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Pandemie
Herbst der
»Es muss Beschränkungen
Kanzleramtschef Braun
zu Hause bleiben
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Das Ende der Nacht
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Kosmologie SPIEGEL-Gespräch
Ausland mit Physiknobelpreisträger
Reinhard Genzel über seine
Steigende Corona-Infektions- Entdeckung des schwarzen
zahlen in Argentinien / Lochs im Zentrum der Milch-
Überläufer aus Nordkorea . . . 86 straße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Matthias Schrader / AP
unbewohnbar . . . . . . . . . . . . . . . 88
Wissen
Einfach unwürdig
Leitartikel Verkehrsminister Scheuer muss zurücktreten. Sein Parteichef sollte endlich handeln.
I
mmer wieder warnt Andreas Scheuer mit großer Lei- ereilte beide eine sonderbare Amnesie. Ausgerechnet an
denschaft vor ökologischem Eifer. Der Verbrennungs- das Angebot der Betreiber, die Mautverträge erst später zu
motor dürfe nicht verboten, die Diesel nicht von der unterschreiben (was dem Steuerzahler wohl viel Geld spa-
Straße verdrängt werden. Seine Begründung: Er wolle ren würde), konnten sich beide leider partout nicht mehr
der AfD und anderen Rechtspopulisten keinen Vorschub erinnern. Sie sagten auch nicht, dass es ein solches Ange-
leisten. In Wahrheit trägt kaum ein Bundespolitiker mehr bot nicht gegeben habe. Sie wussten es einfach nicht mehr.
zur Politikverdrossenheit bei als Scheuer. Sein Umgang mit Juristisch spitzfindiger geht es nicht.
der eigenen Mautaffäre fügt der politischen Kultur des Seit seiner Anhörung vor dem Ausschuss glaubt Scheuer
Landes massiven Schaden zu. offenbar, die Sache sei ausgestanden. Von ihm ist keine
Mit seiner Weigerung, sich zu erinnern oder, besser noch, Einsicht mehr zu erwarten. Darum müssen andere diesen
zurückzutreten, spielt er jenen Enttäuschten in die Hände, Minister aus dem Verkehr ziehen. Gefordert sind nun die
vor denen der Minister sonst gern Bundeskanzlerin und der bayeri-
warnt. Der Christsoziale klammert sche Ministerpräsident, der als
sich an sein Amt und verteidigt es CSU-Chef mit der Kanzlerin
mit jenen Tricks, derer die Bürger beraten kann, wer für seine Par-
so überdrüssig sind. Scheuer tei im Berliner Kabinett sitzt.
wird – gut belegt – vorgeworfen, Doch auch Markus Söder und
nicht nur das Haushalts- und Ver- Angela Merkel nähren bislang
gaberecht gebrochen zu haben, er viele Ressentiments, die sich in
soll auch vor dem Parlament die der Bevölkerung gegen den Ber-
Unwahrheit gesagt haben. Früher liner Politikbetrieb festgesetzt
wäre so mancher Politiker nach haben. Sie taktieren aus egoisti-
solchen Enthüllungen zurückgetre- schen Motiven. Die Kanzlerin
ten, oder man hätte ihn freundlich, will auf den letzten Metern ihrer
aber bestimmt dazu gedrängt. Amtszeit Koalitionszwist vermei-
Ein derartiger Schritt wäre ein den. Und Söder traut sich offen-
wichtiger Akt der Selbstreinigung. kundig nicht, weil eine Abberu-
Aber solche Reflexe existieren fung Scheuers als Eingeständnis
nicht mehr, sie werden weggelä- eines Fehlers bewertet würde.
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL
chelt und ignoriert. Wenn Scheu- Dabei ist das Festhalten an ihm
er damit durchkäme, wäre nicht der größere Fehler.
nur das Verkehrsministerium Merkel und Söder wissen
beschädigt. Über eine Vorbild- zudem, dass auch ihr Koalitions-
funktion von Politikern müsste partner sich nicht traut, offen
man dann nicht mehr reden. den Rücktritt des Verkehrsminis-
Vor dem Parlamentarischen ters zu fordern. Die Zurückhal-
Untersuchungsausschuss zur Pkw- tung der SPD könnte mit einem
Maut hatten die Vorstandschefs zweier Firmen, die das weiteren Untersuchungsausschuss zu tun haben, der sich in
Mautsystem aufbauen sollten, Scheuer schwer belastet. Sie dieser Woche konstituiert hat. Er behandelt die Wirecard-
hätten dem Minister angeboten, mit einer Vertrags- Affäre, im Feuer steht SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz.
unterzeichnung zu warten, bis das Projekt rechtlich ab- Vieles deutet auf einen taktisch motivierten Nichtangriffs-
gesichert sei. Scheuer selbst aber habe auf einen raschen pakt hin.
Abschluss gedrängt, erklärten sie den Abgeordneten. Dieses unwürdige Schauspiel, das sich in den nächsten
Zudem hätten sie sich vom Minister gedrängt gefühlt, Wochen abzuspielen droht, beschädigt das politische
öffentlich zu sagen, auch sie wollten schnell unterschreiben. System. Dabei ist auch in Deutschland ein Kampf um die
Das grenzt an Nötigung. Warum aber sollten die beiden demokratische Kultur, um Integrität und Wahrhaftigkeit
Vorstandschefs lügen, wenn sie dadurch riskierten, wegen entbrannt. Dieser Kampf ist aber nur zu gewinnen, wenn
Falschaussage strafrechtlich verfolgt zu werden? Eliten die anerkannten moralischen Maßstäbe nicht ver-
Scheuers Reaktion auf diesen Vorwurf war ebenso wässern, sondern sie als Vorbilder vorleben. Verkehrs-
erbärmlich wie die seines damaligen Staatssekretärs, der minister Scheuer verrät diese Prinzipien mit seinem Verhal-
inzwischen vom Minister auf den mit rund 400 000 Euro ten und seinem Selbstverständnis von Politik. Es ist höchs-
Jahresgehalt dotierten Chefposten bei der staatseigenen te Zeit, dass Söder und Merkel dem ein Ende bereiten.
Lkw-Maut-Firma Toll Collect gehoben wurde. Denn es Gerald Traufetter
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Titel
Der Superspreader
USA Donald Trumps Ansteckung mit dem Coronavirus rückt sein Totalversagen
als Krisenmanager ins Zentrum der letzten Wahlkampfwochen.
Der Präsident inszeniert sich weiterhin als viriler Macher. Kann ihm das noch helfen?
Eltern trennen und in Käfige sperren las- vonseiten Trumps fast hasserfüllt, und im
sen. Geschützte Gebiete in der Arktis hat Grunde fehlte zum vollendeten Eklat nur,
er für Öl- und Gasbohrungen freigegeben, dass sich der 74-jährige Trump im Stile
er hat das Pariser Klimaabkommen aufge- eines Preis-Catchers auf den 77-jährigen
E
kündigt und die menschengemachte Erd- Biden gestürzt hätte.
erwärmung geleugnet, selbst dann noch, Aber die »Times«-Enthüllung, das TV-
als im Hinterland der amerikanischen Duell, sie wären Trump mutmaßlich nicht
Westküste wochenlang die Feuer wüteten. weiter gefährlich geworden, weil seine
Nichts, so schien es bis vor Kurzem, konn- Wähler derlei Neuigkeiten in ihre Entschei-
te ihm etwas anhaben. Er war immun. dung längst eingepreist haben. Nein, es
Inmitten einer Pandemie hat der US- brauchte einen dramatischen Zufall, um
Präsident die Zahlungen der USA an die Trump zu gefährden, eine Wendung, wie
Weltgesundheitsorganisation ausgesetzt, sie nur den besten Drehbuchautoren ein-
er hat Handelskonflikte gegen Verbündete fällt: Trump, der große Verharmloser,
in Europa und Nordamerika angezettelt, musste sich selbst mit dem Coronavirus
mit Diktatoren in Nah- und Fernost gekun- anstecken. Und so geschah es.
gelt. In den Gremien der Nato, der Verein- Sehr wahrscheinlich vor 14 Tagen brach
he Donald Trump verwundbar wurde, hat ten Nationen, im Uno-Sicherheitsrat hat das Virus in den innersten Zirkel der
er ganze Länder als Dreckslöcher betitelt, er sein Land in die Isolation geführt. Er Macht in den USA ein, in Trumps eigene
die Mexikaner als Vergewaltiger abgestem- hat als Geschäftsmann Steuern in verblüf- vier Wände. Und vor neun Tagen war der
pelt, in seinen Twitter-Gewittern hat er fendem Ausmaß vermieden, Schulden an- Präsident der Vereinigten Staaten, einer
wahllos Fernsehmoderatorinnen, Schau- gehäuft wie ein Hochstapler, er hat seine der bestbehüteten Menschen der Welt,
spieler, Sportler, Funktionäre beschimpft. Privatgeschäfte, trotz aller Versprechen, nachweislich mit Covid-19 infiziert, einer
Er hat die Absetzung von Abgeordneten nie von den Staatsangelegenheiten ge- Krankheit, die er seit Monaten verharm-
verlangt, Senatorinnen beleidigt, die Justiz trennt. lost. Er musste tagelang ins Krankenhaus,
attackiert, die Wissenschaft verspottet, er Und doch hat die längste Zeit nichts da- musste mit einem Cocktail aus starken Me-
hat Menschen mit Behinderung nachgeäfft von gereicht, um seine Hoffnung auf eine dikamenten behandelt werden, alles we-
und das Andenken gefallener Soldaten be- Wiederwahl am 3. November zu erschüt- gen einer Krankheit, die er immer wieder
schmutzt. Groß geschadet hat ihm das die tern. Es mussten erst die vergangenen 10, mit einer saisonalen Grippe verglich. Aber
längste Zeit nicht. 14 Tage kommen, eine Kaskade von Er- das Virus hat das Zeug, den Patienten
Ehe Donald Trumps Macht zu bröckeln eignissen, die Trumps Aussichten auf einen Trump, selbst wenn er wieder ganz gesund
begann, untergrub er mit aggressiver Ener- Sieg stark geschmälert, vielleicht sogar zer- wird, politisch zu erledigen. Weil er es als
gie das von der Verfassung besonders ge- stört haben. Gegner unterschätzt hat. Weil er doch
schützte Grundrecht auf Presse- und Mei- In diesen vergangenen 10, 14 Tagen ist nicht immun war.
nungsfreiheit, er säte Misstrauen gegen- selbst für die Verhältnisse der sich jagen- Scheitert Trump am Wahltag, und zu-
über Fakten und ließ keine Gelegenheit den »News Cycles« in den USA viel ge- mindest die aktuellen Umfragen gehen in
zur Verbreitung spalterischer Propaganda schehen. Die »New York Times« hat vor eine deutliche Richtung, dann wird sein
aus. Er hat Neonazis in Charlottesville als zwei Wochen ihre Enthüllungen über die Management der Corona-Pandemie dafür
»gute Leute« bezeichnet und im Fernseh- Steuerunterlagen Trumps öffentlich ge- ausschlaggebend gewesen sein. Scheitert
duell mit seinem demokratischen Heraus- macht, seine Legende vom erfolgreichen er, dann daran, dass er das Virus nicht als
forderer Joe Biden vor 70 Millionen Zu- Topmanager zerstört und seine gefährliche Gefahr für Leib und Leben ernst nahm,
schauern einen Gruß an die Rassistenbe- Abhängigkeit von Geldgebern dokumen- sondern als Wahlkampfthema seiner Geg-
wegung der »Proud Boys« geschickt. Kri- tiert. Das erste TV-Duell am vorvergange- ner mit aller präsidialen Macht unterdrü-
tikern und Gegnern hat er damit gedroht, nen Dienstag verlief unsachlich, chaotisch, cken wollte. Selbst seit seine eigene Er-
sie ins Gefängnis zu werfen, und in jüngs- krankung die Pandemie auf Platz eins der
ter Zeit schwadronierte er darüber, ohne nationalen Agenda katapultiert hat, ver-
Anlass oder Beleg, dass die Briefwahl dem sucht Trump immer noch, sie kleinzure-
Wahlbetrug Tür und Tor öffne. Es hat ihm Scheitert Trump am den. Amerikas First Patient macht seit sei-
alles nicht geschadet, all die Jahre. Wahltag, dann daran, nem positiven Test eine miserable Figur
Ehe der Boden unter Donald Trump im Umgang mit dieser neuen Lage.
weich wurde, hat er Kinder von Migranten
dass er das Virus nicht Mittlerweile fällt er in den wahlentschei-
an der mexikanischen Grenze von ihren ernst genug nahm. denden Swing States weit zurück. In Mi-
Patient Trump nach seiner Heimkehr ins Weiße Haus am 5. Oktober: Das ewige Schauspiel toxischer Männlichkeit
11
Titel
chigan führt Joe Biden in Umfragen mit vorn, Ende dieser Woche sind es sogar fast bei vielen Zeitgenossen nicht Erleichte-
rund acht Prozentpunkten, in Pennsylva- zehn Prozentpunkte. rung aus, sondern diffuse Furcht.
nia mit sieben, in Wisconsin mit sieben, in Die Ansteckung, die Erkrankung seiner Die Bilder, mit großem Aufwand aus vie-
Florida mit gut vier. Selbst Arizona, lange Frau und vieler seiner engsten Mitarbeiter len Kameras aufgenommen, sollten von
Zeit fest in der Hand der Republikaner, ist hätten ihn nachdenklicher machen und wo- Stärke erzählen, aber ihre Botschaft war
für Biden erreichbar geworden. Bemer- möglich sogar ein wenig sympathischer er- unfreiwillig eine andere: Trump wirkte wie
kenswert ist, wie deutlich sich die Wähler scheinen lassen können. Es wurde auch, ein deplatzierter Buffo, ein falscher Mann
über 65 Jahre im ganzen Land gerade von anfangs im Krankenhaus, vorübergehend am falschen Ort im falschen Film, ein
Trump abwenden; vor vier Jahren stimm- etwas stiller um ihn, aber seit dem Wo- Clown im Zentrum der Macht, dem alles
ten sie mehrheitlich für ihn. chenende gebärdet er sich großmäuliger zuzutrauen ist, nur nicht die Bewältigung
Natürlich kann sich all das noch zuguns- als je zuvor. An manchen Tagen, in man- einer der größten Krisen, die Amerika in
ten des Präsidenten drehen, natürlich kann chen Nächten wirkt es nun, als entfalteten seiner jüngsten Geschichte durchleben
gut drei Wochen vor der Wahl noch viel die ihm verabreichten Steroide Nebenwir- muss. Trump, indem er mit allen Kräften
passieren, aber Trumps Aussichten auf kungen, die seine schlechtesten Eigenschaf- seinen Zauber inszenieren wollte, entzau-
eine Wiederwahl schrumpfen. ten noch weiter befeuern. berte sich in jenen Momenten selbst.
Gerade hat sein Wahlkampfteam die Seine Rückkehr ins Weiße Haus am
Fernsehwerbespots in vielen Staaten des Montag, per Hubschrauber aus dem nahen
G
Mittleren Westens zurückgefahren, noch Walter-Reed-Militärkrankenhaus, verlegte egen seine Absicht verrieten die
ein Indiz dafür, dass der Präsident hier sei- er in die beste Sendezeit, um siegesgewiss Bilder, dass Stärke und Verant-
ne Chancen schwinden sieht. Sein Lieb- einen weiteren Akt im endlosen Schau- wortung bei ihm entkoppelt sind,
lings-Umfrageinstitut Rasmussen sieht ihn spiel seiner toxischen Männlichkeit zu in- dass er mit Macht nicht umzuge-
in nationalen Umfragen zwölf Prozent- szenieren. Aber das gravitätische Schrei- hen versteht, dass er alles, und sei es eine
punkte hinter Biden. Im nationalen Um- ten und militärische Salutieren, die hoch- globale Pandemie, nur auf den eigenen
fragedurchschnitt der Datenanalysten von gereckten Daumen und das vorgestreckte Vorteil hin abklopft.
FiveThirtyEight lag Biden seit Juni immer Kinn, sie verfehlten plötzlich ihre Wir- Dabei unterlaufen ihm nun grobe Fehler.
mit mindestens sechs Prozentpunkten kung. Dass dieser Mann zurück war, löste Dass er sich auf dem Truman-Balkon de-
Trump beim
Golfspiel wenige
Tage vor seiner
Diagnose
Chronologie Wahlveranstaltung
in Minnesota
des Desasters
Stand 8. Oktober
Quellen: »Politico«, »New York Times«
Sa, 26. September So, 27. Mo, 28. Di, 29. Mi, 30. Do, 1. Oktober
Hope Hicks
Beraterin Trumps
Bill Stepien
Mike Lee Thom Tillis Kampagnen-
Senator Senator manager Trumps
Begrüßung seiner
Anhänger während
der Behandlung
Kayleigh McEnany
Ron Johnson Pressesprecherin Stephen Miller
Senator im Weißen Haus Berater Trumps
Olivier Douliery / AFP;
Dominick Reuter / AFP;
Brendon Smialowski / AFP;
Alex Brandon / AP; Evan
Vucci / AP (2); Stefani
Reynolds / AP; J. Scott
Applewhite / dpa; Manuel Claudia Conway
Balce Ceneta / dpa; Yuri Chris Christie Kellyanne Conways Greg Laurie Charles Ray Gary Thomas
Gripas / ddp images; Ana
Venegas / imago images; Republikaner minderj. Tochter Oberpastor Admiral General
Michael Brochstein / imago
images; Chip Somodevilla /
imago images; Mikhail
Metzel / imago images (2); + 1 demokratischer
imago images; Erin Schaff / Kongress-
The New York Time / laif;
Tasos Katopodis / REUTERS; + mindestens abgeordneter und
REUTERS (2); U.S. Depart- Nick Luna 2 Angestellte im 1 Angestellter
ment of Homeland Security / Trumps Begleiter Weißen Haus des Weißen Hauses
U.S. Coast Guard
13
Titel
gingen, kündigte er an, bestehende Lock- Hauses geschuldet ist. Laut einer Studie delt. Der größte Teil der Mitarbeiter, die
down-Bestimmungen schnell wieder auf- hätten in den USA Zehntausende Men- sich hier in normalen Zeiten Tag für Tag
zuheben und das Land schon im April, zu schenleben gerettet werden können, wäre zu Hunderten die Klinke in die Hand ge-
Ostern, wieder komplett zu öffnen. Gou- am 1. April eine Maskenpflicht für Ange- ben, befindet sich im Homeoffice oder in
verneure, die diesem Wunsch folgten, stellte von Restaurants und Geschäften ein- Quarantäne.
machten aus ihren Bundesstaaten die Hot- geführt worden. Weil auch der Vizekommandeur der
spots der Pandemie. Andere, die sich ver- Stattdessen macht Trump das Tragen Küstenwache erkrankt ist, begab sich am
weigerten, wurden aus dem Weißen Haus von Masken bis heute lächerlich. Schon Dienstag beinahe die gesamte Riege der
beschimpft und mit Mittelentzug bedroht. früh in der Pandemie sagte er einmal: »Ich militärischen Oberbefehlshaber, die Joint
Im März gab Trump gegenüber dem Re- weiß nicht, wie ich hinter dem herrlichen Chiefs of Staff mit ihrem Chef Mike Milley,
porter Bob Woodward offen zu, dass er Schreibtisch im Oval Office sitzen und sicherheitshalber in Quarantäne. Bis Don-
die Gefährlichkeit der Pandemie wohl ken- dort Präsidenten, Premierminister, Dikta- nerstag wurden aus dem inneren Kreis der
ne, aber bewusst verharmlose. »Ich spiele toren und Könige begrüßen soll und gleich- erkrankten Eheleute Trump mindestens
es immer noch herunter, weil ich keine Pa- zeitig eine Maske tragen. Ich jedenfalls 20 Menschen positiv auf das Coronavirus
nik erzeugen will.« Er verkauft das heute werde es nicht tun.« Damit war der Ton getestet, darunter viele enge Berater des
unter Berufung auf den legendären briti- vorgegeben. Präsidenten. Und auch dafür trägt Trump
schen Premierminister Winston Churchill Der Präsident ging mit schlechtem Bei- die Verantwortung.
als das verantwortliche Handeln eines spiel immer weiter voran und definierte
I
weitsichtigen Führers. Tatsächlich dürfte die Haltung, die von einem kernigen Re-
Trump vor allem die Panik beschlichen ha- publikaner erwartet wurde. Statt einfach n all den Monaten seit Ausbruch der
ben, dass die Seuche seine ökonomische dem Rat seiner Experten zu folgen, die Pandemie sorgte er im Weißen Haus
Bilanz verhageln und damit seine Wieder- seit April das Tragen von Masken empfah- für eine Atmosphäre, die Masken-
wahl bedrohen könnte. len, brachte Trump es fertig, das kleine träger als potenzielle Verräter er-
Statt, wie es Churchill gewiss versucht Ausrüstungsstück zur Pandemiebekämp- scheinen ließ, als politisch allzu korrekte
hätte, das Virus mit allen Mitteln einzu- fung zu einem politischen Symbol zu ma- Weicheier. Zu den wenigen, die sich
dämmen, redete Trump weiterhin dessen chen. Trumps Diktat widersetzten, gehörten
Effekte klein, in der Hoffnung, dass frohe Die absurden Folgen sind im heutigen Matthew Pottinger, ein ehemaliger Repor-
Botschaften die Wirtschaft schon irgend- Amerika zu besichtigen: Während in de- ter des »Wall Street Journal«, der heute
wie am Laufen halten würden. Die »Wa- mokratischen Hochburgen wie Washing- als Sicherheitsberater für Chinafragen ar-
shington Post« hat Trumps Auftritte und ton, D. C., oder New York kaum jemand beitet, und Olivia Troye, die bis August
Äußerungen nach verharmlosenden Aus- ohne Maske auf die Straße geht, geschwei- Teil der von Vizepräsident Mike Pence
sagen über das Coronavirus durchforstet ge denn ein Restaurant betritt, gilt im re- geführten Corona-Taskforce des Weißen
und ist für die Zeit von Ende Januar bis publikanischen Amerika ein herzhafter Hauses war, ehe sie frustriert ihren Dienst
heute auf 138 solcher Stellungnahmen ge- Händedruck ohne Maske als Zeichen da- quittierte. »Jeder, der eine Maske trug,
stoßen. Seit Januar sagt Trump beinahe für, dass man sich von den liberalen Warm- wurde verächtlich angeschaut«, sagte
täglich Dinge wie: »Es wird verschwinden. duschern an Ost- und Westküste nicht irre Troye der »New York Times«.
Eines Tages, es wird wie ein Wunder sein, machen lässt. Trump hat es geschafft, das Und der republikanische Mehrheitsfüh-
ist es wieder weg, glaubt mir.« Land auch in diesem Punkt zu spalten. rer im Senat, Mitch McConnell, der Trump
Das Wunder will sich nicht ereignen. Das Weiße Haus selbst ist unter Trumps all die Jahre die Treue hielt, setzte sich
Stattdessen entfaltet sich in den USA eine Führung zum Corona-Hotspot geworden nun erstaunlich deutlich vom Präsidenten
brutale Realität, die auch der unterlasse- und hat sich seit vergangener Woche in ab. »Ehrlich gesagt war ich seit dem 6. Au-
nen Seuchenschutzpolitik des Weißen ein halb verlassenes Geisterhaus verwan- gust nicht mehr im Weißen Haus«, sagte
er am Donnerstag, »weil mein Eindruck
war, dass ich eine andere Einstellung dazu
habe, wie man diese Sache handhaben soll-
te. Ich habe im Senat insistiert, dass wir
Masken tragen und Social Distancing prak-
tizieren.«
Es war ein Ungeist, der von ganz oben
gefüttert wurde. Im September fuhr der
Präsident einmal einen Reporter der Nach-
richtenagentur Reuters mit den Worten an:
»Wenn du das nicht abnimmst, klingst du
sehr dumpf.« Gleichzeitig redete Trump
sich und seinen Leuten ein, alles sei sicher,
weil im Weißen Haus ein rigides Test-
regime herrsche.
Es wurde tatsächlich viel getestet, aber
man verließ sich zum einen auf einen feh-
leranfälligen Schnelltest. Zum anderen
wurden nur jene Mitarbeiter täglich getes-
Chandan Khanna / AFP
als Trumps Sicherheitsberater O’Brien er- ten und durch eine Erfolgsstory zu erset- gen. Man will im Weißen Haus nichts hö-
krankte, wurde klar, wie weit das Virus zen. Aber dieser Plan schlug fehl. ren. Nichts sehen. Nichts dazu sagen.
schon in den Kern der Regierungszentrale Die Gartenparty rückte bald aus ganz Für eine gute Show, so viel ist klar, geht
vorgerückt war. anderen Gründen in den Blickpunkt. Trump notfalls über Leichen, das klingt
Aber während im liberalen Washington Denn es begab sich, dass sich auf der Gäs- polemisch, beschreibt aber nur sein Han-
die Bürgerinnen und Bürger immer teliste reihenweise Namen fanden, die bald deln. Als der Präsident am 20. Juni Wahl-
vorsichtiger wurden, wirkte das Weiße mit Corona-Infektionen verbunden wur- kampf in einer Sportarena in Tulsa, Okla-
Haus mehr und mehr wie das Klubhaus den. Die Senatoren Mike Lee aus Utah homa, betrieb, tat er das augenscheinlich
der regierungsamtlichen Corona-Leugner. und Thom Tillis aus North Carolina sind ohne jeden Gedanken an Hygiene oder
Trumps Sprecherin Kayleigh McEnany erkrankt, ebenso Kellyanne Conway aus Seuchenprävention. Er ließ sich einfach
gab fast täglich Pressekonferenzen, deren Trumps innerstem Zirkel, Chris Christie, von Tausenden dicht gedrängten Anhän-
Symbolik kaum deutlicher hätte sein kön- einstiger Gouverneur, heute Trumps De- gern bejubeln und tat so, als wäre nichts,
nen: Unten im Saal saßen Reporter mit battencoach. obwohl er da schon seit Monaten wusste,
Mundschutz und Plastikhandschuhen; Der Nachweis, dass sie sich wirklich im dass sich das potenziell tödliche Virus über
oben am Pult stand eine Pressechefin, Garten des Weißen Haus ansteckten, ist die Atemluft überträgt.
die praktisch nie mit Maske erschien. noch nicht geführt und wird voraussicht- So gesehen war jede seiner »Rally« ge-
McEnany ist heute unter den Infizierten. lich auch nie erbracht werden. Aufnahmen nannten Großveranstaltungen ein wahn-
Gut möglich, dass sie sich, wie einige zeigen, wie sich die Gäste bei den Trumps witziges Experiment mitten in einem Seu-
andere wohl, bei einer Veranstaltung am ausgiebig herzten und die Wangen rieben. chengebiet, in Einzelfällen womöglich mit
26. September angesteckt hat, als, unmerk- Trotzdem wurde diese Woche ein Angebot tödlichen Folgen: In Oklahoma befand
lich erst, Trumps Kontrollverlust über die der Seuchenbehörde CDC, die Nachver- sich auch Herman Cain unter den Zuhö-
eigene Selbstinszenierung begann. An je- folgung von Infizierten im Umfeld des Wei- rern, ein ehemaliger republikanischer Prä-
nem Samstag präsentierte der Präsident ßen Hauses zu übernehmen, ausgeschla- sidentschaftskandidat, der wie die meisten
voller Stolz die Juristin Amy Coney Bar- Leute in der Halle keine Maske trug. Schul-
rett als Kandidatin für den Supreme Court, ter an Schulter mit anderen Trump-Fans
das mächtigste Gericht des Landes, dessen saß Cain und schrieb auf Twitter: »Having
Entscheidungen weit ins Alltagsleben Für eine gute Show, a fantastic time«. Neun Tage später bekam
Amerikas hineinwirken. Das Fest im Ro- so viel ist klar, geht der 74-Jährige einen positiven Corona-
sengarten war von Trump und seinen Stra- Test, vier Wochen später war er tot, ge-
tegen ironischerweise dafür gedacht, das
Donald Trump notfalls storben an den Folgen der Infektion. Es
leidige Pandemiethema endlich totzutre- über Leichen. lässt sich nun nicht beweisen, dass sich
15
POLARIS / laif
Präsidentenhubschrauber »Marine One« auf dem Weg ins Walter-Reed-Krankenhaus*: »Kränker, als offiziell eingeräumt wurde«
Cain das Virus bei Trump in Tulsa geholt Hicks, seine persönliche Beraterin, als eine chef seinen Zustand als kritisch dar, wäh-
hat. Aber es ist so gut wie sicher, dass die der Ersten aus dem engsten Kreis mit dem rend sein Leibarzt ihm nur milde Sympto-
Infektionszahlen in der Stadt auch wegen Virus infiziert hatte. Gemeinsam waren me bescheinigte. Nichts ist gewiss in
der Kundgebung stiegen, das jedenfalls er- sie in Minnesota unterwegs gewesen, am Trumps Welt.
klärte der Chef der städtischen Gesund- vorvergangenen Mittwoch, als sich bei Dass er »kränker war, als offiziell zu-
heitsbehörde später. Hicks Symptome zeigten und sie sich, was nächst eingeräumt wurde«, vermutet Cle-
Trump dachte nicht daran, daraus Kon- immer das heißen mag, auf dem Rückflug mens Wendtner, Chefarzt an der München
sequenzen zu ziehen und auf Veranstaltun- in der Präsidentenmaschine »Air Force Klinik Schwabing. Das bestätigt auch ein
gen mit Publikum womöglich zu verzichten, One« in Quarantäne begab. Blick auf die Medikamente, die Trump be-
im Gegenteil. Noch bis zum vorvergange- Ist der US-Präsident ein Superspreader? kam. Der Antikörpercocktail der Firma
nen Freitag, als er per Tweet seine und Me- Muss man ihm fahrlässige Körperverlet- Regeneron etwa, der dem US-Präsidenten
lanias Ansteckung bekannt geben musste, zung vorwerfen? Dass im Hause des mäch- verabreicht wurde, ist bislang noch nicht
trat er fast täglich bei Veranstaltungen auf, tigsten Mannes der Welt keinerlei Interes- zugelassen; die Studien, in denen er auf
großen und kleinen. Als wäre nichts. Oder se an Aufklärung zu bestehen scheint, dass Wirksamkeit und Sicherheit erprobt wird,
als gälten die Gesetze der Virologie nicht noch nicht einmal bekannt ist, wann genau laufen noch. Dass seine Ärzte bereit wa-
für ihn und seine Anhänger. sich der Führer der freien Welt ansteckte, ren, ihm die Arznei trotz unklarer Risiken
Selbst am Tag vor seiner Diagnose gab wirkt unbegreiflich. zu geben, und dass er offenkundig einver-
Trump in seinem Golfklub in Bedminster, Alle Auskünfte über den berühmtesten standen war, spricht dafür, dass der Zu-
New Jersey, noch einmal den Gastgeber Kranken der Welt und seinen Gesundheits- stand des US-Präsidenten womöglich kri-
für gut 200 Ehrengäste, die einige Tausend zustand sind ungenau, widersprüchlich, tischer war als bekannt.
oder gleich 250 000 Dollar spendeten, um womöglich auf politische Wirkung hin fri- Auch das zweite Medikament, das
mit dem Präsidenten zu essen, zu reden siert. Als Trump ins Krankenhaus einge- Trump erhielt, Remdesivir, das die Ver-
und sich mit ihm fotografieren zu lassen. wiesen wurde, stellte sein eigener Stabs- mehrung des Virus hemmt, deutet darauf
Letzteres war ein höheres persönliches hin, dass seine Infektion weniger harmlos
Risiko, als ihnen klar gewesen sein kann, war als zwischenzeitlich dargestellt. In den
und der Präsident wird es tunlichst ver- USA ist das Mittel, das intravenös verab-
schwiegen oder höchstens Witze darüber Trumps Strategie, sich reicht wird, nur für im Krankenhaus be-
gerissen haben. als viriles Gegenbild handelte Patienten zugelassen. In Studien
Und das, obwohl er in jenen Momenten
in Bedminster, als er mit Fans für Fotogra-
zu Joe Biden in Szene zu * Am Freitag, dem 2. Oktober, mit dem Patienten
fen posierte, schon wusste, dass sich Hope setzen, ist geplatzt. Donald Trump an Bord.
konnte es bei vergleichsweise schwer Er- Amtszeit offenkundig verrechnet. Seine Aber schon diese Selbstverständlichkei-
krankten, die Sauerstoff bekamen, die Zeit Strategie, sich als viriles Gegenbild zu sei- ten reichten, um bei Trump in Ungnade
bis zur Genesung von 18 auf 12 Tage ver- nem Konkurrenten Joe Biden in Szene zu zu fallen. Im April verbreitete der Präsi-
kürzen; bei leicht Erkrankten hingegen setzen, ist geplatzt. Denn der Lauf der Er- dent den Tweet einer gescheiterten repu-
blieb es wirkungslos. eignisse gibt nun eindeutig Biden recht, blikanischen Kongresskandidatin, der den
Beunruhigend finden medizinische Ex- der nach Beginn der Pandemie seinen Hashtag #FireFauci enthielt. Mitte Juli si-
perten, dass Trump zusätzlich zu den An- Wahlkampf weitgehend per Videoschalte ckerte ein Memo der Pressestelle des Wei-
tikörpern und Remdesivir auch noch De- aus seinem Haus in Delaware führte und ßen Hauses durch, in dem detailliert auf-
xamethason verabreicht wurde. »Dexame- später nur sehr zögerlich wieder unter Leu- gelistet wurde, wie man Fauci in der Öf-
thason hilft vor allem Covid-19-Patienten, te ging. fentlichkeit diskreditieren könne. Es
die richtig schwer krank sind«, sagt Tors- Es war die rationale, die richtige Ant- schien, als führe der Präsident nicht Krieg
ten Feldt, Infektiologe und Oberarzt wort auf eine tödliche Pandemie. Trumps gegen das Virus, sondern gegen die Ver-
am Universitätsklinikum Düsseldorf. Bei Versuche, Bidens Verhalten in einen Be- nunft und ihre Träger.
leicht Erkrankten, die noch keinen Sauer- weis seiner Schwäche umzudeuten, gingen
T
stoff benötigen, könne es möglicherweise ins Leere. Stattdessen steht nun er selbst
sogar schädlich wirken. Das Mittel hemmt als verantwortungslos und unvernünftig rump hat sich bis heute nicht ge-
die Immunreaktion und soll das gefährli- da, und der als »Sleepy Joe« verspottete traut, Fauci vor die Tür zu setzen,
che Entgleisen des Körperabwehrsystems Biden wirkt dagegen gemessen und klug. wohl weil er genug Witterung da-
verhindern, an dem am Ende nicht wenige Viele von Trumps spektakulären Auftrit- für hat, dass eine Entlassung des
Covid-19-Patienten sterben. ten schillern nun in einem giftigen Licht. Wissenschaftlers, der sechs Präsidenten
Dass Trump dieses Medikament bekam, Dass er für seine Rede während des repu- beraten hat, nicht gut aussähe. Aber im
vergleichsweise früh im Krankheitsverlauf blikanischen Parteitags im August das Umgang mit Fauci spiegelt sich die ganze
und ohne dass er künstlich beatmet wer- Weiße Haus entweihte, indem er es als haarsträubende Verantwortungslosigkeit
den musste, hat unter Ärzten Spekulatio- Kulisse für seine Propagandashow miss- Trumps wider, seine Unfähigkeit, die rich-
nen ausgelöst. War sein Testergebnis doch brauchte, dieser Tabubruch ist in den USA tigen Prioritäten zu setzen, seine Eifer-
schon deutlich früher positiv und nicht erst unvergessen. Aber nun rückt in den Blick, sucht gegen jeden, der ihm auf der Bühne
Donnerstag Abend? Bekam er heimlich dass er schon damals, genau wie bei der das Licht nimmt. Covid-19 hat, seit es ihn
Sauerstoff? Oder wurde Trump das Mittel Nominierung der Juristin Barrett vor 14 Ta- selbst befiel, Donald Trump sichtbar ge-
etwa auch verschrieben, damit er sich sub- gen, die Gesundheit, ja das Leben vieler macht als einen Führer ohne Vernunft, als
jektiv besser fühlt und für den Wahlkampf Menschen ohne Not gefährdete. Wie soll einen Menschen ohne Mitgefühl. Er, des-
schneller wieder auf die Beine kommt? einer dem Gemeinwohl dienen, dem schon sen ununterbrochenes Twitter-Gerülpse
Dexamethason ist dafür bekannt, als das Wohl seiner Freunde egal ist? das Netz füllt, findet für die vielen Er-
Nebenwirkung Stimmung und Allgemein- Trump hätte alle Möglichkeiten gehabt, krankten in seiner Umgebung kaum ein
befinden von Patienten zu verbessern, zu- diesen Eindruck zu vermeiden und die Wort des Trostes. Trump kann nur Groß-
mindest vorübergehend. »Mit Dexametha- Pandemie viel besser in den Griff zu be- buchstaben und Ausrufezeichen, aber da-
son bekommen Sie fast jeden Patienten kommen. Die nationale Seuchenbehörde mit sendet er immer öfter am Volk vorbei.
kurzfristig aus dem Bett«, sagt Chefarzt CDC setzt seit Jahrzehnten weltweit den Man glaubt auch seinen Versprechen
Wendtner. »Wir nennen das den Lazarus- Goldstandard im Kampf gegen Infektions- nicht mehr, die mittlerweile ein paarmal
Effekt.« Dass sich Dexamethason-Patien- krankheiten, und mit Anthony Fauci, dem zu oft leer waren. Dass die Mauer zu Me-
ten 20 Jahre jünger fühlten, wie Trump im Chef des nationalen Instituts für Infektions- xiko, Trumps Wahlkampfschlager von
Krankenhaus über sich selbst twitterte, krankheiten, steht Trump ein Mediziner 2016, weder von Mexiko bezahlt noch
habe er auch schon von seinen Dexame- zur Seite, der über Parteigrenzen hinweg überhaupt richtig gebaut ist, lässt sich ge-
thason-Patienten gehört. »Das Mittel er- Respekt genießt. wiss den demokratischen Feinden in die
höht das Selbstwertgefühl.« Nach dem Ab- Fauci, der Mann mit der rauen Stimme Schuhe schieben. Dass sich Trumps lange
setzen könnten die Patienten allerdings und dem unverwechselbaren Brooklyner geschürte Hoffnung nicht erfüllt, es werde
auch in ein Loch fallen. Akzent, ist für einen Präsidenten, der eine noch vor der Wahl einen Corona-Impfstoff
Seuche zu bekämpfen hat, eigentlich ein geben, ist aber nicht hilfreich mit Blick auf
S
Geschenk: Die Expertise des Virologen ist die Wahl.
o groß die Unsicherheiten über unbestritten. Schon früh in seiner Karriere Zuletzt Mitte dieser Woche versuchte
Trumps wahren Gesundheitszu- entwickelte er eine Therapie für tödliche der Präsident wieder, auf die Arzneimittel-
stand sind, so klar fällt mittler- Autoimmunerkrankungen, in den Achtzi- behörde Druck zu machen, ihre Kriterien
weile das Expertenurteil über gerjahren war Fauci, den seine Freunde aufzuweichen, um bei der Entwicklung
Trumps katastrophale Corona-Politik aus. Tony rufen, einer der führenden Wissen- wirksamer Substanzen schneller voranzu-
Das renommierte »New England Journal schaftler bei der Erforschung des HIV-Er- kommen. Aber eigentlich wünscht sich das
of Medicine« hat eigens mit seiner 208- regers. Vor allem aber hat der 79-Jährige außer ihm niemand, nicht einmal die Phar-
jährigen Tradition gebrochen, sich poli- die Gabe, komplizierte medizinische The- maindustrie. Die Behörde hat Trumps Vor-
tisch nicht zu äußern. In der neuen Ausga- men so einfach und praktisch zu erklären, stoß denn auch neuerlich zurückgewiesen
be stampfen die Herausgeber des Journals dass man ihn auch in einer Bar in Ken- und auf die bewährten Verfahren gepocht.
Amerikas »derzeitige Führung« in den tucky versteht. In solchen Situationen wirkt Trump wie
Boden. Ohne Trump namentlich zu er- Zu Beginn der Coronakrise sprach Fauci der idealtypische Repräsentant des von
wähnen, schreiben sie in seltener Schärfe: fast täglich mit dem Präsidenten, und der Wissenschaft beschriebenen Dunning-
»Jeder andere, der derart rücksichtslos wenn er zusammen mit Trump auftrat, riet Kruger-Effekts, der besagt, dass Inkompe-
Leben und Geld verschwenden würde, er das, was alle Seuchenexperten empfeh- tente das eigene Wissen und Können häu-
hätte mit strafrechtlichen Konsequenzen len: Abstand halten, Hände waschen, Kon- fig weit überschätzen. Ein schönes Beispiel
zu rechnen.« takte reduzieren. Er warnte auch davor, dafür lieferte Trump während des Fern-
Trump, der kranke Mann des Weißen das Land zu früh für das Geschäftsleben sehduells mit Biden, als er wieder behaup-
Hauses, hat sich ganz am Ende seiner zu öffnen. tete, ein Impfstoff gegen das Coronavirus
17
Titel
Sicher reisen.
Gemeinsam geht das.
bahn.de/sicherreisen
Deutschland
Der baden-württembergische SPD-Lan- Demos. Ende September hatte der baden- »In meiner Auffassung wiegt der Aufruf
desvorsitzende Andreas Stoch will Parla- württembergische Landtagsabgeordnete zum gewaltsamen Sturz der Regierung
mentariern, die extremistisches Gedan- Stefan Räpple in Mainz öffentlich zum schwerer«, schreibt nun Stoch. Er konsta-
kengut verbreiten, das Mandat entziehen. Staatsumsturz aufgerufen: »Wir müssen tiert, dass die Mandatsaberkennung bis-
In einem internen Schreiben an die Frak- uns gewaltsam Zutritt zum Kanzleramt her in acht Bundesländern möglich sei.
tionsvorsitzenden von Grünen, CDU und verschaffen.« Räpple war daraufhin aus Als eine weitere Verfechterin von ex-
FDP schlägt Stoch, zugleich SPD-Frak- der AfD-Fraktion ausgeschlossen worden, tremistischem Gedankengut in deutschen
tionschef, vor, in der Landesverfassung bleibt aber Parlamentarier. Parlamenten nennt Stoch die Ex-AfD-
»Sanktionsmöglichkeiten bis hin zur Man- Laut Landesverfassung ist eine Man- Frau Doris von Sayn-Wittgenstein. Sie ist
datsaberkennung« zu verankern. Als datsenthebung bislang nur möglich, wenn nach wie vor Landtagsabgeordnete in
Anlass nennt er die »zunehmende Radika- ein Abgeordneter seine Stellung »in Kiel und hatte 2014 für einen rechtsextre-
lisierung« im Zuge sogenannter Corona- gewinnsüchtiger Absicht« missbraucht. men Verein geworben. BHR
Hotspot Kreuzberg
Deutschland trödelt Eine Richtlinie mit »Vorschrif-
Gegen die Bundesregie- ten zur Bekämpfung von
rung laufen 50 Vertragsverlet- Steuervermeidungspraktiken«
zungsverfahren durch die von 2016 wartet noch immer In Friedrichshain-Kreuzberg herrscht Recht und
EU-Kommission. Das geht aus auf ihre Umsetzung. Ordnung: Das Heizpilzverbot bleibt! Andere Ber-
einer Antwort des Wirt- Weniger auffällig sind liner Bezirke mögen wegen Corona neuerdings
schaftsministeriums auf eine etwa Umweltministerin ein Auge zudrücken. Friedrichshain-Kreuzberg
Anfrage des Abgeordneten Svenja Schulze (SPD), sechs nicht. Am Heizpilzverbot für Kneipen wird nicht
Markus Herbrand (FDP) her- Säumnisfälle, und Landwirt- gerüttelt, sagt die grüne Bezirksbürgermeisterin.
vor. Spitzenreiter sind mit je schaftsministerin Julia Klöck- Verstöße werden streng verfolgt.
zehn Fällen Wirtschaftsminis- ner (CDU) sowie Justizministe- Die harte Linie ist erstaunlich, steht sie doch im Kontrast
ter Peter Altmaier (CDU) und rin Christine Lambrecht (SPD) zum Legal-Illegal-Scheißegal, für das der Kiez und seine Politi-
Verkehrsminister Andreas mit je fünf. »Die schlechte ker weit über die Grenzen Berlins hinaus berühmt sind.
Scheuer (CSU), gefolgt von Umsetzungsquote kompromit- Corona-Pandemie? Bekümmert hier offenbar kaum jeman-
Olaf Scholz. Der Finanzminis- tiert die deutsche Ratsprä- den, wie der lässige Umgang mit Abstandsgeboten und die
ter und SPD-Spitzenkandidat sidentschaft«, bemängelt Her- dramatisch steigenden Infektionszahlen zeigen. Seit dieser
hat in neun Fällen versäumt, brand. Es sei blamabel, dass Woche betrachten mehrere Bundesländer Friedrichshain-
europäische Vorgaben in die Bundesregierung es Kreuzberg und seine Nachbarbezirke als Risikogebiete. Was
deutsches Recht zu überfüh- nicht schaffe, überfällige EU- wie ein Einreisestopp für Auswärtige und ein Ausreisestopp
ren. Für den selbst ernannten Beschlüsse umzusetzen. REI für Einheimische klingt; da werden bei älteren Berlinern Erin-
nerungen wach.
Kriminalität? Die Machenschaften der Clans galten jahre-
lang eher als Folklore, wie meine Kollegen Thomas Heise und
Rechtsterrorismus Anschläge auf Moscheen Claas Meyer-Heuer in ihrem Buch über arabische Großfami-
geplant haben. Welche Verbin- lien und ihre kriminellen Imperien beschreiben, das in dieser
TNT und dungen der in Polen lebende Woche erschienen ist. Das aktuelle »Lagebild Organisierte Kri-
Sprengkapseln Deutsche genau zur »Gruppe minalität« des LKA beschreibt dies so:
S.« hatte, werde noch geprüft, Der Bereich »geht einher mit einer Ableh-
Der Ende September von hieß es. Die Festnahme von K. Was sind nung des in Deutschland vorherrschenden
polnischen Spezialkräften fest- erfolgte offenbar nach einem Corona, Werte- und Normensystems«.
genommene Jürgen K. wird Hinweis deutscher Ermittler Clans und Staatliches Gewaltmonopol? Just die-
dem Umfeld einer mutmaß- an die polnischen Kollegen. ses Wochenende wollen sich in der Liebig-
lichen rechtsextremen Terror- Wie die Landesstaatsanwalt- prügelnde straße wieder die Hausbesetzer mit der
zelle in Deutschland zugerech- schaft Danzig auf Anfrage Hausbesetzer Staatsmacht prügeln. In Haus Nummer 34
net. Nach Angaben aus Sicher- mitteilte, wurden bei Durch- im Vergleich hat sich vor Jahren ein »anarcha-queer-
heitskreisen soll der 62-jährige suchungen der Wohn- und zu Heizpilzen? feministisches Projekt« einquartiert, das
Elektriker zeitweise eine Kon- Arbeitsstätten von K. in der seither mit seinen Unterstützern die Nach-
taktperson der »Gruppe S.« Woiwodschaft Kujawien-Pom- barschaft terrorisiert, um sogenannte
gewesen sein, gegen die der mern auch 1,23 Kilogramm Gentrifizierer abzuschrecken, also praktisch alle, die pünktlich
Generalbundesanwalt wegen TNT-Sprengstoff entdeckt. Da- Miete zahlen. Es wurden Autos angezündet, Scheiben einge-
des Verdachts der Bildung ei- neben seien 15 Schuss Muni- schmissen und Anwohnern der Satz »Yuppie-Schweine, Schüs-
ner terroristischen Vereinigung tion sowie Sprengkapseln si- se in die Beine« ans Haus gesprüht, dabei zählten sich viele
ermittelt. Die Gruppe soll chergestellt worden. SRÖ, WOW Nachbarn doch ebenfalls zum linksalternativen Milieu.
Dass die Besetzertruppe nun endlich von der Polizei vertrie-
ben werden soll, geht nicht auf die Initiative der Politiker im
Bezirk zurück. Im Juni beschlossen die Bezirksverordneten auf
Antrag von Grünen und Linken eine Resolution, in der stand,
Nachgezählt dass die Liebigstraße 34 ein »einzigartiger Schutzraum« sei
Polizeinachwuchs bei
und mit seinem »solidarischen Kiezbezug« das Viertel präge.
Bund und Ländern
Viel Sympathie für militante Hausbesetzer zeigt vor allem
39200
Baustadtrat Florian Schmidt, Spitzname Gitarren-Flori, ein
Soziologe, der sich selbst als Aktivist bezeichnet. Unliebsame
Die Zahl der Polizeianwärter Immobilienprojekte bremst er mit der Macht des Bürokraten.
und -anwärterinnen hat sich Als jedoch in einem teilbesetzen Haus Stromkabel aus der
im vergangenen Jahrzehnt Wand baumelten und Falltüren beseitigt werden sollten, wies
mehr als verdoppelt.
er seine Behörde an, die Sache bis auf Weiteres zu ignorieren,
12800 von ihnen Brandschutz hin, Bauvorschriften her.
sind Frauen. Ich frage mich, was in Mitarbeitern des Ordnungsamts vor-
Zum Vergleich:
geht, wenn sie am Wochenende durch den Bezirk laufen,
17600
2010 waren
es 5600 Frauen. vorbei an Corona-Partys, Clans und prügelnden Hausbesetzern.
