professor für ist, Stoff der Mittelstufe auf Henze: Ja, bis irgendein Dema- Zufalls, in Berührung kommen,
Anette Schleifer

Stochastik am Abiturniveau gehoben. goge daherkommt und seine geschweige denn mit der Sta-
Karlsruher Institut SPIEGEL: Den meisten Men- einfachen Botschaften mit Zah- tistik.
für Technologie, schen reicht im Alltag ja auch len untermauert. Viele Leute SPIEGEL: Wie ließe sich das
über Tücken in der normale Dreisatz. sind dem hilflos ausgeliefert ändern?
Corona-Statistiken und Lücken Henze: Nein, alle mündigen und glauben zum Beispiel, wir Henze: Mit einer verpflichten-
im Matheunterricht Bürger brauchen eine statisti- lebten in einer »Corona-Dik- den, soliden Statistik-Grund-
sche Grundbildung, sonst sind tatur«. Zahlenblindheit und ausbildung für alle Lehramts-
SPIEGEL: Herr Henze, täglich sie Zahlenverdrehern hilflos statistisches Analphabetentum studenten. Aber manche Ver-
wird die Öffentlichkeit mit neu- ausgeliefert. Ohne eine solche sind gefährlich, auch für die änderungen kann man kaum
en Corona-Statistiken bombar- Grundbildung können sie zum Demokratie. über den Amtsweg spielen,
diert, nach der Reproduktions- Beispiel keine Corona-Statisti- SPIEGEL: Wird die Pandemie das gelingt nur durch persön-
zahl R ging es viel um dem ken verstehen. Die besagten dazu führen, dass Statistik ver- liche Netzwerke, mit Guerilla-
Dispersionsfaktor k und um die etwa zu Beginn der Pandemie, stärkt an Schulen gelehrt wird? taktik sozusagen. Und mit
sogenannte Perkolation. Wie- dass der Anteil der Todesfälle Henze: Ich bin da nach fast Freude am Lösen anspruchs-
so haben wir nichts von alldem unter den Covid-19-Erkrank- 50 Jahren Lehre eher desillu- voller Probleme. HIL
in der Schule gelernt? ten in China angeblich niedri-
Henze: Machen wir uns nichts ger war als in Italien.
vor, schon die genauere Analy- SPIEGEL: Wo liegt der Haken?
se der Reproduktionszahl wür- Henze: Wenn ich nur die Über-
de den Schulunterricht über- lebenschancen bezogen auf die
frachten. Ich wäre schon heil- Gesamtbevölkerung in China
froh, wenn wir alle Schüler und Italien betrachte, schnitt
wenigstens mit einem soliden China in der Tat besser ab. Aber
statistischen Grundverständnis innerhalb einzelner Altersgrup-
entlassen könnten. In den pen war es genau umgekehrt.
Gymnasien wurde in der Dieser als »Simpson-Parado-
Mathematik über Jahrzehnte xon« bezeichnete scheinbare
»intellektuell abgerüstet«, was Widerspruch tritt immer dann
Inhalte betrifft. Mit dem weni- auf, wenn sich beim Vergleich
gen Wissen, das jetzt noch vor- zweier Populationen ein Merk-
handen ist, wird oft durch mal in der Gesamtzahl anders-
umfangreiche Textaufgaben, in herum verhält als in den Teil-
denen an den Haaren herbei- populationen. Das überrascht
dpa

107
Wissen

Die neuen Archen


Artenschutz Feldhamster, Goldene Löwenäffchen, Nerze: Für viele Tierarten, die in der
freien Natur vom Aussterben bedroht sind, ist der Zoo die letzte Rettung.
Vielerorts werden Nachzuchten aus den Tierparks bereits erfolgreich ausgewildert.

T
homas Kauffels hebt den Müll Giraffen und Pinguine: alles charmante krise nutzen könnten, um den Blick der
auf. Eisverpackungen und Ta- Lebewesen, derentwegen Familien hier- Menschen für den Verlust von Biodiversi-
schentücher, neuerdings auch mal herkommen. Kauffels braucht solche Vor- tät zu schärfen. Wann, wenn nicht jetzt,
eine himmelblaue Einwegmas- zeigetiere – die Anziehungskraft vieler ließe sich da um Einsicht werben? Denn
ke – alles wandert in die Tonne. »Zoo- anderer Geschöpfe, die ihm ebenso am Erreger wie Sars-CoV-2 springen umso
direktoren-Gymnastik« nennt er das. Aus Herzen liegen, brächte nicht genug Geld wahrscheinlicher auf den Menschen über,
einem Beet vor dem Giraffenhaus rupft für den Zoo. Viele seiner Lieblingstiere, je tiefer die Zivilisation in die Lebensräume
der Biologe eine Distel, die gehört da auch erklärt Kauffels, »sind klein, braun und von Wildtieren vordringt.
nicht hin. nachtaktiv«. Vor allem aber ging es um neue Wege
Seit 22 Jahren leitet Kauffels, 62, das Und einige von ihnen sind gegenwärtig der Zusammenarbeit zwischen Zoos und
»Georg von Opel-Freigehege für Tierfor- überhaupt nicht aktiv. Wer etwa Spermo- Freilandforschern – etwa beim Schutz von
schung« in Kronberg im südhessischen philus citellus sehen möchte, muss im Gibbon, Martino-Schneemaus, Feldhams-
Hochtaunuskreis. Aber seine Herkunft März wiederkommen. »Die Ziesel sind im ter, Himalaja-Katzenbär. Rund eine Mil-
aus Neuss am Rhein hört man ihm noch Winterschlaf«, steht auf einem Schild vor lion Tier- und Pflanzenarten sind bedroht.
an: »Wenn dat hier schon so aussieht, den Gehegen. Der Biodiversitätsverlust, glaubt Jenny
wat is’ dann mit den Viechern?« – das Europäische Ziesel sind vielerorts aus Gray, Geschäftsführerin von Zoos Victoria
fragten sich doch die Besucher, wenn über- ihrem natürlichen Lebensraum verschwun- in Australien und ehemalige Präsidentin
all Unrat herumliege. Der Opel-Zoo, so den, die Erdhörnchen gelten laut der Ro- des Weltverbands der Zoos und Aquarien
der bekanntere Name von Kauffels’ Tier- ten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN WAZA, lasse sich nur bremsen, »wenn wir
park, solle nicht wirken, »als würde sich als stark gefährdet. In menschlicher Obhut jede nur mögliche Hilfe erhalten, auch die
keiner kümmern«. geborene Exemplare wie die aus dem von Zoos«.
Es ist ein schöner Zoo. 27 Hektar hüge- Opel-Zoo sollen in der Wildnis angesie- Gray hat ein Buch über die ethische
lige Fläche, viel Grün, gewundene Wege. delt werden, etwa in Tschechien, wo in Rechtfertigung der Zootierhaltung veröf-
Von manchen Picknickplätzen blicken die diesem Sommer sechs Männchen aus fentlicht (»Zoo Ethics«). Es seien Geschich-
Gäste auf die Frankfurter Skyline, mit Mes- Kronberg ausgesetzt wurden. Auch Euro- ten wie die des Tasmanischen Langnasen-
seturm und Bankhochhäusern, an diesem päische Nerze vermehren sich hier und beutlers, sagt sie, die zeigten, dass soge-
Tag weichgezeichnet von frühherbstli- sind schon teils ins Freiland umgezogen. nannte Ex-situ-Erhaltungsprogramme –
chem Dunst. Der große Spielplatz ist ge- »Für die Erhaltung vieler Arten«, so also Schutzmaßnahmen außerhalb der na-
sperrt, wegen der Abstandsregeln. Kauffels, »gibt es zum Zoo keine Alterna- türlichen Lebensräume – über Untergang
Doch das Freigehege ist nicht nur ein tive.« Der Tierparkchef ist auch Vorsitzen- oder Fortbestehen vieler Arten mitent-
Ausflugsziel. Es dient auch Tieren als Hei- der der European Association of Zoos and scheiden.
mat, deren Artgenossen in freier Wild- Aquaria (EAZA), in deren Einrichtungen Die Nasenbeutler mit den auffälligen
bahn bedroht oder ausgestorben sind. Bei inzwischen mehr als 400 Erhaltungszucht- Streifen am Hinterleib waren auf dem
einigen Geschöpfen leiten Kauffels und programme laufen. In Kronberg ist das australischen Festland schon ausgestor-
seine Mitarbeiter die Erhaltungsprogram- unter anderen auch noch die Europäische ben. Es gab sie nur noch auf Tasmanien.
me in ganz Europa, sie tauschen Tiere Sumpfschildkröte. Jetzt sind aus Nachzuchten, die aus Grays
mit anderen Zoos, um den Genpool zu Vergangene Woche trafen sich die Zoo stammen, drei vermehrungsfreudige
sichern. EAZA-Vertreter, diesmal nur per Video, Populationen in freier Natur hervorgegan-
Vor Kurzem kamen zwei Elefanten- zur alljährlichen Konferenz. Diskutiert gen – das klappt aber nur dort, wo es kei-
kühe aus dem Berliner Tierpark in Kron- wurde zum Beispiel, wie Zoos die Corona- ne Füchse gibt. Artenschwund wie in die-
berg an. Abseits der Artgenossen gewöh- sem Fall gleichsam rückgängig machen,
nen sie sich jetzt an die neue Umgebung. glaubt Gray, das könnten nur Zoos und
Der Privatzoo im Taunus, der keine staat- Freilandforscher gemeinsam.
lichen Zuschüsse erhält, ist auch For- Zu einem bemerkenswerten Befund
schungsstätte für Studierende und dotiert kam im September auch eine Studie in der
eine Stiftungsprofessur an der Goethe- Zeitschrift »Conservation Letters«: Bis zu
Bert Bostelmann / DER SPIEGEL

Universität Frankfurt. 32 Vogel- und bis zu 16 Säugetierarten,


In Kronberg lässt sich besichtigen, wie haben Wissenschaftler darin ermittelt, wä-
sich die Aufgaben der zoologischen Gär- ren ohne Erhaltungsmaßnahmen in den
ten wandeln – und auch, wie Zoos ihre vergangenen knapp 30 Jahren zusätzlich
Existenz rechtfertigen in Zeiten von wach- ausgestorben. Ex-situ-Programme waren
sendem Bewusstsein für Wohl und Rechte bei deren Rettung mit der wichtigste
von Tieren. Schlüssel zum Erfolg.
Im Opel-Zoo sind Afrikanische Elefan- Biologe Kauffels im Opel-Zoo »Wir Menschen«, sagt Gray, »sind einer-
ten zu bestaunen (die einzigen in Hessen), Erdhörnchen in Tschechien angesiedelt seits die größte Bedrohung für das Über-

108 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


1

2
4

Europäischer Ziesel (4), Europäische Sumpfschildkröte (5), Goldenes Löwenäffchen (6)


Gefährdete Tierarten: Kleiner Panda (1), Europäischer Nerz (2), Tasmanischer Langnasenbeutler (3),
5
3

109
(1) Andreas Keil / imageBROKER / Okapia, (2) S.E.Arndt / Wildlife, (3) Colourbox, (4) Thomas Hinsche / imageBROKER / Okapia,
(5) Do Van Dijck / Fn / Minden Picture / National Geographic, (6) Frans Lanting / National Geographic
oft in einen Zoo gehen, berichteten die
Wissenschaftler 2019 in »Frontiers in Psy-
chology«, seien sie eher bereit, sich für
den Artenschutz zu engagieren.
Allerdings fehlt bei den neueren Unter-
suchungen, die Fernandez für seine Über-
sichtsarbeit ausgewertet hat, ein Vergleich
mit jenen Menschen, die mit Zoos nichts
anfangen können oder wollen. Wer es
generell ablehnt, dass Tiere in Gefangen-
schaft gehalten werden, könnte ja beson-
ders engagiert im Umweltschutz sein. Ein
Vergleich zwischen Zoofans und Nicht-
zoofans soll nun folgen.
Doch egal was der Zoo beim Besucher
erreicht: Die Tiere selbst profitierten von

Hinrich Bäsem / dpa


der Forschung in den Einrichtungen, ist
Fernandez überzeugt. Er selbst hat zum
Beispiel im Zoo von Cincinnati untersucht,
wie sich Pinguine zu natürlicherem Ver-
Zoobesucher, Großer Panda*: »Angebot für alle« halten animieren lassen, wie ihre Artge-
nossen in Freiheit unter Wasser nach Nah-
rung zu suchen. Dazu füllte er tote Fische
leben vieler Tiere, andererseits aber oft Alltagsverhalten, wenn sie bei einem Zoo- in Bälle mit Löchern, nach denen die Tiere
auch die einzige Hoffnung auf deren Fort- besuch Damhirsch, Ziesel, Nasenbeutler tauchen und die Fische herausschütteln
bestand.« hautnah erleben? mussten. Noch besser kommen lebende
Die IUCN hat deshalb beschlossen, nicht Das ist zu hoffen, denn kaum eine Fische an, hat eine seiner jüngsten Studien
mehr nur vor Ort für den Erhalt bestimm- Freizeiteinrichtung erreicht so viele Men- ergeben. »Das ist für die Pinguine sehr be-
ter Arten zu kämpfen, sondern die Be- schen wie Zoos und Aquarien. »Wir sind reichernd«, sagt er, »für die Fische natür-
mühungen von Feldbiologen und Zoo- das Angebot für alle Bevölkerungsschich- lich weniger.«
logischen Gärten zu bündeln. Zudem ist ten«, sagt Biologe Kauffels. Die großen Goldenen Löwenäffchen wiederum
der Verband der Zoologischen Gärten Zoos bieten regelmäßig Bildungspro- brachte Fernandez im Woodland Park Zoo
dem Bündnis für Biodiversität der Euro- gramme für Schulklassen an, auch der in Seattle bei, Rosinen und Mehlwürmer
päischen Kommission beigetreten. Zoolo- Opel-Zoo. aus den Löchern eines Futterspenders zu
gische Gärten, Nationalparks und Natur- Rund 35 Millionen Zoobesuche hatten klauben. Löwenäffchen werden regelmä-
kundemuseen sollen künftig Teil dieser 2018 allein die deutschen Parks unter dem ßig ausgewildert, doch im Zoo geborene
weltweiten Kampagne sein. Dach des Verbands der Zoologischen Gär- Exemplare haben in Freiheit schlechtere
In Kronberg steht Zoodirektor Kauffels ten. Zum Vergleich: Vor Corona waren das Überlebenschancen als ihre wilden Art-
vor dem Gehege der Mesopotamischen mehr als zweieinhalbmal so viele Besucher genossen. Teil des Problems dürfte sein,
Damhirsche und freut sich über die Ruhe. wie Zuschauer in den Stadien der Fußball- dass Zootiere sich bei der Nahrungssuche
Die Tiere liegen im Gras und dulden gleich- Bundesliga in der Saison 2018/19. ungeschickter anstellen. Am Futterspen-
mütig die Schar von Krähen, die ihnen Speziell für Städter seien Zoos oft der der trainieren sie deshalb den Ernstfall.
Insekten aus dem Fell picken. Die Hirsch- einzige Ort, wo sie Tiere sehen und schät- Fernandez hat auch untersucht, bei wel-
kühe, vermutet Kauffels, »sind wahr- zen lernen können, so Gray. Einer Giraffe cher Wassertemperatur sich Zoo-Flusspfer-
scheinlich schon durchgedeckt«. Aber ins Auge zu schauen oder einen Elefanten de am liebsten in ihrem Becken aufhalten
auch während der Brunstzeit würden die zu riechen, sagt Kauffels, »ist eine Erfah- oder welche Art von Spielzeug bei Wal-
Hirsche meist um Partnerinnen werben, rung, die kein Tierfilm ersetzen kann«. rossen sogenannte Stereotypien reduzie-
»ohne sich gegenseitig umzubringen«. Psychologe Eduardo Fernandez liebt ren kann, jene sich ständig wiederholen-
Kauffels und seine Mitarbeiter wachen Zoos, seitdem er denken kann. »Meine den Bewegungsabläufe, die auf Verhaltens-
über die weltweiten Bestände manch selte- Forschung wird immer noch von meinem störungen von Tieren in Gefangenschaft
ner Tiere. Die Mesopotamischen Damhir- Ich als Zehnjähriger bestimmt«, sagt der hindeuten.
sche waren im Freiland fast ausgestorben. Wissenschaftler. Eigentlich lehrt er Verhal- Im Zoo der Zukunft, so Fernandez, wer-
Auf drei Tieren, die Zoogründer Georg von tensbiologie, Tierwohl und Ethik im aust- de solche Verhaltensforschung weitaus
Opel vor etwa 60 Jahren von einer Expe- ralischen Adelaide; doch wegen der Pan- häufiger stattfinden. Auch die Bedeutung
dition mit in den Taunus brachte, fußt heute demie ist er als Gastprofessor am Florida der Tierparks als eine Art Arche der Bio-
beinahe der gesamte weltweite Bestand. Institute of Technology gestrandet und diversität werde weiter wachsen, glaubt
Ihre Nachkommen leben in Zoos in Isra- wartet auf sein Visum. Aus Sicht von Fer- der Forscher. »Wir werden immer mehr
el, Neuseeland, Österreich, Frankreich, nandez bieten Zoos eine große Vielfalt an Menschen auf diesem Planeten, und wir
den USA und in Deutschland; und in ihrer Forschungsmöglichkeiten, er hat an ver- werden uns immer weiter ausbreiten in
ursprünglichen Heimat Iran, aber auch in schiedenen Orten rund 50 Arten erforscht. den Lebensräumen von Tieren.« Das
Israel wurden Exemplare ausgewildert. Eine davon ist der Mensch. natürliche Habitat einer Art zu erhalten
»Rettung in letzter Minute«, steht dazu auf Fernandez und seine Kollegin Andrea sei immer die erste Wahl, sagt er, aber oft-
einer Infotafel am Damhirschgehege. Godinez wollten wissen, ob Zoobesuche mals eben unmöglich.
Doch taugen derlei Erfolgsgeschichten Menschen dazu bringen, Geld für Natur- »Das Paradies kommt nicht zurück«,
auch dazu, den Blick der Menschen für schutzprojekte zu spenden. Wenn Leute sagt auch Zoochef Kauffels, »wir brauchen
ihren eigenen Beitrag am Artensterben zu eine Alternative.« Julia Koch
schärfen? Ändern Menschen wirklich ihr * Im Zoologischen Garten Berlin.

110 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Wissen

Werkzeug
der Erzählung von der Schreckensgestalt nem Tod angeblich im Reich unterwegs wa-
aus der Johannes-Offenbarung verknüpft. ren, um die Macht an sich zu reißen.
In ihrer faszinierenden Fallstudie enträt- Scheinbar passte in dieser merkwür-

Satans
selt Malik, wie Gerüchte und Mythen aus digen Tragödie alles zusammen: Hatte
einem verschüchterten und musisch ver- Johannes nicht eine Endzeit angekündigt,
anlagten Teenager im Laufe der Jahrhun- in der ein Herrscher zurückkehren werde,
derte ein Monster machten. der schon einmal regiert hatte? Ähnelte
Geschichte War der römische Schon in den vergangenen Jahren hatte nicht die tödliche Verwundung an einem
Kaiser Nero wirklich ein ein revidierender Blick auf den Kaiser der sieben Köpfe der Bestie in der Offen-
Nero unter Geschichtskundlern Konjunk- barung des Apostels verblüffend jener
psychopathischer Tyrann? Eine tur. So skizzierte ihn der US-Historiker Schnittverletzung am Hals, durch die Nero
britische Historikerin James Romm in einer fulminanten Ab- zu Tode gekommen war?
sieht entlastende Indizien. handlung als sensible Künstlerseele, die Das Publikum der Antike mochte schau-
zwischen einer machthungrigen Mutter dern angesichts dieser Parallelen; nach An-
und ihrem intriganten Mentor Seneca er- sicht Maliks hat das Schauerstück jedoch

B evor der Schauspieler Peter Ustinov


seine wohl berühmteste Rolle an-
nahm, bat er seinen Regisseur um
eine Einschätzung jener Figur, die er in
drückt zu werden drohte.
Der junge Mann war aber wohl nicht
nur mit seiner Mutterbindung überfordert,
sondern auch mit dem Chefposten im
weder Hand noch Fuß. Gewiss, die Chris-
ten verachteten den römischen Kaiserkult,
weil die Regenten sich selbst als gottgleich
sahen. Doch in dieser Hinsicht unterschied
dem Sandalenfilm »Quo Vadis« (1951) Römischen Reich. Er reagierte darauf wie sich Nero kaum von seinen Vorgängern
spielen sollte. Die Antwort fiel knapp aus: ein haltloser Rockstar und ließ sich gern und Nachfolgern.
»Nero? Ein Arschloch! Weißt du, was er schon zur Arbeitszeit volllaufen. Auch sein Unumstritten ist auch: Nach dem zer-
mit seiner Mutter gemacht hat?« Ende ähnelt auf verblüffende Weise einer störerischen Großbrand in Rom betrach-
Der Legende nach schlief der römische aus dem Lot geratenen Künstlerbiografie: tete Nero die in Rom unbeliebten Christen
Kaiser nicht nur mit seine Erzeugerin Mit nur 30 Jahren brachte sich Nero um; als willkommenes Bauernopfer und ließ
Agrippina, er ließ sie schließlich ebenso bei Nacht und unter nie gänzlich geklärten viele von ihnen am Kreuz verbrennen.
meucheln wie seinen Stiefbruder Bri- Umständen. Von einer systematischen Verfolgung der
tannicus. Und die Liste seiner angeb- Die Ungewissheit über sein Ableben sorg- religiösen Minderheit im Römischen Reich
lichen Verfehlungen ist noch länger. Auf te im Volk für allerlei Klatsch, den Gelehrte konnte jedoch zu diesem Zeitpunkt keine
Befehl des Tyrannen wurden Christen offenbar begierig aufgriffen. Historikerin Rede sein; die setzte vermutlich erst zwei
in Tierfelle genäht und von Hunden zer- Malik zeichnet nach, wie die berühmtesten Jahrhunderte später ein. In den großen
fleischt. Am Ende habe der Herrscher römischen Geschichtsschreiber Tacitus, Cas- christlichen Gemeinden der römischen Pro-
sogar seine Heimatstadt Rom nieder- sius Dio und Sueton über Wiedergänger Ne- vinz habe der Name Neros derweil kaum
brennen lassen. ros berichteten, die in den Jahren nach sei- Schrecken verbreitet, argumentiert Malik.
Ustinov spielte Nero, der zwi- Es gibt auch keinen Beweis da-
schen 54 und 68 nach Christus für, dass er wirklich für den Brand
regierte, als larmoyanten Psycho- verantwortlich war, bei dem 10
pathen – und folgte damit den von 14 Bezirken Roms zerstört
uralten Überlieferungen. Etliche wurden. Vielmehr habe Nero die
Autoren der Antike sahen in dem verwüsteten Wohnhäuser erfolg-
anscheinend außer Kontrolle ge- reich mit Stein statt leicht ent-
ratenen Kaiser gar ein Werkzeug flammbarem Holz wiederaufbau-
Satans, das die Apokalypse ent- en und zum Schutz vor Feuer brei-
fachen sollte. Die Offenbarung tere Straßen anlegen lassen. Die
des Johannes verkündete finster Zeitgenossen dankten es ihm of-
die Ankunft eines Tieres mit fenbar, so die Historikerin. Malik:
zwei Hörnern, das die Zahl 666 »Als er starb, trauerten die Einwoh-
trägt – das Kennzeichen des An- ner Roms an seiner Grabstätte.«
tichrists. War mit dem schaurigen Auch die unappetitliche Erzäh-
Zahlenrätsel aus dem Neuen Tes- lung von den inzestuösen Be-
tament Nero gemeint, wie der gegnungen mit seiner Mutter
Bischof und frühe Bibelexeget qualifiziere den regierenden Mu-
Victorinus von Pettau (gestorben sikus nicht zur apokalyptischen
um 304 n. Chr.) behauptete? Sagengestalt, so die Historikerin.
Eine neue Untersuchung wid- War nicht Kaiser Caligula viel
met sich nun ausführlich dem Fall schlimmer, der angeblich über
akg-images / De Agostini Picture Lib. / V. Pirozzi

Nero – und lässt den Herrscher in seine drei Schwestern hergefallen


einem milderen Licht erschei- sein soll?
nen*. Die Historikerin Shushma Zu schockieren wusste Nero,
Malik von der University of Roe- ganz Künstlernatur, seine Unter-
hampton in London hat die Ge- tanen dennoch. Seine letzte Ehe-
schichte des vermeintlich so grau- frau war ein kastrierter Lust-
samen Herrschers geschickt mit knabe. Ihn ließ der Kaiser mit
Frauenkleidern ausstaffieren und
* Shushma Malik: »The Nero-Antichrist.
gab ihm den Namen Sabina.
Founding and Fashioning of a Paradigm«. Frank Thadeusz
Cambridge University Press; 242 Seiten. Krönung Neros: Sensible Künstlerseele?

111
Wissen

»Wenn Sie ins Herz der Galaxis


reisen, werden Sie sich
wundern, wie hell es dort ist«
SPIEGEL-Gespräch Der frisch gekürte Physiknobelpreisträger Reinhard Genzel, 68,
erzählt, wie er das schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße entdeckte
und warum er die überraschende Ehrung womöglich seiner Konkurrentin verdankt.

SPIEGEL: Herr Professor Genzel, wir gra- dem irgendwas sagen. Das schärfen die ei- Mathematik, Geowissenschaften und eben
tulieren zum Physiknobelpreis. Was haben nem ein. auch in Astronomie. Danach rechnete ich
Sie gerade getan, als der Anruf aus Stock- SPIEGEL: Also haben Sie getan, als wäre mir keine Chancen mehr aus, und in die-
holm kam? nichts gewesen? sem Jahr schon gar nicht.
Genzel: Das, was wir Wissenschaftler seit Genzel: Na ja, das auch wieder nicht. Ich SPIEGEL: Was ist in diesem Jahr anders?
sechs Monaten den ganzen Tag lang tun: habe dem Vorsitzenden des Komitees, ei- Genzel: Wenn Sie sich die Physiknobel-
Zoom, Zoom, Zoom. Ich saß mit 25 ande- nem der Vizepräsidenten der Max-Planck- preise der vergangenen fünf Jahre anschau-
ren Leuten in der Zoom-Schalte eines vir- Gesellschaft, gesagt: »Herr Blaum, ich en, da waren Neutrinos, Gravitationswel-
tuellen Komitees der Max-Planck-Gesell- muss jetzt mal was anderes machen. Viel- len, Kosmologie und Exoplaneten darun-
schaft. leicht können Sie ja in einer Viertelstunde ter. Und jetzt schon wieder Astrophysik?
SPIEGEL: Und dann hat während der Video- den Fernseher einschalten.« Sie können sich vielleicht vorstellen, dass
konferenz ganz klassisch das Telefon ge- SPIEGEL: Wie kommt es, dass Sie im Jahr die Leute in anderen Feldern der Physik
klingelt? 2011 auf einen Nobelpreis gehofft haben, da etwas murren werden.
Genzel: Es war fast komisch: Ich sitze vor im Jahr 2020 aber nicht? SPIEGEL: Offenbar leben wir derzeit in ei-
der Röhre. Weiß, dass ich da noch sechs- Genzel: Dafür gibt es mehrere Gründe. nem goldenen Zeitalter der Astronomie.
einhalb weitere Stunden verbringen muss. Zunächst war ich gewissermaßen außer Genzel: Absolut. Unglaublich, wie viel
Das Telefon klingelt, und jemand sagt: Konkurrenz, weil ich vor acht Jahren be- sich derzeit tut. Und das wird weitergehen.
»This is Stockholm.« Dann stockt die Ver- reits den Crafoord-Preis bekommen hatte. Denken Sie nur an die Exoplaneten. Da
bindung. Es dauerte eine Weile, bis der Für die Schweden ist der das Äquivalent erleben wir im Moment eine regelrechte
»Sekreterare« zu hören war. Ich bin so lan- des Nobelpreises in Forschungsfeldern, Explosion der Erkenntnisse. Und unser
ge ans Fenster gegangen und habe gedacht: die nicht ins Nobelraster passen, also in »Gravity«-Interferometer am »Very Large
»Diese verdammte Pandemie. Jetzt kriege Telescope« (»VLT«) Chile ist Teil dieser
ich schon Halluzinationen.« Explosion. Gerade erst haben wir die At-
SPIEGEL: Ein Dienstag Anfang Oktober, mosphären einiger Exoplaneten vermes-
kurz nach elf Uhr – also Physiknobelpreis- sen. Wir sind also im Begriff, regelrechte
zeit –, und Sie wollen uns weismachen, Astrochemie fremder Planeten zu treiben.
Sie hätten nicht gewusst, wer da in der Lei- SPIEGEL: Es gibt noch einen weiteren
tung ist? Grund, warum man die Verleihung des
Genzel: Nein. Das müssen Sie mir schon Nobelpreises an Sie überraschend finden
glauben, in diesem Jahr habe ich wirklich könnte. Viel mehr Aufmerksamkeit als
überhaupt nicht daran gedacht. In den Vor- Ihre Entdeckung des schwarzen Lochs im
jahren, ja, da schon. 2011 zum Beispiel. Zentrum der Milchstraße hat das spekta-
Damals waren wir mit unseren Messungen kuläre Bild eines schwarzen Lochs bekom-
weit gediehen, und ich habe gedacht: Ei- men, das das Team des »Event Horizon
gentlich könnte ich dran sein. Ich bin mir Telescope« im vorigen Jahr publiziert hat.
ziemlich sicher: Wir waren nah dran da- Warum geht das jetzt leer aus?
mals. Genzel: Der Rummel um dieses Bild war
Roderick Aichinger / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Und nach dem Anruf sind Sie gut. Denn es ist wichtig, dass sich die Be-
jubelnd in Ihre Zoom-Sitzung zurück? völkerung für die Forschung begeistert.
Genzel: Nee, nee, das geht streng nach Und gerade die Astronomie spielt dabei
Protokoll. Zwischen dem Kontaktieren der eine besondere Rolle.
Preisträger und der Bekanntgabe vergehen SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen: Fürs
20 Minuten. So lange darf man nieman- Publikum war das Bild gut, für die Wis-
senschaft dagegen gar nicht so wichtig?
Das Gespräch führten die Redakteure Johann Grolle Astrophysiker Genzel Genzel: Nein, so würde ich es nicht sagen.
und Christoph Seidler. »Jetzt kriege ich schon Halluzinationen« Richtig ist jedoch: So ein schönes orange-

112
NASA GSFC / Jeremy Schnittman
Darstellung eines schwarzen Lochs: »Es ist wichtig, dass sich die Bevölkerung für die Forschung begeistert«

farbenes Bild ist verführerisch, aber es ist dieren, verstehen wir immer besser, wie plausibel. Das zweite Drittel hätte gesagt:
nicht klar interpretierbar. In der Fachwelt es sein kann, dass unsere Milchstraße eine Das interessiert mich nicht. Und das letzte
wird noch offen diskutiert: Sind wir wirk- rotierende Scheibengalaxie ist, und warum Drittel lehnte die Idee vehement ab.
lich sicher, was wir auf diesem Bild sehen? eine andere aussieht wie eine Ellipse. SPIEGEL: Sie selbst scheinen wenig Zweifel
SPIEGEL: Wo immer über schwarze Lö- Denn da spielen die schwarzen Löcher gehabt zu haben. Wir haben 1992 erstmals
cher berichtet wird, sieht man dieses Bild. eine entscheidende Rolle. über Ihre Forschung berichtet. Damals
Und Sie sagen uns jetzt, dass wir gar nicht SPIEGEL: Wann hat sich Ihr Interesse an sagten Sie: »Es fällt schwer, die Messungen
wissen, was es eigentlich zeigt? den supermassiven schwarzen Löchern anders zu interpretieren als durch ein
Genzel: So ist es. Es kann sein, dass wir entzündet? schwarzes Loch.« Das heißt: Sie haben
den Schatten des schwarzen Lochs sehen, Genzel: Das war an der Uni in Berkeley, sich in den knapp 30 Jahren seither immer
so wie es gemeinhin dargestellt wird. Aber in den Achtzigerjahren. Alle dachten da- nur aufs Neue bestätigt, was Sie ohnehin
es könnte auch sein, dass es sich um die mals darüber nach, was wohl Quasare sein für wahrscheinlich gehalten haben?
Außenwand eines Jets handelt, der mit könnten, jene rätselhaften Dinger im All, Genzel: Genau, nur dass unsere Messun-
Lichtgeschwindigkeit direkt auf uns zu- die ungeheuerlich viel Energie versprühen. gen heute eine Million Mal besser sind als
kommt. Um Klarheit zu schaffen, brau- Die Theoretiker haben erklärt: Mit Kern- damals.
chen wir weitere Messungen. Im Moment fusion wie in Sternen lässt sich das nicht SPIEGEL: Niemand kennt sich so gut aus
allerdings haben wir da ein Problem: die erklären. Aber mit massiven schwarzen im galaktischen Zentrum wie Sie. Erzählen
Corona-Pandemie. Die meisten erdgebun- Löchern, in die viel Materie einfällt, könn- Sie, wie sieht es dort aus?
denen Teleskope sind abgeschaltet. te es gehen. Quasare wären demnach also Genzel: Hell. Wenn Sie ins Herz der Gala-
SPIEGEL: Erzählen Sie uns, was Sie ge- stark gefütterte schwarze Löcher. Die Fra- xis reisen, werden Sie sich wundern, wie
macht haben. Worum geht es beim schwar- ge war nur: Wie kann man das nachwei- hell es dort ist. Die Sternendichte ist, rela-
zen Loch im Zentrum der Milchstraße? sen? Schnell kam die Idee auf, die Wirkung tiv zu derjenigen in unserer Umgebung,
Genzel: Wir reden hier von einem super- der Gravitation auf Objekte zu studieren, eine Million Mal höher. Und es sind nicht
massiven schwarzen Loch, also einem Ort, die um das schwarze Loch kreisen. Aller- nur viele, es sind auch riesige Sterne. Kurz-
in dessen Umgebung die Gravitation be- dings war klar: Um einzelne Kreisbahnen um: Sie würden einen dramatischen Ster-
sonders stark ist. Am interessantesten von Sternen aufzulösen, sind Quasare viel nenhimmel sehen.
wäre es natürlich, in seinem Innern Mes- zu weit entfernt. Wir mussten also viel SPIEGEL: Ist die Region bewohnbar? Hät-
sungen zu machen. Aber da geht es nicht. dichter herankommen an die Objekte un- ten wir auf unserer Reise eine Chance, eine
Es gibt eine natürliche Grenze: den Ereig- serer Begierde. Und da hat natürlich jeder Herberge zu finden?
nishorizont. Unser Ziel ist es deshalb, uns ans Zentrum unserer Galaxie gedacht. Genzel: Eine gute Frage, die ich Ihnen
immer dichter an diese Grenze heranzu- SPIEGEL: Als Sie mit Ihren Messungen an- nicht beantworten kann. Ich tippe darauf,
tasten, in eine extreme Umgebung, wo sich fingen, da war es ja noch gar nicht ausge- dass Ihre Chancen eher schlecht stünden,
alles mit etwa der Hälfte der Lichtge- macht, ob im galaktischen Zentrum über- weil die Schwerkraft der vielen Riesen-
schwindigkeit bewegt, wo die Gezeiten- haupt ein schwarzes Loch sitzt. Für wie sterne und des schwarzen Lochs ausreicht,
kräfte der Gravitation so stark sind, dass wahrscheinlich hielt man das damals? um bei wechselseitigen Vorbeiflügen alle
sie alles auseinanderreißen. Indem wir sol- Genzel: Ich würde sagen: Ein Drittel der Planeten abzustreifen. Aber genau wissen
che schwarzen Löcher immer genauer stu- praktizierenden Astronomen hielt es für wir es nicht.