Bis sie einen Heizpilz finden, den sie aufschreiben können.
2010 2019
Quelle: Destatis; Zahlen An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen und Alexander Neubacher
gerundet, Stand Juni 2010 und Juni 2019 im Wechsel.
21
Nordrhein-Westfalen Chappattes Welt
Rüttgers Club
Ein Treffen von Mitarbeitern des
Ex-Ministerpräsidenten von Nordrhein-
Westfalen Jürgen Rüttgers (CDU) in
einem Kölner Brauhaus bringt Teilneh-
mer in Erklärungsnot. Anfang Septem-
ber lud Tim Arnold, ehemals Chef der
NRW-Landesvertretung in Berlin, Ex-
Kollegen zum »Wiedersehen mit unse-
rem Freund und Staatsmann Prof. Dr.
Jürgen Rüttgers«. Arnold, heute Part-
ner der Unternehmensberatung Bos-
ton Consulting Group (BCG), schrieb,
es handle sich »um ein privates, in-
formelles Abendessen«, ergänzte aber,
dass er dazu »im Namen von BCG
herzlich einladen darf«. Offenbar im
Wissen, dass Beamte derlei Einladun-
gen in der Regel nicht annehmen dür-
fen, fügte Arnold im »P. S.« hinzu:
»Sollten Sie/solltet Ihr diese Einladung
aus dienstlichen Gründen nicht an-
nehmen können, sorgen wir selbstver-
ständlich für getrennte Rechnungen.« Außenpolitik SPIEGEL: Wären das nicht bloß warme
Auf die SPIEGEL-Anfrage an Staats- Worte?
sekretärin Annette Storsberg, wer
»Deutschland muss sich für Liebich: Nein. Es zeigt Solidarität. Hal-
ihren Teil der Rüttgers-Sause bezahlt Biden aussprechen« tung. Es wäre das Richtige. Als Frank-
habe, antwortete eine Mitarbeiterin reichs heutiger Präsident Emmanuel
des NRW-Kultusministeriums, Frau Linkenpolitiker Stefan Macron vor drei Jahren gegen die Rechts-
Ben Gross Photography
Storsberg habe »die Fahrtkosten Liebich, 47, Vizevorsitzen- extremistin Marine Le Pen antrat, hat
selbst getragen«. Patrick Opdenhövel, der der USA-Parlamen- der deutsche Regierungssprecher ihm
Staatssekretär im Finanzministerium, tariergruppe im Bundes- alles Gute gewünscht. Außenminister und
ließ seinen Sprecher ausrichten, sein tag, über Deutschlands Kanzleramtschef haben sich geäußert.
Chef sei nicht als Staatsdiener dort Rolle im US-Wahlkampf Das Mindeste wäre, dass Deutschland
gewesen: »Herr Dr. Opdenhövel sich jetzt so verhält wie damals. Das traut
hat die Einladung als Privatperson SPIEGEL: Herr Liebich, wie sollte sich sich aber niemand.
wahrgenommen.« BCG-Berater die Bundesregierung angesichts SPIEGEL: Vielleicht ja aus gutem Grund.
Arnold schrieb, er habe »sämtliche der bevorstehenden US-Wahl verhalten? Könnte eine Einmischung Deutschlands
Kosten« der Freibier-Runde mit Rütt- Liebich: Deutschland muss seine Neutra- in den USA Trump nicht sogar die Wäh-
gers übernommen – allerdings privat. lität aufgeben und sich für den Heraus- ler in die Arme treiben?
»Die von Ihnen zitierte Erwähnung forderer des amerikanischen Präsidenten Liebich: Davor wurde auch gewarnt, als
von BCG« habe er nur »gewählt, um Donald Trump aussprechen, für den es um Frankreich ging. Damals hat man
auf meinen aktuellen beruflichen Demokraten Joe Biden! Das ist kein nor- sich davon nicht abhalten lassen, das
Hintergrund hinzuweisen, wenngleich maler Wahlkampf. Es handelt sich Richtige zu tun. Jetzt sollte man das auch
die Formulierung sicherlich miss- nicht um den Wettstreit zweier Parteien, nicht tun.
verständlich war«. Für wen Arnold sondern es geht um den Fortbestand SPIEGEL: Ist es nicht im Interesse aller
arbeitet, konnten die Ex-Kollegen frei- der Demokratie. Das bedeutet auch für Nato-Bündnismitglieder, dass
lich schon in seiner Mailadresse lesen. uns eine Gefahr. Deutschland und die USA gesprächs-
Sie endet auf @bcg.com. AMP, GLA SPIEGEL: Würde denn ein Sieg des fähig bleiben?
Präsidenten tatsächlich das Ende der Liebich: Auch Auseinandersetzungen mit
US-Demokratie bedeuten? China oder Russland kosten etwas und
Liebich: Trump lügt laut »Washington erschweren die internationale Zusam-
Post« 16-mal am Tag. Er zweifelt an, dass menarbeit. Sie werden trotzdem geführt,
Biden ohne Wahlbetrug gewinnen kann. wenn sie geboten sind.
Er sichert keine friedliche Amtsübergabe SPIEGEL: Sie sagen, es mangle der
zu. Er zeigt immer mehr Anzeichen eines Bundesregierung an Mut. Was hält denn
Diktators. Also: Ja. aus Ihrer Sicht den deutschen Außen-
SPIEGEL: Ein Statement der deutschen minister davon ab, im US-Wahlkampf
Regierung würde allerdings kaum etwas Farbe zu bekennen?
am Wahlergebnis ändern … Liebich: Dann wird es noch ungemütli-
Liebich: … es würde aber denen in den cher, keine Frage. Aber Außenpolitik
Facebook
USA, die sich Sorgen um die Demo- muss Werte auch dann verteidigen, wenn
kratie machen, zeigen, dass ein wichtiger es etwas kostet. Deutschland muss sich
Rüttgers mit Gästen in Köln Verbündeter an ihrer Seite steht. für Trumps Abwahl einsetzen. JOS
22
Bundestagsfraktionen des Bundestags als Vorsitzen-
der des Haushaltsausschusses,
AfD-Propaganda kritisieren die Abgeordneten,
aus der Schweiz darunter Eckhardt Rehberg
(CDU), Otto Fricke (FDP)
Der Vorsitzende des Haus- und Gesine Lötzsch (Linke).
haltsausschusses, Peter Boeh- Sie weisen Schäuble darauf
ringer (AfD), bekommt Ärger hin, dass sich Boehringer die
wegen einer Anzeige in der Anzeige von einem Schweizer
»Neuen Zürcher Zeitung«. In Privatmann habe sponsern
gewusst, dass es sich um eine Kippen sind aus Kunststoff, schlecht abbaubar und voll mit
Anzeige handelte. Er sei Giftstoffen aus dem Zigarettenrauch.
davon ausgegangen, dass ein Seit knapp zwei Jahren bin ich Projektkoordinatorin für den
Boehringer redaktioneller Beitrag vor- Naturschutzbund (Nabu) Mittleres Mecklenburg in Rostock.
gesehen war. REI Die Stadt hat ein riesiges Problem mit Meeresmüll. Das will
ich gemeinsam mit dem Nabu und anderen Institutionen und
Privatpersonen aus der Stadt lösen. Deshalb haben wir einen
›Meeresmüllstammtisch‹ gegründet und organisieren große
Union Berlin (plus 46), Sachsen- Küstenputztage. Dieses Jahr waren wir mit etwa 450 Helfern
Talfahrt gestoppt? Anhalt (plus 36) und Bran- in Rostock, um aufzuräumen. In nur zwei Stunden sind
denburg (plus 13) aus. Mit 920 Kilogramm Müll zusammengekommen, im letzten Jahr
Zum ersten Mal seit drei Stand September hatte die waren es sogar 2,7 Tonnen. Beide Male hätten wir noch viel
Jahren verzeichnet die CDU Partei 401 519 Mitglieder. FLO mehr sammeln können.
in einem Monat einen positi- Je nach Küstenabschnitt gibt es anderen Müll. Am Strand in
ven Mitgliedersaldo. Stand Warnemünde sind viele Touristen, dort liegen meist Essens-
September liegt die Partei 128 778 CDU-Mitglieder verpackungen, im Hafen gibt es viele Kippen und im Osten der
im Plus. Mehr Eintritte als in Tausend Stadt hauptsächlich Industriemüll wie Folien, Styropor, Bau-
Austritte konnten die Konser- 617 schaum und Helme. Mir reicht es aber nicht, den Müll zu
vativen zuletzt im September sammeln. Kaum haben wir einen Abschnitt aufgeräumt, wird
2017 vermelden. Damals wieder Müll angespült oder weggeworfen. Stattdessen muss
lag der Saldo allerdings bei 505 die Industrie ihre Produktion ändern, wir müssen uns fragen,
gerade einmal plus 1. Die wo überall Plastik eingespart werden kann.
Christdemokraten leiden 402 Und wir müssen deutlich machen, was für ein großes Pro-
weniger an Austritten, sondern blem der Müll ist. Beim Nabu leite ich derzeit ein Umwelt-
aufgrund ihrer Altersstruktur bildungsprojekt. Ich erkläre Schulklassen den Fluss Warnow
eher daran, dass Mitglieder und die Küste und zeige ihnen, was hier lebt. Dafür habe ich
versterben. Besonders gute Quellen: Parteiangaben, einen Kescher dabei, nach wenigen Minuten ist er aber voll mit
Zahlen wiesen für den vergan- Oskar Niedermayer »Zeitschrift Müll. Spätestens dann spreche ich mit den Schülern auch über
für Parlamentsfragen« 2/2020;
genen Monat die Landesver- Jahresendwerte, 2020 Monatswert Umweltverschmutzung. Die meisten sind total entsetzt und
bände Niedersachsen (plus (gerundet) verstehen, dass sich etwas ändern muss. Auch deshalb habe ich
105), Nordrhein-Westfalen Sept. die Hoffnung noch nicht aufgegeben.«
1990 2000 2010 2020
(plus 100), Hessen (plus 69), Aufgezeichnet von Christian Volk
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niert: 0 g/km; Energieeffizienzklasse: A+ (Werte gemäß gesetzl. Messverfahren). Renault ZOE: Stromverbrauch kombiniert (kWh/100 km):
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ministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) zum Absatz von elektrisch betriebenen Fahrzeugen. Der Elektrobonus enthält auch die Förderung
des Bundesamts für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle für den Einbau eines akustischen Warnsystems (AVAS) bei neuen Elektrofahrzeugen in Höhe
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Antrags bei der BAFA: Diese Beträge sind bereits in die Anzahlung einkalkuliert. Ein Rechtsanspruch besteht nicht. Nicht mit anderen Aktionen
kombinierbar. Abb. zeigt Renault ZOE INTENS mit Sonderausstattung. Renault Deutschland AG, Postfach, 50319 Brühl.
Deutschland
26
E
in Gespenst geht um in der CDU. einen Konsenskandidaten zu machen«. liebsten hätte ich euch heute persönlich
Es taucht in diesen Tagen auf, so- Und aus Spahn, der bislang lediglich als gesehen«, sagt der Minister, der auf zwei
bald sich in Berlin-Mitte zwei, drei Vize von Armin Laschet antreten will, »die Leinwänden erscheint. Er wünsche sich
oder mehr Bundestagsabgeordne- neue Nummer 1«. Löbel sagt: »Ich glaube, »eine CDU, die weltoffen ist«, doch nicht
te treffen. Es taucht in der Provinz auf, dass viele Mitglieder sich eine solche ein- vergesse, was sie präge. Nach knapp fünf
wenn dort Christdemokraten miteinander vernehmliche Lösung wünschen.« Minuten ist er fertig. »Seid gegrüßt und
reden. Das Gespenst taucht auf, wenn das Und schon wird aus einem Gespenst bleibt gesund, euer Jens.« Jubel. So sehen
Gespräch auf den Parteitag Anfang De- fast ein Kandidat. Punktsieger aus.
zember kommt, es ist gerade überall und Löbel ist kein Schwergewicht in der Par- Es ist nur eine Momentaufnahme, das
nirgends, sein Name ist Jens Spahn. tei, aber er ist einer der Ersten, die sich öf- schon. Aber eine, die zur Stimmung in der
Bevor das Gespenst auftaucht, so be- fentlich dazu äußern. Und er ist nicht al- Partei passt. Spricht man die drei Kandi-
richten es Teilnehmer solcher Gespräche, lein, es gibt noch mehr, die sich jetzt zu daten allerdings darauf an, wiegeln alle ab.
geht es erst mal darum, wer wohl nächster Wort melden. Die Frage ist, ob sich daraus Laschet glaubt, er werde schon deshalb
Parteichef wird. Armin Laschet, Friedrich bis zum Parteitag etwas entwickeln, ob gewählt, weil niemand in der CDU den
Merz oder Norbert Röttgen, die drei ste- eine Bewegung entstehen kann. Wie der Umsturz wolle. Merz glaubt, er schaffe es,
hen zur Wahl. Es dauert dann nicht lange, Weg zu einer solchen Lösung überhaupt weil die Union sich nach klaren Ansagen
bis die Defizite der Kandidaten zur Spra- aussehen könnte. Und vor allem: was das sehne. Röttgen meint, er gewinne, weil er
che kommen: der eine zu fahrig, der an- für die Frage heißt, die über allem schwebt, der natürliche Kompromisskandidat sei.
dere zu gestrig, der nächste zu arrogant. die Frage nach der Kanzlerkandidatur. Doch das Unbehagen über das Trio,
Oft sei man sich rasch einig, so wird es aus Zwei Monate sind es bis zum Parteitag. dieser Eindruck ergibt sich nach zahlrei-
der Partei berichtet: Leider überzeuge kei- Noch kann viel passieren. chen Gesprächen, wird von Tag zu Tag
ner der drei auf ganzer Linie. Das sei der Samstag, Tag der Deutschen Einheit, größer. Über Spahn hingegen sagt ein ost-
Moment, in dem das Gespenst auftauche. Köln: In der Festhalle Gürzenich trifft sich deutscher CDU-Bundestagsabgeordneter:
Was denn mit dem Jens sei oder dem die Junge Union, für Grußworte sind auch »Hinter ihm könnten sich alle sammeln,
Herrn Spahn? Ob der nicht antreten kön- die drei Kandidaten Laschet, Merz und und er könnte die Partei wieder einen.«
ne? Wäre der nicht der Beste? Röttgen eingeladen. Es ist ihr erstes öffent- Laschet hat sich in der Coronakrise eine
Das Problem: Jens Spahn, 40, Bundes- liches Aufeinandertreffen. Reihe unglücklicher Auftritte geleistet, in
gesundheitsminister, steht im Dezember
gar nicht zur Wahl. Noch nicht jedenfalls.
Es ist eine seltsame Stimmung, in der Auf Profilsuche zum Vergleich:
die CDU ihrem Parteitag entgegengeht. Beliebtheit der Kandidaten für den CDU-Vorsitz Jens Spahn Markus Söder
Was dort in zwei Monaten vollzogen wer- CSU
unter Unionsanhängern unterstützt als dessen
den soll, ist nicht weniger als ein Epochen- designierter Stellver-
wechsel: Wer in Stuttgart zum Vorsitzen- treter die Kandidatur 81
Kantar für den SPIEGEL vom 22. bis 24. September: von Laschet
den gewählt wird, hat beste Aussichten,
»Wichtige Rolle gewünscht…«, 259 befragte
Angela Merkel als Kanzler zu folgen, nach Anhänger der CDU/CSU
16 Jahren. Es könnte eine Zeit des Auf- 68
bruchs sein, ein Wettbewerb der Ideen. Ist
es aber nicht. Stattdessen fühlt es sich un- Friedrich Merz
gefähr so an wie im Ortsverband, wenn
noch ein Delegierter für den Kreisparteitag 51 % Norbert Röttgen
gewählt werden muss, aber eigentlich kei- Armin Laschet
ner Lust hat. Einer muss es halt machen. 41
Der Bundestagsabgeordnete Nikolas
Löbel spricht aus, was immer mehr Christ- 36
demokraten denken: »Wir haben drei re-
spektable und gestandene Persönlichkei-
ten als Kandidaten, aber keiner steht so
richtig für Aufbruch und Erneuerung.«
Das ist auch deshalb von Bedeutung,
weil Löbel aus Mannheim kommt, also
aus dem Landesverband Baden-Württem-
berg – von dem es immer wieder hieß,
Friedrich Merz habe ihn auf seiner Seite. Laschet beginnt. »Am Kurs der Mitte der CDU hat sich seither die Sorge festge-
Doch Löbel setzt nicht mehr auf Merz, dürfen wir nichts ändern«, ruft er in den setzt, dass es für den Ministerpräsidenten
stattdessen hofft er auf einen »Konsens- Saal. Er hält eine Sowohl-als-auch-Rede. von Nordrhein-Westfalen schlicht nicht rei-
kandidaten, der einerseits über Regierungs- Röttgen redet über sein »Projekt 2030«, chen könnte, ganz oben mitzuspielen. Und
erfahrung verfügt und andererseits als über »eine Politik der modernen Mitte«. während Merz die konservative Wende
Person für eine CDU der Zukunft steht«. Merz gibt den Nörgler. Die vergangenen verkörpert und Röttgen die Partei grüner
Wer das sein könnte? 16 Jahre seien »im Großen und Ganzen machen will, steht Laschet für – ja, für was
»Die aktuellen Umfragen zeigen dabei gute Jahre« gewesen, sagt er, doch es rei- eigentlich? Dafür, dass die CDU irgendwie
auf, dass nach der Bundeskanzlerin der che nicht, jetzt einfach so weiterzumachen. beieinander bleibt. »Ich kann die Leier
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Jeder der drei wird mit Standing Ova- jetzt schon nicht mehr hören«, sagt einer
die besten Umfragewerte in der Bevölke- tions entlassen, doch Euphorie löst keiner aus der Bundestagsfraktion.
rung erzielen kann.« Das, sagt Löbel, von ihnen aus – anders als Jens Spahn. Merz hat ein anderes Problem. Der frü-
könnte für die CDU doch »ein Wink mit Dabei ist der nur per Video zugeschaltet. here Fraktionschef ist bislang in so viele
dem Zaunpfahl sein, aus drei Kandidaten »Liebe Freundinnen und Freunde, am Fettnäpfe getreten, dass sich viele in der
CDU fragen, wie er eigentlich einen Bun- Mangel an Masken und anderem Schutz- die Sache auszusitzen. Schließlich, so das
destagswahlkampf überstehen will. Weit material, der sich bereits früh abzeichnete. Kalkül, kommt es nicht auf Umfragen an,
verbreitet ist zudem das Gefühl, dass Merz Als er den Fehler bemerkte, drängte sein sondern darauf, die Mehrheit unter den
oft die ganz großen Fragen anspricht, sie Ministerium darauf, ein Exportverbot für 1001 Delegierten zu gewinnen.
nur leider nie wirklich beantwortet. Und Schutzmaterial zu erlassen. Die Bundes- »Ich arbeite gut mit Jens Spahn zusam-
viele fragen sich, ob einer, der mehr als regierung löste damit schwere Irritatio- men, wir telefonieren regelmäßig und stim-
ein Jahrzehnt lang draußen war, eine Par- nen bei den europäischen Partnerstaaten men die Grundlinien miteinander ab«, sagt
tei führen kann, geschweige denn ein Land. aus – getrieben von Spahn, der sich gern Laschet nur. Zurückziehen und den Ge-
Und Röttgen? Der Außenpolitiker und als Vorzeigeeuropäer gibt. Und als es im sundheitsminister antreten lassen? Kommt
ehemalige Bundesumweltminister macht Frühjahr um ein Verbot von Großveran- nicht infrage. So klingt es jedenfalls.
eine gute Figur in Talkshows, hat aber das staltungen ging, zögerte Spahn und ver- Schon die Debatte ist unangenehm für
Problem, seit 2012 so gut wie keine Freun- wies darauf, dass er formal gar nicht zu- Laschet, sie schadet seiner Autorität. Im
de mehr in Nordrhein-Westfalen zu haben. ständig sei. Spät reagierte er auch, als es Sommer gab es erste, vorsichtige Rufe
Damals scheiterte er mit dem Versuch, Mi- um Corona-Tests für Reiserückkehrer ging. nach einer Kandidatur Spahns, jetzt wer-
nisterpräsident zu werden, und verscherzte Das Muster war stets ähnlich: Spahn den die Forderungen an Laschet und den
es sich mit dem kompletten CDU-Landes- musste erst in Bedrängnis kommen, um Minister lauter, die Rollen zu tauschen. So
verband – der beim Parteitag immerhin zu handeln. Geschadet hat es ihm offenbar sagt Olav Gutting, CDU-Vorstandsmit-
fast ein Drittel aller Delegierten stellt. Rött- nicht, in Umfragen steht er gut da. Sein ei- glied und Abgeordneter aus Schwetzingen:
gen beteuert, er habe aus seinen Fehlern gentliches Problem ist ein anderes. »Ich würde mich mit vielen anderen freu-
gelernt – doch vielen ist er zu arrogant. Spahn hing lange das Image des Ehr- en, wenn Jens Spahn zur Wahl stünde.«
Berlin, Dienstag Mittag, Jens Spahn geizlings an, dem es um sich selbst geht Tino Sorge, Kollege aus Magdeburg, sagt
empfängt in seinem gut durchlüfteten Mi- und sonst nicht viel. Als Angela Merkel zu einer möglichen Spahn-Kandidatur:
nisterbüro. Er wirkt entspannt. 2018 ihren Rückzug vom CDU-Vorsitz an- »Meine Unterstützung hat er.« Zu Spahns
Spahn nimmt die Unzufriedenheit mit kündigte, hob er sofort die Hand, landete Anhängern gehört auch der Esslinger
den drei Kandidaten wahr, er hört die Rufe, aber hinter Annegret Kramp-Karrenbauer Abgeordnete Markus Grübel, bis 2018 Par-
er wird, so heißt es in der Partei, gerade und Friedrich Merz auf Platz drei. Hätte lamentarischer Staatssekretär im Vertei-
immer wieder angesprochen: ob er nicht er im Februar, als Kramp-Karrenbauer ihr digungsressort. »Er ist konservativ und
doch antreten wolle? Aber er will das alles Scheitern eingestand und den Weg frei kommt auch in Großstädten an«, sagt er.
nicht kommentieren, nicht in dieser heik- machte, erneut seine Kandidatur erklärt, »Spahn kann für seine Meinung streiten
len Lage. Seine Situation ist komfortabel. hätte er sein hässliches Image zementiert. und bleibt dabei verbindlich im Ton.«
Spahn dürfte bewusst sein, dass er kaum Von einer Pandemie und der Möglich- Grübels Kollege Michael Hennrich aus
so beliebt wäre, wenn er die ganze Zeit in keit, sich in der Krise zu profilieren, ahnte Nürtingen sagt: »Jens Spahn steht auch
der ersten Reihe gestanden hätte. Als Ge- Spahn damals offenbar noch nichts. Statt- für moderne Debattenkultur sowie Aufge-
sundheitsminister kommt ihm in der Co- dessen signalisierte er, indem er sich hinter schlossenheit gegenüber den großen The-
rona-Pandemie eine Schlüsselrolle zu. Hät- Laschet einreihte: Seht her, ich kann auch men der Gegenwart, was gerade auch von
te er für den Vorsitz kandidiert und damit dienen. In der Partei kam das gut an. der jüngeren Generation eingefordert
mittelbar Anspruch auf die Kanzlerkandi- Das hemmt ihn nun. Würde sich Spahn wird.« Außerdem habe Spahn »mit dem
datur erhoben, wären seine Fehler und von Laschet distanzieren, würde er mit Management der Coronakrise seine Feuer-
Versäumnisse wohl deutlich schärfer aus- einem Mal die alten Vorurteile über sich taufe bestanden«. Und Hennrich geht
geleuchtet worden. Es gab einige davon. bestätigen. Es müsste Laschet sein, der von noch einen entscheidenden Schritt weiter.
In der Anfangsphase ließ er die Dinge selbst beiseitetritt – doch der macht keine Der Parteivorsitz ist die eine Sache, hier
lange laufen und reagierte zu spät auf den Anstalten. Er scheint entschlossen zu sein, könnten viele Christdemokraten wohl
Stephan Rumpf
dass er den Weg für Söder freimachen
könnte, doch seine Chancen gelten nach
wie vor als nicht besonders hoch. Bei
Spahn sähe das anders aus – und er ist im CSU-Chef Söder: »Es wird nicht nur eine Person gewählt, sondern auch ein Stil«
Gegensatz zu Laschet und Merz jung ge-
nug, um ohne Gesichtsverlust Söder die
Kandidatur zu überlassen. Mal angenom- findet er sich in Phase drei: Er schaut sich weise bescheidenen Wahlergebnisse in
men, der CSU-Chef würde Kanzler und an, was in der CDU passiert. Und wartet ab. Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg
bliebe es für zwei Amtsperioden – dann Mit Laschet hat er sich während der ers- angehängt bekommt? Es ist kompliziert.
wäre Spahn erst Ende vierzig. Und viel- ten Corona-Welle ein Duell geliefert: Sö- Es wäre Zeit für eine ordnende Hand,
leicht der geborene Nachfolger. der gab den Verfechter harter Einschnitte, für eine Autorität. Doch wer sollte das
Es ist acht Uhr morgens, als Markus Sö- Laschet den Anführer der Lockerungsfrak- sein? »Das Schiff treibt führungslos vor
der an der sächsisch-bayerischen Grenze tion. Mittlerweile hat Söder etwas abge- sich hin«, sagt einer, der die CDU von in-
steht, in den Händen hält er einen Kaffee rüstet – mit Laschet als CDU-Chef könnte nen kennt wie kaum jemand.
und eine Brezel. Es ist der Tag der Deut- er wohl besser leben als mit Merz. Neulich Annegret Kramp-Karrenbauer ist zwar
schen Einheit, Laschet, Merz und Röttgen stellte Söder sogar die Laschet-Biografie noch Chefin, hat aber nicht mehr viel zu
werden später in Köln auftreten. Der baye- zweier Journalisten vor. Zur Kanzlerkan- sagen. Als sie kürzlich die drei Konkurren-
rische Ministerpräsident trifft sich lieber didatur sagte er dort: »Es wird nicht nur ten öffentlich vor einem »ruinösen« Wett-
mit seinem sächsischen Amtskollegen Mi- eine Person gewählt, sondern auch ein Stil bewerb warnte, gab es Ärger. Bei einem
chael Kretschmer von der CDU, stapft mit und eine inhaltliche Richtung.« Treffen mit den Kandidaten musste sie sich
ihm über einen Feldweg und plauscht über dem Vernehmen nach einiges anhören.
seinen Großvater aus Leipzig. Auch das Wer also könnte vermitteln, schlichten,
ist ein Signal: Mir geht es nicht nur um »Das Schiff treibt vielleicht doch noch eine Einigung herbei-
Bayern, sondern ums ganze Land. führungslos vor sich hin«, führen? Die Lage ist so verfahren, dass
Eine ältere Dame tritt an ihn heran. »Ich manche sogar auf Angela Merkel und
verfolg’ Ihr ganzes Zeug in Bayern«, sagt sagt einer, der die CDU Wolfgang Schäuble hoffen. Nur sie, so das
sie. Söder zieht die Augenbrauen hoch und wie kaum jemand kennt. Kalkül, hätten wohl die nötige Autorität
tritt einen Schritt zurück. Er solle weiter- einzuschreiten. Das Planspiel geht so: Mer-
machen wie bisher, sagt die Frau. »Und kel bewegt Laschet zum Rückzug, Schäub-
bleiben Sie in Bayern, gehen Sie nicht nach Welcher Stil den Deutschen gerade der le seinen Ziehsohn Merz, anschließend
Berlin.« Einige Passanten lachen. liebste wäre, weiß er genau: seiner. wäre der Weg frei für das Duo Spahn und
»Lassen Sie sich von dem, wie heißt er Aber wie könnte die Spahn-Söder- Söder. Eine hübsche Theorie. Aber die
noch mal, dem Laschet. Lassen Sie sich Operation überhaupt gelingen? Idee dürfte schon an Merkel scheitern: Sie
von dem nicht provozieren!« Söder macht Söder darf sich ebenso wenig wie Spahn will sich weiterhin raushalten.
ein genervtes Gesicht. »Gut«, druckst er, bei irgendetwas erwischen lassen. Er müss- Jens Spahn dürfte nun ohnehin erst mal
dann verlässt er rasch die Szenerie. te gerufen werden. Sollte er selbst nach anderes zu tun haben. Mit der zweiten
Vor einigen Monaten hätte Söder wo- der Kandidatur greifen, könnte sich die Corona-Welle und den rasant steigenden
möglich noch anders reagiert. Mittlerweile CDU das kaum gefallen lassen. Infektionszahlen ist er auch als Gesund-
hört er die Aufforderung, in Bayern zu Spahn wiederum weiß, dass er keines- heitsminister wieder stärker gefordert.
bleiben, offensichtlich nicht mehr so gern. falls wie Söders Steigbügelhalter wirken Und womöglich muss sich Spahn dem-
Was die Frage einer möglichen Kanzler- darf. Er sagt: »Wer sich für den CDU-Vor- nächst mit der unangenehmen Frage be-
kandidatur angeht, ist er durch mehrere sitz bewirbt, muss den Anspruch haben, schäftigen, ob in dieser Lage ein Parteitag
Phasen gegangen. In Phase eins ließ er Kanzlerkandidat der Union zu werden.« mit 1001 Delegierten Anfang Dezember
noch jedes Interesse dementieren. Dann Und dann ist da noch die Frage, wann überhaupt stattfinden kann.
kam Corona, Söder stieg informell zum eigentlich über diese Kandidatur entschie- Lukas Eberle, Florian Gathmann,
obersten Krisenmanager auf, seine Umfra- den werden soll. Gleich nach dem Partei- Christoph Hickmann, Timo Lehmann,
gewerte stiegen mit. Es folgte Phase zwei, tag? Oder lieber erst im Frühjahr, damit Veit Medick, Sabrina Winter
Söder begann zu kokettieren. Derzeit be- nicht der Kanzlerkandidat die möglicher-
29
Der vollelektrische
volkswagen.de/ID3
Stromverbrauch in kWh/100 km: kombiniert 14,1–13,5; CO₂-Emission in g/km: 0;
Effizienzklasse: A+. Bildliche Darstellungen können vom Auslieferungsstand abweichen.
Deutschland
Winning Ugly
Karrieren Lange war Markus Söder fast jedes Mittel recht, um nach oben zu kommen.
Jetzt, da er die Nummer eins ist, versucht der bayerische Ministerpräsident,
lässig zu sein. Auch auf dem Tennisplatz, wo er zu einer Revanche antritt. Von Marc Hujer
M
arkus Söder war 13 Jahre alt, Nach der Schule ging Söder auf den Gilbert war zwar nie die Nummer eins,
als er zum ersten Mal Tennis Tennisplatz, forderte andere Jungs heraus aber die Besten seiner Zeit hat er alle mal
spielte. Sein Vater Max, Mau- und schaute Mädchen in Tennisröckchen geschlagen: John McEnroe, Jimmy Con-
rermeister aus der Nürnber- hinterher. nors, Boris Becker, Andre Agassi. Am
ger Westvorstadt, hielt nicht viel von Als er gut genug war, spielte er mit der Ende seiner Karriere schrieb er ein Buch,
Sport, erst recht nicht von Tennis. Wenn Vereinsmannschaft in der Bezirksliga. Er das er »Winning Ugly« nannte, »hässlich
er schon Sport treiben wolle, riet ihm der wurde von einem Kroaten trainiert, »dem gewinnen«, und als Ratgeber für »mentale
Vater, solle er lieber einen Kasten Bier in Jugo«, der ihn mit Brad Gilbert verglich, Kriegsführung im Tennis« verkaufte.
den Keller tragen. einem amerikanischen Tennisprofi, der in Er beschreibt darin, wie er die Großen
Sein erster Schläger war einer von In- den Achtzigerjahren für seine hässliche zur Verzweiflung trieb, zum Fluchen, zum
tersport für 20 Mark. Zur Konfirmation Art, Tennis zu spielen, gefürchtet war. Gil- Schlägerwerfen, ja zu dem Entschluss, die
bekam er einen besseren geschenkt, einen bert spielte bodenständiges Tennis, ohne Karriere zu beenden, auch aus Scham, ge-
Völkl-Schläger aus Carbon. Seine Mutter spektakuläre Schläge, quälte aber seine gen ihn verloren zu haben.
zahlte ihm heimlich Trainerstunden beim Gegner mit Psychotricks und unangeneh- »Wenn ich gegen Spieler wie ihn verlie-
ATV Nürnberg, und so lernte er alles, was men Schlägen und gewann. re«, zitiert Gilbert McEnroe, »was soll ich
man als Tennisspieler können muss: Vor- Markus Söder fand das interessant: ein noch auf dem Platz?« »Winning Ugly«
hand, Rückhand, Aufschlag, Volley und Mann, der die Hässlichkeit seines Spiels wurde ein Bestseller, weltweit.
Smash, auch den Unterschied zwischen zu einer speziellen Form von Cleverness Auch Markus Söder hat das Buch ge-
Topspin und Slice. erhob. lesen.
33
Deutschland
COLORSPORT / SHUTTERSTOCK
Markus Söder überlegt, wann er zuletzt springt und schwer zu retournieren ist.
Tennis gespielt hat, ich habe ihn gar nicht Man muss sich bücken, und wenn man
danach gefragt. »Ich hab das letzte Mal ge- nicht seinerseits mit einem Slice antworten
spielt …«, sagt er und macht eine lange will, muss man den Ball auf kürzester Dis-
Kunstpause, die offenbar demonstrieren tanz wieder beschleunigen, also einen
soll, wie ernsthaft und intensiv er darüber Tempowechsel wagen, der nicht ohne Ri-
nachdenkt. »Letztes Jahr irgendwann«, Tennisprofi Gilbert 1986 siko ist. Der Slice ist eine Folter, vor allem
fällt ihm schließlich ein. »Wie eine Boa spielen« für einen Topspinspieler wie mich.
Würde man die vergangenen Jahre in Nachdem wir weniger als fünf Minuten
Markus Söders Karriere als Tennismatch lang Bälle hin und her gespielt haben, sagt
beschreiben, müsste man sagen, dass er in landet, schlägt er ihn nicht zurück, viel- Söder: »So, jetzt haben wir’s doch bald.«
glatten zwei Sätzen gewonnen hat, ein leicht nur, um sich nicht übermäßig anzu- Sein Pressesprecher wendet sich an die
Durchmarsch ohne Spielverlust. strengen, vielleicht aber auch, um das Ri- Fotografin: »Haben Sie’s im Kasten?«
Er dreht mir den Rücken zu, um an die siko zu minimieren, nicht optimal zum Aber die Fotografin bittet Söder, ob er
Grundlinie zu gehen. Ball gestanden zu haben, was einfach nicht noch kurz im Aufschlagfeld spielen kann,
»Klein- oder Großfeld?«, rufe ich ihm gut aussieht auf Fotos. näher am Netz.
hinterher. Söder produziert gern Bilder. Mit Par- Söder zögert; es könnte ein Bild entste-
Gerade wenn man wie Söder lange teifreunden. Mit Landräten. Auf Schützen- hen, das ihm möglicherweise nicht gefällt.
nicht gespielt hat, ist es üblich, sich kurz festen. Er ließ sich mit Fernglas, Kapitäns- »Da werden die Leute wahrscheinlich sa-
im Kleinfeld zwischen Netz und Aufschlag- mütze und Steuerrad fotografieren, um sei- gen, die zwei Kerle können gar kein Tennis
linie einzuspielen, ein paar Schläge, um in ne Sympathie für die Binnenschifffahrt zu spielen, die spielen doch Babytennis«, sagt
den Rhythmus zu kommen. demonstrieren, er besorgte sich eine Ang- Söder. Dann aber macht er es doch.
Aber für Söder kommt es nicht infrage, lerhose, um als Minister für ein Foto am Wir schlagen ein paar Bälle, Söder eher
klein anzufangen. Er will gleich im ganzen Wöhrder See in Nürnberg ein paar Setz- widerwillig. »Es macht nur leider keinen
Feld spielen, mit voller Kraft von der linge Schilfgras in den Boden einzupflan- Spaß«, sagt er.
Grundlinie aus. zen, damit jeder sieht, wie sehr er hinter Wir beginnen, Volleys zu spielen, bei
»Kein Babytennis«, ruft er mir zu. der sogenannten Renaturierung des Nürn- denen der Ball nicht den Boden berührt.
Es gibt ein Bild von Markus Söder, das berger Sees steht. Das macht ihm mehr Spaß.
oft verbreitet wird: ein skrupelloser Macht- Bilder sind ihm meist wichtiger als die Er meint jetzt: »Wir sollten vielleicht
mensch, dem jedes Mittel recht ist, um nach Geschichten, die dazu geschrieben werden. zusammen Doppel spielen.«
oben zu kommen. Seehofer sprach gern Bilder bleiben. Im Doppel kommt es, mehr als beim
von Söders »Schmutzeleien« und verband Es ist nicht das erste Mal, dass sich Mar- Einzel, auf Volleys an.
damit auch die unausgesprochene Unter- kus Söder auf dem Tennisplatz aufnehmen Wir schlagen ein paar schnelle Volleys,
stellung, es sei Söder gewesen, der den Me- lässt. Aber auf den Fotos, die es vor unse- dann versuche ich einen Lob, einen hoch
dien Informationen über Seehofers unehe- rem Treffen gab, stand er nur da, den und weit über ihn gespielten Ball. Er
liches Kind gesteckt habe, um sich im Schläger vor der Brust, lächelnd, schweiß- schmettert. Ich lobbe noch mal. Er schmet-
Machtkampf mit ihm einen Vorteil zu ver- frei, entspannt. Er vermied Bilder, die ihn tert wieder.
schaffen. Ein Vorwurf, den Söder, der selbst mitten im Spiel zeigen. Es gibt viel, was Die Fotografin, die Söder endlich in Be-
ein außereheliches Kind hat, immer bestritt. dabei nicht gut aussehen kann. Ein ver- wegung sieht, ruft begeistert: »Noch mal!«
Er würde das Bild gern korrigieren, zerrtes Gesicht. Gerötete Haut. Zu viel Aber das ist Söder zu viel. Er möchte
jetzt, da er niemanden mehr beiseiteräu- Schweiß. Diesmal aber will er eine Aus- die Kontrolle nicht aus der Hand geben.
men muss, um nach oben zu kommen, zu- nahme machen. »Nee«, sagt er, »zweimal reicht. Das ist
mindest in Bayern. »Locker, nicht zu verbissen«, ruft Söder, ein Foto, kein Stress.«
Söder steht an der Grundlinie und spielt so will er heute spielen. Der Pressesprecher, der noch immer
schöne, gerade Bälle, er holt aus, lässt den an der Seitenlinie steht, versteht das
Schläger hinter dem Rücken sinken, dann Wort »Stress« offenbar als klares Sig-
schlägt er zu und schwingt nach vorn aus, nal seines Chefs zu intervenieren. Er
eine runde Bewegung mit großer Schleife, »Da werden die Leute wendet sich an die Fotografin, die
so wie er sie lehrbuchgemäß beigebracht wahrscheinlich sagen, noch am Netz kniet und auf das nächste
bekommen hat. Foto wartet, und fragt wieder: »Wie
Er scheint bedacht darauf zu sein, dass die zwei Kerle spielen schaut’s aus, alles im Kasten?«
alles gut aussieht, locker, schwerelos, doch Babytennis.« »Machen wir die Runde noch fertig«,
schweißfrei. Wenn ein Ball knapp im Aus sagt Söder. »Dann ham wir’s jetzt.«
dpa
nau das Gleiche tun. Bereiten Sie sich da- wie man sich einen Rentner beim Feder-
rauf vor, leiden zu müssen. Ehepaar Söder* ballspielen vorstellt.
Brad Gilbert, »Winning Ugly« »Der brutalste Schlag ist der Aufschlag« Und dann richtig, so wie er es macht
und alle anderen richtigen Tennisspieler.
Söder packt den Schläger in die Hülle, »Die ganze Bewegung hier aus dem
plötzlich hat er es überhaupt nicht mehr an einen Besuch des Hallenbads, in dem Knie heraus«, sagt Söder und zeigt, wie
eilig. er regelmäßig trainiert. man den Ball hochwerfen und dann zu-
Er zählt seine größten Sportidole auf. Und so vergingen Wochen und Monate, schlagen muss, am maximalen Punkt, ma-
Boris Becker. Lothar Matthäus. Michael bis wir uns in Nürnberg am Wöhrder See ximale Streckung. »Und dann gehst du so
Groß. zum Sonntagsspaziergang trafen, im Fe- nach vorn«, sagt er, zieht den beschriebe-
Becker ist klar: Tennisspieler, jüngster bruar 2018. Es war viel zu kalt zum nen Schwung nach und lässt sein Gewicht
Wimbledonsieger, ein logischer Held sei- Schwimmen, aber in diesem Moment er- auf den rechten Fuß fallen. »Da musst du
ner Jugend. Matthäus: Franke wie er, eben- schien es mir als die beste Annäherung aufpassen, dass du dich extrem aufwärmst,
falls ein deutscher Held, auch wenn er an das, was seine eigentliche Leiden- sonst kannst du dich echt verletzen.«
trotz seiner großen Erfolge immer ein biss- schaft war. Söder ist bei den unterschiedlichen Auf-
chen belächelt wird. Es war Karnevalssonntag um elf Uhr, schlagarten angekommen. »Es gibt die, die
Aber Groß, der dreifache Olympiasie- kein gewöhnliches Wochenende für ihn, einfach draufhauen«, sagt Söder. »Aber
ger im Schwimmen? weil das der Sonntag vor seiner großen dann auch die mit Drall.« Vor allem fürs
»Schwimmen fand ich bei den Olympi- Rede zum politischen Aschermittwoch in Doppel seien die wichtig.
schen Spielen faszinierend«, sagt Söder. Passau war, seiner ersten, mehr als einstün- »Beim Doppel kannst du nicht Kra-
Das sei damals noch in der »Sportschau« digen Grundsatzrede als designierter Mi- wumm machen«, sagt Söder, »deshalb
gezeigt worden. Es ist nicht ganz klar, wa- nisterpräsident, in der er den Bayern ab- musst du beim Doppel schauen, dass du
rum das für Groß als Idol sprechen soll, solute Treue versprechen sollte: »Ich bin den Ball möglichst weit rausbringst. Ich
aber vielleicht ging es ja nur um dessen der Markus, da bin i dahoam, und da will schau mir immer Borg oder McEnroe an,
Erfolg und natürlich das Schwimmen. ich auch bleiben.« vor allem McEnroe.«
Söder spielt nämlich nicht nur gern Auf diesem Spaziergang um den Wöhr- Er stellt sich an die Aufschlaglinie, um
Tennis, er schwimmt auch gern. der See erzählte er mir, was man über einen John-McEnroe-Aufschlag vorzuma-
Beim Schwimmen hat Markus Söder sei- ihn und Nürnberg wissen muss, über seine chen, die beiden Füße nicht wie üblich
ne spätere Frau, die Unternehmertochter Verdienste als Sohn dieser Stadt und über schräg oder leicht seitlich zur Grundlinie,
Karin Baumüller, kennengelernt, an einem den Wettbewerb, den er sich mit dem lang- sondern parallel dazu. »Der McEnroe war
Sommertag im Jahr 1992 im Nürnberger jährigen SPD-Oberbürgermeister Ulrich Wahnsinn«, sagt Söder.
Naturgartenbad, wo er mit ihr über das Maly um Heimatverbundenheit lieferte. Er pendelt mit dem Schläger hin und
Thema Sonnenbrand ins Gespräch kam. Gerade hier am Wöhrder See, der früher her, wie es McEnroe vor jedem Aufschlag
Selbst als Politiker ist er schwimmen ein großer stinkender Tümpel war und gemacht hat, einmal, zweimal, dreimal,
gegangen, gern auch öffentlich. heute die »Wasserwelt im Herzen Nürn- dann wirft er einen imaginären Ball in die
Es gibt ein Video von Söder im Wöhrder bergs« genannt wird, mit drei aufgeschüt- Höhe, lässt den Schläger in den Rücken
See, den er im Sommer 2016 in einem teten Inseln und einem Badestrand, der fallen, dreht seinen Oberkörper zum Netz
Ganzkörperanzug durchquert. Er wirkt im Volksmund »Söderstrand« heißt oder und schlägt zu. »Diese extreme Drehung«,
ein bisschen atemlos, als er dabei sagt: auch »Söder Bay«. sagt Söder voller Bewunderung.
»Hallo, ich schwimm in der Norikusbucht, Wir setzten uns in die Cafeteria des Pfle- Dann steht er wieder am Netz, breitbei-
sensationell, geb zu, ein bisschen kalt, aber geheims Sebastianspital mit Blick auf das nig, mit seinem Schläger vor der Brust,
echt sauber, das Wasser.« Nicht unbedingt Wasser, bestellten ein Stück Sahnetorte und sagt, bei Boris Becker sei das ganz an-
eine Sternstunde seiner Karriere, aber ein und redeten weiter, bis Söder irgendwann ders gewesen, die Wucht, mit der er Tennis
immer wieder gern angeklicktes Video, den ATV Nürnberg erwähnte, seinen ehe- gespielt habe, der Beckerhecht, die Becker-
das zumindest beweist, dass er brust- maligen Tennisklub. faust, der Schweiß, die Tränen. »Bei Becker
schwimmen kann. »Sie spielen also Tennis?«, fragte ich ihn. war alles: uaaaaaahhhhhh«, sagt Söder,
Bevor ich auf die Idee kam, mit Söder »Nicht mehr so oft«, sagte er. um den Unterschied zu demonstrieren. Er
Tennis zu spielen, wollte ich mit ihm Aber wer einmal Tennis kann, verlernt lächelt zufrieden.
schwimmen gehen. Wir konnten uns erst es nicht. War es bei Becker nicht ein bisschen
nicht darauf einigen, wann und wo. Söder wie bei ihm?
gefiel die Idee, im Starnberger See schwim- Nichts fiel Söder einfach so zu. Er
men zu gehen, genau an der Stelle, an der musste stets ein bisschen früher als
König Ludwig II., Bayerns Märchenkönig, »Ich bin an dem Tag, an andere aufstehen und stets ein biss-
im Jahr 1886 ein letztes Mal in den See dem Becker Wimbledon chen länger bleiben, um erfolgreich zu
gestiegen war. Ich hielt das für zu viel Kla- sein. Er hat nie etwas bekommen, nur weil
mauk, ich dachte eher an etwas Normales, gewonnen hat, Vereins- man ihn nett fand oder weil er bewundert
meister geworden.« wurde.
* Als Marge und Homer Simpson zu Fastnacht 2017. »Wie alt sind Sie?«, fragt Söder.
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»Ein Jahr jünger als Boris Becker«, ant-
worte ich.
Flexibel bleiben.
»Unsere Generation«, stellt Söder zu-
frieden fest.
Lesen Sie den SPIEGEL,
Er ist Beckers Jahrgang, aber mit Becker
verbindet ihn mehr.
»Ich bin an dem Tag, an dem Boris Be-
solange Sie möchten.
cker zum ersten Mal Wimbledon gewon- Frei Haus.
nen hat, bei uns Vereinsmeister gewor-
den«, sagt Söder, »im Doppel.«
Der SPIEGEL jede Woche direkt nach Hause
Die ganze Zeit habe er sich kaum auf Rund 4% sparen.
sein eigenes Spiel konzentrieren können. Für nur € 5,30 pro Ausgabe statt € 5,50 im Einzelkauf
Ständig habe er gefragt: »Wie steht’s beim
Becker, wie steht’s beim Becker?« Und als Ohne Risiko.
er dann vom Platz kam, begannen gerade Jederzeit kündbar, Urlaubsservice möglich
die letzten Spiele des entscheidenden Sat-
Vergünstigte Tickets.
zes, und er, der gerade frisch gekürte Ver-
einsmeister, saß verschwitzt vor dem Fern- Für ausgewählte SPIEGEL-Veranstaltungen
seher und drückte Becker die Daumen, der auf www.spiegel-live.de
dabei war, Nationalheld zu werden.
Söder weiß nicht mehr, ob er sein eige-
nes Match in zwei oder drei Sätzen gewon-
nen hat, aber das, behauptet er, sei ihm
völlig egal gewesen.
Es sei ihm nur um Boris Becker gegangen.
Nach dem Spiel
Einfach jetzt anfordern:
Ihre Gegner werden sagen: »Hey, deine
Schläge haben sich doch gar nicht verbes-
abo.spiegel.de/flexibel
sert. Wie kommt es, dass du mich plötzlich oder telefonisch unter 040 3007-2700
schlägst?« Legen Sie ein Lächeln auf und
(Bitte Aktionsnummer angeben: SP-FLEX)
antworten Sie: »Es war heute einfach mein
Tag, glaube ich.«
Brad Gilbert, »Winning Ugly«
Keine
Die Fotografin will zum Abschluss noch
Mindest-
ein Porträtfoto am Netz machen, Söder laufzeit
im Stehen. Söder stellt sich breitbeinig ne-
ben das Netz, nimmt seinen Schläger vor
die Brust und verschränkt die Arme davor.