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 113


Wissen

SPIEGEL: Es gibt noch einen zweiten Men- SPIEGEL: Und? Haben Sie Frieden ge-
schen auf Erden, der als Reiseführer infrage
käme: Andrea Ghez, mit der Sie sich den
Nobelpreis teilen. Ihr Verhältnis scheint
schlossen?
Genzel: Na ja, ich habe ihr versprochen,
dass ich ihr fortan alles, was wir machen,
Großes
nicht frei von Spannungen zu sein.
Genzel: Wir haben über all die Jahre im
Wettbewerb miteinander gestanden. Und
vorher sage. Es war ja so, dass wir immer
vorn dran waren: Wir waren technisch vo-
raus, wir hatten mehr Teleskopzeit, wir
Getöse
am Anfang war dieser Wettbewerb ein im- hatten eine größere Gruppe. Entsprechend Expeditionen Die »Polarstern«
menser Gewinn für uns alle. Wir haben An- waren wir auch an den Ergebnissen immer kehrt aus der Arktis zurück.
fang der Neunzigerjahre mit unseren Mes- zuerst dran. Dann stand irgendwann die
sungen begonnen, Andrea ist 1995 einge- nächste Annäherung des besagten Sterns Mehr als ein Jahr lang hat der
stiegen. Allerdings hatte sie den Vorteil, ans galaktische Zentrum an, und wir wuss- Forschungseisbrecher Unmengen
dass ihr mit dem »Keck« auf Hawaii ein ten beide: Jetzt wird es spannend. Nur von Klimadaten gesammelt.
Zehn-Meter-Teleskop zur Verfügung stand. dass wir viel besser dastanden. Denn wir
Wir haben damals die Geschwindigkeit von hatten jetzt »Gravity«. Es war klar: Wenn
Sternen in der Umgebung des galaktischen
Zentrums vermessen, und wir kriegten bei-
de dasselbe raus. Wenn aber zwei Gruppen
unabhängig zum selben Ergebnis kommen,
wir es technisch schaffen, unser Instru-
ment in Gang zu bringen, dann haben wir
eine 20-mal bessere Auflösung. Deshalb
habe ich ihr geschrieben: »Du weißt, dass
E rst in einer Polarnacht lernt der
Mensch richtige Dunkelheit kennen.
Bei etwa minus 40 Grad Celsius
stand Markus Rex auf einer Eisscholle und
dann sagt die wissenschaftliche Commu- wir ›Gravity‹ haben. Wäre es nicht besser schaute hinaus in eine Schwärze, die viel
nity: Das glauben wir. Um beachtet zu wer- für uns alle, wenn wir zusammenarbeite- umfassender war als alles, was er von zu
den, hat der Wettbewerb sehr geholfen. ten?« Sie hat es abgelehnt. Hause kannte.
SPIEGEL: Später wurde es schwieriger? SPIEGEL: Sie behaupten, Sie hätten all die »Die Welt schrumpft zusammen auf eine
Genzel: Ja. Da ging es darum, die erste Jahre die Nase vorn gehabt. Warum be- kleine Blase von Licht, das von der eige-
Bahn eines Sterns im galaktischen Zentrum kommen Sie dann beide den Preis? nen Stirnlampe verbreitet wird«, erzählt
zu vermessen. Wir hatten beide das Glück, Genzel: Interessanterweise habe ich den der Atmosphärenphysiker. »Man kommt
dass es diesen Stern gab, der gerade mal 16 Shaw-Preis 2008 allein bekommen. In der sich vor wie auf einem fremden Himmels-
Jahre braucht, um mit einer Geschwindig- ersten Phase lagen wir also vorn. Dass wir körper.«
keit von 7000 Kilometer pro Sekunde um dann den Crafoord-Preis zusammen ge- Und als sich der Mond knapp über den
kriegt haben, war vollkommen gerecht- Horizont schob, fühlte sich der Forscher
fertigt. Da lagen wir gleichauf. Ich denke, endgültig wie auf einem anderen Planeten.
»Ich bin nach Kalifornien wenn der jetzige Preis etwas später gekom- Mal hatte der Mond die Form eines Atom-
gepilgert und habe men wäre, dann wäre die Gewichtung von pilzes, mal sah er fast quadratisch aus,
»Gravity« umso größer gewesen. Das ist dann wieder schien er aus Streifen zu be-
mich einen Tag lang ein wirklich unglaubliches Instrument, das stehen. Schuld daran waren optische Ver-
beschimpfen lassen.« noch eine sehr große Rolle in der Astro- zerrungen durch unterschiedlich kalte
nomie spielen wird. Andererseits bin ich Schichten der arktischen Luft. »Das ist
persönlich überzeugt: Der Grund, warum eine außerirdische Erfahrung«, sagt Rex.
das Zentrum zu rasen. Das war dramatisch wir überhaupt diesen Preis kriegen, ist sie. Solche speziellen Momente haben der
und unerwartet: Am einen Tag lief er so SPIEGEL: Sie spielen auf den Frauenanteil Expeditionsleiter und seine Kolleginnen
rum, zwei Monate später ganz anders, und unter den Preisträgern an? und Kollegen vom Alfred-Wegener-Insti-
noch mal zwei Monate später wieder anders. Genzel: Vielleicht erinnern Sie sich an die tut in den vergangenen Monaten häufig
SPIEGEL: Und wo war das Problem? Kritik am Montag bei der Bekanntgabe erlebt. Ein Jahr lang waren sie mit dem
Genzel: Der Zufall wollte es, dass wir des Medizinnobelpreises: Schon wieder deutschen Forschungseisbrecher »Polar-
genau in dem Jahr umgezogen sind aufs drei weiße alte Männer, hieß es da. Ich ver- stern« im hohen Norden unterwegs. Rund
»VLT« in Chile, das große Teleskop der stehe das. Ich kenne das selbst als Mitglied 150 Tage davon verbrachten sie in Däm-
Europäer. Dort hatten wir sehr viel Beob- des Komitees für den Shaw-Preis. Wir ste- merung und Dunkelheit, an 56 Tagen hat-
achtungszeit und das Ergebnis entspre- hen unter unheimlichem Druck. Und teil- ten sie mit Starkwind zu kämpfen. Ins-
chend früh. Das haben wir natürlich sofort weise besteht das Problem darin, dass wir gesamt 58-mal wurden Eisbären in der
rausgehauen, so schnell wie möglich, was dem Gender-Ungleichgewicht begegnen, Nähe des Schiffes gesichtet. Die nächste
Andrea total konsterniert hat. Sie ist da- indem wir Frauen in die Auswahlkommis- menschliche Siedlung lag viele Hundert
mals auf einer Konferenz so weit gegangen sion wählen. Doch damit verlieren wir die Kilometer entfernt.
zu sagen, wir hätten unser Ergebnis fabri- Hälfte der besten Kandidatinnen. Während ihrer Expedition »Mosaic«
ziert. Wir könnten es gar nicht haben, weil SPIEGEL: Verkündet sind die Preise, ver- sammelten die Wissenschaftler Langzeit-
wir kein entsprechendes Teleskop hätten – liehen noch nicht. Wie sieht es denn damit daten, die es bisher so aus der Arktis noch
bis ihr jemand zugeflüstert hat: »Die sitzen aus in einem Covid-Jahr? Werden Sie über- nicht gab. Sie untersuchten, wie sich der
nicht mehr an einem Dreieinhalb-Meter- haupt nach Stockholm reisen? Wechsel der Jahreszeiten auf das Leben
Teleskop.« – »Das habe ich nicht gewusst«, Genzel: Nein, es wird keine Verleihung unter dem Eis auswirkt, wie der Energie-
hat sie da gesagt; und es sei unfair, dass geben. Sie haben mir gesagt, dass sie pla- transport zwischen Meer und Atmosphäre
ich ihr das vorher nicht gesagt hätte. Sie nen, es im nächsten Jahr nachzuholen. Im abläuft und wie die arktischen Wolken bei
war mir sehr gram deshalb. Auch wenn Übrigen höre ich gerüchteweise, dass uns das Wetter beeinflussen. Im Detail ver-
ich mir keiner Schuld bewusst war, musste man sich sein Diplom und die Plakette maßen sie das Wachstum der Eisschollen
ich akzeptieren, dass sie es so empfunden vorher beim hiesigen Botschafter abholen und die Schneedicke auf deren Oberfläche.
hat. Da habe ich mir gesagt: auf nach Ca- kann. All diese Puzzleteile zusammen, deren
nossa. Ich bin also zu ihr nach Kalifornien SPIEGEL: Herr Professor Genzel, wir dan- Auswertung Monate dauern wird, sollen
gepilgert und habe mich einen Tag lang ken Ihnen für dieses Gespräch. helfen zu verstehen, wie genau sich das
beschimpfen lassen. Klima im hohen Norden verändert.

114 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Meereisaus-
dehnung am
6. Oktober zweitkleinste Fläche seit Beginn der Auf-

A
AD
zeichnungen. Bis zur Mitte des Jahrhun-

KAN
derts, sagen Klimamodelle voraus, könnte
das arktische Meereis im Sommer nahezu
Nordpol Quellen:
vollständig verschwunden sein.
Mosaic, NSIDC
Die von Krumpen und seinen Kollegen
zum Start der Expedition ausgewählte
GRÖN-
Scholle zeigte sich zum Glück langlebig,

D
LAND

LAN
für rund neun Monate war sie die Heim-

SS
statt der »Polarstern«. Stürme rissen das

RU
Eisstück zwar immer wieder auseinander,
doch ebenso schnell froren die Fragmente
Route der wieder zusammen. Erst Ende Juli zerbrö-
»Polarstern« selte die Scholle endgültig.
Während ihrer Driftfahrt hatte die
»Polarstern« den Nordpol Ende Februar
um gut 150 Kilometer verfehlt. Doch kurz
vor Ende der Expedition ging es im
August dann doch noch dorthin, diesmal
mit Motorkraft. In nur sechs Tagen fuhr
der Eisbrecher unter dem Kommando

Alfred-Wegener-Institut / Stefan Hendricks


von Kapitän Thomas Wunderlich zum
Pol.
»Weich und löchrig« sei das Eis dort
gewesen, erzählt Wunderlich. So etwas
habe er so weit im Norden noch nicht er-
lebt. »Die Situation ist für diese Region
historisch.«
Am 19. August um 12.45 Uhr deutscher
Zeit war das Ziel erreicht, woraufhin Wun-
Forschungsschiff »Polarstern« in der Arktis: Driftfahrt mit der Eisscholle derlich und Expeditionsleiter Rex eine
beschriftete Stahlplatte im Meer versenk-
ten. In einer kleinen Zeremonie, sagt Rex,
Das Schiff ließ sich dazu im Meereis ein- dendes Ziel der Expedition sei es gewesen, habe man dabei auch all jener Menschen
frieren und driftete dann, festgemacht an die Klimamodelle für die Arktis zu verbes- gedacht, die über die Jahrhunderte beim
einer riesigen Eisscholle, rund 3400 Kilo- sern, sagt Rex. »Da haben wir bisher noch Versuch gestorben sind, den Nordpol zu
meter durch die Arktis. Ohne eigenen An- große Unsicherheiten.« erreichen.
trieb kam die Expedition etwa 12 Kilo- In Fachzeitschriften erscheinen bereits Für die Forschungsdrift der »Polarstern«
meter am Tag voran, weit schneller als erste wissenschaftliche Arbeiten, die aus gibt es ein berühmtes Vorbild. Vor mehr
berechnet. Montag wird die »Polarstern« der Expedition hervorgegangen sind. So als 120 Jahren war der Norweger Fridtjof
in Bremerhaven zurückerwartet. hat ein Team um den Meereisphysiker Nansen mit seiner legendären »Fram«
»Ich bin hochzufrieden«, meldet Rex Thomas Krumpen in »The Cryosphere« drei Jahre lang in der frostigen Arktis un-
per Satellitentelefon von Bord des Schiffes. einen Artikel zur anfangs 2,8 mal 3,8 Kilo- terwegs. Physiker Rex hat auf seiner Ex-
»Es hat fast alles geklappt.« meter messenden Eisscholle veröffentlicht, pedition die Aufzeichnungen des Polar-
Dabei hatten zunächst widrige Wetter- mit der die »Polarstern« durch die Arktis pioniers immer wieder mit dem verglichen,
bedingungen und später die Folgen der driftete. was seine Mitstreiter und er auf ihrer Fahrt
Corona-Pandemie die Planungen immer »Unsere Studie zeigt, dass die Scholle, erlebten.
wieder durchkreuzt. »Innerhalb weniger die wir letztendlich ausgesucht haben, im Manche Phänomene waren noch wie
Wochen mussten wir alles über den Hau- Dezember 2018 im Flachwasserbereich damals, etwa wenn sich Eisschollen in der
fen werfen, was wir über Jahre vorbereitet der russischen Schelfe gebildet wurde«, so Polarnacht unter großem Getöse binnen
hatten«, so Rex. Krumpen. Bei der Beweisführung halfen Minuten zu Presseisrücken von der Höhe
Vor allem musste sichergestellt werden, unter anderem Steine und Muscheln, die zweistöckiger Häuser auftürmten. Aller-
dass niemand den Sars-CoV-2-Erreger auf sich auf der Scholle fanden: Sie stammen dings gab es auch bemerkenswerte Unter-
die »Polarstern« bringt. Zwar hat das Schiff aus Sedimenten russischer Flüsse. schiede. So wurden diesmal fast durchgän-
eine Krankenstation, doch wäre ein Coro- Vor der sibirischen Küste entstand in gig rund zehn Grad höhere Temperaturen
na-Ausbruch am Pol nicht zu kontrollieren der Vergangenheit der Großteil des Eises, gemessen als damals.
gewesen. Der Forschungseisbrecher hätte das durch die Arktis über den Pol treibt. Und dann stieß Rex auf jene Passage im
zur tödlichen Falle werden können. Dank Doch die sibirische Eismaschine ist in den Tagebuch, in der Nansen auf dem Eis ste-
Quarantäne und mehrfacher Corona-Tests vergangenen Jahren ins Stocken gekom- hend darüber sinniert, dass sich der weiße
für Expeditionsteilnehmer vor der Abreise men. »Wir haben uns für die Expedition Panzer »seit vielen Jahrtausenden über
kam es dazu nicht. noch ein Stück der ›alten Arktis‹ gesucht«, dieses einsame Meer ausgedehnt« habe
Was hat das gut 140 Millionen Euro teu- sagt Krumpen. und »sich in künftigen Jahrtausenden
re Projekt gebracht? In den meisten der Wie stark sich die Region wandelt, zeigen ebenso darüber ausdehnen« werde. Mit
beteiligten Forschungsteams – mehr als auch Satellitenmessungen. So schrumpfte dieser Prognose habe Nansen sich geirrt,
80 Institute aus 20 Nationen waren an der das arktische Meereis bis Mitte September sagt Rex: »Da ist heute nur noch Wasser.«
Expedition beteiligt – wird nun erst die auf eine Ausdehnung von nur noch Christoph Seidler
Datenauswertung beginnen. Ein entschei- 3,8 Millionen Quadratkilometer – die

115
Kultur
»Erforschen mit
Sprache«
Literatur Ihre Übersetzerin Ulrike Draesner, 58,
erklärt, was das Werk der Nobel-
preisträgerin Louise Glück, 77, auszeichnet.

SPIEGEL: Die
sondern die Körperlichkeit
deutschen betont.
Leser kennen SPIEGEL: Sie hat auch über
Gezett / ullstein bild

Louise Glück Traumata und familiäre Ver-


kaum. Was strickungen geschrieben.
ist das Beson- Draesner: Louise Glück fin-
dere an det sehr schöne Bilder dafür,
ihrem Werk? die einem im Gedächtnis
Draesner: Mich haben immer bleiben, zum Beispiel dass ein
zwei Dinge im Speziellen depressiver Mensch sich
interessiert. Zum einen ihr zusammenrollt wie ein Baum.
»Nature Writing«, Ich habe als SPIEGEL: Welches Werk
Erstes ihren Band »Wilde Iris« sollte man lesen, um sie ken-

Webb Chappell
übersetzt, in dem sie Blumen nenzulernen?
eine Stimme gibt und manche Draesner: Wenn man kleinere
Arten auch erfindet. Sie Einheiten mag und in die
beschreibt diese Blumen in Blumen-Menschen-Welt ein- Glück
ihrem Aussehen, aber auch treten möchte, ist »Wilde
in ihrem Wesen, in ihrer Art Iris« das richtige Buch. Wenn
zu wachsen. Es ist ein rich- man eher das narrative habe, und ich finde, man spürt Draesner: Wenn der Preis
tiges Erforschen mit Sprache. Gedicht sucht, in dem kom- die Kraft von Literatur auch Anlass bietet, mehr Lyrik
SPIEGEL: Und was ist das plexe Gefühlswelten anschau- immer daran, was einem zu lesen, finde ich das eine
Zweite? lich gemacht werden, dann besonders in Erinnerung gute Entwicklung. Setzen
Draesner: Die Mythen der »Averno«. geblieben ist. Dies habe ich wir uns hin und lesen die
westlichen Welt sind prinzi- SPIEGEL: Haben Sie ein Lieb- nie mehr vergessen. Gedichte von Louise Glück –
piell von Männern erzählt wor- lingsgedicht? SPIEGEL: Ist es die Aufgabe am besten laut. CLV
den. Dem fügt Louise Glück Draesner: Das ist der Perse- des Literaturnobelpreises,
Draesners eigener Roman
eine wichtige Perspektive hin- phone-Zyklus. Es ist einige auf übersehene Werke auf- »Schwitters« ist dieses Jahr für den
zu, die nicht ideologisch ist, Zeit her, dass ich ihn übersetzt merksam zu machen? Bayerischen Buchpreis nominiert.

Kino dern. Da kommt ein Mutmachfilm wie Shelagh McLeod die Geschichte im Geh-
Schauspielstar im »Astronaut« (Kinostart: 15. Oktober)
gerade recht. Der pensionierte Straßen-
wägelchen-Tempo mit einer tatterigen
Dramaturgie, sie nimmt Handlungsfäden
Gehwägelchen-Tempo bauingenieur Angus Stewart, gespielt der Nebenfiguren unvermittelt auf und
von Oscarpreisträger Richard Dreyfuss, lässt sie ebenso unvermittelt fallen.
 Gebrechlich und gefährdet, so sind hat sein Leben lang davon geträumt, ins Als hätte sie unterwegs vergessen, was
Senioren in den Seuchenmonaten immer All zu fliegen. Als der Milliardär Marcus sie eigentlich erzählen wollte. Altmeister
wieder dargestellt worden. Bis März gal- Brown, gespielt von Colm Feore, einen Dreyfuss spielt Angus als Großvater
ten sie vielen als die fitten Silver Ager, Wettbewerb um ein Freiticket für den mit Herz und Hirn, eine herzerweichende
hofiert von Wirtschaft und Werbung, nun ersten kommerziellen Weltraumflug aus- Performance, aber das allein bringt den
finden sie sich plötzlich wieder als Risiko- schreibt, bewirbt Angus sich aus seinem Film leider nicht zum Fliegen. Die Schwer-
patienten, bevormundet von Politikern Altenheim heraus und über alle Vorurteile kraft des Pathos und des Kitsches hält ihn
und Medizinern, Kindern und Enkelkin- hinweg. Leider inszeniert Regisseurin am Boden. TOB

116 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Kunst Groteske kippen. Wie schmal Eilish im Video zu »You Should
Erotisierung der der Grat ist und wann Nied- See Me in a Crown« mit
lichkeit abstoßend, ja unheim- Prinzessinnenkrone und Spin-
Hilflosigkeit lich erscheint, zeigt nun die nen spielt. Was in der Schau
Schau »#cute. Inseln der zunächst aussieht wie ein
 Vielleicht können Ausstel- Glückseligkeit« (NRW Forum Overkill an Flauschigkeit,
lungen Übelkeit hervorrufen – Düsseldorf, bis 10. Januar). erweist sich als abgründig.
FALK | @betrayal_ junkie | Serie, 2015 fortlaufend

so wie Zuckerwatte, von der Putziges hat derzeit Konjunk- Unter der zuckrigen Oberflä-
man zu viel gegessen hat. tur. Auf Instagram ist #cute che der Exponate stecken
Dieses Moment umschlagen- einer der häufigsten Hashtags. nicht selten Perversion, Miss-
der Anziehung kennt auch die Haustiere, Mangas, Spielzeug brauch, Sadismus. Verniedli-
Ästhetik. Niedlichkeit in Bil- – Niedlichkeit soll Nahbarkeit chung sei die Erotisierung von
dern und Skulpturen mag ein vermitteln, Konsum ankur- Hilflosigkeit, sagt die Kultur-
Hingucker sein, doch schnell beln, die Härten des Alltags theoretikerin Sianne Ngai, was
kann sie in Übersättigung und mildern. Der Bruch damit »manchmal das Bedürfnis
ist ein gern genutztes Stilmit- hervorruft, etwas kleinzuma-
»#cute«-Exponat tel im Pop, etwa wenn Billie chen oder auszulöschen«. CPA

Roboterhelden
Fotografie Andreas Mühe spinnt die Tschernobyl-
Tragödie fort.
 Die Fotos muten apokaly- Sie sollten unter anderem
ptisch an: Eine schlanke verstrahlten Schutt ent-
Gestalt trägt auf jedem Bild sorgen. Später starben viele
eine andere Schutzkleidung – der Männer und Frauen
oder eher eine Schutz- qualvoll. Mühe spinnt die
kostümierung. Die neue Tragödie von damals fort,
Bilderserie des Fotografen seine Retter sind nur noch
Andreas Mühe, die vom Darsteller. Gezeigt werden

Universal Music
9. Oktober an in Berlin aus- die Fotos in der Kirche
gestellt wird, trägt den St. Matthäus am Kultur-
Titel »Biorobots«. Mit ihr forum. Leuchtende Foto-
widmet sich Mühe der kästen am Boden sollen an Clueso
Idee – und der Fragwürdig- mittelalterliche Grabmäler
keit – des Heldentums. erinnern. Zumindest gilt Pop Debütalbum des Projekts
Nach dem Reaktorunfall von das für den ersten Akt der Crucchi Gang nun von einer
Tschernobyl 1986 schickte Schau. Zwei weitere Teile mit
Italienisch für »carta bianca«. In der italie-
die Regierung in Moskau anderen Werken und neuer Anfänger nischen Coverversion des Ele-
menschliche Liquidatoren Anordnung folgen. Mühes ment-of-Crime-Songs »Wei-
oder eben »Bioroboter« ins Bilder haben bisher noch  Deutsche, deren Toskana- ßes Papier« mischt sich nord-
atomar verseuchte Gebiet. immer provoziert, mal sehen, urlaub in diesem Jahr aus deutscher Akzent mit einem
wie es mit diesen Pandemiegründen ausgefal- Sound, der nach siziliani-
ist. Heute erleben die len ist, haben ein paar Mög- schen Nächten klingt. Über-
Menschen eine ähn- lichkeiten, ihre Italiensehn- setzt hat die meisten Lieder
liche Situation, eine sucht zu stillen. Sie können in des Albums der Sänger
unsichtbare Gefahr, der Pizzeria um die Ecke Francesco Wilking. Er steuert
Corona, bedroht ihre einmal die Speisekarte rauf zudem eine südländische
Gesundheit. Und und runter bestellen und Variante des Bilderbuchhits
tatsächlich wurden dabei dem Pizzabäcker mit »Bungalow« bei; sie klingt
nicht wenige echte dem eigenen Italienischwort- nicht nach Party, sondern
Retter zu Märtyrern. schatz imponieren (»Ciao«, nach »festa«. Und Clueso,
Andreas Mühe / 2020 VG Bild-Kunst, Bonn

Vielleicht mag »Grazie«, »Arrivedertschi«). neben Sophie Hunger und


Mühes Theatralik da Sie können erst Fellini-, dann Thees Uhlmann ein weiterer
geschmacklos er- Pasolini-Streamingabende Gast auf dem Album, singt
scheinen, doch geht veranstalten. Oder sie kön- nicht mehr vom Tanzen,
es ihm wohl um nen Sven Regener dabei sondern, logisch, von »bal-
die Einsicht, dass Zei- zuhören, wie er auf Italie- lare!«. Seit Udo Jürgens’
ten, in denen Begriffe nisch singt. Regener, eigent- »Griechischem Wein« klang
wie Helden Konjunk- lich bekannt als Kopf der deutschsprachige Musik
tur haben, nie gute deutschsprachigen Band Ele- nicht mehr so nach Mittel-
Motiv aus »Biorobots«-Bilderserie sind. UK ment of Crime, singt auf dem meerfernweh. SKR

117
Kultur

Poetische Aktivisten
Literatur Die Schriftsteller dieses Herbstes bewegen sich zwischen Buch und Barrikade: Es sind
politische Zeiten – und die liefern den Stoff für große Romane, Gedichte und Geschichten.

W
as für eine Geschichte mit dem Titel »Die Füchsin« veröffentlicht. An
Pathos, Heldenmut und dem einer Stelle beschreibt sie das politische
Glauben an das alte, ideale Schreiben: »Jedes Mal, wenn ich eine
Amerika, was für großartige Taste / auf meiner elektrischen Schreib-

Fredrik Sandberg / picture alliance / dpa


Cowboyliteratur, die Don Winslow in sei- maschine / anschlage, um von harmlosen
nem neuen Buch, dem Storyband »Bro- Bäumen zu sprechen / fliegt das nächste
ken«, erzählt. »The Last Ride« heißt sie. Dorf in die Luft.«
Winslow beschreibt, wie der Grenzschüt- An einer anderen Stelle allerdings heißt
zer Cal ein Mädchen befreit. Nachdem es es bei Atwood: »Kunst ist nutzlos.« Wenn
über die Grenze zwischen Mexiko und man Atwood darauf anspricht, lacht sie
den USA wollte, war es von seiner Mutter schallend und sagt, so sei es eben. »Es war
getrennt und in einen Käfig gesperrt wor- wohl Oscar Wilde, der sagte: ›Kunst ist
den. Nun flieht Cal mit dem Kind Rich- komplett nutzlos.‹ Gut, Kunst kann wohl
tung Süden, um die Mutter wiederzu- manchmal irgendeinen überraschenden
finden: »Ich bin kein Gutmensch, kein Nutzen haben«, meint sie. »Aber wenn
Linksliberaler, verdammt, ich hab den Kunst auf einen Nutzen abzielt, ist sie Pro-
Mann gewählt«, lässt Winslow Cal sagen, paganda.«
»aber das hier, das hab ich bestimmt nicht Worum es manchen Autoren geht, so
gewählt.« könnte man aus Atwoods Versen folgern,
Der Traum vom Aufbegehren eines knor- ist: die Kunst und die Propaganda von-
rigen Republikaners, verfasst von einem einander zu trennen – und doch die Welt
Demokraten. Politische Fiktion, fast schon des literarischen Schreibens mit der Dring-
ein gutherziges Märchen aus den Vereinig- lichkeit des Aktivismus aufzuladen. Mit
ten Staaten des Donald Trump. Winslow, politischer Beobachtungsklugheit, dem
der mit brutalen Kriminalromanen bekannt Willen voranzukommen, mit Tempera-
geworden ist, lebt meist auf einer Ranch im ment und Kampfeslust. Dann entstehen
Süden Kaliforniens, nahe der mexikani- die besten literarischen Werke unserer
schen Grenze. Um ihn herum eingefleischte Zeit. Die interessantesten Bücher des Jah-
Trump-Wähler. Er kennt die Leute, und ge- res sind solche, die von den wesentlichen
nau das gibt ihm Hoffnung. Denn viele die- Debatten unserer Tage geprägt sind oder
Stefan Bohrer

ser Trump-Wähler hätten jetzt einfach ge- sie prägen werden.


nug von diesem Mann, sagt er. Jonas Eika ist der Däne des Moments,
Seit ein paar Wochen produziert Wins- ein Mann mit kurzen grünen Haaren
low deshalb knallharte politische, agitato- und lackierten Fingernägeln. Als ihm vor
rische Anti-Trump-Videos für YouTube einem Jahr der wichtigste nordeuropäi-
und seinen Twitter-Account. Komplett sche Literaturpreis verliehen wurde, griff
ohne feingeistige, literarische Zwischen- Eika die dänische Ministerpräsidentin in
töne. Einfach nur: Trump und seine Liebe der ersten Reihe direkt an. Er beklagte die
zu Diktatoren. Trump und die Lügen. rassistische Sprache und die Politik ihrer
Trump und die Steuern. Einpeitschslogans, Partei, die Trennung von Migrantenfami-
dramatische Musik, eine Botschaft: Trump lien, die Lager. »Schaffen Sie das ganze
abwählen! Jetzt! Lagersystem ab!«, rief er aus. Regierungs-
Nein, für Romane habe er gerade keine chefin Mette Frederiksen in Reihe eins
Zeit, sagt er, wenn man ihn zu seinen Fil- musste sich das anhören.
men fragt. Jetzt zähle nur die Politik. Der Sie hätte es wissen können, wenn sie
Schriftsteller als Aktivist. vorher mal in seinen Erzählband »Nach
Es sind höchst politische Zeiten. Akti- der Sonne« reingeschaut hätte. Empörung,
visten verkörpern diese Zeiten, kämpfen Sehnsucht, innere Leere treiben die Figu-
für Klimaschutz, gegen Rassismus und ren Eikas an. »Alle Boys haben ein Loch
Aphinya Jatuparisakul

Sexismus. Sie teilen die Welt in Gut und in ihrem Innern«, schreibt er über die
Böse ein, in Freund und Feind, in links und Jungs an den Stränden Mexikos, die für
rechts. Aber lassen sich derartig klare Welt- reiche Sonnentouristen moderne Skla-
bilder mit dem komplexen Anspruch der vendienste verrichten. Aber eine Um-
Literatur vereinbaren? kehrung der Verhältnisse steht bei ihm
Die Kanadierin Margaret Atwood hat Autoren Winslow, del Buono, Eika kurz bevor. Nur die weißen Wohlstands-
gerade einen Band ihrer Gedichte unter Kontroversen, gedruckt und gebunden menschen ahnen es noch nicht: »Sie liegen

118 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


weiterhin regungslos mit geschlossenen
Augen oder mit Sonnenbrillen da, als hät-
ten sie nicht verstanden, dass die Sonne
untergegangen ist.«
Auch über die Vergangenheit, die weit,
weit zurückliegende Vergangenheit lässt
sich so schreiben, als ginge sie uns jetzt
und sofort aufs Allerdringlichste an.
Warum auch sonst sollte man heute zum
Beispiel ein Buch über den Armenpredi-
ger Thomas Müntzer lesen? Der geniale
französische Zeitreisende Éric Vuillard
weiß es. »Der Krieg der Armen« heißt
sein Buch. Es ist nichts anderes als ein
Aufruf zum Aufstand der Armen und
Unterdrückten heute: »Aufgepasst, wo-
möglich hört man das zum ersten Mal:
So wird das Schwert ihnen genommen
werden und wird dem inbrünstigen
Volke gegeben. Wie das klingt, wie gut das
tut!« Vuillard setzt diesen historischen
Müntzer einfach ins Heute hinein, und
auch seinen Stil übernimmt er gleich mit,
denn Müntzer, wie Vuillard ihn porträtiert,
»beschwört eine lebendige Sprache, die
nicht aus den Büchern stammt, sondern
aus dem Herzen«.
Und manche Vergangenheit ist nicht ein-
mal vergangen. Die jüdische niederländi-
sche Autorin Marga Minco ist 100 Jahre
alt. Sie hat den Holocaust überlebt, sie hat
viele Bücher geschrieben, einige davon er-
scheinen in diesen Monaten auf Deutsch.
»Das bittere Kraut« zum Beispiel ist der
einfache, klare, erschütternde Bericht ihres
Überlebens der Nazizeit in den Niederlan-
Derek Shapton / Guardian / eyevine / laif

den, der Deportation ihrer Familie.


Auf Fragen per Mail antwortet Minco
kurz und schnell. Welche Wirkung sie sich
von ihren Büchern erhofft? »Dass man
darüber nachdenkt. Übrigens schreibe
ich keine Bücher, die belehren sollen.«
Was es ihr bedeutet, dass ihre Bücher nun
in Deutschland gelesen werden? »Sehr
Dichterin Atwood: »Wenn Kunst auf einen Nutzen abzielt, ist sie Propaganda« viel. Es verschafft mir eine gewisse Be-
friedigung.«
Auch das kann die Wirkung eines Bu-
Don Winslow: Jonas Eika: Zora del Buono: ches sein: das zum toten Schulbuchstoff
»Broken« »Nach der Sonne« »Die Marschallin« erstarrte Ungeheuerliche erlebbar und
Aus dem Amerikanischen Aus dem Dänischen C. H. Beck; 382 Seiten; lebendig machen. Ebenfalls eine Art von
von Ulrike Wasel, Klaus von Ursel Allenstein. 24 Euro. Aktivismus.
Timmermann, Joannis Hanser Berlin; 160 Seiten; Den besten deutschsprachigen Roman
Stefanidis, Peter Friedrich, 20 Euro. David Grossman: des Herbstes hat die Schweizerin Zora
Kerstin Fricke. HarperCol- »Was Nina wusste« del Buono geschrieben, einen reichen,
lins; 512 Seiten; 22 Euro. Éric Vuillard: Aus dem Hebräischen abenteuerfrohen, lebenswahren Aktivis-
»Der Krieg der Armen« von Anne Birkenhauer. tinnenroman: »Die Marschallin« ist die
Margaret Atwood: Aus dem Französischen Hanser; 352 Seiten; Geschichte ihrer Großmutter, einer poli-
»Die Füchsin« von Nicola Denis. 25 Euro. tischen Kämpferin. Slowenin von Geburt,
Aus dem Englischen von Matthes & Seitz; lebenslange Anhängerin des Marschalls
Ann Cotten, Ulrike 64 Seiten; 16 Euro. Mely Kiyak: Tito, Kommunistin über alle Widerstände
Draesner, Christian Filips, »Frausein« hinweg.
Dagmara Kraus, Elisabeth Marga Minco: Hanser; 128 Seiten; Zora del Buonos Figur der Großmutter
Plessen, Kerstin Preiwuß, »Das bittere Kraut« 18 Euro. ist ganz eng verwandt mit einer anderen
Monika Rinck, Jan Wagner, Aus dem Niederländischen kämpferischen Frau aus diesem Bücher-
Alissa Walser. Berlin von Marlene Müller-Haas. herbst: der jugoslawischen Kommunistin
Verlag; 416 Seiten; 40 Euro. Arco; 96 Seiten; 18 Euro. Vera, die der große israelische Autor David
Grossman in seinem Roman »Was Nina

119
wusste« beschreibt. Sie ist so eng mit ihren
politischen Idealen verbunden, dass sie
sich lieber jahrelang auf Titos Gefangenen-
insel quälen lässt, als ihre Überzeugungen
zu verraten.
Grossman erzählt diese auf wahren
Begebenheiten basierende Geschichte als
einen Roman über die Macht falscher Idea-

Maxim Sarychau / DER SPIEGEL


le. Und wie das kollektive Beschweigen
früher Lebensfehler drei Frauen über drei
Generationen hinweg innerlich vergiftet
und lähmt. Der Autor trennt politischen
Aktivismus streng von seinem literari-
schen Schreiben. Aber die Neugier, der
Oppositionelle Alexijewitsch: »Die Welt büßt ihre Farben ein« Antrieb zum Schreiben, die Sogkraft der
Geschichten, das speist sich aus seinen
politischen Überzeugungen, seinen Zwei-
feln, seinen Fragen. Das ist seine Kunst.
Auch Mely Kiyaks Selbsterkundungs-
Literatur Die Höhepunkte der SPIEGEL-BESTSELLER-Buchwoche buch »Frausein« ist ein politisches Werk,
die machtvolle Icherzählung einer Tochter
kurdischer Einwanderer, die »keine Ali-
Was ist da los? Dichterin« sein will. Und die ihre Wort-
energie aus ihrer ganz eigenen Familien-
geschichte bezieht. Von ihrer Großmutter,
Ab Montag bietet der SPIEGEL auf Spitzentitel – die Büchershow mit die leider nur auf gut einer Buchseite vor-
SPIEGEL.de ein umfangreiches Pro- Volker Weidermann: Amartya Sen, kommt. Dafür aber eindrucksvoll: »Sie
gramm zum Bücherherbst – ein Über- Träger des diesjährigen Friedenspreises konnte außergewöhnlich gut auf Kurdisch
blick über die wichtigsten Ereignisse: des Deutschen Buchhandels. beleidigen« und »ganze Straßenzüge mit
Quiz: Wie gut ist Ihre Allgemeinbil- ihrem Mundwerk vernichten«. Was für
Montag, 12. Oktober dung? Der neue SPIEGEL-Wissenstest. ein schönes, kontroverses, lustiges und
Podcast: Campino im Gespräch mit Fragen zu Politik und Gesellschaft: kampfeslustiges Buch.
Susanne Beyer. Jagoda Marinič. Die Kontroversen unserer Zeit, ge-
Livestream: Marc-Uwe Kling liest druckt und gebunden, damit die Leserin-
aus »Qualityland 2.0«. Freitag, 16. Oktober nen und Leser, die Autorinnen und Auto-
Fragen zu Politik und Gesellschaft: Podcast: Alice Schwarzer im Gespräch ren aufeinander losgehen können: Welt
Annie Ernaux. mit Eva Thöne. verbessern, Argumente tauschen, Bücher
Doris Dörrie schreibt ihr Kapitel unseres lesen und schreiben.
Dienstag, 13. Oktober Buchmesseromans. Diese freie Wahl aber hat nicht jeder.
Podcast: Bas Kast im Gespräch mit Spitzentitel – die Büchershow mit Und so ist eine der wichtigsten Schriftstel-
Nils Minkmar. Volker Weidermann: Cornelia Funke. lerinnen dieses Herbstes eine Frau, von
Daniel Kehlmann schreibt sein Kapitel Quiz: Wie gut ist Ihre Allgemeinbil- der es gar kein neues Buch gibt: die Lite-
unseres Buchmesseromans. dung? Der neue SPIEGEL-Wissenstest. raturnobelpreisträgerin Swetlana Alexije-
Spitzentitel – die Büchershow mit Fragen zu Politik und Gesellschaft: witsch. Sie lebt in Belarus, schon vor Jah-
Volker Weidermann: Gewinnerin oder Pankaj Mishra. ren, als sie gegen ihren Willen schon wie-
Gewinner des Deutschen Buchpreises. der demonstrieren musste, schrieb sie:
Fragen zu Politik und Gesellschaft: Samstag, 17. Oktober »Ich stand mein Leben lang auf den Barri-
Herfried Münkler. Die besten Kinderbücher – Tipps kaden, und ich möchte weg davon.«
von »Dein SPIEGEL«. Die Barrikade sei ein gefährlicher Ort
Mittwoch, 14. Oktober Livestream: Martin Knobbe im für Künstler. Man verderbe sich die Augen,
Podcast: Elke Heidenreich im Gespräch Gespräch mit Markus Gabriel und die Welt büße ihre Farben ein. Sie wolle
mit Claudia Voigt. Karl Lauterbach. lernen, sich am Leben zu freuen. Wieder
Francesca Melandri schreibt ihr Kapitel Bas Kast schreibt sein Kapitel unseres normal zu sehen. »Aber Zigtausende
unseres Buchmesseromans. Buchmesseromans. Menschen gehen erneut auf die Straße.
Spitzentitel – die Büchershow mit Quiz: Wie gut ist Ihre Allgemeinbil- Nehmen sich bei den Händen. Sie tragen
Volker Weidermann: Margaret Atwood. dung? Der neue SPIEGEL-Wissenstest. weiße Bänder an den Jacken. Ein Symbol
Quiz: Wie gut ist Ihre Allgemeinbil- Fragen zu Politik und Gesellschaft: der Wiedergeburt. Des Lichts. Und ich
dung? Der neue SPIEGEL-Wissenstest. Daniel Mendelsohn. gehe mit.«
Fragen zu Politik und Gesellschaft: In diesen Tagen erhob sie wieder ihre
Philippe Lançon. Sonntag, 18. Oktober Stimme, gemeinsam mit so vielen Frauen,
Interview mit Kinderbuchautorin gegen den Diktator Alexander Luka-
Donnerstag, 15. Oktober Kirsten Boie. schenko. Gegen ihren Willen ist sie wieder
Podcast: Linda Zervakis im Gespräch Quiz: Wie gut ist Ihre Allgemeinbil- aktiv. Viele wünschen ihr Erfolg. Und
mit Tobias Becker. dung? Der neue SPIEGEL-Wissenstest. hoffen, dass sie dort oben auf den Barri-
Andrea Petković schreibt ihr Kapitel Fragen zu Politik und Gesellschaft: kaden das Schreiben nicht vergisst.
unseres Buchmesseromans. Paul Theroux. Volker Weidermann

120 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Greta Rybus / DER SPIEGEL

Autor Ford in seinem Bootshaus in Maine: »Diese Fieslinge kamen aus ihren Löchern gekrochen«

122 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Kultur

»Zu viel Höflichkeit erschwert


die Zusammenarbeit«
SPIEGEL-Gespräch Der Schriftsteller Richard Ford trifft seinen Übersetzer
Frank Heibert und unterhält sich mit ihm über die Kunst, aus einem
englischsprachigen Text einen deutschen zu machen, und über Amerikas Desaster.

Ford, 76, sitzt in seinem Bootshaus im US- schen miteinander gemeinsam haben. Da- wunderschönen Rhythmus wahr, dann
Bundesstaat Maine und trägt ein leuchtend rüber hinaus haben Frank und ich schon baue ich einen deutschen Satz, der hof-
blaues Hemd. Er gehört zu den besten und so lange eine sehr gute Arbeitsbeziehung. fentlich auch so klingt. Ich muss entschei-
erfolgreichsten Schriftstellern seines Lan- Seine Fragen führen mich zu meinem eige- den, wie ich das Deutsche dazu bekomme,
des. Am bekanntesten sind seine vier Ro- nen Text zurück, aber auch etwas näher im Kopf des Lesers gleichwertig zu funk-
mane über das Leben des amerikanischen ans Deutsche heran. Mir wird dadurch klar, tionieren.
Jedermann Frank Bascombe – vielfach wie komplex es ist, meine Bücher in eine SPIEGEL: Interessiert es Sie als Schrift-
preisgekrönt. Zu Fords Werk zählen auch andere Sprache und in eine andere Kultur steller, Mr Ford, was im Kopf Ihrer Leser
Kurzgeschichtenbände und eine autobio- zu vermitteln. Frank geht dabei klug vor. geschieht?
grafische Erzählung über seine Eltern. Seit Aus all diesen Gründen schätze ich ihn. Ford: Beim Schreiben habe ich das Ziel,
fast 20 Jahren übersetzt Frank Heibert, 59, SPIEGEL: Gerade ist Ihr neuer Erzählungs- dass mein Verständnis von einem Satz so
diese Bücher ins Deutsche. Er spricht vier band »Irische Passagiere« auf Deutsch er- weit wie möglich übereinstimmt mit der
Sprachen und ist die deutsche Stimme schienen*. Was bedeutet es für Sie, ein fer- Erfahrung, die er bei den Lesern auslöst.
einiger herausragender Schriftsteller. Doch tiges Manuskript an den Übersetzer zu Könnte ich meinen Text direkt in ihr Ge-
kaum ein Leser macht sich groß Gedanken übergeben? hirn einspeisen, wäre das der perfekte
über das, was Heibert tut. Ford hatte ihn Ford: Es ist eine Art Verzicht. Nachdem Roman. Ich hoffe, dass Frank dieses Ziel
im Frühjahr nach Washington, D. C., ein- ich vier Jahre damit verbracht habe, jedem ebenfalls erreichen will.
geladen. Er wollte mit ihm ein öffentliches Wort darin genau das richtige Gewicht auf SPIEGEL: Letztlich müssen Sie Frank Hei-
Gespräch zum Thema Übersetzung führen genau die richtige Weise zu verleihen, bert blind vertrauen.
im Rahmen des renommierten Library of übergebe ich Frank das Buch, und was ich Ford: Ich gehe einfach davon aus, dass er
Congress Price, mit dem Ford ausgezeich- geschrieben habe, wird durch ihn ein an- sein Bestes gibt. Ist das das Gleiche wie
net worden war. Die Pandemie machte das deres Idiom übertragen, mit seinem ande- Vertrauen?
unmöglich. Nun sitzt Heibert Mitte Septem- ren Rhythmus, seinem anderen Humor. SPIEGEL: Herr Heibert, Sie suchen sich
ber in der Hamburger SPIEGEL-Redaktion, Letztlich sind Übersetzer auch Roman- bei jedem Autor ein Bild, haben Sie mal
Ford ist via Zoom zugeschaltet und be- autoren. Der einzige Unterschied liegt in gesagt, das die Haltung beschreibt, mit der
merkt, dass Heiberts Hemd fast das gleiche dem, wovon wir ausgehen: Frank beginnt er zu seinen Lesern spricht. Welches Bild
Blau habe wie sein eigenes. mit meinem Buch. Ich beginne mit einer haben Sie für Richard Ford im Kopf?
Menge Rohmaterial und einer Vorstellung Heibert: Ich versuche oft, mir vorzustellen,
SPIEGEL: Mr Ford, sprechen Sie Deutsch? in meinem Kopf. wo genau sich der Erzähler, die Erzählerin
Ford: Nein. Vor vielen Jahren, als Stipen- Heibert: Ich schreibe einen Roman, von eines Textes befindet: In einem Schaukel-
diat in Berlin, wurde mir großzügig ein dem Richard bis auf die Eigennamen kein stuhl, und die Geschichte wird der großen
Deutschkurs angeboten. Doch es stellte einziges Wort so geschrieben hat. Aber Familie erzählt? Oder klingt die Erzählung
sich heraus, dass Deutsch für mich zu der komplette Inhalt, der Ton und der Stil so, als hätte ich eine Stimme im Ohr, die
logisch ist, dass es nicht zu meiner Denk- der sprachlichen Gestaltung sind von ihm. nur zu mir spricht? Das sind nur zwei Bei-
weise passt. Ich schreibe den deutschen Roman voll- spiele für das, wonach ich beim Überset-
SPIEGEL: Sie können die Übersetzung Ih- kommen im Dienst des seinigen. zen suche, damit ich mich in dieselbe Hal-
rer Romane und Erzählungen von Frank SPIEGEL: Wie gehen Sie dabei vor? tung hineinbegeben kann. Dadurch wer-
Heibert nicht lesen und halten sie trotz- Heibert: Als Erstes muss ich meine eige- den die Entscheidungen, welches Wort
dem für besonders gut. Warum? nen Reaktionen als Leser wahrnehmen. eher stimmt, wie ein Satz am besten sitzt,
Ford: Die Übersetzung meiner Bücher ist Wenn ich bei der Lektüre des Originals la- einfacher und klarer. Natürlich gibt es
für mich meine eigentliche Legitimation che, mache ich die Übersetzung an dersel- nicht für jeden Autor ein festes Bild, das
als Schriftsteller. Das bedeutet mir mehr, ben Stelle lustig. Oder ich nehme einen kann sich mit jedem neuen Buch oder so-
als in den USA veröffentlicht zu werden. gar innerhalb eines Buches ändern. Bei Ri-
Nur durch eine Übersetzung lassen sich chards Buch »Zwischen ihnen«, der Ge-
einige der grundlegendsten Ambitionen »Wo befindet sich der schichte seiner Eltern, erschien mir die Er-
eines Romans verwirklichen: zum Beispiel zählung sehr persönlich, für mich las sich
den Lesern zu zeigen, wie viel wir Men-
Erzähler? In einem Schau- das so, als wäre die Haltung nicht auf uns,
kelstuhl? Oder ist er eine die Leser, gerichtet, sondern mehr nach
* Richard Ford: »Irische Passagiere«. Aus dem Eng-
innen. Ein Gegenbeispiel ist seine Figur
lischen von Frank Heibert. Hanser Berlin; 288 Seiten; Stimme in meinem Ohr?« Frank Bascombe, der sagt einem fast im-
22 Euro.
Das Gespräch führte die Redakteurin Claudia Voigt. Frank Heibert mer alles sehr direkt ins Gesicht.

123
Ford: Ich stelle mir nie die Erzählsituation wollten. Während ich das schrieb, fürch-
zwischen meinen Lesern und mir vor. Ich tete ich, jetzt könnten sie sich dazu ver-
bin da viel elementarer: Dies ist ein Ro- pflichtet fühlen. Deswegen fügte ich am
man. Bitte lest, was drinsteht. Ich muss die Ende unverblümt hinzu: Wisst ihr was,
Begegnung mit dem Publikum nicht im kommt, oder lasst es bleiben, wie ihr wollt.
Geist inszenieren. Ich muss die Erzählung Also ich hoffe einfach, dass die Zusammen-
nur überzeugend gestalten. arbeit mit Frank immer absolut offen ver-
Heibert: Ja, klar, du brauchst das nicht. läuft, ohne übertriebene Artigkeiten.
Aber wir Übersetzer müssen uns manch- SPIEGEL: Sie müssen dem Autor während
mal mehr Fragen stellen, mehr heraus- der Arbeit ja förmlich in den Kopf krie-
finden als die Autoren oder Autorinnen. chen, Herr Heibert. Nervt es sie manch-
Wir müssen euren Geheimnissen schließ- mal, wie präsent ein Schriftsteller während
lich einen Sinn geben. der Arbeit am Text in Ihrem Leben ist?
Ford: Das ist typisch Frank, er hakt immer Heibert: Nein, überhaupt nicht. Zunächst
nach. Er zwingt mich, über Dinge, die ich weil ich auf dem Privileg bestehe, nur Bü-
geschrieben habe, erneut nachzudenken. cher zu übersetzen, die mich überzeugen
Oft wird mir durch seine Fragen bewusst, und die mir liegen. Ich darf mit jedem neu-
was ich, ohne es zu merken, alles in mei- en Buch ein anderes Leben leben. Groß-

Steffen Jänicke / DER SPIEGEL


nem Text vergraben habe. artig. Als ich »Die Lage des Landes« von
Heibert: Hier muss ich etwas hinzufügen, Richard Ford übersetzte, änderte sich mein
damit keine Missverständnisse entstehen. Kommunikationsstil im Deutschen, meine
Wenn ich die verborgenen Motive oder E-Mails und Briefe. Wir Übersetzer müs-
den Hintergrund eines Textes verstehen sen diese papageienhafte Seite haben, um
will, brauche ich dieses Verständnis für die Stimme von jemand anderem werden
meine Übersetzungsentscheidungen. Aber Übersetzer Heibert zu können. Ich liebe das.
wenn etwas im Subtext versteckt ist, dann »Geheimnissen Sinn geben« SPIEGEL: Richard Fords Texte sind ja
bleibt es natürlich dort, ich mache es in durchaus anspruchsvoll, voller Gegensät-
der Übersetzung nicht expliziter. Ford: … das meint Frank hier. Bevor ich ze, die Syntax ist oft verschlungen, und
SPIEGEL: Ist es für Ihre Arbeit wichtiger, mich auf der Universität mit irgendeiner zugleich ist der Ton direkt. Ist Ford beson-
die Sprache, aus der Sie übersetzen, mög- Fremdsprache beschäftigt hatte, las ich ders schwierig zu übersetzen?
lichst perfekt zu beherrschen, oder ist ein Tschechow auf Englisch, und ich glaubte Ford: Da bin ich jetzt gespannt …
großer deutscher Wortschatz hilfreicher? damals, Tschechow wäre Amerikaner. Na Heibert: Richard macht seine Figuren sehr
Heibert: Man sollte natürlich Bescheid ja, nicht wirklich, aber es fühlte sich beim präsent und nachvollziehbar durch ihre
wissen, wie eine Sprache funktioniert, und Lesen der englischen Version so an. Ich Sprech- und Denkweise, ihre Gefühle. Na-
sich in deren Literatur auskennen. Es gibt würde sagen, das ist das Ziel einer guten türlich ist das menschliche Innenleben
immer Lücken, die sich aber durch Recher- Übersetzung. immer vielschichtig. Richard hat auch eine
che und Nachfragen füllen lassen. Ich brau- SPIEGEL: Wird eine Übersetzung besser, sehr typische Art, die inneren Bögen der
che einen Instinkt für diese Sprache, der wenn Schriftsteller und Übersetzer be- Gedanken und Gefühle zu inszenieren. Wie
mir sagt, wo ich nachfragen muss. Und na- freundet sind? entwickelt sich ein Gedankengang? Wo gibt
türlich brauche ich ebenso einen reichhal- Heibert: Na klar, es erleichtert die Verstän- es Abzweigungen, Kommentare, Umwege?
tigen Wortschatz im Deutschen, damit ich digung. Aber ich weiß schon aus den Bü- Wo sagt eine Figur, okay, das denke ich,
viel Auswahl habe bei der Suche nach den chern eines Autors, wie er auf die Welt aber Moment, da muss ich noch was ein-
Lösungen, die auf Deutsch funktionieren. schaut oder wie eine Autorin tickt. Dafür schieben, erst dann stimmt es. Dadurch wer-
Es gibt aber noch etwas Drittes, das banal brauche ich nicht zu wissen, was er am den die Sätze manchmal so komplex, dass
klingt, aber das Wichtigste ist: Man muss liebsten trinkt oder ob die Ehe gut läuft. Richard sie in der Mitte stoppt, kurz durch-
übersetzen können. Literatur übersetzen Freundschaft und persönliche Nähe sind atmen lässt und mit einem pragmatischen,
ist eine Kunstform, für die es Begabung keine Hindernisse, sie sind aber nicht wirk- einfachen Schluss beendet. Und das kann
braucht – Millionen Menschen sprechen lich wichtig. Der Text zählt. tatsächlich höllisch zu übersetzen sein.
zwei Sprachen fließend, würden und soll- Ford: Je größer die persönliche Nähe zwi- SPIEGEL: Stimmen Sie dem zu, Mr Ford?
ten aber nie zwischen ihnen übersetzen. schen Autor und Übersetzer, desto größer Ford: Ja, ich habe da ein Prinzip, das sich
Man muss den Transformationsprozess, das Risiko, dass es auch mal schwierig an einem Zitat des Künstlers John Ruskin
der im Gehirn stattfindet, verstehen und wird. Zu viel Höflichkeit erschwert die Zu- orientiert. Er sagt, Komposition sei das Ar-
erfühlen. sammenarbeit. Neulich hatten wir Besuch rangieren ungleicher Dinge. Wenn ich Sät-
SPIEGEL: Erfühlen? von Freunden. Einer der beiden Herren ze baue, transkribiere ich nicht, was mir
Heibert: Es geht darum, dass ich die ver- wurde krank, und sie fuhren ein paar Tage durch den Kopf krabbelt. Ich nehme dis-
schiedenen Bedeutungsebenen und die weg – keine Sorge, ich komme gleich zu- parate Elemente, ungleiche oder unähnli-
sinnliche Seite des Originaltextes erfasse. rück zum Thema. Ich schrieb ihnen eine che Dinge, und zwinge sie in eine hoffent-
Eine Zeit lang befinden sie sich in einer Mail mit der Frage, ob sie wiederkommen lich sinnvolle Aussage. Deshalb sind meine
Art Zwischenphase in meinem Gehirn: Sätze oft komplex, und nicht alles scheint
nicht mehr Englisch, aber noch nicht sofort zusammenzupassen. Das versuche
Deutsch. Für mein Neuschreiben auf »Sind Sie bereit für das, ich, plausibel zu machen, weil es schließ-
Deutsch orientiere ich mich an dieser Zwi- lich im Leben und im Denken genauso ist.
schenform, nicht direkt am Original. was jetzt kommt? Ich SPIEGEL: Eine Erzählung in Ihrem neuen
Ford: Es gibt da den Begriff von der »Ani- wollte einfach das Wort Buch trägt den Titel »Aufbruch nach Ke-
ma« des Textes … nosha«. Ende August wurde der Afroame-
SPIEGEL: … was sich mit »Seele« überset- in meinem Buch haben.« rikaner Jacob Blake in Kenosha von Poli-
zen lässt … Richard Ford zisten angeschossen und schwer verletzt,

124 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Kultur

es gab heftige Proteste. Der Name dieser ist. Die meisten Amerikaner beschäftigen
Stadt war daraufhin weltweit in den Nach- sich nicht gern mit der Regierung in
richten. Was hat Sie bewogen – lange vor Washington. Sie nehmen ihr Land als
diesen Ereignissen –, Kenosha als literari- Selbstverständlichkeit. Sie sehen nicht, dass
schen Schauplatz zu wählen? die Union nicht nur geschwächt, sondern
Ford: Sind Sie bereit für die Antwort, die tatsächlich zerstört werden kann – von die-
jetzt kommt? Ich wollte einfach das Wort sem einen Mann und von ihrer eigenen
Kenosha in meinem Buch haben. Es hat Gleichgültigkeit, die ihnen nicht bewusst
so einen tollen Klang. Und es fängt mit K ist. Das ist ein ähnlicher Reflex wie bei den
an, da gibt’s im Englischen nicht so viele. Menschenmassen, die ohne Masken dicht
Wörter werden oft nach dem Klang ausge- bei dicht am Strand liegen. Sie glauben, sie
sucht, nicht notwendigerweise nach der hätten einen Anspruch darauf und müssten
Bedeutung. Nach den Schüssen auf Jacob sich keine Sorgen machen. Sie glauben, sie
Blake dachte ich, was für ein schlimmer würden nicht sterben. Ihnen fehlt die Ein-
Zufall. Andererseits: Ich versuche, dem sicht in die Endlichkeit aller Dinge.
Leben in den USA regelmäßig den Puls zu SPIEGEL: Hat es Auswirkungen auf Ihre
nehmen. Deshalb kann es schon mal pas- Arbeit, Herr Heibert, wenn ein Land sol-
sieren, dass manches, was ich schreibe, vo- che politischen und gesellschaftlichen Ver-
rausschauend klingt oder mit tatsächlichen werfungen erlebt wie die USA?
Ereignissen in Verbindung steht. Wie heißt Heibert: Irgendwie schon. Ich kenne die
es: So was kann man doch gar nicht erfin- USA seit den frühen Achtzigern. Ich bin
den … Da ist was dran. regelmäßig dort, habe viele Freunde, dazu
SPIEGEL: Die Schüsse auf Jacob Blake wa- meine Autoren. Eine Situation wie jetzt
ren nur einer von mehreren gewalttätigen macht mir als Allererstes weniger Lust,
Übergriffen der Polizei gegen Schwarze in dort zu sein.
Nächste Woche
den USA im Laufe des Sommers. Aus eu- Ford: Geht mir auch so. im SPIEGEL:
ropäischer Sicht hat man den Eindruck, Heibert: Alles ist aufgeregter, angespann-
die Situation ist aufgeladener als während ter. Ich achte genauer darauf, mit wem ich
der vergangenen Jahrzehnte. rede, wen ich treffe, und überlege, wo die-
Ford: Um das beurteilen zu können, muss se Person steht. Manchmal treffe ich Leute,
man hier leben, tut mir leid. Oft liefert der
Außenblick auf die USA klare Erkenntnis-
se; in diesem Fall glaube ich das aber nicht.
mit denen ich politisch nicht übereinstim-
me, aber menschlich und sozial gehören
sie trotzdem zu den Guten. Wir dürfen
S-Magazin
Ich bin in der Apartheid der Südstaaten nicht verlernen, so etwas zu erkennen. Das Stilmagazin
aufgewachsen, ich hatte keine afroameri- Ford: Sehr richtig. Und wichtig.
kanischen Klassenkameraden, keine afro- SPIEGEL: Könnte es angesichts der poli- vom SPIEGEL
amerikanische Freundin, ich habe noch tischen Entwicklungen nicht doch noch
nicht mal mit afroamerikanischen Gleich- einen neuen Frank-Bascombe-Roman ge-
altrigen Sport gemacht. Heute sieht das Le- ben – einen, der zur Zeit von Trumps Prä-
ben ganz anders aus. Ein weißer Junge in sidentschaft spielt?
Mississippi hat afroamerikanische Kinder Ford: Ich hoffe, bis der nächste Frank-Bas-
in seiner Klasse, kann eine afroamerikani- combe-Roman fertig wird, ist Trump ein Themen der Ausgabe:
sche Freundin haben und sie heiraten. Was elendes Stück Vergangenheit. Jetzt liegt
nicht heißen soll, dass es keinen Rassismus ungefähr die erste Hälfte davon auf mei- Digitale Mode
mehr im Süden gäbe. Er ist sichtbarer ge- nem Schreibtisch, 250 Seiten. Ich habe die Computergenerierte
worden und wird nicht mehr so schweigend Pandemie zum Schreiben genutzt.
hingenommen. Nachdem es jahrelang Fort- SPIEGEL: Sie haben 2016 in einem Inter- Models, virtuelle Kleidung:
schritte gegeben hat, treten die rechtsradi- view gesagt: »Ich glaube nicht, dass ein So erfindet sich die
kalen Rassisten dank Präsident Trump jetzt Irrer zum Präsidenten der USA gewählt Fashion-Branche neu
wieder viel schamloser in Erscheinung. wird.« Halten Sie es für möglich, dass er
Auch Obamas Präsidentschaft hat dafür wiedergewählt wird?
gesorgt, dass diese Fieslinge aus ihren Lö- Ford: Ja. Meinen Irrtum von 2016 kann Cottagecore
chern gekrochen kamen. Aber ich glaube ich nicht ungeschehen machen. Heute wür- Rückzug aufs Land –
nicht, dass der Vergleich zwischen dem de nur ein Narr behaupten, er könne nicht Drei Aussteiger erzählen
heutigen Ausmaß der Rassismusprobleme wiedergewählt werden. Aber ich hoffe
und früheren Zuständen viel bringt. Wir dringlichst, dass das nicht passiert. Es hat vom Glück des Einfachen
sollten lieber sehr genau darauf schauen sich als Katastrophe erwiesen, dass ein Ge-
und durchschauen, was vor uns liegt. schäftsmann regiert, denn der behandelt
SPIEGEL: Als 76-jähriger Amerikaner … seine Wähler wie Firmenpersonal. Dabei
Ford: Autsch, so alt bin ich? sollte eine Regierung ihre Bürger als Men-
SPIEGEL: Sie sind auch ein Chronist der schen mit Rechten betrachten, denen sie
amerikanischen Geschichte. Wie beurtei- dient, statt sie zu Opfern zu machen. Er Außerdem:
len Sie die Lage des Landes? ist ruinös für unser Land und nicht nur das, Bildnachweise: Kai Bublitz

Ford: Die Lage ist finster. Und Sie haben für die ganze Welt.
Das gezeichnete Interview
recht, mein Alter ins Spiel zu bringen, denn SPIEGEL: Mr Ford, Herr Heibert, wir dan- mit Paul Schrader
ich habe große Angst, dass den jüngeren ken Ihnen für dieses Gespräch.
Menschen in den USA diese Lage nicht klar

125
chen Teilnehmern: von den Autoren über
die Verlage und Buchhändler bis zum
Buchkäufer. Zum anderen die literarische
Kultur als komplexe und historisch ge-
wachsene Textur aus Wissenschaft, Kunst,
Literatur und Kritik.
Als ich in den Neunzigerjahren die
Buchbranche und die Buchmesse kennen-
lernte, wimmelte es noch von Lektoren,
Kritikern und Schriftstellern, die hochmü-

Marc Jacquemin / Frankfurter Buchmesse


tig, bisweilen sogar spöttisch darauf hinab-
sahen, wie die Verlagskollegen sich bemüh-
ten, die von ihnen redigierten, gelobten
oder geschriebenen Bücher unter die Leu-
te zu bringen. Nicht selten reichte der
Spott bis hin zu den Lesern, für die die
Bücher ja gedacht waren. Das Ökonomi-
Besucher auf der Frankfurter Buchmesse 2012 sche am Buchhandel war ihnen höchst
suspekt, die Buchmesse ein Ort des Kul-
turverfalls und der Entfremdung. Sie fan-
den es schick, am Messestand rauchend

Wir müssen besser werden den Kontakt zu andern Menschen zu ver-


meiden, bis sie endlich zurück ins Studier-
zimmer huschen durften.
Verlage Was die verzwergte Frankfurter Buchmesse für die Zukunft Mittlerweile weht der Wind aus einer an-
deren Richtung. Von so mancher Chefetage
des Literaturbetriebs bedeutet. Von Tom Kraushaar aus betrachtet, scheint die Messe gefährli-
cher oder zumindest unnützer Luxus, den

A ls meiner Tochter im März schon


nach ein paar Tagen Schulschlie-
ßung und Kontaktbeschränkungen
langweilig wurde, riefen wir in der Kinder-
rin die außerordentliche Bedeutung der
Buchmesse überhaupt liegt. Die Aussicht,
diesmal nicht teilzunehmen, war zu ver-
lockend. Gerade für all die Verlage, die
man sich angesichts der ach so desaströsen
Lage der Branche nicht mehr leisten könne.
Man sorgt sich, dass der unterjährig müh-
sam zu ökonomischer Vernunft gebrachte
buchhandlung Naseweis an. Der Laden sich bemühen, den wirtschaftlichen Scha- Mitarbeiter von teuflischen Literaturagen-
war geschlossen, aber nach einem Telefo- den durch Corona im Rahmen zu halten. ten in Versuchung geführt wird, die ihm
nat packte die Inhaberin das empfohlene Der ökonomische Wert der Messe ist für nächtens an der Hotelbar Angebote für us-
Buch und ein Hanuta in eine Plastiktüte sie schließlich nicht wirklich zu ermitteln. bekische Lyrikanthologien entlocken.
und fuhr quer durch die Stadt. Kurz darauf Die Kosten aber sind immens. Beide Messemuffelarchetypen verkör-
baumelte das Paket an unserer Türklinke. Wenn in normalen Jahren Mitte Okto- pern die Urängste des Literaturbetriebs:
Nicht nur in Stuttgart, in ganz Deutschland ber aus allen Teilen der Welt die Bücher- die Angst vor dem Verfall der Kultur und
suchten die Buchhändlerinnen und Buch- menschen nach Frankfurt strömen, reiben die Angst vor dem Verfall der Gewinnspan-
händler auf derartige Art und Weise nach sie sich nicht selten neidisch die Augen ne. Das Gravitationsfeld, das die Bücher-
neuen Lösungen für neue Probleme; mit angesichts der Vielfalt deutschsprachiger welt trotz ihrer Fliehkräfte zusammenhält,
guten Ideen, Selbstausbeutung und Pack- Feuilletons, der Lesungen und der Stabi- bilden Buchhändlerinnen und Buchhänd-
stationen in verwaisten Ladenlokalen lität unseres Buchmarkts. Bücher bestim- ler wie die in Stuttgart, deren Anspruch es
stemmten sie sich der Krise entgegen. men die Diskurse, Bücher legen Missstän- ist, ihre unternehmerische Freiheit dafür
Nicht aber die Verlage. Die ersten Co- de offen, sie erzeugen gesellschaftliche zu nutzen, den Menschen nicht nur Bücher,
rona-Verordnungen waren kaum draußen, Bewegungen und lösen Regierungskrisen sondern Bücher, die sie für wichtig und le-
da wussten zahlreiche Verlage bereits, wie aus. Und nicht zuletzt stiften die Geschich- senswert halten, zu verkaufen. Außerdem
sie zur Frankfurter Buchmesse stehen – ob- ten, die in Büchern erzählt werden, Ge- Verlegerinnen und Verleger, die unterneh-
wohl der Oktober noch ziemlich weit weg meinschaft und Individualität. Dass Ver- merische Verantwortung tragen, ohne ver-
war. Um zu verhindern, dass im Herbst ein lage sich für die Messe engagieren und gessen zu haben, dass sie als leidenschaft-
Superspreader-Event stattfinde, könne es beachtliche Kosten tragen, ist auch ein liche Leserinnen und Leser und aus Liebe
nur eine einzige Lösung geben: absagen. feierlicher Akt der Solidarität – und eine zur Literatur in die Buchbranche gekom-
Das sei schade, aber auch kein Weltunter- gemeinschaftliche Machtdemonstration men sind. Und schließlich eine unabhän-
gang und immerhin eine saubere Lösung. für das Buch. gige Literatur- und Buchkritik, die sich
Die Salzburger Festspiele, die In seiner mehr als 500 Jahre selbst ernst nimmt. So ernst, dass sie ihren
Filmfestspiele von Venedig, Thea- langen Geschichte hat das ge- Platz im öffentlichen Diskurs – auch den
ter und Literaturhäuser haben druckte Buch letztlich jeder Kri- Sendeplatz – genauso stolz verteidigt wie
Wege gefunden, mit der Situation se getrotzt. Dabei wird die Welt die eigenen intellektuellen Ansprüche.
umzugehen. Die Absage der Mes- der Bücher seit der Erfindung Es ist augenfällig, dass die Polarisie-
se in ihrer bisherigen Form war der beweglichen Lettern von rungsbewegungen der Buchbranche den
rückblickend richtig. Aber wa- Fliehkräften in Bewegung gehal- Dynamiken der deutschen Gesellschaft
Andreas Pein / laif

rum haben wir uns nicht mehr ten, die sich zwischen zwei ent- ähneln. Auch dort wird ein moralisch und
Mühe bei der Suche nach ande- gegengesetzten Polen entfalten. ökonomisch vergleichsweise solides Gebil-
ren Lösungen gegeben? Zum einen ist da der Buchmarkt, de von Untergangsängsten (Abendland,
Offensichtlich hatten allzu we- ein ökonomisches System aus Bruttosozialprodukt, Meinungsfreiheit …)
nige eine Vorstellung davon, wo- Kraushaar weitgehend privatwirtschaftli- auseinandergetrieben. Die Frage, wie wir

126 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Kultur

die Welt der Bücher zusammenhalten kön-


nen, ist eng mit der Frage verzahnt, wie
wir uns eine offene, demokratische Gesell- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
schaft erhalten. nähere Informationen finden Sie online unter: spiegel.de/bestseller
Wer beim Betreten der gewölbten Mes-
sehalle drei das Gefühl hat, in eine ge- Belletristik Sachbuch
schlossene Echokammer einzudringen,
den trügt der Schein. Das Gegenteil ist der 1 (–) Volker Klüpfel / Michael Kobr 1 (1) Mary L. Trump
Fall. Wir gehen auf Tuchfühlung, auch mit Funkenmord Ullstein; 22,99 Euro Zu viel und nie genug Heyne; 22 Euro
dem, was uns nicht immer passt oder nahe
ist. Begegnungen, nicht selten zufällige 2 (1) Ken Follett Kingsbridge. Der Morgen 2 (4) Hamed Abdel-Samad
Kollisionen, finden statt, Funken springen einer neuen Zeit Lübbe; 36 Euro Aus Liebe zu Deutschland dtv; 20 Euro

über, Haltungen werden gezeigt und ge- 3 (2) Manfred Lütz Neue Irre. Wir behandeln
3 (2) Joachim Meyerhoff
raten ins Wanken. Die gesellschaftliche Hamster im hinteren Stromgebiet die Falschen Kösel; 20 Euro
Vielstimmigkeit bildet sich ab, Erkenntnis Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
stiftende Kontraste treten hervor. Da dies 4 (3) Jan Böhmermann Gefolgt von
niemandem, dem du folgst
von Angesicht zu Angesicht geschieht, 4 (8) Elke Heidenreich Männer Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
bilden Ereignisse wie die Messe ein Regu- in Kamelhaarmänteln
lativ zum alltäglich gewordenen Selbst- Hanser; 22 Euro 5 (7) Richard David Precht
einschluss in digitalen Stammesgemein- Künstliche Intelligenz und
schaften. Es ist auch insofern eine traurige Machen Kleider wirklich
der Sinn des Lebens Goldmann; 20 Euro

Pointe, dass sich die Messe in diesem Jahr Leute? Die Schriftstellerin
und Moderatorin erklärt 6 (8) Ferdinand von Schirach /
aus der Not heraus nahezu vollständig in in Kurzgeschichten, warum Alexander Kluge
den digitalen Raum einschließt. es nicht Jacke wie Hose Trotzdem Luchterhand; 8 Euro
Immer wieder werden gesellschaftliche ist, was man anzieht.
7 (14) Bas Kast Der Ernährungskompass
Konflikte offen ausgetragen. Als etwa im
5 (4) Thomas Hettche C. Bertelsmann; 20 Euro
Jahr 2017 das Buch »Mit Rechten reden«
erschien, in dem unter anderem die Dis- Herzfaden Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
8 (5) Philippa Perry Das Buch,
kursstrategien der neuen Rechten analy- von dem du dir wünschst, deine Eltern
6 (7) Ferdinand von Schirach hätten es gelesen Ullstein; 19,99 Euro
siert wurden, präsentierte ein rechter Gott Luchterhand; 18 Euro
Kleinverlag eine Art Gegenbuch. Bei der 9 (6) Marianne Koch Unser erstaunliches
Präsentation am Messesamstag kam es zur 7 (5) Delia Owens Der Gesang Immunsystem
Eskalation: Vertreter der Antifa und der der Flusskrebse Hanserblau; 22 Euro dtv; 20 Euro
Identitären Bewegung brüllten sich gegen-
seitig »Nazis raus« in die erhitzten Gesich- 8 (3) Robert Seethaler Pünktlich zur nassen und
Der letzte Satz Hanser Berlin; 19 Euro kalten Jahreszeit: Die
ter. Was sich damals wie das klägliche Medizinerin, Moderatorin
Scheitern politischer Streitkultur anfühlte, und frühere Schau-
9 (6) Carmen Korn spielerin erklärt das Wun-
war aus heutiger Sicht der Beginn eines Und die Welt war jung Kindler; 22 Euro der der Körperabwehr.
öffentlichen Bewusstseinsprozesses. Wenn
der Eklat sich nicht wiederholte, dann hat 10 (9) Elena Ferrante Das lügenhafte Leben 10 (11) John Strelecky
das auch damit zu tun, dass man nach und der Erwachsenen Suhrkamp; 24 Euro Was ich gelernt habe dtv; 18 Euro
nach lernte, gelassener mit den Störmanö-
11 (–) Sebastian Fitzek (Hg.) 11 (9) Maja Göpel Unsere Welt
vern und Mobilisierungstricks der rechten Identität 1142 Droemer; 20 Euro neu denken Ullstein; 17,99 Euro
Provokateure umzugehen.
So ist die Messe Marktplatz und Schau- 12 (10) Jan Weiler 12 (13) Thilo Sarrazin Der Staat
platz des öffentlichen Disputs, Teil einer Die Ältern Piper; 15 Euro an seinen Grenzen LMV; 26 Euro

politischen Öffentlichkeit, die zu den 13 (–) Dietrich Grönemeyer Naturmedizin


Voraussetzungen des freiheitlich demokra- 13 (11) Bernhard Schlink
Abschiedsfarben Diogenes; 24 Euro
und Schulmedizin! S. Fischer; 24 Euro
tischen Staates gehört, die dieser bekannt-
lich selbst nicht garantieren kann. Die Kri- 14 (–) Matthias Horx
14 (17) Peter Prange Winter der Hoffnung Die Zukunft nach Corona Econ; 15 Euro
sen unserer Zeit – auch die Coronakrise – Fischer Scherz; 20 Euro
erfordern es aber, unseren Teil zur Stär- 15 (–) Jessica von Bredow-Werndl
kung der Demokratie beizutragen. 15 (–) Håkan Nesser Barbarotti und der Das Glück der Erde Knaur; 22 Euro
2021 müssen wir es besser machen als schwermütige Busfahrer btb; 22 Euro
16 (18) Michelle Obama
in diesem Jahr. Die Branche, aber eben
16 (14) Jo Nesbø Becoming Goldmann; 26 Euro
auch die politischen Institutionen sollten
Ihr Königreich Ullstein; 24,99 Euro
sich jetzt vor Augen führen, wie bedeu- 17 (10) Otto Kernberg / Manfred Lütz
tend diese Veranstaltung in internationa- 17 (15) Christopher Paolini Infinitum. Was hilft Psychotherapie,
len Dimensionen ist, für die Gesellschaft, Die Ewigkeit der Sterne Knaur; 24 Euro Herr Kernberg? Herder; 20 Euro

für die Kultur, für die Buchbranche und 18 (12) Clemens G. Arvay
somit für jeden Verlag und für die auf- 18 (–) Stephenie Meyer Biss zur Wir können es besser Quadriga; 20 Euro
opferungsvolle Buchhändlerin, ihren Kin- Mitternachtssonne Carlsen; 28 Euro

derbuchladen und ihre kleinen Kunden. 19 (17) Kübra Gümüsay


19 (–) Andreas Eschbach Sprache und Sein Hanser Berlin; 18 Euro
Eines Menschen Flügel Lübbe; 26 Euro
Kraushaar, Jahrgang 1975, leitet den Klett- 20 (–) Florian Langenscheidt / André Schulz
Cotta-Verlag in Stuttgart. 20 (20) Ursula Poznanski Alt genug, um glücklich zu sein
Cryptos Loewe; 19,95 Euro Heyne; 20 Euro

127
Kultur

die Hausnummer. Womit er nicht gerech-


net hatte, war der durchschlagende Erfolg.
Bis heute haben sich die Rico-Oskar-Bände
ungefähr zwei Millionen Mal verkauft.
Und er hatte, das ist allerdings verwunder-
lich, die Pfiffigkeit seiner Fans unterschätzt.
Dass die Jungs und Mädchen in seinen
Büchern trotz einiger Handicaps – zu auf-
müpfig, zu viel allein gelassen, zu klug
oder zu chaotisch im Kopf – an ihren Vor-
stellungen festhalten, macht ihren eigen-
sinnigen Charme aus. Steinhöfels Fans
sind genauso auf Zack, viele haben einfach
alle Klingelschilder am Ende der Dieffen-
bachstraße durchgeguckt. Und Steinhöfel
hat nur gelacht, am meisten über sich

Steffen Jänicke / DER SPIEGEL


selbst, wenn es morgens um acht bei ihm
klingelte, ein einzelner Junge mutig in den
fünften Stock hochschlich, um von dort
zu der Horde, die an der Haustür wartete,
Autor Steinhöfel runterzurufen: »Hier ist er, ich habe ihn.«
Für das Treffen in der Dieffe hat Stein-
höfel ein Café vorgeschlagen, es ist ein
schöner Oktobertag, die Straße liegt so da,
Der aus dem fünften Stock wie er sie mal beschrieben hat: »Sonnen-
licht flitzte über Millionen von Blättern
und trieb winzige Schatten über die Geh-
Kinderbücher Andreas Steinhöfel hat mit Rico und Oskar zwei steige. Es wimmelte geradezu von Leuten,
Helden erschaffen, die von Millionen Lesern geliebt werden. viele saßen draußen vor den Kneipen und
Restaurants, und aus den geöffneten Fens-
Jetzt erscheint der neue Band über die beiden ungleichen Freunde. tern in den Häusern plumpste Musik run-
ter auf die Gehsteige.«

D ie Mail, die der Autor Andreas


Steinhöfel schickt, um die Verabre-
dung abzustimmen, trägt die Be-
treffzeile: »Treffen in der Dieffe«. Das
benfiguren und ein Querschnitt durchs
Kreuzberger Milieu.
In der Realität existiert die Nummer 93
nicht. Als Steinhöfel 2008 den ersten Band
Steinhöfel kommt von einer Veranstal-
tung im Literaturhaus, er hat Kindern aus
500 Schulen in ganz Deutschland im Live-
stream sein neues Buch mit dem Titel »Rico,
klingt fast wie eine Parole aus einem seiner veröffentlichte, wohnte er in dem Haus, Oskar und das Mistverständnis« vorgestellt.
Kinderbücher über Rico und Oskar. Die das ihm als Vorlage diente. Er hatte sich Es ist der fünfte Band, und es wird wohl der
Dieffenbachstraße liegt in Berlin-Kreuz- schon ausgemalt, dass einzelne Leser sich letzte sein. Auch Kinderbuchfiguren werden
berg, man kann die U-Bahn zum Südstern auf die Suche nach diesem Ort machen älter. Und Steinhöfel ist mittlerweile aus der
nehmen oder mit dem Bus M41 hierher- könnten, und veränderte vorsichtshalber Dieffenbachstraße weggezogen. Er habe in
fahren, egal wo man aussteigt, man betritt Berlin immer Sehnsucht nach dem Mittel-
den Rico-Oskar-Kosmos. gebirge gehabt, sagt er. Beim Blick in die
Lauter Orte, die Steinhöfel-Leser gut Speisekarte verrät er gleich, dass er eigent-
kennen: das Urban-Krankenhaus, die lich auf Diät sei, doch kurz darauf werden
Grimmstraße, den Landwehrkanal. Das Waffeln und heiße Schokolade mit Sahne
Zentrum dieser Welt ist die Dieffenbach- serviert, was soll’s, Magerkost kann es mor-
straße, hier wohnt der tiefbegabte Rico in gen noch geben, »unterwegs sind die Verlo-
Haus Nummer 93 mit seiner Mutter Tanja ckungen so groß«, sagt er. Seine Art zu spre-
Doretti, sein Freund, der hochbegabte chen kommt einem auf Anhieb vertraut vor,
Oskar, wohnt ein bisschen weiter weg – der Ton, der Humor ist der gleiche wie in
so ist das zumindest noch im ersten Band, seinen Büchern, »dann freue ich mich wie
in dem sich die beiden Jungs zufällig auf ein Schnitzel«, sagt er zwischendurch.
der Straße vor der Dieffe 93 kennenlernen. Mit dem Schreiben hat er begonnen, als
Später zieht Oskar mit seinem Vater auch er zufällig ein Kinderbuch las, das er grau-
in dieses Haus. envoll fand, eine »pädagogische Mitmach-
Die Dieffe 93, das wusste Steinhöfel von geschichte«. Da war er Ende zwanzig und
Peter Schüssow / Carlsen Verlag