Die Fotografin hält das für keine beson-
ders vorteilhafte Pose, aber Söder besteht
darauf.
»Tennisspieler machen das so«, sagt er.
»Die halten den Schläger genau so.«
Er wird langsam ungeduldig. Warum
glaubt sie ihm nicht?
»So sind alle Tennisspieler«, sagt Söder,
»so schützen die ihre Schläger, von Borg
bis McEnroe, von Connors bis Ðjoković,
schauen Sie mal die alten Bilder an.«
Die Fotografin gibt nach.
Als sie ihn schließlich in der gewünsch-
ten Pose aufgenommen hat, ruft er ihr zu:
»Schicken Sie mir auch mal ein Bild?«
Krisenmanager Braun
SPIEGEL: Herr Braun, befinden wir uns und Winter nicht in vollem Umfang auf- Braun: In Städten wie in Berlin geht es
noch am Anfang oder schon mitten in der rechterhalten werden können. Die Vorsicht nicht darum, den Anstieg zu begrenzen
zweiten Corona-Welle? in der Bevölkerung muss insgesamt wieder oder zu verlangsamen. Sondern das Ziel
Braun: Wir haben derzeit einen flächen- steigen. Bei einzelnen Hotspots muss man muss ganz klar sein, wieder unter eine In-
deckenden Anstieg der Infektionen, und wiederum zielgerichtet vorgehen und zeit- zidenz von 50 zu kommen, also in einer
wir haben in Großstädten wie Berlin oder lich begrenzte Einschränkungen verhän- Woche deutlich weniger als 50 Neuinfek-
in Bremen eine extreme Zunahme. gen, damit haben wir bislang gute Erfah- tionen pro 100 000 Einwohner zu haben.
SPIEGEL: Was wollen Sie tun? rungen gemacht. Mehr Sorgen bereitet uns SPIEGEL: Ist die Berliner Landesregierung
Braun: Wir brauchen weiterhin eine Mi- die Entwicklung in einzelnen Großstädten, da konsequent genug?
schung verschiedener Maßnahmen. Allge- wo es ein diffuses Infektionsgeschehen gibt. Braun: Ich habe mir vorgenommen, nicht
mein kann man sagen, dass die Freiheiten, Hier ist Konsequenz gefragt. einzelne Noten zu verteilen. Aber jeder
die wir den Sommer über hatten, im Herbst SPIEGEL: Das heißt? Oberbürgermeister, jeder Senat einer be-
39
Deutschland
SPIEGEL: Der Virologe Streeck sagt, dass hält sich sehr vorsichtig. Hinzu kommt:
auch die von der Kanzlerin prognostizier- Durch die Abstandsregeln hindern wir
ten knapp 20 000 Neuinfektionen am Tag auch alle anderen herbstlichen Infektions-
zu bewältigen seien, da sich eben mehr krankheiten an der schnellen Verbreitung.
Junge anstecken, deren Krankheitsverlauf SPIEGEL: Im März haben Sie im SPIEGEL-
GEMEINSAM-BESSER-MACHEN.DE
Zukunft gestalten.
Gemeinsam.
Deutschland
Fluchtpunkt Berlin
Diplomatie Regimekritiker aus der ganzen Welt suchen Hilfe in der deutschen Hauptstadt. Die belarussische
Oppositionsführerin Tichanowskaja erhielt allerdings vor allem symbolische Unterstützung.
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Clemens Bilan / EPA-EFE / SHUTTERSTOCK
Ex-Präsidentschaftskandidatin Tichanowskaja in Berlin: Weder antirussisch noch proeuropäisch
auf einen Dialog mit der Opposition ein- ziell«, forderte sie am Mittwochmittag im schen und europäischen Projekten die Zi-
zulassen. Auswärtigen Ausschuss nach Angaben von vilgesellschaft in Belarus unterstützt«, sagt
Es ging aber auch um Konkretes. Und Teilnehmern. Hinterher erläutete sie: »Wir Michael Roth, Staatsminister im Auswär-
das ist ein besonders heikles Thema. Bis- brauchen finanzielle und humanitäre Un- tigen Amt. »Unser Engagement werden
her betont die Opposition immer ihre Un- terstützung zuallererst für die Verwunde- wir fortsetzen und gezielt ausbauen.« Un-
abhängigkeit, um sich nicht dem Vorwurf ten und Verletzten, die zur Rehabilitation ter anderem sollen die Mittel der deut-
auszusetzen, Geld aus dem Westen anzu- ins Ausland fahren müssen. Und für unsere schen Botschaft in Minsk zur Förderung
nehmen. Dies könnte Putin zum Anlass Studenten, Menschenrechtsaktivisten und von Projekten an Ort und Stelle nochmals
nehmen, Lukaschenko noch aggressiver Journalisten, die in Belarus im Moment erhöht werden, heißt es im Auswärtigen
zu unterstützen. Hilfe für die Demokraten nicht arbeiten können.« Amt. »Bitten um finanzielle Unterstützung
könnte also deren Untergang bedeuten. Ob die Demokratiebewegung nicht von Vertretern der Demokratiebewegung
Denn gegen eine russische Intervention Angst habe, vom Regime Lukaschenko als beziehungsweise des Koordinierungsrats
könnten sie nichts ausrichten. »ausländische Agenten« verunglimpft zu sind dem Auswärtigen Amt nicht be-
Tichanowskaja wiederholte deshalb bei werden, fragte der Grünenabgeordnete kannt«, so ein Sprecher.
ihren Auftritten, dass die Demokratie- Manuel Sarrazin. »Das werden wir doch Die deutsche Opposition hat den Gast
bewegung weder antirussisch noch pro- ohnehin«, antwortete Tichanowskaja. Sie aus Belarus da anders verstanden. »Wir
europäisch sei. Das Ganze sei eine innere schwankte zwischen den Botschaften »Wir sollten die Zivilgesellschaft wenigstens
Angelegenheit von Belarus. Aber ohne brauchen dringend Hilfe« und »Wir müs- so unterstützen, dass sie arbeitsfähig
Hilfe von außen können die Demokraten sen unabhängig bleiben«. bleibt«, sagt der grüne Abgeordnete Omid
auf Dauer wohl nicht gegen das brutale Die Bundesregierung hat sich daher of- Nouripour.
Regime ankommen. Das ist das Dilemma. fenkundig entschlossen, zurückhaltend zu Die Bundesregierung gehe bei ihrer Hil-
Um sich Lukaschenkos Propaganda zu helfen. »Bereits vor den Präsidentschafts- fe für die Zivilgesellschaft in Belarus »viel
erwehren, brauche die Zivilgesellschaft wahlen haben wir mit zahlreichen deut- zu bürokratisch vor«, kritisiert der stell-
zum Beispiel auch mediale Unterstützung, vertretende FDP-Fraktionsvorsitzende
erläuterte Tichanowskaja. Konkret nannte Alexander Graf Lambsdorff. Jemand wie
sie die Deutsche Welle. Sie wünsche sich Gegen eine russische Tichanowskaja könne »nicht erst mal
mehr Berichterstattung über Belarus von Intervention könnten einen langen Antrag stellen und nachwei-
dem deutschen Auslandssender. sen, dass sie eine Institution der Zivilge-
Zugleich bat Tichanowskaja in Berlin die Demokraten nichts sellschaft vertritt«.
aber eben doch um Geld. »Wir brauchen ausrichten. Christiane Hoffmann, Christoph Schult
Unterstützung – politisch, aber auch finan-
A
Das Konzept ist dieses: Streitet ständig, aber nur so viel,
m Anfang war die Wut. Die modernen Demo- dass euch die Wut nicht packt und ihr die Kontrolle
kratien sind aus hochkochenden Emotionen ent- verliert. Ein schmaler Grat. Gleichwohl ist es den Demo-
standen. Viele Franzosen waren empört über die kratien zunächst ganz gut gelungen, ihre Gesellschaften
Ausbeutung durch die Monarchie, Kolonisten in zu pazifizieren.
Amerika hatten es satt, aus der Ferne von Großbritannien
D
regiert zu werden. Die Boston Tea Party am 16. Dezem-
ber 1773 und der Sturm auf die Pariser Bastille am 14. Juli rei Hauptursachen politischer Wut sind Klassen-
1789 waren kollektive Wutausbrüche, die später zu den kampf, Religion und Nationalismus. Bei diesen
Gründungsmythen der USA und der französischen Repu- Themen kochen die Emotionen hoch oder lassen
blik wurden. sich leicht schüren; die Wut gegen die Reichen
Heute gilt ausgerechnet die Emotion, aus der die De- oder die Ausbeuter, die Wut gegen Katholiken oder Pro-
mokratien hervorgingen, als ihre größte Herausforderung. testanten, gegen Muslime oder Juden, die Wut gegen das
Mit Wut kann sie nur schlecht umgehen, der »Wutbürger« Nachbarland oder gegen Menschen anderer Herkunft.
wurde zur Chiffre für eine permanente innere Bedrohung. Die Demokratien konnten diese Einflüsse stark redu-
Vor genau zehn Jahren erschien im SPIEGEL ein Essay, zieren. Die Religionen wurden aus der Politik zurück-
der dieses Wort in die Welt setzte. Damals ging es um gedrängt, die Ungerechtigkeiten durch Sozialpolitik und
Proteste gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Es ging aber Umverteilung gelindert, der Nationalismus in Europa
auch schon um Bürger, die sich bei einer Veranstaltung nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs einge-
wütend dagegen verwahrten, dass Thilo Sarrazin kritisch dämmt. Im Zuge des europäischen Vereinigungsprojekts
befragt wurde. Ihnen gefiel offenkundig ein Buch, dessen sprach man schon von postnationalen Gesellschaften.
Thesen zum Teil als fremdenfeindlich gedeutet wurden. Die Bundesrepublik bearbeitete ihr Zähmungsprojekt
Seither hat die Wut Karriere ge- besonders gründlich. Nach dem Nationalsozialismus,
macht. Geburt und Aufstieg der AfD der aus Massenwut Massenmord gemacht hatte, wurden
Die neue Mittel- seit 2013, islamophobe Proteste im Politik und Gesellschaft die Emotionen weitgehend
klasse blickt verächt- rüstete Namen von Pegida seit 2014, die ent- ausgetrieben. Es bildete sich die nivellierte Mittelstands-
Ablehnung von Angela Merkels gesellschaft, konsensorientiert, friedlich, europäisch.
lich auf Mitbürger, Flüchtlingspolitik seit 2015, der Brexit Zwar gab es bis in die Neunzigerjahre hinein wütende
die eher traditionell und die Wahl Donald Trumps zum Debatten in den Parlamenten, vor allem zwischen SPD
Präsidenten der USA 2016, die franzö- und Union, aber da war viel Show dabei. Mein Groß-
orientiert sind. sischen Gelbwesten 2018 – das alles onkel, der für die Stadt Essen arbeitete, hat sich oft
wurde auch mit Wut erklärt. Und vor darüber amüsiert, dass sich die Herren im Stadtrat wut-
wenigen Wochen überschrieb die entbrannt stritten und hinterher an der Theke ein Bier
»Zeit« einen Leitartikel zu Demonstrationen gegen die miteinander tranken.
Corona-Politik mit der Zeile »Wutbürger 2.0«. Viele Positionen der beiden Parteien näherten sich
Was ist passiert? Warum erlebt der Westen ein Zeitalter immer stärker an. Ein Wutausbruch wie der demonstra-
der Wut? Und wie ist sie in den Griff zu bekommen? tive Auszug der Ministerpräsidenten der Union aus dem
Die Geschichte der Politik in der Neuzeit lässt sich Bundesrat 2002 war vorher vereinbart, war gespielte
auch als Zähmungsgeschichte erzählen. Der Mensch wird Emotion. Schon vor Angela Merkels Kanzlerschaft wurde
von seinen Leidenschaften getrieben, neigt zu Ausbrü- die Bundesrepublik von einer informellen Großen Koali-
chen von Wut und Hass, damit zur Gewalt. Gerade die tion regiert.
Zeit des Staatstheoretikers Thomas Hobbes war davon ge- Wenn in der Gesellschaft Emotionen ausbrachen, dann
prägt. Auf dem europäischen Kontinent tobte in der ers- vor allem bei den Jüngeren, den Achtundsechzigern
ten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Dreißigjährige Krieg, und ihren Epigonen in der Friedens- und Anti-Atomkraft-
in England ein Bürgerkrieg. Hobbes’ Antwort auf Chaos Bewegung. Ihre Wut wurde über die Grünen parlamen-
und Grauen war der starke Staat, der das Gewaltmonopol tarisiert und kalmiert. Mit den grünen Abgeordneten tra-
auch zum Schutz der Bürger behauptet. Für die Monar- fen sich die Kollegen von der Union bald in der soge-
chen war das die passende Philosophie zu absolutistischer nannten Pizza-Connection. Statt Bier gab’s gute Weine.
E
s wird mehr gestritten als früher, das ist gut, aber
dieser Streit lässt sich nicht im Kompromiss auf-
lösen, das ist übel. Die Politiker der AfD sind nicht
die Leute, mit denen die Kollegen und Kolleginnen
der traditionellen Parteien nach der Debatte ein Bier oder
einen Wein trinken möchten. Die Positionen sind unverein-
bar, liberale und illiberale Demokratie prallen aufeinander.
Es wird nicht innerhalb der Demokratie gestritten, son-
dern über die Demokratie, und damit wird aus der Geg-
nerschaft die Feindschaft, wie der Politikwissenschaftler
Philip Manow in seinem Buch »(Ent-)Demokratisierung
der Demokratie« herausgearbeitet hat. Feindschaft ist die
wutentbrannte, die unversöhnliche Gegnerschaft. Der
Staatsrechtler Carl Schmitt könnte sich bestätigt fühlen.
Für ihn gehörte das Freund-Feind-Denken zum Wesen
des Politischen.
In den USA ist zu beobachten, was das heißt. Seit
Donald Trump sind Republikaner und Demokraten keine
Hermann Bredehorst / DER SPIEGEL
W
werden.
enig später begann das Jahrzehnt des Wutbür- Ohne Frage muss es rote Linien geben: Jede Form
gers. Was hat diesen Wandel bewirkt? Einfach gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, also Rassismus
gesagt: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft oder Antisemitismus, liegt hinter dieser Linie, ebenso
hat sich wieder aufgespalten. Der Soziologe Faschismus und Gewalt. Diesseits davon sollten die libe-
Andreas Reckwitz spricht in seinem Buch »Das Ende der ralen Demokraten die Sorgen der alten Mittelschicht
Illusionen« von einer neuen und einer alten Mittelklasse und der prekären Schicht allerdings ernst nehmen, um
sowie einer »prekären Klasse«. Diesmal geht es nicht nur die Gesellschaft zusammenzuhalten. Die furchtbaren
um soziale Unterschiede, sondern auch um Lebensweisen, Zustände in den USA haben nicht nur mit Donald Trump
um Haltungen. und den Republikanern zu tun, sondern auch mit den
Die neue Mittelklasse, die sich cool und liberal geriert, Demokraten, die genau diese Sorgen aus den Augen ver-
blickt verächtlich auf die Mitbürger, die eher traditionell loren haben. I
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Deutschland
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www.buchaktuell.de
Deutschland
der eigenen Partei. Hier in Brüssel, das Damit ist sie immerhin größer als die
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denklich, dass die Feierlichkeiten durch
eine Firma organisiert werden, die sich
durch Privatisierung von FDJ-Geldern ihre
Startchancen in die Marktwirtschaft gesi-
chert hat.« Die Vergabe solcher Aufträge
folge »aber nicht moralischen, sondern ver-
gaberechtlichen Kriterien«.
Wohlthat gründete gemeinsam mit
anderen im Dezember 1989 die Power
Music GmbH. In einem Bericht der
Unabhängigen Kommission zur Über-
prüfung des Vermögens der Parteien und
Massenorganisationen der DDR heißt
es zu dieser Firma: »Das Stammkapital
betrug 500 000 Mark, hiervon hielten
475 000 Mark die FDJ.« Später gründete
Wohlthat dann sein eigenes Unter-
Das Kapital
Leidenschaft und Fingerspitzengefühl bei view erinnerte er sich später lächelnd, wie
der Umsetzung von Events jeder Größen- er den Stars die Hand geschüttelt habe.
ordnung«, heißt es auf der Homepage der 30 Jahre später ist Rainer Wohlthat
ruft
Wohlthat Entertainment GmbH. Seit 2003 immer noch der Mann für die großen Büh-
veranstaltet sie auch das jährliche Einheits- nen. Über den Auftrag für die »Einheits-
fest am Brandenburger Tor. Expo«, die im Corona-Jahr 2020 das
Ihr Geschäftsführer Rainer Wohlthat traditionelle Bürgerfest ersetzte, sagt der
Biografien SED-Opfer kennt sich mit Events aus. Zu DDR-Zeiten Regierungssprecher des Landes Bran-
protestieren: Warum durfte kümmerte er sich als hauptamtlicher Funk- denburg: »Das Vertragsvolumen belief
tionär in Berlin um Propagandaveranstal- sich auf 2,9 Mio. Euro brutto.« Eine end-
ein ehemaliger Genosse von tungen der FDJ, wie Eberhard Aurich be- gültige Summe könne noch nicht genannt
den Feierlichkeiten zur stätigt, bis Ende November 1989 Erster Se- werden, »da die Abrechnung noch nicht
Wiedervereinigung profitieren? kretär des Zentralrats der FDJ. Der Rat abgeschlossen ist«.
hatte 1961 nach dem Mauerbau die Jugend- Hätte Wohlthat den Auftrag nicht erhal-
lichen zum freiwilligen Dienst in der Na- ten sollen? Die Staatskanzlei in Potsdam
gerichtet hat. Die Beauftragte zur Aufarbei- und neue Wege gehen musste«,
Im wiedervereinigten Deutschland ist tung der kommunistischen Dik- heißt es auf der Homepage seiner
der heute 68-Jährige gut im Geschäft: tatur in Brandenburg, Maria Firma. »Deshalb schauen wir
Schlössernacht in Potsdam, Fußball-Fan- Nooke, ist mit der Entscheidung auch in Krisenzeiten nach vorn.«
meile in Berlin, Silvesterfete am Branden- der Landesregierung gleichfalls Wohlthat Thomas Purschke
burger Tor. »Wir vereinen Expertise mit nicht glücklich: »Es stimmt nach-
Unter Feuer
Der Fall nimmt rasch Fahrt auf. Der
neue Innenminister Hans-Joachim Grote
(CDU) sägt das Trio ab. Die Landtags-
fraktionen richten einen Untersuchungs-
ausschuss ein. Es geht, so scheint es, um
Schleswig-Holstein Ein vermeintlicher Polizeiskandal belastet die Grundpfeiler des Rechtsstaats.
die Kieler Landesregierung massiv. Nun zeigt sich, wie Was die Sache zusätzlich brisant macht,
Journalisten dabei tricksten und die Öffentlichkeit in die Irre führten. ist ein exklusiver Artikel der Zeitung im
Juli 2017, der nach Waterkantgate klingt:
Das Blatt behauptet, man habe Journalis-
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Deutschland
Im November 2018 nehmen Longardt suchungsausschuss klar: »Es ging nur um Ergebnis der Staatsanwaltschaft wolle er
und Reporter Modrow für ihre Enthüllun- eine fachliche Auseinandersetzung.« »nicht bewerten«.
gen in der sogenannten Rockeraffäre einen Was den angeblichen Abhörskandal bei Lars Harms, Fraktionsvorsitzender der
Journalistenpreis entgegen. In der Lauda- den »Kieler Nachrichten« angeht, hat die Partei der dänischen Minderheit SSW,
tio lobt die Jury den Mut der Redakteure, Staatsanwaltschaft Lübeck sämtliche Vor- nennt Longardts Auftritt entlarvend. Die
die Anfeindungen aus Polizei und Politik würfe entkräftet. Der Peilsender-Verdacht Vorwürfe »lösten sich in nichts auf«. Und
standgehalten hätten. In Wahrheit sind die beruhte demnach lediglich auf dem Piepen weiter: »Die ›Kieler Nachrichten‹ scheinen
Methoden und die Ergebnisse der Recher- eines Messgeräts, mit dem ein Geschäfts- sich hier auf Kosten der Polizei eine Story
che nicht preisverdächtig, sondern windig. partner der Zeitung offenbar ohne Fach- zurechtgelegt zu haben.«
Wie Reporter Modrow mitunter arbei- kenntnis um den Wagen des Chefredak- Im Landtag hadern inzwischen viele mit
tete, zeigt sich etwa im August 2018. Da- teurs gegangen ist. Die von ihm gemesse- dem Untersuchungsgremium. »Die Politik
mals gibt es in Lübeck eine versuchte Ver- nen Frequenzen nutzt nur die Luftfahrt, hat sich von den ›Kieler Nachrichten‹ in den
gewaltigung, verdächtig ist zunächst ein nicht die Polizei. Eine Wanze am Auto Ausschuss treiben lassen«, sagt der Vorsit-
Sudanese. Gewerkschafter Nommensen wurde nie gefunden. Eine Richtigstellung zende Tim Brockmann (CDU). Es sei klar:
ärgert sich darüber, dass die Polizei dessen veröffentlichte das Blatt trotzdem nie. »Erhebliche strukturelle Defizite« seien in
Nationalität nicht nennt. Erst vor wenigen Wochen vernimmt der der Polizei nicht zu erkennen. Man wolle
Er sei dafür, schreibt er Modrow, dass Untersuchungsausschuss Chefredakteur den Ausschuss, der bereits 73 Sitzungstage
die Zeitung den Ermittlern »die Hammel- Longardt zu der Sache. Der Journalist win- angehäuft hat, daher beenden – »möglichst
beine« lang ziehe. Modrow bittet um ein det sich, verschanzt sich hinter anonymen schnell«. Annette Bruhns, Ansgar Siemens
Foto des Opfers. Er schreibt: »Dann fick Quellen, die er nicht nennen könne. Das
ich diese verlogene Bande morgen.« Nom-
mensen erwidert, man tue etwas dafür,
dass »Gutmenschen« nicht durchkämen,
und schickt dem Journalisten Bilder des
im Gesicht verletzten Opfers. Am 16. Au-
gust nennt Modrow in einem Artikel die
Herkunft des ursprünglich Verdächtigen
i l V L H !
Vorte
und Details zum Opfer.
Im August 2019 fliegt die Verbindung
.2021
von Reporter und Polizist auf. Es gibt
V LH : bis 28.02
Durchsuchungen bei Nommensen. Die g mit ttung
»Kieler Nachrichten« eilen ihm zu Hilfe. Verlängerun u erersta
in die e S t e
Jetzt mein
Groß transportiert die Zeitung den Vor-
wurf der Gewerkschaft, wegen der Rocker-
Das ist
affäre wolle die Regierung den kritischen
Funktionär »mundtot« machen.
In den »Lübecker Nachrichten«, Schwes-
terblatt der »Kieler Nachrichten«, assis-
tiert SPD-Oppositionschef Ralf Stegner,
damals Vizechef der Bundespartei. Die
Landesregierung gefährde »das Vertrauen
in den Rechtsstaat«, sagt er.
Im April schlägt die Affäre in der Regie-
rung ein. Ermittler haben die gelöschten
WhatsApp-Nachrichten auf Nommensens
Handy wiederherstellen können. Nun
wird klar, wie eng der Kontakt des Repor-
ters Modrow zu Innenminister Grote war.
Im Chat mit seinem Kumpel Nommensen
prahlte der Journalist damit, er habe den
Politiker in der Hand.
Zum Beweis leitete er dem Polizisten
vertrauliche Korrespondenz mit dem Mi- Aufnahme-
nister weiter. Ministerpräsident Daniel gebühr sparen
Günther (CDU) stellt Grote zur Rede. Der mit dem Stichwort
bestreitet vertrauliche Kontakte, dabei „Spiegel“
sind sie in der Akte nachzulesen. Der Mi- Gültig bis 28.02.2021
B
raunschweig, im Juni 2013. Anja leine McCann. Das dreijährige Mädchen Und nun, nach 13 Jahren, die Lösung?
K. besucht gemeinsam mit ihrer verschwand im Frühjahr 2007 aus einer Der Mörder ein Mann aus Deutschland,
Tochter einen Mann, den sie über Ferienanlage im portugiesischen Praia da den Ermittler lange nicht im Blick hatten,
das Internetportal Chat2000 ken- Luz. »Wir gehen davon aus«, sagt ein obwohl er damals schon einschlägig vor-
nengelernt hat. Christian B. lebt mit zwei Sprecher der Behörde, »dass das Mäd- bestraft war und in der Nähe des Tatorts
Hunden im Hinterzimmer eines herunter- chen tot ist.« gewohnt hatte?
gekommenen Kiosks in Braunschweig. Kurz bevor Madeleine McCann ver-
Viel sei mit ihm nicht gelaufen, nur einmal Praia da Luz, im September 2020. Stra- schwand, war ein Prepaid-Handy mit der
seien sie sich körperlich nähergekommen, ßenlaternen tauchen die weißen Häuser portugiesischen Nummer 00351 912 730
wird Anja K. später der Polizei sagen. Sie und die Reste einer antiken Mauer in ein 680 in die Funkzelle des Tatorts einge-
habe ihn als kinder- und tierlieb kennen- warmes Licht. Vom Strand geht man, an loggt. Es war, wie sich erst viel später he-
gelernt. der Kirche vorbei, nur ein paar Hundert rausstellen sollte, das Handy von Christian
Als sie am Abend wieder zu Hause ist, Meter zum Luz Ocean Club, einer weit- B. Mit wem hat er damals 30 Minuten lang
schickt sie ihm eine SMS: »Wir sind gut läufigen Appartementanlage mit hübschen telefoniert? Einem Komplizen? Oder je-
angekommen, es war wieder mal schön, Rundbögen. mandem, der ihm ein Alibi geben könnte?
die Zeit mit dir tut mir gut! Du bist für Der Kieler Rechtsanwalt Friedrich Sein Rechtsanwalt will sich dazu nicht äu-
mich auch jemand besonderes. Ich bin Fülscher, der Christian B. verteidigt, ist ßern. Er sagt: »Mein Mandant hat diese
froh, dich zu kennen.« hierhergereist. Er will sich ein Bild vom Tat nicht begangen.«
Für die Tochter, vier Jahre alt, war der Tatort machen, eigene Erkenntnisse ge- Vom Fenster des Schlafzimmers geht Fül-
Besuch ein Albtraum. Als die Polizei im winnen. Vor einem Fenster mit herunter- scher um die Ecke, zu der Stelle, an der da-
nächsten Sommer den Kiosk durchsucht, gelassenen Rollläden an der Nordseite der mals mehrere Zeugen standen. In einer
entdeckt sie eine Digitalkamera. Auf der Appartementanlage bleibt er stehen. Es Sackgasse liegt die Rückseite des Apparte-
SD-Karte sind neben Hunderten Bildern gehört zur Erdgeschosswohnung 5A. Die ments, dessen Terrassentür offen gestanden
und Videos mit Kinderpornos auch Fotos Uhrzeit, die Ruhe in der Seitenstraße – haben soll. Eine Freundin der McCanns
von jenem Besuch gespeichert. Eines zeigt es ist wie damals. sagte aus, einen Mann gesehen zu haben,
die Tochter mit gespreizten Beinen auf ei- Zwischen 21.10 Uhr und 22 Uhr ver- der ein Kind von der Ferienanlage wegtrug.
ner Wiese, B. hat ihre Unterhose zur Seite schwand Madeleine Beth McCann am Fülscher sagt: »Dieser Mann ist später
geschoben und berührt das Mädchen an 3. Mai 2007 aus diesem Zimmer. »Wenn identifiziert worden und hat mit dem Ver-
der Scheide. Auf einem anderen ist zu se- die Zeugenaussagen zutreffen, gab es ein schwinden nichts zu tun.« Der Fall sei voller
hen, wie das Mädchen auf einen Baum Zeitfenster von einer Minute und 30 Se- »Ungereimtheiten und Widersprüche«.
klettert, dazu hält B. seinen erigierten Pe- kunden, in dem das Kind damals entführt
nis ins Bild. worden sein könnte«, sagt Fülscher. »Ma- Würzburg, in den Siebzigerjahren. Chris-
Das Landgericht Braunschweig verur- ximal hatte der Täter drei Minuten.« tian B. war ein Jahr alt, als er gemeinsam
teilt Christian B. im Herbst 2017 wegen Fotos der portugiesischen Ermittler mit seinen Brüdern in eine Adoptivfamilie
»sexuellen Missbrauchs eines Kindes« so- zeigen ein schlichtes Schlafzimmer mit in Würzburg kam. Einer Sozialarbeiterin
wie des Besitzes von 391 Kinderporno- einer Kiefernholzkommode. In der Mitte erzählte er später von seiner kaputten
grafiefotos und 68 -videos zu einem Jahr des Zimmers stehen zwei Reisekinder- Kindheit: Schläge und andere Bestrafun-
und drei Monaten Haft. Das Gericht setzt betten für die Zwillinge der Familie gen seien die bevorzugten Erziehungsme-
die Strafe ausdrücklich nicht zur Bewäh- McCann, damals zwei Jahre alt. Daneben: thoden gewesen, jeden Tag seien seine
rung aus. Es sei davon auszugehen, dass das Bett von Madeleine, die blau-weiß Brüder und er misshandelt worden. Mit
der Verurteilte ein »Bewährungsversager« karierte Bettdecke ist ordentlich zurück- 14 Jahren zog er in die Wohngruppe eines
sei, befindet die Kammer. geschlagen. Kinderheims. Dort sei es ihm besser er-
Christian B. ist in seinem Leben schon Seit jenem Abend vor mehr als 13 Jah- gangen, sagte er.
oft bestraft worden. Zurzeit sitzt er in ei- ren ist das Mädchen verschwunden. Noch Nach der Hauptschule begann Christian
nem Gefängnis in Kiel, weil er kiloweise in der Nacht informierten die Eltern B. eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker.
Marihuana nach Sylt geschmuggelt hat. Zu- Kate und Gerry McCann den britischen Er brach sie ab, weil er unbedingt weg aus
dem wurde er im Dezember zu sieben Jah- Fernsehsender BBC und weitere Medien. Deutschland gewollt habe. Mit 18 sei er
ren verurteilt, weil er eine 72-jährige Ame- Sie starteten eine europaweite Suche nach nach Portugal »ausgewandert«, dort habe
rikanerin in Portugal überfallen und ver- ihrem Kind. Prominente wie David er bei einer deutschen Zeitung, in Hotels
gewaltigt haben soll; dieses Urteil ist noch Beckham spendeten, der damalige Papst und Autowerkstätten gejobbt, so B.
nicht rechtskräftig. Benedikt XVI. empfing die Eltern im Tatsächlich ist Christian B. damals nicht
Die große Frage ist: Wird noch ein Vatikan und segnete ein Foto ihrer ver- ausgewandert, sondern geflohen. Die erste
Urteil hinzukommen? Diesmal lebens- missten Tochter. Später gerieten die Eltern Strafe, damals noch zur Bewährung aus-
lang, wegen Mord? Die Staatsanwaltschaft selbst ins Visier der portugiesischen Er- gesetzt, erhielt er schon mit 16. Es ging um
Braunschweig ermittelt gegen Christian B. mittler, eine von so vielen Wendungen in mehrere Diebstähle und Fahren ohne Fahr-
im Fall der vermissten Engländerin Made- diesem Fall. erlaubnis.
McCann um 2007
auf der Eröffnungsfeier der Restaurants
dabei war. »Das hätte ich nie gedacht, ob-
wohl jeder wusste, dass er mit Sicherheit
einen an der Waffel hatte«, sagt die Frau,
55
die noch immer in Portugal lebt. »Wenn
jemand im Jackett rumläuft, einen Jaguar B. vor geliehenem
fährt und großtut, dann aber als Kellner VW-Bus
arbeitet, weißt du, dass du lieber einen gro-
ßen Bogen um ihn machst.«
56
Deutschland
Jahre nicht mit Gelegenheitsjobs, sondern Im Januar 2016 durchsuchte die Poli- Die Ermittler gingen von drei gefilmten
durch Einbrüche und Diebstähle. Im April zei das Gelände der ehemaligen Fabrik. Vergewaltigungen aus und stellten Anfra-
2006 wurden er und ein österreichischer Nachbarn hatten sich über Verwesungs- gen in Portugal. In einem Fall kamen sie
Komplize an einer Tankstelle auf frischer geruch beschwert. Er stammte von weiter: Eine 72-Jährige war 2005 in Praia
Tat ertappt, als sie Diesel an einem Lkw einem toten Hund, den B. dort ver- da Luz in ihrem Haus nahe dem Strand
abzapften. Ein portugiesisches Gericht ver- scharrt hatte. Unter dem Kadaver ent- missbraucht worden. Am Tatort hatte die
urteilte sie zu 258 Tagen Haft. deckten die Beamten ein Stoffetui mit portugiesische Polizei ein Haar sicher-
»Ich habe ihn damals auch im Gefängnis sechs USB-Sticks und Speicherkarten gestellt, das mit einer Wahrscheinlichkeit
besucht«, so erinnert sich Christian P. voller Bilder und Filme, die missbrauchte von 244 Milliarden zu eins Christian B.
»Er klagte über die schlechten Haftbedin- Kinder zeigten. zuzurechnen ist.
gungen und das miese Essen. Weil es im Zu diesem Zeitpunkt war der Kiosk in Helge Lars B. erzählte noch mehr:
Knast keinen Alkohol gab, sollte ich ihm Braunschweig bereits durchsucht worden, Später habe er Christian B. wiedergesehen,
mit Wodka gespritzte Orangen mitbringen, Christian B. drohte wegen der dort sicher- auf dem sogenannten Drachenfestival im
was ich aber nicht wollte.« Da sei B. wü- gestellten Kinderpornos eine Gefängnis- spanischen Orgiva. Da habe Christian B.
tend geworden. strafe. Er flüchtete erneut an die Algarve. eingeräumt, mit dem Verschwinden von
Während der Haft erhielt B. die Kün- In São Bartolomeu de Messines nahmen Madeleine McCann zu tun zu haben.
digung für das Haus, das er in Praia da ihn portugiesische Ermittler 2017 fest. War es wirklich so? Ist das die Lösung
Luz gemietet hatte. Christian P. wollte Mehrere Kinder hatten berichtet, dass ein des Kriminalfalls, der weltweit so viele
seinem Freund helfen und ein paar Kisten Mann sein Glied entblößt und obszöne Be- Schlagzeilen gemacht hat wie kaum ein
für ihn unterstellen. »Da waren aber so wegungen gemacht habe. B. wurde nach anderer? Indizien sprechen gegen Chris-
ekelige CDs mit Ferkeleien wie Tier- Deutschland ausgeliefert. tian B., aber über Schuld oder Unschuld
pornos dabei, mehr als hundert CDs«, wird erst ein Gericht entscheiden, falls es
sagt Christian P. Er habe das ganze Zeug Mit Madeleine McCann und ihrem Ver- denn überhaupt zu einer Anklage kommt.
weggeworfen. Christian B. habe ihn an- schwinden hatte ihn bis dahin noch kein Noch gehen die Kriminalbeamten im-
schließend nicht mehr sehen wollen, »so Ermittler in Verbindung gebracht. Die mer neuen Spuren nach, prüfen immer
wütend war der«. Spur entstand, weil der notorische Krimi- neue Fälle. Portugiesische Behörden ha-
Nach seiner Entlassung lebte B. in ei- nelle B. selbst Opfer eines Verbrechens ben ihre Kollegen über ein zehnjähriges
nem alten VW-Bus. Einige Monate später geworden war. Mädchen aus Deutschland informiert, das
verschwand Madeleine McCann, was Als er in Portugal wegen der Diebstähle vier Wochen vor Madeleines Verschwin-
damals niemand mit ihm in Verbindung inhaftiert war, hatten zwei Diebe sein Haus den an einem Strand in der Nähe von Praia
brachte. in Praia da Luz heimgesucht. Sie stamm- da Luz missbraucht wurde. Die heute
ten ebenfalls aus Deutschland und hatten 23-jährige Frau sagte aus, sie sei sich in-
Sachsen-Anhalt, 2010. Christian B. war es auf die Beute von B. abgesehen. Einer zwischen zu 99 Prozent sicher, dass es sich
viel herumgefahren, in einem großen von ihnen, Helge Lars B., meldete sich um B. gehandelt habe. Zudem meldete
amerikanischen Reisemobil der Marke mehr als zehn Jahre später, im August 2017, sich eine Frau aus Irland und beschuldigte
Winnebago. Nun kaufte er sich wieder aus einem griechischen Gefängnis bei Scot- B. als den Mann, der sie 2004 an der Al-
eine feste Unterkunft. In Sachsen-Anhalt, land Yard. garve überfallen und vergewaltigt habe.
in der Gemeinde Am Großen Bruch, er- Ein paar Monate danach besuchten »Mein Mandant will sich zu den laufen-
warb er für 20 000 Euro das Gelände einer ihn deutsche Fahnder in Griechenland. den Ermittlungen nicht äußern und bestrei-
alten Kistenfabrik. Helge Lars B. erzählte ihnen, dass er nie- tet die Vergewaltigung der 72-jährigen Frau
B. hatte in dieser Zeit große Pläne. Er mals mit dem »Oberkellner« befreundet in Portugal«, sagt Rechtsanwalt Fülscher.
wolle dort einen Campingplatz eröffnen, gewesen sei, den er ein paar Monate vor
erzählte er einer Freundin. Tatsächlich der Verhaftung kennengelernt habe. Als Portugal, im September 2020. Man fährt
dealte er mit Drogen, kaufte kiloweise Christian B. im Gefängnis gesessen habe, rund eine halbe Stunde von Praia da Luz
Marihuana bei einem Dealer in Oranien- seien er und ein Komplize nach Praia da zu dem Mann, der Christian B. damals den
burg und verkaufte es auf Sylt. Die Dro- Luz gefahren. Zunächst hätten sie 200 bis VW-Bus geliehen hat. Der Schrauber aus
gengeschäfte flogen auf, gegen ihn wurde 300 Liter Diesel aus dem Tank hinter dem Deutschland lehnt mit langen grauen Haa-
ermittelt. Christian B. zog in den Kiosk Haus abgezapft, dann das Haus durch- ren und einem grauen Vollbart an einem
nach Braunschweig. sucht. Es sei voller Diebesgut gewesen, Auto mit platten Reifen, die Hände sind
In Internetchats, die aus dieser Zeit Kameras, Kleidung, Laptops. Im Kleider- ölig, die Hose zerrissen.
stammen, schrieb er nicht als »Wölkchen«, schrank habe er eine Schwimmbrille ge- Auf dem abgelegenen Hof in der Nähe
sondern »wahnsinnderholger«. Auch über funden, die merkwürdigerweise von innen von Messines stehen rostige VW-Golf und
seine Perversionen, etwa im Chat mit mit grauer Farbe bemalt gewesen sei. Er Mercedes, wie sie in den Achtzigerjahren
»panikspatz66«. habe zwei Videokameras und etwa 20 Kas- modern waren. »Zu Christian will ich
wahnsinnderholger: »will endlich ne setten mitgenommen, sein Komplize einen nichts sagen«, sagt der Mechaniker gleich,
kleine ficken!« Revolver. »der war halt ab und zu hier.« Die ganze
panikspatz66: »wer will das nicht« Auf einigen Videos, so erzählten es bei- Aufregung könne er nicht verstehen.
wahnsinnderholger: »etwas kleines ein- de Diebe später übereinstimmend in Mit dem weiß-gelben VW-Bus seien sein
fangen und dann tagelang benutzen, das Braunschweig vor Gericht, hätten sie ge- Sohn und er noch einige Jahre lang herum-
wärs …« sehen, wie Christian B. eine Frau, zwi- gefahren, nachdem B. ihn zurückgegeben
panikspatz66: »… ist auch nicht unge- schen 70 und 80 Jahren alt, vergewaltigt hatte, erzählt der Mann. Vor etwa zwei
fährlich.« habe. Eine andere Aufnahme habe ein Jahren kamen dann Beamte des Bundes-
wahnsinnderholger: »och wenn die be- Mädchen gezeigt, etwa 14 Jahre alt, das kriminalamtes vorbei und holten den Bus
weise hinterher vernichtet werden …« an einen Holzpfosten gefesselt gewesen ab. Sie glauben, dass Madeleine McCann
panikspatz66: »mm« sei. Die Aussagen der beiden Männer wi- damit entführt worden sein könnte.
wahnsinnderholger: »wenn zum Bei- dersprachen sich in Teilen; die Filme sind Hubert Gude
spiel der deepthroat zu lange dauerte …;)« nicht mehr aufzufinden.
Sendung »Mitternachts- wegen habe ich vorgeschlagen, den Kar- »Kein Blut für Öl« oder Ähnliches. Daraus
spitzen«. neval in den Mai oder Juni zu verschieben, ist die Tradition der Geisterzüge entstan-
dann ist die Situation vermutlich besser. den, die es bis heute gibt. Die Menschen
SPIEGEL: Herr Becker, Sie sind Kabarettist Verzichten lässt sich viel besser, wenn auf der Straße haben sich einfach riesig
und eingefleischter Kölner Karnevalist. man weiß, dass man es später doch noch gefreut, dass der Karneval doch stattfindet.
Straßenumzüge und die großen Sitzungen bekommt. Mich hat das an die Schilderungen von
werden diesmal nicht stattfinden. Wie lus- SPIEGEL: Wie gehen Sie als Kabarettist Karneval nach dem Krieg erinnert, als die
tig ist die Absage des Karnevals? dieses heikle Thema an? Leute einen Zug durch die Schuttberge der
Becker: Gar nicht. In manchen Städten mit Becker: Ich behaupte: Der Karneval in zerstörten Stadt machten. Das war nach
vielen Protestanten wäre das verkraftbar. Köln ist eigentlich sicher. Da ist nichts dem Motto: Hurra, wir leben noch, und
Aber in Köln? Da gerät der Psycho-Haushalt passiert im Frühjahr. Das waren doch nur jetzt gucken wir in die Zukunft. Ich denke,
der Stadt schwer durcheinander. Denn im die Karnevalsflüchtlinge, die uns die Ka- genau das wäre in Corona-Zeiten auch
Kölner schlummert der Karneval das ganze tastrophe eingeschleppt haben! Die sind wichtig.
Jahr. Wie ein Grizzlybär in der Winterruhe. abgehauen vom Karneval zum Skifahren SPIEGEL: Vergleichbar ist die Situation
Nur nicht dranpacken, sonst explodiert er. nach Ischgl. Ohne die hätten wir die ganze aber nicht.
SPIEGEL: Woher kommt diese Leiden- Pandemie nicht. Gut, es gab Heinsberg, Becker: Natürlich nicht, wir haben keinen
schaft für den Karneval? aber wer fährt schon dorthin zum Feiern? Krieg, sondern nur Verzicht. Und der war
Becker: Die Lust am Leben ist hier tief Kölner Karneval und Kölner Klüngel hin- in der Coronakrise gar nicht so schlimm:
verwurzelt, man will schon auf Erden das gegen haben Corona schon immer effektiv Wir waren ja viel näher an Schweden als
Paradies. Und: Jeder kann beim Karneval bekämpft. an Italien oder Frankreich, wir konnten
mitmachen. Das ist eine große Gemein- SPIEGEL: Wie das? noch vor die Tür und uns zumindest zu
schaft, der Kölner nimmt sich dann eigent- Becker: Der Kölner Klüngel hat als Mot- zweit treffen. Man sollte nicht nur jam-
lich jeden unter seine warme Decke. Die to eine Hygienemaßnahme: Eine Hand mern, sondern nach vorn schauen und an-
Integrationskraft des Karnevals ist sehr wäscht die andere. Und die Sicherheitsre- packen. Das kann man ganz gut vom Kar-
groß. Der Karneval hat eine gute Wirkung geln lassen sich schon an Karnevalsritualen neval lernen.
auf die psychische Gesundheit. Es müsste erkennen – die Kamelle wird eben nicht SPIEGEL: Im Rückblick hatte die Absage
ihn eigentlich auf Arztrezept geben. persönlich überreicht, sondern wegen der des Zuges 1991 also etwas Gutes, weil sie
SPIEGEL: Haben Sie dennoch Verständnis Abstandsregeln geworfen. den Karneval veränderte?
für die Absage? SPIEGEL: Schon einmal ist der Straßenkar- Becker: Not macht eben erfinderisch. Ich
Becker: Ich glaube sogar, der Karneval neval abgesagt worden, 1991 während des finde, der Karneval hat seitdem eine etwas
musste abgesagt werden. Zum Karneval Golfkriegs. Damals haben Sie als Präsi- andere Richtung genommen. Viele wuss-
ten das auch hinterher zu schätzen. So
etwas kann jetzt wieder passieren. Die Co-
rona-Einschränkungen zeigen ja, was im
Leben wirklich wichtig ist.
SPIEGEL: Was denn?
Becker: Sicher nicht der Flug auf die Ma-
lediven oder Shopping in New York. Wich-
tig sind letztlich Beziehungen. Andere
Menschen, Freunde. Und genau das macht
den Karneval aus. Wie viele Paare ha-
ben sich dort kennengelernt? Da kommt
»ElitePartner« nicht mit.
SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, dass
2021 erneut spontan ein alternativer Stra-
Oliver Multhaup / picture alliance / dpa
»Das Immer-mehr-und-
mehr ist falsch«
Nächste Woche im SPIEGEL: Die Stilbeilage S-Magazin beleuchtet, wie Corona unser
Verständnis von Genuss, Luxus und Lebensqualität auf den Prüfstand stellt.
High Fashion im erzwungenen Wandel: Wenn die Branche nicht untergehen will, muss sie sich neu erfinden
Der Modedesigner Dries van Noten, 62, hat zu Beginn der die Fast Fashion kopieren. Das Immer-mehr-und-mehr ist
Pandemie einen offenen Brief initiiert, der eine Revolution falsch. Covid-19 hat unsere Sicht auf Luxus verändert. Des-
der Fashion-Industrie fordert. halb müssen wir neue Standards finden, ein neues Normal,
das nur die Luxusbranche definieren kann! Wir sind mitten-
SPIEGEL: Herr van Noten, Sie fordern Ihre Kollegen zu mehr drin in dem Prozess. Schließlich können wir ja nicht zurück
Nachhaltigkeit und einem zur Lebenswirklichkeit passenden zu dem System vor Covid-19. Außerdem haben alle schon
Saisonrhythmus auf. Was hat Sie bewogen? genügend Kleider im Schrank.
Van Noten: Schon vor Covid-19 war ja offensichtlich etwas
falsch mit der Mode, sie hat sich überdosiert: zu viele Pro-
dukte, zu viele Kollektionen, zu wenig Verbindung zum Kun-
S-Magazin. Das Stilmagazin vom SPIEGEL Oktober 2020 www.spiegel.de/leben/stil/s-magazin
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Stress
Wie oft darf ich Pizza
essen, Herr Kabisch?
SPIEGEL: Die Tiefkühlindustrie erwartet
für dieses Jahr Rekordabsätze, schon
2019 seien mehr als eine Milliarde Fertig-
pizzen in Deutschland verkauft worden.
Kabisch: Verständlich. Sie lassen sich
einfach zubereiten und liefern schnell
eine große Menge Kalorien. Gerade im
Homeoffice, in dem viele Menschen
wegen Corona arbeiten mussten in die-
sem Jahr, hilft Fertigpizza unseren Alltag
zu organisieren und reduziert Stress.
SPIEGEL: Zu viel Stress, um Kochen zu
können?
Kabisch: Unsere Gesellschaft leidet nun
mal unter Zeitmangel. Wir müssen wie-
der lernen, dass Nahrungsaufnahme Zeit
braucht, dass Essen ein wertvolles Ereig-
nis ist. Wir müssen uns die Zeit zur Vor-
bereitung, zum Kauen und zum Verdau-
en nehmen. Aber es gibt nicht die eine
Familienalbum Papiere in einen Plastikbehälter, der gute Ernährung, das ist ein Irrglaube.
auf ein Förderband gestellt wurde, Und man wird nicht automatisch gesün-
Plastikkugeln, so wie es heute mit dem Handgepäck der, nur weil man niemals eine Pizza isst.
beim Sicherheitscheck am Flughafen SPIEGEL: Wie viel Fertigpizza darf ich
1991 geschieht. Das Förderband bestand denn ungefähr essen, bevor es gesund-
aus kleinen schwarzen Plastikkugeln, heitsschädlich wird?