Anfang an, sollte in seinem Roman über schloss gerade sein Studium ab. Er dachte
zwei ungleiche Freunde in Berlin eine sich, das kann ich besser, und schrieb an
wichtige Rolle spielen, das Haus sollte wie einem Abend eine Geschichte – »Dirk und
eine Person einen Namen tragen. Die un- ich« –, die er an den Carlsen Verlag schick-
terschiedlichen Bewohner – die liebeskum- te. Ein halbes Jahr lang hörte er nichts.
mergeplagte Fleischereifachverkäuferin im Dann kam ein Brief, in dem stand: »Der
dritten Stock, der Rentner im schmuddeli- Carlsen Verlag ist in seinen Grundfesten
gen Schlafanzug im vierten, nebenan der Illustration aus »Rico, erschüttert vor Lachen.«
neue Mieter, der wie ein Schauspieler aus- Oskar und das Mistverständnis« Seine jungen Leser mögen Steinhöfels
sieht, nur besser –, sie sind wichtige Ne- »Es gibt freundlichere Orte« Bücher genau deshalb. Doch wie alle gro-

128 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Programm
ßen Kinderliteraturschriftsteller webt er
dunklere Themen in seine Geschichten ein:
das Gefühl des Alleinseins, der Machtlosig-
keit gegenüber einer Welt, in der Erwach-
sene irrsinnige Entscheidungen treffen.
Und Steinhöfel kann davon – ohne sich an-
zubiedern – auf Augenhöhe der Kinder er-
zählen. Erich Kästner, Otfried Preußler und
Michael Ende konnten das auch, Steinhöfel
gehört in diese Reihe. Rico und Oskar kön-
nen mit Emil und den Detektiven, mit der
kleinen Hexe und Jim Knopf mithalten.
Im neuen Buch gibt es Streit zwischen
den beiden Freunden, weil Rico, der ja

US National Archives
drei Jahre älter ist, sich zum ersten Mal
verknallt hat und seine Zeit liebend gern
mit Sarah verbringt. Oskar ist eifersüch-
tig, »er teilt nicht gern«, sagt sein Vater.
Der tiefbegabte Rico, der in schwierigen US-Präsident Ronald Reagan (3. v. l.), afghanische Freiheitskämpfer 1983
Situationen das Gefühl hat, durch seinen
Kopf würden Bingokugeln rollen, durch-
schaut seinen Freund dieses Mal. Er SPIEGEL TV WISSEN SPIEGEL GESCHICHTE
glaubt, dass Oskar seine Tiefbegabung MONTAG, 12. 10., 18.35 – 20.15 UHR, SKY MITTWOCH, 14. 10., 20.15 – 21.05 UHR, SKY
ausnutzt und Tricks anwendet, um mehr und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern
Zeit mit ihm zu verbringen. Er will ihn Afghanistan –
zur Rede stellen. Todesfalle Wetter Das verwundete Land –
Die beiden treffen sich auf ihrer Bank Die sechsteilige Serie berichtet von Die Sowjetarmee
am Landwehrkanal, doch es läuft gar nicht Jahrhunderttornados, Schneekata- In den Achtzigerjahren wurde Afgha-
gut, Oskar brüllt so laut, dass die Enten strophen und unkontrollierbaren nistan zum Schlachtfeld des Kalten
aufflattern. Anschließend gehen die Freun- Flächenbränden – allesamt Wetter- Krieges. Nachdem die sowjetischen
de auf getrennten Wegen in die Dieffe 93. phänomene, die nicht nur Klima- Truppen Kabul erreicht hatten, wur-
Dabei müssten sie unbedingt zusammen- forscher beunruhigen. Es kommen den Waffen und Geld aus den Ver-
halten, denn mit ihrer Clique wollen sie Menschen zu Wort, die den Natur- einigten Staaten und der arabischen
einen Spielplatz gegen Immobilienspeku- gewalten ausgesetzt waren, Exper- Welt an den afghanischen Wider-
lanten verteidigen. ten erklären, wie die Natur solch zer- stand geliefert. Ausländische Kämp-
Das Thema Besitzanspruch zieht sich störerische Kräfte entwickeln kann. fer schlossen sich dem Dschihad
durch diesen fünften Band, der anspruchs- gegen die als gottlos geltenden Rot-
voller ist als die ersten Teile. Steinhöfel armisten an. Der junge Osama Bin
fügt eine zweite Erzählebene hinzu, ein Laden war einer dieser Freischärler.
Buch im Buch, er versteckt Hinweise auf SPIEGEL TV Der Krieg entwickelte sich zum
zwölf berühmte Kinderbuchautoren, und MONTAG, 12. 10., 23.25 – 0.00 UHR, RTL »sowjetischen Vietnam«.
es gelingt ihm durch einen dramaturgi-
schen Kunstgriff, eine Szene zu schreiben, Die Macht der Clans
in der Oskar auf dem Potsdamer Platz »Knast macht Männer«, sagt eine
dem jungen Erich Kästner begegnet. Man 17-fache Mutter und meint damit DONNERSTAG, 15. 10., 20.15 – 22.15 UHR,
muss das alles nicht dechiffrieren, um wohl auch ihren Sohn Abdulkadir RTLZWEI
Vergnügen an dem Buch zu haben. Es ist Osman, der monatelang seine Nach-
die Sahne auf dem Kakao für erwachsene barschaft terrorisierte. Im zweiten Hartes Deutschland –
Vorleser. Teil der Dokumentation »Arabische Leben im Brennpunkt
Und ein Spiel, mit dem Steinhöfel auf Clans« geht es um kriminelle Parallel- Die neue Staffel thematisiert die
die literarische Tradition verweist, in der welten, die Reaktionen des Staates Auswirkungen der Coronakrise
er sich sieht. Seitdem Pünktchen und An- und um einen dreisten Betrüger. auf die Menschen, die am Rande
ton auf der Weidendammer Brücke bettel- der Gesellschaft leben. Mit
ten, hat kein anderer Kinderbuchschrift- welchen Herausforderungen haben
steller das hässlich-schöne Berlin so leben- obdachlose Suchtkranke zu kämp-
dig entworfen. Letztlich sind die Rico-und- fen? Seit Ausbruch der Pandemie
Oskar-Bücher große Berlinromane. verdienen sie kaum noch Geld mit
Dabei fand Steinhöfel die Stadt immer Schnorren oder dem Sammeln
zu groß; gegen die Berliner Ruppigkeit hat- von Pfandflaschen, viele Hilfseinrich-
te er sich einen inneren Panzer zugelegt. tungen sind wegen der Anste-
»Es gibt freundlichere Orte auf der Welt, ckungsgefahr geschlossen. Teils
wo man nicht dauernd kämpfen muss«, seit Jahren begleiten die Autoren die
SPIEGEL TV

sagt er. Heute lebt er am Waldrand in Protagonisten und erzählen hier


Biedenkopf in Hessen. Mal sehen, was für deren Geschichte vor und während
Geschichten die Provinz zu bieten hat. Großfamilienmitglied Osman der Pandemie.
Claudia Voigt

129
Kultur

Unsere liebste
die sich die Welt nicht machen kann, wie sie ihr gefällt,
betrachtet den Rummel um ihre Person mit ihren großen,
kindlichen und skeptischen Augen. Es sei alles wie ein Film,

Nervensäge
hört man sie sagen.
»I Am Greta« erinnert an den ersten Beatles-Film »A Hard
Day’s Night« (deutscher Titel: »Yeah! Yeah! Yeah!«), der
Mitte der Sechzigerjahre die Massenhysterie um die Band
einfing. Auch dieses halb dokumentarische Musical war
Filmkritik Die Kinodokumentation die Chronik eines Pop-Phänomens, das sich rasend schnell
»I Am Greta« zeigt Greta Thunberg auf entwickelt hatte und außer Kontrolle geraten war. Meist
ihrem Weg zum Weltstar. sah man Paul, John, George und Ringo auf der Flucht vor
ihren Fans.
Greta, diese One-Girl-Group mit Millionen Groupies, hat

I n einer der vielen Szenen dieses Films, in denen Greta


Thunberg und ihr Vater mit der Bahn kreuz und quer
durch Europa reisen, von Stockholm nach Brüssel oder
London, steht die Umweltaktivistin nachts auf einem Bahn-
nicht die Option, einfach abzuhauen. Sie muss immer wieder
nach vorn, in die Öffentlichkeit, auf die Bühne der Welt-
politik, ins Blitzlichtgewitter. Denn sie hat ein Anliegen, und
dafür braucht sie die größtmögliche Plattform. Doch man
hof und wartet. Da fährt plötzlich hinter ihr ein Güterzug spürt in dem Film, dass sie es nicht genießt, wenn sich alles
vorbei, über und über beladen mit Autos. Es ist ein ebenso ständig um sie dreht.
beiläufiges wie symbolisches Bild: Ein junges Mädchen Eine der Stärken von »I Am Greta« besteht darin, dass
aus Schweden sieht sich schier übermächtigen Klimakillern der Film den Druck, der auf seiner Heldin lastet, an den Zu-
gegenüber. schauer weitergibt. Man teilt Thunbergs Befangenheit, wenn
Der schwedische Dokumentarfilmer Nathan Grossman, sie im Élysée-Palast plötzlich Emmanuel Macron gegenüber-
der Thunberg mehr als ein Jahr lang begleitet hatte, hatte steht und nicht weiß, wie man eigentlich mit einem Staats-
das Glück oder den Instinkt, zur rechten Zeit am rechten präsidenten redet. Plaudert man erst mal? Oder liest man
Ort zu sein. Er wurde im Sommer 2018 auf die damals ihm gleich die Leviten?
In dem Beatles-Film waren die Jugendlichen
wie von Sinnen, hier sind es die Erwachsenen.
Ständig posieren sie, um Selfies mit Thunberg
zu machen, oder sie drücken ihr Dokumente
in die Hand, die sie publik machen soll. Natür-
lich ist das alles ziemlicher Irrsinn und eine
komplette Überforderung für einen Teenager.
Aber aus diesen Szenen spricht auch die Sehn-
sucht nach einer Politik, die frei von Korrup-
tion, ja vielleicht sogar von Pragmatismus ist,
die aus tiefer Überzeugung kommt.
Wenn man im Film all die alten weißen Män-
ner sieht, mit ihren im besten Fall gönnerhaften,
oft aber herablassenden Blicken und nicht selten
Filmwelt Filmverleih

beleidigenden Worten, diese Putins, Trumps


oder Junckers, dann versteht man Thunbergs
Furor. Ja, der Film macht sich die Sicht seiner
Heldin auf die Dinge zu eigen. Das ist seine
Klimaschützerin Thunberg: Skepsis gegenüber dem Rummel um die eigene Person Schwäche, macht aber auch seine Kraft aus.
Wer ihn sieht, fängt an zu begreifen, warum
Thunberg bei ihrer Rede vor den Vereinten
15-jährige Schwedin aufmerksam, als sie noch weitgehend Nationen im September 2019 auf einmal wie besessen wirkte.
unbekannt war und ihren Schulstreik gegen den Klimawan- Es musste alles raus, was sich aufgestaut hatte in diesen ver-
del gerade erst begonnen hatte. So dokumentiert sein Film rückten zwölf Monaten, die auch jeden Erwachsenen an den
»I Am Greta«, der im September auf dem Festival in Venedig Rand seines Verstands gebracht hätten.
Premiere feierte und nun in die deutschen Kinos kommt, Die Nervensäge Greta wächst den Zuschauern im Laufe
die Geburt und den Aufstieg eines Weltstars. des Films ans Herz. Es sind die kleinen Momente, die ihn
Aus heutiger Sicht erscheinen die Szenen aus dem August groß machen, die kurzen Bilder, in denen man sieht, wie sie
2018 fast skurril. Thunberg sitzt mit ihrem Pappschild ihre Zöpfe flicht oder bei ihrer Atlantiküberquerung im Se-
»SKOLSTREJK FÖR KLIMATET« vor dem schwedischen gelboot versucht, mit einer Bürste durch ihre vom Schweiß
Parlament und wirkt in der Weite verloren. Menschen gehen und Salzwasser verfilzten Haare zu kommen.
vorbei, streifen sie mit irritierten Seitenblicken. Eine ältere Natürlich stellt sich bei »I Am Greta« die Frage: Ist das
Dame geht zu ihr hin und versucht, sie mit wohlmeinenden wirklich Greta? Ist das alles authentisch? Oder auch ab und
Worten zu überzeugen, vielleicht doch besser in die Schule zu gestellt? Man sieht in dem Film, wie Thunbergs Vater
zu gehen. Wozu eine Ausbildung machen, wenn es keine die Öffentlichkeitsarbeit orchestriert. Der Regisseur erklärt,
Zukunft gebe, erwidert Thunberg. er sei seiner Heldin nur gefolgt und habe bei der Kamera
Wenige Monate später jubeln ihr Tausende junge Leute auf »Aufnahme« gedrückt. Wenn einige der vielen be-
bei Demonstrationen zu, sie hält eine Rede im Europäischen wegenden Szenen nicht hundertprozentig echt sein soll-
Parlament, die Fridays-for-Future-Bewegung findet rund um ten, müsste man noch mehr Respekt vor Thunberg haben.
den Globus enormen Zulauf. Auf einmal hat nicht mehr Dann wäre sie nämlich eine großartige Schauspielerin.
Pippi Langstrumpf die berühmtesten Zöpfe. Und Thunberg, Lars-Olav Beier

130 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


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Dr. Barbara Hans, Clemens Höges Tel. 030 886688-200 Mail: leserbriefe@spiegel.de. Vorschläge für die Rubrik
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132 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Nachrufe
Ruth Klüger, 88 Roth als Sänger Rekorde
Glück. Es war einfach brechen sollte. Punk und
großes Glück, dass ihr im New Wave ignorierte die
Sommer 1944 eine Frau den Gruppe. Stattdessen arbei-
Tipp gab, sie solle sagen, tete sie mit Songs wie »Run-
sie sei 15 Jahre alt. Das hat nin’ with the Devil« oder
Ruth Klüger das Leben »Ain’t Talking ’bout Love«
gerettet. Sie war damals 12, an einem glamourösen
sie war im Lager Auschwitz- Amalgam aus Rock und Pop.
Birkenau, musste sich Als Virtuose gebucht, packte
anstellen zur Selektion, und Eddie Van Halen in die
hätte sie ihr wahres Alter 32 Sekunden seines Solos für
angegeben, wäre sie in die Michael Jacksons »Beat It«
Gaskammer gekommen. sein ganzes technisches Kön-

HOLGER FLOß / PAPARAZZI


Später hat sie ihre Jugend-
erinnerungen »weiter
leben« genannt, sie wurden
ein großer Bucherfolg.
Ruth Klüger emigrierte in
die USA, studierte unter
Günter de Bruyn, 93 anderem Germanistik in

POLARIS / laif
Er war der Überzeugung, ein Schriftsteller sei verpflichtet, Berkeley und lehrte später
»die Wahrheit zu sagen, im Kleinen wie im Großen, in Teilen als Professorin; sie machte
wie im Ganzen«. Dass die Wahrheit keine einfache Sache sich einen Namen als Lite-
ist, das wusste dieser sensible Autor nur zu gut: Günter de raturkritikerin. Im Jahr
Bruyn lebte und arbeitete in der DDR, solange es sie gab. Er 2016 sprach sie am Jahres- nen. Mit »Jump« landeten
hatte als nicht mal Zwanzigjähriger im Zweiten Weltkrieg tag der Befreiung des Van Halen 1984 einen eige-
kämpfen müssen, war verletzt worden und kam in Gefan- Lagers in Auschwitz vor nen Welthit. Das wilde
genschaft. Die Traumata beschwerten ihn ein Leben lang. dem Deutschen Bundestag Leben forderte später Tribut.
Der gebürtige Berliner wurde erst Lehrer, dann Bibliothe- und sagte, ihr Blick auf Die Drogen sollte er noch
kar, ab 1961 freier Schriftsteller. Einige seiner Werke (»Buri- Deutschland sei angesichts besiegen, den Krebs nicht.
dans Esel«, 1968) wurden für Theater und Film adaptiert, der großzügigen Flüchtlings- Eddie van Halen starb am
bereits 1964 hatte er den Heinrich-Mann-Preis erhalten, politik »von Verwunderung 6. Oktober. FRA
1989 lehnte er den Nationalpreis der DDR ab, er sprach von
»Intoleranz und Dialogunfähigkeit« der Regierung. Sein Herbert Feuerstein, 83
Roman »Neue Herrlichkeit« handelt von einem Mann, der Die breite Öffentlichkeit
in der Lage ist, »der zu werden, der verlangt wird«. Das kannte ihn nur als schmäch-
Buch erschien 1984 zunächst nur im Westen, 1985 auch in tigen Spaßonkel aus
der DDR. Fein, behutsam, vorsichtig – das sind die Adjek- dem Fernsehen, vor allem
ullstein bild

tive, die den Menschen de Bruyn und seine Texte beschrei- als Sidekick von Harald
ben. In seiner autobiografischen »Zwischenbilanz: Eine Schmidt in der Sendung
Jugend in Berlin« (1992) kündigte er an, nun das Ichsagen »Schmidteinander«. Dabei
trainieren zu wollen, »ohne Verhüllung und Fiktion«. Und zu Bewunderung über- war Feuerstein das eigent-
er legte 1996 nach: »Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht«. Sein gegangen«. Ruth Klüger liche Mastermind, nicht
letztes Werk war dann doch noch mal ein Roman, kritisch- starb am 6. Oktober im nur dieser Sendung. Mehr
ironisch wie früher und warmherzig: »Der 90. Geburtstag«. kalifornischen Irvine. VW als 20 Jahre lang war
Günter de Bruyn starb am 4. Oktober in Bad Saarow. KS er Chefredakteur der Zeit-
Eddie Van Halen, 65 schrift »Mad«, zu ihren
Das Geld, die Groupies, die Hochzeiten das Zentralor-
Kenzo Takada, 81 Drogen, die langen Haare, gan deutscher Pubertieren-
Er mixte Karos mit Blumenmotiven, japanische Stoffe mit die Zerwürfnisse in der der. Eigentlich hätte Feuer-
Brokat und französischer Baumwolle. Der Japaner Kenzo Band – die berühmte Komö- stein, Schüler am Salzbur-
Takada war ein Nomade der Mode, lange bevor das Noma- die »This Is Spinal Tap« von ger Mozarteum und als
dentum zum Trend erklärt wurde. 1965 kam er ohne 1984 lässt kein Klischee über junger Kritiker Mitglied
Geld in Paris an, 1970 eröffnete Takada seine erste eigene Rockstars aus. Der Gitarrist der tonangebenden intellek-
Boutique Jungle Jap; sechs Jahre später gründete er die Eddie Van Halen konnte das tuellen Klasse Österreichs,
Marke Kenzo. Seine fröhliche und bunte Mode war der Komische daran nicht nach- auch Festspielchef oder
Gegenentwurf zu den einfarbigen, eleganten Entwürfen vollziehen. Für ihn war das Kultusminister werden kön-
der Pariser Couturiers. Seine Schauen waren wahre Feste: kein Witz, sondern ein Blick nen. Zum Glück verdarb
Kenzo ließ sie als Erster an Orten wie der Pariser Börse in den Spiegel. Van Halen, er es sich immer rechtzeitig
stattfinden und setzte das Model im Brautkleid, das jede in Amsterdam geboren, kam mit den richtigen Leuten,
Schau beschließt, aufs Pferd. 1993 kaufte der Luxuskon- mit sieben Jahren in die brach alles ab und begann
zern LVMH seine Marke auf, und sechs Jahre darauf ver- USA. Mit seinem Bruder etwas Neues – in Würde
abschiedete er sich von der Modewelt, die ihm zu hektisch Alex am Schlagzeug gründe- erstarren wollte er nie. Her-
geworden war. Kenzo Takada starb am 4. Oktober bei te er die Band Van Halen, bert Feuerstein starb er am
Paris an den Folgen einer Covid-19-Infektion. BSA die ab 1978 mit David Lee 6. Oktober in Erftstadt. KUZ

DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020 133


Personalien

Obama und
Malcolm X
G Während der Ausbildung habe
sein Schauspiellehrer mal zu ihm
gesagt, in den ersten fünf Jahren
gehe es nur darum, Erfahrung zu
sammeln. Erst »nach zehn fängst
du wirklich an«, erzählte Kingsley
Ben-Adir, 33, in einem Interview
mit der Zeitschrift »Vanity Fair«.
»Und das ist jetzt genau zehn Jahre
her.« Ben-Adir startet nun tatsäch-
lich fulminant durch. Innerhalb
weniger Wochen ist er in drei sehr
unterschiedlichen Filmprojekten
zu sehen gewesen. Einmal in der
Science-Fiction-TV-Serie »Soul-
mates«, dann in der Miniserie »The
Comey Rule« – und in dem Kino-
film »One Night in Miami«, der
bei den Filmfestspielen von Vene-
dig lief. Die Dreharbeiten für »The
Comey Rule«, in dem Ben-Adir
den ehemaligen US-Präsidenten
Barack Obama verkörpert, und für
»One Night in Miami«, darin spielt
er den Bürgerrechtler Malcolm X,
fanden im Januar dieses Jahres so
gut wie parallel statt. Für die Rolle
als Obama musste Ben-Adir abneh-
men, eine Aktion, die sich gleich
doppelt lohnte. »Zum Glück hatten
Obama und Malcolm eine ähnliche
Statur«, sagte er der »Los Angeles
Times«. Bereuen wird Ben-Adir
die Anstrengungen eher nicht: Für
seine Malcolm-X-Darstellung gilt Paul Scala

er jetzt schon als möglicher Anwär-


ter auf einen Oscar. KS

Der Hitmann band BTS steht. »Hitman«


Bang, so sein Spitzname,
Gruppe, die gerade mit ihrem
englischsprachigen Hit
G Plötzlich Milliardär – so zieht nicht nur hinter den »Dynamite« in den USA auf
könnte es dem südkoreani- Kulissen die Fäden, er hat Platz eins der Charts landete.
schen Musikmogul Bang auch an einigen Songs der Der Finanznachrichtendienst
Yonhap / picture alliance / dpa

Si-hyuk, 48, kommenden Gruppe mitgeschrieben. Bloomberg schätzte Bangs


Donnerstag ergehen. Denn Im vergangenen Jahr betrug Vermögen im vorigen Jahr
dann soll sein Unternehmen der Umsatz seiner Firma rund auf mehr als 685 Millionen
Big Hit Entertainment an 460 Millionen Dollar; den Dollar; nach dem Börsengang
die Börse gehen, das hinter größten Teil davon generierte könnte es bei 1,2 Milliarden
der von ihm gecasteten Boy- die siebenköpfige K-Pop- Dollar liegen. RED

134 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Auch mal in
die Fresse
»Das ist ein Kraftakt«, sagt
Fries. Sie halte es im Leben
wie der DDR-Liedermacher
Divenpsychologie
Gundermann: jeden Tag G Sie ließ sich auf die Bühne
G Um eine Mukoviszidose- etwas haben, ein Lachen, tragen, sang im Liegen,
Kranke zu spielen, stieg sie einen Sieg, eine Träne, einen forderte schmetterlingförmi-
zur Vorbereitung Treppen, Schlag in die Fresse. In die ges Konfetti und einen Rolls-
durch einen Strohhalm Fresse? »Klar. Jedenfalls Royce sowieso. Mariah
atmend. Als sie eine gestörte metaphorisch. Ich möchte Carey, ungefähr 50 Jahre
Jugendliche gab, mied sie mich und die Welt spüren.« alt, Popstar mit Rekordver-
während des Drehs Körper- Ein bisschen wie in ihrer Rol- käufen, inszenierte sich
kontakt. Die Schauspielerin le, Charlotte Ritter, die sich konsequent als Diva. Jetzt
Liv Lisa Fries, 29, erarbeitet auch mal durch das Berlin erscheint ihre Biografie »The
sich ihre Rollen mit vollem der Zwanzigerjahre boxt. Meaning of Mariah Carey«,
Einsatz. »Ich mache das Nächstes Jahr soll es weiter- die alles andere als glamou-

NEUMANN / adolph press


nicht mit halber Arsch- gehen – wenn Corona die röse Geschichten erzählt. Sie
backe«, sagt die Schauspie- Dreharbeiten zulässt. EVH erinnert sich, dass ihr Bruder
lerin im Gespräch mit ihre Mutter an eine Wand
dem SPIEGEL. Ab schleuderte, die Polizei kam
Sonntag ist sie und einer der Beamten mit
wieder in »Babylon Blick auf die weinende Ma-
Berlin« zu sehen, riah sagte, es wäre »ein Wun- Gesangstalent, sie war ehr-
die dritte Staffel der der«, wenn dieses Kind es geizig; an ihrem 18. Geburts-
Serie wird in der schaffte. Da war sie sechs tag fühlte sie sich als Ver-
ARD ausgestrahlt. Jahre alt. Als Tochter einer sagerin, weil sie noch keinen
Darin spielt Fries die weißen Opernsängerin und Plattenvertrag hatte. Mit
mutige Kriminalassis- eines Afroamerikaners um Mitte zwanzig heiratete sie
tentin Charlotte 1970 in der Nähe von New den zwei Jahrzehnte älteren
Ritter. Nach dem Dre- York geboren – das genaue Musikmanager Tommy
hen sei sie oft so Geburtsdatum bleibt trotz Mottola, der sie wie sein
erschöpft, dass sie aller Offenheit geheim –, Eigentum behandelte und
bloß noch die Bade- erfuhr Mariah Carey Diskri- rund um die Uhr bewachte.
wanne ansteuern minierung, Mobbing, Carey machte 2018 öffent-
könne. Dann wird Ausgrenzung, Gewalt: Der lich, dass sie an einer bipola-
Michael Tinnefeld / API

der Text für den Hund wurde mit Glasscher- ren Störung leidet. Vielleicht
nächsten Tag gelernt. ben gefüttert, das Auto in ist ihr Buch auch Selbstthe-
Die Arbeiten an Brand gesetzt, Schulkamera- rapie; auf jeden Fall legt es
»Babylon Berlin« dinnen beleidigten sie ras- nahe: Ein Wunder ist wahr
dauerten 70 Tage. sistisch. Früh zeigte sich ihr geworden. KS

Jeden Tag ein Song vergangenen November in


Springsteens Studio statt,
G Eigentlich wollte sich Bruce live, nur vier Tage benötigten
Springsteen, 71, in diesen die Musiker, die sich seit Jahr-
Wochen und Monaten auf eine zehnten kennen. Zwölf Songs
Welttournee mit der E Street sind auf dem Album, drei
Band vorbereiten. Im Frühjahr davon aus den Siebzigerjah-
2021 sollte die Tour für das ren. Die neun neuen Lieder
neue Album starten, doch nun entstanden im April vorigen
glaubt er, dass es nicht vor Jahres – ebenfalls in sehr
2022 losgehen kann, sagte der kurzer Zeit, wie Springsteen
Rockstar dem Musikmagazin erzählte. In etwa zehn Tagen
»Rolling Stone«. Und wenn er sei er fertig gewesen. »Ich
nur ein Jahr verlöre, würde er lief im Haus herum, ging
sich glücklich schätzen. »Wenn in verschiedene Zimmer und
du erst mal 70 bist, hast du schrieb jeden Tag einen
nur noch eine begrenzte Zahl Song.« Die Musikaufnahmen
an Tourneen vor dir.« »Letter mit der Band wurden filmisch
to You« wird trotzdem am dokumentiert, das Ergebnis
23. Oktober erscheinen. soll ab dem 23. Oktober auf
»Wenn ich Musik mache, dann AppleTV+ zu sehen sein: bes-
veröffentliche ich sie auch«, tens gelaunte alte Männer,
Sony Music

sagte Springsteen. Die Aufnah- einer davon besonders gut in


men für das Album fanden Schuss für sein Alter. KS

135
»Der Fall Nawalny zeigt erneut den Vorzug, den es hat, in der Bundes-
republik mit einer Kanzlerin zu leben, die auch Fehler macht, statt
in einem Land, das von einem ›lupenreinen Demokraten‹ regiert wird.«
Ekkehard Sander, Denkendorf (Baden-Württemberg)

Wirklich großes Kino Nawalnys logische Kette, wonach Putin Mehr Lohn = mehr Kaufkraft
hinter dem Anschlag stecken muss, klingt
Nr. 41/2020 Alexej Nawalny über den Gift- Nr. 40/2020 Kolumne: Die Gegendarstellung
einleuchtend. Auf jeden Fall ist zu erwar-
anschlag, Putins Schuld und die Deutschen
ten, dass so ein durchkontrollierter Staat Sicher hat es die Mitarbeiter im öffent-
Kehrt Nawalny nach Russland zurück, soll- wie Russland in der Lage ist, Anwender lichen Dienst (ich bin Angestellte bei einer
te er gut aufpassen, dass er nicht nach der dieses äußerst gefährlichen Nervengifts gesetzlichen Krankenversicherung) nicht
Art der Sowjetunion behandelt wird. Dort ausfindig zu machen. Selbst wenn der so hart getroffen, dass sie um ihre Arbeits-
wurde mancher Regimekritiker, der unum- Befehl also nicht ausdrücklich von Putin plätze fürchten mussten. Aber ich kann
stößliche Tatsachen festgestellt hatte, die kam, muss man bei den Auftraggebern nicht sagen, dass wir in der Krise einfach
das Regime nicht anerkennen wollte, für sicher gewesen sein, zumindest geduldet unser Zuhause genießen und dabei volles
psychisch krank erklärt und in eine ge- und nicht verfolgt zu werden. Gehalt kassieren konnten! Haben Sie
schlossene Anstalt eingewiesen. Ärzte, die Rainer Gussek, Lüneburg (Nieders.) sich mal überlegt, wer die Flut an Anträ-
dem Regime nach dem Mund reden, gibt gen für Kurzarbeitergeld, Stundungsanträ-
es auch heute, wie die Aussagen des Arztes Warum besucht Frau Merkel zwar Nawal- ge und alle weiteren Maßnahmenpakete
in Omsk nach Nawalnys Überführung ny am Krankenbett, macht aber als mäch- der Regierung bearbeitet hat und sich um
nach Berlin belegen. KGB-Mann Putin tigste Frau Europas nicht das Mindeste, die vielen Fragen und Unsicherheiten der
dürfte keine Scheu haben, die alten Me- indem sie alles versucht, die Konten sämt- Betroffenen gekümmert hat? Die Kranken-
thoden zu reaktivieren. Die Aussagen sei- licher Putin nahestehender russischer pfleger & Co. haben einen guten Job ge-
ner Vertrauten, die Nawalny beispielswei- leistet, das will ich nicht abstreiten. Aber
se den Konsum selbst gebrannten Wodkas man sollte deswegen die Arbeit der ande-
unterstellten, zeigen, wohin Nawalnys ren nicht schlechter machen.
Weg nach einer Rückkehr führen kann. Natalia Morjaschov, Hamburg
Torsten Berndt, Bovenden (Nieders.)
Nun soll schnell in Vergessenheit geraten,
Alexei Navalny / ddp media

Herr Nawalny hat meine volle Bewunde- dass nicht nur Pflegekräfte, sondern auch
rung! Für seinen Mut und den Glauben die Beschäftigten im Nahverkehr, bei der
daran, dass irgendwann die Rechtsstaat- Müllabfuhr, in den Gesundheitsämtern und
lichkeit in Russland einzieht, wenn er bei der Bundesagentur für Arbeit in den
weitermacht. Diesen Anschlag knapp zu vergangenen Monaten viel Lob erfahren
überleben, dann weiter Witze zu machen, haben. Die Pandemie hat vielen deutlich
aber zugleich sehr klar zu benennen, wie Familie Nawalny in der Charité gemacht, dass diese Beschäftigten und
der Westen handeln sollte in Bezug auf nicht Börsenhändler oder Unternehmens-
Putin und andere Verbrecher, ist wirklich Oligarchen in Deutschland und Europa zu berater unser Gemeinwesen zusammenhal-
großes Kino. sperren und diese Personen aus Deutsch- ten. Jetzt fordern sie mit Recht auch finan-
Andrea Große Lackmann, Oberhausen land und Europa auszuweisen? Warum zielle Anerkennung, doch die städtischen
setzt sie sich nicht gegen ostdeutsche Kämmerer argumentieren wie stets mit
Für den Tag der deutschen Einheit hat sich Landesfürsten durch, denen der schnöde den leeren Kassen. In einer Zeit, in der der
die Redaktion des SPIEGEL für einen Mammon offenbar das Wichtigste ist und Staat Milliarden zur Unterstützung von
Nawalny-Titel entschieden. Wäre für das die sich nicht mehr an ihr DDR-Gefängnis Unternehmen ausgibt, wäre das Geld für
Magazin das Thema Wiedervereinigung erinnern? Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst,
als Weitervereinigung nicht dringlicher? Prof. Dr. Hans Bloss, Ettlingen (Bad.-Württ.) insbesondere in den unteren Entgeltgrup-
Harald Dupont, Ettringen (Rhld.-Pf.) pen, sicher besser ausgegeben. Denn mehr
Ich habe das Gespräch mit Interesse, Lohn bedeutet auch mehr Kaufkraft!
Glauben Sie wirklich, dass dieses Thema aber auch mit großem Misstrauen ge- Werner Hillenbrand, Ludwigsburg
die Menschen in Deutschland interessiert, lesen – gegen den SPIEGEL, der durch
bis natürlich auf die Politiker, die wieder die Auswahl der Gesprächspartner, der Ergänzend zu Ihrer zutreffenden Mei-
eine Möglichkeit sehen, nach Sanktionen Gesprächsinhalte und des Zeitpunkts der nungsäußerung möchte ich auf einen wei-
zu schreien? Die Menschen haben ganz Veröffentlichung auf unverantwortliche teren Aspekt hinweisen: Der Beamten-
andere Sorgen: Wie bekommt man Covid- Weise die ohnehin aggressive Stimmung bund umgeht einmal mehr das Streikver-
19 in den Griff, wann wird endlich konse- in den internationalen Beziehungen wei- bot für seine Klientel, indem er zusammen
quent gegen Rechte und Nazis in Polizei ter anfeuert. Ich hätte mir sehr einen mit Ver.di streiken lässt und anschließend
und Bundeswehr vorgegangen und, im Zu- Hinweis darauf gewünscht, dass es zurzeit der Abschluss auch für die Beamten über-
sammenhang mit dem 30. Jahrestag der keinerlei Beweis dafür gibt, dass offizielle nommen wird. So wird klammheimlich die
deutschen Einheit, wann wird der Osten russische Stellen oder gar Präsident Feudalherrschaft der Beamten kontinuier-
Deutschlands dem Westen endlich in allen Putin hinter dem Giftanschlag auf Herrn lich weiter ausgebaut. Beamtete Richter
Bereichen gleichgestellt? Nawalny stehen. werden das sicher zu begründen wissen.
Günter Jacob, Brandenburg an der Havel (Brandenb.) Thomas Arnold, Nauheim (Hessen) Friedrich Meyer-Hildebrand, Tornesch (Schl.-Holst.)

136 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


Briefe

Schön, dass Herr Neubacher sich so toll ich ja auch nur mit einer sechsjährigen August ein »linker Freiraum« beseitigt –
im öffentlichen Dienst auszukennen Ausbildung und mit hoher Verantwortung mit einem riesigen Polizeiaufgebot. Als
scheint. Woher die Erkenntnis kommt, 43 Jahre lang in der Anästhesie- und In- Steuerzahlerin frage ich mich, ob die Ein-
dass die Ausstattung dürftig ist und die tensivpflege gearbeitet. Es gibt das Ge- satzkosten nicht für den Kauf des gesam-
meisten mit vollen Bezügen einfach nur rücht, dass man für meinen Berufsstand auf ten Gebäudes gereicht hätten. Legion sind
zu Hause saßen, sollte er schon einmal er- irgendwelchen Balkonen applaudiert haben in Berlin zudem die Schikanen gegen »nor-
klären. Wir hatten die gesamte Zeit in der soll. Das wird man für Herrn Scheuer wohl male« MieterInnen, die nicht widerstands-
Coronakrise geöffnet und haben sowohl mit großer Wahrscheinlichkeit nicht tun. los »leergezogen« werden wollen. Nicht
Fahrerlaubnis- als auch Fahrzeugzulas- Thomas Hector, Osann-Monzel (Rhld.-Pf.) zu tolerieren sind allerdings die geschilder-
sungskunden bedient. Auch Busfahrer,
Polizisten und Arbeiter der Stadtreinigung »Das Schlimmste ist ein Fußball spielender,
haben wohl offenkundig ihren Job weiter ministrierender Senegalese, … weil den
erledigt. Und das, obwohl der öffentliche wirst du nie wieder abschieben.« Es ist die-
Dienst in der Vergangenheit regelmäßig ser Satz von Andreas Scheuer aus dem
schlechte Tarifabschlüsse hatte. Der ge- Jahr 2016, der von seiner Tätigkeit als
samte Text strotzt vor Vorurteilen. schneidiger CSU-Generalsekretär im Ge-

Jörg Carstensen / dpa


Michael Posch, Beamter, Hamburg dächtnis haften geblieben ist. Wer hätte
gedacht, dass dieser Satz einmal zur Blau-
Die Idee, verschiedene Beschäftigungs- pause wird, um Andreas Scheuers Agieren
gruppen in Zeiten von Tarifverhandlungen im Zusammenhang mit dem Mautdesaster
gegeneinander auszuspielen, finde ich auf den Punkt zu bringen: Das Schlimmste Rigaer Straße 2016
nicht sehr originell. Ich denke, was die Be- ist ein Verkehrsminister aus Bayern, der
triebe brauchen, sind Menschen, die Kauf- von der CSU ins Bundeskabinett entsandt ten widerlichen Gewaltakte. Sie schaden
entscheidungen treffen, anstatt sie auf die wurde, weil der wird nie zurücktreten. dem Anliegen, das in der Bevölkerung kei-
lange Bank zu schieben; die gern ins Kino, Roland Sommer, Diedorf (Bayern) neswegs nur auf Ablehnung stößt.
Restaurant, Theater oder Konzert gehen, Marianne Schulz-Rubach, Plau am See (Meckl.-Vorp.)
auch unter Pandemiebedingungen; die Mir wird angst und bange bei dem Gedan-
beim nächsten lokalen Lockdown gern die ken, dass Scheuer mit dem Trans-Europ- Auch in anderen Städten, etwa Freiburg,
Grillplatte in der Gaststätte abholen, an- Express sein nächstes großes Ding plant. haben sich solche radikalen Szenen eta-
statt sich zu Hause zu vergraben: auch aus In seiner grandiosen Selbstüberschätzung bliert, sie werden jedoch von manchen
Solidarität mit den betroffenen Branchen. kann dieser Mann wohl nicht kleiner. Er Politikern, Anwälten und anderen hofiert
Diese Solidarität muss man sich aber leis- muss aufgehalten werden! Eben noch hat und sind quasi unantastbar, egal welche
ten können. er mit der gescheiterten Maut zig Millio- Verbrechen sie auch begehen – ein Stein-
Anne Langanky, Eningen (Bad.-Württ.) nen Euro Steuergelder versenkt, womög- wurf auf Menschen ist für mich und für
lich mehr als eine halbe Milliarde. Mit sei- viele andere ein Mordversuch, der entspre-
Grandiose Selbstüberschätzung ner voreiligen Unterschrift hat er sich mut- chend geahndet werden müsste. Nicht we-
maßlich allein verantwortlich, vorsätzlich nige BewohnerInnen des Szeneviertels
Nr. 40/2020 Für Verkehrsminister
und wider besseres Wissen am Staatsver- nicht nur in Berlin führen hier den Staat
Andreas Scheuer wird es vor dem Maut-
Untersuchungsausschuss extrem eng mögen vergriffen. Er hat dem Land einen vor, und zwar ohne große Konsequenzen,
immensen Schaden zugefügt. Nennt man und dies bereits seit Jahrzehnten. Der ge-
Was ist größer bei Andreas Scheuer – seine ein solches Verhalten nicht üblicherweise neigte Leser liest so etwas, schluckt, glaubt
beispiellose Arroganz oder seine Dumm- kriminell? Warum wird Scheuer dafür nicht es eigentlich nicht und finanziert solche
heit? Er verheizt Steuergelder, die wir persönlich in die Haftung genommen? Zustände mit seinen Steuern.
Jörg Waldmann, Koblenz Erhard Brotz, Ühlingen-Birkendorf (Bad.-Württ.)

Absurdes linkes Terrorszenario Ich habe den Eindruck, dass Sie angesichts
eines krassen Übergewichts rechtsextre-
Nr. 40/2020 Ein von Autonomen besetztes
mer Gewalttaten ein absurdes linkes Ter-
JÖRG CARSTENSEN / DPA

Haus in Berlin soll geräumt werden – es droht


eine Eskalation der Gewalt rorszenario im Berliner Kiez herbeireden
und die drohende Heraufkunft einer neu-
Journalistisch sorgfältiger wäre es gewesen, en RAF insinuieren. Das Beste kommt be-
die Geschehnisse in eine Skizzierung der kanntlich zum Schluss: Sie zitieren einen
verfehlten Wohnungsbaupolitik Berlins Polizeibeamten, der behauptet, ein Nazi
CSU-Politiker Scheuer einzubetten, die angesichts enorm gestie- wäre mit dem gleichen Verhalten schon
gener Mietkosten ein Debakel ist. Der Ar- längst im Knast. Angesichts beachtlicher
während der Pandemie dringend bräuch- tikel geht auch nicht darauf ein, dass wei- polizeilicher »Pannenserien« und desaströ-
ten. Aber selbst wenn er jetzt die Rote Kar- tere linke Projekte von der Räumung be- ser Aufklärung im rechtsradikalen Umfeld
te bekommen sollte und nicht mehr zu hal- droht sind oder bereits geräumt wurden eine überaus steile These. Ich vermute,
ten wäre, was passiert dann? Er wird mit wie die Friedelstraße 54 oder die Liebig- ein Dankschreiben der AfD ist bereits bei
einem üppigen Ruhegehalt versorgt, von straße 14. Mit der Räumung der Neuköll- Ihnen eingetroffen.
dem ich nur träumen kann. Allerdings habe ner Kiezkneipe Syndikat etwa wurde im Bernd Köhler, Siegen

Korrektur Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe


(leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
zu Heft 41/2020, Seite 48: »Eure Tochter gehört uns« sowie digital zu veröffentlichen und unter
Güner Balci wurde in unserem Text als »der Integrationsbeauftragte« statt »die www.spiegel.de zu archivieren.
Integrationsbeauftragte« im Berliner Bezirk Neukölln bezeichnet.

137
Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate
Das Wissen Die französische Zeitung »Le Monde«

der Besten
zum Titel-Gespräch mit
Alexej Nawalny (Nr. 41/2020):

Ein körperlich sehr


geschwächter Mann,
moralisch mehr denn
je zum Kampf bereit:
Das bezeugt dieses
Straßenschild in Bad Oeynhausen lange Gespräch zwi-
schen Alexej Nawal-
ny und dem SPIEGEL.
Aus dem Bordmagazin von Austrian » Ich behaupte, dass
Airlines: »Daher sind Fluggäste hinter der Tat Putin
überall auf der Welt dazu verpflichtet, steht, und andere Versionen des Tather-
nicht nur ihren Gurt fest zu schließen gangs habe ich nicht«, verkündet der An-
und festzuziehen, sondern führer der russischen Opposition im aus-
auch die Fenster geöffnet zu halten.« führlichen Interview mit dem deutschen
Wochenblatt – im ersten Gespräch, seit er
die Berliner Charité verlassen hat.

Jetzt Die französische Zeitung »Le Figaro«


zum Nawalny-Interview:

neu im Das Duell zwischen Alexej Nawalny und


Wladimir Putin nahm mit der Veröffent-
Handel lichung des ersten Interviews mit dem
Kreml-Gegner seit seiner Entlassung aus
der Berliner Charité eine dramatische
Aus der »Wilhelmshavener Zeitung« Wendung.

Aus der »Mainpost«: »Der


Vom Manager Der britische Historiker Timothy Garton
Ash schrieb auf Twitter (@fromTGA):
›Kulturgeschichtliche Arbeitskreis
Burggrumbach‹ hat ein neues
zum Leader Lest alle dieses außergewöhnliche Inter-
E-Mail-Schild anfertigen lassen, view mit @navalny in @derspiegel. Es ist
um an die Geschichte der
Was Sie brauchen, um eine das Zeugnis eines sehr mutigen Mannes.
Revolutionseiche zu erinnern.« echte Führungspersönlich- Es beschreibt, wie es sich anfühlt, von
den Toten zurückzukehren. Es zeigt Hu-
keit zu werden mor im Angesicht großer Widrigkeit …
Es identifiziert die Kriminalität und die
Zerbrechlichkeit von Putins Regime …
Unter anderem mit diesen Themen Es zeigt einen glaubwürdigen Ansatz für
die Opposition auf (»smart voting«). Und
Führungsstärke schließlich bekräftigt es, was ich immer
Haben Sie das Chef-Gen? geglaubt habe, nämlich dass Russland auf
Aus der »Stuttgarter Zeitung« lange Sicht einen europäischen Weg ein-
Spitzen-CEOs bringen vier
schlagen wird. Lest es, bewundert es, re-
spezielle Eigenschaften mit tweetet es.
Aus dem »Reutlinger General-Anzeiger«:
»Auf Landes- wie auf Bundesebene Der russische Botschafter in Berlin,
gibt es viele Projekte wie den inter-
Talentmanagement Sergej Netschajew, sagte der
religiösen Dialog oder unser Projekt Wie Sie die besten Mitarbeiter staatlichen Nachrichtenagentur Tass:
›Meet a Jew‹ (›Miete einen Juden‹).« erkennen und in Ihrem Team halten
»Befremdlich und herzlich enttäuschend
ist, dass in einer Zeitschrift, die Objekti-
Kompetenzen vität für sich beansprucht, Aussagen ver-
So machen Sie sich unentbehrlich öffentlicht werden, die unbegründete und
Aus der »Sindelfinger Zeitung« beleidigende Vorwürfe gegen das russische
Staatsoberhaupt enthalten. Es ist schwer
vorstellbar, dass prominente JournalistIn-
Aus einem Formular zur nen, die an der Wiege dieses Mediums ge-
Wartung von Rauchwarnmeldern:
Jetzt die standen haben und in unserem Land gut
»Entstauben Sie bei Bedarf den neue App bekannt sind, derartige Klatschverse für
Bewohner mit einem weichen Tuch.« downloaden publikationswürdig gehalten hätten.«

138 DER SPIEGEL Nr. 42 / 10. 10. 2020


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Sportlerin Petković: Der große Ehrgeiz, nach oben zu gelangen, nicht nur im Tennis, sondern überhaupt im Leben

4 S P I E G E L B E STS E L L E R   /  H E R B ST 2 02 0
Titel

Kopfball
Psychologie Andrea Petković ist eine der wenigen Personen, die sogar die ewigen
Tennis-Passagen bei David Foster Wallace genießen. Jetzt hat sie selbst
einen Erzählband über die große Traurigkeit verfasst, die ihrem Sport innewohnt.

E s ist Samstagnachmittag, noch


zwei Wochen bis zu den French
Open, und Andrea Petković hat keinen
Faszination und der noch größeren Bru-
talität des Tennissports.
Seit den Ausbrüchen John McEnroes,
Sühne«, später waren es die Kurzge-
schichten von Philip Roth und die Texte
von David Foster Wallace, der so gut
Trainingspartner. Sie telefoniert herum. seit der geballten Explosivität der Be- über Tennis schreiben konnte wie nie-
Die French Open, das »Tournoi de cker-Faust, seit dem Geschrei von Mo- mand sonst. Für die Überwindung der
Roland Garros«, sind normalerweise nica Seles ahnte man die Anforderun- Dunkelheit ist Foster Wallace aber wo-
das zweite Turnier im Grand-Slam- gen, die ein Tennisspiel an die mensch- möglich kein guter Ratgeber, er hat sich
Kalender, früh in der Saison im April, liche Psyche stellen kann. Andre Agassi 2008 umgebracht. Er war ein Schriftstel-
doch in diesem Covid-Jahr wurden sie war bisher der Einzige, der darüber offen ler, der Tennis geliebt hat (und auch als
in den Herbst verlegt. Petković will dort und ausführlich gesprochen hat, vor gut Jugendlicher semiprofessionell spielte).
zum ersten Mal wieder professionell zehn Jahren in seiner Autobiografie Petković ist eine Tennisspielerin, die Li-
Tennis spielen, nach beinahe einem »Open«. Er habe Tennis gehasst, schrieb teratur liebt (und auf Instagram und als
Jahr, sie weiß gar nicht, das wievielte Agassi, und seinen Vater auch, der ihn Podcast den Racquet Book Club gegrün-
Comeback das dann wäre. zu diesem Sport gezwungen habe. det hat, für Bücher- und Tennisnerds).
Aber Roland Garros war immer gut »Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Es gibt auch in Literaturkreisen nur
zu ihr, mit 18 hat sie hier ihr allererstes Nacht« heißt Petković’ Buch, und tat- wenige Menschen, die David Foster
Grand-Slam-Turnier gespielt, und auch sächlich behandelt es auch die Dunkel- Wallace’ großen Roman »Unendlicher
ihren größten Erfolg hat sie hier erlebt: heit, die zwischen den kurzen hellen Spaß« zu Ende gelesen haben, das ist
ihr einziges Grand-Slam-Halbfinale, Momenten auf dem Center-Court Ein- wie bei Musils »Mann ohne Eigenschaf-
2014, auch schon einige Zeit her, damals zug hält, »die Momente in Krafträu- ten« oder Uwe Johnsons »Jahresta-
gehörte sie zu den 20 besten Tennis- men, wenn es draußen dunkel, der gen« – Bücher, die alle wichtig finden,
spielerinnen der Welt, zwischenzeitlich Raum kalt ist, und alle anderen nicht die aber keiner gelesen hat. Bei der Lek-
sogar zu den Top Ten. Bald danach da sind«. türe von »Unendlicher Spaß« sind die
kam der Zusammenbruch. Petković’ Tenniskarriere ging in den meisten bei den ewigen Tennis-Passa-
Tennis ist für den Kopf der wahr- vergangenen zehn Jahren auf und ab. gen rausgeflogen. Petković hat gerade
scheinlich schwierigste Sport der Platz 10 der Weltrangliste im Jahr 2011. dort ihre Lieblingspassagen gefunden
Welt. Die langen Matches, die viele 143 im Jahr darauf, kurzfristig wieder und angestrichen. In einem Aufsatz
Zeit, dabei nachzudenken, die Se- hoch auf 9 im Jahr 2014, inzwischen 95. über seine eigene Tenniskarriere schreibt
kunden vor dem Aufschlag, nagende Die Karriere war eine ständige Such- Foster Wallace, durch das Juniortennis
Gedanken. Und jedes Jahr neun Mo- bewegung nach Wegen aus der Finster- im Mittleren Westen habe er als Jugend-
nate unterwegs, Melbourne, Paris, nis. Nach einer Panikattacke in einem licher schon wahre »Erwachsenentrau-
London, New York, Dubai, Indian winzigen Hotelzimmer in Melbourne rigkeit« kennengelernt. Petković wusste
Wells, Montreal, Wuhan, Tokio. Hotel- beruhigte sie die Gesellschaft von Ras- sofort, was er meinte. Lange hatte sie
zimmer, Minibar, Umkleidekabine, kolnikow aus Dostojewskis »Schuld und das Gefühl, ihr Sport mache zwar Spaß,
Platz, Pressekonferenz. Die Einsamkeit aber sei im Grunde eine banale Beschäf-
des Tennisspielers hört mit Verlassen tigung. Foster Wallace hat ihr gezeigt,
des Platzes nicht auf. dass man ein Tennismatch interpretie-
Andrea Petković hat nun über all ren kann wie einen Text. Und dass ein
diese Dinge und einige andere in einem Text wiederum den Rhythmus eines
Buch nachgedacht. Es geht um ihre Her- Ballwechsels haben kann. Und so lässt
kunft aus einer bosnisch-serbischen Fa- sich sagen, dass Petković neben Agassis
milie (sie kam als Baby mit ihren Eltern »Open« (das in Wirklichkeit der Schrift-
nach Deutschland), um ihr Bemühen, steller J. R. Moehringer geschrieben hat-
möglichst wenig aufzufallen und dazu- te) und den Foster-Wallace-Texten ein
zugehören, ihren großen Ehrgeiz, nach wirklich gutes Buch über Tennis gelun-
oben zu gelangen, nicht nur im Tennis, gen ist.
sondern überhaupt im Leben. Vor allem Andrea Petković: Zwischen Ruhm und Ehre Nach ein paar Stunden Telefonieren
aber handelt das Buch von der großen liegt die Nacht. KiWi; 272 Seiten; 20 Euro. findet Petković, immerhin wie gesagt

Fotos: Tim Wegner für SPIEGEL BESTSELLER 5


Platz 95 der Weltrangliste, doch noch
einen Trainingsgegner für den kom-
menden Tag. Matteo Feggi ist ein durch-
trainierter 18-Jähriger, Hessenmeister
in seiner Altersklasse. »Der würde mich
wahrscheinlich schlagen«, sagt Petko-
vić, »wenn es nur um Kraft ginge.« Sie
überlegt kurz. »Aber dank meiner Er-
fahrung und meiner Psychotricks dann
eben doch nicht.«
Sie haben sich auf den Plätzen des
TEC Darmstadt getroffen, Petković’ Hei-
matklub, gleich neben dem Stadion am
Böllenfalltor, wo ihr Vater Trainer war
und sie schon als Achtjährige gespielt
hat, bis ihre »weißen Tennisklamotten
durchnässt waren vom Schweiß und ge-
legentlichem Regen, verdreckt vom ro-
ten Sand, nach Anstrengung stanken«.
Petković lebt immer noch in Darm-
stadt, zumindest in den wenigen Wo-
chen, in denen sie nicht auf der WTA-
Tour unterwegs ist. Es ist Sonntag, aber Athletin Petković: »Im Grunde geht es um Rache«
Petković will sich keine Pause gönnen,
obwohl ihr Freund aus Brooklyn gerade hand blieb harmlos. Als sie merkte, dass Petković verlor das Spiel und konnte
zu Besuch ist. Jesse ist Musiker und sieht Petković keine Angst hatte und sich die nächsten vier Tage nicht aus dem
aus wie James Franco, obwohl ihm die- wohlfühlte, begann Kusnezowa, Fehler Bett aufstehen. Sie war ein Migranten-
ser Vergleich nicht gefällt (»Ich glaube, zu machen. Sie gewann den ersten Satz kind und mit Bildungshunger und guten
Franco wird bald metooed«). Er hat viel 6:4, im zweiten stand es 5:4 und 40:0 Schulleistungen einer gesellschaftlichen
mit den Strokes gearbeitet, seine eigene für Petković. Drei Matchbälle. Elite hinterhergehetzt, »den Kindern
Band Hoko sollte dieses Jahr groß auf Doch dann »störte etwas die Ruhe von Anwälten, Ärzten und Architek-
Tournee gehen, doch da das nun pande- im eigenen Zen«, schreibt Petković. ten«, die sie im Tennisklub kennen-
miebedingt ausfällt, steht Jesse eben am »Ein Gedanke. Ich weiß nicht mehr ge- gelernt hatte und die einen uneinhol-
Rand eines Tennisplatzes in Darmstadt. nau, welcher. Ein weiterer Gedanke: Ich baren Vorsprung zu haben schienen.
Petković hat sich eine Bandage über kann hier die Titelverteidigerin raus- Der Tennis-Expresszug, wie sie es
das linke Knie gestreift, jenes Knie, das nennt, gab ihr die Möglichkeit, Schule,
der Grund war für ihre einjährige Pau- Studium und Karriere zu überspringen.
se. Sie hofft, es hält. Bisher ist sie zu- »Der erste Gedanke Sie musste nur hart genug arbeiten. Sie
frieden mit ihrer Trainingsform, viel- war ein klebriger liebte die langen Trainingseinheiten, die
leicht geht ja was bei Roland Garros, Stein, der eine ewigen Wiederholungen, die Automa-
doch als sie sich das erste Mal ans Netz tismen, die ohne Denken funktionier-
Lawine auslöste.«
wagt, passiert der junge Hessenmeister ten. Dann konnte Andrea Petković ihr
sie. Als sie vergebens versucht, einen Gehirn ausschalten.
Stoppball zu erreichen, schimpft sie schmeißen. Noch einer: Was sagen wohl Doch als sie 2011 ihr erfolgreichstes
über sich selbst. Dies sei ja wohl »der meine Eltern? Werden sie stolz sein?« Jahr hatte, in den Turnieren regelmäßig
langsamste Antritt in der Geschichte Sie denkt darüber nach, ob sie der Geg- die Finalrunden erreichte und Spiele-
der langsamen Antritte« gewesen. Wo nerin auf Vor- oder Rückhand servieren rinnen der Weltspitze wie Maria Sha-
bleiben ihre Psychotricks? soll, ob sie auf Punkt oder auf Ballwech- rapova schlug, stellte sich das ersehnte
Wie die Psyche beim Tennis funktio- sel gehen soll und ob sie im Fernsehen Glück nicht ein. Petković’ Verwunde-
niert und wie sie es vermag, dir ein per- ist und wie viele Leute gerade zusehen. rung schlug in tiefe Enttäuschung um.
fektes Match zu zerstören, auch davon »Der erste Gedanke war ein kleiner Im Folgejahr gab ihr Körper auf, sie
handelt ihr Buch. Wieder French Open, klebriger Stein gewesen, an dem etwas verletzte sich dreimal, rutschte Ende
diesmal 2010, zweite Runde gegen die Schnee haften geblieben war, doch als 2012 auf Platz 143 ab. Doch plötzlich
Titelverteidigerin Swetlana Kusnezowa. ich mich an die Grundlinie stellte, um hatte sie wieder ein Ziel: den Beweis
Die Russin hatte in der ersten Runde zum Matchball aufzuschlagen, hatte der anzutreten, dass sie zurückkommen
schon Probleme gehabt, und auch gegen kleine Stein eine Lawine ausgelöst, die kann. Nicht der Erfolg macht glück-
Petković fand sie ihr Spiel nicht. Ihre geradlinig auf mich zukam und mich lich, sondern die Aussicht, es allen zu
Bälle kamen zu kurz, die Topspin-Vor- mit in die Schlucht riss.« zeigen.

6 S P I E G E L B E STS E L L E R   /  H E R B ST 2 02 0
Titel

Im Grunde geht es um Rache. Rache ter wieder aufhörten. Vielleicht ein


an der Welt, an allen Zweiflern, Ver- Burn-out, vielleicht eine Depression, es
geltung für all die Schmerzen, körper- dauerte, sie begann, einen Psychothe-
licher und seelischer Art. Das gehe rapeuten aufzusuchen.
beinahe allen Tennisspielern so, sagt Ein letztes richtiges Comeback ist
Petković, selbst Serena Williams habe ihr als Tennisspielerin bisher nicht
ihr mal erzählt, ihr Freund habe sie ver- gelungen, sie war oft verletzt. Sie ist
lassen und nun werde sie ihm auf dem nun 33, und auch das Jahr 2020 begann
Tennisplatz zeigen, was er verloren mit einer Verletzung, wieder das Knie.
habe. Sie werde für ihn jetzt einen An diesem Sonntag während des Trai-
Grand Slam gewinnen. nings in Darmstadt mit Matteo schwillt
Petković meint, sie könne fast bei es ebenfalls wieder leicht an. Sie geht
allen Spielern sagen, wo die inneren am nächsten Morgen zum Arzt, lässt es
Konflikte liegen, die sie antreiben. Sie punktieren, die Flüssigkeit muss raus
manifestierten sich im Spielstil. Rafa für Paris. Dann fährt sie zu ihrem Trai-
Nadal? So ein neurotischer Typ. Djo- ner nach Saarbrücken, drei Tage inten-
ković? Tausend Sachen, die bei dem sive Vorbereitung, bis sie nach Paris
innerlich abgehen. Sie sieht bei jedem aufbricht.
etwas, »nur bei Roger nicht«. Federer Wegen Covid-19 sind die Bedingun-
sei das Enigma auf der Tour. Immer gen bei einem Grand-Slam-Turnier
ausgeglichen, immer gelassen. »Good noch einmal härter. Alle Spieler sind in
for him«, sagt Petković. »Ich wünschte, einem Quarantänehotel einkaserniert.
ich hätte das auch.« Es ist ein Novotel in der Nähe des Eif-
Petković musste sich zwei Jahre lang felturms, Petković kann aus ihrem Zim-
zurückkämpfen. Anfang 2015 war sie mer die Seine sehen. Sie darf sich nur
wieder da und laut Weltrangliste die zwischen Hotel und Tennisanlage be-
neuntbeste Tennisspielerin auf dem Pla- wegen, Essen bitte ausschließlich vom
neten Erde. Doch statt Freude kam Lee- Zimmerservice. Ihre Gegnerin in der
re. »Mit dem verpufften Rachegefühl ersten Runde heißt Tsvetana Pironkova,
gingen auch mein Wille und meine Mo- zwar nur die Nummer 157 der Welt-
tivation den Bach hinunter. Ich hatte rangliste, ist aber bei den U. S. Open
nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen drei Wochen zuvor bis ins Viertelfinale
lohnte. Außerdem ist es verdammt gekommen. Petković vermisst das Flir-
anstrengend, knapp zwei Jahre seines ren, das so ein Grand-Slam-Turnier
Lebens auf reinem Willen und negati- sonst mit sich bringt, die Spannung, die
ven Gefühlen aufzubauen.« sich langsam aufbaut, das Aufeinander-
Als sie wieder eine Top-Ten-Spiele- treffen mit den anderen Spielern in der
rin war, hatte Petković keine Lust mehr Players’ Lounge. Es fühlt sich nicht an
zu trainieren, sie hörte auf zu essen. Sie wie großes Turnier.
fühlte sich müde, verließ das jeweilige Beim Match gelingt es Petković nicht,
Hotelzimmer nur noch für das Nötigste die Spannung anzuknipsen, die Locker-
und begann, sich mit ihrem Team zu heit aus dem Training fehlt ihr, sie
streiten. Ein paar Monate später nach macht Doppelfehler, was ihr sonst sel-
einem verlorenen Spiel im chinesischen ten passiert. »Immer wenn ich das Ge-
Zhuhai begannen in der Umkleidekabi- fühl hatte, vielleicht einen Fuß in die
ne Heulkrämpfe, die erst vier Tage spä- Tür zu bekommen«, sagt sie später, »hat
die Gegnerin mir die Tür vor den Kopf
gehauen.«
Petković verliert in zwei Sätzen. Ihr
Trainer sagt, im Training habe es aus-
gesehen, als wäre mehr drin gewesen.
Wenn sie Trost braucht in Paris, al-
lein im Novotel, kann sie diesen sicher
bei Foster Wallace und seiner Erwach-
senentraurigkeit finden. Oder in ihrem
eigenen Buch.
SPIEGEL-Redakteur, Petković
in Darmstadt Philipp Oehmke

: 7
Bestseller Belletristik (Hardcover)
1 Volker Klüpfel / Michael Kobr: Funkenmord 11 Sebastian Fitzek (Hg.): Identität 1142
Ullstein; 22,99 Euro Droemer; 20 Euro
Der neue Krimi mit dem Allgäuer Kommissar Kluftinger Pandemie-Sammelband mit Kurzgeschichten von Fitzek
dreht sich wie immer um Essen, die Ehe und den Doktor selbst, seinen Fans und Gastautoren wie Charlotte Link
Langhammer – und das bisschen Totschlag nebenbei. und Frank Schätzing.

2 Ken Follett: Kingsbridge. Der Morgen einer neuen Zeit 12 Jan Weiler: Die Ältern
Lübbe; 36 Euro Piper; 15 Euro

Der britische Historienbaumeister hat mal wieder eine Humoriges Buch darüber, wenn die Kinder erwachsen
Textkathedrale errichtet: ein Buch für alle, die Begriffspaare werden. Siehe Hörbuchrezension auf Seite 27.
wie »rebellische Normannenprinzessin« schätzen.

3 Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet 13 Bernhard Schlink: Abschiedsfarben


Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro Diogenes; 24 Euro
Dieses Buch, in dem es um einen Schlaganfall geht, sollte Fideles Alterswerk eines Erzählers, dessen Helden jahres-
es auf Rezept geben, schrieb Cordt Schnibben im SPIEGEL. zeitgemäß wohlig fröstelnd auf die eigenen Schurkereien,
Er hatte es nach seinem eigenen Schlaganfall gelesen. Schicksalsschläge und Glücksmomente zurückblicken.

14 Peter Prange: Winter der Hoffnung


4 Elke Heidenreich: Männer in Kamelhaarmänteln Fischer Scherz; 20 Euro
Hanser; 22 Euro Das war die Liebe im Hungerwinter 1946: Prange,
»Kurze Geschichten über Kleider und Leute«, so der bekannt durch historische Unterhaltungsromane, erzählt
Untertitel. Siehe Rezension auf Seite 25. die Geschichte von Ulla und Tommy.

15 Håkan Nesser: Barbarotti und der schwermütige


5 Thomas Hettche: Herzfaden Busfahrer
Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro btb; 22 Euro
Roman über die Augsburger Puppenkiste. Siehe Kolumne Wenn ein Inspektor mit seiner Gefährtin in der Provinz
auf Seite 38. mal richtig ausspannen will – kommt er natürlich
einem besonders gruseligen Verbrechen auf die Spur.

6 Ferdinand von Schirach: Gott 16 Jo Nesbø: Ihr Königreich


Luchterhand; 18 Euro Ullstein; 24,99 Euro
Ärzte dürfen Sterbewilligen beim Suizid helfen, aber sollen Der für knallharte Krimis berühmte Autor probiert
sie es auch? Lehrstück über wichtige ethische Fragen. sich im Fach des Familiendramas aus und enthüllt das
Geheimnis zweier ungleicher Brüder.

7 Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse 17 Christopher Paolini: Infinitum. Die Ewigkeit
Hanserblau; 22 Euro der Sterne
Kriminalistische Geschichte einer jungen Außenseiterin. Knaur; 24 Euro
Der große Überraschungserfolg der vergangenen Jahre. Fantasy-Epos des Autors von »Eragon«.

18 Stephenie Meyer: Biss zur Mitternachtssonne


8 Robert Seethaler: Der letzte Satz Carlsen; 28 Euro
Hanser Berlin; 19 Euro
Vampire altern doch: Die Liebesgeschichte zwischen
Gustav Mahler auf seiner letzten Schiffsreise. Edward und der Schülerin Bella, erzählt aus seiner Sicht,
Siehe Hörbuchrezension auf Seite 26. ist kein Hit wie ihre Vorgänger.

9 Carmen Korn: Und die Welt war jung 19 Andreas Eschbach: Eines Menschen Flügel
Kindler; 22 Euro Lübbe; 26 Euro
Unterhaltungsroman über die Nachkriegszeit in Köln, Science-Fiction-Roman über fliegende Kinder.
Hamburg und San Remo.

10 Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der 20 Ursula Poznanski: Cryptos


Erwachsenen Loewe; 19,95 Euro
Suhrkamp; 24 Euro
Jugendthriller über eine Welt nach dem Klimawandel.
Familiengeschichte aus Neapel. Siehe Rezension auf Seite 24.

8 Bestseller im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »buchreport«; Daten: media control
Auf Platz 1: Volker Klüpfel, das ist der Herr links im Bild, erzählte einem Journalisten einmal, dass er SPIEGEL-Abonnent sei.
Vermutlich unter anderem, um über die jeweils aktuelle Platzierung der Krimis im Bilde zu sein, die er zusammen mit Michael
Kobr, das ist der Herr rechts im Bild, schreibt. Seit 2006 »Seegrund«, der dritte Band ihrer Reihe um den Allgäuer Kommissar
Kluftinger, auf der SPIEGEL-Bestsellerliste auftauchte, waren die beiden dort mit jedem Buch vertreten. 2009 schoss erstmals einer
ihrer Romane, »Rauhnacht«, von null auf eins – und so ist es auch 2020 wieder: »Funkenmord«, Kluftingers neunter Fall, führt
die Liste an – und widerlegt auch die These, dass es in Krimis um Spannung gehe. Hier geht es um Entspannung.

Foto: Hans Scherhaufer 9


Bestseller Sachbuch (Hardcover)
1 Mary L. Trump: Zu viel und nie genug 11 Maja Göpel: Unsere Welt neu denken
Heyne; 22 Euro Ullstein; 17,99 Euro
Enthüllungsbuch der Nichte des amtierenden US-Präsi- Ein Weltrettungsbuch: warum wir unsere Lebens-
denten – und Porträt eines kalten, bösen Onkels. grundlagen vernichten – und wie wir unser Denken
und Handeln ändern können.

2 Hamed Abdel-Samad: Aus Liebe zu Deutschland 12 Thilo Sarrazin: Der Staat an seinen Grenzen
dtv; 20 Euro Langen-Müller; 26 Euro

»Ein Warnruf« – so der Untertitel – eines Zuwanderers, Methode Sarrazin: Erst kommt die Schlussfolgerung, dann
der die Deutschen auffordert, Liberalität und Toleranz zu die Herleitung – oder zumindest alles, was zur Schluss-
wahren. folgerung passt. Diesmal zum Themenkomplex Migration.

3 Manfred Lütz: Neue Irre. Wir behandeln die Falschen 13 Dietrich Grönemeyer: Naturmedizin und Schulmedizin!
Kösel; 20 Euro S. Fischer; 24 Euro
Na, wenn’s denn hilft: ein humoristisches Buch über Der Volksmediziner hält Sprechstunde: Was gegen
Seelenkrankheiten für das breite Publikum. Volkskrankheiten hilft.

4 Jan Böhmermann: Gefolgt von niemandem, dem 14 Matthias Horx: Die Zukunft nach Corona
du folgst Econ; 15 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro Eine Pandemie und ihre Nebenwirkungen: Auch die
Fast schon ein Fall fürs Deutsche Historische Museum: Zukunftsforscher der Achtzigerjahre sind wieder da.
Der linke Meinungsmacher legt seine Tweets vor.

5 Richard David Precht: Künstliche Intelligenz und 15 Jessica von Bredow-Werndl: Das Glück der Erde
der Sinn des Lebens Knaur; 22 Euro
Goldmann; 20 Euro Worum es da wohl geht? Kleiner Tipp: Die Autorin ist
Erste Lektion auf dem Weg zur Erkenntnis: Seien Sie vor- Dressurreiterin.
sichtig, wenn Ihnen jemand den Sinn des Lebens verkauft.

6 Ferdinand von Schirach / Alexander Kluge: Trotzdem 16 Michelle Obama: Becoming


Luchterhand; 8 Euro Goldmann; 26 Euro

Ein Gespräch über Corona und die Folgen. Bewahrt eure Werte – und vergesst den Spaß dabei nicht.
Einsichten und Erinnerungen der Ex-First-Lady.

7 Bas Kast: Der Ernährungskompass


C. Bertelsmann; 20 Euro 17 Otto Kernberg / Manfred Lütz: Was hilft
Nach dem großen Erfolg dieses Ratgebers hat der Psychotherapie, Herr Kernberg?
Herder; 20 Euro
Journalist einen Roman geschrieben. Siehe Rezension
auf Seite 11. Der renommierte Therapeut zieht eine Bilanz seines
Lebens, erklärt das Wesen der psychischen Krankheit
und sagt, was aus seiner Sicht hilft.
8 Philippa Perry: Das Buch, von dem du dir wünschst,
deine Eltern hätten es gelesen
Ullstein; 19,99 Euro 18 Clemens G. Arvay: Wir können es besser
Quadriga; 20 Euro
Eltern räumten zu selten Schwächen ein, sagt die
britische Autorin. Dabei sei es wichtig, sich bei seinen Der Österreicher bezeichnet sich als Gesundheits-
Kindern auch mal zu entschuldigen. ökologen. Er meint: Covid-19 sei nur ein Symptom eines
kranken Lebensraums.

9 Marianne Koch: Unser erstaunliches Immunsystem


dtv; 20 Euro
19 Kübra Gümüşay: Sprache und Sein
Hanser Berlin; 18 Euro
Fakten und Tipps zur Stärkung der Körperabwehr, verab-
Bemühte Besinnungsschrift zum Diversity-Komplex.
reicht von einer Ärztin, die viele als Schauspielerin kennen.

10 John Strelecky: Was ich gelernt habe


dtv; 18 Euro
20 Florian Langenscheidt / André Schulz: Alt genug,
um glücklich zu sein
Lebensweisheiten von der Pflückplantage. Siehe Kolumne Heyne; 20 Euro
auf Seite 22.
Wenn das nicht als Geschenk gedacht ist:
optimistisches Buch über das Älterwerden.

10 Bestseller im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »buchreport«; Daten: media control
Bücher

Der Laden läuft


Autoren Mit dem »Ernährungskompass« hat Bas Kast großen Erfolg. Nun wollte er
etwas anderes machen – und hat einen Roman geschrieben: »Das Buch eines Sommers«.

an wird keinen ganzen Sommer Romanentwurf in jungen Jahren war


M brauchen, um »Das Buch eines
Sommers« zu lesen, ein Nachmittag
ein Fragment geblieben – Kast hatte
befunden, er habe dafür schlicht noch
sollte genügen. Figuren, Handlung und nicht genug erlebt. Das ist nun anders,
Entwicklung sind intuitiv zugänglich, er hat studiert, gearbeitet, ist Ehemann,
man gleitet hinein wie in ein Becken Vater und berühmt geworden. Er steckt
mit Thermalwasser. Und sollte man in der berüchtigten Rushhour des Le-
zwischendrin gestört werden, so ist das bens, in der alles auf einmal passiert:
keine Katastrophe, das Buch lässt sich kleine Kinder, große Aufträge und
gut portionieren. Allerdings steckt mehr kaum noch Zeit zum Nachdenken oder
darin, als der zivile Stil, der freundliche gar Träumen. Es läge nahe, immer wei-
Umfang und das sommerlich inspirie- terzumachen mit dem, was so erfolg-
rende Cover vermuten lassen, denn es reich war, aber liegt der Sinn von Arbeit
ist eine literarische Introspektion, die, allein im Geldverdienen?
wenn man darüber nachdenkt, eine ge- Kast wandte sich an den Diogenes
samte Gesellschaft erfassen kann. Der Verlag, dessen Bücher und Autoren –
Protagonist hat einiges geleistet, die Patrick Süskind, Bernhard Schlink und
vom Vater geerbte Firma fortgeführt. Martin Suter beispielsweise – ihm an-
Diese Position hat er sich aber nur zum Romandebütant Kast genehm waren, sie decken zwischen
Teil ausgesucht, sie ist, so empfindet er Wann findet das Leben eigentlich statt? hermetischer Gegenwartsliteratur und
es, die Bedingung, um sich die väter- kommerzieller Unterhaltungslektüre
liche Zuneigung zu verdienen, auch rungskompass«, sagenhaften Erfolg ver- eine mittlere Ebene ab. Kast wollte kei-
wenn es die nur noch posthum geben bucht. Er ziert jetzt das Titelbild großer nen Vorschuss, dafür eine Einweisung
kann. Der Laden läuft, aber tut er das Illustrierter, bekommt Angebote, sein ins literarische Genre und die Arbeits-
auch in die richtige Richtung? Ist ein ef- Werk zu verfilmen, und könnte auf weise eines Romanciers – was er macht,
fizientes, materiell erfolgreiches Leben ewig das Loblied auf Omega-3-Fett- macht er gründlich.
auch in jedem Fall ein befriedigendes? säuren und die Vorzüge des Brokkoli- So wurde noch einmal am Einstieg
Und wann findet das Leben eigentlich verzehrs singen. Oder er könnte die be- des Buches gearbeitet – der Sommer
statt? Wenn man so reich ist, dass man währte und gute Machart auf andere beginnt nun mit einer Art romantischer
nicht mehr arbeiten muss? Möchten sei- Themen anwenden, etwa einen Erzie- Rückblende und einem Rettungseinsatz
ne Frau und sein Sohn wirklich in erster hungsratgeber verfassen – wobei ihn da des interessanten Onkels. Dabei weist
Linie finanzielle Sicherheit? der Mangel wirklich belastbarer Fakten dieses Buch über seine ansprechende
Man hört in diesen Zeilen unweiger- irritierte. Nutzeroberfläche hinaus und stellt Fra-
lich auch die Stimme des Autors. Bas So gab er einer inneren Versuchung gen, die sich einer ganzen Gesellschaft
Kast wuchs in einem Elternhaus auf, in nach, das Repertoire zu erweitern und stellen: Wie betrachten wir, gefangen
dem es viel um Literatur ging, der Vater sich in Literatur zu versuchen. Der erste in der Logik des fortwährenden Wachs-
arbeitete beim Goethe-Institut. Es gab tums, den Moment?
Begegnungen mit Hans Magnus En- Viele versuchen doch, jeden Augen-
zensberger, die den jungen Bas schwer blick optimal zu nutzen, im Hinblick
beeindruckten, bis heute: Enzensberger auf Fitness, höhere Erträge und eine
ist eine Inspiration für die Figur des bessere Effizienz, aber es geht dabei ei-
Onkels in dem Roman. gentlich um die Gestaltung der Zukunft.
Im Gegensatz zum klassisch kar- Mit der Gegenwart etwas anzufangen,
riereorientierten Vater schaut dieser mit unnützen Träumen oder Erinnerun-
Onkel liebevoller auf das Leben, schätzt gen, das fällt uns merklich schwerer.
dessen poetische Seiten und versteht Man kann es aber üben, sich besinnen,
es, die Sinnlichkeit des Moments zu und ein guter Anfang ist die Lektüre
gestalten. dieses verzaubernden Buches.
Kast hat mit seinen Wissenschafts- Bas Kast: Das Buch eines Sommers
büchern, vor allem mit seinem »Ernäh- Diogenes; 240 Seiten; 22 Euro. Nils Minkmar

Foto: Gene Glover / Diogenes Verlag 11


Bücher

»Ich habe in die Steaks


geschluchzt«
Selbstverwirklichung Die Krimiautorin Nele Neuhaus über Fettwachsleichen,
die Liebe, ihren langen Weg an die Spitze und ihre Sommer in der Wurstfabrik

Neuhaus, 53, hat 26 Bücher geschrieben. Die verkaufte Gesamtauflage ihrer Romane beträgt mehr als elf Millionen
Exemplare. Ihr Werk ist in 35 Sprachen übersetzt. Acht ihrer Bücher wurden verfilmt. Neuhaus schreibt Kriminalromane
und Pferdebücher für Jugendliche oder für alle, die sonst gern Pferdebücher lesen. Sie ist vom Polizeipräsidenten
Westhessens zur Kriminalhauptkommissarin ehrenhalber ernannt worden. Japanische Buchhändler verliehen ihr den
Titel »Honya Taishō«, was auch immer das genau sein mag.