Klaus Rothbarth, 77, Berlin: darauf rollten die Ausweise zu den Kabisch: Das Produkt enthält – wie vie-
Die junge Frau mit der Jeansjacke ist Beamten. Dann musste man warten. le andere Fertiglebensmittel auch – viele
meine Tochter Gesa. Sie steht in den Die Sonne brannte durch die Auto- einfache Kohlenhydrate und gesättigte
verlassenen Baracken des Kontroll- scheiben, die Kinder auf der Rück- Fettsäuren, außerdem zu viel Salz. Das
punkts Dreilinden. Der war einer der bank weinten. Manchmal ließen sie trägt zu Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck
wichtigsten Grenzübergänge für West- uns sechs Stunden im voll bepackten und Übergewicht bei. Eine »gesunde
Berliner als Transitreisende durch die Auto sitzen. Jeder aus dem Westen Dosis« kennt niemand, je seltener, desto
DDR, nahe Potsdam. Man sieht auf schien verdächtig. Wenn ich an Drei- besser.
dem Bild die zerschlagenen Scheiben, linden denke, werde ich noch heute SPIEGEL: Es gibt gesündere Gerichte, die
den Unrat und den Müll. Als die Mau- wütend. auch schnell gehen, warum ausgerechnet
er fiel, sind die Volkspolizisten ein- An jenem Tag im Frühjahr 1991 Fertigpizza? Haben wir Deutschen einen
fach gegangen und haben alles stehen durchsuchte Gesa den Müll der DDR. schlechten Geschmack?
und liegen gelassen. Irgendjemand hatte randaliert und die Kabisch: Ach. Da sind wir Deutschen
Ich bin in West-Berlin geboren und Förderbänder zerstört, die kleinen gar nicht so besonders. Dass uns die Fer-
aufgewachsen. Der Kontrollpunkt schwarzen Kügelchen lagen überall tigpizza schmeckt, ist evolutionär
Dreilinden war für mich immer ein auf dem Boden herum. Gesa sammel- bedingt: Wir sind darauf programmiert,
Symbol für Kontrolle und Schikane. te sie auf. Sie zog sie auf einen Faden Kalorien zu bunkern. Fettige, aber auch
Wenn wir nach Italien in den Urlaub und machte daraus eine Halskette. Als süße Speisen schmecken uns deshalb
fuhren oder zu Verwandten und habe sie gespürt, dass man aus etwas besonders gut. Behalten Sie ein Stück
Freunden nach Stuttgart oder Mün- Schlechtem etwas Gutes machen kann. Tiefkühlpizza mal länger im Mund. Es
chen, mussten wir hier den Westen Es ist fast 30 Jahre her, aber sie trägt schmeckt nach kurzer Zeit süß wegen
verlassen. Man fuhr damals ein Stück sie manchmal noch. Die Kette sieht der Kohlenhydrate. Das mögen wir.
über die Autobahn, dann sah man schön aus. Wertvoll, irgendwie. SPIEGEL: Wann haben Sie das letzte Mal
meistens schon den Stau, die Autos Aufgezeichnet von Max Polonyi eine Pizza aus der Kühltruhe gegessen?
reihten sich oft kilometerlang anei- Kabisch: Vor mehr als vier Wochen.
nander. Die Volkspolizisten saßen in ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie
Salami. Ich war etwas im Stress. MAP
den kleinen Häuschen und kontrol-
Klaus Rothbarth
Die Beute
Heimatverein Strauße 09 im Vorstand. Brauchtum sei ihm
wichtig, sagt König. Das Saarland sei das beste Bundesland
der Welt, er kenne hier im Ort fast jeden. In so einer Gegend
hätten die Leute keine Feinde. Das habe er zumindest ge-
dacht.
Warum ein Informatiker aus dem Saarland Er erzählt von jener Nacht, die ihn zum Verdächtigen
unter Mordverdacht stand machte, die dazu führte, dass in der Lokalzeitung sein Name
in Verbindung mit einer »Mördersuche« stand. Er streichelt
seine schwarze Bracke Chipsy und schüttelt dabei immer wie-
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führen nun durch die Ausstellung. Nie- Die Privaten tragen immer noch ein teristischen Erscheinungen der modernen
mand möchte sein Personal verlieren, die hundertprozentiges Risiko. Sie beklagen städtischen Zivilisation«, schreibt Wolf-
eingeübten Abläufe sollen nicht in Verges- den bürokratischen Aufwand, um an die gang Schivelbusch in seiner »Geschichte
senheit geraten. Corona-Hilfen zu kommen, den Personal- der künstlichen Helligkeit«. Aus den Hof-
Aber nur weil die Klubs fehlen, ist der aufwand, den sich Kleinverdiener nicht festen des Adels wurden die bürgerlichen
Wunsch nach Rausch nicht abgestellt. An immer leisten können. Vergnügungsparks – und später dann die
der Berliner Museumsinsel kommt es bei- Im Sommer haben die Veranstalter be- antibürgerlichen Technobunker.
nahe Wochenende für Wochenende zu reits viel Geld verloren. Anders als in an- Da werden die Schranken des Alltags
Rangeleien zwischen betrunkenen Schü- deren Ländern gab es in Deutschland »ein Stück weit« (Gesundheitsminister
lern und der Polizei, manchmal fliegen kaum Open-Air-Veranstaltungen. Die Fes- Jens Spahn) gehoben. Da schaut man nicht
Bierflaschen. Und in der Hasenheide, ei- tivalsaison, die sonst das Geld einspielt, so genau hin. Da spricht es sich leichter
nem Park zwischen den Stadtteilen Neu- mit dem Künstler, Musiker und Veranstal- mit Leuten, die man bei Tageslicht eher
kölln und Kreuzberg, haben die Beamten ter durch die dunkle Jahreszeit kommen, meiden würde.
mittlerweile so viele Soundanlagen be- fiel aus. »In der Symbolik und den Mythen der
schlagnahmt, dass der Bezirksbürgermeis- Jetzt droht der Herbst, der Winter. Am meisten Völker ist die Nacht das Chaos, der
ter Martin Hikel witzelte, die Polizei könne 25. Oktober endet die Sommerzeit, die Schauplatz der Träume«, schreibt Schivel-
demnächst ihren eigenen Klub aufmachen. Nächte müssten länger werden. Aber es busch, »sie wimmelt von Gespenstern und
Daraus wird wohl nichts werden. Auf sind nicht mehr dieselben Nächte. Es wird Dämonen, wie das Meer von Fischen und
die Schließung der Klubs im März folgen nicht nur eine dunkle Zeit, es wird auch Seeungeheuern. Sie ist weiblich, wie der
nun die Einschränkungen für die Bars. eine leere. Tag männlich ist, und wie alles Weibliche
Die Stadt wird von Abend zu Abend birgt sie Ruhe und Schrecken zugleich.«
stiller, je kälter die Nacht, je ungemütlicher Die künstliche Helligkeit hat die west-
es vor den Türen ist. In Frankfurt, Mün- Ungute Nachtgeschichten liche Zivilisation ebenso stark verändert
chen, Stuttgart das gleiche Bild, auf St. Pau- Die Nacht hatte schon immer einen wie Dampfkraft und Telegrafie. Längst
li wie in St. Anton. Es ist wie beim Älter- schlechten Ruf, von Anfang an. »Und Gott geht es in Großstädten eher darum, sich
werden: Jedem Exzess wohnt plötzlich sah, dass das Licht gut war«, heißt es in gegen die Herrschaft der Photonen zur
eine Wehmut inne, weil nichts mehr so ist der Schöpfungsgeschichte. So blieb es. Das Wehr zu setzen. Nicht nur Astronomen,
wie einst. Die Unschuld ist weg. Es ist, als »finstere« Mittelalter wurde von der »Auf- auch Schlafforscher und Chronobiologen
ob sich die Nacht aus der Öffentlichkeit klärung« abgelöst. Und spätestens seit der beklagen die Folgen der Lichtverschmut-
zurückzieht. Sich verkriecht in die eigenen Nürnberger Elektrobastler Sigmund Schu- zung. Den Städten wird das Schummerige
vier Wände, in Sofaecken, zwischen Kopf- ckert am 7. Juni 1882 den Schalter umlegte ausgetrieben, das Zwielicht samt der Grau-
hörer. Es droht – das Ende der Nacht. zur ersten dauerhaften elektrischen Stra- zone zum Verruchten.
ßenbeleuchtung, ist die Nacht auch in Ausgerechnet in der kürzesten Nacht
Deutschland auf dem Rückzug. der nördlichen Halbkugel, jener zum
Die Nacht ist in Gefahr Klubs und Bars sind sehr eigene, sehr 21. Juni, zeigte die Nacht ihr hässliches
Steffen Berkhahn, alias Dixon, ist einer spezielle Orte. Sie locken Menschen aus Gesicht. In der Stuttgarter Innenstadt lie-
der erfolgreichsten House-Music-DJs der der Provinz in die Stadt, seit je. »Das ferten sich einige Dutzend überwiegend
Welt, mit rund hundert Auftritten im Nachtleben, das sich seit dem 18. Jahrhun- junge Männer eine heftige, teils brutale
Jahr – damals, vor der Pandemie. Jetzt er- dert in den europäischen Metropolen he- Schlägerei mit der Polizei. Es kam zu Plün-
zählt er von einem Auftritt in Basel, von rausbildete, (wurde) zu einer der charak- derungen, Autos wurden demoliert, es war
vorbezahlten Tickets wie beim Opernbe- heiß, eng, laut. Gewalt als pervertierte
such, von QR-Codes und Kontrollanrufen Form der Ekstase.
und dreifacher Kontrollschleife. Es ist gro- Auslöser war eine Polizeikontrolle gewe-
tesk: Vor der erhofften Anonymität der sen. Ministerpräsident Winfried Kretsch-
Nacht steht deren völlige Ausleuchtung. mann stand erschüttert vor dieser »Gewalt-
»Ist das die Zukunft, die wir zulassen orgie« – und vergaß vor Schreck, dass
wollen?«, fragt Berkhahn, es klingt erstaunt, er selbst in seiner eigenen maoistischen
resigniert, aber auch irgendwie zuversicht- Jugend ganz andere Gewaltorgien zumin-
lich. Es wäre immerhin eine Zukunft. Bes- dest geduldet hatte.
ser als das Nichts. Der Stuttgarter Grünenstadtrat Marcel
Die Berliner Clubcommission hat Ver- Roth sieht in den Covid-19-Beschränkun-
anstaltern eine Checkliste an die Hand gen einen Hauptgrund für die Randale.
gegeben. Sie liest sich wie vom Bundes- Die Brutalität erklärt sich für ihn
verwaltungsgericht formuliert und ist ein aus einem toxischen Verständnis von
verzweifelter Versuch zu retten, was zu Männlichkeit, nicht aber der Zeitpunkt:
retten ist. Das Virus hat die Nacht genau »Diese Leute waren seit Monaten ohne
da erwischt, wo sie am empfindlichsten ist, ihre Klubs und Jugendzentren, ohne die
René Lohse / DER SPIEGEL
in ihrem Kern: dem Wunsch nach mensch- üblichen Plätze, wo sie etwas trinken
licher Nähe. und die Nacht durchtanzen können. Also
Die Entwicklung betrifft keine Randgrup- sind sie mit selbst gemischtem Wodka-
pe. Die Veranstaltungsbranche, Deutsch- Cola an den Eckensee.« Die Bilder von
lands sechstgrößter Wirtschaftszweig, hat den Floyd-Protesten in den USA waren
längst die Alarmstufe Rot verkündet. Wer noch frisch.
nicht auf staatliche Zuwendungen hoffen »Der Wunsch, sich fallen »Der Jugend ist die Suche nach Rausch
kann, für den bedeutet eine halb leere
Konzerthalle eben nicht nur getrübten Ge-
zu lassen, geht nicht weg.« innewohnend«, sagt der 28-jährige Stadt-
rat. Auch er vermisse die Nacht, diesen
nuss. Da geht es um die Existenz. Steffen »Dixon« Berkhahn, DJ tranceartigen Zustand, wenn alle um den
DJ herumstehen, dicht an dicht und doch zung, Rausch und sexuellem Versprechen himmel so verheißungsvoll bunt wie vor
jeder selbstverloren in seinem eigenen Uni- und kaum künstlich herzustellen. Jeden- Corona. Aus den Bars schwappt Musik
versum. falls nicht von einer Abteilung für kom- nach draußen und vermischt sich zu einem
»Nun ja«, sagt Roth. Eine der ersten munales Stadtmarketing. Brei aus Schlager, Techno und Achtziger-
Maßnahmen nach den nächtlichen Aus- Es gibt keine Formel dafür. »Es geht an Hits, und doch ist etwas anders. Der
schreitungen sei übrigens Aufklärung ge- diesen Orten darum, sich für eine Weile Rausch ist nach wie vor zu haben, aber
wesen: »Das Land, dem die Flächen gehö- zu vergessen«, sagt Norbert Bisky, einer die neuen Regeln, das spürt man, haben
ren, hat ein neues Beleuchtungskonzept der wichtigen deutschen Maler der Gegen- ihn an die Leine genommen.
umgesetzt.« Flutlicht und Scheinwerfer ge- wart und Nachtschwärmer. »Du suchst die Im Shooter’s ist Happy Hour, »Alle
gen junge Männer, die einen Ort und ein Transzendenz. Du möchtest aus dir heraus Cocktails nur 5 Euro« steht da geschrieben,
Ziel suchen. und in einen Zustand der Entgrenzung und dazu gibt es Kurze namens »Orgasm«,
Die Obrigkeit wartet schon lange auf der Ekstase eintreten.« »Mexikaner« und »BMW«. Aber wer trin-
die Ausleuchtung der dunklen Ecken. In ken will, muss sich zuerst vom Türsteher
Johann Heinrich Jungs »Lehrbuch der registrieren und belehren lassen: Hier gilt
Staats-Polizey-Wissenschaft« findet sich Rausch mit Regeln Maskenpflicht. Getrunken wird nur am
1788 die Feststellung: »Jeder, der sich zu Freitagnacht in Hamburg-St. Pauli. Zwei Platz. »Und es ist Tanzverbot. Viel Spaß«,
ungewöhnlicher Zeit, an ungewöhnlichen Tage nach den ersten Berichten über den sagt der Witzbold am Einlass.
Orten und ohne Licht betreffen läßt, muß Ausbruch in der Bar Katze im benachbar- Drinnen läuft »I Wanna Dance With
sich der strengsten Untersuchung unter- ten Schanzenviertel läuft die Große Frei- Somebody« von Whitney Houston. Alle
werfen.« heit nach und nach wieder mit Partygäs- paar Minuten muss ein Mitarbeiter wie
Das gilt 1788 nicht weniger als 2020 in ten voll. Da schwanken die ersten Jung- ein Kindergärtner von Tisch zu Tisch lau-
Stuttgart und in den Brachen und Parks gesellen über die legendären 350 Meter fen und die Betrunkenen daran erinnern,
Deutschlands. Unter dem Diktat des Virus zwischen Reeperbahn und Paul-Roosen- dass sie ihre Körper still halten sollen. So-
wird der Staat wieder zum Nachtwächter. Straße, von ihren Freunden in Engels- bald er sich umdreht, wippen sie wieder.
Unter dem Schild der (gesundheitlichen) kostüme gesteckt, mit weißer Perücke Druckregulierung ist ein Balanceakt.
Aufklärung wird jetzt, in diesen viralen und rosa Tutu. Da sind ITler aus Lübeck Private Versammlungen können außer
Zeiten, der Nacht zu Leibe gerückt. Ihr auf Betriebsausflug, die sagen: »Man muss Kontrolle geraten, darin liegen Reiz und
wird das Eigentliche genommen: das nicht ja nach dem ganzen Corona auch mal Risiko. Wilde Party, das meint: keine Ner-
Kontrollierbare. Das Zwielichtige. leben.« verei mit Behörden. Freiheit. Aber auch
Denn »Nacht«, das ist eine eigenartige Die Neonleuchten vom Dollhouse und Unvorhersehbarkeit, fehlende Kontrolle
Mischung von Dunkelheit, Tabu, Entgren- dem Safari Bierdorf bespielen den Nacht- und Anonymität. Wahrscheinlich genau
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Gordon Welters / NYT / REDUX / laif
Tanzende, DJ im Technoklub Griessmühle in Berlin: »Ist auch ein Therapieraum, so ein Klub«
das, was in den vergangenen Wochen das Party, die das ganze Wochenende dauere, lere Ebene der Klubs, die Barkeeper und
Infektionsgeschehen getrieben hat. habe eine andere Dynamik als eine Feier, Garderobenleute, aber auch die Flaschen-
die nur ein paar Stunden gehe. Doch wenn sammler und ihre Freunde, drängen auf
das Feiern nicht erlaubt sei, gehe es eben Wiedereröffnung der Klubs.
Kontrollierter Kontrollverlust in die Illegalität. Und wenn es draußen ver-
Die Balance zwischen dem Wilden und folgt werde, würden sich die Leute privat
der Ordnung ist das Geheimnis des Nacht- treffen. Aus epidemiologischer Sicht sei es Kleine Freiheit
lebens. Es geht um Räume, die den Kon- da doch auf jeden Fall besser, die Partys in »Wir sind jetzt eine Große Freiheit mit ge-
trollverlust erlauben, aber selbst einiger- Klubs stattfinden zu lassen, glaubt er. stutzten Flügeln«, sagt Christian Fong. Er
maßen kontrolliert sind. Wie das während Klubbetreiber wissen, wie mit Drogen- steigt im Dollhouse, Deutschlands wohl
einer Pandemie gehen soll, ist unklar. Mas- Unfällen umzugehen ist, Amateure nicht bekanntester Tabledance-Bar, auf eine der
ken, die als Fashion-Element verteilt wer- immer. Im September starb in Hamburg Plattformen und zieht einen durchsichti-
den? Darauf hoffen, dass die Leute sich eine 16-Jährige an einer hoch dosierten gen Duschvorhang zu, den er sich umge-
nicht zu nahe kommen? Im Augenblick lie- »Super-Pille«, die sie bei Freunden einge- legt hat. Fong, 52, ist hier Geschäftsführer.
gen die Hoffnungen zumindest der Berli- nommen hatte. Er führt auch die Geschäfte von vier wei-
ner Klubbetreiber auf Schnelltests an der Bei einigen illegalen »Quarantine Raves« teren Läden auf der Großen Freiheit, vom
Tür. Darauf, dass Partys dann eben Partys im Raum Manchester waren es Drogen- Safari Bierdorf zum Beispiel und dem
der Negativ-Getesteten sind. bosse, die das Soundequipment und die Shooter’s schräg gegenüber.
Steffen »Dixon« Berkhahn hat in Klubs DJs organisierten. Der Verkauf von Ko- Die Duschvorhänge seien Teil seines Hy-
in Shanghai gespielt, in Indien, im Bade- kain, MDMA, Ketamin, Cannabis und gienekonzepts, sagt Fong. Außerdem habe
zimmer eines Rapmoguls in Miami. Wer Lachgasbehältern machte die Veranstal- er mehrere Desinfektionsspender im La-
Platten auflegt, kommt herum. Mehrere tung profitabel. Von ähnlichen Raves in den. Er will nun zeigen, wie das geht: Strip-
Jahre war er der Stamm-DJ des wichtigs- Brixton und Carrington wurden eine Ver- pen in Corona-Zeiten, kontaktlos und mit
ten Klubs von Ibiza, die legendäre Royal gewaltigung und teilweise lebensgefähr- Spuckschutz. »Kopf zwischen die Beine
Albert Hall in London hat er schon in ei- liche Messerstechereien gemeldet. und Schein mit dem Mund übergeben geht
nen Technoklub verwandelt. Doch die Konflikte, wie mit der Situa- nicht mehr«, sagt Fong. Was geht: Strip-
»Der Wunsch, sich fallen zu lassen, ist tion umzugehen ist, ziehen sich auch durch pen nur kontaktlos, mit Mundschutz. Die
nicht abzustellen«, sagt Berkhahn. Er sei die Szene selbst. Die meisten Klubbetrei- Scheine würden jetzt von den Gästen un-
auch überall derselbe. Was sich unterschei- ber sind durchaus verantwortungsbewusst, ter dem Duschvorhang durchgeschoben.
de, seien die Zeitfenster, die dafür zur Ver- sie wollen nicht riskieren, dass ihre Läden Das klappe gut, nur manchmal, erzählt
fügung stünden, und die Erwartungen. Eine als Infektionsorte dastehen. Aber die mitt- eine Kellnerin, wollten Gäste einen Kno-
ten in den Vorhang machen. Die müssten »Viele Betriebe haben wegen Überregu- de Ende August zum Super-Spreading-Er-
dann leider gehen. lierung aufgegeben«, sagt Klee. Die Adres- eignis. Tja, sagt Stephanie Klee: »Das
»Die Leute haben keine Lust mehr, ein- se angeben, möglichst auch noch die Tele- kommt von Pfuscherei.«
geschränkt zu sein. Denen fällt die Decke fonnummer zu Hause? Zur Not geht das,
auf den Kopf in Lübeck und Pinneberg aber in die Separees womöglich nur als
und Norderstedt«, sagt Fong. Und die Jun- »gemeinsamer Haushalt«? Das ist nicht das Standortfaktor Nacht
gen seien eh kaum zu bremsen. »Die sagen Gleiche. Scharf gezogen waren sie nie, die Grenzen
sich: Wenn ich dieses Virus kriege, ist das »Große, sehr gut geführte Häuser wie zwischen Puff und Party, zwischen Ver-
doch nicht schlimm. Dann hab ich viel- das Pascha in Köln haben Insolvenz ange- ruchtheit und dem Thrill des Anderen. In
leicht ein bisschen Fieber, Kopfweh und meldet«, sagt Klee. »Die haben zwar viel den vergangenen Jahren ist die »Nacht«
das war’s.« Er habe noch nie so viel mit Personal, das Kurzarbeitergeld bekommt, sogar zum Lieblingskind des Stadtmarke-
Gästen diskutiert wie in den vergangenen das Hilfsgeld deckt aber nur einen Teil der tings geworden, Lieferantin von Bildern
Wochen. Am Ende seiner Schicht könne Betriebskosten.« für die Imagebroschüren. Das Nachtleben
er nur noch krächzen, sagt Fong. Hinter den Regeln vermutet sie Philis- als Indikator von Urbanität und als Aus-
Fast fünf Monate lang hätten sie den La- tertum. In Berlin, wo die Rotlichtbranche weis subkultureller, toleranter Coolness:
den schließen müssen, jetzt haben sie eine mit am runden Nacht-Tisch sitzt, sind die Auch Pinneberg »never sleeps«.
Auslastung von gerade mal 30 Prozent. Bordelle seit Anfang August wieder geöff- Amsterdam ernannte als erste Groß-
Vor allem auch, weil die Touristen fehlen, net, seit September sogar mit Verkehr. »In stadt 2012 einen »Nacht-Bürgermeister«,
die »besonders sauffreudigen« Skandina- Berlin kennt und schätzt man uns«, sagt London folgte mit seinem »Nacht-Zaren«.
vier und Engländer. »Wenn das noch ein Klee, anders in Regionen, die sie als bür- Inzwischen haben immer mehr Metropo-
halbes Jahr so weiterläuft, sind die Lichter gerlich und verspießt bezeichnen würde: len (und solche, die es werden wollen) ver-
aus«, sagt er. Und zwar bei vielen Läden Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein- gleichbare Einrichtungen.
auf dem Kiez. Westfalen, Baden-Württemberg. Aber kaum eine Stadt hat die Nacht so
Eine Gesellschaft braucht Ventile, mit Die meisten Sexarbeiterinnen aus Ost- zu ihrem Markenkern gemacht wie Berlin.
deren Hilfe kontrolliert Druck abgelassen europa seien während der Krise nach Hau- Als Wahrzeichen ist das Nachtleben an die
werden kann. Dieses quasihydraulische se gefahren. Andere hätten sich auf Anzei- Stelle der Mauer getreten. Manchmal
Weltverständnis ist besonders in der Rot- gen in Tinder verlegt oder seien ins Stra- buchstäblich. Als Dimitri Hegemann sich
lichtszene verbreitet, und Stephanie Klee ßengeschäft abgewandert. »Der Markt hat damals von einem Hausmeister durch die
ist zu lang im Geschäft, um sich über die sich verändert. Die guten Kunden sind Ruine des alten Wertheim-Kaufhauses füh-
real existierende Moral dieses Landes weggeblieben, übergeblieben sind die res- ren ließ, gab es davor eine riesige Brache
noch Illusionen zu machen. »Wo gefeiert pektlosen Kunden, die die Preise gedrückt mit Blick auf die Mauerreste. Hier war
wird, wird auch gefickt«, sagt sie. »Egal und Leistungen verlangt haben, die nicht jahrzehntelang lang die Welt zu Ende ge-
ob Karneval oder Oktoberfest. Was im okay waren. Oder übergriffig wurden. Die wesen.
Bierzelt nicht so geht, wird im Bordell Frauen zeigen es nicht an, weil sie nicht Hegemann, ein typischer Kreuzberger
nachgeholt. Ist doch so.« hätten anschaffen gehen dürfen.« Slacker, der aus der Provinz nach West-
Klee ist eine der Sprecherinnen vom Klee fürchtet, dass ein Teil ihrer Branche Berlin geflohen war, der Musik liebte und
BDS, dem »Bundesverband Sexuelle in den Untergrund gehen oder dort blei- Festivals organisiert hatte, entdeckte den
Dienstleistungen«. In jeder Stadt, sagt sie, ben wird. Wie einst bei der Prohibition. ehemaligen Eingang zum Tresorraum des
»gibt es Klubs mit Räumen oder Ecken, in Mit entsprechenden Risiken. Eine privat Kaufhauses.
denen man mit einer völlig fremden Per- organisierte Sexparty in Berlin-Mitte wur- Es ist einer der mythischen Augenblicke
son etwas machen kann. Was ja ungemein der Berliner Kulturgeschichte. Denn was
viel Spaß bringt. Das ist Karneval!« hier begann, hat nicht nur das Bild der
Und dann war jeden Tag Aschermitt- deutschen Hauptstadt in der Welt geprägt
woch. Alles vorbei. Klee ist ernstlich be- und geholfen, aus einer Musik namens
sorgt um den Triebhaushalt der Republik. Techno ein weltweites Phänomen zu ma-
Sie arbeitet als Sexassistentin, in Senioren- chen. Der »Tresor«, so hieß der Klub, der
heimen und Behinderteneinrichtungen. hier 1991 entstand und rasch weltberühmt
Die Kunden seien völlig verzweifelt. Sie wurde, erfand auch eine neue Art des
erzählt von einem Klienten, der sexuell Nachtlebens.
gut eingependelt war mit vierzehntäg- Die Tresortür, eine halbe Tonne verros-
lichen Besuchen. »Jetzt belästigt der Mann teter Stahl, wurde im vergangenen Jahr ins
Bewohnerinnen oder das Personal. Die Humboldt Forum gebracht, sie wird künftig
Leitung hat schon gedroht, ihn zu sedieren. ein zentrales Exponat der Berlin-Ausstel-
Körperverletzung!« lung zu sein. Und Dimitri Hegemann sitzt
Der Kunde sei übrigens 94 Jahre alt. in seinem Büro, holt tief Luft und sagt:
Stephanie Klees Verband verfolgt eine »Was ist hier eigentlich passiert in den ver-
Best-Practice-Politik. Hygienekonzepte, gangenen 30 Jahren? Was war das für ein
René Lohse / DER SPIEGEL
die bei Podologen und Friseurinnen funk- Rausch? Je länger ich darüber nachdenke,
tionieren, seien auch im Bordell umsetz- desto schwieriger fällt es mir, das zu verste-
bar: Lüftung, Desinfizierung, auch Maske hen. Aber dass sie vorbei ist, das ist klar.«
und Kontaktverfolgungsformular. Selbst Hegemann, einer der großen Berliner
Abstand, so Klee, ließe sich halten – »mit Projektemacher, ein Mann, der immer Plä-
entsprechenden Stellungen«. Es sei doch ne hat, für den jedes Scheitern nur Grund
absurd, Familienfeiern mit 50 Teilneh- »Wo soll die verrutschte ist, es noch einmal zu versuchen, dieser
mern zuzulassen, anderswo aber den Intelligenz denn hin?« Hegemann ist erschüttert wie noch nie.
Tresen einer Rotlichtbar zur Problemzone Sein Büro ist ein kleines Zimmer in ei-
zu erklären. Dimitri Hegemann, Veranstalter nem riesigen Gebäude, dem sogenannten
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Reporter
Medizinmänner dischen Hippies aus New York auf die deutsche Einheit ist.
Man könnte die Videoinstallation parallel zu all den Fern-
sehsendungen laufen lassen, in denen deutsche Experten die
USA erklären. Ich habe neulich gesehen, wie Jürgen Trittin
Leitkultur Alexander Osang über die Wildnis und der Zukunftsforscher Matthias Horx bei Markus Lanz
außerhalb von Deutschland Amerika erklärten. Bei Anne Will übernahmen das Peter
Altmaier und Cem Özdemir. Özdemir sagte voraus, womit
sich Trump beschäftigen wird, wenn dieser die Wahlen ver-
69
Wirtschaft
Der Vorstand des Staatskonzerns Deut- minister Andreas Scheuer (CSU). Die bewerbern«, argumentieren die Vertreter
sche Bahn (DB) sperrt sich gegen Pläne Manager befürchten durch die vorge- des Schienenmonopolisten. Zum Ver-
der Bundesregierung zur Frauenförde- schriebene Förderung von Frauen »eine gleich: 2019 wandte die Bahn 186 Millio-
rung. Die Bundesregierung möchte das Verschärfung des ohnehin gravierenden nen Euro auf für Versorgungsansprüche
Gleichstellungsgesetz auf große Firmen Fachkräftemangels in technisch-opera- ihrer Ex-Vorstände, darunter sind nur
im Staatsbesitz ausdehnen. Sie müssten tiven Berufen bei der DB«. Das Ziel, in zwei Frauen. Das Familienministerium
dann eine Frauenquote von 50 Prozent den nächsten Jahren rund 100 000 neue teilte mit, es habe in einem Antwortschrei-
in Führungspositionen erfüllen und die Mitarbeiter einzustellen, werde »unter ben an die Bahn darauf verwiesen, »dass
Zahl ihrer Gleichstellungsbeauftragten diesen Rahmenbedingungen erheblich der Bund und die Unternehmen, an denen
aufstocken. Das Vorhaben sei »mit erheb- erschwert«. Zudem erwarten die Absen- er beteiligt ist, bei der Gleichstellung eine
lichen negativen Auswirkungen verbun- der einen Kostenschub. »Die Bestellung Vorbildfunktion haben«. Derzeit wird der
den«, warnten Bahn-Chef Richard Lutz, von Gleichstellungsbeauftragten würde Referentenentwurf, den Giffey und Justiz-
Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla und finanzielle Ressourcen binden«, schreiben ministerin Christine Lambrecht (SPD) für
Personalchef Martin Seiler Mitte Juni in sie. Der jährliche Personalaufwand sum- das Gesetz vorgestellt haben, innerhalb
einem Brief an Finanzminister Olaf miere sich auf 32 Millionen Euro. »Vor der Bundesregierung abgestimmt, kommt
Scholz und Familienministerin Franziska diesem Hintergrund entstehen der DB AG dort aber wegen der Widerstände einzel-
Giffey (beide SPD) sowie an Verkehrs- Nachteile im Vergleich zu unseren Wett- ner Unionsminister nicht voran. REI
70
Corona Noch weniger war es beim
Lokaler Handel Fördertopf für den Ausbau
des Gigabit-Netzes, für das
profitiert kaum insgesamt knapp 12 Milliar-
den Euro zur Verfügung ste-
Das Einkaufsverhalten der hen werden. Hier flossen erst
Deutschen wird durch Corona 20 Millionen ab. Etwas besser
offenbar weniger beeinflusst läuft es bei den Investitions-
als bislang gedacht: Die Mehr- programmen des Bundes für
heit der Verbraucher erledigt die Kommunen. Zwei Pro-
Besorgungen nicht häufiger gramme, ausgestattet mit
bei lokalen Händlern als vor jeweils 3,5 Milliarden Euro,
Die Samstagsfrage
72
P
lötzlich stehen alle Räder still im Als sich die EU-Mitglieder vom »No«- ten auseinandersetzen, der künftig vor
Hafen von Dover. An einem Mitt- Schock des britischen Referendums 2016 allem ein Ziel verfolgen wird: den Euro-
woch im September stauen sich erholt hatten, hofften sie noch, Großbri- päern Marktanteile abzunehmen.
Dutzende Vierzigtonner auf der tannien so eng wie möglich an sich kop- Der Plan von Premier Boris Johnson
vierspurigen Ausfahrt in Richtung Auto- peln zu können. Vier Jahre später ist klar, wiederum, nach dem EU-Austritt eigene
bahn. Dieselschwaden ziehen über das dass sie ihr Ziel verfehlen werden. Das lukrative Handelsabkommen zu schließen,
Hafengelände, einige Fahrer spielen ner- Land wird in der Handelspolitik künftig ist bisher ebenso wenig aufgegangen. Und
vös mit dem Gaspedal. weiter von der EU entfernt sein als Nor- sein groß angekündigtes Konzept, Groß-
Ein roter und ein grauer Lkw waren in wegen oder die Türkei. Mit dem Vereinig- britannien mit niedrigen Steuern und we-
einer Kurve zusammengestoßen. Nichts ten Königreich verliert die EU knapp ein niger Bürokratie zum »Singapur an der
Großes, ein paar Beulen und Kratzer an Sechstel ihrer Wirtschaftskraft. Zugleich Themse« zu machen, ist nicht in Sicht.
den Anhängern. Und doch reicht die Ko- muss sie sich mit einem neuen Konkurren- Die »glorreiche« Zeit des Brexits (John-
lonne zurück bis zu den Fähren, die längst son) könnte stattdessen mit einem Ver-
wieder neue Lkw aufnehmen müssten für kehrs-, Verwaltungs- und Versorgungscha-
die Rückfahrt über den Ärmelkanal. os beginnen, das selbst in der nüchternen
Sie alle werden sich an diesem Tag ver- Sprache der Londoner Regierungsbeam-
späten, die Fährschiffer ebenso wie die ten Stoff zum Gruseln liefert. Von blockier-
Trucker. Dabei ist die kleine Havarie nur ten Häfen, Medikamentenmangel und
ein Vorgeschmack auf den Riesenstau, mit Massenentlassungen ist die Rede. Und es
dem in Dover alle ab dem 1. Januar rech- trägt nicht zur Entspannung der Lage bei,
nen, jenem Tag, an dem Großbritannien dass die Bürger über die konkreten Pläne
nach knapp einem Jahr Übergangsphase ihrer Regierung weitgehend im Dunkeln
endgültig den EU-Binnenmarkt verlässt. tappen. Umso größer sind Angst und Miss-
Über die Details des Austritts wird noch trauen, wie im südenglischen Sevington.
hektisch verhandelt, mal in London, mal Vom Friedhof des Dorfs in der Graf-
in Brüssel. Es geht um Zölle und Zertifi- schaft Kent geht der Blick auf einen viel
kate, um Berufsabschlüsse und Umwelt- befahrenen Kreisverkehr gleich hinter der
auflagen, um Zuschüsse für Start-ups und Dorfkirche, die Autobahn M20 ist nicht
Martyn Wheatley / i-Images / POLARIS / laif
Fischfangrechte vor der britischen Küste. weit, eine der wichtigsten Verkehrsadern
Zuletzt schien es, als könnten sich beide des Landes. Sie verbindet London mit
Seiten wenigstens auf ein rudimentäres dem Haupthafen Dover.
Abkommen einigen, das Zölle und Liefer- Im vergangenen Juli rückten, praktisch
quoten verhindert. Der Schaden, den der über Nacht, Bagger auf einem elf Hektar
EU-Austritt anrichtet, könnte dadurch be- großen Areal südlich der Kirche an. Sie
trächtlich verringert werden, vor allem für walzten eine Wiese mit Mohn, Kreuzkraut
Großbritannien. Doch in Wahrheit ist das Premier Johnson und Brombeerbüschen nieder. Wegen des
ein schwacher Trost: Der Unterschied ist Brexits werde »das jetzt ein riesiges
nur noch der zwischen einer hässlichen Asphaltfeld für Tausende Lastwagen«,
oder einer ganz hässlichen Scheidung. Im Ungleichgewicht sagt die Grünenpolitikerin Mandy Rossi.
Schon jetzt ist der Schaden enorm. Seit Der Außenhandel Großbritanniens »Es ist zum Heulen.«
die Briten vor vier Jahren mit knapper mit der EU, in Milliarden Euro Offiziell heißt es, auf dem Gelände wer-
Mehrheit für den Brexit stimmten, ist der 307,8 de künftig die Zollabfertigung für Lastwa-
gemeinsame Handel eingebrochen. Das gen entstehen. Ein Grenzbau, 34 Kilo-
290,6
Königreich, damals noch Deutschlands meter vom Hafen in Dover entfernt? Wel-
drittwichtigster Exportmarkt, ist auf Platz Importe cher Lkw würde einen solchen Umweg
fünf zurückgefallen. Zugleich sind die aus der EU fahren? »Das wäre quasi eine Einladung
2016
britischen Ausfuhren auf den Kontinent zum Schmuggeln«, sagt Rossi.
Brexit-
allein in den ersten sieben Monaten die- Votum Stattdessen, fürchtet sie, wird aus der
ses Jahres um rund 17 Prozent gegen- Fläche demnächst ein Parkplatz für min-
über dem Vorjahr geschrumpft, stärker destens 1500 Lastwagen. Denn die briti-
als die EU-Exporte Japans oder der USA. 184,3 sche Regierung rechnet mit kilometerlan-
Von einer »Entkoppelung« sprechen Öko- gen Brexit-Staus vor den Fährhäfen.
nomen. Handels- Anfang September hatte Johnson sei-
Als Gewinner dürfen sich allenfalls jene bilanzdefizit –115,0 –113,3 nen Landsleuten noch »ein gutes Ergebnis«
Briten fühlen, die den Brexit als symboli- versprochen. Dummerweise war zuvor ein
schen Akt nationaler Souveränität verste- vertrauliches Regierungspapier an die Öf-
hen. Wirtschaftlich wird es nur Verlierer fentlichkeit gelangt. Das darin ausgebrei-
geben: die Verbraucher, die vor allem im tete »realistische Worst-Case-Szenario«
194,5
Vereinigten Königreich mit höheren Prei- las sich wie das Drehbuch für ein apo-
sen und einem kleineren Warenangebot kalyptisches BBC-Drama – mit Stromaus-
–44,2 175,6
rechnen müssen. Die Unternehmen, de- fällen, Benzinknappheit, Lebensmittel-
nen das neue Handelsregime mehr Büro- Exporte engpässen auf den Kanalinseln und Tau-
kratie und höhere Kosten beschert. Die in die EU senden Lastwagen, die sich über mehr als
Arbeitnehmer, die Jobs verlieren. Und die 100 Kilometer ins Landesinnere stauen.
Regierungen, deren Brexit-Kalkül nicht 140,1 Im No-Deal-Fall würde die Regierung
aufgeht, weder diesseits noch jenseits des Soldaten auf die Straße schicken, um zivile
Kanals. 2009 Quelle: Eurostat 2016 2019 Unruhen einzudämmen, und die Marine
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Bei zwei entscheidenden Themen liegen
beide Seiten noch weit auseinander: den
künftigen Wettbewerbsregeln, etwa für
Staatshilfen oder Umweltstandards, sowie
den Fischfangrechten in der Nordsee.
Obwohl die Fischerei wirtschaftlich fast
bedeutungslos ist, hat sich der Streit um die
britischen Fischgründe zu einer der größten
Hürden für ein Handelsabkommen entwi-
ckelt. Das Thema hat Symbolwert, schon
Marlene Awaad / Bloomberg / Getty Images
»Brüssel ist zu ängstlich« SPIEGEL: Die Briten wollen aber auch ihre
Industrie subventionieren, ohne auf die
EU-Regeln Rücksicht zu nehmen. Kann
sich Brüssel das bieten lassen?
Weltwirtschaft Hat Boris Johnson allein Schuld am Brexit- Felbermayr: Großbritannien gibt aktuell
Desaster? Nein, sagt der Handelsökonom deutlich weniger Geld für Staatshilfen aus
Gabriel Felbermayr – und zeigt auf die Europäische Union. als die meisten EU-Staaten. Die Regierung
kann es sich auch gar nicht leisten, diesen
Etatposten nennenswert auszuweiten. Um-
Felbermayr, 44, ist im österreichischen SPIEGEL: Daran sind aber nicht die Euro- gekehrt hat die EU in der Coronakrise ihr
Steyr geboren und forschte in Florenz päer schuld. Es ist Boris Johnson, der da- eigenes Subventionsregime gelockert. Mir
und München. Seit März 2019 leitet er rauf besteht, die geltenden Binnenmarkt- scheint, dass Brüssel manche Probleme
das Kieler Institut für Weltwirtschaft. regeln unterlaufen zu dürfen. unnötig großredet.
Felbermayr: Die Sorge vor einem angeb- SPIEGEL: Früher haben Deutschland und
SPIEGEL: Herr Felbermayr, der britische lichen Dumping der Briten bei Sozial- und Großbritannien oft an einem Strang gezo-
Premier Boris Johnson droht mit dem Umweltstandards oder Wettbewerbsre- gen. Bei den Brexit-Verhandlungen aber
Bruch des EU-Austrittsvertrags, den er geln halte ich für völlig überzogen. Die EU ist die Bundesregierung London kaum ent-
selbst unterschrieben hat. Sind Verhand- hat vor einiger Zeit ein Freihandelsabkom- gegengekommen. War das ein Fehler?
lungen unter solchen Bedingungen noch men mit Kanada geschlossen, aber nie- Felbermayr: Ja, Großbritannien steht
sinnvoll? mand in Europa wäre auf die Idee gekom- Deutschland wirtschaftspolitisch traditio-
Felbermayr: Ja, ein Abkommen ist immer men, der Regierung in Ottawa Vorgaben nell näher als Frankreich. Bei den Brexit-
noch besser als kein Abkommen. Natürlich für die Arbeitsmarkt- oder Umweltpolitik Verhandlungen aber hat die Bundesregie-
können es die Europäer nicht hinnehmen, zu machen. rung Paris weitgehend das Feld überlassen.
dass Johnson geltende Verträge aufkündigt. Das zeigt sich schon daran, dass die Ver-
Aber dass die Brexit-Verhandlungen seit handlungen von Michel Barnier geführt
Monaten nicht vom Fleck kommen, ist wurden, der als französischer Spitzen-
nicht nur die Schuld der Briten. Dafür tra- beamter eine deutlich zentralistischere
gen auch die Europäer Verantwortung, die Vision von Europa hat als die Regierung
an London ein Exempel statuieren wollen. in Berlin. Gerade für die deutsche Wirt-
SPIEGEL: In Brüssel finden viele, dass man schaft fällt das Brexit-Ergebnis nun höchst
bei den Brexit-Verhandlungen schon viel unbefriedigend aus.
zu viel Geduld mit den Briten aufgebracht SPIEGEL: Auch viele Unternehmer sind in-
hat, die ständig ihre Ziele und Strategien zwischen der Auffassung, dass man Boris
ändern. Johnson nicht mehr vertrauen kann.
Felbermayr: Das sehe ich anders. Schon Felbermayr: Johnson will den Brexit lie-
als Ex-Premier David Cameron vor dem fern, den er seinen Wählern versprochen
Referendum 2016 mit der EU verhandelt hat. Zugleich ist er vernünftig genug, die
hat, ist ihm Brüssel in der wichtigen Frage Schäden für die britische Wirtschaft zu
Thomas Dashuber / Agentur Focus
der Migration nicht weit genug entgegen- minimieren. Ich halte es zum Beispiel für
gekommen. Die Europäer bestanden auf höchst wahrscheinlich, dass er selbst bei
einem nahezu unbeschränkten Zuzug von einem No-Deal einen Großteil der EU-
Beschäftigten, obwohl sich etwa Deutsch- Güter weiter zollfrei ins Land lässt.
land selbst jahrelang gegen Osteuropa SPIEGEL: Was macht Sie da so zuversicht-
abgeschottet hatte. Brüssel hat die politi- Globalisierungsexperte Felbermayr lich?
sche Stimmung in Großbritannien falsch Felbermayr: Die Regeln der Welthandels-
eingeschätzt. Das gilt auch für die Debatte organisation erlauben das, wenn Johnson
um das Austrittsabkommen. SPIEGEL: Kanada ist vom europäischen auch alle anderen Handelspartner von
SPIEGEL: Inwiefern? Festland mehr als 3000 Kilometer ent- Zöllen verschont. So könnte er für er-
Felbermayr: Es war Taktik der EU, zu- fernt, Großbritannien nur gut 30. Das schwingliche Preise in den britischen Su-
nächst das Austrittsabkommen zu verein- macht es auch viel leichter, eine Billigkon- permärkten sorgen und zugleich Brüssel
baren und erst später mit der Regierung kurrenz aufzuziehen. unter Druck setzen. Plötzlich wäre es
in London darüber zu reden, wie die Be- Felbermayr: Da ist etwas dran, trotzdem die EU, die einseitig neue Handelshürden
ziehung künftig gestaltet werden soll. Das ist die europäische Position in dieser Fra- errichtet.
war ein Fehler, der die Verhandlungen gen zu ängstlich und zu defensiv. Zum SPIEGEL: Mit welcher Strategie sollte die
etwa über Nordirland extrem belastet einen haben die Briten selbst ein großes Europäische Union in die Schlussverhand-
hat. Am Ende muss man nüchtern feststel- Interesse daran, dass es in den meisten lungen gehen?
len, dass die Europäer ihre Ziele nicht er- Industriesektoren bei gemeinsamen Stan- Felbermayr: Brüssel sollte auf einen Ab-
reicht haben. dards bleibt und Ausbildungsabschlüsse schluss zielen und London in der Regulie-
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? oder Sicherheitsvorschriften gegenseitig rungsfrage entgegenkommen. Ein sinn-
Felbermayr: Die EU hatte die erklärte anerkannt werden. Und zum anderen voller Kompromiss könnte beispielsweise
Absicht, die Briten so eng wie möglich an kann die EU Großbritannien kaum ver- darin bestehen, die heutigen Regeln fest-
die Gemeinschaft zu binden. Nun verlas- wehren, was sie ihren eigenen Mitgliedern zuschreiben, aber für zukünftige Felder Ab-
sen die Briten die EU, die Zollunion und erlaubt. Es gibt innerhalb Europas riesige weichungen zuzulassen. Ohne Abkommen
den Binnenmarkt, und es ist nicht einmal Unterschiede in der Arbeitsmarkt- und würde sich das Klima zwischen London und
klar, ob es wenigstens ein minimales Han- Lohnpolitik, und die Länder mit den la- Brüssel dagegen gefährlich verschlechtern.
delsabkommen wie mit Japan oder Korea xesten Steuerregeln sind aktuell Irland und Interview: Michael Sauga
gibt. Das ist keine gute Bilanz. die Niederlande.
Unbequeme Wahrheiten
Medien Mit einer schwimmenden Redaktion wollte der ehemalige »Handelsblatt«-Herausgeber
Gabor Steingart den Journalismus neu erfinden. Doch das Geschäft läuft
schleppend. Und seine apokalyptischen Thesen verschrecken Redakteure und Unterstützer.