12 S P I E G E L B E STS E L L E R   H E R B ST 2 02 0
I n der Küche bei Nele Neuhaus zu
Hause, oben auf den Schränken,
stehen 26 Flaschen Champagner. Rui-
händler in Königstein eingeladen zum
Tag der offenen Tür, und da war auch
ein Mann, der wirklich gut aussah, mit
SPIEGEL: Ich habe gelesen, Sie kamen
durch einen Unfall zum Schreiben. Ein
Motorrad hatte Sie angefahren.
nart und eine Flasche Dom Perignon. stahlblauen Augen. Ich bin eigentlich Neuhaus: Geschichten schreiben woll-
Es sind Geschenke. Wenn mal wieder gar nicht so für blaue Augen, aber seine te ich schon, seitdem ich wusste, was
eines von Neuhaus’ Büchern auf Platz waren einfach fantastisch. Er hat dort ein Buch ist. Aber nach dem Unfall lag
eins gelandet ist oder irgendeinen Re- gekellnert. Wir sind beim Rauchen vor ich lange im Krankenhaus. Ich war zehn
kord gebrochen hat, schickt der Verlag der Tür ins Gespräch gekommen. Er Jahre alt, durfte nichts tun, nicht einmal
eine Flasche. hatte keine Ahnung, wer ich bin. Das lesen, weil ich einen Schädelbasisbruch
Die Bücher, die Neuhaus bekannt fand ich gut. Er war eigentlich auch kein hatte und mit einem Eiskissen unterm
gemacht haben, spielen im Taunus. Ihre Kellner, sondern Banker, und hat dort Kopf in einem dunklen Einzelzimmer
Ermittler heißen Pia Kirchhoff und Oli- nur ausgeholfen. lag. Heute legt man Kinder in solchen
ver von Bodenstein. Neuhaus schreibt SPIEGEL: Fantastisch. Lassen Sie uns Fällen ins künstliche Koma, damals
präzise, leise dahingleitende Kriminal- über Bücher reden. Ihr erstes Buch han- musste ich gnadenlos an die Decke
romane, Hunderte von Seiten lang, in delte angeblich von Eulen und wurde gucken, acht Wochen lang. Da hat sich
denen man nebenbei auch erfährt, wie nie veröffentlicht? meine Fantasie entwickelt.
Bodenstein mit seiner Frau klarkommt Neuhaus: Es war kein Buch, sondern SPIEGEL: War diese Fantasie der Aus-
und was Kirchhoff gern frühstückt. eine Geschichte. Ich habe sie geschrie- löser dafür, dass Sie später von der
Manchmal fragt man sich, warum man ben, als ich fünf Jahre alt war. Ich war Schule geflogen sind?
das eigentlich liest wie ein Spanner, der noch nicht in der Schule und habe in Neuhaus: Ganz sicher. Ich wurde von
bei den Nachbarn zuschaut, wenn sie Druckbuchstaben und Lautschrift mit der katholischen Nonnenschule weg-
Abendbrot essen. Aber möglicherweise Wachsmalstiften geschrieben. gelobt, denn mein Vater war damals
ist es genau das, was fasziniert, diese SPIEGEL: Wird man als Schriftstellerin Landrat, und die Schule wurde von sei-
Nähe zu den Figuren. Und dann ertappt geboren? nem Landkreis unterstützt, deswegen
man sich dabei, wie man wieder einen Neuhaus: Es ist in einem drin oder konnten sie mich nicht wirklich raus-
Roman aus der Reihe durchgelesen hat. eben nicht. Bücher zu schreiben ist in schmeißen. Ich hatte einen Elternbrief
Bisher sind neun Taunuskrimis erschie- einem gewissen Maße erlernbar. Wer gefälscht und in Umlauf gebracht. In
nen: Geschichten über schöne Häuser, selbst schreibt, weiß, dass Schreiben dem Brief stand unter anderem, es wür-
schnelle Pferde, verlogene Frauen, ein Handwerk ist. Es ist nicht so, dass de ein McDonald’s auf dem Schulgelän-
deutsche Spießigkeit und den freund- ich dasitze und warte, dass mich die de eröffnen. Weil meine Schreibmaschi-
lichen Nachbarn, der eigentlich ein Muse küsst. Ich muss mir einen Plot ne dasselbe Typenbild wie die aus dem
Mörder ist. erarbeiten. Nicht erlernbar ist aller- Schulsekretariat hatte, sah das total echt
Am Tag des Interviews empfängt dings die Fantasie, die Gabe, andere aus. Ich habe den Briefkopf der Schule
Nele Neuhaus in ihrem Haus im Tau- Welten zu erschaffen. Und man sollte darüberkopiert und die Unterschrift der
nus zusammen mit ihrem Mann. Die das Schreiben und die Einsamkeit, die Obernonne gefälscht.
beiden stehen in der Tür mit ihrem mit der Arbeit an einem Buch ein- SPIEGEL: Sie haben dann woanders
Australian Cattle Dog Akela. Neuhaus’ hergeht, genießen können. Wenn ich Ihr Abitur gemacht, in einer Werbe-
Mann hat Tagliatelle mit Steinpilzen nicht schreiben kann, bin ich nur ein agentur gearbeitet und sind irgendwie
gekocht, mit denen er sehr unzufrieden halber Mensch. Beim Schreiben bin in einer Wurstfabrik gelandet.
ist, die aber in Wirklichkeit sensatio- ich glücklich. Ich bin mir ganz sicher, Neuhaus: Richtig.
nell schmecken. dass ich, wenn ich nicht bekannt ge- SPIEGEL: Mögen Sie Wurst?
Nach dem Essen setzt sich Neuhaus worden wäre, weiter für mich allein Neuhaus: Wurst esse ich schon lange
auf die Terrasse, raucht eine Zigarette geschrieben hätte, weil ich das ein- nicht mehr. Ich weiß, was da drin ist.
und sagt: »So, dann fragen Sie mal.« fach liebe. SPIEGEL: Wie kamen Sie in diese
Fabrik?
SPIEGEL: Frau Neuhaus, ich würde Neuhaus: Ich bin immer schon gern
Ihnen gern als Erstes eine etwas indis- geritten. Im Reitstall um die Ecke stan-
krete Frage stellen. den auch die Pferde von einem Herrn
Neuhaus: Einverstanden. Neuhaus. Er war 40, ich war 20, und er
SPIEGEL: Ist aber privat und völlig war ein cooler Typ, ein furchtloser
irrelevant für Ihre Arbeit als Schrift- Springreiter. Ich kam aus einem gut-
stellerin. bürgerlichen Elternhaus, und er war
Neuhaus: Macht nichts. das Gegenteil von gutbürgerlich. Das
SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie Ihren hat mich beeindruckt. Ich habe mich
Mann in einer Buchhandlung kennen- um seine Pferde gekümmert, dann habe
gelernt haben? ich mich in ihn verliebt, und auf einmal
Neuhaus: Ja, das stimmt. Es war ein Nele Neuhaus: Zeiten des Sturms. stellte sich heraus, der hat eine Fleisch-
Sonntagnachmittag. Ich war vom Buch- Ullstein; 528 Seiten; 15,99 Euro. fabrik. Was machen Sie dann?

Fotos: Peter Jülich für SPIEGEL BESTSELLER 13


Bücher

SPIEGEL: Sie müssen ja auch nicht Geschwister und Freundinnen Post- Neuhaus: Leider muss ich heute sagen,
Jongleuse werden, wenn Sie sich in karten aus der ganzen Welt schickten. dass es wohl eher Abhängigkeit war als
einen Jongleur verknallen. Urlaub gab es nie. Mein Ex-Mann war Liebe. Ich fühlte mich gefangen, sah
Neuhaus: Das entwickelte sich der Unternehmer, ich war die Ehefrau aber lange keinen Ausweg. Das Schrei-
schleichend. Mal aushelfen, mal mit mit Steuerklasse 5 und 350 Mark im ben war über Jahrzehnte hinweg meine
anpacken an einem freien Tag. Irgend- Monat. Flucht. Mein erstes Buch spielte in New
wann musste ich entscheiden: Jura- SPIEGEL: Wann haben Sie geschrie- York. Ich war nur für ein paar Tage dort
studium oder den Ehemann unterstüt- ben? gewesen, musste also alles recherchie-
zen. Und dann gab es kein Zurück Neuhaus: Jeden Abend für ein oder ren. In der realen Welt habe ich Steaks
mehr. Ich wurde in der Fleischfabrik zwei Stunden, wenn mein Mann seine eingeschweißt, aber in Gedanken war
gebraucht. Meistens im Büro, aber im Mutter im Altersheim besucht hat und ich beim Bürgermeister von New York,
Sommer habe ich tagelang an der ich die Pferde versorgt und den Haus- bei Sergio, dem Mafiapaten, und bei
Abpackstraße gestanden und Tonnen halt erledigt hatte. Alex. Das hat meinen Verstand gerettet.
von Schweinesteaks verpackt und in SPIEGEL: Sie müssen diesen Ex-Mann SPIEGEL: Hat Ihr Ex-Mann Sie unter-
die Steaks geschluchzt, wenn meine sehr geliebt haben. stützt?
Neuhaus: Im Gegenteil. Er hatte wenig
Verständnis. Er hat immer gesagt, du
Bestseller Taschenbuch Bestseller Paperback
mit deinem Geklimpere, schon wieder
Belletristik Belletristik
ist der Computer ganz heiß. Eines Tages
1 Karsten Dusse: Achtsam morden 1 Nele Neuhaus: habe ich gedacht, jetzt zeig ich’s dir, und
Heyne; 10,99 Euro Zeiten des Sturms versucht, einen Verlag zu finden.
Ullstein; 15,99 Euro SPIEGEL: Wie?
2 Andreas Franz / Neuhaus: Das Manuskript hatte fast
Warum die Krimiautorin auch
Daniel Holbe: Der Flüsterer
Knaur; 10,99 Euro
anderes schreiben will, erzählt tausend Seiten. Die habe ich mehrfach
sie im SPIEGEL-BESTSELLER-Interview. kopiert. Dann bin ich ans Bücherregal,
3 Ewald Arenz: Alte Sorten 2 Harlan Coben: habe mir die Verlage meiner Lieblings-
DuMont; 10 Euro
Der Junge aus dem Wald autoren angeschaut und das Buch an
4 John Ironmonger: Der Wal und Goldmann; 15 Euro die geschickt. Es wollte allerdings nie-
das Ende der Welt 3 Jean-Luc Bannalec: mand haben. Ich habe dann 500 Exem-
Fischer; 12 Euro
Bretonische Spezialitäten plare von »Unter Haien« selbst drucken
Kiepenheuer & Witsch; 16 Euro lassen, in der Garage gestapelt und nach
5 Saša Stanišić: Herkunft
btb; 12 Euro und nach unter die Leute gebracht.
4 Ragnar Jónasson: Dunkel
SPIEGEL: Über die Fleischtheke?
Der literarische Erfolgstitel 2019, btb; 15 Euro
jetzt als Taschenbuch: eine er- Neuhaus: Auch. Es war kurz vor
staunlich leichtfüßige Geschich- 5 Laura Baldini: Lehrerin einer Weihnachten. Jeden Kunden, den ich
te von Flucht und Identität. neuen Zeit bedient habe, habe ich gefragt: »Haben
Piper; 12,99 Euro
Sie schon ein Geschenk für Ihren Mann
oder Ihre Frau?«, und wenn sie sagten,
Bestseller Taschenbuch Bestseller Paperback
nee, habe ich gesagt, ich habe ein Buch
Sachbuch Sachbuch
geschrieben, verschenken Sie doch das.
Ich signiere es auch.
1 Sucharit Bhakdi / Karina Reiss: 1 Stefanie Stahl: Das Kind in dir
Corona Fehlalarm? SPIEGEL: Sie haben Bücher mit der
muss Heimat finden
Goldegg; 15 Euro Kailash; 14,99 Euro
Schubkarre durch die Fußgängerzone
gerollt.
2 John Strelecky: Das Café 2 Franziska Böhler / Jarka Neuhaus: Es war eine Sackkarre.
am Rande der Welt Kubsova: I'm a Nurse SPIEGEL: Wie kamen Sie dann doch
dtv; 8,95 Euro Heyne; 12,99 Euro
zum Ullstein Verlag?
Der englischsprachige Titel
3 Yuval Noah Harari: Eine kurze Neuhaus: Als die Buchhändlerin aus
Geschichte der Menschheit soll wohl flott klingen:
Königstein der Verlagsvertreterin von
Pantheon; 14,99 Euro eine Krankenschwester über ihre
Leidenschaft für ihren Beruf. Ullstein meinen Roman zeigte und sag-
Der Historiker hat mittlerweile te, den habe sie im Weihnachtsgeschäft
20 Millionen Bücher verkauft und 3 Sabine Bode: Älterwerden ist voll
häufiger verkauft als den jüngsten
ist zum großen Welterklärer geworden. sexy, man stöhnt mehr
Goldmann; 13 Euro »Harry Potter«, ging alles ziemlich
4 John Strelecky: Big Five schnell.
dtv; 9,90 Euro 4 Raynor Winn: Der Salzpfad SPIEGEL: Mittlerweile haben Sie einen
DuMont Reiseverlag; 14,99 Euro
5 John Strelecky: Wiedersehen im Café neuen Mann und elf Millionen Bücher
am Rande der Welt 5 Christian Bischoff: Bewusstheit verkauft. Sie sind vor allem bekannt
dtv; 9,90 Euro Ariston; 18 Euro für Ihre Taunuskrimis. Haben Sie eine

14 Bestseller im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »buchreport«; Daten: media control S P I E G E L B E STS E L L E R   H E R B ST 2 02 0
Idee, warum die Menschen gern Krimi- Erzählform erlaubt mir ganz andere
nalgeschichten aus der westdeutschen Möglichkeiten. Immer nur Krimis wäre
Provinz lesen? mir zu einseitig. Eine Zeit lang habe ich
Neuhaus: Darüber habe ich schon oft mich gefragt: Bist du jetzt nur eine Kri-
nachgedacht. Ich schreibe Bücher, die miautorin, oder kannst du auch noch
ich selbst gern lesen würde. Nicht über etwas anderes?
den zerknirschten, krebskranken Er- SPIEGEL: Und?
mittler, der allein in seiner Wohnung Neuhaus: Sagen Sie es mir.
sitzt und melancholisch in den leeren SPIEGEL: Ihre Sheridan-Grant-Roma-
Kühlschrank starrt. Das gab es alles ne sind alle Bestseller. Mitunter hatten
schon, das wollte ich nicht. Ich möchte Sie fünf Bücher gleichzeitig in den Top
über Leute schreiben, die man verste- Ten der Taschenbuchbestsellerliste. Wie
hen kann, die man kennt. Bei denen fühlt sich dieser Ruhm an?
man denkt, aha, das könnte doch mein Neuhaus: Ich habe oft das Gefühl, dass
Nachbar sein. das alles jemand anderem passiert. Die
SPIEGEL: Manchmal finde ich es arg Neuhaus-Notizheft berühmte Schriftstellerin, das bin nicht
normal in Ihren Romanen, gerade weil »In Druckbuchstaben« wirklich ich.
ich denke, das könnte jetzt auch mein SPIEGEL: Wer ist es dann?
Nachbar sein. Ihre Ermittlerin Pia hat Neuhaus: Es ist eine Rolle, in die ich
als größtes Laster, dass sie gern Toast Neuhaus: Ich habe vor vielen Jahren schlüpfe wie in ein Kostüm. Wenn ich
mit Nutella isst und dass sie Zigaretten auf einer Pressekonferenz den Chef der eine Veranstaltung habe und mich
raucht. Kripo in Hofheim angesprochen und ge- schminke, sagt meine Stieftochter
Neuhaus: Es gefällt Ihnen also nicht, sagt: Hallo, ich habe einen Krimi ge- manchmal: Na, verkleidest du dich wie-
dass Pia dieselben Unarten hat wie schrieben und arbeite am nächsten, darf der als Nele Neuhaus?
ich? ich Sie mal besuchen und Ihnen ein paar SPIEGEL: Wieso haben Sie diese Rolle
SPIEGEL: Verzeihen Sie, Frau Neu- Fragen stellen? Dasselbe habe ich mit erfunden?
haus, das wollte ich damit nicht sagen. dem Chef der Frankfurter Rechtsmedizin Neuhaus: Sie hilft mir, demütig zu blei-
Neuhaus: Ich frühstücke morgens auch gemacht. Beide waren zuerst etwas miss- ben. Ich habe sehr hart gearbeitet für
Toastbrot mit Salzbutter und Nutella. trauisch, aber wir haben uns angefreun- meinen Erfolg, aber ich hatte auch
SPIEGEL: Sie sind Pia? det. Der Chef der Rechtsmedizin hat mir Glück. Und ich habe nie auf Ratschläge
Neuhaus: Pia ist ein bisschen Nele. später erklärt, was Fettwachsleichen sind. gehört, was den Inhalt meiner Bücher
Aber im Laufe der Zeit hat sie sich kom- SPIEGEL: Was sind Fettwachsleichen? betrifft. Bis heute ist jeder Buchtitel auf
plett von mir emanzipiert. Sie ist viel Neuhaus: Lesen Sie mein Buch, dann meinem Mist gewachsen. Nach kurzer
mutiger, als ich es bin, unverfrorener, wissen Sie es. Skepsis waren im Verlag immer alle
vielleicht kann sie auch logischer den- SPIEGEL: Ihr jüngstes Buch, »Zeiten happy, egal ob mit »Schneewittchen
ken als ich. des Sturms«, das diesen Sommer er- muss sterben« oder »Muttertag«.
SPIEGEL: Auf Ihrer Website steht das schienen ist, ist kein Krimi, sondern der SPIEGEL: Sebastian Fitzek hat jüngst
Zitat »Das Böse ist unspektakulär und dritte Teil der Sheridan-Grant-Trilogie, zu mir gesagt, er halte »Schneewittchen
stets menschlich und teilt unser Bett und die Geschichte eines Waisenmädchens muss sterben« für den besten Titel aller
sitzt mit uns am Tisch«. aus Nebraska. Zeiten.
Neuhaus: Das ist ein Zitat des engli- Neuhaus: Es geht zwar auch ein biss- Neuhaus: O wow! Das ist ein Riesen-
schen Schriftstellers W. H. Auden. Ich chen um Mord und Totschlag, aber lob. Der Arbeitstitel damals war »He-
habe es irgendwo gelesen und dann »Zeiten des Sturms« ist viel erzählen- xenjagd«, aber damit ist ja schon ein
meinem Kriminalroman »Muttertag« der. Es ist eben kein Krimi. Die Span- weitaus berühmterer Kollege unter-
vorangestellt. nung wird völlig anders aufgebaut, wegs. Beim Schreiben habe ich ständig
SPIEGEL: Was interessiert Sie am nicht durch die für Krimis typischen über einen Titel nachgedacht, und eines
Bösen? Zeitsprünge und Cliffhanger. Nachmittags war er dann in meinem
Neuhaus: Ich interessiere mich nicht SPIEGEL: Sind Sie fertig mit Krimis? Kopf. Auf Englisch klingt er fast noch
für Gewalt, aber es könnte sein, dass es Neuhaus: O nein, der nächste Taunus- besser: »Snow White Must Die«.
das ist, was die Leute so an Krimis fas- krimi ist in Planung. Die Sheridan- SPIEGEL: Ihre Romane sind in insge-
ziniert. In Kriminalromanen passiert all Grant-Romane schreibe ich in Ichform, samt 35 Sprachen übersetzt worden. In
das, was manche Menschen gern mal wie auch meine Jugendbücher. Diese Südkorea waren Sie auf Platz eins der
machen würden: dem blöden Chef in Bestsellerliste. Was interessiert die
die Fresse hauen, den Porsche des an- »Manchmal sagt Koreaner am Taunus?
geberischen Nachbarn zerkratzen. Neuhaus: Das ist mir bis heute ein
SPIEGEL: Woher wissen Sie eigentlich
meine Stieftochter: Rätsel.
so gut darüber Bescheid, wie die deut- ›Na, verkleidest
sche Polizei arbeitet? du dich wieder?‹« Interview: Takis Würger

15
Bücher

Die öffentliche Frau


Biografien Die Influencerin Cathy Hummels erzählt zum ersten Mal
von ihrer Depression – das ist gut gemeint und schlecht geschrieben.

B ei der Stelle mit den Schlümpfen


hat sie einen erwischt. Wenn Ca-
thy Hummels erzählt, wie sie bei den
über psychische Probleme, gelegentlich
fühlt man sich an ihren unglücklichen
Instagram-Auftritt im Frühjahr erinnert,
Großeltern im Keller saß, Schlümpfe- als sie mit einem Kinderarztkoffer über
filme schaute, Honigpops snackte und Covid-19 aufklären wollte.
dabei fast jedes Detail erinnert, weil sie Auch diese Aktion erwähnt sie, ohne
bei diesem Besuch zum letzten Mal ih- sie zu reflektieren, genauso verfährt sie
ren geliebten Opa sah, dann ist das eine mit ihrer Videokolumne für »Bild«, de-
der seltenen Stellen in »Mein Umweg rentwegen sie während der Fußball-
zum Glück«, bei denen man das Gefühl WM 2014 viel Häme erntete. Hummels
hat, tatsächlich bei ihr zu sein. schildert, wie sehr sie unter dem Shit-
Dazwischen geht es kapitelweise storm gelitten habe, kann aber nicht
durch schablonenhafte Biografiever- zwischen Hass und berechtigter Kritik
satzsätze, die klingen, als würde Hum- unterscheiden. »Unbedacht« sei man-
mels bei einem ihrer TV-Moderations- ches gewesen, und es sei nicht schlau,
jobs von der Textkarte Allgemeinplätze einen Job anzunehmen, der so eng mit
ablesen. der Arbeit ihres Mannes verbunden sei.
Als RTL-2-Moderatorin, Model, In- Ach ja, Mats. Der kommt auch vor,
fluencerin und Frau des Fußballprofis in aller Knäpplichkeit. So gut es ist, dass
Mats Hummels hat sie sich für ein Leben Moderatorin Hummels Cathy Hummels sich hier nicht über ihn
in der Öffentlichkeit entschieden. Mit »Geh spazieren« definieren will, so sonderbar wirkt die
diesem Buch nun scheint sie die Öffent- wikipedisch-emotionslose Art, mit der
lichkeit an einer Seite ihres Lebens teil- en, wo der nächste Psychologe seine sie nur das Nötigste erwähnt: dass sie
haben zu lassen, die bislang privat war: Praxis hat, um dann bei »drei bis vier« ihn kennengelernt habe, als er noch
Hummels erzählt von ihrer Depression, Therapeuten Probesitzungen zu verein- beim FC Bayern München spielte. Kein
die erstmals auftrat, als sie 16 Jahre alt baren. Man kann davon ausgehen, dass Satz dazu, wie sich das anfühlte, nur so
war, ausgelöst durch eine Pubertätskrise, er derlei noch nie als Kassenpatient in viel: »Ein Meilenstein in meinem Leben,
womöglich auch durch ihr fehlgeleitetes Berlin versucht hat. ein Glücksmoment, der bis heute an-
Pflichtbewusstsein, das sich bis in die Dass es Cathy Hummels wirklich ein hält.« Selbst über Ludwig, den gemein-
Besessenheit steigerte. Immer wieder Anliegen ist, über Depressionen aufzu- samen Sohn, erfährt man mehr, so, dass
wird die Depression zurückkommen. klären, darf man glauben. Es gibt hilf- er am liebsten Avocados, Nüsse, Was-
Inzwischen wisse sie genau, was sie reiche Momente in ihrem Buch, etwa sermelone und Bio-Gelbwurst isst. Statt
tun oder unterlassen müsse, um glück- wenn sie schreibt, es sei vollkommen zumindest etwas von der Nähe zu ge-
lich zu sein, schreibt sie, und nimmt okay, vom Leben überfordert zu sein, währen, von der ein solches Buch lebt,
nach bedachteren, vorsichtigen Passa- auch ohne Depressionsdiagnose. Doch sagt Hummels Kalendersprüche auf:
gen dann doch auf dem unguten Rat- dann doziert ihr Bruder seitenweise »Ich bin davon überzeugt, eine gesunde
geberhochstuhl Platz: »Dein Umfeld Partnerschaft lebt davon, dass man nie
kann helfen, indem es dich schubst und den Respekt für den anderen verliert.«
immer wieder aktiviert: ›Weine, über- An Stellen wie diesen merkt man,
lege, powere dich aus, geh spazieren dass sie ihr Buch nicht selbst verfasst
oder mach etwas Karitatives.‹ Und egal, hat, sondern mit einem Hamburger
wie schlecht es dir geht, du musst die Ghostwriterteam, dessen Textfabrik
Willensstärke besitzen, aktiv zu wer- unter anderem für Katja Ebstein, Wolf-
den. Du musst dich selbst antreiben.« gang Kubicki und Dirk Roßmann ge-
Das sind Tipps, die für Menschen, arbeitet hat.
auf denen die Depression gerade zent- Der Wunsch, von sich zu erzählen,
nerschwer sitzt, fast ebenso zynisch scheint da zu sein. Aber der konfektio-
klingen wie der Rat von Hummels’ Bru- nierte Tonfall überlagert alles.
der, einem Mediziner, bei Bedarf doch Cathy Hummels: Mein Umweg zum Glück.
einfach auf Google Maps nachzuschau- Benevento; 240 Seiten; 18 Euro. Anja Rützel

16 Foto: Gisela Schober / Getty Images


Felix Bayer Damals auf der Bestsellerliste

D ie Nullerjahre waren »Harry Potter«-Jahre. Als


der SPIEGEL 2009 die Bestseller des Jahr-
zehnts veröffentlichte, belegten die letzten drei
Romane aus Joanne K. Rowlings Reihe über den Zau-
Dieser Nutzergruppe trug schließlich ab dem
17. Januar 2000 auch die SPIEGEL-Bestsellerliste
Rechnung, in der die »Harry Potter«-Romane bis da-
hin nicht aufgetaucht waren: Auch hier galt, dass
berlehrling mit der dramatischen Narbe auf der Stirn Kinderbücher eigentlich ebenso wenig gelistet werden
die Plätze eins (»Harry Potter und der Halbblutprinz«), sollten wie Nachschlagewerke oder Kochbücher.
zwei (»Harry Potter und der Orden des Phönix«) und Zweifelsfälle hatte es zuvor schon gegeben: Michael
drei (»Harry Potter und die Heiligtümer des Todes«). Endes Dauerbestseller »Die unendliche Geschichte« und
Die »Harry Potter«- »Momo«. Diskussionen ent-
Manie hatte sich in Deutsch- brannten auch am Beispiel
land ausgebreitet, nachdem von Cornelia Funkes Tinten-
Carlsen-Verleger Klaus Hu- welt-Trilogie, die erst mit
mann die deutschen Rechte dem dritten Band Einzug in
für eine niedrige fünfstellige die Belletristik-Liste fand
Summe erstanden hatte – (die anderen beiden wurden
weil er gleich die ersten drei nachträglich für die Jahr-
Bücher einkaufte, als erst zehntbestseller gewertet).
eines in Großbritannien ver- »Bücher sind kreative
öffentlicht war. Werke und keine exakte
Der SPIEGEL berichtete Wissenschaft«, erklärt
erstmals in Ausgabe 37/1999 Christoph Ostermann, Ver-
– und nur drei Wochen lagsleiter beim »Buchre-
später noch einmal. Denn in- port«. Zumindest gibt es seit
zwischen hatte das »Time einigen Jahren eine Defini-
Magazine« dem Zauberer tion, die die Entwicklung
die Titelgeschichte gewidmet. aufgegriffen habe. Sie lautet:
In der »New York Times«- »Kinder- und Jugendbücher
Bestsellerliste belegten die werden in der Regel nicht
ersten drei Bände die ersten berücksichtigt. Wohl aber
drei Plätze. Bücher, die über die Ziel-
Doch die Dominanz der gruppe der Kinder und Ju-
Potter-Bücher auf den Best- gendlichen hinaus in großem
sellerlisten führte auch zu Umfang auch Erwachsene
Diskussionen über das Re- erreichen (All-Age-Titel, mit
gelwerk. Schon 1999 lehnte
es die Literaturchefin der
Joanne K. Altersangabe ab 14 Jahre).«
Im Zweifel gehen Oster-
Londoner »Sunday Times« Rowlings mann und sein Team durch-
ab, dass »The Prisoner of aus selbst los und recher-
Azkaban« auf der allgemei- »Harry Potter«- chieren im Buchhandel.
nen Bestsellerliste notiert Die »Harry Potter«-Ma-
würde, man habe ja schließ- Reihe nie der Nullerjahre brachte
lich einen Ruf zu wahren, eine weitere Premiere
und »Harry Potter« gehöre in der Geschichte der
auf die Kinderbuchliste. Die »New York Times« wie- SPIEGEL-Bestsellerliste mit sich: Im Juni 2003 kam
derum führte eine solche Kinderbuchliste wegen mit »Harry Potter and the Order of the Phoenix« erst-
»Harry Potter« überhaupt erst ein – rechtzeitig zur mals ein englischsprachiger Titel auf Platz eins. »Harry
US-Veröffentlichung des vierten Bands im Juli 2000. Potter and the Deathly Hallows«, der abschließende
War aber der riesige Erfolg von »Harry Potter« siebte Band, schaffte es im englischen Original unter
erschöpfend zu erklären durch die neu erwachte Lese- Deutschlands Jahrzehntbestseller auf Platz 18.
lust der Kinder? Natürlich nicht: »Nach dem Gute-
nachtkuss lesen viele Eltern heimlich weiter«, be- Felix Bayer las mit zehn Jahren viel von Enid Blyton. Dass
schrieb der »Stern« eine typische Situation. Carlsen er später in einer Band namens Die Fünf Freunde spielte, ist
gab sogar Ausgaben für Erwachsene heraus. aber Zufall.

Illustration: Leon Lothschütz für SPIEGEL BESTSELLER 17


Bücher

Der Welt entkommt


man nicht so leicht
Natur Wolfgang Büscher war im Wald – und
entdeckte dort eine ganz eigene Form
der Freiheit, die nur die Provinz zu bieten hat.

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Reisender Büscher: Zwiegespräch mit der eigenen Vergangenheit

18 S P I E G E L B E STS E L L E R   H E R B ST 2 02 0
W ohin auch immer es Wolfgang
Büscher als reisenden Schrift-
steller zieht, nach Moskau, in die USA
ten möchte. Keinen Computer natür-
lich, aber auch kein Geschirr und keinen
Campingbedarf, es geht um eine Ent-
oder nach Jerusalem – er schreibt ein deckung dessen, was vorhanden ist.
Buch über Deutschland. Und er tut dies Nun mag der Versuch, sich in den
nicht in der üblichen Art und Weise, Wald zurückzuziehen, auch unange-
mit Daten und Begriffen und viel Ge- nehme Assoziationen hervorrufen, eine
schichte, sondern sucht eine neue Form. Romantik der Weltflucht und der Anti-
Es ist ein Zwiegespräch mit seiner eige- modernität, von den Hüttenmemoiren
nen Vergangenheit, mit den Menschen »Walden« des US-Denkers Henry
in der Provinz, die nicht in der Zeitung David Thoreau bis zu jener deutschen

© getty images | Thierry Monasse


stehen, es sind Bücher von poetischer Tradition des Ernst-Jünger’schen »Wald-
Intimität. gangs«, in dem sich ein stolzer Einzel-
In seinem neuen Buch tut er dies in gänger von der Masse abwendet. Aber
einer besonders reduzierten und kon- hier hat Büscher eine ganz eigene Poin-
zentrierten Form, als versuchte er, die te zu bieten: Der Welt entkommt man
Essenz seiner Heimat zu beschreiben: nicht so leicht.
Wie würde man der nachkommenden Gerade im Wald lernt er eine spe-
Generation vermitteln, was es heißt, zifische Gesellschaft kennen, die aus
vom Jungen zum Mann geworden zu Mensch und Tier besteht und ihre eige-
sein in der Mitte von Deutschland, in nen Regeln und Marotten hat. Der
der Mitte des vorigen Jahrhunderts? Wald ist die Heimat von Menschen,
Das Projekt ist andererseits auch ra- meist Männern, die ihren Spleen pfle-
dikal modern: Viele amüsieren sich mit gen und dort ausführen. Es gibt da etwa
dem Gedanken, das Leben zu verän- den Friseur, der lieber Weltreisender ge-
dern, in eine bescheidenere Behausung wesen wäre und schon überall war, aber
abseits der Zivilisation zu ziehen, auf am liebsten ist er im Wald. Er hat den
der Suche nach dem Gefühl, das sie an Salon des Vaters übernommen, weil die
den langen Nachmittagen der Kindheit Lebensläufe in der Provinz auch heute
hatten. Büscher hat es getan. Er konnte noch anderen Regeln gehorchen.
einige Monate in einer Hütte verbrin- Das entwickelt sich als Motiv: In der
gen. Sie steht in jenem Wald, den er Stadt hat der gebildete Mensch der
von seinem Kinderzimmer aus sehen Postmoderne die Wahl der permanen-
konnte und in dem er ganze Nachmit- ten Selbsterfindung, das ist eine Mög-
tage und halbe Ferien verbrachte. lichkeit, aber fast schon eine Pflicht, das
Also richtet er sich dort ein, aber die kann leicht überfordern. Jeder darf, je-
Idylle lässt sich Zeit. Es ist überraschend der muss sich seinen eigenen Weg im
kalt, der Wind fährt ihm in die Kno- Leben, in der Liebe und in der Arbeit
chen, Wände und Decken bieten erst suchen. Es ist die von Michel Houelle-
mal keine Wärme. Büscher erzählt kei- becq beschriebene »Ausweitung der
ne Geschichte aus dem Milieu der Sur- Kampfzone«. Büscher beschreibt in die-
vivalsportler oder der Prepper, die den sem Buch nun, wie es in der Provinz
Weltuntergang üben. Er hat kaum et- zugeht, wo man sich noch lange nach
was dabei, als er sich im Wald einrich- Traditionen richtet. In solchen Provin- Aus dem Engl. v. Andreas Wirthensohn. | 215 S.
zen wohnen viele Deutsche, und etliche 8 Abb. | Geb. | € 19,95[D] | ISBN 978-3-406-75572-9
Auch als Audio Book
von ihnen ziehen auch nur einmal im
Leben um: wenn sie das Haus ihrer El- Er war das Kultobjekt der 80er
tern verlassen. Jahre: der Zauberwürfel, auch
Dafür haben sie den Wald, er ist eine «Rubik’s Cube» genannt. Und
Ressource der Freiheit in geordneten
bis heute ist sein Bann unge-
Lebensläufen. So lebte die Mutter des
Erzählers, die in den Monaten, als er in
brochen. Unzählige Bücher sind
der Hütte ist, langsam stirbt. Das Buch bereits über ihn geschrieben
ist eine Würdigung, eine Selbstprüfung worden. Doch einer hat bisher
und eine Einladung, die Freiheit zu geschwiegen: der Erfinder,
suchen, im Wald und überhaupt. Ernö Rubik.
Wolfgang Büscher: Heimkehr.
Rowohlt Berlin; 204 Seiten; 22 Euro. Nils Minkmar

Foto: Steffen Jänicke für SPIEGEL Bestseller 19


W W W. B U C H M E S S E - DA H E I M . D E
Bücher

Jetzt denke ich!