A
ls Gabor Steingart Anfang Mai ab- staubten »Handelsblatt«, das Steingart den Lesern, auf Werbeanzeigen von Kon-
legte, fehlte ihm zu seinem Glück 2010 übernahm und wach küsste, wurde zernen verzichtet er bewusst, angeblich
nur noch eine First Lady. Der Me- er Chefredakteur, Herausgeber, später um »unabhängig« arbeiten zu können.
dienunternehmer hatte den Start Ziehsohn des Verlegers Dieter von Holtz- Steingart inszeniert sich als letzten Auf-
seiner neuen, schwimmenden Redaktion brinck, der ihm drei Prozent seiner Ver- richtigen der Branche, ganz so, als wären
groß geplant. Die Crew auf der »Pioneer- lagsgruppe übertrug. Und ihn vor zwei- die Qualitätsmedien, deren Teil er lange
One«, einem 40 Meter langen und 7 Meter einhalb Jahren herauswarf, weil Steingart war, Hörige von Politik und Wirtschaft.
breiten »Redaktionsschiff«, das Steingart eher den Gesetzen der Aufmerksamkeits- Dabei ist all der Lärm wohl eher ein Ver-
nahe Bonn bauen ließ, sollte nicht wie ein ökonomie huldigte als wirtschaftlicher such, das wankende Geschäftsmodell zu
gewöhnliches Medien-Start-up einfach an- Vernunft. Seine Projekte verschlangen retten.
fangen. Sie sollte eine siebentägige Jung- Millionen. 2019 hatte Steingart den Medienkon-
fernfahrt nach Berlin unternehmen, intern Doch Steingart kann kaum ohne Mega- zern Axel Springer als Investor gewonnen,
»Schöpfungsreise« genannt. Neben Stein- fon und Bühne. Nach dem Rauswurf in der für einen niedrigen einstelligen Millio-
gart auf dem Sonnendeck: Größen aus Poli- Düsseldorf schuf er sich deshalb seine ei- nenbetrag rund 46 Prozent an der Media
tik und Wirtschaft, zum Einlauf in der gene: »ThePioneer«. Einen einstelligen Pioneer Publishing übernahm und ein Dar-
Hauptstadt ein internationaler Showact. Millionenbetrag hat er dafür persönlich in- lehen gewährte. Seit Monaten wirbt Stein-
Der Stargast des Spektakels aber sollte vestiert. Allein das Schiff koste monatlich gart zudem für Premium-Abonnements,
heller strahlen. Steingart wünschte sich rund 20 000 Euro, heißt es intern. Die Ge- die besonders zahlungskräftigen »Pionie-
Michelle Obama, die Gattin des ehemali- hälter der Redakteure nicht eingerechnet. ren« angedient werden sollen. Wer statt
gen Präsidenten der Vereinigten Staaten, Um Geld und Gewinne gehe es ihm bei des einfachen Abos für einige Dutzend
für die Party nach der Jungfernfahrt. Auch dem Vorhaben nicht, hat Steingart öffent- Euro im Monat Pakete im Wert von
Papst Franziskus I. sei mal Teil der Überle- lich beteuert. Was ihn interessiere, sei die 10 000 bis 100 000 Euro bucht, bekommt
gungen gewesen, erzählen Beteiligte. Stein- Idee: die »PioneerOne« als Dienst an der dafür nicht nur eine Plakette aus echtem
gart auf Augenhöhe mit Gottes Stellvertre- Demokratie, ihre Mission ein Aufbruch in Schiffsstahl samt Gravur, sondern erhält
ter auf Erden. »eine neue journalistische Zeit«, in der auch die persönliche Aufmerksamkeit des
Durch Corona wurde am Ende nichts »unbequeme Wahrheiten« gesucht wer- Herausgebers, etwa bei einem »Floating
aus den Ideen. Weder der Papst noch Oba- den. Bezahlt werden soll die Sache von Dinner«. Sofern man sie will.
ma kamen an Bord. Dafür schaute VW- Im April, die »PioneerOne« hatte ihre
Chef Herbert Diess kurz vorbei, als Stein- Jungfernfahrt noch nicht angetreten, ließ
garts Schiff auf dem Mittellandkanal an Nachrichtendampfer Steingart bereits zwei Dutzend Stahl-
Wolfsburg vorbeischipperte. Anteilseigner der Media Pioneer Publishing AG, plaketten produzieren. Auf einer Liste
Seit fünf Monaten kreuzt die »Pioneer- in Prozent mit angeblichen Unterstützern, die dem
One« nun auf der Spree, regelmäßig fährt Ingo SPIEGEL vorliegt, finden sich illustre Na-
das »Patrouillenschiff der Demokratie« Gabor Steingart Rieper Axel Springer men: Ex-Telekom-Chef René Obermann
(Steingart) das Berliner Regierungsviertel 43,52 5 5 46,48 oder Altkanzler Gerhard Schröder stan-
auf und ab. Eine 30-köpfige Mannschaft den darauf ebenso wie Wolfgang Reitzle,
unter Chefredakteur Michael Bröcker Michael Bröcker Aufsichtsratschef von Linde und Conti-
überwacht den Maschinenraum der Bun- geplante Aktionärsstruktur: nental, die Unternehmensberater-Legen-
desrepublik – und produziert dazu News- de Roland Berger, die Künstlerin Mia Flo-
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letter, Videos, Podcasts und Texte. rentine Weiss oder der frühere Präsident
Bescheidenheit und Zurückhaltung wa- Gabor Steingart Leser & Axel Springer des Bundesverbands der Deutschen Indus-
ren Steingarts Sache nie. Für ihn kann es und Management Hörer trie, Heinrich Weiss. Gedacht gewesen sei
nicht groß, schnell, wuchtig, laut genug das Papier auch, um bei Springer Eindruck
sein. Hybris ist für den 58-Jährigen eine zu machen, heißt es in der Redaktion. Auf
Lebenseinstellung. GST, so sein Kürzel Platz drei der Liste: Friede Springer, die
und Spitzname, ist ein Meister der Ver- höchstselbst 100 000 Euro einzahlte.
marktung, vor allem der eigenen. In sei- Das Problem: Nur ein kleiner Teil der
nem »Morning Briefing« und in seinen Bü- Wirtschafts- und Politikgrößen überwies
chern ruft er wahlweise den »Weltkrieg tatsächlich Geld. Gegenüber dem SPIEGEL
Jonas Holthaus / laif
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Fabian Sommer / picture alliance / dpa
Buchautor Steingart auf der »PioneerOne«: Inszenierung als Gralshüter der Unabhängigkeit
ich einen Journalismus, der nicht im Main- Geschäftsmodell« gezahlt zu haben. »Bei um das Herzensprojekt des Verlegers zu
stream treibt«, sagt er. ihm weiß man ja nicht, wer das Boot zahlt befördern. »Steingart setzte das ›Handels-
Zugleich geben mehrere Angeschriebe- und am nächsten Morgen wie zufällig im blatt‹ gerne und immer häufiger als Druck-
ne an, von den Avancen Steingarts über- ›Morning Briefing‹ auftaucht.« mittel ein, um aus den Unternehmen
rumpelt worden zu sein oder sie nach einer Tatsächlich darf Großunterstützer Hom- Gefälligkeiten herauszubekommen«, sagt
kurzen Bedenkzeit abgelehnt zu haben. bach als »Pioneer Expert« mit eigenem einer, der unter ihm Karriere machte. Wel-
Der Verleger Florian Langenscheidt sagt, Autorenprofil auf der Website gelegentlich cher Konzernchef will schon gern Böses
er habe eine Unterstützung nur »erwo- über Bildung und Politik schreiben. Conti- über sich im »Handelsblatt« lesen?
gen«. Auch der McKinsey-Partner Khaled Aufsichtsratschef Reitzle taucht nicht nur Am 1. Mai 2013 lud Steingart im Han-
Rifai habe von einem »Abonnement« zu auf der Liste potenzieller »Supporter« auf, gar 2 des ehemaligen Berliner Flughafens
fünfstelligen Summen »Abstand genom- sondern auch öfter als Gast im »Morning Tempelhof zu einem Zukunftskongress na-
men«. Sowohl Obermann als auch Schrö- Briefing«-Podcast. Und RWE-Chef Rolf mens »Pathfinder«. Jürgen Fitschen von
der bestätigen schriftlich, nicht gezahlt zu Martin Schmitz wurde mehrfach inter- der Deutschen Bank kam, Tom Enders
haben. Ex-VW-Chef Matthias Müller lehn- viewt, ohne dass dabei je erwähnt wurde, von EADS, Dieter Zetsche von Daimler
te ab, nachdem er keine befriedigende Ant- dass der Energiekonzern den Hybridan- oder Heinrich Hiesinger von Thyssen-
wort auf die Frage nach dem Gegenwert trieb des Redaktionsdampfers kostenlos Krupp. Insgesamt sieben Konzernchefs
seiner Zahlung bekommen habe, heißt es mit Strom versorgt, wie die »Zeit« auf- rückten an, mit jeweils 100 Nachwuchs-
aus seinem Umfeld. Reitzle mag sich nicht deckte. Als die Privatbank Merck Finck talenten. Für eine sechsstellige Summe be-
äußern, und Berger lässt mitteilen, »etwai- das Schiff für ein Event charterte, ließ sich kamen die Firmen eine Bühne für ihre
ge Vermögensdispositionen« seien Privat- Herausgeber Steingart persönlich als Red- Chefs und Bespaßung für den Nachwuchs.
sache, schon die Fragen nach einem Invest- ner einspannen. Das wäre weniger proble- Anschließend gab es eine mehrseitige Be-
ment enthielten zudem Unterstellungen. matisch, würde sich Steingart nicht als richterstattung in der Zeitung.
Bei Media Pioneer heißt es nun offiziell, Gralshüter journalistischer Unabhängig- Steingart habe »das Prinzip des Vermi-
man habe über ein Dutzend Unterstützer. keit inszenieren. schens von redaktionellen Inhalten und
Um Gönner wirbt Steingart mit dem Slo- Dabei stand er schon zu »Handelsblatt«- Veranstaltungen« extrem ausgebaut, sagt
gan »100 Prozent Journalismus. Keine Mär- Zeiten im Ruf, Journalismus und Geschäft Jörg Howe, Sprecher des Autokonzerns
chen«. Doch Steingart vermischt, was ge- bisweilen gefährlich zu verquicken. Um Daimler. »Er hat immer neue Formate er-
trennt gehört – Geschäft und Journalismus. die seit 2014 erscheinende, englischspra- funden. Und auch immer mit der Markt-
Ein Unternehmer erzählt, er habe von chige »Handelsblatt Global Edition« zu macht des ›Handelsblatts‹ argumentiert.«
Steingart ungefragt eine Schiffsplakette zu- unterstützen, klopfte er etwa bei Autokon- Der Büromöbelhersteller Walter Knoll
geschickt bekommen, ohne auch nur einen zernen an. Sie sollten für ihre Mitarbeiter durfte das neu gebaute Medienhaus der
Euro für das aus seiner Sicht »fragwürdige in aller Welt Tausende Abos abschließen, Verlagsgruppe ausstatten. Dafür erschien
Hermann Bredehorst
eine Broschüre mit »Handelsblatt«-Re- sen versucht sein Medienanwalt Christian Marina Weisband und dem Journalisten
dakteuren als Werbeträger, die die Vor- Schertz die Recherchen mit mehrseitigen Richard Gutjahr gehen bereits zwei Unter-
züge von Sesseln und Tischen priesen. Die Schreiben zu unterbinden. stützer öffentlich auf Distanz. Beide hatten
Verlagsgruppe will dazu nichts sagen: Weil der SPIEGEL mit der Liste ver- Anfang des Jahres als Podcast-Moderato-
Man äußere sich nicht zu ehemaligen Mit- meintlicher Unterstützer Daten »ausge- ren auf dem Schiff angeheuert.
arbeitern. späht« habe, behalte man sich für den Fall Sie versuche grundsätzlich, den Dialog
Ein einträgliches Geschäftsmodell – das einer Veröffentlichung »sämtliche denk- zwischen politischen Lagern aufrechtzu-
Steingart nun auf seinem Schiff offenbar baren rechtlichen Schritte vor«. Auf einen erhalten, sagt Weisband. »Aber man muss
fortzusetzen sucht. Nicht nur liefert RWE schriftlichen Fragenkatalog antwortet eine sehr genau gucken, wo ein Mensch noch
kostenlos Strom. Die König-Brauerei spen- Sprecherin schließlich: »Ihre Fragen ent- lernfähig ist.« Demnächst will sie mit Stein-
diert das Pils. Neben Merck Finck durfte halten ein wildes Gemisch aus Spekulatio- gart eine öffentliche Diskussion führen;
der Mobilfunkanbieter Vodafone das Schiff nen, Gerüchten und falschen Aussagen.« wie es mit ihrem Podcast weitergeht, ist
bereits für eine fröhliche »Pioneer Expe- Freunde und Weggefährten berichten, unklar. Ihr Kollege Richard Gutjahr ist
rience« mieten. Und Start-up-Lobbyist Steingart leide unter dem eigenen Bedeu- schon einen Schritt weiter. Seine letzte
Christian Miele liefert mit seinem Verband tungsverlust und dem ausbleibenden kom- Ausgabe moderierte der Journalist Ende
regelmäßig Inhalte für das Pioneer-»Tech merziellen Erfolg. Umso lauter werde er. August, sein Engagement für »ThePio-
Briefing«. In der Redaktion wächst derweil der Un- neer« hat er nach den jüngsten raunenden
Ihre Einnahmen bessert die Redaktion mut über die publizistischen Eskapaden Briefings endgültig beendet. Der ehemali-
zudem mit Live-Events auf, Chefredakteur des Herausgebers, die oft hart an der Gren- ge Außenminister Sigmar Gabriel, seit Jah-
Michael Bröcker persönlich führt mehrfach ze zur Verschwörungstheorie liegen. Auch ren ein Vertrauter Steingarts, kommt da-
im Monat »Politische Sightseeings« durch, Chefredakteur Bröcker distanziert sich da- gegen weiterhin gern an Bord.
bei denen er Abonnenten bei der Fahrt von: Er trage nicht alles mit, was Steingart An einem Montag im September findet
über die Spree für 20 Euro pro Ticket das da so schreibe und tue. auf der »PioneerOne« ein Live-Podcast
Regierungsviertel erklärt. Mit Abos allein Glaubt man seinem Umfeld, will Stein- statt. Thema: »Alle Macht der Wissen-
könne die Redaktion derzeit nicht bezahlt gart eine Nische in der öffentlichen Debat- schaft?« Es geht um Corona, um das Pri-
werden, gestand Bröcker kürzlich im Bran- te besetzen, diejenigen als Leser gewinnen, mat der Virologen und die Fehler der Re-
chenmagazin »Journalist«. Von einer mitt- die sich von den traditionellen Medien gierung Merkel. Steingart ist an diesem
leren vierstelligen Abonnentenzahl spre- nicht verstanden fühlen, gerade jetzt in Tag nicht an Deck, dafür ein SAP-Manager
chen sie an Bord. der Coronakrise. In seinen Briefings be- aus Hessen, ein Steingart-Fan.
Die soll steigen, wenn bald so gut wie zeichnet er den Virologen Christian Dros- »Am Anfang«, sagt er, sei er auch noch
alle »Pioneer«-Inhalte hinter einer Bezahl- ten als umstrittenen »Souffleur« oder, in unkritisch gewesen, was Corona angeht.
schranke stehen. Steingarts bisher kosten- Anlehnung an Botho Strauß, als »Behaup- Den »Lappen« vor Mund und Nase habe
loses »Morning Briefing« mit mehr als tungshäuptling«. U-Bahn-Schaffner, die er einfach aufgesetzt, mittlerweile wisse
hunderttausend Abonnenten allerdings die Einhaltung der Maskenpflicht kontrol- man ja, dass die Viren da »einfach durch-
wird frei zugänglich bleiben. lieren, seien wohl »in einem früheren Le- fliegen«. Steingart schätze er dafür, dass
Gern hätte man Steingart selbst nach ben als Blockwart« tätig gewesen. der andere Meinungen vertrete, »mehr als
der Finanzierung seines Projekts gefragt. Die Anbiederung an die Corona-Skep- dieses Vorgekaute von ARD und ZDF«,
Einem Treffen an Bord stimmt ein Spre- tiker führt in der eigenen Redaktion zu sagt der Manager, für den das hier schon
cher von »ThePioneer« zunächst begeis- Konflikten, zumal ein Mitglied der Beleg- Tour Nummer drei ist.
tert zu, nur um die Einladung kurz vor schaft selbst an Covid-19 erkrankt war. Das Problem: Bei diesem Termin ist er
dem Termin wieder zurückzuziehen und Und auch personell könnte Steingarts der einzige Gast auf Steingarts Arche.
stattdessen ein Wortlautinterview zu Stein- politische Radikalisierung gefährlich wer- Simon Book, Anton Rainer
garts Konditionen anzubieten. Unterdes- den. Mit der früheren Piratenpolitikerin
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www.dva.de
Wirtschaft
bereit. Am 30. September standen sie das Was aber, wenn die Infektionszahlen
erste Mal vor dem Krankenhaus, anschlie- weiter steigen, die Tarifrunde jedoch nicht
ßend fuhren die meisten Kollegen mit abgeschlossen sein sollte? Dann könnte
zwei Bussen und Privatautos zur zentra- Covid-19 die Tarifparteien in die Zwangs-
len Kundgebung ins nahe gelegene Lüne- Krankenschwester De Vries pause schicken. Markus Dettmer
burg. Höherer Lohn statt Klatschen
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Ausland
des Ungehorsams »Die Leute haben sich nicht an die Auflagen gehalten. Sie sind
ausgegangen, haben sich mit Freunden und Verwandten getrof-
fen«, meint die Infektiologin Carlota Russ, die dem Wissenschaft-
Analyse In Lateinamerika gehen die lerkomitee von Präsident Alberto Fernández angehört.
Im Großraum Buenos Aires flacht die Kurve zwar langsam ab,
hohen Corona-Zahlen endlich zurück – dafür nehmen die Fälle im Landesinneren stark zu. Kontrollen
außer in Argentinien. Warum? hätten nur im ersten Monat funktioniert: »Wir sind Latinos, wir
sind nicht sehr gehorsam«, so Russ. Am Ende hätten sich nur
Keine andere Weltregion wurde so hart von der Corona- noch alte Leute an die Ausgangssperre gehalten – aber selbst die
Epidemie getroffen wie Lateinamerika, jetzt sinken die Infek- gingen nun immer öfter aus.
tionszahlen in den meisten Ländern wieder. Experten glauben, Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sei es sehr hart, die
dass die Maskenpflicht zu den rückläufigen Zahlen beigetragen Menschen zu zwingen, zu Hause zu bleiben. Deshalb sollen die
habe. Auch herrsche in manchen Regionen, die besonders hart Beschränkungen jetzt nach und nach aufgehoben werden. Zu
betroffen waren, heute großflächig Immunität. Von den zehn früh? »Die Pandemie wird uns noch lange begleiten«, sagt Russ.
bevölkerungsreichsten Ländern Lateinamerikas weist nur Argen- »Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben, und einen Weg
tinien konstant ansteigende Infektionszahlen auf – dabei wurde finden, notwendige Einschränkungen zu überprüfen und so viele
die Regierung in Buenos Aires anfangs als vorbildlich bei der Aktivitäten wie möglich zu erlauben.« Jens Glüsing
lexander Zemlianichenko / AP
landen im Lager für politi- videos der K-Pop-Stars, die
sche Gefangene. Aber der geschminkt sind, die Jeans
Druck steigt immens, wenn in tragen und frei leben. Es ist
den Augen des Regimes eine äußerst riskant, solche Me-
Familie einen Verräter hervor- dien zu nutzen, die Menschen
gebracht hat. Das ist ein gro- tun es trotzdem. KGP
Nahost auf. Vergangenen Monat hat- Das hochrangige Mitglied der des Königreichs, Kronprinz
»Versager« ten die Vereinigten Arabi- Herrscherfamilie ließ sich Mohammed bin Salman. Der
schen Emirate und Bahrain in ausführlich über die »Versager« Vater des Thronfolgers, König
Diplomatische Beziehungen Washington die Normalisie- in der notorisch zerstrittenen Salman, lehnt eine Aussöh-
mit Israel sind für die meisten rung ihrer Beziehungen zu palästinensischen Führungs- nung mit Israel dagegen ab.
Araber noch immer ein Tabu. Israel besiegelt. Inzwischen riege aus. Die Fürsprecher der Würde Saudi-Arabien tatsäch-
Jahrzehntelang bestanden die bröckelt die Unterstützung für Palästinenser wären »geschei- lich Israel anerkennen, wäre
Golfländer geschlos- die Palästinenser auch tert«, während sich die Lob- dies das endgültige Aus für
sen darauf, dass die in Saudi-Arabien, wie byisten Israels »erfolgreich« den Kampf der Palästinenser
Palästinenser erst sich zuletzt bei einem durchgesetzt hätten, sagte um einen eigenen Staat. Einge-
einen eigenen Staat Auftritt des einfluss- Prinz Bandar. Beobachter fädelt hat die Trendwende am
imago images
erhalten müssten, reichen saudischen lesen seine Worte als Empfeh- Golf zugunsten Israels Jared
bevor sie Israel aner- Prinzen Bandar bin lung zur Annäherung an Kushner, Nahost-Beauftragter
kennen. Inzwischen Sultan im TV-Sender Israel, in Übereinstimmung und Schwiegersohn von US-
weichen die Reihen Prinz Bandar Al Arabiya zeigte. mit dem De-facto-Herrscher Präsident Donald Trump. SUK
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Ausland
J
effrey Bitton ist nicht zu Hause, als er die Nachricht liest, steht er eine halbe Mit seinem Pick-up-Truck liefert Bitton
seine Heimat Feuer fängt. Auf sei- Autostunde weit weg an einer Zapfsäule. Trinkwasserkanister an Privathaushalte,
nem Telefon trifft an diesem Nach- »Ich habe sofort Panik bekommen«, das ist sein Job. Er hat an der Tankstelle
mittag Anfang September eine Text- sagt Bitton, als er zwei Wochen später am Lakeside Market in Oroville haltge-
nachricht der Behörden ein, eine Auffor- seine Geschichte erzählt. Sein Hund macht, kurz vor Feierabend. In den um-
derung, sich unverzüglich in Sicherheit zu Rambo, ein Deutscher Schäferhund, ist liegenden, von der langen Dürre staubtro-
bringen. Er weiß, was das bedeutet: Sein zu dem Zeitpunkt allein zu Hause. »Ich ckenen Wäldern brennt es seit Wochen,
Haus in Berry Creek in den Wäldern Nord- wusste, dass ich da hochmuss, um ihn zu Blitzeinschlag löste die Flammen aus. Weil
kaliforniens ist von Flammen bedroht. Als retten.« der Wind ungünstig weht, wird daraus
Dabei war Kalifornien doch immer das schwunden. Seine Heimat war zu Staub
bessere Amerika, das andere Amerika – zerfallen. Die steilen Hänge rundum,
sowohl in seinem Selbstbild wie auch im vor Kurzem noch von Wäldern bedeckt,
Ansehen der übrigen Welt. Insbesondere sehen heute aus wie schlecht rasiert, mit
seit der Trumpismus Besitz ergriffen hat stoppeligen Baumskeletten. Das bringt ein
von den uneinigen Staaten, schien die
Westküste erst recht die Alternative zu
sein, der amerikanische Traum wurde am
Pazifik verteidigt. Im Norden erfindet die
Tech-Industrie des Silicon Valley die digi-
tale Zukunft. Im Süden inszeniert die Film-
an jenem Nachmittag eine riesige Feuers- industrie Hollywoods Happy Endings für
brunst, die bis heute rund 1300 Quadrat- die Geschichten, mit denen es die ganze
kilometer Land niedergemacht hat. »North Welt unterhält.
Complex Fire« heißt dieses Feuer, weil die Kalifornien galt vielen als Vorhut der
Waldbrände hier Namen erhalten wie an- Zivilisation, als Fortschrittslabor, als Hei-
derswo Hochdruckgebiete und Stürme. Es mat von Abenteurern, Visionären und Er-
ist das sechstgrößte Feuer, das Kalifornien findern. Muss der Mensch nun tatsächlich
in seiner jüngeren Geschichte erlebt hat. langsam den Rückzug antreten aus diesem
Es brennt immer noch. Sehnsuchtsgebiet?
Winni Wintermeyer / DER SPIEGEL
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Winni Wintermeyer / DER SPIEGEL
Familie Mayer-Rothbarth in San Leandro: »Wir müssen hier raus«
neues Problem mit sich, fürchtet Bitton: Wochen lang keinen blauen Himmel mehr men die Stromausfälle: Regelmäßig schal-
»Verbrannte Erde, tote Wurzeln – gut mög- gesehen hatte über der Bucht von San Fran- tet der Energieversorger PG & E in Teilen
lich, dass wir hier oben in Zukunft von cisco. Seit Mitte August durften ihre drei Kaliforniens die Versorgung aus, einerseits
Schlammlawinen bedroht sind.« Kinder nicht mehr ins Freie. Die Zwillinge um mit dem durch die Hitze gestiegenen
Emil und Lena, drei Jahre alt, »fingen an, Energiebedarf für die Klimaanlagen zu-
Klischeebilder von Kalifornien werden dauernd zu husten«, sagt der Vater. Der rechtzukommen, andererseits um Wald-
aus Sand, Meer und Palmen gemalt, aber Grafikdesigner mit deutschen Wurzeln, 52, bränden vorzubeugen.
in Wahrheit besteht der Staat vor allem und seine amerikanische Frau, 40, fällten Das Paar recherchierte, wo in den USA
aus Bergen, Wüsten und Wäldern. Seine innerhalb weniger Tage die Entscheidung, die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist,
Forste machen rund ein Drittel seines Kalifornien den Rücken zu kehren. langfristig von den Folgen des Klimawan-
Staatsgebiets aus; sie allein sind doppelt Mayer-Rothbarth, ein Weltenbummler, dels verschont zu bleiben. Der Südwesten
so groß wie Bayern. In diesem Jahr brann- in Deutschland und Chile aufgewachsen, des Landes kam nicht infrage, dort steigen
ten bisher mehr als 15 000 Quadratkilo- kam vor zehn Jahren nach Kalifornien, der die Temperaturen ins Unerträgliche. Im
meter ab, etwa die Größe Schleswig-Hol- Liebe und der Arbeit wegen. Der Westen Süden, in Florida oder Louisiana, peit-
steins, und die Feuerzeit kann noch bis in der USA schien alles zu bieten, was sie schen regelmäßig Stürme und Fluten das
den Dezember dauern. sich wünschten: gut bezahlte Jobs in der Land. Es gibt Studien, die damit rechnen,
Die Rekordsaison hüllt in diesem Jahr Tech-Branche, eine Weltstadt vor der Tür, dass in diesem Jahrhundert bis zu 13 Mil-
große Teile des amerikanischen Westens großartige Natur mit mildem Klima, dazu lionen Menschen innerhalb der USA we-
in graue Schleier und beschert auch den die Nähe zum Pazifik mit guten Wellen gen des Klimawandels migrieren werden.
Metropolregionen von San Francisco und zum Kitesurfen für ihn. »Hier wollten wir Rhode Island, ein Bundesstaat an der
Los Angeles mit ihren mehr als 20 Millio- bleiben«, sagt Mayer-Rothbarth. nördlichen Ostküste, am anderen Ende des
nen Einwohnern über viele Wochen hin- Nun sind die Kinder und deren Zukunft Kontinents, sah sicher aus, fand Mayer-
weg gesundheitsgefährdende Luftwerte. der Hauptgrund dafür, dass sie gehen. Rothbarth. Sie fingen an, sich nach einem
San Francisco liegt im globalen Ranking »Wir wollen die drei nicht jeden Herbst neuen Haus umzuschauen. »Alles dort drü-
der Orte mit der schlechtesten Luftqualität wochenlang einsperren«, sagt Megan. Die ben ist nur halb so teuer wie in San Fran-
derzeit an manchen Tagen auf einem Spit- »Feuersaison«, wie man in Kalifornien in cisco, dafür hat man doppelt so viel Platz«,
zenplatz, mit Städten wie Delhi, Peking Ermangelung echter Jahreszeiten den sagt er. Ohne vorher hinzureisen, kauften
oder Lahore. Herbst nennt, wurde jedes Jahr länger und sie ein Haus, das sie nur per Führung am
»Wir müssen hier raus«, sagte Torsten zerstörerischer, so schien es den beiden. Bildschirm besichtigt hatten.
Mayer-Rothbarth zu seiner Frau Megan im Die vielen Monate des Corona-Lock- Der Flug an die Ostküste ist längst
September, nachdem die Familie mehrere downs haben sie müde gemacht. Dazu ka- gebucht, der Umzugswagen organisiert.
Am 15. Oktober endet für Torsten und Womöglich sind Kettensägen und Flam- In Flammen
Megan Mayer-Rothbarth der kalifornische menwerfer da besser – und für Letzteres
Brände in Kalifornien 2020
Traum. ist Ed Smith Experte. Der Forstwissen-
schaftler, 59, steht mit schweren Schuhen
Die Frage, ob man bleiben soll oder ge- und einer Schiebermütze mitten in einem aktive Brände
hen, wird derzeit an vielen kalifornischen kalifornischen Wald in den Bergen der verbrannte Fläche
Familientischen diskutiert. Eine Umfrage Sierra Nevada und sagt von sich selbst, er
ergab in diesem Sommer und lange vor sei »pyrophil« – verliebt in Feuer. Auf sei- OREGON
den aktuellen Waldbränden, dass rund nem T-Shirt prangt ein Ring aus Flammen-
40 Prozent der Tech-Angestellten in der werfern.
San Francisco Bay Area in eine preiswerte- Schon als kleiner Junge, sagt Smith,
re Gegend umziehen würden, wenn sie dau- habe er alles Mögliche anzuzünden ver- August Complex
erhaft von zu Hause aus arbeiten könnten. sucht, Abfälle, Gestrüpp, einmal setzte er bisher sind
ca. 4100 km²
Auf Websites wie exitcalifornia.com oder versehentlich eine Gartenhütte seiner El- verbrannt
leavingthebayarea.com organisieren Um- tern in Brand. Smith ist heute »Experte
zugsdienstleister und Immobilienmakler für gutes Feuer«, wie er das nennt. Für die
die Flucht nach Idaho, Utah oder Colora- Umweltorganisation The Nature Conser- LNU Lightning
do. Mit dem kalifornischen Exodus lässt vancy setzt er Maßnahmen um, die den Complex Paradise
sich Geld verdienen. Wald widerstandsfähiger gegen Großbrän- ca. 1500 km²
Oroville North Complex
Das Silicon Valley, der Tech-Hub bei de machen sollen: indem man ihn aus- ca. 1300 km²
San Francisco, wo zu Giganten gewachse- dünnt, von Totholz und Gestrüpp befreit – Berry Creek
ne Digitalkonzerne wie Google, Facebook und absichtlich abbrennt. »Wir haben das Sacramento
und Apple die Welt zu Datenströmen ge- Feuer in Kalifornien 150 Jahre lang unter- French Meadows
SAN Reservoir
macht und neu sortiert haben, ist bisher drückt«, sagt Smith, »kein Wunder, dass FRANCISCO
erstaunlich gut durch das Horrorjahr 2020 es jetzt brennt wie Zunder.« Stockton
S i
gekommen. Das Leben mit der Pandemie Sein aktuelles Einsatzgebiet ist ein
hat bei digitalen Dienstleistungen die Wald beim Stausee French Meadows Re- NEVADA
e r
C e n t r a l
Silicon
Nachfrage nur verstärkt. Zoom, Google servoir, eine abgelegene, nur über staubige Valley
r a
Classroom und andere Plattformen erwie- Holzfällerstraßen zugängliche Wildnis.
sen sich als essenziell für eine Gesellschaft Hier leitet er ein Projekt, bei dem Teile Creek Fire
im Lockdown-Modus. des Walds bereits weitgehend »gesäubert« ca. 1300 km²
N e v a d a
Doch die sinkende Lebensqualität birgt wurden: Bäume wurden gefällt, Busch-
auch Gefahren für die Tech-Industrie, zu werk gerodet, der Wald wurde befreit von
SCU Lightning
V a l
deren Selbstverständnis es gehört, jedes Pro- einer Überfülle brennbaren Materials.
Complex
blem lösen zu können und den Planeten »zu Was übrig ist, kann im Frühling, wenn küh- ca. 1600 km²
einem besseren Ort« zu machen. Man darf lere Temperaturen und höhere Feuchtig-
l e y
infrage stellen, ob die geballte Innovations- keit ein unkontrolliertes Ausbreiten von
und Finanzkraft Kaliforniens, der fünftgröß- Feuern verhindern, mit gelegten Bränden
ten Volkswirtschaft der Welt, langfristig er- eliminiert werden. »Der Wald braucht das 5 KALIFORNIEN
halten werden kann, wenn hier in jedem Feuer«, sagt Umweltschützer Smith –
Herbst die Apokalypse aufgeführt wird. braucht es, um sich zu regenerieren, um
Insbesondere für Gutverdiener in der Sonnenlicht durchzulassen, um Platz zu Malibu
Tech-Branche sei »ein Wendepunkt er- schaffen für Artenvielfalt. LOS ANGELES
reicht«, glaubt die Silicon-Valley-Investo- Denn vor der europäisch-amerikani-
rin Alison Davis und erwartet, »dass der schen Besiedlung des Westens im 19. Jahr- az
P
ifik
Exodus in den nächsten 24 Monaten deut- hundert brannten hier jährlich im Schnitt
lich an Fahrt aufnimmt«. Die hohen Steu- rund 6000 Quadratkilometer Wald ab.
ern sind ein weiterer Fluchtgrund. Elon Der Himmel über Kalifornien, so vermu-
SAN DIEGO
Musk, Tesla-CEO, drohte im Sommer da- ten Umwelthistoriker, war im Sommer
mit, sein Hauptquartier nach Texas oder und Herbst oft rauchverhangen von vielen, USA
Nevada zu verlegen, als die Behörden pan- aber kleinen Bränden, ausgelöst durch
demiebedingt seine Autofabrik in Fremont Blitzschlag oder durch traditionelle Brand- N MEX
IKO
vorübergehend schlossen. techniken der Ureinwohner. Dann aller- 100 km
Für einen Abgesang ist es zu früh. dings, so Smith, begann die Unterdrü- ARIZONA
Aaron Levie, CEO der Softwarefirma Box, ckung des guten Feuers, das in einer
hofft, dass die Tech-Elite der Westküste modernen Zivilisation nur stört. In der
»vorangehen wird, um technologische Lö- zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 16353
sungen zu finden für diese Probleme«. In brannten in Kalifornien im Schnitt ledig- Verbrannte Fläche
seiner bisherigen Geschichte jedoch hat lich 230 Quadratkilometer Wald pro Jahr. in Kalifornien
das Silicon Valley die Menschheit vor al- Massen von Zündstoff blieben liegen. in Quadratkilometer*
7993
lem mit Onlineshopping und Social-Me- Gleichzeitig fingen die Kalifornier an, 6266
dia-Plattformen beglückt. »Wir wollten ihre Siedlungen immer weiter in Über- 3356 3565
fliegende Autos, stattdessen bekamen wir gangszonen zur Wildnis zu bauen –
140 Zeichen«, lautet ein Bonmot des Tech- Traumlagen in freier Natur zwar, aber
Investors Peter Thiel. Auch Google-Leute eben brandanfällig. Orte wie Berry Creek, 2010 2015 2020
können den Klimawandel nicht einfach wo Jeffrey Bitton lebte und sein Haus ver- * Schätzung
bis 7. Okt.
wegprogrammieren. lor, liegen vollständig im Wald. Die laxe Quelle: Cal Fire, Stand 7. Oktober
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Josh Edelson / AFP
Überreste von Berry Creek nach Waldbrand im September: Hitze, Dürre, reichlich Zündstoff
Baupolitik Kaliforniens, die das Vordrin- Zahllose Superstars wurden hier geschaf- men, Seerosenteiche, handgemalte Weg-
gen in Risikogebiete zuließ, gilt als wichti- fen, seit langer Zeit hat die Stadt Schau- weiser. »Die Schönheit dieses Landes ist
ger Grund für das Desaster. spieler, Regisseure, Künstler, Musiker an- berauschend«, sagt Funke, als sie sich zum
Schließlich kam der Klimawandel, die gezogen, deren Werke und Gesichter den Gespräch an einen Gartentisch setzt, das
Dürrephasen wurden länger, die Hitze- unablässigen Strom der Populärkultur näh- blondgraue Haar zurückgesteckt, vor sich
monate heißer, sodass sich im Herbst »die ren, der seit Jahrzehnten um die Welt geht. eine Flasche Ingwerbier. Der Lavendel duf-
Häufigkeit der extremen Wetterbedingun- Sie leben hier, weil der Großraum Los An- tet, exotische Vögel kreischen. »Meine wil-
gen für Wildfeuer in den vergangenen geles ein kulturelles Hochdruckgebiet bil- den Papageien«, sagt sie. Es gebe das Ge-
rund 40 Jahren mehr als verdoppelte«, det. Doch der Klimawandel setzt ihm zu. rücht, dass sie von zwei Papageien abstam-
wie der Klimaforscher Daniel Swain von Los Angeles ist auch die Wahlheimat men, die mal Bob Dylan gehörten. Der 79-
der University of California in Los Ange- der wahrscheinlich weltweit bekanntesten jährige Songwriter lebt in der Nähe.
les sagt. deutschen Schriftstellerin der Gegenwart. Das Anwesen ist »gelobtes Land« für
Kann Waldpflege die Westküste in der Cornelia Funke, 61, Fantasy- und Jugend- sie und ihre Gäste – Freunde, Künstler und
Zukunft vor katastrophalen Bränden be- buchautorin, hat 26 Millionen Bücher ver- »Leute, die einfach mal eine Pause brau-
wahren? Die Aufgabe sei »gewaltig«, kauft. Sie ist 2005 wegen einer Preisver- chen«. Einer dieser Gäste, der Komponist
räumt Smith ein. Hunderte oder Tausende leihung hergekommen und geblieben. Javier Navarette, warnte sie: »Diesen gol-
aufwendige Eingriffe, Milliarden Dollar Weil Kalifornien sie betörte, wie so viele denen Glanz wirst du überallhin mitneh-
seien nötig, Tausende Arbeitskräfte. Das Exilanten. Das Licht, die Kreativität, die men, wo du auch hingehst.« Navarette
Pilotprojekt, dem er vorsteht, behandelt Kultur, das Abenteuer. »Wenn du einmal schrieb unter den Avocadobäumen den
gerade mal 100 Quadratkilometer Fläche, in den Ort verliebt bist«, sagt sie, »dann Soundtrack für den Film »Pans Labyrinth«,
und er rechnet mit vollen acht Jahren, bis wird das zur Besessenheit.« den Funke später mit Regisseur Guillermo
allein dieses Stück Wald saniert ist. Selbst Doch auch Funkes Kalifornien wäre bei- del Toro als Buch adaptierte.
wenn es gelingt: »Gegen Megafeuer wäh- nah abgebrannt. 2018 war das, als sich das Nun erhält der goldene Glanz Malibus
rend Extrembedingungen kann man den »Woolsey Fire« über die Berge fraß, bis hässliche Flecken aus Ruß. Viele Probleme
Wald nicht schützen«, sagt Ed Smith. knapp vor ihr Haus in den Hügeln von Ma- lassen sich aussperren mit genügend Geld,
libu. Sie hatte großes Glück. aber Flammen, Rauch und Hitze machen
Raus aus dem Wald, 500 Kilometer süd- Das Grundstück hoch über dem Pacific nicht halt an den hohen Hecken um die
wärts auf der Karte, fast bis ans andere Coast Highway wirkt wie eine ihrer Fan- Villen der Reichen und Einflussreichen.
Ende Kaliforniens: Dort liegt Los Angeles, tasy-Szenerien, ein Paradies im Paradies. Und seit dem Woolsey-Feuer hadert auch
die wahre Weltkulturhauptstadt des vori- Unter knorrigen Avocadobäumen duckt Funke mit dem Californian Dream. In die-
gen und des angebrochenen Jahrhunderts. sich ein Steinhaus, ringsum Kakteen, Blu- sem Herbst packte sie der Fluchtinstinkt.
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Ausland
»Als das jetzt wieder losging mit der Brand- Bergen und Küsten, gleichzeitig das Rück- als andere Gruppen. Sie machen knapp
saison, habe ich gesagt, Leute, ich glaube, grat und die Rückseite des kalifornischen 40 Prozent der Bevölkerung aus, aber
ich muss jetzt weg. Ich wollte eine Zeit Traums. Touristen kommen hier selten rund 60 Prozent der über 800 000 Infi-
lang weiter nach Norden – aber jetzt vorbei, weil sie den pittoresken Highway 1 zierten des Staates und fast die Hälfte sei-
brennt es dort auch.« entlang der Küste der Interstate 5 vorzie- ner Corona-Todesopfer. Die Arbeiter le-
Immerhin hat sie Möglichkeiten, die die hen, der Hauptschlagader für Kaliforniens ben oft in Mehrgenerationenhaushalten
meisten Bewohner nicht haben. Ihr Para- Landwirtschaft. Es ist das Zielgebiet latein- zusammen, sie werden zusammenge-
dies will sie schützen, indem sie etwa Was- amerikanischer Einwanderer, Hunderttau- pfercht in Bussen auf die Felder gefahren,
sertanks bauen und einen neuen Teich an- sende von ihnen sorgen mit ihrer billigen Social Distancing ist hier eine Illusion.
legen lässt sowie ein Sprinklersystem ge- Arbeitskraft dafür, dass Kalifornien das
gen Funkenflug. »Die Feuer«, weiß Funke, Land mit Früchten und Gemüse versorgen »Wir können so nicht weitermachen«,
»werden jedes Jahr kommen.« kann. Die Packer des Central Valley arbei- ist das Fazit von Farhad Manjoo. Der
ten weiter, egal ob die Sonne mit Rekord- »New York Times«-Kolumnist, eine der
Zurück in der Stadt, auf dem Hollywood hitze brennt, ob das Virus sie verfolgt, ob prominentesten öffentlichen Stimmen Ka-
Boulevard, einer schäbigen Meile, die nur die Flammen näher rücken oder der Rauch liforniens, hofft, dass die Vielzahl von
einmal im Jahr für die Oscarverleihung auf- beim Atmen stört. Krisen seine Heimat nun endlich zum
poliert wird, schlurfen ein paar Touristen So wie Yasmin Acevedo, die seit vielen Umdenken zwingt. Dafür aber, so sagt er,
an den Obdachlosen vorbei. Neulich trieb Jahren in diesen Feldern kniet. Sie ist 39, müsse der kalifornische Urmythos begra-
der Wind dichte Luftschwaden mit krebs- kam vor 20 Jahren aus Mexiko über die ben werden. »Die grundlegende Idee Ka-
erregenden Schadstoffen in den Talkessel, Grenze und hat mit 15 das letzte Mal die liforniens ist die Unbegrenztheit«, glaubt
in dem Los Angeles liegt. »Die Leute zie- Schule besucht, Englisch spricht sie kaum. Manjoo und meint damit das unbegrenzt
hen nach Los Angeles, weil es eine leere Hier, in Stockton im Hinterland von San verfügbare Land, unbegrenzten Treibstoff
Leinwand ist, auf die sie ihre Träume proji- Francisco, hat sie drei Kinder großgezogen für die Autos, den endlosen Vorrat an Was-
zieren können«, sagt der Hollywoodregis- und ansonsten geerntet, was man ihr zu ser, endlosen Optimismus. »Und endlose
seur Jack Bender. »Hier können sie alles ernten befahl. Auch als im Sommer das Parkplätze.« All das zeigt sich in den Vor-
haben: Berge, Strände, Wüste. Und jeden Coronavirus über die USA kam, konnte orten, wo sich die schmucken, aber unfass-
Tag scheint die Sonne.« Bender, ein quir- Acevedo nicht zu Hause bleiben, auf den bar platzraubenden Einfamilienhaussied-
liger Mann mit grauem Strubbelkopf und Feldern gab es keinen Lockdown, und sie lungen bis zum Horizont strecken, durch
schwarzer Hornbrille, sitzt in seinem Ate- hat kein Homeoffice. »Ich muss meine Fa- Autobahnnetze verbunden, bis in die Wäl-
lier in Westwood am Rande von Los Ange- milie ernähren«, sagt sie. der hinein.
les. Bis unter die Decke stapeln sich Gemäl- Östlich und westlich brannten die Wäl- »Kalifornien muss verdichtet werden, in
de: Porträts, Stillleben, ein Elefant. Seine der gleichzeitig, es regnete Asche auf die jeder Hinsicht«, sagt Manjoo. Die Men-
Frau hat ihm diese Gartenlaube bauen las- Felder, während sie mit einer Schutzmaske schen müssten enger beieinander wohnen,
sen, nachdem seine langjährige Kultserie im Gesicht und bei 35 Grad Hitze Pfirsiche müssten sich aus der Wildnis zurückziehen
»Lost« 2010 zu Ende gegangen war und pflückte. Auf einigen Feldern wird Stunden- und ihre Städte aufstocken. Sie müssten
Bender sich selbst etwas verloren fühlte. lohn gezahlt, auf anderen verdient man nur die Energieeffizienz ihrer Transportmittel
»Lost«, dessen Protagonisten mit über- so viel, wie man einsammelt. »Für eine und ihrer Behausungen massiv erhöhen.
natürlichen Mächten kämpfen, bleibt bis 20 Kilo schwere Kiste kriege ich 2 Dollar, »Wenn wir langfristig weiter hier leben
heute ein globales Phänomen. Mit 70 ist 30 Dollar am Tag kommen so im Schnitt wollen, müssen wir begreifen, dass die Un-
Bender einer der meistbeschäftigten Fern- zusammen«, sagt sie. Pausen sind selten. begrenztheit aller Ressourcen ein Trugbild
sehregisseure Hollywoods. Doch seit März Latinos in Kalifornien erkranken und war«, sagt Manjoo.
hat er nicht mehr gedreht. »Das ist die sterben weitaus häufiger am Coronavirus Wahrscheinlicher ist, dass Kalifornien
längste Zeit meines Lebens, die ich nicht sich anpassen wird an die neue Abnorma-
am Set war«, sagt er im Videochat. lität, sich an sie gewöhnen wird, sobald der
Hollywood muss sich umorientieren und Rauch verzogen ist. Manche werden flie-
tut das auch. Schon länger locken Steuer- hen, andere werden kommen. Die Bewoh-
vorteile viele Produktionen nach New ner dieses ungezähmten Landes, die ihre
York City und Georgia, aber auch nach To- Städte an der Nahtstelle zweier tektoni-
ronto und Vancouver in Kanada, das längst scher Platte bauten, haben schon immer
den Spitznamen »Hollywood North« trägt. mit Katastrophen gelebt. Und auch das
2019, noch vor Corona, waren mehr als nächste große Erdbeben, »The Big One«
die Hälfte der Filmproduktionen in Kana- genannt, kann die Menschen hier theore-
da Hollywoodprojekte – so viele wie nie. tisch schon nächstes Jahr treffen, oder in
Corona und das Klima könnten diesen zehn Jahren oder in hundert. Das Wissen
Trend bestärken, sagt Jack Bender. um den möglichen Untergang ist vielleicht
Die ersten Filme unter Corona-Bedin- der Grund für ihre Risikobereitschaft.
gungen entstehen nun gerade wieder – in Jeffrey Bitton hat mit Hund Rambo seit
Winni Wintermeyer / DER SPIEGEL
Kanada und Europa. Bender plant einen dem Feuer wochenlang in seinem Auto
Dreh in North Carolina. Nur wenn Trump übernachtet. In seiner verbrannten Hei-
die Wahl gewinnen sollte und seine Mili- mat Berry Creek sind die Aufräumarbei-
zen mit Waffen anrückten, würde er ab- ten im Gang, Bulldozer räumen die Reste
hauen, sagt Bender. Doch wohin? Er blickt aus dem Weg. Wie geht es weiter für ihn?
ratlos. Er hat keinen Notfallplan. Bitton hat sich schon entschieden: »Sobald
es geht, baue ich mein Haus wieder auf.«
Beinahe über ganz Kalifornien erstreckt Umweltschützer Smith Guido Mingels, Marc Pitzke,
sich das Agrargebiet des Central Valley, Verliebt ins Feuer Daniel C. Schmidt
ein 700 Kilometer langes Band zwischen
Für Gerald Knaus ist Migration eine per- haben an der Grenze zur Türkei wohl auf SPIEGEL: Bisher scheitern die EU-Mit-
sönliche Angelegenheit. Seine Großmutter, Flüchtlinge geschossen. Ist die Mehrheit gliedstaaten daran, abgelehnte Asylbewer-
eine Kosakin vom Schwarzen Meer, wurde der Europäer inzwischen bereit, die Gren- ber rasch abzuschieben.
nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin von zen mit allen Mitteln gegen Migranten zu Knaus: Über kaum ein Thema wird so rea-
Rotarmisten getötet. Seine Mutter versteck- verteidigen? litätsfern diskutiert wie über Abschiebun-
te sich als Staatenlose in Österreich. Knaus Knaus: Rechtspopulisten wie Viktor Orbán gen. Keinem EU-Land gelingen viele Ab-
wuchs in Wien auf, später lebte er in der oder Matteo Salvini haben den Menschen schiebungen in Länder außerhalb Europas.
Ukraine, in Bulgarien und der Türkei. erfolgreich eingeredet, dass Migrations- In die Balkanländer, in die Ukraine aber
2016 wurde er bekannt, als er mit seinem kontrolle nur mit Gewalt möglich sei. Aber gelingen sie. Diesen Staaten hat die EU in
Thinktank »Europäische Stabilitätsinitia- das stimmt nicht. den vergangenen Jahren visafreies Reisen
tive« den Flüchtlingsdeal zwischen der EU SPIEGEL: Was ist die Alternative? Offene angeboten. Die EU sollte Tunesien und
und der Türkei entwarf und die türkische, Grenzen? Marokko das Gleiche anbieten: einen Visa-
die niederländische und die deutsche Regie- Knaus: Keine Demokratie der Welt hat of- liberalisierungsplan, im Gegenzug für
rung von der Idee überzeugte. Für das Ab- fene Grenzen für jeden. »No borders« ist Rücknahme und den Aufbau funktionie-
kommen wurde er von Linken wie Rechten nur ein Slogan. »No inhumane borders«, render Asylsysteme.
kritisiert, der 50-Jährige sieht sich selbst als also keine unmenschlichen Grenzen, sind SPIEGEL: Wer garantiert, dass zum Beispiel
Pragmatiker. »Welche Grenzen brauchen dagegen ein realistisches Ziel. Grenzen, an Marokkaner nicht einfach in Europa blei-
wir?«, fragt Knaus nun in seinem neuen denen niemand ums Leben kommt, die ben?
Buch*. Darin entwirft er eine neue euro- durchlässig sind. Knaus: Die meisten Regierungen nehmen
päische Flüchtlingspolitik. SPIEGEL: Was heißt das konkret im Mit- abgelehnte Asylbewerber nicht zurück,
telmeer? weil es unpopulär ist. Doch visafreies Rei-
SPIEGEL: Herr Knaus, seit Jahren debat- Knaus: Dort brauchen wir schnelle und sen wäre bei den Marokkanern so beliebt,
tiert die EU über Flüchtlingspolitik und faire Asylverfahren. Wer irregulär, ohne dass die marokkanische Regierung einen
wird sich nicht einig. Was hindert sie daran, Anrecht auf Schutz kommt, sollte rasch echten Anreiz hätte, bei Abschiebungen
eine Lösung zu finden? in das Herkunftsland oder in ein sicheres zu kooperieren. Mit der Ukraine gibt es
Knaus: Wir sprechen viel über Migrations- Transitland abgeschoben werden. Gleich- seit der Visaliberalisierung 2017 aus diesem
druck, obwohl heute regulär und irregulär zeitig sollten Demokratien wie Deutsch- Grund keine Probleme mehr. Bis Anfang
nicht mehr Menschen aus Afrika nach land mehr Flüchtlinge durch Neuansied- der Neunzigerjahre konnten Marokkaner
Europa kommen als vor zwei Jahrzehn- lungen direkt nach Europa bringen – be- und Tunesier außerdem schon einmal ohne
ten. Wir reden über Migrationswellen, vor sie sich in die lebensgefährlichen Boo- Visum in Teile der EU reisen. Ein solches
Fluten, Ströme. Das sind Mythen: irregu- te der Schlepper setzen. Ich bin davon Abkommen ist nicht illusorisch.
läre Migration als Naturgewalt, Flüchtlin- überzeugt, dass die meisten Europäer ein SPIEGEL: Der Flüchtlingsdeal zwischen
ge als mächtige Heerschar. Diese apoka- System der humanen Kontrolle unterstüt- der EU und der Türkei, den Sie entschei-
lyptischen Bilder entsprechen nicht der zen würde, wenn dadurch weniger Men- dend mitentwickelt haben, sah Ähnliches
Realität. schen sterben müssten. vor. Und er ist gescheitert.
SPIEGEL: Welcher Mythos stört Sie be- Knaus: In Griechenland, ja. Gleichzeitig
sonders? ist die Zahl der Menschen, die in der Ägäis
Knaus: Dass Grenzschützer vermeintlich ertrinken, dramatisch zurückgegangen,
irreguläre Migration reduzieren. ebenso die Zahl jener, die mit Schmugglern
SPIEGEL: Ist das denn nicht so? über das Meer kamen. Zudem hat die EU-
Knaus: Polizisten, die sich an EU-Recht Hilfe die Situation für mehr als drei Millio-
halten, verhindern keine Migration. Das nen Syrer in der Türkei verbessert. Als die
schaffen nur gewalttätige Grenzer wie ehe- Türkei Ende Februar versuchte, Flüchtlinge
mals an der Berliner Mauer. EU-Recht ver- an die griechische Grenze zu schicken, wa-
bietet das Zurückstoßen von Asylbewer- ren darunter nur wenige Syrer.
bern. Die eigentliche Frage ist nicht: Kön- SPIEGEL: Auf den griechischen Inseln hau-
nen wir Grenzen schützen? Die Frage ist: sen dafür Zehntausende Flüchtlinge unter
Was sind wir bereit zu tun, um Flüchtlinge erbärmlichen Bedingungen. Im September
aufzuhalten? Damit ist es eine Debatte brannte das Camp Moria auf Lesbos nie-
über uns, nicht über Naturkräfte im Rest der. Wie konnte es so weit kommen?
Gene Glover / DER SPIEGEL
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Louisa Gouliamaki / AFP
Flüchtlinge in Griechenland: »Was sind wir bereit zu tun, um Migranten aufzuhalten?«
chenland hätte schnell entscheiden müs- Flüchtlinge vom Festland umverteilen, so Flüchtlingshilfswerk sind weltweit knapp
sen, wer aufs eigene Festland kommt und wie es 2016 und 2017 bereits geschah. 80 Millionen Menschen auf der Flucht.
wen man in die Türkei zurückschickt. Da- SPIEGEL: Die EU-Kommission hat sich Knaus: Diese Zahl führt in die Irre. Die
für fehlte aber der politische Wille. Das im September weitgehend von dem Ziel allermeisten der 80 Millionen haben ihr
hat dazu geführt, dass nicht schnelle Rück- verabschiedet, Flüchtlinge auf EU-Staaten Land nie verlassen, die größte Gruppe da-
führungen, sondern schlechte Zustände zu verteilen. Ist die Idee einer gemeinsa- runter sind Kolumbianer. Auch Palästi-
auf den Inseln dafür sorgen sollten, dass men europäischen Asylpolitik damit er- nenser werden mitgezählt, die längst die
weniger Menschen kommen. Seit März ledigt? jordanische Staatsbürgerschaft besitzen.
dieses Jahres ist klar, dass niemand zurück- Knaus: Manche Regierungen in der EU Wenn man jene Schutzbedürftigen zählt,
geschickt wird, weil die Türkei das Abkom- wollen die Grenzen seit Jahren mit Ge- die in den vergangenen zehn Jahren auf
men ausgesetzt hat. Und trotzdem werden walt dichtmachen. Wenn Deutschland das der Flucht in arme Nachbarländer Gren-
Leute auf den Inseln festgehalten. Das ist nicht mittragen möchte, muss die Regie- zen überschritten haben und in Not sind,
auch der Kern des Problems mit dem jet- rung eine Koalition aus Staaten schmie- kommt man auf rund 15 Millionen.
zigen Migrationspakt: Ohne realistische den, die anders handelt. In Évian kam die SPIEGEL: Die Flüchtlingskrise ist lösbar?
Alternative zur Abschreckung drohen wei- Staatengemeinschaft 1938 zusammen, um Knaus: Ja. Die Europäer sollten sich Ka-
tere Morias im Mittelmeer. 500 000 Juden aus dem Dritten Reich zu nada zum Vorbild nehmen. Die Kanadier
SPIEGEL: Was wäre die Lösung? retten. Die Amerikaner betonten schon in nehmen jedes Jahr 30 000 Flüchtlinge
Knaus: Die EU sollte weiter Geld für die der Eröffnungsrede, nicht mehr Flüchtlin- durch Resettlement auf. Davon kommen
Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei, ge als bislang aufnehmen zu wollen. Die 20 000 durch Patenschaften von Bürgern
aber auch im Libanon bereitstellen. Dazu Konferenz endete im Desaster. 1979 in für einzelne Flüchtlinge ins Land – das
sollten Staaten von dort wieder mehr Genf lief es angesichts schrecklicher Zu- sind 0,05 Prozent der kanadischen Bevöl-
Flüchtlinge direkt aufnehmen. Wenn nur stände im Südchinesischen Meer anders. kerung. Auf Deutschland umgerechnet,
wenige Tausend Menschen im Monat kom- Die USA versprachen, Hunderttausende ergäbe das 60 000 Neuansiedlungen, da-
men, muss es möglich sein, auch auf den In- Menschen aus Lagern in Südostasien auf- von 40 000 durch Patenschaften. So
seln binnen Wochen ein faires Asylverfah- zunehmen, Kanadier und Deutsche schlos- könnte man die Hilfsbereitschaft von
ren zu gewähren. Zum Beispiel durch eine sen sich an. Mehr als zwei Millionen Städten und Bürgern mit der Kontrolle
Kooperation mit Asylbehörden wie dem Flüchtlinge wurden umgesiedelt. Die heu- durch den Staat versöhnen. Die Flücht-
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. tige Diskussion in der EU erinnert an Évi- linge wüssten sofort, dass sie im Land
Wer keinen Schutz benötigt, wird zurück- an. Wir sollten uns an Genf erinnern. bleiben dürfen. Dadurch würde auch die
geschickt. Andere EU-Staaten sollten Grie- SPIEGEL: Es geht aber nicht um einige Integration viel besser klappen. Finanzie-
chenland helfen, indem sie anerkannte Hunderttausend Flüchtlinge. Laut Uno- ren könnte man das Projekt aus einem
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Kultur, in der die Jugend verherrlicht wird
und das Altwerden als eine Verschlechte-
rung mit wachsender Demenz gilt.«
Laut dem World Values Survey, einer
internationalen sozialwissenschaftlichen
Befragung, zählt Schweden zu den Län-
dern, in denen ältere Menschen eher ge-
ringgeschätzt werden. Danach betrachten
kaum mehr als 20 Prozent im Land die
über Siebzigjährigen mit Respekt, weniger
als in den meisten anderen untersuchten
Nationen. Zu diesem Befund passt die in
Schweden bekannte Geschichte über die
Klippen, an denen sich ein blutiges Ritual
abgespielt haben soll.
Für nutzlos befundene Alte stürzten
sich danach zur Wikingerzeit von hoch
V
on Eriwan, der Hauptstadt Armeniens, sieht man an Und so sieht sich das kleine Armenien mit seinen drei Mil-
klaren Tagen den schneebedeckten Gipfel des Ararat. lionen Einwohnern derzeit von einer doppelten Übermacht
Der Berg liegt in der Türkei, aber er gilt den Arme- angegriffen: vom dreimal so großen, ölreichen Aserbaidschan
niern als Wahrzeichen ihres Landes. Er erinnert sie im Osten und von der Mittelmacht Türkei im Westen. »Die
an ihre verlorene Heimat jenseits der Grenze und an den Völ- Armenier«, sagt Premier Paschinjan im Interview, »sind im
kermord, dem die Armenier dort ab 1915 ausgesetzt waren. Südkaukasus das einzige Hindernis für eine expansionistische,
In diesen Tagen, da Armenien sich im Krieg mit seinen imperiale Politik der Türkei.« Es geht ihm zufolge also gar
Nachbarn Aserbaidschan und der Türkei sieht, ist die Erin- nicht um Bergkarabach, sondern um eine Art Anschluss Aser-
nerung an den Genozid lebendiger denn je. Wenn man den baidschans an die Türkei, bei dem das dazwischenliegende
armenischen Premierminister Nikol Paschinjan reden hört, Armenien nur störe.
dann ist das Jahr 2020 nämlich so etwas wie die Fortsetzung Die armenische Notlage erklärt die schrillen Töne Paschin-
des Jahres 1915. Was das Osmanische Reich 1915 begonnen jans, aber sie rechtfertigt sie nicht. Der Premier ist ein Popu-
habe, die Ausrottung der Armenier, das wolle die Türkei ein list, der mit scharfen Äußerungen zur jetzigen Eskalation bei-
Jahrhundert später fortsetzen, so erzählte es der Premier getragen hat. Ohne Not, aus innenpolitischen Erwägungen,
diese Woche dem SPIEGEL in hat er 2019 auf einer öffentlichen
seinem Regierungssitz in Eriwan. Kundgebung in Bergkarabach
Die Existenz seines Volkes stehe verkündet, »Arzach ist Arme-
auf dem Spiel. nien. Punkt.« Das war eine laut-
Das sind schrille Töne. Tat- starke Absage an alle Friedens-
sache ist, dass ein drei Jahr- verhandlungen. Sie entsprach
zehnte alter Konflikt zwischen der Stimmung im eigenen Land:
Armenien und Aserbaidschan in Die Bereitschaft, für einen Deal
diesen Wochen neu entbrannt mit Baku Teile der besetzten
ist. Es geht um Bergkarabach, Gebiete abzutreten, ist dort über
eine mehrheitlich armenisch die Jahrzehnte geschwunden.
Pablo Gonzalez / imago images
bewohnte Region, die sich von Aber sie widersprach jeder
Aserbaidschan abgespalten hat. staatsmännischen Vorsicht.
Die nicht anerkannte »Republik In den Ohren der Aserbaid-
Arzach« gehört völkerrechtlich schaner klingt die Unterstellung,
zu Aserbaidschan, kontrolliert ein neuer Völkermord sei ge-
und beschützt wird das Gebiet plant, völlig absurd. Schließlich
von Armenien. Unter den vielen sind viele Gebiete, um die der-
»eingefrorenen Konflikten«, die Zerstörte Wohnhäuser in Stepanakert, Bergkarabach zeit besonders heftig gekämpft
mit dem Ende der Sowjetunion wird, menschenleer, seit armeni-
entstanden sind, stehen sich in diesem die Gegner am un- sche Truppen die aserbaidschanische Bevölkerung von dort
versöhnlichsten gegenüber. vertrieben haben. Sie schufen damals eine »Sicherheitszone«
Aber aus dem uralten Streit ist unversehens ein neuer um das umstrittene Gebiet Bergkarabach herum.
Krieg geworden. Und das liegt auch am türkischen Präsiden- Aber gerade weil der Streit so komplex ist, gilt es, einfache
ten Recep Tayyip Erdoğan. Tatsachen festzuhalten: Was jetzt im Südkaukasus stattfindet,
Anders als in früheren Jahren, als es zu einzelnen Ge- ist mehr als das Aufflammen eines alten Konflikts. Es ist ein
fechten an der Frontlinie kam, hat Aserbaidschans autoritär regelrechter neuer Krieg zwischen Staaten, vom Angreifer
regierender Präsident Ilcham Alijew sich diesmal offenbar kühl geplant und mit neuester Technik und massivem Trup-
zum Ziel gesetzt, ein und für alle Mal das gesamte Territo- peneinsatz geführt. Dieser Krieg richtet sich auch gegen die
rium zurückzuerobern. Auf Zivilisten nimmt er keine Rück- armenische Bevölkerung in Bergkarabach. Ihre Vertreibung
sicht, das zeigt der tägliche Beschuss der größten Stadt von scheint Teil des Rückeroberungsplans.
Bergkarabach, Stepanakert. Beides müsste die Weltgemeinschaft zu klaren Worten gegen
Das einzige Land, das ihn in seinem Vorgehen offen Aserbaidschans Angriff und seine Unterstützung durch Ankara
bestärkt, statt zu einem Waffenstillstand aufzurufen, ist die veranlassen – ohne dabei Armenien durchgehen zu lassen,
Türkei, Aserbaidschans historischer Partner. Die Aserbaid- dass es seinerseits aserbaidschanische Zivilisten beschießt.
schaner sind ein muslimisches Turkvolk, sie sprechen eine Bleibt die Frage, was Russland tut, die traditionelle Schutz-
dem Türkischen eng verwandte Sprache. Als »zwei Staaten, macht Armeniens. Der Kreml hält sich bisher zurück. Russ-
ein Volk« hat Erdoğan das Verhältnis beschrieben. land werde seinen Bündnisverpflichtungen nachkommen,
Die Türkei hat mindestens tausend syrische Rebellen als sagte Paschinjan vorsichtig im Gespräch mit dem SPIEGEL.
Kämpfer gegen Armenien angeworben, türkische F-16-Kampf- So hat das auch Putin formuliert – aber Russlands Präsident
flugzeuge wurden auf einem aserbaidschanischen Flughafen hat klargestellt, dass diese Verpflichtungen sich nur auf das
gesichtet. Der türkische Außenminister sprach offen von »Soli- Gebiet Armeniens beziehen, nicht auf Bergkarabach.
darität auf dem Schlachtfeld wie am Verhandlungstisch«. Christian Esch
2018
11
Debütanten Robin Koch, 23 Lukas Klostermann, 22 Mark Uth, 27 Thilo Kehrer, 21 Kai Havertz, 19 Nico Schulz, 25
Leeds United RB Leipzig Schalke 04 Paris Saint-Germain FC Chelsea Borussia Dortmund
9. Okt. 2019 20. März 2019 13. Okt. 2018 9. Sept. 2018 9. Sept. 2018 9. Sept. 2018 Löw
* jeweils bis
Ende September
Gut zu wissen
99
Vera Hartmann / DER SPIEGEL
Judoka Dinkel: »Mama, ich muss dir was sagen, der Klaus fasst uns komisch an«
100
Sport
W
enn Marie Dinkel vor dem ausschließlich männliche Trainer, sie wech- diese leise anfängt zu reden: »Mama, ich
Judotraining auf die Sport- seln sich ab. Einer von ihnen ist Klaus L.*, muss dir was sagen, der Klaus fasst uns
halle zuging, suchte sie mit damals Anfang vierzig. komisch an.«
schnellen Blicken den Park- Marie Dinkel weiß nicht mehr genau, Die Worte treffen Anette Dinkel wie ein
platz ab. »Mir ist ein Schauer über den wann es angefangen hat, dass sich die drei Schlag, dann beginnt sie zu verstehen:
Rücken gelaufen, wenn ich gesehen habe, Mädchen vor dem Training in der Um- Marie, die so fürs Judo brannte, hat schon
dass sein schwarzer Mercedes da stand«, kleidekabine gegenseitig die Judohosen länger keine Lust mehr gehabt.
sagt sie, »ich wusste, wenn wir mit ihm enger schnüren. Es wird zur Routine. »Da- Klaus L. genießt in dem Verein hohes
allein sind, dann geht es wieder los.« mit er es nicht so leicht hat.« Ansehen, als langjähriger Trainer, der sich
An einem Nachmittag im September Weil immer zwei gegeneinander kämp- für die Kinder einsetzt, Ausflüge organi-
sitzt Marie Dinkel, 24, am Esstisch ihrer fen sollen, muss eine von ihnen mit Klaus siert und sie sportlich voranbringt.
Wohnung. Eine Frau in schwarzem Kleid, L. trainieren. Marie Dinkel, die Jüngste, Über Verniedlichungen wie »na, meine
die Haare hochgebunden, um den Hals zieht am häufigsten »die Arschkarte«. So Kleine« oder »na, meine Süße«, sagt
trägt sie eine goldene Kette mit einem nennen es die Teenager. Marie Dinkel, habe sich niemand Gedan-
Schutzengel. Das Training findet in einem kleinen, ken gemacht. Klaus L. habe die Judoka
Dinkel gehört zu den besten deutschen abgelegenen Raum in der Schulsport- umarmt und gestreichelt, auch dann, wenn
Judoka, sie kämpft in der Gewichtsklasse halle statt, zu dem die Mädchen über eine Eltern oder andere Trainer in der Nähe
bis 57 Kilogramm in der 2. Bundesliga. Sie kurze Steintreppe gelangen. Der Holz- waren.
will über den sexuellen Missbrauch spre- boden ist mit grünen und roten Judomat- Die Kommission der Bundesregierung
chen, den sie als Kind in ihrem Judoverein ten ausgelegt. will nun wissen, warum sexualisierte Ge-
erlebt hat. Sie will über die Ängste reden, Marie Dinkel erinnert sich noch genau walt im Sport begünstigt wird und wie
die sie jahrelang begleitet haben, und dass daran, wie sie auf dem Rücken liegt, als man ihr begegnen kann. In den Jahren
sich die Taten wie Narben in ihre Gefühls- sich Klaus L. auf sie setzt, sein Becken zuvor hat sie Missbrauch im familiären
welt eingebrannt haben. senkt, sich schwer macht und ihren Körper Umfeld, in der DDR und in Kirchen un-
Körperliche Nähe, Hierarchien und in die Matte drückt. Wie er ihren Ober- tersucht.
Leistungsdruck begünstigen Missbrauch körper fixiert, bevor er mit der Hand in »Wir haben Meldungen aus dem Frei-
in Turnhallen und Schwimmbädern. Aber ihre Hose greift. Sie kann nicht Stopp zeit-, Breiten- und Leistungssport, auch
die wenigsten Fälle gelangen an die Öf- sagen, sich nicht wehren, nicht schlagen aus dem Schulsport«, sagt die Kommis-
fentlichkeit, oft werden sie tabuisiert, oder schreien. »Ich war wie versteinert«, sionsvorsitzende Sabine Andresen. Die
totgeschwiegen. Marie Dinkel hat sich sagt sie. Es sei ihr vorgekommen wie eine Vergehen reichen von anzüglichen Bemer-
der Unabhängigen Kommission zur Auf- Ewigkeit. kungen bis zu schweren Vergewaltigungen.
arbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs Wenn Dinkel davon erzählt, umgreift Andresen vermutet eine sehr hohe
anvertraut, die die Bundesregierung ein- sie die Tasse Tee vor sich so fest, dass ihre Dunkelziffer. Forscher der Sporthochschu-
gesetzt hat. Fingerkuppen weiß anlaufen. Sie sitzt auf- le Köln und des Universitätsklinikums
Vor anderthalb Jahren hat diese Exper- recht, ihre grünen Augen werden feucht. Ulm veröffentlichten im Jahr 2016 eine
tengruppe Personen aufgerufen, sich zu Aber sie weint nicht. Studie, in der sie Kaderathleten in
melden, wenn sie im Sport sexuell miss- Als Klaus L. sie ein anderes Mal von Deutschland befragten. Etwa ein Drittel
handelt oder missbraucht wurden. Seit vorn umarmt, sie mit einer Hand gegen berichtete von Übergriffen, drei Prozent
Mai 2019 haben rund hundert Betroffene den Mattenwagen drückt und von unerwünschten Küssen
ihre Erlebnisse der Kommission offenge- mit der anderen Hand am Gürtel oder Vergewaltigungen.
legt. In der kommenden Woche sollen vorbei in die Hose fasst, sind Rund Sexuelle Gewalt an jungen
100
auf einem Hearing erste Ergebnisse disku- auch Erwachsene in der Halle. Sportlern ist international weit
tiert werden. Er habe sich bewusst so gestellt, verbreitet. Im britischen Fuß-
Marie Dinkel wächst in einem 100-Ein- dass es niemand sehen konnte, ball kamen vor vier Jahren Hun-
wohner-Dorf in Mittelhessen auf. Eigent- sagt Marie Dinkel. Wieder wehrt derte Missbrauchsfälle an die
lich möchte sie reiten. Aber um sich besser sie sich nicht, wieder bleibt die Öffentlichkeit. In den USA wur-
verteidigen zu können, soll sie einen Tat unbemerkt. de 2018 der damalige Turnver-
Kampfsport lernen. So will es ihr Vater. Marie Dinkel behält das Erleb- Personen bandsarzt Larry Nassar für den
Zweimal die Woche trainiert sie bald in te monatelang für sich – bis zu Missbrauch teils Minderjähriger
der Judoabteilung des TV Gladenbach, einem Samstag im Oktober vor
haben ihre zu mehr als 175 Jahren Freiheits-
zehn Autominuten von zu Hause entfernt. zwölf Jahren, wie sich ihre Mut- Fälle seit strafe verurteilt. Als im selben
Bei ihrem ersten Wettkampf ist Marie ter Anette Dinkel, 52, erinnert. Mai 2019 Jahr die Eisschnelllauf-Olympia-
Dinkel acht. Sie ist talentiert, bekommt Die Pharmazeutin fährt ihre siegerin Shim Suk Hee ihren
deshalb nach einigen Jahren ein Extra- Tochter gerade mit dem Auto offengelegt. Trainer beschuldigte, sie verge-
training, immer samstags, gemeinsam mit vom Training nach Hause, als waltigt zu haben, startete Süd-
zwei anderen Mädchen, die 13 und 14 Jah- Quelle: Kommission zur
Aufarbeitung sexuellen
koreas nationale Menschen-
re alt sind. Beim TV Gladenbach gibt es * Name geändert. Kindesmissbrauchs rechtskommission eine Unter-
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Luft im Hintern
Forschung Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft hat mit Steuergeldern für einige der absurdesten
Momente der westdeutschen Sportgeschichte gesorgt – trotzdem soll es jetzt gefeiert werden.
zierte auch Dopingforschung und sogar terium, Forschungen mit Anabolika, Tes-
die Anwendung illegaler Substanzen. tosteron und anderen für Dopingzwecke
Auch politisch ist die Arbeit der Behörde geeigneten Substanzen«, so der Sport-
umstritten. Die Sportverbände schätzen Ruderer Kolbe bei Olympia 1976 in Montreal historiker Giselher Spitzer, der die west-
das BISp zwar als Geldquelle, wollen sich Wenige Meter vor dem Ziel eingebrochen deutsche Dopinggeschichte erforschte.
104
vidualtaktischen Angriffsverhalten im
Kinderhandball« steht ebenso auf der
aktuellen Projektliste wie die Erarbeitung
»taktischer Entscheidungsregeln bei risiko-
reichen Schlägen im Golf«.
Es hört sich unverfänglich an, wofür der
Bund heute das Geld ausschüttet. Doch
die Erwartungen an deutsche Athleten im
internationalen Wettstreit sind nach wie
vor hoch. Als die Sportler bei den Olym-
pischen Spielen in London und Sotschi auf
Rang sechs der Nationenwertung abrutsch-
ten, reichte es Innenminister Thomas de
Maizière: Ein Drittel mehr Medaillen
müssten künftig gewonnen werden, for-
derte er 2015. Die mehr als 150 Millionen
Euro allein aus seinem Haus sollten besser
angelegt werden.
Das BISp war gleich mit Änderungs-
vorschlägen zur Stelle. Der Bund solle ein
»Bundesamt für Sport« gründen und die
Lenkung des Spitzensports selbst überneh-
men, stand in einem Konzept. Als Sport-
funktionäre protestierten, ließ der Minister
seine Sportbehörde im Regen stehen. Die
Veröffentlichung des Papiers sei »einfach
dämlich« gewesen, beschied er.
Stattdessen gibt es seit zwei Jahren ein
»Potenzialanalysesystem« – ein Computer-
verfahren, das einer Kommission hilft, mit
133 Fragen das Erfolgspotenzial eines Spit-
zensportlers zu berechnen. Das hört sich
so an, als ob die Deutschen zumindest im
Bereich der Bürokratie ihren internationa-
len Spitzenplatz behaupten könnten.
Dazu passt Ralph Tiesler, der das In-
stitut seit zwei Jahren als Direktor leitet.
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL
2,2
Tödliche Kreuzung zungsdesign völlig nutzlos,
zeigt die UDV-Studie. Denn
Deutschlands Städte riskie- wenn sich ein Fahrradfahrer
ren im Kampf gegen tödliche nach rechts von der Fahrbahn
Fahrradunfälle einen schwe- entfernt, unterstellen die
ren Rückschlag – weil sie Assistenten automatisch, dass Mal so schnell wie der Schall
bicycledutch
gefährliche Kreuzungen nach er ebenfalls abbiegen will. soll ein neuer Passagierjet
niederländischem Vorbild »Objektiv wäre die niederlän- namens »Overture« fliegen,
umbauen wollen. Dabei wird dische Lösung schlechter als dessen Konzept das amerikani-
der Fahrradweg vor der Ein- Verschwenkter Radweg das, was wir bisher haben«, sche Start-up-Unternehmen
mündung um mehrere Meter warnt UDV-Leiter Siegfried Boom vorgestellt hat. Die Flug-
nach rechts verschwenkt. Auf bei Lkw gar nicht. Weil unter Brockmann. Wie das Statisti- zeit zwischen New York und
diese Weise soll verhindert deren Rädern in den vergan- sche Bundesamt unlängst London soll sich auf dreieinhalb
werden, dass rechtsabbiegen- genen Jahren besonders viele bekannt gab, starben 2019 Stunden fast halbieren, ähnlich
de Fahrzeuge Radfahrer über- Fahrradfahrer ums Leben 445 Fahrradfahrer im Straßen- wie bei der »Concorde«, deren
sehen. Wie Versuche und kamen, müssen alle Lkw und verkehr. Rund zwei Drittel Betrieb 2003 auch aus Kosten-
Computersimulationen der Busse ab 2022 mit einem der innerörtlichen Radver- gründen eingestellt wurde.
Unfallforschung der Versiche- Abbiegeassistenten ausgerüs- kehrsunfälle ereignen sich Bereits 2021 könnte eine klei-
rer (UDV) nun aber beweisen, tet sein. Leider würden laut UDV an einer Kreuzung nere Version der »Overture«
funktioniert das ausgerechnet jedoch gerade die digitalen oder Einmündung. GUI zu Testflügen abheben.
Mathematik zunächst, ist aber im Fall der sioniert und glaube nicht, dass
Covid-19-Daten auch damit zu Corona inhaltlich deutliche
»Zahlenblindheit ist gefährlich, erklären, dass in Italien viele Spuren in den Mathecurricula
Ältere leben, das muss man hinterlassen wird. Das fängt
auch für die Demokratie« herausrechnen. schon damit an, dass viele
SPIEGEL: Viele kommen Mathelehrer an der Uni nur
Norbert Henze, 69, gezogener vermeintlicher anscheinend auch ohne Statis- oberflächlich mit der Stochas-
frisch pensionier- Anwendungsbezug verpackt tik gut zurecht. tik, der Mathematik des
ter Professor für ist, Stoff der Mittelstufe auf Henze: Ja, bis irgendein Dema- Zufalls, in Berührung kommen,
Anette Schleifer
Stochastik am Abiturniveau gehoben. goge daherkommt und seine geschweige denn mit der Sta-
Karlsruher Institut SPIEGEL: Den meisten Men- einfachen Botschaften mit Zah- tistik.
für Technologie, schen reicht im Alltag ja auch len untermauert. Viele Leute SPIEGEL: Wie ließe sich das
über Tücken in der normale Dreisatz. sind dem hilflos ausgeliefert ändern?
Corona-Statistiken und Lücken Henze: Nein, alle mündigen und glauben zum Beispiel, wir Henze: Mit einer verpflichten-
im Matheunterricht Bürger brauchen eine statisti- lebten in einer »Corona-Dik- den, soliden Statistik-Grund-
sche Grundbildung, sonst sind tatur«. Zahlenblindheit und ausbildung für alle Lehramts-
SPIEGEL: Herr Henze, täglich sie Zahlenverdrehern hilflos statistisches Analphabetentum studenten. Aber manche Ver-
wird die Öffentlichkeit mit neu- ausgeliefert. Ohne eine solche sind gefährlich, auch für die änderungen kann man kaum
en Corona-Statistiken bombar- Grundbildung können sie zum Demokratie. über den Amtsweg spielen,
diert, nach der Reproduktions- Beispiel keine Corona-Statisti- SPIEGEL: Wird die Pandemie das gelingt nur durch persön-
zahl R ging es viel um dem ken verstehen. Die besagten dazu führen, dass Statistik ver- liche Netzwerke, mit Guerilla-
Dispersionsfaktor k und um die etwa zu Beginn der Pandemie, stärkt an Schulen gelehrt wird? taktik sozusagen. Und mit
sogenannte Perkolation. Wie- dass der Anteil der Todesfälle Henze: Ich bin da nach fast Freude am Lösen anspruchs-
so haben wir nichts von alldem unter den Covid-19-Erkrank- 50 Jahren Lehre eher desillu- voller Probleme. HIL
in der Schule gelernt? ten in China angeblich niedri-
Henze: Machen wir uns nichts ger war als in Italien.
vor, schon die genauere Analy- SPIEGEL: Wo liegt der Haken?
se der Reproduktionszahl wür- Henze: Wenn ich nur die Über-
de den Schulunterricht über- lebenschancen bezogen auf die
frachten. Ich wäre schon heil- Gesamtbevölkerung in China
froh, wenn wir alle Schüler und Italien betrachte, schnitt
wenigstens mit einem soliden China in der Tat besser ab. Aber
statistischen Grundverständnis innerhalb einzelner Altersgrup-
entlassen könnten. In den pen war es genau umgekehrt.
Gymnasien wurde in der Dieser als »Simpson-Parado-
Mathematik über Jahrzehnte xon« bezeichnete scheinbare
»intellektuell abgerüstet«, was Widerspruch tritt immer dann
Inhalte betrifft. Mit dem weni- auf, wenn sich beim Vergleich
gen Wissen, das jetzt noch vor- zweier Populationen ein Merk-
handen ist, wird oft durch mal in der Gesamtzahl anders-
umfangreiche Textaufgaben, in herum verhält als in den Teil-
denen an den Haaren herbei- populationen. Das überrascht
dpa
107
Wissen
T
homas Kauffels hebt den Müll Giraffen und Pinguine: alles charmante krise nutzen könnten, um den Blick der
auf. Eisverpackungen und Ta- Lebewesen, derentwegen Familien hier- Menschen für den Verlust von Biodiversi-
schentücher, neuerdings auch mal herkommen. Kauffels braucht solche Vor- tät zu schärfen. Wann, wenn nicht jetzt,
eine himmelblaue Einwegmas- zeigetiere – die Anziehungskraft vieler ließe sich da um Einsicht werben? Denn
ke – alles wandert in die Tonne. »Zoo- anderer Geschöpfe, die ihm ebenso am Erreger wie Sars-CoV-2 springen umso
direktoren-Gymnastik« nennt er das. Aus Herzen liegen, brächte nicht genug Geld wahrscheinlicher auf den Menschen über,
einem Beet vor dem Giraffenhaus rupft für den Zoo. Viele seiner Lieblingstiere, je tiefer die Zivilisation in die Lebensräume
der Biologe eine Distel, die gehört da auch erklärt Kauffels, »sind klein, braun und von Wildtieren vordringt.
nicht hin. nachtaktiv«. Vor allem aber ging es um neue Wege
Seit 22 Jahren leitet Kauffels, 62, das Und einige von ihnen sind gegenwärtig der Zusammenarbeit zwischen Zoos und
»Georg von Opel-Freigehege für Tierfor- überhaupt nicht aktiv. Wer etwa Spermo- Freilandforschern – etwa beim Schutz von
schung« in Kronberg im südhessischen philus citellus sehen möchte, muss im Gibbon, Martino-Schneemaus, Feldhams-
Hochtaunuskreis. Aber seine Herkunft März wiederkommen. »Die Ziesel sind im ter, Himalaja-Katzenbär. Rund eine Mil-
aus Neuss am Rhein hört man ihm noch Winterschlaf«, steht auf einem Schild vor lion Tier- und Pflanzenarten sind bedroht.
an: »Wenn dat hier schon so aussieht, den Gehegen. Der Biodiversitätsverlust, glaubt Jenny
wat is’ dann mit den Viechern?« – das Europäische Ziesel sind vielerorts aus Gray, Geschäftsführerin von Zoos Victoria
fragten sich doch die Besucher, wenn über- ihrem natürlichen Lebensraum verschwun- in Australien und ehemalige Präsidentin
all Unrat herumliege. Der Opel-Zoo, so den, die Erdhörnchen gelten laut der Ro- des Weltverbands der Zoos und Aquarien
der bekanntere Name von Kauffels’ Tier- ten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN WAZA, lasse sich nur bremsen, »wenn wir
park, solle nicht wirken, »als würde sich als stark gefährdet. In menschlicher Obhut jede nur mögliche Hilfe erhalten, auch die
keiner kümmern«. geborene Exemplare wie die aus dem von Zoos«.
Es ist ein schöner Zoo. 27 Hektar hüge- Opel-Zoo sollen in der Wildnis angesie- Gray hat ein Buch über die ethische
lige Fläche, viel Grün, gewundene Wege. delt werden, etwa in Tschechien, wo in Rechtfertigung der Zootierhaltung veröf-
Von manchen Picknickplätzen blicken die diesem Sommer sechs Männchen aus fentlicht (»Zoo Ethics«). Es seien Geschich-
Gäste auf die Frankfurter Skyline, mit Mes- Kronberg ausgesetzt wurden. Auch Euro- ten wie die des Tasmanischen Langnasen-
seturm und Bankhochhäusern, an diesem päische Nerze vermehren sich hier und beutlers, sagt sie, die zeigten, dass soge-
Tag weichgezeichnet von frühherbstli- sind schon teils ins Freiland umgezogen. nannte Ex-situ-Erhaltungsprogramme –
chem Dunst. Der große Spielplatz ist ge- »Für die Erhaltung vieler Arten«, so also Schutzmaßnahmen außerhalb der na-
sperrt, wegen der Abstandsregeln. Kauffels, »gibt es zum Zoo keine Alterna- türlichen Lebensräume – über Untergang
Doch das Freigehege ist nicht nur ein tive.« Der Tierparkchef ist auch Vorsitzen- oder Fortbestehen vieler Arten mitent-
Ausflugsziel. Es dient auch Tieren als Hei- der der European Association of Zoos and scheiden.
mat, deren Artgenossen in freier Wild- Aquaria (EAZA), in deren Einrichtungen Die Nasenbeutler mit den auffälligen
bahn bedroht oder ausgestorben sind. Bei inzwischen mehr als 400 Erhaltungszucht- Streifen am Hinterleib waren auf dem
einigen Geschöpfen leiten Kauffels und programme laufen. In Kronberg ist das australischen Festland schon ausgestor-
seine Mitarbeiter die Erhaltungsprogram- unter anderen auch noch die Europäische ben. Es gab sie nur noch auf Tasmanien.
me in ganz Europa, sie tauschen Tiere Sumpfschildkröte. Jetzt sind aus Nachzuchten, die aus Grays
mit anderen Zoos, um den Genpool zu Vergangene Woche trafen sich die Zoo stammen, drei vermehrungsfreudige
sichern. EAZA-Vertreter, diesmal nur per Video, Populationen in freier Natur hervorgegan-
Vor Kurzem kamen zwei Elefanten- zur alljährlichen Konferenz. Diskutiert gen – das klappt aber nur dort, wo es kei-
kühe aus dem Berliner Tierpark in Kron- wurde zum Beispiel, wie Zoos die Corona- ne Füchse gibt. Artenschwund wie in die-
berg an. Abseits der Artgenossen gewöh- sem Fall gleichsam rückgängig machen,
nen sie sich jetzt an die neue Umgebung. glaubt Gray, das könnten nur Zoos und
Der Privatzoo im Taunus, der keine staat- Freilandforscher gemeinsam.
lichen Zuschüsse erhält, ist auch For- Zu einem bemerkenswerten Befund
schungsstätte für Studierende und dotiert kam im September auch eine Studie in der
eine Stiftungsprofessur an der Goethe- Zeitschrift »Conservation Letters«: Bis zu
Bert Bostelmann / DER SPIEGEL
2
4
109
(1) Andreas Keil / imageBROKER / Okapia, (2) S.E.Arndt / Wildlife, (3) Colourbox, (4) Thomas Hinsche / imageBROKER / Okapia,
(5) Do Van Dijck / Fn / Minden Picture / National Geographic, (6) Frans Lanting / National Geographic
oft in einen Zoo gehen, berichteten die
Wissenschaftler 2019 in »Frontiers in Psy-
chology«, seien sie eher bereit, sich für
den Artenschutz zu engagieren.
Allerdings fehlt bei den neueren Unter-
suchungen, die Fernandez für seine Über-
sichtsarbeit ausgewertet hat, ein Vergleich
mit jenen Menschen, die mit Zoos nichts
anfangen können oder wollen. Wer es
generell ablehnt, dass Tiere in Gefangen-
schaft gehalten werden, könnte ja beson-
ders engagiert im Umweltschutz sein. Ein
Vergleich zwischen Zoofans und Nicht-
zoofans soll nun folgen.
Doch egal was der Zoo beim Besucher
erreicht: Die Tiere selbst profitierten von
Werkzeug
der Erzählung von der Schreckensgestalt nem Tod angeblich im Reich unterwegs wa-
aus der Johannes-Offenbarung verknüpft. ren, um die Macht an sich zu reißen.
In ihrer faszinierenden Fallstudie enträt- Scheinbar passte in dieser merkwür-
Satans
selt Malik, wie Gerüchte und Mythen aus digen Tragödie alles zusammen: Hatte
einem verschüchterten und musisch ver- Johannes nicht eine Endzeit angekündigt,
anlagten Teenager im Laufe der Jahrhun- in der ein Herrscher zurückkehren werde,
derte ein Monster machten. der schon einmal regiert hatte? Ähnelte
Geschichte War der römische Schon in den vergangenen Jahren hatte nicht die tödliche Verwundung an einem
Kaiser Nero wirklich ein ein revidierender Blick auf den Kaiser der sieben Köpfe der Bestie in der Offen-
Nero unter Geschichtskundlern Konjunk- barung des Apostels verblüffend jener
psychopathischer Tyrann? Eine tur. So skizzierte ihn der US-Historiker Schnittverletzung am Hals, durch die Nero
britische Historikerin James Romm in einer fulminanten Ab- zu Tode gekommen war?
sieht entlastende Indizien. handlung als sensible Künstlerseele, die Das Publikum der Antike mochte schau-
zwischen einer machthungrigen Mutter dern angesichts dieser Parallelen; nach An-
und ihrem intriganten Mentor Seneca er- sicht Maliks hat das Schauerstück jedoch
111
Wissen
SPIEGEL: Herr Professor Genzel, wir gra- dem irgendwas sagen. Das schärfen die ei- Mathematik, Geowissenschaften und eben
tulieren zum Physiknobelpreis. Was haben nem ein. auch in Astronomie. Danach rechnete ich
Sie gerade getan, als der Anruf aus Stock- SPIEGEL: Also haben Sie getan, als wäre mir keine Chancen mehr aus, und in die-
holm kam? nichts gewesen? sem Jahr schon gar nicht.
Genzel: Das, was wir Wissenschaftler seit Genzel: Na ja, das auch wieder nicht. Ich SPIEGEL: Was ist in diesem Jahr anders?
sechs Monaten den ganzen Tag lang tun: habe dem Vorsitzenden des Komitees, ei- Genzel: Wenn Sie sich die Physiknobel-
Zoom, Zoom, Zoom. Ich saß mit 25 ande- nem der Vizepräsidenten der Max-Planck- preise der vergangenen fünf Jahre anschau-
ren Leuten in der Zoom-Schalte eines vir- Gesellschaft, gesagt: »Herr Blaum, ich en, da waren Neutrinos, Gravitationswel-
tuellen Komitees der Max-Planck-Gesell- muss jetzt mal was anderes machen. Viel- len, Kosmologie und Exoplaneten darun-
schaft. leicht können Sie ja in einer Viertelstunde ter. Und jetzt schon wieder Astrophysik?
SPIEGEL: Und dann hat während der Video- den Fernseher einschalten.« Sie können sich vielleicht vorstellen, dass
konferenz ganz klassisch das Telefon ge- SPIEGEL: Wie kommt es, dass Sie im Jahr die Leute in anderen Feldern der Physik
klingelt? 2011 auf einen Nobelpreis gehofft haben, da etwas murren werden.
Genzel: Es war fast komisch: Ich sitze vor im Jahr 2020 aber nicht? SPIEGEL: Offenbar leben wir derzeit in ei-
der Röhre. Weiß, dass ich da noch sechs- Genzel: Dafür gibt es mehrere Gründe. nem goldenen Zeitalter der Astronomie.
einhalb weitere Stunden verbringen muss. Zunächst war ich gewissermaßen außer Genzel: Absolut. Unglaublich, wie viel
Das Telefon klingelt, und jemand sagt: Konkurrenz, weil ich vor acht Jahren be- sich derzeit tut. Und das wird weitergehen.
»This is Stockholm.« Dann stockt die Ver- reits den Crafoord-Preis bekommen hatte. Denken Sie nur an die Exoplaneten. Da
bindung. Es dauerte eine Weile, bis der Für die Schweden ist der das Äquivalent erleben wir im Moment eine regelrechte
»Sekreterare« zu hören war. Ich bin so lan- des Nobelpreises in Forschungsfeldern, Explosion der Erkenntnisse. Und unser
ge ans Fenster gegangen und habe gedacht: die nicht ins Nobelraster passen, also in »Gravity«-Interferometer am »Very Large
»Diese verdammte Pandemie. Jetzt kriege Telescope« (»VLT«) Chile ist Teil dieser
ich schon Halluzinationen.« Explosion. Gerade erst haben wir die At-
SPIEGEL: Ein Dienstag Anfang Oktober, mosphären einiger Exoplaneten vermes-
kurz nach elf Uhr – also Physiknobelpreis- sen. Wir sind also im Begriff, regelrechte
zeit –, und Sie wollen uns weismachen, Astrochemie fremder Planeten zu treiben.
Sie hätten nicht gewusst, wer da in der Lei- SPIEGEL: Es gibt noch einen weiteren
tung ist? Grund, warum man die Verleihung des
Genzel: Nein. Das müssen Sie mir schon Nobelpreises an Sie überraschend finden
glauben, in diesem Jahr habe ich wirklich könnte. Viel mehr Aufmerksamkeit als
überhaupt nicht daran gedacht. In den Vor- Ihre Entdeckung des schwarzen Lochs im
jahren, ja, da schon. 2011 zum Beispiel. Zentrum der Milchstraße hat das spekta-
Damals waren wir mit unseren Messungen kuläre Bild eines schwarzen Lochs bekom-
weit gediehen, und ich habe gedacht: Ei- men, das das Team des »Event Horizon
gentlich könnte ich dran sein. Ich bin mir Telescope« im vorigen Jahr publiziert hat.
ziemlich sicher: Wir waren nah dran da- Warum geht das jetzt leer aus?
mals. Genzel: Der Rummel um dieses Bild war
Roderick Aichinger / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Und nach dem Anruf sind Sie gut. Denn es ist wichtig, dass sich die Be-
jubelnd in Ihre Zoom-Sitzung zurück? völkerung für die Forschung begeistert.
Genzel: Nee, nee, das geht streng nach Und gerade die Astronomie spielt dabei
Protokoll. Zwischen dem Kontaktieren der eine besondere Rolle.
Preisträger und der Bekanntgabe vergehen SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen: Fürs
20 Minuten. So lange darf man nieman- Publikum war das Bild gut, für die Wis-
senschaft dagegen gar nicht so wichtig?
Das Gespräch führten die Redakteure Johann Grolle Astrophysiker Genzel Genzel: Nein, so würde ich es nicht sagen.
und Christoph Seidler. »Jetzt kriege ich schon Halluzinationen« Richtig ist jedoch: So ein schönes orange-
112
NASA GSFC / Jeremy Schnittman
Darstellung eines schwarzen Lochs: »Es ist wichtig, dass sich die Bevölkerung für die Forschung begeistert«
farbenes Bild ist verführerisch, aber es ist dieren, verstehen wir immer besser, wie plausibel. Das zweite Drittel hätte gesagt:
nicht klar interpretierbar. In der Fachwelt es sein kann, dass unsere Milchstraße eine Das interessiert mich nicht. Und das letzte
wird noch offen diskutiert: Sind wir wirk- rotierende Scheibengalaxie ist, und warum Drittel lehnte die Idee vehement ab.
lich sicher, was wir auf diesem Bild sehen? eine andere aussieht wie eine Ellipse. SPIEGEL: Sie selbst scheinen wenig Zweifel
SPIEGEL: Wo immer über schwarze Lö- Denn da spielen die schwarzen Löcher gehabt zu haben. Wir haben 1992 erstmals
cher berichtet wird, sieht man dieses Bild. eine entscheidende Rolle. über Ihre Forschung berichtet. Damals
Und Sie sagen uns jetzt, dass wir gar nicht SPIEGEL: Wann hat sich Ihr Interesse an sagten Sie: »Es fällt schwer, die Messungen
wissen, was es eigentlich zeigt? den supermassiven schwarzen Löchern anders zu interpretieren als durch ein
Genzel: So ist es. Es kann sein, dass wir entzündet? schwarzes Loch.« Das heißt: Sie haben
den Schatten des schwarzen Lochs sehen, Genzel: Das war an der Uni in Berkeley, sich in den knapp 30 Jahren seither immer
so wie es gemeinhin dargestellt wird. Aber in den Achtzigerjahren. Alle dachten da- nur aufs Neue bestätigt, was Sie ohnehin
es könnte auch sein, dass es sich um die mals darüber nach, was wohl Quasare sein für wahrscheinlich gehalten haben?
Außenwand eines Jets handelt, der mit könnten, jene rätselhaften Dinger im All, Genzel: Genau, nur dass unsere Messun-
Lichtgeschwindigkeit direkt auf uns zu- die ungeheuerlich viel Energie versprühen. gen heute eine Million Mal besser sind als
kommt. Um Klarheit zu schaffen, brau- Die Theoretiker haben erklärt: Mit Kern- damals.
chen wir weitere Messungen. Im Moment fusion wie in Sternen lässt sich das nicht SPIEGEL: Niemand kennt sich so gut aus
allerdings haben wir da ein Problem: die erklären. Aber mit massiven schwarzen im galaktischen Zentrum wie Sie. Erzählen
Corona-Pandemie. Die meisten erdgebun- Löchern, in die viel Materie einfällt, könn- Sie, wie sieht es dort aus?
denen Teleskope sind abgeschaltet. te es gehen. Quasare wären demnach also Genzel: Hell. Wenn Sie ins Herz der Gala-
SPIEGEL: Erzählen Sie uns, was Sie ge- stark gefütterte schwarze Löcher. Die Fra- xis reisen, werden Sie sich wundern, wie
macht haben. Worum geht es beim schwar- ge war nur: Wie kann man das nachwei- hell es dort ist. Die Sternendichte ist, rela-
zen Loch im Zentrum der Milchstraße? sen? Schnell kam die Idee auf, die Wirkung tiv zu derjenigen in unserer Umgebung,
Genzel: Wir reden hier von einem super- der Gravitation auf Objekte zu studieren, eine Million Mal höher. Und es sind nicht
massiven schwarzen Loch, also einem Ort, die um das schwarze Loch kreisen. Aller- nur viele, es sind auch riesige Sterne. Kurz-
in dessen Umgebung die Gravitation be- dings war klar: Um einzelne Kreisbahnen um: Sie würden einen dramatischen Ster-
sonders stark ist. Am interessantesten von Sternen aufzulösen, sind Quasare viel nenhimmel sehen.
wäre es natürlich, in seinem Innern Mes- zu weit entfernt. Wir mussten also viel SPIEGEL: Ist die Region bewohnbar? Hät-
sungen zu machen. Aber da geht es nicht. dichter herankommen an die Objekte un- ten wir auf unserer Reise eine Chance, eine
Es gibt eine natürliche Grenze: den Ereig- serer Begierde. Und da hat natürlich jeder Herberge zu finden?
nishorizont. Unser Ziel ist es deshalb, uns ans Zentrum unserer Galaxie gedacht. Genzel: Eine gute Frage, die ich Ihnen
immer dichter an diese Grenze heranzu- SPIEGEL: Als Sie mit Ihren Messungen an- nicht beantworten kann. Ich tippe darauf,
tasten, in eine extreme Umgebung, wo sich fingen, da war es ja noch gar nicht ausge- dass Ihre Chancen eher schlecht stünden,
alles mit etwa der Hälfte der Lichtge- macht, ob im galaktischen Zentrum über- weil die Schwerkraft der vielen Riesen-
schwindigkeit bewegt, wo die Gezeiten- haupt ein schwarzes Loch sitzt. Für wie sterne und des schwarzen Lochs ausreicht,
kräfte der Gravitation so stark sind, dass wahrscheinlich hielt man das damals? um bei wechselseitigen Vorbeiflügen alle
sie alles auseinanderreißen. Indem wir sol- Genzel: Ich würde sagen: Ein Drittel der Planeten abzustreifen. Aber genau wissen
che schwarzen Löcher immer genauer stu- praktizierenden Astronomen hielt es für wir es nicht.