Sachbuch Unabhängige Frauen gegen die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts:
In »Feuer der Freiheit« porträtiert Wolfgang Eilenberger vier große Autorinnen.

enn die Weltgeschichte nicht


W so beschissen wäre, wäre es
eine Lust zu leben«, schrieb Hannah
Arendt an den Freund Gershom Scho-
lem im Winter des Jahres 1940. Er war
in Jerusalem, sie in New York – zwei
jüdische Europäer, die allen Grund hat-
ten, an der Weltgeschichte zu verzwei-
feln. Doch der Religionswissenschaftler
Scholem, ein überzeugter Zionist, hatte
in seiner neuen Heimat Wurzeln ge-
schlagen; Arendt tat sich schwer. »Man
ist in diesem Land sehr einsam; das
hängt vor allem damit zusammen, dass
alle Menschen sehr viel zu tun haben
und dass das Bedürfnis nach Muße bei
den meisten nach einer gewissen Zeit
einfach nicht mehr da ist. Dies bringt
eine ständige Abwesenheit mit sich (ab-
sent-mindedness meine ich), die den
Kontakt zwischen den Menschen sehr
erschwert.«
Die Einsamkeit hinderte allerdings
nicht am Denken, auch nicht an der
Polemik: Als politische Kolumnistin
brachte Arendt in kurzer Zeit viele Zeit-
genossen gegen sich auf, die aus Krieg,
Faschismus und Antisemitismus andere
Schlüsse zogen. In ihrer Kolumne »This
means you« in der Zeitschrift »Auf-
bau«, legendäres Zentralorgan des in-
tellektuellen Exils, plädierte sie für
eine jüdische Armee, die sich aus aller
Welt rekrutieren sollte: »Freiheit ist
keine Prämie für ausgestandene Leiden,
und Gerechtigkeit empfängt man nicht

Autorinnen de Beauvoir 1945 in Paris, Arendt 1944 in New York, Weil 1936 in Spanien,

wie Brosamen von dem Tische der niert, hatte sich von der besorgten Fa-
Reichen.« milie in die USA retten lassen, ging aber
Auf dem anderen Kontinent, in 1942 nach England, um sich bei der
Europa, denkt die Französin Simone französischen Exilregierung als Fall-
Weil wie sie – aber sucht den Weg von schirmspringerin zu melden; »die be-
der Theorie zur existenziellen Hand- treffenden Handbücher habe sie ein-
lung. Die beiden wissen nichts vonei- gängig studiert«. Das Selbstmordkom-
Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit. nander. Weil, wie Arendt jüdischer Her- mando der wegen physischer Schwäche
Klett-Cotta; 400 Seiten; 25 Euro. kunft, aber vom Katholizismus faszi- völlig ungeeigneten jungen Frau wird

20 S P I E G E L B E STS E L L E R H E R B ST 2 02 0
abgelehnt. Zur militärischen Untätigkeit deutet es, ein Ich zu sein in einer Epoche, Schuldienst entlassen, liest im besetz-
verurteilt, schreibt sie in den folgenden da Kommunismus und Faschismus die ten Paris Heidegger und Husserl und
Jahren Essays, die das Individuum völ- bestimmenden Ideologien sind? Und denkt sich mit Mühen aus dem solip-
lig neu entwerfen. Radikaler Altruis- wie definiert sich ein Individuum, das sistischen Existenzialismus heraus, den
mus, Selbstwahrnehmung durch das durch Kollektive bestimmt wird – als zu- ihr Lebensgefährte Jean-Paul Sartre er-
Leiden anderer, mystische Berufung gehörig oder als Außenseiter, auch gegen folgreich zelebriert; 1949 wird sie mit
sind ihre Themen; bis heute gilt sie in seinen Willen und sein Selbstgefühl? »Das andere Geschlecht« ihre feminis-
tische Bilanz ziehen. Hannah Arendt,
vertriebene Europäerin und von 1937
bis 1941 staatenloser Flüchtling, macht
den Antisemitismus zum Ausgangs-
punkt ihrer Theorie zu Totalitarismus,
Nationalismus und zur »vita activa«.
Simone Weil, wie Arendt als Jüdin ver-
folgt, geht einen anderen, absolut ein-
samen philosophischen Weg, in dem
das Ego – von René Descartes zum
Zentrum des neuzeitlichen Denkens
gemacht – nicht auf seine Behauptung,
sondern seine Auflösung zielt. Und
Ayn Rand, jüdische Emigrantin aus
Sankt Petersburg, sucht ihr Heil in
den USA, wo sie aus ihrer Erfahrung
der Zwangskollektivierung durch die
Bolschewisten die entgegengesetzte
Schlussfolgerung zieht: Allein der Ego-
ismus kann Grundlage einer funktio-
nierenden Gesellschaft sein; alles an-
dere ist Propaganda, Ideologie und
»Sklavenmoral«.
Rand, bis heute einflussreiche Inspi-
ratorin der Konservativen in den USA,
ist die zweite Neu-Entdeckung, die
Wolfram Eilenberger in seiner Philoso-
phiegeschichte beschert: Wie er diese
Denkerin als Persönlichkeit nahbar und
als Intellektuelle nachvollziehbar
macht, ist so mitreißend wie erhellend.
Wie überhaupt die Idee dieses Buches
mit jedem Kapitel immer zwingender
wird: diese vier Zeitgenossinnen als
geistige Paralleluniversen zu porträtie-
ren, die, ohne viel – oder überhaupt –
voneinander zu wissen, ihr Schicksal in
einer Epoche extremer Verdunkelung
zum Ausgangspunkt ihres Denkens ma-
Rand 1964 in New York: Individuen in der Epoche von Faschismus und Kommunismus chen und dieselben Themen radikal un-
terschiedlich bearbeiten. Eilenberger
hat hier nicht nur einen originellen und
der Philosophiegeschichte als kuriose, Simone de Beauvoir, Hannah überzeugenden Zugriff. Er schreibt
wenn nicht verwirrte Außenseiterin. Arendt, Simone Weil und Ayn Rand außerdem elegant, verständlich, hu-
Der Philosoph und Schriftsteller sind Eilenbergers Protagonistinnen. morvoll – und hin und wieder bis zur
Wolfram Eilenberger macht sie hingegen Vier Denkerinnen ohne akademische Ergriffenheit empathisch. Gleichgültig,
zur geheimen Heldin seiner faszinieren- Heimat, vier Außenseiterinnen – drei was man bisher über das Denken im
den Zeitgeschichte über vier Denkerin- davon jüdischer Herkunft –, denen 20. Jahrhundert wusste: Hier wird man
nen, die zur selben Zeit – am Vorabend Politik und Krieg ihre Lebensthemen auf aufregende Weise klüger.
und während des Zweiten Weltkriegs – aufzwingen. Beauvoir, als Lehrerin
dieselben Fragen umtrieben: Was be- wegen bisexueller Umtriebe aus dem Elke Schmitter

Fotos: Denise Bellon / akg-images, Fred Stein / dpa / Ullstein Bild, Bridgeman Images (2) 21
Anja Rützel Das seltsame Sachbuch

A m Anfang steht eine Erkenntnis, die in etwa die


Tiefe eines frisch ausgehobenen Meerschwein-
chengrabs hat: »Mir ist klar geworden, dass die
Dinge, die wir lieben, ein Ende haben«, schreibt John
5/10-Elend abzurutschen – und suggeriert damit, man
könne menschliche Beziehungen tatsächlich in Emo-
Excel-Spreadsheets verformulieren. Noch schmerzhaft
naiver sind seine Einlassungen, jeder Mensch besitze
Strelecky. Nach diversen Fortsetzungen seiner »Das eine gewisse Genialität: »Zahllose erfolgreiche Musiker
Café am Rande der Welt«- und »The Big Five for wurden von Plattenfirmen abgelehnt. Das bedeutet
Life«-Schmunzel-Lebenshilfebücher hat er nun seine nicht, dass ihre Musik nicht gut war«, schreibt Strelecky.
zentralen Lebenslektionen noch einmal so griffig »Es bedeutete vielmehr, dass die Labels nicht wussten,
kompiliert, wie es bei deren wie sie die Genialität der
beängstigend hohem Musiker vermarkten soll-
Schmalz- und Glitschgehalt ten.« Was darf Satire?
eben möglich ist. Wirklich und ernsthaft
Die Wutanfälle, die einen schlimm wird »Was ich ge-
bei der Lektüre dieses Buchs lernt habe«, wenn sich hin-
erfassen, durchlaufen ver- ter scheinbar harmlosen
schiedene Intensitäten und Metaphern Giftbeutel ver-
Ausprägungen, bis sie beim bergen: Etwa wenn Stre-
Zuklappen dann schillern lecky über seinen einst so
wie ein Regenbogen des gepflegten Rasen schwadro-
Zorns. Das passt zumindest niert, auf den ein nachlässi-
farblich gut zur Aufmachung ger Gärtner nun aber leider
des Bands, der eher nach »dornige Unkräuter« einge-
Kinderbibel denn nach Er- schleppt habe. »Wenn wir
wachsenenlektüre aussieht. nicht sorgfältig auswählen,
Zuerst ist man nur ein biss- welchen Personen wir den
chen sauer, weil viele von Zutritt zu unserem Rasen
Streleckys Lebenskunstein- gewähren, hinterlassen
lassungen derart brüllend ba- Menschen ihre eigenen
nal sind: Einen Straßenhund ›dornigen Unkräuter‹, mit
solle man ruhig streicheln, denen wir uns dann aus-
wenn er mit dem Schwanz einandersetzen müssen«,
wedle. Es sei besser, dann zu schreibt Strelecky – und
essen, wenn man Hunger meint damit angeblich
habe – und nicht einfach zu Menschen, die einen mit ih-
einer bestimmten Tageszeit. ren ureigensten Problemen
Und das Leben mache viel
mehr Spaß, wenn wir es mit
John Strelecky: behelligen, bis einem davon
die eigene, doch so schön
Projekten füllten, die uns »Was ich aufgeräumte Existenz ver-

gelernt habe«
begeistern. No Shit, Sher- gällt werde. Mal abgesehen
lock, staunt da der gehetzte davon, dass es nicht sehr
Lohnarbeiter, der bisher menschenfreundlich wäre,
angenommen hatte, man solchen Leuten den Zugang
sollte unbedingt danach zum eigenen Garten zu ver-
streben, möglichst viel Zeit mit aufreibenden Arbei- wehren, verweist sein Säuberungsbild doch viel plaka-
ten zuzubringen. tiver auf etwas anderes. Vor allem wenn Strelecky da-
Nächster Halbkringel im Wutregenbogen: die unter- von schwärmt, wie befriedigend es sei, nicht erst auf
geschobenen Prämissen, die in diese Banalbotschaften einen fähigen Unkrautausrotter zu warten, sondern die
eingewickelt sind. In der Sparte »Beziehungen« rät Stre- dornigen Gewächse eigenhändig zu rupfen, damit
lecky, man solle keine Liebesverbindung weiterführen, sie nicht »das gesunde Gras im Garten« verdrängen.
nur um den anderen nicht zu verletzten, obwohl man
der Liaison doch nur »sechs von zehn Punkten« gebe. Anja Rützel hält viel von Straßenhunden und wenig vom
Und man solle auch nicht nur deshalb beieinanderblei- Unkrautjäten. Ihr derzeitiges Lieblingssachbuch ist »Better
ben, weil man Angst habe, danach womöglich in ein Living Through Selective Apathy« von M. C. Alexander.

22 Illustration: Leon Lothschütz für SPIEGEL BESTSELLER


Bestseller Essen & Trinken Leben & Gesundheit
1 Jamie Oliver: 7 Mal anders 1 Eckhart Tolle: Jetzt! Die Kraft der Gegenwart
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bei denen nicht mehr als acht Zutaten 2 Fünf Hausmittel ersetzen eine Drogerie
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tauglich sein – und auch für Leute mit
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4 Yotam Ottolenghi: Simple. Das Kochbuch


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5 Nicolette Fountaris: Sexy & Simple. Besondere Ernährung und spezielle Übungen
Gute Hausmannskost, so einfach wie noch nie sollen helfen, eine Regeneration von
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Das populäre Schmerztherapeutenpaar gibt
6 Tim Ziegeweidt / Sebastian Buchner: Tipps aus der Praxis.
Sauerländer BBCrew Dutch Oven
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7 Matthias Riedl / Anne Fleck / Jörn Klasen / Silja Schäfer:
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(V. i. S. d. P.), Chef vom Dienst Herstellung SPIEGEL BESTSELLER wird auf
Dr. Barbara Hans, Thomas Schäfer Silke Kassuba; Andreas Allzeit Recyclingpapier gedruckt.
Clemens Höges

Redaktion www.blauer-engel.de/uz195
• ressourcenschonend und
Sebastian Hammelehle Die nächste Ausgabe von SPIEGEL BESTSELLER umweltfreundlich hergestellt
• emissionsarm gedruckt

erscheint am 28. November. RM0 • überwiegend aus Altpapier

Dieses Druckerzeugnis ist mit dem Blauen Engel ausgezeichnet.

Bestseller im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »buchreport«; Daten: media control 23
Die
Weitere Bestseller
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Modedesigner Lagerfeld

BIOGRAFIE über Lagerfeld mit mehr als hundert


Der Mann hinter Weggefährten gesprochen. Kaiser hat
der Brille auch jene Kapitel recherchiert, die
Lagerfeld gern im Ungefähren beließ –
352 Seiten, gebunden · 20,00 € Alfons Kaiser: Karl Lagerfeld. etwa die politische Haltung seiner
Auch als E-Book erhältlich Ein Deutscher in Paris.
C. H. Beck; 382 Seiten; 26 Euro. Eltern während der Nazizeit. Es ist ein
interessantes und detailliertes Porträt,
G Das Leben Karl Lagerfelds ist nicht das Lagerfelds Selbstinszenierung nicht
Kriminelle arabisch-stämmige nur deshalb faszinierend, weil er auf den Leim geht und trotzdem größte
Clans kontrollieren inzwischen in den Fünfzigerjahren als Deutscher Hochachtung erkennen lässt. Claudia Voigt
in deutschen Großstädten nach Paris ging; weil er zu einem
ganze Stadtteile. Modemacher aufstieg, dessen Arbeit
Polizei und Justiz sind über Jahrzehnte stilprägend blieb; weil ROMAN

oft machtlos gegen er sich schließlich in eine Kunstfigur Hässliches Mädchen


die um sich greifende Gewalt. verwandelte und so trotz seines welt-
weiten Ruhms weitgehend unerkannt Elena Ferrante: Das lügenhafte
Die SPIEGEL-TV-Reporter Leben der Erwachsenen.
lebte. Lagerfeld ist es tatsächlich ge- Aus dem Italienischen von Karin Krieger.
Thomas Heise und
lungen, sein Leben nach seinen eigenen Suhrkamp; 416 Seiten; 24 Euro.
Claas Meyer-Heuer
Vorstellungen zu formen. Der Wille
recherchieren seit vielen Jahren
dazu ließ sich bereits während seiner G Es beginnt mit einem echten Elena-
live vor Ort, bei Razzien, Gymnasialzeit erkennen, als er mit Ferrante-Moment – mit einer Situa-
Gerichtsverhandlungen und übergeschlagenen Beinen zwischen sei- tion voller Heimlichkeit und emotio-
Beerdigungen. Ihr Buch gibt nen Klassenkameraden posierte, mit naler Wucht, die alles ins Rutschen
exklusive Einblicke in einer Ausstrahlung, die besagte: Ich bringt, was bis dahin galt. Die 13-jäh-
die Machenschaften der Clans werde das Kaff Bad Bramstedt so bald rige Giovanna ist eine gute Schülerin,
und zeigt, was passieren muss, wie möglich hinter mir lassen. Mehr als Tochter freundlicher, erfolgreicher
damit der Staat die Kontrolle 70 Jahre später – nachdem er im Som- Eltern, die in der »höchsten Gegend«
zurückerlangt. mer 2015 eine Krebsdiagnose erhalten Neapels leben, was nicht nur die
hatte – nahm er mit derselben Ent- geografische Lage der Wohnung be-
schlossenheit sein Ende in den Blick schreibt, sondern auch das soziale
und entwarf auch dies nach seinen Selbstverständnis dieser kleinen Fami-
Vorstellungen. Der »FAZ«-Journalist lie. Doch eines Abends belauscht
Alfons Kaiser hat für diese Biografie Giovanna ihre Eltern und erfährt, dass

www.dva.de 24 S P I E G E L B E STS E L L E R H E R B ST 2 02 0
ihr Vater sie für hässlich hält. Ihr Va- spüren, die sonst ungefiltert in die
ter, der ihre Haare, ihre Ohren, ihre sozialen Netzwerke fließen, dem inne-
Nase und selbst ihr Kinn als »perfekt« ren Stammtisch eben. So folgt Man-
bezeichnet hatte, spricht plötzlich im gold seinen Impulsen zu Fragen der
Flüsterton davon, dass sie so hässlich Zeit: etwa der Greta-Frage. Wie hältst
sei wie ihre Tante, zu der er vor Jah- du es mit dem Klimawandel? Nun ver-
ren den Kontakt abgebrochen hat. So gessen Intellektuelle oft, dass auch sie

»Die Schule ist


unerbittlich und klar, wie man es von Gefühle haben, und werden deshalb
Ferrante kennt, beschreibt sie die leicht Opfer des eigenen Schlaumeier-

wie eine Sitcom


große Entfremdung, die Giovanna da- tums. Mangold dagegen weiß, dass
raufhin durchlebt. Eine Entfremdung auch die Empörung über die Empör-
von ihren Eltern, aber auch von sich ten meist nur ein Gefühl ist, das sich
selbst. Das ist psychologisch schlüssig
und gut erzählt, doch Ferrante wälzt
als Argument tarnt. Tobias Rapp
– nur ohne
auf vielen Seiten ein Thema aus, das
sie in der Tetralogie »Meine geniale
Freundin« schon in allen Facetten be-
E R ZÄ H LU N G E N versteckte Kamera.«
Aus der
handelt hat. Dieser Roman bietet Kleiderkammer
eine interessante Geschichte, aber kei-
ne neuen Gedanken. Claudia Voigt Elke Heidenreich: Männer in Kamelhaar-
mänteln. Kiepenheuer & Witsch; 224 Seiten;
22 Euro.

TA G E B U C H G Kleidung verrät immer etwas über


Erleben in Echtzeit denjenigen, der sie trägt. Das geht gar
nicht anders. Selbst wenn man nur
Ijoma Mangold: Der innere Stammtisch. schnell in irgendeine Jeans geschlüpft
Rowohlt; 272 Seiten; 22 Euro.
ist und sich einen Pulli geschnappt
G Es dürfte keine literarische Form hat, der herumlag, erzählt das Outfit
geben, die so aus der Zeit gefallen genau das: hatte keine Zeit und keine
ist wie das Tagebuch. In den sozialen Muße, sich über ihre Klamotten
Medien lässt sich das Leben in Echt- Gedanken zu machen. Elke Heiden-
zeit dokumentieren und kommentie- reich hat in ihrem neuen Buch kurze
ren: Wofür sollte man da noch ein Geschichten über Kleidungsstücke
Tagebuch führen? Der Literaturkriti- gesammelt und erzählt auf diese Weise
ker Ijoma Mangold, 49, hat es nun von großen Themen: von Liebe und
trotzdem getan, vom 17. September Verlust; davon, seinen Stil zu finden
2019 bis zum 13. April 2020. Den »In- und erwachsen zu werden. Sie ist
neren Stammtisch« macht anregend in einer Zeit groß geworden, in der
und klug, dass Mangold das Tagebuch Mädchen noch Röcke tragen mussten,
nutzt, um den Bedürfnissen nachzu- doch es herrschte so viel Kompromiss-
bereitschaft – oder war es eher Ver- ISBN 978-3-54806-254-9
logenheit? –, dass Heidenreich in den
Fünfzigerjahren unter einem rot-grün
karierten Kleid eine Cordhose gegen
die Kälte trug. Die meisten Geschich-
ten sind aus der Ichperspektive er-
zählt, oft ist Heidenreich wiederzu-
erkennen, ihr vertrauter Tonfall zieht
sich durch das ganze Buch. Doch
vieles, was sie aufschreibt, kennt der
Leser auch von sich: die Erinnerung
an das Kleid, das man trug, als eine
große Liebe sich verabschiedete zum
Beispiel. Und so steckt dieses Buch
nicht nur voller überraschender Sze-
nen und Anekdoten, sondern liefert
auch Anregungen für die eigene
Journalist Mangold Erinnerung. Claudia Voigt

Foto: Charles Platiau / REUTERS, Christian Werner 25


Hörbücher C O M E DY

Neues zu Conora
Renate Bergmann: Dann bleiben wir
eben zu Hause.
K Ü N S T L E R P O R T R ÄT sowieso ein riesengroßes Nichts ist, Sprecherin: Carmen-Maja Antoni.
Mit Mahler übern See denkt er über sein Leben nach. DAV; 2 CDs; 7,99 Euro.
Das hat er der Musik unterworfen –
Robert Seethaler: Der letzte Satz. und mit seinem Ehrgeiz hat er die G »Das Conora ist ja so ein hochwis-
Sprecher: Matthias Brandt.
tacheles!/ROOF Music; Audio-CD;
Beziehung zu seiner Frau Alma und senschaftliches Thema, wo sich selbst
12,99 Euro. diverse Orchester ruiniert und sich die Studierten streiten, was richtig
selbst erst recht. Matthias Brandt liest und was falsch ist«, sagt sie. Wer mit
G Gustav Mahler hat es auch nicht diesen schmalen Roman in bedrohlich unfehlbaren Ratschlägen durch
leicht: In Robert Seethalers »Der letzte langsamem Tempo, er lässt seine diese Krise kommen will, hört also
Satz« befindet sich der Komponist Stimme wie eine irrlichternde Nadel besser auf sie: Renate Bergmann,
auf der »Amerika«, einem Schiff, das über eine Schallplatte kratzen. die Twitter-Omi, weiß Rat, auch wenn
ihn im Jahr 1910 über den Atlantik Gemächlich stutzt er dabei Seethalers ihr Atem manchmal gefährlich
nach Europa bringen soll. Aber eigent- eh schon knappe Sätze, mit denen rasselt. Etwa: jeden Tag eine kleine
lich weiß er, dass nach dieser Reise der Autor dieses große Leben im Klei- Aufgabe vornehmen, den Nähkorb
nicht mehr viel kommen wird. Mahler nen zeigt, noch weiter zusammen – aufräumen, Bügelwäsche erledigen,
ist krank, ihm ist ständig kalt, er kann bis nicht mehr viel übrig bleibt: bloß auf den Küchenschränken scheuern.
sich kaum auf den Beinen halten. Und ein alter Mann und das Meer und Man darf eben nicht in den Tag
wie er da schlotternd an Deck sitzt der Zweifel, ob er sein Leben richtig hinein lottern, findet sie. Im Hörbuch
und auf ein Meer blickt, das nach nichts gelebt hat. Oder ob er überhaupt eine »Dann bleiben wir eben zu Hause«
riecht und nach nichts aussieht und Wahl hatte. Elisa von Hof lernt man auch, was in eine Haus-
apotheke gehört, was in keinem Eis-
schrank fehlen darf, wie man einen
Rührkuchen backt und warum man
immer einen strammen Doppelkorn
parat halten sollte (hilft beim Ver-
dauen, schmeckt im Tee). Aber Ob-
acht: Vom Korn lieber nicht zu
viel, sonst sorgt er für Probleme, statt
sie zu lösen. Bergmann, Trümmer-
frau, vierfache Witwe, Haushaltsprofi,
weiß eben, wovon sie spricht. Und
die Schauspielerin Carmen-Maja
Antoni japst die Tipps so lebensnah
ins Mikrofon, als hätte sie vor der
Aufnahme selbst ein paar Einmach-
gläser aus dem Keller getragen.
Renate Bergmann ist das Pseudonym
des Controllers Torsten Rohde,
mit dem er seit 2013 ein ziemlicher
Hit auf Twitter und in den Bücher-
regalen ist. Mittlerweile sind 14 Bände
erschienen: Man kann mit der
Online-Omi campen, kochen, Häuser
bauen und Weihnachten feiern.
Das Bedürfnis nach herzerwärmen-
den Banalitäten ist eben größer
als gedacht. Und Rohdes derzeitiger
Erfolg auf der Hörbuch- und Hard-
cover-Bestsellerliste spricht dafür,
dass es während der Pandemie sogar
noch größer geworden ist. Selbst
wenn der Witz eigentlich nur aus
einem einzigen Buchstabenverdreher
Erzähler Seethaler: Das große Leben im Kleinen zeigen besteht: »das Conora«. Elisa von Hof

26 Foto: Urban Zintel S P I E G E L B E STS E L L E R   H E R B ST 2 02 0


E LT E R N H U M O R

Kind geht, Witz bleibt


auch nicht mehr. Sie sind jetzt ja groß.
Als einziges Sanktionsmittel bleibt ein Als das Leben
Erziehungstipp, den die Supernanny
Jan Weiler: Die Ältern.
Sprecher: Jan Weiler. Der Hörverlag; 2 CDs;
11,45 Euro.
vermutlich nicht empfiehlt: WLAN-
Entzug. Das Hörbuch hat Weiler
endlich
selbst eingesprochen. Dass einige Ver-
G Mit Pubertieren kennt er sich aus,
die Welt der Teenager hat Jan Weiler
sprecher und Patzer in »Die Ältern«
zwischen die Kapitel gestreut sind,
zurückkehrte:
schließlich in mehreren Büchern aus- lassen seine sonst sehr glatt gebügel-
geleuchtet. Aber was geschieht, wenn ten Texte lebendiger wirken. Darin hamburg
die Kinder das Nest verlassen? Carla hadert Weiler vor allem mit sich
und Nick machen plötzlich sinnvolle
Dinge, ohne dass man es ihnen sagen
selbst. Er sei auf dem Papier 49 Jahre
alt, aber durch die Kinder fühle er
Drei Familien,
muss, erzählt Weiler. Langsam wach- sich eher wie 39. Was geschieht nun,
sen alle aus ihren jahrelang erprobten
Rollen, bloß fällt Weiler diese Eman-
wenn sie nicht mehr da sind? Statt
melancholisch vom »Empty-Nest Syn-
drei Städte,
zipation etwas schwerer als seinen
Kindern. Immer häufiger braucht er
drome« zu berichten, also über die
Trauer und Einsamkeit von Eltern, de- drei Schicksale
einen Mittagsschlaf, den sein Sohn ren Kinder flügge werden, erzählt
bloß »Seniorendämmerung« nennt, er Weiler wie schon in »Maria, ihm
kann seinen Kindern kaum noch schmeckt’s nicht!« oder »Das Puber- köln
etwas beibringen, was sie nicht selbst tier« selbstironisch und etwas zu Auftakt ein
googeln könnten, und geweckt wer- kalauergetrieben von der bevorste- er
zweibändig
den wollen Carla und Nick von ihm henden Trennung. Elisa von Hof en
Familiensa
ga

Bestseller Hörbuch

1 M.-U. Kling: Die Känguru-Chroniken 11 Delia Owens:


Sprecher: Marc-Uwe Kling; 4 CDs; Hörbuch Hamburg Der Gesang der Flusskrebse
Sprecherin: Luise Helm; 2 MP3-CDs; Hörbuch Hamburg
2 Karsten Dusse: Achtsam morden
Sprecher: Matthias Matschke; 6 CDs; 12 Karsten Dusse: Das Kind in mir will
Random House Audio achtsam morden
Sprecher: Karsten Dusse; 6 CDs; Random House Audio
3 M.-U. Kling: Das Känguru-Manifest
Sprecher: Marc-Uwe Kling; 4 CDs; Hörbuch Hamburg 13 Richard David Precht: Künstliche
Intelligenz und der Sinn des Lebens
4 Renate Bergmann: Dann bleiben Sprecher: R. D. Precht; 1 MP3-CD; Der Hörverlag
wir eben zu Hause!
Sprecherin: Carmen-Maja Antoni; 2 CDs; 14 Marc-Uwe Kling: QualityLand
Der Audio Verlag Sprecher: Marc-Uwe Kling; 7 CDs; Hörbuch Hamburg
Carmen Korn
5 Robert Seethaler: Der letzte Satz 15 Volker Klüpfel / Michael Kobr: Und die Welt war jung
Sprecher: Matthias Brandt; 1 MP3-CD; Roof Music Wetterleuchten. Ein dramatischer
Zwischenfall für Kluftinger Drei-Städte-Saga (Band 1)
6 M.-U. Kling: Die Känguru-Offenbarung Sprecher: V. Klüpfel / M. Kobr / T. Loibl / L. Maire / Autorinnenlesung
Sprecher: Marc-Uwe Kling; 6 CDs; Hörbuch Hamburg S. Wilkening; 2 CDs; Hörbuch Hamburg
Laufzeit: 14 Stunden, 58 Minuten
7 M.-U. Kling: Die Känguru-Apokryphen 16 Klaus-Peter Wolf: Rupert undercover. 2 MP3-CDs € 19,95*
Sprecher: Marc-Uwe Kling; 4 CDs; Hörbuch Hamburg Ostfriesische Mission ISBN 978-3-8398-1811-4
Sprecher: Klaus-Peter Wolf; 4 CDs; Jumbo *empfohlener ladenpreis
8 Jean-Luc Bannalec:
Bretonische Spezialitäten 17 Nele Neuhaus: Zeiten des Sturms
Sprecher: Gerd Wameling; 2 MP3-CDs; Argon Sprecherin: Marie Bierstedt; 6 CDs; Hörbuch Hamburg
san remo
9 Renate Bergmann: Ans Vorzelt 18 Rita Falk: Guglhupfgeschwader
kommen Geranien dran Sprecher: Christian Tramitz; 6 CDs; Der Audio Verlag
Sprecherin: Carmen-Maja Antoni;
4 CDs; Der Audio Verlag 19 Chris Carter: Bluthölle
Sprecher: Uve Teschner; 2 MP3-CDs; Hörbuch Hamburg
10 J. K. Rowling: Harry Potter.
Die große Box zum Jubiläum 20 Sarah Lark: Schicksalssterne
Sprecher: Rufus Beck; 14 MP3-CDs; Der Hörverlag
Sprecherin: Katrin Fröhlich; 6 CDs; Lübbe Audio www.argon-verlag.de
Bestseller im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control). 27
Filme

Große Träume, böse Träume


Kino Moritz Bleibtreu, einer der wenigen deutschen Filmstars, liebt
düstere Thriller. Nun hat er selbst einen gedreht: »Cortex«, sein Regiedebüt.

s gibt Menschen, die trifft man darunter schon gelitten, aber er lehnt verloren. Das Problem an »Cortex« ist:
E zum ersten Mal und glaubt doch,
sie schon lange zu kennen. Moritz
eine Therapie in einem Schlaflabor ab.
Immer wieder träumt Hagen von einem
Man muss viel Energie aufbringen, um
der Handlung folgen zu können und zu
Bleibtreu ist so ein Mensch. Man hat jungen Mann (Jannis Niewöhner), verstehen, wer am Ende wer ist. Aber
gemeinsam viel Zeit verbracht, ist mit scheinbar ein Kleinkrimineller. Bald der Film versackt so sehr im Treibsand
ihm hinter Lola hergerannt, hat ihn in wird ihm klar, dass Karoline eine Affäre des Somnambulen, die Geschichte bleibt
»Lammbock« gesehen, auch als Joseph mit ihm hatte – und dass ihn selbst mit so diffus und weit weg, dass es schwierig
Goebbels oder als Andreas Baader. Hannes mehr verbindet, als er sich zu- ist, bei der Sache zu bleiben.
Bleibtreu ist einer der wenigen ech- nächst eingestehen will. Im Gespräch fallen mehrfach die
ten Kinostars in Deutschland. Aber hin- Leicht macht Bleibtreu es dem Namen Quentin Tarantino und Chris-
ter den Masken blieb er stets sichtbar. Publikum mit seinem Film nicht: Es topher Nolan, dessen Film »Memento«
Wenn man ihm tatsächlich am Tisch ge- geht um Identität und Körpertausch, ein Vorbild für »Cortex« war. Warum
genübersitzt, am besten draußen, damit um die Frage, ob das Leben festgelegten sollte man nicht groß denken, wenn
es um Kinofilme geht? Man
sieht ja, was in deutschen Se-
rien plötzlich gelingt: Fantasy,
Science-Fiction, Thriller – alles
möglich.
Auch Bleibtreu dreht dem-
nächst die Krimiserie »Black-
out« für Joyn, den Streaming-
dienst von ProSiebenSat.1, aber
wirklich anfreunden kann er
sich nicht mit dem Format: »Was
vielen Serien fehlt, ist das Ende.
An die Stelle der Reflexion wird
ein unternehmerisches Prinzip
gesetzt: mehr davon. Und nun
sitzen wir da und schauen zehn
Stunden und länger. Ist nicht
meins.«
Szene aus »Cortex«: Im Treibsand des Somnambulen Dass das Kino stirbt, glaubt
Bleibtreu nicht. Aber die Vielfalt
er rauchen kann, erzählt er gleich drauf- Bahnen folgt oder sich radikal ändern werde leiden: »Was fehlen wird, ist der
los in diesem schnoddrig-hanseatischen lässt. In der besten Sequenz von »Cor- Mittelbau, also Filme mit Anspruch, die
und gleichzeitig theaterhaft-intensiven tex« taucht ein von dem österrei- sich an ein großes Publikum richten.
Tonfall, der einem noch präsenter ist chischen Schauspielberserker Nicholas Genau das Kino, das ich machen möch-
als sein Gesicht. Von dem ersten Film, Ofczarek verkörperter verrückter Apo- te.« Ihm sei klar, dass ihn allein schon
den er als Regisseur gemacht hat, wa- theker auf, der sich über Traum, Trau- sein Filmgeschmack in die Arme der
rum er das Kino liebt und was aus ihm ma und die Schnittstelle zur Realität in Streamingdienste treibe.
in Streaming- und Corona-Zeiten wer- einen surrealen Rausch redet. »Und wer weiß, wie viele Kinos am
den soll. »Cortex« heißt der Film, den Möglicherweise haben einige Zu- Ende Corona überstehen?«, sagt Bleib-
er geschrieben, produziert und insze- schauer den Faden aber schon vorher treu und seufzt. »Ich hoffe trotzdem,
niert hat. Ein schwieriger Stoff. dass auch mein zweiter Film ein Kino-
In »Cortex« geht es um den von ihm film sein wird.«
selbst gespielten Sicherheitsmann Ha- »Vielen Serien fehlt
gen, der seit Monaten so intensiv träumt, Cortex.
dass er Fantasie und Realität nicht mehr
das Ende. Zehn Ab 22. Oktober im Kino.
unterscheiden kann. Die Beziehung zu Stunden und länger?
seiner Frau Karoline (Nadja Uhl) hat Ist nicht meins.« Oliver Kaever

28 Foto: Warner Bros. S P I E G E L B E STS E L L E R   H E R B ST 2 02 0


Weitere Filme Kundgebungen demonstriert.
Bei einer Schlägerei bekommt sie das
Handy eines Neonazis in die Finger
und liest mithilfe eines Computer-
nerds die Daten aus. Nach und nach
werden die Konturen eines rechten
Netzwerks sichtbar. Die Regisseurin
schafft es, in der ersten Stunde ihres
Films den Politthriller voranzutreiben
und gleichzeitig das Lebensgefühl
einer Generation zu vermitteln, die
bereit ist, mehr für eine bessere
Welt zu tun, als Petitionen zu unter-
zeichnen. Dann verheddert sie
sich in den großen Fragen, die sie
aufwirft. Ab wann ist es legitim, Ge-
walt anzuwenden: nur gegen Sachen,
auch gegen Menschen? Irgendwann
droht der Zuschauer auf Distanz
zu den Hauptfiguren zu gehen, weil
ziemlich unklar bleibt, warum
Szene aus »Résistance« man so dringend Nazis verprügeln
muss, nachdem man zuvor schon
W E LT K R I E G S D R A M A fen, und gerät dabei ins Visier von ihre Autos demoliert hat. Lars-Olav Beier
Held ohne Worte Barbie und seinen Schergen. Ab
und zu macht Jakubowicz den Fehler,
Résistance – Widerstand. Regie: Jonathan seinen Zuschauern um jeden Preis FA M I L I E N K O M Ö D I E
Jakubowicz. Mit: Jesse Eisenberg,
Clémence Poésy, Matthias Schweighöfer,
Thrill und Action bieten zu wollen – Neben der Spur
Karl Markovics. Start: 5. November. dann wirkt der Film übertrieben
und schlecht konstruiert. Doch er ist Kajillionaire. Regie: Miranda July. Mit: Evan
Rachel Wood, Gina Rodriguez, Debra Winger,
G Auf den ersten Blick wirkt die Be- stark und bewegend, wenn er sich Richard Jenkins. Start: 22. Oktober.
setzung fast wie ein Witz: Jesse Eisen- auf die Eindringlichkeit seines Dramas
berg, berühmt geworden als Schnell- verlässt und wie sein Held der Stille G Die spinnen, die Kalifornier – das
und Vielsprecher in David Finchers vertraut. Lars-Olav Beier könnte das heimliche Motto vieler
Film »The Social Network« (2010), Werke der Schriftstellerin, Filmema-
verkörpert den legendären französi- cherin und Künstlerin Miranda July
schen Pantomimen Marcel Marceau. POLITTHRILLER sein. Denn sie sind alle ein bisschen
Und der ewig nette Matthias Schweig- Gewalt gegen rechts neben der Spur, die Frauen und Män-
höfer spielt einen der übelsten Ver- ner in Julys Romanen und Filmen,
brecher der Nazis: Klaus Barbie, den Und morgen die ganze Welt. Regie: Julia die »Der erste fiese Typ« (2015) oder
von Heinz. Mit: Mala Emde, Noah Saavedra,
früheren Gestapo-Chef von Lyon. Luisa-Céline Gaffron, Tonio Schneider.
»Ich und du und alle, die wir kennen«
Doch der Mut des aus Venezuela Start: 29. Oktober. (2005) heißen. In ihrem neuesten
stammenden Regisseurs Jonathan Werk »Kajillionaire« scheint es die
Jakubowicz, die Rollen gegen den Typ G Was soll man tun, wenn Rechts- 46-jährige Regisseurin auf den ersten
zu besetzen, zahlt sich aus. Eisenberg extreme fremdenfeindliche Parolen Blick brutal zu übertreiben mit der
zeigt dem Zuschauer, wie Marceau, brüllen, Ausländer verprügeln und ge- Spleenigkeit ihres Personals. Durch
der Anfang der Vierzigerjahre im be- heime Waffendepots anlegen? Die die Armenviertel von Los Angeles
setzten Frankreich als Jude gegen deutsche Regisseurin Julia von Heinz stolpert hier eine sagenhaft schlecht
die Nazis kämpfte, mit seiner Mimik hat aus dieser Fragestellung einen angezogene und wirr brabbelnde kri-
und Gestik von Gefühlen erzählt, die zumindest in Teilen fesselnden Film minelle Kleinfamilie. Debra Winger
sich kaum in Worte fassen lassen. Und entwickelt, der vor wenigen Wochen und Richard Jenkins spielen das he-
Schweighöfer verleiht dem »Schläch- auf dem Festival von Venedig im runtergekommene Trickbetrügerpaar
ter von Lyon« genannten Barbie eine Wettbewerb lief. Er erzählt von der Theresa und Robert, Evan Rachel
furchterregend kalte und kontrollierte jungen linken Aktivistin Luisa (Mala Wood verkörpert ihre Tochter mit
Grausamkeit. Marceau, der nach dem Emde), die aus gutbürgerlichem Hause dem exzentrischen Namen Old Dolio.
Krieg ein Weltstar wurde, versucht stammt, mit ihren Freunden Müll- Die drei bereichern sich an anderen
in dem Film, jüdischen Waisenkindern container nach genießbaren Lebens- armen Schluckern und hausen in einer
zur Flucht in die Schweiz zu verhel- mitteln durchsucht und gegen rechte Fabrikhalle, durch deren Deckenritzen

Fotos: Warner Bros., Filmwelt Filmverleih, Melinda Sue Gordon / Warner Bros., Sony Pictures 29
Charts Kino
1 Jim Knopf und die Wilde 13
ekliger rosafarbener Chemie- der abenteuerlustigen Bür-
Warner Bros., FSK: ohne Altersbeschränkung
schaum eindringt, den die gertochter Melanie (Gina
Die Abenteuer des schwarzen Waisenjungen, den der Autor Michael
Bewohner abschöpfen müs- Rodriguez) anfreunden,
Ende vor 60 Jahren erfand, gehen weiter. Mit über 200 000 Zu-
sen. Bei genauerer Betrach- dann schließen sich die bei- schauern in nur einer Woche ein Hoffnungsschimmer für die Kinos.
tung erweist sich die Gau- den Frauen zusammen.
nerkomödie aber als kluge In den schönsten Szenen des
2 Tenet
Abhandlung über die Bana- Films üben die Kleingangs- Warner Bros., FSK: ab 12 Jahren
lität des Kapitalismus und terhelden die Kunst der
Schon lange hatte Hollywoods Regie-
die emotionale Leere einer Umarmung. Unter der Ober- Wunderkind Christopher Nolan den
scheinbar verschworenen fläche aus schrägem Humor Traum, einen James-Bond-Film
Familiengemeinschaft. Zu- und perfekt scheußlicher zu drehen. Nun hat er seinen eigenen
nächst ist die Jungbetrügerin Ausstattung erzählt July eine Agenten-Blockbuster geschaffen.
Old Dolio schwer eifersüch- erstaunlich warmherzige
tig, als ihre Eltern sich mit Geschichte. Wolfgang Höbel 3 Gott, du kannst ein Arsch sein!
Leonine, FSK: ab 6 Jahren
Eine 16-Jährige erfährt, dass sie Krebs hat und die Heilungschancen
gering sind. Statt eine Chemotherapie zu beginnen, haut sie
von zu Hause ab und macht sich auf den Weg nach Frankreich.