SPIEGEL: Es gibt noch einen zweiten Men- SPIEGEL: Und? Haben Sie Frieden ge-
schen auf Erden, der als Reiseführer infrage
käme: Andrea Ghez, mit der Sie sich den
Nobelpreis teilen. Ihr Verhältnis scheint
schlossen?
Genzel: Na ja, ich habe ihr versprochen,
dass ich ihr fortan alles, was wir machen,
Großes
nicht frei von Spannungen zu sein.
Genzel: Wir haben über all die Jahre im
Wettbewerb miteinander gestanden. Und
vorher sage. Es war ja so, dass wir immer
vorn dran waren: Wir waren technisch vo-
raus, wir hatten mehr Teleskopzeit, wir
Getöse
am Anfang war dieser Wettbewerb ein im- hatten eine größere Gruppe. Entsprechend Expeditionen Die »Polarstern«
menser Gewinn für uns alle. Wir haben An- waren wir auch an den Ergebnissen immer kehrt aus der Arktis zurück.
fang der Neunzigerjahre mit unseren Mes- zuerst dran. Dann stand irgendwann die
sungen begonnen, Andrea ist 1995 einge- nächste Annäherung des besagten Sterns Mehr als ein Jahr lang hat der
stiegen. Allerdings hatte sie den Vorteil, ans galaktische Zentrum an, und wir wuss- Forschungseisbrecher Unmengen
dass ihr mit dem »Keck« auf Hawaii ein ten beide: Jetzt wird es spannend. Nur von Klimadaten gesammelt.
Zehn-Meter-Teleskop zur Verfügung stand. dass wir viel besser dastanden. Denn wir
Wir haben damals die Geschwindigkeit von hatten jetzt »Gravity«. Es war klar: Wenn
Sternen in der Umgebung des galaktischen
Zentrums vermessen, und wir kriegten bei-
de dasselbe raus. Wenn aber zwei Gruppen
unabhängig zum selben Ergebnis kommen,
wir es technisch schaffen, unser Instru-
ment in Gang zu bringen, dann haben wir
eine 20-mal bessere Auflösung. Deshalb
habe ich ihr geschrieben: »Du weißt, dass
E rst in einer Polarnacht lernt der
Mensch richtige Dunkelheit kennen.
Bei etwa minus 40 Grad Celsius
stand Markus Rex auf einer Eisscholle und
dann sagt die wissenschaftliche Commu- wir ›Gravity‹ haben. Wäre es nicht besser schaute hinaus in eine Schwärze, die viel
nity: Das glauben wir. Um beachtet zu wer- für uns alle, wenn wir zusammenarbeite- umfassender war als alles, was er von zu
den, hat der Wettbewerb sehr geholfen. ten?« Sie hat es abgelehnt. Hause kannte.
SPIEGEL: Später wurde es schwieriger? SPIEGEL: Sie behaupten, Sie hätten all die »Die Welt schrumpft zusammen auf eine
Genzel: Ja. Da ging es darum, die erste Jahre die Nase vorn gehabt. Warum be- kleine Blase von Licht, das von der eige-
Bahn eines Sterns im galaktischen Zentrum kommen Sie dann beide den Preis? nen Stirnlampe verbreitet wird«, erzählt
zu vermessen. Wir hatten beide das Glück, Genzel: Interessanterweise habe ich den der Atmosphärenphysiker. »Man kommt
dass es diesen Stern gab, der gerade mal 16 Shaw-Preis 2008 allein bekommen. In der sich vor wie auf einem fremden Himmels-
Jahre braucht, um mit einer Geschwindig- ersten Phase lagen wir also vorn. Dass wir körper.«
keit von 7000 Kilometer pro Sekunde um dann den Crafoord-Preis zusammen ge- Und als sich der Mond knapp über den
kriegt haben, war vollkommen gerecht- Horizont schob, fühlte sich der Forscher
fertigt. Da lagen wir gleichauf. Ich denke, endgültig wie auf einem anderen Planeten.
»Ich bin nach Kalifornien wenn der jetzige Preis etwas später gekom- Mal hatte der Mond die Form eines Atom-
gepilgert und habe men wäre, dann wäre die Gewichtung von pilzes, mal sah er fast quadratisch aus,
»Gravity« umso größer gewesen. Das ist dann wieder schien er aus Streifen zu be-
mich einen Tag lang ein wirklich unglaubliches Instrument, das stehen. Schuld daran waren optische Ver-
beschimpfen lassen.« noch eine sehr große Rolle in der Astro- zerrungen durch unterschiedlich kalte
nomie spielen wird. Andererseits bin ich Schichten der arktischen Luft. »Das ist
persönlich überzeugt: Der Grund, warum eine außerirdische Erfahrung«, sagt Rex.
das Zentrum zu rasen. Das war dramatisch wir überhaupt diesen Preis kriegen, ist sie. Solche speziellen Momente haben der
und unerwartet: Am einen Tag lief er so SPIEGEL: Sie spielen auf den Frauenanteil Expeditionsleiter und seine Kolleginnen
rum, zwei Monate später ganz anders, und unter den Preisträgern an? und Kollegen vom Alfred-Wegener-Insti-
noch mal zwei Monate später wieder anders. Genzel: Vielleicht erinnern Sie sich an die tut in den vergangenen Monaten häufig
SPIEGEL: Und wo war das Problem? Kritik am Montag bei der Bekanntgabe erlebt. Ein Jahr lang waren sie mit dem
Genzel: Der Zufall wollte es, dass wir des Medizinnobelpreises: Schon wieder deutschen Forschungseisbrecher »Polar-
genau in dem Jahr umgezogen sind aufs drei weiße alte Männer, hieß es da. Ich ver- stern« im hohen Norden unterwegs. Rund
»VLT« in Chile, das große Teleskop der stehe das. Ich kenne das selbst als Mitglied 150 Tage davon verbrachten sie in Däm-
Europäer. Dort hatten wir sehr viel Beob- des Komitees für den Shaw-Preis. Wir ste- merung und Dunkelheit, an 56 Tagen hat-
achtungszeit und das Ergebnis entspre- hen unter unheimlichem Druck. Und teil- ten sie mit Starkwind zu kämpfen. Ins-
chend früh. Das haben wir natürlich sofort weise besteht das Problem darin, dass wir gesamt 58-mal wurden Eisbären in der
rausgehauen, so schnell wie möglich, was dem Gender-Ungleichgewicht begegnen, Nähe des Schiffes gesichtet. Die nächste
Andrea total konsterniert hat. Sie ist da- indem wir Frauen in die Auswahlkommis- menschliche Siedlung lag viele Hundert
mals auf einer Konferenz so weit gegangen sion wählen. Doch damit verlieren wir die Kilometer entfernt.
zu sagen, wir hätten unser Ergebnis fabri- Hälfte der besten Kandidatinnen. Während ihrer Expedition »Mosaic«
ziert. Wir könnten es gar nicht haben, weil SPIEGEL: Verkündet sind die Preise, ver- sammelten die Wissenschaftler Langzeit-
wir kein entsprechendes Teleskop hätten – liehen noch nicht. Wie sieht es denn damit daten, die es bisher so aus der Arktis noch
bis ihr jemand zugeflüstert hat: »Die sitzen aus in einem Covid-Jahr? Werden Sie über- nicht gab. Sie untersuchten, wie sich der
nicht mehr an einem Dreieinhalb-Meter- haupt nach Stockholm reisen? Wechsel der Jahreszeiten auf das Leben
Teleskop.« – »Das habe ich nicht gewusst«, Genzel: Nein, es wird keine Verleihung unter dem Eis auswirkt, wie der Energie-
hat sie da gesagt; und es sei unfair, dass geben. Sie haben mir gesagt, dass sie pla- transport zwischen Meer und Atmosphäre
ich ihr das vorher nicht gesagt hätte. Sie nen, es im nächsten Jahr nachzuholen. Im abläuft und wie die arktischen Wolken bei
war mir sehr gram deshalb. Auch wenn Übrigen höre ich gerüchteweise, dass uns das Wetter beeinflussen. Im Detail ver-
ich mir keiner Schuld bewusst war, musste man sich sein Diplom und die Plakette maßen sie das Wachstum der Eisschollen
ich akzeptieren, dass sie es so empfunden vorher beim hiesigen Botschafter abholen und die Schneedicke auf deren Oberfläche.
hat. Da habe ich mir gesagt: auf nach Ca- kann. All diese Puzzleteile zusammen, deren
nossa. Ich bin also zu ihr nach Kalifornien SPIEGEL: Herr Professor Genzel, wir dan- Auswertung Monate dauern wird, sollen
gepilgert und habe mich einen Tag lang ken Ihnen für dieses Gespräch. helfen zu verstehen, wie genau sich das
beschimpfen lassen. Klima im hohen Norden verändert.
A
AD
zeichnungen. Bis zur Mitte des Jahrhun-
KAN
derts, sagen Klimamodelle voraus, könnte
das arktische Meereis im Sommer nahezu
Nordpol Quellen:
vollständig verschwunden sein.
Mosaic, NSIDC
Die von Krumpen und seinen Kollegen
zum Start der Expedition ausgewählte
GRÖN-
Scholle zeigte sich zum Glück langlebig,
D
LAND
LAN
für rund neun Monate war sie die Heim-
SS
statt der »Polarstern«. Stürme rissen das
RU
Eisstück zwar immer wieder auseinander,
doch ebenso schnell froren die Fragmente
Route der wieder zusammen. Erst Ende Juli zerbrö-
»Polarstern« selte die Scholle endgültig.
Während ihrer Driftfahrt hatte die
»Polarstern« den Nordpol Ende Februar
um gut 150 Kilometer verfehlt. Doch kurz
vor Ende der Expedition ging es im
August dann doch noch dorthin, diesmal
mit Motorkraft. In nur sechs Tagen fuhr
der Eisbrecher unter dem Kommando
115
Kultur
»Erforschen mit
Sprache«
Literatur Ihre Übersetzerin Ulrike Draesner, 58,
erklärt, was das Werk der Nobel-
preisträgerin Louise Glück, 77, auszeichnet.
SPIEGEL: Die
sondern die Körperlichkeit
deutschen betont.
Leser kennen SPIEGEL: Sie hat auch über
Gezett / ullstein bild
Webb Chappell
übersetzt, in dem sie Blumen nenzulernen?
eine Stimme gibt und manche Draesner: Wenn man kleinere
Arten auch erfindet. Sie Einheiten mag und in die
beschreibt diese Blumen in Blumen-Menschen-Welt ein- Glück
ihrem Aussehen, aber auch treten möchte, ist »Wilde
in ihrem Wesen, in ihrer Art Iris« das richtige Buch. Wenn
zu wachsen. Es ist ein rich- man eher das narrative habe, und ich finde, man spürt Draesner: Wenn der Preis
tiges Erforschen mit Sprache. Gedicht sucht, in dem kom- die Kraft von Literatur auch Anlass bietet, mehr Lyrik
SPIEGEL: Und was ist das plexe Gefühlswelten anschau- immer daran, was einem zu lesen, finde ich das eine
Zweite? lich gemacht werden, dann besonders in Erinnerung gute Entwicklung. Setzen
Draesner: Die Mythen der »Averno«. geblieben ist. Dies habe ich wir uns hin und lesen die
westlichen Welt sind prinzi- SPIEGEL: Haben Sie ein Lieb- nie mehr vergessen. Gedichte von Louise Glück –
piell von Männern erzählt wor- lingsgedicht? SPIEGEL: Ist es die Aufgabe am besten laut. CLV
den. Dem fügt Louise Glück Draesner: Das ist der Perse- des Literaturnobelpreises,
Draesners eigener Roman
eine wichtige Perspektive hin- phone-Zyklus. Es ist einige auf übersehene Werke auf- »Schwitters« ist dieses Jahr für den
zu, die nicht ideologisch ist, Zeit her, dass ich ihn übersetzt merksam zu machen? Bayerischen Buchpreis nominiert.
Kino dern. Da kommt ein Mutmachfilm wie Shelagh McLeod die Geschichte im Geh-
Schauspielstar im »Astronaut« (Kinostart: 15. Oktober)
gerade recht. Der pensionierte Straßen-
wägelchen-Tempo mit einer tatterigen
Dramaturgie, sie nimmt Handlungsfäden
Gehwägelchen-Tempo bauingenieur Angus Stewart, gespielt der Nebenfiguren unvermittelt auf und
von Oscarpreisträger Richard Dreyfuss, lässt sie ebenso unvermittelt fallen.
Gebrechlich und gefährdet, so sind hat sein Leben lang davon geträumt, ins Als hätte sie unterwegs vergessen, was
Senioren in den Seuchenmonaten immer All zu fliegen. Als der Milliardär Marcus sie eigentlich erzählen wollte. Altmeister
wieder dargestellt worden. Bis März gal- Brown, gespielt von Colm Feore, einen Dreyfuss spielt Angus als Großvater
ten sie vielen als die fitten Silver Ager, Wettbewerb um ein Freiticket für den mit Herz und Hirn, eine herzerweichende
hofiert von Wirtschaft und Werbung, nun ersten kommerziellen Weltraumflug aus- Performance, aber das allein bringt den
finden sie sich plötzlich wieder als Risiko- schreibt, bewirbt Angus sich aus seinem Film leider nicht zum Fliegen. Die Schwer-
patienten, bevormundet von Politikern Altenheim heraus und über alle Vorurteile kraft des Pathos und des Kitsches hält ihn
und Medizinern, Kindern und Enkelkin- hinweg. Leider inszeniert Regisseurin am Boden. TOB
so wie Zuckerwatte, von der Putziges hat derzeit Konjunk- Unter der zuckrigen Oberflä-
man zu viel gegessen hat. tur. Auf Instagram ist #cute che der Exponate stecken
Dieses Moment umschlagen- einer der häufigsten Hashtags. nicht selten Perversion, Miss-
der Anziehung kennt auch die Haustiere, Mangas, Spielzeug brauch, Sadismus. Verniedli-
Ästhetik. Niedlichkeit in Bil- – Niedlichkeit soll Nahbarkeit chung sei die Erotisierung von
dern und Skulpturen mag ein vermitteln, Konsum ankur- Hilflosigkeit, sagt die Kultur-
Hingucker sein, doch schnell beln, die Härten des Alltags theoretikerin Sianne Ngai, was
kann sie in Übersättigung und mildern. Der Bruch damit »manchmal das Bedürfnis
ist ein gern genutztes Stilmit- hervorruft, etwas kleinzuma-
»#cute«-Exponat tel im Pop, etwa wenn Billie chen oder auszulöschen«. CPA
Roboterhelden
Fotografie Andreas Mühe spinnt die Tschernobyl-
Tragödie fort.
Die Fotos muten apokaly- Sie sollten unter anderem
ptisch an: Eine schlanke verstrahlten Schutt ent-
Gestalt trägt auf jedem Bild sorgen. Später starben viele
eine andere Schutzkleidung – der Männer und Frauen
oder eher eine Schutz- qualvoll. Mühe spinnt die
kostümierung. Die neue Tragödie von damals fort,
Bilderserie des Fotografen seine Retter sind nur noch
Andreas Mühe, die vom Darsteller. Gezeigt werden
Universal Music
9. Oktober an in Berlin aus- die Fotos in der Kirche
gestellt wird, trägt den St. Matthäus am Kultur-
Titel »Biorobots«. Mit ihr forum. Leuchtende Foto-
widmet sich Mühe der kästen am Boden sollen an Clueso
Idee – und der Fragwürdig- mittelalterliche Grabmäler
keit – des Heldentums. erinnern. Zumindest gilt Pop Debütalbum des Projekts
Nach dem Reaktorunfall von das für den ersten Akt der Crucchi Gang nun von einer
Tschernobyl 1986 schickte Schau. Zwei weitere Teile mit
Italienisch für »carta bianca«. In der italie-
die Regierung in Moskau anderen Werken und neuer Anfänger nischen Coverversion des Ele-
menschliche Liquidatoren Anordnung folgen. Mühes ment-of-Crime-Songs »Wei-
oder eben »Bioroboter« ins Bilder haben bisher noch Deutsche, deren Toskana- ßes Papier« mischt sich nord-
atomar verseuchte Gebiet. immer provoziert, mal sehen, urlaub in diesem Jahr aus deutscher Akzent mit einem
wie es mit diesen Pandemiegründen ausgefal- Sound, der nach siziliani-
ist. Heute erleben die len ist, haben ein paar Mög- schen Nächten klingt. Über-
Menschen eine ähn- lichkeiten, ihre Italiensehn- setzt hat die meisten Lieder
liche Situation, eine sucht zu stillen. Sie können in des Albums der Sänger
unsichtbare Gefahr, der Pizzeria um die Ecke Francesco Wilking. Er steuert
Corona, bedroht ihre einmal die Speisekarte rauf zudem eine südländische
Gesundheit. Und und runter bestellen und Variante des Bilderbuchhits
tatsächlich wurden dabei dem Pizzabäcker mit »Bungalow« bei; sie klingt
nicht wenige echte dem eigenen Italienischwort- nicht nach Party, sondern
Retter zu Märtyrern. schatz imponieren (»Ciao«, nach »festa«. Und Clueso,
Andreas Mühe / 2020 VG Bild-Kunst, Bonn
117
Kultur
Poetische Aktivisten
Literatur Die Schriftsteller dieses Herbstes bewegen sich zwischen Buch und Barrikade: Es sind
politische Zeiten – und die liefern den Stoff für große Romane, Gedichte und Geschichten.
W
as für eine Geschichte mit dem Titel »Die Füchsin« veröffentlicht. An
Pathos, Heldenmut und dem einer Stelle beschreibt sie das politische
Glauben an das alte, ideale Schreiben: »Jedes Mal, wenn ich eine
Amerika, was für großartige Taste / auf meiner elektrischen Schreib-
Sexismus. Sie teilen die Welt in Gut und in ihrem Innern«, schreibt er über die
Böse ein, in Freund und Feind, in links und Jungs an den Stränden Mexikos, die für
rechts. Aber lassen sich derartig klare Welt- reiche Sonnentouristen moderne Skla-
bilder mit dem komplexen Anspruch der vendienste verrichten. Aber eine Um-
Literatur vereinbaren? kehrung der Verhältnisse steht bei ihm
Die Kanadierin Margaret Atwood hat Autoren Winslow, del Buono, Eika kurz bevor. Nur die weißen Wohlstands-
gerade einen Band ihrer Gedichte unter Kontroversen, gedruckt und gebunden menschen ahnen es noch nicht: »Sie liegen
119
wusste« beschreibt. Sie ist so eng mit ihren
politischen Idealen verbunden, dass sie
sich lieber jahrelang auf Titos Gefangenen-
insel quälen lässt, als ihre Überzeugungen
zu verraten.
Grossman erzählt diese auf wahren
Begebenheiten basierende Geschichte als
einen Roman über die Macht falscher Idea-
Autor Ford in seinem Bootshaus in Maine: »Diese Fieslinge kamen aus ihren Löchern gekrochen«
Ford, 76, sitzt in seinem Bootshaus im US- schen miteinander gemeinsam haben. Da- wunderschönen Rhythmus wahr, dann
Bundesstaat Maine und trägt ein leuchtend rüber hinaus haben Frank und ich schon baue ich einen deutschen Satz, der hof-
blaues Hemd. Er gehört zu den besten und so lange eine sehr gute Arbeitsbeziehung. fentlich auch so klingt. Ich muss entschei-
erfolgreichsten Schriftstellern seines Lan- Seine Fragen führen mich zu meinem eige- den, wie ich das Deutsche dazu bekomme,
des. Am bekanntesten sind seine vier Ro- nen Text zurück, aber auch etwas näher im Kopf des Lesers gleichwertig zu funk-
mane über das Leben des amerikanischen ans Deutsche heran. Mir wird dadurch klar, tionieren.
Jedermann Frank Bascombe – vielfach wie komplex es ist, meine Bücher in eine SPIEGEL: Interessiert es Sie als Schrift-
preisgekrönt. Zu Fords Werk zählen auch andere Sprache und in eine andere Kultur steller, Mr Ford, was im Kopf Ihrer Leser
Kurzgeschichtenbände und eine autobio- zu vermitteln. Frank geht dabei klug vor. geschieht?
grafische Erzählung über seine Eltern. Seit Aus all diesen Gründen schätze ich ihn. Ford: Beim Schreiben habe ich das Ziel,
fast 20 Jahren übersetzt Frank Heibert, 59, SPIEGEL: Gerade ist Ihr neuer Erzählungs- dass mein Verständnis von einem Satz so
diese Bücher ins Deutsche. Er spricht vier band »Irische Passagiere« auf Deutsch er- weit wie möglich übereinstimmt mit der
Sprachen und ist die deutsche Stimme schienen*. Was bedeutet es für Sie, ein fer- Erfahrung, die er bei den Lesern auslöst.
einiger herausragender Schriftsteller. Doch tiges Manuskript an den Übersetzer zu Könnte ich meinen Text direkt in ihr Ge-
kaum ein Leser macht sich groß Gedanken übergeben? hirn einspeisen, wäre das der perfekte
über das, was Heibert tut. Ford hatte ihn Ford: Es ist eine Art Verzicht. Nachdem Roman. Ich hoffe, dass Frank dieses Ziel
im Frühjahr nach Washington, D. C., ein- ich vier Jahre damit verbracht habe, jedem ebenfalls erreichen will.
geladen. Er wollte mit ihm ein öffentliches Wort darin genau das richtige Gewicht auf SPIEGEL: Letztlich müssen Sie Frank Hei-
Gespräch zum Thema Übersetzung führen genau die richtige Weise zu verleihen, bert blind vertrauen.
im Rahmen des renommierten Library of übergebe ich Frank das Buch, und was ich Ford: Ich gehe einfach davon aus, dass er
Congress Price, mit dem Ford ausgezeich- geschrieben habe, wird durch ihn ein an- sein Bestes gibt. Ist das das Gleiche wie
net worden war. Die Pandemie machte das deres Idiom übertragen, mit seinem ande- Vertrauen?
unmöglich. Nun sitzt Heibert Mitte Septem- ren Rhythmus, seinem anderen Humor. SPIEGEL: Herr Heibert, Sie suchen sich
ber in der Hamburger SPIEGEL-Redaktion, Letztlich sind Übersetzer auch Roman- bei jedem Autor ein Bild, haben Sie mal
Ford ist via Zoom zugeschaltet und be- autoren. Der einzige Unterschied liegt in gesagt, das die Haltung beschreibt, mit der
merkt, dass Heiberts Hemd fast das gleiche dem, wovon wir ausgehen: Frank beginnt er zu seinen Lesern spricht. Welches Bild
Blau habe wie sein eigenes. mit meinem Buch. Ich beginne mit einer haben Sie für Richard Ford im Kopf?
Menge Rohmaterial und einer Vorstellung Heibert: Ich versuche oft, mir vorzustellen,
SPIEGEL: Mr Ford, sprechen Sie Deutsch? in meinem Kopf. wo genau sich der Erzähler, die Erzählerin
Ford: Nein. Vor vielen Jahren, als Stipen- Heibert: Ich schreibe einen Roman, von eines Textes befindet: In einem Schaukel-
diat in Berlin, wurde mir großzügig ein dem Richard bis auf die Eigennamen kein stuhl, und die Geschichte wird der großen
Deutschkurs angeboten. Doch es stellte einziges Wort so geschrieben hat. Aber Familie erzählt? Oder klingt die Erzählung
sich heraus, dass Deutsch für mich zu der komplette Inhalt, der Ton und der Stil so, als hätte ich eine Stimme im Ohr, die
logisch ist, dass es nicht zu meiner Denk- der sprachlichen Gestaltung sind von ihm. nur zu mir spricht? Das sind nur zwei Bei-
weise passt. Ich schreibe den deutschen Roman voll- spiele für das, wonach ich beim Überset-
SPIEGEL: Sie können die Übersetzung Ih- kommen im Dienst des seinigen. zen suche, damit ich mich in dieselbe Hal-
rer Romane und Erzählungen von Frank SPIEGEL: Wie gehen Sie dabei vor? tung hineinbegeben kann. Dadurch wer-
Heibert nicht lesen und halten sie trotz- Heibert: Als Erstes muss ich meine eige- den die Entscheidungen, welches Wort
dem für besonders gut. Warum? nen Reaktionen als Leser wahrnehmen. eher stimmt, wie ein Satz am besten sitzt,
Ford: Die Übersetzung meiner Bücher ist Wenn ich bei der Lektüre des Originals la- einfacher und klarer. Natürlich gibt es
für mich meine eigentliche Legitimation che, mache ich die Übersetzung an dersel- nicht für jeden Autor ein festes Bild, das
als Schriftsteller. Das bedeutet mir mehr, ben Stelle lustig. Oder ich nehme einen kann sich mit jedem neuen Buch oder so-
als in den USA veröffentlicht zu werden. gar innerhalb eines Buches ändern. Bei Ri-
Nur durch eine Übersetzung lassen sich chards Buch »Zwischen ihnen«, der Ge-
einige der grundlegendsten Ambitionen »Wo befindet sich der schichte seiner Eltern, erschien mir die Er-
eines Romans verwirklichen: zum Beispiel zählung sehr persönlich, für mich las sich
den Lesern zu zeigen, wie viel wir Men-
Erzähler? In einem Schau- das so, als wäre die Haltung nicht auf uns,
kelstuhl? Oder ist er eine die Leser, gerichtet, sondern mehr nach
* Richard Ford: »Irische Passagiere«. Aus dem Eng-
innen. Ein Gegenbeispiel ist seine Figur
lischen von Frank Heibert. Hanser Berlin; 288 Seiten; Stimme in meinem Ohr?« Frank Bascombe, der sagt einem fast im-
22 Euro.
Das Gespräch führte die Redakteurin Claudia Voigt. Frank Heibert mer alles sehr direkt ins Gesicht.
123
Ford: Ich stelle mir nie die Erzählsituation wollten. Während ich das schrieb, fürch-
zwischen meinen Lesern und mir vor. Ich tete ich, jetzt könnten sie sich dazu ver-
bin da viel elementarer: Dies ist ein Ro- pflichtet fühlen. Deswegen fügte ich am
man. Bitte lest, was drinsteht. Ich muss die Ende unverblümt hinzu: Wisst ihr was,
Begegnung mit dem Publikum nicht im kommt, oder lasst es bleiben, wie ihr wollt.
Geist inszenieren. Ich muss die Erzählung Also ich hoffe einfach, dass die Zusammen-
nur überzeugend gestalten. arbeit mit Frank immer absolut offen ver-
Heibert: Ja, klar, du brauchst das nicht. läuft, ohne übertriebene Artigkeiten.
Aber wir Übersetzer müssen uns manch- SPIEGEL: Sie müssen dem Autor während
mal mehr Fragen stellen, mehr heraus- der Arbeit ja förmlich in den Kopf krie-
finden als die Autoren oder Autorinnen. chen, Herr Heibert. Nervt es sie manch-
Wir müssen euren Geheimnissen schließ- mal, wie präsent ein Schriftsteller während
lich einen Sinn geben. der Arbeit am Text in Ihrem Leben ist?
Ford: Das ist typisch Frank, er hakt immer Heibert: Nein, überhaupt nicht. Zunächst
nach. Er zwingt mich, über Dinge, die ich weil ich auf dem Privileg bestehe, nur Bü-
geschrieben habe, erneut nachzudenken. cher zu übersetzen, die mich überzeugen
Oft wird mir durch seine Fragen bewusst, und die mir liegen. Ich darf mit jedem neu-
was ich, ohne es zu merken, alles in mei- en Buch ein anderes Leben leben. Groß-
es gab heftige Proteste. Der Name dieser ist. Die meisten Amerikaner beschäftigen
Stadt war daraufhin weltweit in den Nach- sich nicht gern mit der Regierung in
richten. Was hat Sie bewogen – lange vor Washington. Sie nehmen ihr Land als
diesen Ereignissen –, Kenosha als literari- Selbstverständlichkeit. Sie sehen nicht, dass
schen Schauplatz zu wählen? die Union nicht nur geschwächt, sondern
Ford: Sind Sie bereit für die Antwort, die tatsächlich zerstört werden kann – von die-
jetzt kommt? Ich wollte einfach das Wort sem einen Mann und von ihrer eigenen
Kenosha in meinem Buch haben. Es hat Gleichgültigkeit, die ihnen nicht bewusst
so einen tollen Klang. Und es fängt mit K ist. Das ist ein ähnlicher Reflex wie bei den
an, da gibt’s im Englischen nicht so viele. Menschenmassen, die ohne Masken dicht
Wörter werden oft nach dem Klang ausge- bei dicht am Strand liegen. Sie glauben, sie
sucht, nicht notwendigerweise nach der hätten einen Anspruch darauf und müssten
Bedeutung. Nach den Schüssen auf Jacob sich keine Sorgen machen. Sie glauben, sie
Blake dachte ich, was für ein schlimmer würden nicht sterben. Ihnen fehlt die Ein-
Zufall. Andererseits: Ich versuche, dem sicht in die Endlichkeit aller Dinge.
Leben in den USA regelmäßig den Puls zu SPIEGEL: Hat es Auswirkungen auf Ihre
nehmen. Deshalb kann es schon mal pas- Arbeit, Herr Heibert, wenn ein Land sol-
sieren, dass manches, was ich schreibe, vo- che politischen und gesellschaftlichen Ver-
rausschauend klingt oder mit tatsächlichen werfungen erlebt wie die USA?
Ereignissen in Verbindung steht. Wie heißt Heibert: Irgendwie schon. Ich kenne die
es: So was kann man doch gar nicht erfin- USA seit den frühen Achtzigern. Ich bin
den … Da ist was dran. regelmäßig dort, habe viele Freunde, dazu
SPIEGEL: Die Schüsse auf Jacob Blake wa- meine Autoren. Eine Situation wie jetzt
ren nur einer von mehreren gewalttätigen macht mir als Allererstes weniger Lust,
Übergriffen der Polizei gegen Schwarze in dort zu sein.
Nächste Woche
den USA im Laufe des Sommers. Aus eu- Ford: Geht mir auch so. im SPIEGEL:
ropäischer Sicht hat man den Eindruck, Heibert: Alles ist aufgeregter, angespann-
die Situation ist aufgeladener als während ter. Ich achte genauer darauf, mit wem ich
der vergangenen Jahrzehnte. rede, wen ich treffe, und überlege, wo die-
Ford: Um das beurteilen zu können, muss se Person steht. Manchmal treffe ich Leute,
man hier leben, tut mir leid. Oft liefert der
Außenblick auf die USA klare Erkenntnis-
se; in diesem Fall glaube ich das aber nicht.
mit denen ich politisch nicht übereinstim-
me, aber menschlich und sozial gehören
sie trotzdem zu den Guten. Wir dürfen
S-Magazin
Ich bin in der Apartheid der Südstaaten nicht verlernen, so etwas zu erkennen. Das Stilmagazin
aufgewachsen, ich hatte keine afroameri- Ford: Sehr richtig. Und wichtig.
kanischen Klassenkameraden, keine afro- SPIEGEL: Könnte es angesichts der poli- vom SPIEGEL
amerikanische Freundin, ich habe noch tischen Entwicklungen nicht doch noch
nicht mal mit afroamerikanischen Gleich- einen neuen Frank-Bascombe-Roman ge-
altrigen Sport gemacht. Heute sieht das Le- ben – einen, der zur Zeit von Trumps Prä-
ben ganz anders aus. Ein weißer Junge in sidentschaft spielt?
Mississippi hat afroamerikanische Kinder Ford: Ich hoffe, bis der nächste Frank-Bas-
in seiner Klasse, kann eine afroamerikani- combe-Roman fertig wird, ist Trump ein Themen der Ausgabe:
sche Freundin haben und sie heiraten. Was elendes Stück Vergangenheit. Jetzt liegt
nicht heißen soll, dass es keinen Rassismus ungefähr die erste Hälfte davon auf mei- Digitale Mode
mehr im Süden gäbe. Er ist sichtbarer ge- nem Schreibtisch, 250 Seiten. Ich habe die Computergenerierte
worden und wird nicht mehr so schweigend Pandemie zum Schreiben genutzt.
hingenommen. Nachdem es jahrelang Fort- SPIEGEL: Sie haben 2016 in einem Inter- Models, virtuelle Kleidung:
schritte gegeben hat, treten die rechtsradi- view gesagt: »Ich glaube nicht, dass ein So erfindet sich die
kalen Rassisten dank Präsident Trump jetzt Irrer zum Präsidenten der USA gewählt Fashion-Branche neu
wieder viel schamloser in Erscheinung. wird.« Halten Sie es für möglich, dass er
Auch Obamas Präsidentschaft hat dafür wiedergewählt wird?
gesorgt, dass diese Fieslinge aus ihren Lö- Ford: Ja. Meinen Irrtum von 2016 kann Cottagecore
chern gekrochen kamen. Aber ich glaube ich nicht ungeschehen machen. Heute wür- Rückzug aufs Land –
nicht, dass der Vergleich zwischen dem de nur ein Narr behaupten, er könne nicht Drei Aussteiger erzählen
heutigen Ausmaß der Rassismusprobleme wiedergewählt werden. Aber ich hoffe
und früheren Zuständen viel bringt. Wir dringlichst, dass das nicht passiert. Es hat vom Glück des Einfachen
sollten lieber sehr genau darauf schauen sich als Katastrophe erwiesen, dass ein Ge-
und durchschauen, was vor uns liegt. schäftsmann regiert, denn der behandelt
SPIEGEL: Als 76-jähriger Amerikaner … seine Wähler wie Firmenpersonal. Dabei
Ford: Autsch, so alt bin ich? sollte eine Regierung ihre Bürger als Men-
SPIEGEL: Sie sind auch ein Chronist der schen mit Rechten betrachten, denen sie
amerikanischen Geschichte. Wie beurtei- dient, statt sie zu Opfern zu machen. Er Außerdem:
len Sie die Lage des Landes? ist ruinös für unser Land und nicht nur das, Bildnachweise: Kai Bublitz
Ford: Die Lage ist finster. Und Sie haben für die ganze Welt.
Das gezeichnete Interview
recht, mein Alter ins Spiel zu bringen, denn SPIEGEL: Mr Ford, Herr Heibert, wir dan- mit Paul Schrader
ich habe große Angst, dass den jüngeren ken Ihnen für dieses Gespräch.
Menschen in den USA diese Lage nicht klar
125
chen Teilnehmern: von den Autoren über
die Verlage und Buchhändler bis zum
Buchkäufer. Zum anderen die literarische
Kultur als komplexe und historisch ge-
wachsene Textur aus Wissenschaft, Kunst,
Literatur und Kritik.
Als ich in den Neunzigerjahren die
Buchbranche und die Buchmesse kennen-
lernte, wimmelte es noch von Lektoren,
Kritikern und Schriftstellern, die hochmü-
rum haben wir uns nicht mehr ten, die sich zwischen zwei ent- ähneln. Auch dort wird ein moralisch und
Mühe bei der Suche nach ande- gegengesetzten Polen entfalten. ökonomisch vergleichsweise solides Gebil-
ren Lösungen gegeben? Zum einen ist da der Buchmarkt, de von Untergangsängsten (Abendland,
Offensichtlich hatten allzu we- ein ökonomisches System aus Bruttosozialprodukt, Meinungsfreiheit …)
nige eine Vorstellung davon, wo- Kraushaar weitgehend privatwirtschaftli- auseinandergetrieben. Die Frage, wie wir
über, Haltungen werden gezeigt und ge- 3 (2) Manfred Lütz Neue Irre. Wir behandeln
3 (2) Joachim Meyerhoff
raten ins Wanken. Die gesellschaftliche Hamster im hinteren Stromgebiet die Falschen Kösel; 20 Euro
Vielstimmigkeit bildet sich ab, Erkenntnis Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
stiftende Kontraste treten hervor. Da dies 4 (3) Jan Böhmermann Gefolgt von
niemandem, dem du folgst
von Angesicht zu Angesicht geschieht, 4 (8) Elke Heidenreich Männer Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
bilden Ereignisse wie die Messe ein Regu- in Kamelhaarmänteln
lativ zum alltäglich gewordenen Selbst- Hanser; 22 Euro 5 (7) Richard David Precht
einschluss in digitalen Stammesgemein- Künstliche Intelligenz und
schaften. Es ist auch insofern eine traurige Machen Kleider wirklich
der Sinn des Lebens Goldmann; 20 Euro
Pointe, dass sich die Messe in diesem Jahr Leute? Die Schriftstellerin
und Moderatorin erklärt 6 (8) Ferdinand von Schirach /
aus der Not heraus nahezu vollständig in in Kurzgeschichten, warum Alexander Kluge
den digitalen Raum einschließt. es nicht Jacke wie Hose Trotzdem Luchterhand; 8 Euro
Immer wieder werden gesellschaftliche ist, was man anzieht.
7 (14) Bas Kast Der Ernährungskompass
Konflikte offen ausgetragen. Als etwa im
5 (4) Thomas Hettche C. Bertelsmann; 20 Euro
Jahr 2017 das Buch »Mit Rechten reden«
erschien, in dem unter anderem die Dis- Herzfaden Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
8 (5) Philippa Perry Das Buch,
kursstrategien der neuen Rechten analy- von dem du dir wünschst, deine Eltern
6 (7) Ferdinand von Schirach hätten es gelesen Ullstein; 19,99 Euro
siert wurden, präsentierte ein rechter Gott Luchterhand; 18 Euro
Kleinverlag eine Art Gegenbuch. Bei der 9 (6) Marianne Koch Unser erstaunliches
Präsentation am Messesamstag kam es zur 7 (5) Delia Owens Der Gesang Immunsystem
Eskalation: Vertreter der Antifa und der der Flusskrebse Hanserblau; 22 Euro dtv; 20 Euro
Identitären Bewegung brüllten sich gegen-
seitig »Nazis raus« in die erhitzten Gesich- 8 (3) Robert Seethaler Pünktlich zur nassen und
Der letzte Satz Hanser Berlin; 19 Euro kalten Jahreszeit: Die
ter. Was sich damals wie das klägliche Medizinerin, Moderatorin
Scheitern politischer Streitkultur anfühlte, und frühere Schau-
9 (6) Carmen Korn spielerin erklärt das Wun-
war aus heutiger Sicht der Beginn eines Und die Welt war jung Kindler; 22 Euro der der Körperabwehr.
öffentlichen Bewusstseinsprozesses. Wenn
der Eklat sich nicht wiederholte, dann hat 10 (9) Elena Ferrante Das lügenhafte Leben 10 (11) John Strelecky
das auch damit zu tun, dass man nach und der Erwachsenen Suhrkamp; 24 Euro Was ich gelernt habe dtv; 18 Euro
nach lernte, gelassener mit den Störmanö-
11 (–) Sebastian Fitzek (Hg.) 11 (9) Maja Göpel Unsere Welt
vern und Mobilisierungstricks der rechten Identität 1142 Droemer; 20 Euro neu denken Ullstein; 17,99 Euro
Provokateure umzugehen.
So ist die Messe Marktplatz und Schau- 12 (10) Jan Weiler 12 (13) Thilo Sarrazin Der Staat
platz des öffentlichen Disputs, Teil einer Die Ältern Piper; 15 Euro an seinen Grenzen LMV; 26 Euro
für die Kultur, für die Buchbranche und 18 (12) Clemens G. Arvay
somit für jeden Verlag und für die auf- 18 (–) Stephenie Meyer Biss zur Wir können es besser Quadriga; 20 Euro
opferungsvolle Buchhändlerin, ihren Kin- Mitternachtssonne Carlsen; 28 Euro
127
Kultur
Anfang an, sollte in seinem Roman über schloss gerade sein Studium ab. Er dachte
zwei ungleiche Freunde in Berlin eine sich, das kann ich besser, und schrieb an
wichtige Rolle spielen, das Haus sollte wie einem Abend eine Geschichte – »Dirk und
eine Person einen Namen tragen. Die un- ich« –, die er an den Carlsen Verlag schick-
terschiedlichen Bewohner – die liebeskum- te. Ein halbes Jahr lang hörte er nichts.
mergeplagte Fleischereifachverkäuferin im Dann kam ein Brief, in dem stand: »Der
dritten Stock, der Rentner im schmuddeli- Carlsen Verlag ist in seinen Grundfesten
gen Schlafanzug im vierten, nebenan der Illustration aus »Rico, erschüttert vor Lachen.«
neue Mieter, der wie ein Schauspieler aus- Oskar und das Mistverständnis« Seine jungen Leser mögen Steinhöfels
sieht, nur besser –, sie sind wichtige Ne- »Es gibt freundlichere Orte« Bücher genau deshalb. Doch wie alle gro-
US National Archives
drei Jahre älter ist, sich zum ersten Mal
verknallt hat und seine Zeit liebend gern
mit Sarah verbringt. Oskar ist eifersüch-
tig, »er teilt nicht gern«, sagt sein Vater.
Der tiefbegabte Rico, der in schwierigen US-Präsident Ronald Reagan (3. v. l.), afghanische Freiheitskämpfer 1983
Situationen das Gefühl hat, durch seinen
Kopf würden Bingokugeln rollen, durch-
schaut seinen Freund dieses Mal. Er SPIEGEL TV WISSEN SPIEGEL GESCHICHTE
glaubt, dass Oskar seine Tiefbegabung MONTAG, 12. 10., 18.35 – 20.15 UHR, SKY MITTWOCH, 14. 10., 20.15 – 21.05 UHR, SKY
ausnutzt und Tricks anwendet, um mehr und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern
Zeit mit ihm zu verbringen. Er will ihn Afghanistan –
zur Rede stellen. Todesfalle Wetter Das verwundete Land –
Die beiden treffen sich auf ihrer Bank Die sechsteilige Serie berichtet von Die Sowjetarmee
am Landwehrkanal, doch es läuft gar nicht Jahrhunderttornados, Schneekata- In den Achtzigerjahren wurde Afgha-
gut, Oskar brüllt so laut, dass die Enten strophen und unkontrollierbaren nistan zum Schlachtfeld des Kalten
aufflattern. Anschließend gehen die Freun- Flächenbränden – allesamt Wetter- Krieges. Nachdem die sowjetischen
de auf getrennten Wegen in die Dieffe 93. phänomene, die nicht nur Klima- Truppen Kabul erreicht hatten, wur-
Dabei müssten sie unbedingt zusammen- forscher beunruhigen. Es kommen den Waffen und Geld aus den Ver-
halten, denn mit ihrer Clique wollen sie Menschen zu Wort, die den Natur- einigten Staaten und der arabischen
einen Spielplatz gegen Immobilienspeku- gewalten ausgesetzt waren, Exper- Welt an den afghanischen Wider-
lanten verteidigen. ten erklären, wie die Natur solch zer- stand geliefert. Ausländische Kämp-
Das Thema Besitzanspruch zieht sich störerische Kräfte entwickeln kann. fer schlossen sich dem Dschihad
durch diesen fünften Band, der anspruchs- gegen die als gottlos geltenden Rot-
voller ist als die ersten Teile. Steinhöfel armisten an. Der junge Osama Bin
fügt eine zweite Erzählebene hinzu, ein Laden war einer dieser Freischärler.
Buch im Buch, er versteckt Hinweise auf SPIEGEL TV Der Krieg entwickelte sich zum
zwölf berühmte Kinderbuchautoren, und MONTAG, 12. 10., 23.25 – 0.00 UHR, RTL »sowjetischen Vietnam«.
es gelingt ihm durch einen dramaturgi-
schen Kunstgriff, eine Szene zu schreiben, Die Macht der Clans
in der Oskar auf dem Potsdamer Platz »Knast macht Männer«, sagt eine
dem jungen Erich Kästner begegnet. Man 17-fache Mutter und meint damit DONNERSTAG, 15. 10., 20.15 – 22.15 UHR,
muss das alles nicht dechiffrieren, um wohl auch ihren Sohn Abdulkadir RTLZWEI
Vergnügen an dem Buch zu haben. Es ist Osman, der monatelang seine Nach-
die Sahne auf dem Kakao für erwachsene barschaft terrorisierte. Im zweiten Hartes Deutschland –
Vorleser. Teil der Dokumentation »Arabische Leben im Brennpunkt
Und ein Spiel, mit dem Steinhöfel auf Clans« geht es um kriminelle Parallel- Die neue Staffel thematisiert die
die literarische Tradition verweist, in der welten, die Reaktionen des Staates Auswirkungen der Coronakrise
er sich sieht. Seitdem Pünktchen und An- und um einen dreisten Betrüger. auf die Menschen, die am Rande
ton auf der Weidendammer Brücke bettel- der Gesellschaft leben. Mit
ten, hat kein anderer Kinderbuchschrift- welchen Herausforderungen haben
steller das hässlich-schöne Berlin so leben- obdachlose Suchtkranke zu kämp-
dig entworfen. Letztlich sind die Rico-und- fen? Seit Ausbruch der Pandemie
Oskar-Bücher große Berlinromane. verdienen sie kaum noch Geld mit
Dabei fand Steinhöfel die Stadt immer Schnorren oder dem Sammeln
zu groß; gegen die Berliner Ruppigkeit hat- von Pfandflaschen, viele Hilfseinrich-
te er sich einen inneren Panzer zugelegt. tungen sind wegen der Anste-
»Es gibt freundlichere Orte auf der Welt, ckungsgefahr geschlossen. Teils
wo man nicht dauernd kämpfen muss«, seit Jahren begleiten die Autoren die
SPIEGEL TV
129
Kultur
Unsere liebste
die sich die Welt nicht machen kann, wie sie ihr gefällt,
betrachtet den Rummel um ihre Person mit ihren großen,
kindlichen und skeptischen Augen. Es sei alles wie ein Film,
Nervensäge
hört man sie sagen.
»I Am Greta« erinnert an den ersten Beatles-Film »A Hard
Day’s Night« (deutscher Titel: »Yeah! Yeah! Yeah!«), der
Mitte der Sechzigerjahre die Massenhysterie um die Band
einfing. Auch dieses halb dokumentarische Musical war
Filmkritik Die Kinodokumentation die Chronik eines Pop-Phänomens, das sich rasend schnell
»I Am Greta« zeigt Greta Thunberg auf entwickelt hatte und außer Kontrolle geraten war. Meist
ihrem Weg zum Weltstar. sah man Paul, John, George und Ringo auf der Flucht vor
ihren Fans.
Greta, diese One-Girl-Group mit Millionen Groupies, hat
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Berlin: Christian Reiermann (Teamleitung); Gernot Matzke, Cornelia Pfauter, Michael Walter Moreno, Wiebke Ramm, Anja Rützel, Jurek Skrobala
Patrick Beuth, Simon Book, Markus Dettmer, Max INTERACTIVE Teamleitung: Olaf Heuser, Hanz DOKUMENTATION Leitung: Cordelia Freiwald,
Hoppenstedt, Michael Kröger, Cornelia Schmergal, Sayami; Alexander Epp, Guido Grigat, Frank Kurt Jansson; Zahra Akhgar, Dr. Susmita Arp,
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132 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Nachrufe
Ruth Klüger, 88 Roth als Sänger Rekorde
Glück. Es war einfach brechen sollte. Punk und
großes Glück, dass ihr im New Wave ignorierte die
Sommer 1944 eine Frau den Gruppe. Stattdessen arbei-
Tipp gab, sie solle sagen, tete sie mit Songs wie »Run-
sie sei 15 Jahre alt. Das hat nin’ with the Devil« oder
Ruth Klüger das Leben »Ain’t Talking ’bout Love«
gerettet. Sie war damals 12, an einem glamourösen
sie war im Lager Auschwitz- Amalgam aus Rock und Pop.
Birkenau, musste sich Als Virtuose gebucht, packte
anstellen zur Selektion, und Eddie Van Halen in die
hätte sie ihr wahres Alter 32 Sekunden seines Solos für
angegeben, wäre sie in die Michael Jacksons »Beat It«
Gaskammer gekommen. sein ganzes technisches Kön-
POLARIS / laif
Er war der Überzeugung, ein Schriftsteller sei verpflichtet, Berkeley und lehrte später
»die Wahrheit zu sagen, im Kleinen wie im Großen, in Teilen als Professorin; sie machte
wie im Ganzen«. Dass die Wahrheit keine einfache Sache sich einen Namen als Lite-
ist, das wusste dieser sensible Autor nur zu gut: Günter de raturkritikerin. Im Jahr
Bruyn lebte und arbeitete in der DDR, solange es sie gab. Er 2016 sprach sie am Jahres- nen. Mit »Jump« landeten
hatte als nicht mal Zwanzigjähriger im Zweiten Weltkrieg tag der Befreiung des Van Halen 1984 einen eige-
kämpfen müssen, war verletzt worden und kam in Gefan- Lagers in Auschwitz vor nen Welthit. Das wilde
genschaft. Die Traumata beschwerten ihn ein Leben lang. dem Deutschen Bundestag Leben forderte später Tribut.