4 After Truth
Constantin, FSK: ab 12 Jahren
Der zweite Adaption der Teeniesex-Romane von Anna Todd: große
Leidenschaft, noch größere Klischees. Weitere Fortsetzungen werden
kaum zu vermeiden sein.

5 Ooops! 2 – Land in Sicht


Telepool / PPG, FSK: ohne Altersbeschränkung
Allerlei knuffige Tiere schippern auf der Arche Noah über die Meere.
Die Nahrung geht zu Ende, die Nerven liegen blank.
Szene aus »Curveball«

AG E N T E N F I LM Hussein verfüge über mobile 6 Brave Mädchen tun das nicht


Capelight, FSK: ab 12 Jahren
Die große Lüge Giftgasfabriken. Damit lie-
Eine junge Violinistin bekommt heraus, dass ihr Freund Pornos guckt.
ferte er den USA einen Vor-
Curveball – Wir machen Als er ihr vorwirft, sie sei verklemmt, beschließt sie, auf eine sexuelle
wand für die militärische
die Wahrheit. Entdeckungstour zu gehen.
Regie: Johannes Naber. Mit:
Invasion des Landes. 2011
Sebastian Blomberg, Dar Salim, gestand er, dass er alles
7 New Mutants
Thorsten Merten, Virginia Kull. erfunden hatte. Es wäre für
Disney, FSK: ab 16 Jahren
Start: 26. November. Naber leicht gewesen,
Der 13. Teil der X-Men-Superhelden-Saga. Junge Mutanten vereinen
sich über die Schlappe der
ihre Kräfte, um aus einem Labor zu entkommen.
G Wer davon träumt, Agent Schlapphüte einfach nur
zu werden, stellt sich ver- lustig zu machen. Doch der
8 Follow Me
mutlich nicht vor, für den Film nimmt die Spione, die Capelight, FSK: ab 16 Jahren
Bundesnachrichtendienst zu keiner liebt, durchaus ernst.
Ein erfolgreicher Influencer und seine Freundin wollen in einem
arbeiten. Schon der Name Wer den BND-Mann Arndt Escape-Room ein bisschen Spaß haben. Doch weil dies ein Horrorfilm
lässt erahnen, dass der Weg Wolf (Sebastian Blomberg) ist, wird der Weg in die Freiheit sehr hart.
zum Heldentum hier lang in seiner muffigen Behörde
werden kann. Johannes Na- sieht, versteht sofort, warum 9 Meine Freundin Conni – Geheimnis um Kater Mau
bers Film »Curveball« han- er die elektrisierenden WildBunch, FSK: ohne Altersbeschränkung
delt von BND-Leuten, die Berichte des Irakers (Dar Ein kleines Mädchen begibt sich auf eine große Reise und stellt
zeigen wollen, dass sie im Salim) für wahr hält und Un- irgendwann fest, dass sein Kater als blinder Passagier mitgekommen
großen Spionagegeschäft heil verhindern will. Der Zu- ist. Deutscher Animationsfilm.
mitmischen können. Der schauer sieht, wie mit durch-
Film beruht auf dem Skan- aus guten Absichten eine 10 Persischstunden
dal um den irakischen Che- Scheinrealität konstruiert Alamode, FSK: ab 12 Jahren
miker Rafid Ahmed Alwan, wird. Geschickt balanciert Im Frankreich des Jahres 1942 gibt sich ein belgischer Jude als Perser
der dem BND unter ande- der Film zwischen Thriller aus, um dem Tod zu entrinnen. Als er einem Hauptsturmbannführer
rem erzählt hatte, Saddam und Komödie. Lars-Olav Beier Farsi beibringen soll, muss er die Sprache erfinden.

30 S P I E G E L B E STS E L L E R   /  H E R B ST 2 02 0
Charts DVD MARK ANNE
RUFFALO HATHAWAY ROBBINS PULLMAN
TIM UND BILL

1 Die Känguru-Chroniken
Warner Bros., FSK: ohne Altersbeschränkung
Marc-Uwe Klings kommunistisches Känguru hüpft unter Dani Levys
Regie nun erstmals über die Leinwand und knöpft sich unangenehme
Zeitgenossen wie Immobilienhaie oder Rechtspopulisten vor.

2 Als Hitler das rosa Kaninchen stahl


Warner Bros., FSK: ohne Altersbeschränkung
Die Regisseurin Caroline Link macht aus Judith Kerrs
autobiografischem Jugendbuch einen berührenden Film
über die Flucht einer Familie vor den Nazis.

3 Nightlife
Warner Bros., FSK: ab 12 Jahren
Zwei Hallodris (Elyas M’Barek und Frederick Lau) und eine
pfiffige Musikmanagerin (Palina Rojinski) werden von Gangstern
durch die Berliner Nacht gejagt.

4 Jane Austen. Sanditon


WVG, FSK: ab 12 Jahren
Fernsehserie über eine impulsive und unkonventionelle junge
Frau in einem englischen Kaff.

5 Narziss und Goldmund


Sony Pictures, FSK: ab 12 Jahren
Mit Schmackes wuchtet Regisseur Stefan
Ruzowitzky die Erzählung Hermann Hesses
über die Freundschaft zweier Männer
auf die Leinwand. Hauptdarsteller Sabin
Tambrea und Jannis Niewöhner brillieren.
EIN TODD HAYNES FILM
6 Lindenberg! Mach dein Ding
Leonine Distribution, FSK: ab 12 Jahren
Die frühen Jahre des Sängers Udo Lindenberg, erzählt als
Erfolgsgeschichte eines jungen Mannes, der aus der westfälischen
Provinz hinaus in die weite Welt zog.

7 Lassie. Eine abenteuerliche Reise


Warner Bros., FSK: ohne Altersbeschränkung
Der berühmteste Collie der Welt hechelt quer durch Deutschland.
Leider verliert der Film seinen Helden in einem Gewusel von Figuren
oft aus den Augen. Zu viele Menschen, zu wenig Hund.

8 Ruf der Wildnis


Walt Disney, FSK: ab 6 Jahren
Noch ein Hund, der sehr viel läuft, diesmal durch Kanada. Gold- DREHBUCH MARIO CORREA UND MATTHEW MICHAEL CARNAHAN REGIE TODD HAYNES
rausch, Schneestürme und ein grimmiger Harrison Ford als Herrchen.
Jack Londons Romanklassiker in einer Disney-Version.

9 Emma
Universal Pictures, FSK: ohne Altersbeschränkung
Neue Adaption von Jane Austens Gesellschaftsroman: Regisseurin
Autumn de Wilde verwandelt ihn in eine Ausstattungsorgie.

10 Die Eiskönigin 2
Walt Disney, FSK: ohne Altersbeschränkung
Der zweite Teil von Disneys Kino-Blockbuster über eine junge Regentin, www.VergifteteWahrheit.de
die mit Zauberkräften Eis erzeugen und mit ihrem Charme
Herzen erwärmen kann. Eine vergnügliche Emanzipationsgeschichte.

Daten: media control 31 AB 8. OKTOBER IM KINO


Musik

»Ich bin geschrumpft«


Entertainer Im SPIEGEL-BESTSELLER-Fragebogen gibt Helge Schneider Antwort auf
ein paar größere und ein paar kleinere Fragen – und auf eine Frage zu seiner Größe.

SPIEGEL: Wo befinden Sie sich ge-


rade?
Schneider: Im Auto, auf der A 2, kurz
vor Hannover. Da, ein Schild: Lauenau.
Aber es stinkt hier nach Gülle. Als ob
jemand ins Auto geschissen hätte.
SPIEGEL: Fällt es Ihnen leicht, Men-
schen zum Lachen zu bringen?
Schneider: Ja, natürlich! Das ist ja
mein Beruf.
SPIEGEL: Was macht einen guten Witz
aus?
Schneider: Wie man ihn erzählt. Ein
Witz muss auch nicht immer eine
Pointe haben.
SPIEGEL: Ihre Lieblingswitzart?
Schneider: Ich finde absurde Witze
ganz gut. Wenn man etwa den Versuch
unternimmt, Bilderwitze nachzuerzäh-
len. Aber platte, richtig blöde Witze,
richtig schlecht vorgetragen, sind natür-
lich auch nicht zu verachten.
SPIEGEL: Ihr kürzester Lieblingswitz?
Schneider: Eigentlich alle Witze, die
mein Freund Charly Weiss erzählt. Die
haben nie eine Pointe, aber er lacht
sich kaputt dabei. Und die sind auch
alle nie kurz.
SPIEGEL: Haben Sie ein besonderes
Timing beim Quatsch?
Schneider: Timing ist Talent. Beim
Witzemachen wie in der Musik. Das
kann man nicht lernen.
SPIEGEL: Wenn Sie auf die Bühne
gehen: Wem schauen Sie in die Augen?
Schneider: Ich sehe mein Publikum
nie. Das ist wegen der Scheinwerfer. Die
blenden. Ich sehe nur das Licht und ein
riesiges schwarzes Loch.
SPIEGEL: Vor welchen drei Komikern
ziehen Sie den Hut?
Schneider: Karl Valentin, Buster
Keaton und Laurel und Hardy. Und vor
Louis de Funès natürlich.
SPIEGEL: Die drei besten Filme von
Dick und Doof?
Schneider: 1. »Das große Geschäft« –
sie verkaufen Weihnachtsbäume im Allroundkünstler Schneider
Sommer. »Ehrenpräsident vom Polizeisportverein«

32 S P I E G E L B E STS E L L E R   H E R B ST 2 02 0
2. »Auf hoher See« – sie arbeiten in sen. Der ging nie kaputt. Ich Blödmann Schneider: Der hatte wie alles eine
einer Hupenfabrik und müssen zur habe den dann an einen Bekannten gute und eine schlechte Seite. Das
Kur auf See. verkauft. Der fährt ihn heute noch. Homeschooling hat mich fertiggemacht.
3. »Der Klaviertransport« – sie arbeiten SPIEGEL: Sind Sie für oder gegen ein SPIEGEL: Welche der derzeit kursie-
als Möbelpacker und müssen ein Tempolimit? renden Verschwörungstheorien finden
Klavier einen Berg hochtragen. Schneider: Ich fahre gerade 122 km/h. Sie am witzigsten?
SPIEGEL: Improvisieren Sie eigentlich Mein Auto kann aber doppelt so Schneider: Witzig ist das alles nicht.
viel auf der Bühne? schnell, 250 km/h. Mein Rekord war Aber natürlich ist die Vorstellung inte-
Schneider: Wenn ein Auftritt von mir mal 190 km/h. Da fällt mir ein: In ressant, dass Angela Merkel in Wirk-
strukturiert und durchgetaktet ist, dann Spanien gibt es ein Tempolimit von lichkeit ein Echsenmensch sein könnte.
kann ich auf diesem Boden gut impro- 120 km/h. Das ist sehr entspannt. Man SPIEGEL: Bedauern Sie es, nicht mehr
visieren. Manchmal verzichte ich auch kann die Landschaft angucken, und es live auftreten zu können?
auf die Struktur, dann ist ein Auftritt gibt nie Staus. Schneider: Aber ich trete doch live
von mir wie freie Rede. Da zwinge ich SPIEGEL: Benutzen Sie in SMS auch noch auf! Nur verdiene ich jetzt 50 Euro
mich dann, während des Konzerts auf Emojis? statt wie früher 10 000 Euro. Es kom-
neue Ideen zu kommen. Schneider: Sehr, sehr selten. Neulich men ja wegen Corona weniger Men-
SPIEGEL: Was kann man vom Jazz habe ich aber ein grünes Auto ver- schen. Als Künstler ist man da einfach
lernen? schickt. das schwächste Glied in der Nahrungs-
Schneider: Alles. Philosophie auch. SPIEGEL: Ist das Ihr Lieblings-Emoji?! kette.
Sich darauf zu freuen, dass man nicht Schneider: Auf meinem Telefon habe SPIEGEL: Welches Konzert haben Sie
weiß, was als Nächstes kommt, zum ich mir ein Emoji von mir selbst ge- zuletzt besucht?
Beispiel. staltet: Als mein eigenes Emoji werfe Schneider: AC/DC 2002 im Olympia-
SPIEGEL: Fällt Ihnen spontan ein guter ich mit Geld um mich. stadion Berlin.
Film mit Jazzmusik ein? SPIEGEL: Messen Sie Erfolg in Geld? SPIEGEL: Und bei welchem Song
Schneider: Kennen Sie den Film verlassen Sie die Tanzfläche?
»Jazzclub«? Das ist ein toller Film mit Schneider: Ich habe früher viel ge-
toller Jazzmusik. Die habe ich übrigens »Ich sehe das Plakat tanzt, aber nicht zu Reggae. Das ist eine
live aufgenommen und nicht zu Play- schon vor mir: statische Musik mit politischem An-
back gespielt. Robert de Niro spielt spruch – ein Stampftanz. Ich kann dafür
SPIEGEL: Die drei besten Kriminal- sehr gut zu Swing tanzen.
Helge Schneider.«
filme von Herman Melville? SPIEGEL: Mögen Sie Elvis?
Schneider: 1. »Vier im roten Kreis« Schneider: Als 18-Jähriger bin ich im
2. »Der eiskalte Engel« Schneider: Nein. Ich bin ein Realist: Januar 1973 nachts aufgeblieben, um
3. »Der zweite Atem« Ich gebe nicht viel darauf, wenn Leute im Fernsehen Elvis live zu sehen. Die
SPIEGEL: Wer ist der beste Bond- mich loben. Show hieß: »Elvis live in Hawaii«. Er
Darsteller? SPIEGEL: Wie verändert Erfolg den stand im Scheinwerferlicht mit dem
Schneider: Cary Grant. Das wär’s Menschen? Rücken zum Publikum, auf dem Rü-
gewesen. Schneider: Er stärkt die Persönlich- cken seines Showanzugs hatte er eine
SPIEGEL: Die drei besten Kriminal- keit. Wenn man den Erfolg so positiv riesige goldene Sonne gestickt. Wäh-
romane, die je geschrieben wurden? nutzt, wie ich es tue, dann kann man rend die Kamera auf ihn zufuhr, drehte
Schneider: 1. Dashiell Hammett: »Der durch ihn wesentlich cooler werden, als er sich um. Da hatte der ganz fette
dünne Mann« man sowieso schon ist. Und das Beste Backen bekommen, richtig dick war
2. Raymond Chandler: »Tote schlafen ist: Erfolg ist nie total. Wenn man Erfolg der. Ich war schockiert.
fest« hat, ist man als Künstler trotzdem noch SPIEGEL: Welches sind die drei besten
3. Frederik Forsyth: »Der Schakal« auf der Suche. Platten von Bob Dylan?
SPIEGEL: Was verbindet Sie mit Philip SPIEGEL: Was haben Sie eigentlich Schneider: Ganz ehrlich: Ich habe mir
Marlowe? während des Lockdowns gemacht? noch nie eine Platte von dem gekauft.
Schneider: Ich habe auch so einen An- Schneider: Ich habe meine neue Jemals.
zug, so einen Hut und so einen Mantel. Schallplatte »Mama« aufgenommen, SPIEGEL: Und mit wem würden Sie
SPIEGEL: Das beste Auto, das Sie je die hat mich glücklich gemacht. Da sind gerne mal zu Abend essen?
besessen haben? Lieder drauf, die ich jetzt statt meiner Schneider: Na, mit Bob Dylan natür-
Schneider: Ein Peugeot 403 Cabrio. alten Lieder singe – »Heute hab’ ich lich! Den würde ich gerne mal kennen-
Den hat schon Inspektor Columbo gute Laune«, aber auch »Ich setz’ mein lernen.
gefahren. Herz bei Ebay ein« oder »Der müde SPIEGEL: Was schätzen Sie an Alexan-
SPIEGEL: Das beste Auto, das je Reiter«. Dass ich diese Lieder mag, ist der Kluge am meisten?
gebaut wurde? für mich der größte Erfolg. Schneider: Wir passen ganz gut zu-
Schneider: Das war der Honda Pre- SPIEGEL: Der Lockdown hatte für Sie sammen. Während er selbst für Intel-
lude Coupé. Den habe ich auch beses- also auch eine gute Seite? lektuelle manchmal schon zu schwer

Foto. Bob Slip 33


Musik

verständlich schreibt, können Intellek- SPIEGEL: Welches sich hartnäckig hal- schneiderei »Saarner Lädchen«. Da
tuelle meine Artikulierungen umge- tende Gerücht über Sie ist schlichtweg habe ich alle meine Sachen zum Ändern
kehrt ganz gut verstehen. nicht wahr? hingegeben. Auch zum Wärmermachen.
SPIEGEL: Und was an Werner Nekes? Schneider: Dass ich 1,74 Meter groß Leider ist der Schneider jetzt in Rente
Schneider: Seinen kindlich-naiven bin. Tatsächlich bin ich in den letzten gegangen.
Blick auf die Welt und auf die Techno- Tagen geschrumpft. Ich bin nur noch SPIEGEL: Wo sind Sie am liebsten im
logie. 1,72 Meter groß. Winter?
SPIEGEL: Wie steht es um den deut- SPIEGEL: Geben Sie gern Geld aus? Schneider: Zu Hause an der Ruhr.
schen Film? Schneider: Allerdings! Ich gebe wahn- Auf dem Ruderboot.
Schneider: Tja, ich weiß auch nicht. sinnig viel Geld aus. Ich habe mir allei- SPIEGEL: Ist das nicht kalt?
Entweder ist der deutsche Film so trübe ne in den letzten Jahren 15 Flügel ge- Schneider: Es braucht nur einen
und elegisch und mit vielen Pausen und kauft – und die kosten ja gebraucht Schluck Rum, dann ist einem warm.
mit betroffenen Schauspieler*innen schon 100 000 Euro das Stück. Die sind SPIEGEL: Ist Mülheim an der Ruhr
besetzt, die ganz leise sprechen. jetzt bis auf einen alle in der Garage. eine Reise wert?
SPIEGEL: Oder …? SPIEGEL: Was steht heute auf Ihrem Schneider: Ich weiß nicht. Seit Corona
Schneider: … er ist ein schlecht recher- Einkaufszettel? ist die Fußgängerzone völlig unbelebt.
chierter Krimi. Oder ein Lustspiel. Schneider: Eigentlich wollte ich mir Die City ist total leer. Und die Shopping-
SPIEGEL: Welcher Schauspieler sollte heute in Berlin ein Übungsschlagzeug malls außerhalb der Innenstadt sehen
Sie in Ihrer verfilmten Autobiografie ehrlich gesagt so aus wie überall.
spielen? SPIEGEL: Ein Herzensprojekt, das Sie
Schneider: Das kann nur Robert De »Ich habe diesen noch verwirklichen wollen?
Niro. Ich sehe schon das Plakat vor mir: Schrottplatz seitdem Schneider: Ja: grenzenlos reisen. Mit
»Robert De Niro in: HELGE SCHNEI- oft gesucht, aber nie dem Motorrad. Aber das wird wohl nie
DER – SO WAR DAS – sein Leben.« wiedergefunden.« mehr gehen.
SPIEGEL: Ein deutscher Schauspieler SPIEGEL: Ein Ort, an den Sie gerne
könnte Sie nicht spielen? einmal wieder zurückkehren würden?
Schneider: Doch, natürlich: Mario kaufen, aber ich fürchte, wenn ich dort Schneider: In Rillieux-la-Pape in der
Adorf. Oder Romuald Karmakar? Oder, ankomme, haben die Geschäfte schon zu. Nähe von Lyon gab es vor 50 Jahren
noch besser: Matthias Brandt. Das ist SPIEGEL: Und was stand gestern auf mal einen Schrottplatz unweit eines
der von der Zwieback-Dynastie. Ihrem Einkaufszettel? Einkaufszentrums. Auf dem Schrott-
SPIEGEL: Haben Sie einen wieder- Schneider: Brot, Stück Butter, biss- platz habe ich damals eine Woche ver-
kehrenden Traum? chen Käse, Salami, Milch, Cornflakes bracht, weil mein Motorrad kaputt war.
Schneider: Früher hatte ich einen: und Obst. Und der Algerier, der den Schrottplatz
dass ich von einem grünen Auto über- SPIEGEL: Welches Tier sind Sie in betrieb, hat mir einen Regler aus einem
fahren werde, einem Spielzeugauto. welchem Kinderbuch? VW-Käfer in mein Motorrad eingebaut,
Das ist aber wirklich schon sehr Schneider: Ich bin die kleine Raupe und es hat trotzdem funktioniert. Ich
lange her. Halt! Ich hatte noch einen Nimmersatt. habe nach diesem Ort seitdem oft
zweiten Traum: Ein Dackel bellt mir SPIEGEL: Bei welchem Modedesigner gesucht, aber ich habe ihn nie wieder-
ins Ohr. lassen Sie Ihr Geld? gefunden.
SPIEGEL: Welche Journalistenfrage Schneider: In Mülheim-Saarn gab es SPIEGEL: Ihr Tipp für die nächste
möchten Sie nie wieder gestellt be- bis vor Kurzem noch die Änderungs- Generation?
kommen? Schneider: Mal das Handy weglegen
Schneider: Gerade neulich stellte mir und Dinge erleben, an die man sich
eine Journalistin die Frage: »Welches anschließend erinnern kann.
Ihrer Kinder haben Sie am liebsten?« SPIEGEL: Gibt es ein Leben nach dem
Wer so etwas fragt, riskiert meiner Tod?
Ansicht nach, vom PEN-Club ausge- Schneider: Bedingt. Dafür kann ich
schlossen zu werden. Gedanken lesen.
SPIEGEL: In welchem Klub sind Sie SPIEGEL: Was soll auf Ihrem Grabstein
Mitglied? stehen?
Schneider: In keinem! Das heißt … Schneider: Puh! Also wenn es dann
Moment! Ich bin ja Ehrenpräsident noch Grabsteine gibt und die nicht ver-
vom Polizeisportverein in Mülheim an boten sind, dann könnte man da zum
der Ruhr. Beispiel, also wenn ich wirklich einen
SPIEGEL: Ihre Lieblingssportart? Grabstein haben wollte, draufschrei-
Schneider: Im Rudern bin ich sehr gut, ben: »Heute hab’ ich gute Laune.«
und in Nordic Walking auch. Da werden Helge Schneider: »Mama« (Roof Records);
alle Muskeln gleichmäßig trainiert. Deutschlandtour bis Dezember Interview: Max Dax

34 S P I E G E L B E STS E L L E R   H E R B ST 2 02 0
Charts Pop
1 Metallica & San Francisco Symphony: S&M2
EMI
Klassik-Fans und Metal-Enthusiasten eint der
Hang zum schwarzen Outfit, das Faible für Saiten-
instrumente – und dieses Album.
A K T UE L L E HI GHL I GH T S
2 Lang Lang: Bach – Goldberg Variations
Deutsche Grammophon
Einer der berühmtesten Pianisten unserer Zeit interpretiert einen der
berühmtesten Komponisten aller Zeiten.

3 Niedeckens BAP: Alles fließt


Vertigo Berlin
Was ist los, wenn plötzlich von Jläsern, Hauptjewinnen oder Jeister-
fahrern die Rede ist? Jenau, BAP haben ein neues Album rausjebracht.

4 Bonez MC: Hollywood


Vertigo Berlin
Ein Hamburger besingt sein »Hollywood Life« und rollt mit
wechselnden motorisierten Fortbewegungsmitteln (Roller, »Benzer«,
Ferrari) »übern Kiez«.

5 Joy Denalane: Let Yourself Be Loved JETZT ERHÄLTLICH — CD | VINYL | STREAM | DOWNLOAD
Vertigo Berlin
Wie verneigt man sich vor Papas Soul-Plattensammlung?
Zum Beispiel so, wie die 47-jährige Berlinerin es auf ihrem neuen
englischsprachigen Album tut. »Let Yourself Be Loved« ist
nicht nur Denalanes erstes Album beim berühmten Label »Motown«,
sondern das erste einer deutschen Sängerin dort überhaupt.

6 Marilyn Manson: We Are Chaos


Caroline
Und wie verbeugt man sich als »Antichrist Superstar« vor David
Bowie? Zum Beispiel so düster-poppig, wie es der 51-jährige Brian
Hugh Warner auf dem elften Studioalbum seiner Band macht.

7 Deep Purple: Whoosh!


EarMusic
Fast 50 Jahre nach »Smoke on the Water« war es mal wieder
Zeit für ein paar neue Riffs.
JETZT ERHÄLTLICH — CD | VINYL | STREAM | DOWNLOAD
8 The Rolling Stones: Goats Head Soup
Polydor
Fast 50 Jahre nach seinem Einstieg in die Charts der Bundesrepublik
schafft es das elfte Studioalbum von Mick, Keith und Co. in einer
aufgemotzten Fassung noch mal in die Top Ten.

9 Capital Bra: CB7


Urban
Der selbst ernannte Bratan hat »Bock auf Marbella«, frühstückt mit
Cro in Paris und fasst nebenbei noch Berliner Corona-Partys in
einer Zeile zusammen: »Dieser Song ist wie ein Virus, und er kommt
heute in deine Stadt.«

10 Apache 207: Treppenhaus


Four Music / Two Sides
Volkan Yaman aus Ludwigshafen am Rhein liefert zwölf Beweise
der ersten Deutschrapper-Regel: »Wer auf dicke Hose macht, muss
auch sein Herz ausschütten können.« ERSCHEINT AM 30.10.2020 — 13 CD | STREAM | DOWNLOAD

Daten: media control (ohne Compilations) 35 WWW.KLASSIKAKZENTE.DE


Charts Jazz
1 Gregory Porter: All Rise
Blue Note
Weitere Alben
Jazz war auch einmal die ganz große Bühne, Streicher,
Bläser, smarte Anzüge. Dieser Sänger hat die JA Z Z
Stimme dafür – und sorgt für ein erhebendes Album. Das Recht der Jugend
Joel Ross: Who Are You.
2 Nils Wülker: Go Blue Note / Universal.
Warner
Nach »Up« und »On« nun »Go«, der letzte Teil einer Trilogie, für die der G In Anbetracht ihrer künstlerischen Bedeutung gerät leicht
deutsche Trompeter seine Musik elektronischen Klängen öffnete. in Vergessenheit, wie jung die Musiker waren, die in den
Fünfzigern und Sechzigern die Plattenfirma Blue Note zum
3 Michael Wollny: Mondenkind wichtigsten Jazzlabel der Welt machten. Herbie Hancock
Act war 22, als er sein Debüt als Bandleader aufnahm. Der
Ein tolle Idee für Musik über das Gefühl, allein zu sein: 45,33 Minuten Trompeter Lee Morgan war gerade mal 18. Der Saxofonist
dauert das neue Album des in Leipzig lebenden Pianisten. So lange war Hank Mobley war 25. Junge Männer, die glaubten, ihnen
ein Astronaut der Apollo-11-Mondmission ohne Funkkontakt. gehöre die Welt. Das ist lange her. Doch im Augenblick
wirkt Blue Note, als hätte das Label Zugang zu einem neuen
4 Diana Krall: This Dream of You Pool von Talenten. 25 Jahre ist der Vibrafonist Joel
Verve Ross jung, seine neue Platte »Who Are You« ist schon sein
Songs aus ihrer letzten Zusammenarbeit mit Tommy LiPuma, zweites Album. Immanuel Wilkins, sein Saxofonist, der
dem großen Jazzproduzenten, der 2017 starb. gerade auch ein Album veröffentlicht hat, ist 23. Ehrgeizige,
talentierte und brillante Musiker, die sich ihren eigenen
5 Jamiroquai: High Times – Singles 1992–2006 Reim auf die Jazzgeschichte machen. Die improvisieren und
Sony komponieren können. Die Stücke spielen, die sich nicht
Der Mann, der den britischen Dancefloorjazz in die Charts hievte, in Komplexität verlieren, was ja leicht passiert, wenn man
bringt seine besten Stücke noch einmal heraus. der Welt zeigen will, was man draufhat. Sondern die
lyrisch sind, melodiös und gleichzeitig durchdacht. »Who

Charts Klassik
Are You« ist eine Frage – die Antwort ist der künstlerische
Idealfall: selbstbewusste junge Typen in einer alt gewor-
denen Kunstform. Tobias Rapp
1 Lang Lang: Bach – Goldberg Variations
Deutsche Grammophon
Der Weltstar nimmt sich einen der größten Klavier-
zyklen der Musikgeschichte vor – auch so
kann man Bachs Kontrapunktik bewundern lernen.

2 Igor Levit: Encounter


Sony
Bach- und Brahms-Choralklänge, virtuos adaptiert von Busoni und
Reger, dazu eine minimalistische Klangstudie von Morton Feldman:
Gedankenvolles in Zeiten der Quarantäne.

3 Jonas Kaufmann & Helmut Deutsch: Selige Stunde


Sony
Kunstlieder seit der Beethovenzeit. Siehe Rezension.

4 Ludovico Einaudi: Undiscovered


Decca
Das Doppelalbum bringt zuverlässig entspannend Melodisches aus
25 Jahren, in denen sich Einaudi zum Markenartikel entwickelt hat.

5 Jonas Kaufmann: Dolce Vita


Sony
Kaufmanns sommerlicher Ausflug in die italienischen Hit-Gefilde hält
sich wacker; gut für das von Corona gebeutelte Klanggeschäft.

Jazzmusiker Ross

36 Daten: media control (ohne Compilations)


Williams knapp 88-jährig ans Dirigen-
tenpult zu holen, dessen wuchtige
Klangszenerien für »Star Wars«, »Der
weiße Hai«, »Indiana Jones«, »Harry
Potter« und viele andere Kinoerfolge
legendär sind. Dazu kam als Stargast
die Geigerin Anne-Sophie Mutter.
Das Resultat aus den zwei Wiener
Konzerten mit reinem Williams-Pro-
gramm im Januar ist hier dokumen-
tiert: opulente, mitreißende und
garantiert nicht geistig überfordernde
Kost für Hörer, die den breiten Klang-
pinsel lieben. Ob es nur am Platz
lag, dass die Blu-Ray-Version sechs
Stücke mehr enthält? Egal: Zu diesem
Band Eskimo Callboy Sound sieht man bei geschlossenen
Augen gleich wieder die Leinwandbil-
WA C K E N -T E C H N O bescheuert und bleibt im Kopf.« Auf der vor sich, die der gebürtige New
Böse Blicke, bunte »MMXX« prägt beides die musika- Yorker untermalte. Johannes Saltzwedel
Leggings lische Ästhetik, die bunten Leggings
und die bösen Blicke. Scheinen
Eskimo Callboy: MMXX. erst nur die Synthesizer loszukrei- KLASSI K I I
Century Media.
schen, tun es nach ein paar Sekunden Die Kunst des Lieds
G Junge Männer mit Vokuhila und auch die Sänger. Verzerrte Gitarren-
Schnurrbart hüpfen vor pink leuch- wände hinter elektronischen Sounds, Jonas Kaufmann, Helmut Deutsch:
Selige Stunde. Sony Classical.
tenden Neonröhren, die zu den Wör- die an Überzuckerung leiden –
tern »Hypa Hypa« geformt sind. und dazu spielt ein früherer Ge- G Kaum hat er Italiens »Dolce
Die Musik, in deren Takt die Männer winner der Trash-TV-Sendung »Die Vita« erkundet, schon ist Publikums-
hüpfen, klingt, als hätten sie sich Bachelorette« ein Schlagzeug, das liebling Jonas Kaufmann mit einem
zu einem Auftritt der Technogruppe einen hier zum Tanzen, da zum neuen Album für die kürzer wer-
Scooter aufmachen wollen, wären Headbangen anstiftet. Merkwürdig denden Tage da. Die in privatem Rah-
aber vom GPS zum Metalfestival Wa- eben. Jurek Skrobala men aufgenommene Produktion
cken umgeleitet worden. Als wäre bietet überwiegend deutsche Kunst-
das nicht merkwürdig genug, nennen lieder, souverän begleitet vom
sich die sechs Männer aus dem Musik- KLASSI K I Altmeister Helmut Deutsch. Neben
video als Band auch noch Eskimo Wie im Kino allbekannten Bravourstücken wie
Callboy. »Hypa Hypa« ist der erste Schuberts »Musensohn« oder Richard
Song auf ihrer EP »MMXX«, die vor Anne-Sophie Mutter, Wiener Philharmoniker, Strauss’ »Allerseelen« sind ein paar
John Williams: John Williams in
Kurzem auf Platz zehn der deutschen Vienna. Deutsche Grammophon / Universal.
ausgefallenere Titel für Kenner dabei,
Albumcharts eingestiegen ist. etwa die titelgebende »Selige Stun-
Eskimo Callboy haben sich vor G Auch die Wiener Philharmoniker de«, in der sich Alexander von Zem-
zehn Jahren im Ruhrpott gegründet. möchten nicht immer nur Beethoven linsky (1871 bis 1942), sonst mutig
Wenn alle anderen zum Fußball oder Johann Strauß spielen – aber bis zum Verqueren, einmal in
gegangen seien, hätten er und seine trotzdem gilt es, Gewinn zu machen. Schlichtheit übte. Mit dem reichlich
Freunde sich zum Musikmachen So entstand wohl der Einfall, den parfümierten Liebeslied »Still wie die
getroffen, erzählt einer der beiden Hollywoodfilmkomponisten John Nacht« des Salonkomponisten Carl
Sänger, Kevin Ratajczak. Er ist über Bohm (1844 bis 1920) haben schon
Facetime aus Castrop-Rauxel zuge- Rudolf Schock und Hermann Prey
schaltet. »Unser Antrieb war damals, Punkte zu sammeln versucht. Wie
dass wir Metal mochten, Schrei- stets bemüht sich Kaufmann bei allem
musik«, sagt der 35-Jährige. »Aber Appell ans Populäre um gediegenes
wir mochten nicht, in welche Ecke Kehlenwerk, Vielseitigkeit und psy-
diese Musik gestellt wird: dunkle Klei- chologische Kontraste, und obgleich
dung, lange Haare, böse gucken, ne? seine stark beanspruchte Stimme
Deswegen: bekloppt, bunt, Leggings.« nicht mehr den vollen Glanz früherer
In der Art sei auch der Bandname Tage entfaltet, kann er mit Intimität
zu verstehen, sagt Ratajczak: »Völlig Geigerin Mutter bezaubern. Johannes Saltzwedel

Fotos: Eskimo Callboy, Terry Linke / Universal Music 37


Keller & Hammelehle Und das soll ich lesen?
Keller: »Herzfaden« kann man nicht lesen, ohne sich beiden Stränge fast gar nicht verknüpft. Aber ich
alte Szenen der Augsburger Puppenkiste auf YouTube hatte auch an der eigentlichen Romanhandlung wenig
anzuschauen. Zum Beispiel, wie das Urmel zum ersten Freude. Es gibt kaum Psychologie und auch keine
Mal »Mama« sagt. Was hast du alles geguckt? wirklichen Konflikte. Das ist alles ziemlich eindimen-
Hammelehle: Gar nichts. Ich erinnere mich gut an sional und bieder. Dabei geht es hier doch eigentlich
das Urmel. An Jim Knopf auch. Habe ich jemanden um Magie, um das Unbelebte, das lebendig wird. Bei
vergessen? Hettche ist es eher umgekehrt. Und dann immer diese
Keller: Den kleinen König bemüht eingearbeiteten his-
Kalle Wirsch und den kleinen torischen Ereignisse. Der
Prinzen. Noch wichtiger für Kriegsausbruch, der Holo-
das Buch sind die ganz frühen caust. Ein Judenstern hier,
Marionetten: Hänsel und Gre- ein Hakenkreuz da. Die
tel und die Heiligen Drei Kö- amerikanische Besatzung,
nige und der Kasper. Thomas auf dem Plattenteller läuft
Hettche hat sich offenbar vor- Swing. Die deutsche Ge-
genommen, die Entstehungs- schichte ist doch kein Event-
geschichte der Augsburger movie im ZDF. Ich finde das
Puppenkiste selbst als eine allzu hölzern.
Art Märchen zu erzählen. Fin- Keller: Das hat mich gar
dest du, er wird der Puppen- nicht so sehr gestört. Im Ge-
kiste damit gerecht? genteil – ich fand es stellen-
Hammelehle: Das ist ja weise sogar interessant, die
kaum möglich. Die Augsbur- Puppenkiste so im histori-
ger Puppenkiste ist Teil mei- schen Kontext zu sehen.
ner Kindheit. Hettche müsste Und mir hat es gefallen, dass
schon Marcel Proust sein, man nebenbei auch Dinge
um diesen Zauber hinzube- über das Puppenspiel lernt –
kommen. »Herzfaden« ist ein zum Beispiel, dass man die
ziemlich gewöhnliches Buch. Köpfe am besten aus Linden-
Allerdings zweifarbig ge- holz schnitzt. Wenn schon
druckt, um zwei Zeitebenen hölzern, dann also bitte lin-
zu markieren – was ich ein denhölzern.
bisschen albern finde. Es geht
um ein Mädchen in der Nazi-
Thomas Hettche: Hammelehle: Stimmt, das
ist ein schönes Detail. Es gibt
und Nachkriegszeit und um »Herzfaden – ja diesen herrlichen und sehr
ein Mädchen von heute. Dort wahren Satz von Kant: Der
Hitler, hier das iPhone. Roman der Mensch sei aus krummem
Keller: Die Kapitel aus der Holz geschnitzt. In diesem
Vergangenheit über Hanne- Augsburger Buch ist mir das Holz ein
lore Oehmichen, die Tochter bisschen zu gerade.
des Puppenkistengründers, Puppenkiste« Keller: Man lernt ja noch
die von allen Hatü genannt etwas übers Puppenspiel:
wird, fand ich von Anfang an dass diese Kunstform so
toll. Mit dem Teil, der in der Gegenwart spielt, habe ich uneitel ist, weil die Puppenspieler nicht in Erscheinung
mich zuerst etwas schwergetan, weil auch er so offen- treten. So gesehen hätte der Roman mehr wie ein
sichtlich märchenhaft geschrieben ist. Die Hauptfigur Puppenspiel sein dürfen.
dieses Teils heißt nur »das Mädchen«. Dieses Mädchen
besucht mit seinem Vater die Augsburger Puppenkiste, Maren Keller hätte sich gefreut, wenn sie bei ihrem Besuch
obwohl es – worauf es großen Wert legt – kein Kind des Puppenkisten-Museums vor einigen Jahren ein zum
mehr ist, und gerät auf dem Dachboden in eine Welt, in Leben erwachtes Urmel getroffen hätte. Sie ist Redakteurin
der die Puppen lebendig sind. im Ressort Leben. Sebastian Hammelehle würde wieder-
Hammelehle: Eine Parallelhandlung. Ich finde das geborene Dinosaurier, Drachen und Urmel gern Steven Spiel-
ein bisschen arg pseudoliterarisch, zumal Hettche die berg überlassen. Er leitet das SPIEGEL-Kulturressort.

38 Illustration: Leon Lothschütz für SPIEGEL BESTSELLER


Foto: Jens Ziehe / Copyright: Katharina Grosse und VG Bild-Kunst, Bonn, 2020
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