Der gebürtige Berliner wurde erst Lehrer, dann Bibliothe- und sagte, ihr Blick auf Die Drogen sollte er noch
kar, ab 1961 freier Schriftsteller. Einige seiner Werke (»Buri- Deutschland sei angesichts besiegen, den Krebs nicht.
dans Esel«, 1968) wurden für Theater und Film adaptiert, der großzügigen Flüchtlings- Eddie van Halen starb am
bereits 1964 hatte er den Heinrich-Mann-Preis erhalten, politik »von Verwunderung 6. Oktober. FRA
1989 lehnte er den Nationalpreis der DDR ab, er sprach von
»Intoleranz und Dialogunfähigkeit« der Regierung. Sein Herbert Feuerstein, 83
Roman »Neue Herrlichkeit« handelt von einem Mann, der Die breite Öffentlichkeit
in der Lage ist, »der zu werden, der verlangt wird«. Das kannte ihn nur als schmäch-
Buch erschien 1984 zunächst nur im Westen, 1985 auch in tigen Spaßonkel aus
der DDR. Fein, behutsam, vorsichtig – das sind die Adjek- dem Fernsehen, vor allem
ullstein bild
tive, die den Menschen de Bruyn und seine Texte beschrei- als Sidekick von Harald
ben. In seiner autobiografischen »Zwischenbilanz: Eine Schmidt in der Sendung
Jugend in Berlin« (1992) kündigte er an, nun das Ichsagen »Schmidteinander«. Dabei
trainieren zu wollen, »ohne Verhüllung und Fiktion«. Und zu Bewunderung über- war Feuerstein das eigent-
er legte 1996 nach: »Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht«. Sein gegangen«. Ruth Klüger liche Mastermind, nicht
letztes Werk war dann doch noch mal ein Roman, kritisch- starb am 6. Oktober im nur dieser Sendung. Mehr
ironisch wie früher und warmherzig: »Der 90. Geburtstag«. kalifornischen Irvine. VW als 20 Jahre lang war
Günter de Bruyn starb am 4. Oktober in Bad Saarow. KS er Chefredakteur der Zeit-
Eddie Van Halen, 65 schrift »Mad«, zu ihren
Das Geld, die Groupies, die Hochzeiten das Zentralor-
Kenzo Takada, 81 Drogen, die langen Haare, gan deutscher Pubertieren-
Er mixte Karos mit Blumenmotiven, japanische Stoffe mit die Zerwürfnisse in der der. Eigentlich hätte Feuer-
Brokat und französischer Baumwolle. Der Japaner Kenzo Band – die berühmte Komö- stein, Schüler am Salzbur-
Takada war ein Nomade der Mode, lange bevor das Noma- die »This Is Spinal Tap« von ger Mozarteum und als
dentum zum Trend erklärt wurde. 1965 kam er ohne 1984 lässt kein Klischee über junger Kritiker Mitglied
Geld in Paris an, 1970 eröffnete Takada seine erste eigene Rockstars aus. Der Gitarrist der tonangebenden intellek-
Boutique Jungle Jap; sechs Jahre später gründete er die Eddie Van Halen konnte das tuellen Klasse Österreichs,
Marke Kenzo. Seine fröhliche und bunte Mode war der Komische daran nicht nach- auch Festspielchef oder
Gegenentwurf zu den einfarbigen, eleganten Entwürfen vollziehen. Für ihn war das Kultusminister werden kön-
der Pariser Couturiers. Seine Schauen waren wahre Feste: kein Witz, sondern ein Blick nen. Zum Glück verdarb
Kenzo ließ sie als Erster an Orten wie der Pariser Börse in den Spiegel. Van Halen, er es sich immer rechtzeitig
stattfinden und setzte das Model im Brautkleid, das jede in Amsterdam geboren, kam mit den richtigen Leuten,
Schau beschließt, aufs Pferd. 1993 kaufte der Luxuskon- mit sieben Jahren in die brach alles ab und begann
zern LVMH seine Marke auf, und sechs Jahre darauf ver- USA. Mit seinem Bruder etwas Neues – in Würde
abschiedete er sich von der Modewelt, die ihm zu hektisch Alex am Schlagzeug gründe- erstarren wollte er nie. Her-
geworden war. Kenzo Takada starb am 4. Oktober bei te er die Band Van Halen, bert Feuerstein starb er am
Paris an den Folgen einer Covid-19-Infektion. BSA die ab 1978 mit David Lee 6. Oktober in Erftstadt. KUZ
Obama und
Malcolm X
G Während der Ausbildung habe
sein Schauspiellehrer mal zu ihm
gesagt, in den ersten fünf Jahren
gehe es nur darum, Erfahrung zu
sammeln. Erst »nach zehn fängst
du wirklich an«, erzählte Kingsley
Ben-Adir, 33, in einem Interview
mit der Zeitschrift »Vanity Fair«.
»Und das ist jetzt genau zehn Jahre
her.« Ben-Adir startet nun tatsäch-
lich fulminant durch. Innerhalb
weniger Wochen ist er in drei sehr
unterschiedlichen Filmprojekten
zu sehen gewesen. Einmal in der
Science-Fiction-TV-Serie »Soul-
mates«, dann in der Miniserie »The
Comey Rule« – und in dem Kino-
film »One Night in Miami«, der
bei den Filmfestspielen von Vene-
dig lief. Die Dreharbeiten für »The
Comey Rule«, in dem Ben-Adir
den ehemaligen US-Präsidenten
Barack Obama verkörpert, und für
»One Night in Miami«, darin spielt
er den Bürgerrechtler Malcolm X,
fanden im Januar dieses Jahres so
gut wie parallel statt. Für die Rolle
als Obama musste Ben-Adir abneh-
men, eine Aktion, die sich gleich
doppelt lohnte. »Zum Glück hatten
Obama und Malcolm eine ähnliche
Statur«, sagte er der »Los Angeles
Times«. Bereuen wird Ben-Adir
die Anstrengungen eher nicht: Für
seine Malcolm-X-Darstellung gilt Paul Scala
der Text für den Hund wurde mit Glasscher- ren Störung leidet. Vielleicht
nächsten Tag gelernt. ben gefüttert, das Auto in ist ihr Buch auch Selbstthe-
Die Arbeiten an Brand gesetzt, Schulkamera- rapie; auf jeden Fall legt es
»Babylon Berlin« dinnen beleidigten sie ras- nahe: Ein Wunder ist wahr
dauerten 70 Tage. sistisch. Früh zeigte sich ihr geworden. KS
135
»Der Fall Nawalny zeigt erneut den Vorzug, den es hat, in der Bundes-
republik mit einer Kanzlerin zu leben, die auch Fehler macht, statt
in einem Land, das von einem ›lupenreinen Demokraten‹ regiert wird.«
Ekkehard Sander, Denkendorf (Baden-Württemberg)
Wirklich großes Kino Nawalnys logische Kette, wonach Putin Mehr Lohn = mehr Kaufkraft
hinter dem Anschlag stecken muss, klingt
Nr. 41/2020 Alexej Nawalny über den Gift- Nr. 40/2020 Kolumne: Die Gegendarstellung
einleuchtend. Auf jeden Fall ist zu erwar-
anschlag, Putins Schuld und die Deutschen
ten, dass so ein durchkontrollierter Staat Sicher hat es die Mitarbeiter im öffent-
Kehrt Nawalny nach Russland zurück, soll- wie Russland in der Lage ist, Anwender lichen Dienst (ich bin Angestellte bei einer
te er gut aufpassen, dass er nicht nach der dieses äußerst gefährlichen Nervengifts gesetzlichen Krankenversicherung) nicht
Art der Sowjetunion behandelt wird. Dort ausfindig zu machen. Selbst wenn der so hart getroffen, dass sie um ihre Arbeits-
wurde mancher Regimekritiker, der unum- Befehl also nicht ausdrücklich von Putin plätze fürchten mussten. Aber ich kann
stößliche Tatsachen festgestellt hatte, die kam, muss man bei den Auftraggebern nicht sagen, dass wir in der Krise einfach
das Regime nicht anerkennen wollte, für sicher gewesen sein, zumindest geduldet unser Zuhause genießen und dabei volles
psychisch krank erklärt und in eine ge- und nicht verfolgt zu werden. Gehalt kassieren konnten! Haben Sie
schlossene Anstalt eingewiesen. Ärzte, die Rainer Gussek, Lüneburg (Nieders.) sich mal überlegt, wer die Flut an Anträ-
dem Regime nach dem Mund reden, gibt gen für Kurzarbeitergeld, Stundungsanträ-
es auch heute, wie die Aussagen des Arztes Warum besucht Frau Merkel zwar Nawal- ge und alle weiteren Maßnahmenpakete
in Omsk nach Nawalnys Überführung ny am Krankenbett, macht aber als mäch- der Regierung bearbeitet hat und sich um
nach Berlin belegen. KGB-Mann Putin tigste Frau Europas nicht das Mindeste, die vielen Fragen und Unsicherheiten der
dürfte keine Scheu haben, die alten Me- indem sie alles versucht, die Konten sämt- Betroffenen gekümmert hat? Die Kranken-
thoden zu reaktivieren. Die Aussagen sei- licher Putin nahestehender russischer pfleger & Co. haben einen guten Job ge-
ner Vertrauten, die Nawalny beispielswei- leistet, das will ich nicht abstreiten. Aber
se den Konsum selbst gebrannten Wodkas man sollte deswegen die Arbeit der ande-
unterstellten, zeigen, wohin Nawalnys ren nicht schlechter machen.
Weg nach einer Rückkehr führen kann. Natalia Morjaschov, Hamburg
Torsten Berndt, Bovenden (Nieders.)
Nun soll schnell in Vergessenheit geraten,
Alexei Navalny / ddp media
Herr Nawalny hat meine volle Bewunde- dass nicht nur Pflegekräfte, sondern auch
rung! Für seinen Mut und den Glauben die Beschäftigten im Nahverkehr, bei der
daran, dass irgendwann die Rechtsstaat- Müllabfuhr, in den Gesundheitsämtern und
lichkeit in Russland einzieht, wenn er bei der Bundesagentur für Arbeit in den
weitermacht. Diesen Anschlag knapp zu vergangenen Monaten viel Lob erfahren
überleben, dann weiter Witze zu machen, haben. Die Pandemie hat vielen deutlich
aber zugleich sehr klar zu benennen, wie Familie Nawalny in der Charité gemacht, dass diese Beschäftigten und
der Westen handeln sollte in Bezug auf nicht Börsenhändler oder Unternehmens-
Putin und andere Verbrecher, ist wirklich Oligarchen in Deutschland und Europa zu berater unser Gemeinwesen zusammenhal-
großes Kino. sperren und diese Personen aus Deutsch- ten. Jetzt fordern sie mit Recht auch finan-
Andrea Große Lackmann, Oberhausen land und Europa auszuweisen? Warum zielle Anerkennung, doch die städtischen
setzt sie sich nicht gegen ostdeutsche Kämmerer argumentieren wie stets mit
Für den Tag der deutschen Einheit hat sich Landesfürsten durch, denen der schnöde den leeren Kassen. In einer Zeit, in der der
die Redaktion des SPIEGEL für einen Mammon offenbar das Wichtigste ist und Staat Milliarden zur Unterstützung von
Nawalny-Titel entschieden. Wäre für das die sich nicht mehr an ihr DDR-Gefängnis Unternehmen ausgibt, wäre das Geld für
Magazin das Thema Wiedervereinigung erinnern? Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst,
als Weitervereinigung nicht dringlicher? Prof. Dr. Hans Bloss, Ettlingen (Bad.-Württ.) insbesondere in den unteren Entgeltgrup-
Harald Dupont, Ettringen (Rhld.-Pf.) pen, sicher besser ausgegeben. Denn mehr
Ich habe das Gespräch mit Interesse, Lohn bedeutet auch mehr Kaufkraft!
Glauben Sie wirklich, dass dieses Thema aber auch mit großem Misstrauen ge- Werner Hillenbrand, Ludwigsburg
die Menschen in Deutschland interessiert, lesen – gegen den SPIEGEL, der durch
bis natürlich auf die Politiker, die wieder die Auswahl der Gesprächspartner, der Ergänzend zu Ihrer zutreffenden Mei-
eine Möglichkeit sehen, nach Sanktionen Gesprächsinhalte und des Zeitpunkts der nungsäußerung möchte ich auf einen wei-
zu schreien? Die Menschen haben ganz Veröffentlichung auf unverantwortliche teren Aspekt hinweisen: Der Beamten-
andere Sorgen: Wie bekommt man Covid- Weise die ohnehin aggressive Stimmung bund umgeht einmal mehr das Streikver-
19 in den Griff, wann wird endlich konse- in den internationalen Beziehungen wei- bot für seine Klientel, indem er zusammen
quent gegen Rechte und Nazis in Polizei ter anfeuert. Ich hätte mir sehr einen mit Ver.di streiken lässt und anschließend
und Bundeswehr vorgegangen und, im Zu- Hinweis darauf gewünscht, dass es zurzeit der Abschluss auch für die Beamten über-
sammenhang mit dem 30. Jahrestag der keinerlei Beweis dafür gibt, dass offizielle nommen wird. So wird klammheimlich die
deutschen Einheit, wann wird der Osten russische Stellen oder gar Präsident Feudalherrschaft der Beamten kontinuier-
Deutschlands dem Westen endlich in allen Putin hinter dem Giftanschlag auf Herrn lich weiter ausgebaut. Beamtete Richter
Bereichen gleichgestellt? Nawalny stehen. werden das sicher zu begründen wissen.
Günter Jacob, Brandenburg an der Havel (Brandenb.) Thomas Arnold, Nauheim (Hessen) Friedrich Meyer-Hildebrand, Tornesch (Schl.-Holst.)
Schön, dass Herr Neubacher sich so toll ich ja auch nur mit einer sechsjährigen August ein »linker Freiraum« beseitigt –
im öffentlichen Dienst auszukennen Ausbildung und mit hoher Verantwortung mit einem riesigen Polizeiaufgebot. Als
scheint. Woher die Erkenntnis kommt, 43 Jahre lang in der Anästhesie- und In- Steuerzahlerin frage ich mich, ob die Ein-
dass die Ausstattung dürftig ist und die tensivpflege gearbeitet. Es gibt das Ge- satzkosten nicht für den Kauf des gesam-
meisten mit vollen Bezügen einfach nur rücht, dass man für meinen Berufsstand auf ten Gebäudes gereicht hätten. Legion sind
zu Hause saßen, sollte er schon einmal er- irgendwelchen Balkonen applaudiert haben in Berlin zudem die Schikanen gegen »nor-
klären. Wir hatten die gesamte Zeit in der soll. Das wird man für Herrn Scheuer wohl male« MieterInnen, die nicht widerstands-
Coronakrise geöffnet und haben sowohl mit großer Wahrscheinlichkeit nicht tun. los »leergezogen« werden wollen. Nicht
Fahrerlaubnis- als auch Fahrzeugzulas- Thomas Hector, Osann-Monzel (Rhld.-Pf.) zu tolerieren sind allerdings die geschilder-
sungskunden bedient. Auch Busfahrer,
Polizisten und Arbeiter der Stadtreinigung »Das Schlimmste ist ein Fußball spielender,
haben wohl offenkundig ihren Job weiter ministrierender Senegalese, … weil den
erledigt. Und das, obwohl der öffentliche wirst du nie wieder abschieben.« Es ist die-
Dienst in der Vergangenheit regelmäßig ser Satz von Andreas Scheuer aus dem
schlechte Tarifabschlüsse hatte. Der ge- Jahr 2016, der von seiner Tätigkeit als
samte Text strotzt vor Vorurteilen. schneidiger CSU-Generalsekretär im Ge-
Absurdes linkes Terrorszenario Ich habe den Eindruck, dass Sie angesichts
eines krassen Übergewichts rechtsextre-
Nr. 40/2020 Ein von Autonomen besetztes
mer Gewalttaten ein absurdes linkes Ter-
JÖRG CARSTENSEN / DPA
137
Hohlspiegel Rückspiegel
Zitate
Das Wissen Die französische Zeitung »Le Monde«
der Besten
zum Titel-Gespräch mit
Alexej Nawalny (Nr. 41/2020):
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Sportlerin Petković: Der große Ehrgeiz, nach oben zu gelangen, nicht nur im Tennis, sondern überhaupt im Leben
4 S P I E G E L B E STS E L L E R / H E R B ST 2 02 0
Titel
Kopfball
Psychologie Andrea Petković ist eine der wenigen Personen, die sogar die ewigen
Tennis-Passagen bei David Foster Wallace genießen. Jetzt hat sie selbst
einen Erzählband über die große Traurigkeit verfasst, die ihrem Sport innewohnt.
6 S P I E G E L B E STS E L L E R / H E R B ST 2 02 0
Titel
: 7
Bestseller Belletristik (Hardcover)
1 Volker Klüpfel / Michael Kobr: Funkenmord 11 Sebastian Fitzek (Hg.): Identität 1142
Ullstein; 22,99 Euro Droemer; 20 Euro
Der neue Krimi mit dem Allgäuer Kommissar Kluftinger Pandemie-Sammelband mit Kurzgeschichten von Fitzek
dreht sich wie immer um Essen, die Ehe und den Doktor selbst, seinen Fans und Gastautoren wie Charlotte Link
Langhammer – und das bisschen Totschlag nebenbei. und Frank Schätzing.
2 Ken Follett: Kingsbridge. Der Morgen einer neuen Zeit 12 Jan Weiler: Die Ältern
Lübbe; 36 Euro Piper; 15 Euro
Der britische Historienbaumeister hat mal wieder eine Humoriges Buch darüber, wenn die Kinder erwachsen
Textkathedrale errichtet: ein Buch für alle, die Begriffspaare werden. Siehe Hörbuchrezension auf Seite 27.
wie »rebellische Normannenprinzessin« schätzen.
7 Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse 17 Christopher Paolini: Infinitum. Die Ewigkeit
Hanserblau; 22 Euro der Sterne
Kriminalistische Geschichte einer jungen Außenseiterin. Knaur; 24 Euro
Der große Überraschungserfolg der vergangenen Jahre. Fantasy-Epos des Autors von »Eragon«.
9 Carmen Korn: Und die Welt war jung 19 Andreas Eschbach: Eines Menschen Flügel
Kindler; 22 Euro Lübbe; 26 Euro
Unterhaltungsroman über die Nachkriegszeit in Köln, Science-Fiction-Roman über fliegende Kinder.
Hamburg und San Remo.
8 Bestseller im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »buchreport«; Daten: media control
Auf Platz 1: Volker Klüpfel, das ist der Herr links im Bild, erzählte einem Journalisten einmal, dass er SPIEGEL-Abonnent sei.
Vermutlich unter anderem, um über die jeweils aktuelle Platzierung der Krimis im Bilde zu sein, die er zusammen mit Michael
Kobr, das ist der Herr rechts im Bild, schreibt. Seit 2006 »Seegrund«, der dritte Band ihrer Reihe um den Allgäuer Kommissar
Kluftinger, auf der SPIEGEL-Bestsellerliste auftauchte, waren die beiden dort mit jedem Buch vertreten. 2009 schoss erstmals einer
ihrer Romane, »Rauhnacht«, von null auf eins – und so ist es auch 2020 wieder: »Funkenmord«, Kluftingers neunter Fall, führt
die Liste an – und widerlegt auch die These, dass es in Krimis um Spannung gehe. Hier geht es um Entspannung.
2 Hamed Abdel-Samad: Aus Liebe zu Deutschland 12 Thilo Sarrazin: Der Staat an seinen Grenzen
dtv; 20 Euro Langen-Müller; 26 Euro
»Ein Warnruf« – so der Untertitel – eines Zuwanderers, Methode Sarrazin: Erst kommt die Schlussfolgerung, dann
der die Deutschen auffordert, Liberalität und Toleranz zu die Herleitung – oder zumindest alles, was zur Schluss-
wahren. folgerung passt. Diesmal zum Themenkomplex Migration.
3 Manfred Lütz: Neue Irre. Wir behandeln die Falschen 13 Dietrich Grönemeyer: Naturmedizin und Schulmedizin!
Kösel; 20 Euro S. Fischer; 24 Euro
Na, wenn’s denn hilft: ein humoristisches Buch über Der Volksmediziner hält Sprechstunde: Was gegen
Seelenkrankheiten für das breite Publikum. Volkskrankheiten hilft.
4 Jan Böhmermann: Gefolgt von niemandem, dem 14 Matthias Horx: Die Zukunft nach Corona
du folgst Econ; 15 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro Eine Pandemie und ihre Nebenwirkungen: Auch die
Fast schon ein Fall fürs Deutsche Historische Museum: Zukunftsforscher der Achtzigerjahre sind wieder da.
Der linke Meinungsmacher legt seine Tweets vor.
5 Richard David Precht: Künstliche Intelligenz und 15 Jessica von Bredow-Werndl: Das Glück der Erde
der Sinn des Lebens Knaur; 22 Euro
Goldmann; 20 Euro Worum es da wohl geht? Kleiner Tipp: Die Autorin ist
Erste Lektion auf dem Weg zur Erkenntnis: Seien Sie vor- Dressurreiterin.
sichtig, wenn Ihnen jemand den Sinn des Lebens verkauft.
Ein Gespräch über Corona und die Folgen. Bewahrt eure Werte – und vergesst den Spaß dabei nicht.
Einsichten und Erinnerungen der Ex-First-Lady.
10 Bestseller im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »buchreport«; Daten: media control
Bücher
Neuhaus, 53, hat 26 Bücher geschrieben. Die verkaufte Gesamtauflage ihrer Romane beträgt mehr als elf Millionen
Exemplare. Ihr Werk ist in 35 Sprachen übersetzt. Acht ihrer Bücher wurden verfilmt. Neuhaus schreibt Kriminalromane
und Pferdebücher für Jugendliche oder für alle, die sonst gern Pferdebücher lesen. Sie ist vom Polizeipräsidenten
Westhessens zur Kriminalhauptkommissarin ehrenhalber ernannt worden. Japanische Buchhändler verliehen ihr den
Titel »Honya Taishō«, was auch immer das genau sein mag.
12 S P I E G E L B E STS E L L E R H E R B ST 2 02 0
I n der Küche bei Nele Neuhaus zu
Hause, oben auf den Schränken,
stehen 26 Flaschen Champagner. Rui-
händler in Königstein eingeladen zum
Tag der offenen Tür, und da war auch
ein Mann, der wirklich gut aussah, mit
SPIEGEL: Ich habe gelesen, Sie kamen
durch einen Unfall zum Schreiben. Ein
Motorrad hatte Sie angefahren.
nart und eine Flasche Dom Perignon. stahlblauen Augen. Ich bin eigentlich Neuhaus: Geschichten schreiben woll-
Es sind Geschenke. Wenn mal wieder gar nicht so für blaue Augen, aber seine te ich schon, seitdem ich wusste, was
eines von Neuhaus’ Büchern auf Platz waren einfach fantastisch. Er hat dort ein Buch ist. Aber nach dem Unfall lag
eins gelandet ist oder irgendeinen Re- gekellnert. Wir sind beim Rauchen vor ich lange im Krankenhaus. Ich war zehn
kord gebrochen hat, schickt der Verlag der Tür ins Gespräch gekommen. Er Jahre alt, durfte nichts tun, nicht einmal
eine Flasche. hatte keine Ahnung, wer ich bin. Das lesen, weil ich einen Schädelbasisbruch
Die Bücher, die Neuhaus bekannt fand ich gut. Er war eigentlich auch kein hatte und mit einem Eiskissen unterm
gemacht haben, spielen im Taunus. Ihre Kellner, sondern Banker, und hat dort Kopf in einem dunklen Einzelzimmer
Ermittler heißen Pia Kirchhoff und Oli- nur ausgeholfen. lag. Heute legt man Kinder in solchen
ver von Bodenstein. Neuhaus schreibt SPIEGEL: Fantastisch. Lassen Sie uns Fällen ins künstliche Koma, damals
präzise, leise dahingleitende Kriminal- über Bücher reden. Ihr erstes Buch han- musste ich gnadenlos an die Decke
romane, Hunderte von Seiten lang, in delte angeblich von Eulen und wurde gucken, acht Wochen lang. Da hat sich
denen man nebenbei auch erfährt, wie nie veröffentlicht? meine Fantasie entwickelt.
Bodenstein mit seiner Frau klarkommt Neuhaus: Es war kein Buch, sondern SPIEGEL: War diese Fantasie der Aus-
und was Kirchhoff gern frühstückt. eine Geschichte. Ich habe sie geschrie- löser dafür, dass Sie später von der
Manchmal fragt man sich, warum man ben, als ich fünf Jahre alt war. Ich war Schule geflogen sind?
das eigentlich liest wie ein Spanner, der noch nicht in der Schule und habe in Neuhaus: Ganz sicher. Ich wurde von
bei den Nachbarn zuschaut, wenn sie Druckbuchstaben und Lautschrift mit der katholischen Nonnenschule weg-
Abendbrot essen. Aber möglicherweise Wachsmalstiften geschrieben. gelobt, denn mein Vater war damals
ist es genau das, was fasziniert, diese SPIEGEL: Wird man als Schriftstellerin Landrat, und die Schule wurde von sei-
Nähe zu den Figuren. Und dann ertappt geboren? nem Landkreis unterstützt, deswegen
man sich dabei, wie man wieder einen Neuhaus: Es ist in einem drin oder konnten sie mich nicht wirklich raus-
Roman aus der Reihe durchgelesen hat. eben nicht. Bücher zu schreiben ist in schmeißen. Ich hatte einen Elternbrief
Bisher sind neun Taunuskrimis erschie- einem gewissen Maße erlernbar. Wer gefälscht und in Umlauf gebracht. In
nen: Geschichten über schöne Häuser, selbst schreibt, weiß, dass Schreiben dem Brief stand unter anderem, es wür-
schnelle Pferde, verlogene Frauen, ein Handwerk ist. Es ist nicht so, dass de ein McDonald’s auf dem Schulgelän-
deutsche Spießigkeit und den freund- ich dasitze und warte, dass mich die de eröffnen. Weil meine Schreibmaschi-
lichen Nachbarn, der eigentlich ein Muse küsst. Ich muss mir einen Plot ne dasselbe Typenbild wie die aus dem
Mörder ist. erarbeiten. Nicht erlernbar ist aller- Schulsekretariat hatte, sah das total echt
Am Tag des Interviews empfängt dings die Fantasie, die Gabe, andere aus. Ich habe den Briefkopf der Schule
Nele Neuhaus in ihrem Haus im Tau- Welten zu erschaffen. Und man sollte darüberkopiert und die Unterschrift der
nus zusammen mit ihrem Mann. Die das Schreiben und die Einsamkeit, die Obernonne gefälscht.
beiden stehen in der Tür mit ihrem mit der Arbeit an einem Buch ein- SPIEGEL: Sie haben dann woanders
Australian Cattle Dog Akela. Neuhaus’ hergeht, genießen können. Wenn ich Ihr Abitur gemacht, in einer Werbe-
Mann hat Tagliatelle mit Steinpilzen nicht schreiben kann, bin ich nur ein agentur gearbeitet und sind irgendwie
gekocht, mit denen er sehr unzufrieden halber Mensch. Beim Schreiben bin in einer Wurstfabrik gelandet.
ist, die aber in Wirklichkeit sensatio- ich glücklich. Ich bin mir ganz sicher, Neuhaus: Richtig.
nell schmecken. dass ich, wenn ich nicht bekannt ge- SPIEGEL: Mögen Sie Wurst?
Nach dem Essen setzt sich Neuhaus worden wäre, weiter für mich allein Neuhaus: Wurst esse ich schon lange
auf die Terrasse, raucht eine Zigarette geschrieben hätte, weil ich das ein- nicht mehr. Ich weiß, was da drin ist.
und sagt: »So, dann fragen Sie mal.« fach liebe. SPIEGEL: Wie kamen Sie in diese
Fabrik?
SPIEGEL: Frau Neuhaus, ich würde Neuhaus: Ich bin immer schon gern
Ihnen gern als Erstes eine etwas indis- geritten. Im Reitstall um die Ecke stan-
krete Frage stellen. den auch die Pferde von einem Herrn
Neuhaus: Einverstanden. Neuhaus. Er war 40, ich war 20, und er
SPIEGEL: Ist aber privat und völlig war ein cooler Typ, ein furchtloser
irrelevant für Ihre Arbeit als Schrift- Springreiter. Ich kam aus einem gut-
stellerin. bürgerlichen Elternhaus, und er war
Neuhaus: Macht nichts. das Gegenteil von gutbürgerlich. Das
SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie Ihren hat mich beeindruckt. Ich habe mich
Mann in einer Buchhandlung kennen- um seine Pferde gekümmert, dann habe
gelernt haben? ich mich in ihn verliebt, und auf einmal
Neuhaus: Ja, das stimmt. Es war ein Nele Neuhaus: Zeiten des Sturms. stellte sich heraus, der hat eine Fleisch-
Sonntagnachmittag. Ich war vom Buch- Ullstein; 528 Seiten; 15,99 Euro. fabrik. Was machen Sie dann?
SPIEGEL: Sie müssen ja auch nicht Geschwister und Freundinnen Post- Neuhaus: Leider muss ich heute sagen,
Jongleuse werden, wenn Sie sich in karten aus der ganzen Welt schickten. dass es wohl eher Abhängigkeit war als
einen Jongleur verknallen. Urlaub gab es nie. Mein Ex-Mann war Liebe. Ich fühlte mich gefangen, sah
Neuhaus: Das entwickelte sich der Unternehmer, ich war die Ehefrau aber lange keinen Ausweg. Das Schrei-
schleichend. Mal aushelfen, mal mit mit Steuerklasse 5 und 350 Mark im ben war über Jahrzehnte hinweg meine
anpacken an einem freien Tag. Irgend- Monat. Flucht. Mein erstes Buch spielte in New
wann musste ich entscheiden: Jura- SPIEGEL: Wann haben Sie geschrie- York. Ich war nur für ein paar Tage dort
studium oder den Ehemann unterstüt- ben? gewesen, musste also alles recherchie-
zen. Und dann gab es kein Zurück Neuhaus: Jeden Abend für ein oder ren. In der realen Welt habe ich Steaks
mehr. Ich wurde in der Fleischfabrik zwei Stunden, wenn mein Mann seine eingeschweißt, aber in Gedanken war
gebraucht. Meistens im Büro, aber im Mutter im Altersheim besucht hat und ich beim Bürgermeister von New York,
Sommer habe ich tagelang an der ich die Pferde versorgt und den Haus- bei Sergio, dem Mafiapaten, und bei
Abpackstraße gestanden und Tonnen halt erledigt hatte. Alex. Das hat meinen Verstand gerettet.
von Schweinesteaks verpackt und in SPIEGEL: Sie müssen diesen Ex-Mann SPIEGEL: Hat Ihr Ex-Mann Sie unter-
die Steaks geschluchzt, wenn meine sehr geliebt haben. stützt?
Neuhaus: Im Gegenteil. Er hatte wenig
Verständnis. Er hat immer gesagt, du
Bestseller Taschenbuch Bestseller Paperback
mit deinem Geklimpere, schon wieder
Belletristik Belletristik
ist der Computer ganz heiß. Eines Tages
1 Karsten Dusse: Achtsam morden 1 Nele Neuhaus: habe ich gedacht, jetzt zeig ich’s dir, und
Heyne; 10,99 Euro Zeiten des Sturms versucht, einen Verlag zu finden.
Ullstein; 15,99 Euro SPIEGEL: Wie?
2 Andreas Franz / Neuhaus: Das Manuskript hatte fast
Warum die Krimiautorin auch
Daniel Holbe: Der Flüsterer
Knaur; 10,99 Euro
anderes schreiben will, erzählt tausend Seiten. Die habe ich mehrfach
sie im SPIEGEL-BESTSELLER-Interview. kopiert. Dann bin ich ans Bücherregal,
3 Ewald Arenz: Alte Sorten 2 Harlan Coben: habe mir die Verlage meiner Lieblings-
DuMont; 10 Euro
Der Junge aus dem Wald autoren angeschaut und das Buch an
4 John Ironmonger: Der Wal und Goldmann; 15 Euro die geschickt. Es wollte allerdings nie-
das Ende der Welt 3 Jean-Luc Bannalec: mand haben. Ich habe dann 500 Exem-
Fischer; 12 Euro
Bretonische Spezialitäten plare von »Unter Haien« selbst drucken
Kiepenheuer & Witsch; 16 Euro lassen, in der Garage gestapelt und nach
5 Saša Stanišić: Herkunft
btb; 12 Euro und nach unter die Leute gebracht.
4 Ragnar Jónasson: Dunkel
SPIEGEL: Über die Fleischtheke?
Der literarische Erfolgstitel 2019, btb; 15 Euro
jetzt als Taschenbuch: eine er- Neuhaus: Auch. Es war kurz vor
staunlich leichtfüßige Geschich- 5 Laura Baldini: Lehrerin einer Weihnachten. Jeden Kunden, den ich
te von Flucht und Identität. neuen Zeit bedient habe, habe ich gefragt: »Haben
Piper; 12,99 Euro
Sie schon ein Geschenk für Ihren Mann
oder Ihre Frau?«, und wenn sie sagten,
Bestseller Taschenbuch Bestseller Paperback
nee, habe ich gesagt, ich habe ein Buch
Sachbuch Sachbuch
geschrieben, verschenken Sie doch das.
Ich signiere es auch.
1 Sucharit Bhakdi / Karina Reiss: 1 Stefanie Stahl: Das Kind in dir
Corona Fehlalarm? SPIEGEL: Sie haben Bücher mit der
muss Heimat finden
Goldegg; 15 Euro Kailash; 14,99 Euro
Schubkarre durch die Fußgängerzone
gerollt.
2 John Strelecky: Das Café 2 Franziska Böhler / Jarka Neuhaus: Es war eine Sackkarre.
am Rande der Welt Kubsova: I'm a Nurse SPIEGEL: Wie kamen Sie dann doch
dtv; 8,95 Euro Heyne; 12,99 Euro
zum Ullstein Verlag?
Der englischsprachige Titel
3 Yuval Noah Harari: Eine kurze Neuhaus: Als die Buchhändlerin aus
Geschichte der Menschheit soll wohl flott klingen:
Königstein der Verlagsvertreterin von
Pantheon; 14,99 Euro eine Krankenschwester über ihre
Leidenschaft für ihren Beruf. Ullstein meinen Roman zeigte und sag-
Der Historiker hat mittlerweile te, den habe sie im Weihnachtsgeschäft
20 Millionen Bücher verkauft und 3 Sabine Bode: Älterwerden ist voll
häufiger verkauft als den jüngsten
ist zum großen Welterklärer geworden. sexy, man stöhnt mehr
Goldmann; 13 Euro »Harry Potter«, ging alles ziemlich
4 John Strelecky: Big Five schnell.
dtv; 9,90 Euro 4 Raynor Winn: Der Salzpfad SPIEGEL: Mittlerweile haben Sie einen
DuMont Reiseverlag; 14,99 Euro
5 John Strelecky: Wiedersehen im Café neuen Mann und elf Millionen Bücher
am Rande der Welt 5 Christian Bischoff: Bewusstheit verkauft. Sie sind vor allem bekannt
dtv; 9,90 Euro Ariston; 18 Euro für Ihre Taunuskrimis. Haben Sie eine
14 Bestseller im Auftrag des SPIEGEL ermittelt vom Fachmagazin »buchreport«; Daten: media control S P I E G E L B E STS E L L E R H E R B ST 2 02 0
Idee, warum die Menschen gern Krimi- Erzählform erlaubt mir ganz andere
nalgeschichten aus der westdeutschen Möglichkeiten. Immer nur Krimis wäre
Provinz lesen? mir zu einseitig. Eine Zeit lang habe ich
Neuhaus: Darüber habe ich schon oft mich gefragt: Bist du jetzt nur eine Kri-
nachgedacht. Ich schreibe Bücher, die miautorin, oder kannst du auch noch
ich selbst gern lesen würde. Nicht über etwas anderes?
den zerknirschten, krebskranken Er- SPIEGEL: Und?
mittler, der allein in seiner Wohnung Neuhaus: Sagen Sie es mir.
sitzt und melancholisch in den leeren SPIEGEL: Ihre Sheridan-Grant-Roma-
Kühlschrank starrt. Das gab es alles ne sind alle Bestseller. Mitunter hatten
schon, das wollte ich nicht. Ich möchte Sie fünf Bücher gleichzeitig in den Top
über Leute schreiben, die man verste- Ten der Taschenbuchbestsellerliste. Wie
hen kann, die man kennt. Bei denen fühlt sich dieser Ruhm an?
man denkt, aha, das könnte doch mein Neuhaus: Ich habe oft das Gefühl, dass
Nachbar sein. das alles jemand anderem passiert. Die
SPIEGEL: Manchmal finde ich es arg Neuhaus-Notizheft berühmte Schriftstellerin, das bin nicht
normal in Ihren Romanen, gerade weil »In Druckbuchstaben« wirklich ich.
ich denke, das könnte jetzt auch mein SPIEGEL: Wer ist es dann?
Nachbar sein. Ihre Ermittlerin Pia hat Neuhaus: Es ist eine Rolle, in die ich
als größtes Laster, dass sie gern Toast Neuhaus: Ich habe vor vielen Jahren schlüpfe wie in ein Kostüm. Wenn ich
mit Nutella isst und dass sie Zigaretten auf einer Pressekonferenz den Chef der eine Veranstaltung habe und mich
raucht. Kripo in Hofheim angesprochen und ge- schminke, sagt meine Stieftochter
Neuhaus: Es gefällt Ihnen also nicht, sagt: Hallo, ich habe einen Krimi ge- manchmal: Na, verkleidest du dich wie-
dass Pia dieselben Unarten hat wie schrieben und arbeite am nächsten, darf der als Nele Neuhaus?
ich? ich Sie mal besuchen und Ihnen ein paar SPIEGEL: Wieso haben Sie diese Rolle
SPIEGEL: Verzeihen Sie, Frau Neu- Fragen stellen? Dasselbe habe ich mit erfunden?
haus, das wollte ich damit nicht sagen. dem Chef der Frankfurter Rechtsmedizin Neuhaus: Sie hilft mir, demütig zu blei-
Neuhaus: Ich frühstücke morgens auch gemacht. Beide waren zuerst etwas miss- ben. Ich habe sehr hart gearbeitet für
Toastbrot mit Salzbutter und Nutella. trauisch, aber wir haben uns angefreun- meinen Erfolg, aber ich hatte auch
SPIEGEL: Sie sind Pia? det. Der Chef der Rechtsmedizin hat mir Glück. Und ich habe nie auf Ratschläge
Neuhaus: Pia ist ein bisschen Nele. später erklärt, was Fettwachsleichen sind. gehört, was den Inhalt meiner Bücher
Aber im Laufe der Zeit hat sie sich kom- SPIEGEL: Was sind Fettwachsleichen? betrifft. Bis heute ist jeder Buchtitel auf
plett von mir emanzipiert. Sie ist viel Neuhaus: Lesen Sie mein Buch, dann meinem Mist gewachsen. Nach kurzer
mutiger, als ich es bin, unverfrorener, wissen Sie es. Skepsis waren im Verlag immer alle
vielleicht kann sie auch logischer den- SPIEGEL: Ihr jüngstes Buch, »Zeiten happy, egal ob mit »Schneewittchen
ken als ich. des Sturms«, das diesen Sommer er- muss sterben« oder »Muttertag«.
SPIEGEL: Auf Ihrer Website steht das schienen ist, ist kein Krimi, sondern der SPIEGEL: Sebastian Fitzek hat jüngst
Zitat »Das Böse ist unspektakulär und dritte Teil der Sheridan-Grant-Trilogie, zu mir gesagt, er halte »Schneewittchen
stets menschlich und teilt unser Bett und die Geschichte eines Waisenmädchens muss sterben« für den besten Titel aller
sitzt mit uns am Tisch«. aus Nebraska. Zeiten.
Neuhaus: Das ist ein Zitat des engli- Neuhaus: Es geht zwar auch ein biss- Neuhaus: O wow! Das ist ein Riesen-
schen Schriftstellers W. H. Auden. Ich chen um Mord und Totschlag, aber lob. Der Arbeitstitel damals war »He-
habe es irgendwo gelesen und dann »Zeiten des Sturms« ist viel erzählen- xenjagd«, aber damit ist ja schon ein
meinem Kriminalroman »Muttertag« der. Es ist eben kein Krimi. Die Span- weitaus berühmterer Kollege unter-
vorangestellt. nung wird völlig anders aufgebaut, wegs. Beim Schreiben habe ich ständig
SPIEGEL: Was interessiert Sie am nicht durch die für Krimis typischen über einen Titel nachgedacht, und eines
Bösen? Zeitsprünge und Cliffhanger. Nachmittags war er dann in meinem
Neuhaus: Ich interessiere mich nicht SPIEGEL: Sind Sie fertig mit Krimis? Kopf. Auf Englisch klingt er fast noch
für Gewalt, aber es könnte sein, dass es Neuhaus: O nein, der nächste Taunus- besser: »Snow White Must Die«.
das ist, was die Leute so an Krimis fas- krimi ist in Planung. Die Sheridan- SPIEGEL: Ihre Romane sind in insge-
ziniert. In Kriminalromanen passiert all Grant-Romane schreibe ich in Ichform, samt 35 Sprachen übersetzt worden. In
das, was manche Menschen gern mal wie auch meine Jugendbücher. Diese Südkorea waren Sie auf Platz eins der
machen würden: dem blöden Chef in Bestsellerliste. Was interessiert die
die Fresse hauen, den Porsche des an- »Manchmal sagt Koreaner am Taunus?
geberischen Nachbarn zerkratzen. Neuhaus: Das ist mir bis heute ein
SPIEGEL: Woher wissen Sie eigentlich
meine Stieftochter: Rätsel.
so gut darüber Bescheid, wie die deut- ›Na, verkleidest
sche Polizei arbeitet? du dich wieder?‹« Interview: Takis Würger
15
Bücher
Global digital.
Erleben Sie die größte
Live-Kulturshow des Jahres.
Mit Ihren Lieblings-Autor*innen,
kreativen Performances und
einzigartigen Digital-Events.
Wann?
Am 17. Oktober 2020 –
den ganzen Tag lang
Wo?
Bei Ihnen zuhause –
auf der ganzen Welt
Gefördert durch:
Reisender Büscher: Zwiegespräch mit der eigenen Vergangenheit
18 S P I E G E L B E STS E L L E R H E R B ST 2 02 0
W ohin auch immer es Wolfgang
Büscher als reisenden Schrift-
steller zieht, nach Moskau, in die USA
ten möchte. Keinen Computer natür-
lich, aber auch kein Geschirr und keinen
Campingbedarf, es geht um eine Ent-
oder nach Jerusalem – er schreibt ein deckung dessen, was vorhanden ist.
Buch über Deutschland. Und er tut dies Nun mag der Versuch, sich in den
nicht in der üblichen Art und Weise, Wald zurückzuziehen, auch unange-
mit Daten und Begriffen und viel Ge- nehme Assoziationen hervorrufen, eine
schichte, sondern sucht eine neue Form. Romantik der Weltflucht und der Anti-
Es ist ein Zwiegespräch mit seiner eige- modernität, von den Hüttenmemoiren
nen Vergangenheit, mit den Menschen »Walden« des US-Denkers Henry
in der Provinz, die nicht in der Zeitung David Thoreau bis zu jener deutschen
Autorinnen de Beauvoir 1945 in Paris, Arendt 1944 in New York, Weil 1936 in Spanien,
wie Brosamen von dem Tische der niert, hatte sich von der besorgten Fa-
Reichen.« milie in die USA retten lassen, ging aber
Auf dem anderen Kontinent, in 1942 nach England, um sich bei der
Europa, denkt die Französin Simone französischen Exilregierung als Fall-
Weil wie sie – aber sucht den Weg von schirmspringerin zu melden; »die be-
der Theorie zur existenziellen Hand- treffenden Handbücher habe sie ein-
lung. Die beiden wissen nichts vonei- gängig studiert«. Das Selbstmordkom-
Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit. nander. Weil, wie Arendt jüdischer Her- mando der wegen physischer Schwäche
Klett-Cotta; 400 Seiten; 25 Euro. kunft, aber vom Katholizismus faszi- völlig ungeeigneten jungen Frau wird
20 S P I E G E L B E STS E L L E R H E R B ST 2 02 0
abgelehnt. Zur militärischen Untätigkeit deutet es, ein Ich zu sein in einer Epoche, Schuldienst entlassen, liest im besetz-
verurteilt, schreibt sie in den folgenden da Kommunismus und Faschismus die ten Paris Heidegger und Husserl und
Jahren Essays, die das Individuum völ- bestimmenden Ideologien sind? Und denkt sich mit Mühen aus dem solip-
lig neu entwerfen. Radikaler Altruis- wie definiert sich ein Individuum, das sistischen Existenzialismus heraus, den
mus, Selbstwahrnehmung durch das durch Kollektive bestimmt wird – als zu- ihr Lebensgefährte Jean-Paul Sartre er-
Leiden anderer, mystische Berufung gehörig oder als Außenseiter, auch gegen folgreich zelebriert; 1949 wird sie mit
sind ihre Themen; bis heute gilt sie in seinen Willen und sein Selbstgefühl? »Das andere Geschlecht« ihre feminis-
tische Bilanz ziehen. Hannah Arendt,
vertriebene Europäerin und von 1937
bis 1941 staatenloser Flüchtling, macht
den Antisemitismus zum Ausgangs-
punkt ihrer Theorie zu Totalitarismus,
Nationalismus und zur »vita activa«.
Simone Weil, wie Arendt als Jüdin ver-
folgt, geht einen anderen, absolut ein-
samen philosophischen Weg, in dem
das Ego – von René Descartes zum
Zentrum des neuzeitlichen Denkens
gemacht – nicht auf seine Behauptung,
sondern seine Auflösung zielt. Und
Ayn Rand, jüdische Emigrantin aus
Sankt Petersburg, sucht ihr Heil in
den USA, wo sie aus ihrer Erfahrung
der Zwangskollektivierung durch die
Bolschewisten die entgegengesetzte
Schlussfolgerung zieht: Allein der Ego-
ismus kann Grundlage einer funktio-
nierenden Gesellschaft sein; alles an-
dere ist Propaganda, Ideologie und
»Sklavenmoral«.
Rand, bis heute einflussreiche Inspi-
ratorin der Konservativen in den USA,
ist die zweite Neu-Entdeckung, die
Wolfram Eilenberger in seiner Philoso-
phiegeschichte beschert: Wie er diese
Denkerin als Persönlichkeit nahbar und
als Intellektuelle nachvollziehbar
macht, ist so mitreißend wie erhellend.
Wie überhaupt die Idee dieses Buches
mit jedem Kapitel immer zwingender
wird: diese vier Zeitgenossinnen als
geistige Paralleluniversen zu porträtie-
ren, die, ohne viel – oder überhaupt –
voneinander zu wissen, ihr Schicksal in
einer Epoche extremer Verdunkelung
zum Ausgangspunkt ihres Denkens ma-
Rand 1964 in New York: Individuen in der Epoche von Faschismus und Kommunismus chen und dieselben Themen radikal un-
terschiedlich bearbeiten. Eilenberger
hat hier nicht nur einen originellen und
der Philosophiegeschichte als kuriose, Simone de Beauvoir, Hannah überzeugenden Zugriff. Er schreibt
wenn nicht verwirrte Außenseiterin. Arendt, Simone Weil und Ayn Rand außerdem elegant, verständlich, hu-
Der Philosoph und Schriftsteller sind Eilenbergers Protagonistinnen. morvoll – und hin und wieder bis zur
Wolfram Eilenberger macht sie hingegen Vier Denkerinnen ohne akademische Ergriffenheit empathisch. Gleichgültig,
zur geheimen Heldin seiner faszinieren- Heimat, vier Außenseiterinnen – drei was man bisher über das Denken im
den Zeitgeschichte über vier Denkerin- davon jüdischer Herkunft –, denen 20. Jahrhundert wusste: Hier wird man
nen, die zur selben Zeit – am Vorabend Politik und Krieg ihre Lebensthemen auf aufregende Weise klüger.
und während des Zweiten Weltkriegs – aufzwingen. Beauvoir, als Lehrerin
dieselben Fragen umtrieben: Was be- wegen bisexueller Umtriebe aus dem Elke Schmitter
Fotos: Denise Bellon / akg-images, Fred Stein / dpa / Ullstein Bild, Bridgeman Images (2) 21
Anja Rützel Das seltsame Sachbuch
gelernt habe«
begeistern. No Shit, Sher- gällt werde. Mal abgesehen
lock, staunt da der gehetzte davon, dass es nicht sehr
Lohnarbeiter, der bisher menschenfreundlich wäre,
angenommen hatte, man solchen Leuten den Zugang
sollte unbedingt danach zum eigenen Garten zu ver-
streben, möglichst viel Zeit mit aufreibenden Arbei- wehren, verweist sein Säuberungsbild doch viel plaka-
ten zuzubringen. tiver auf etwas anderes. Vor allem wenn Strelecky da-
Nächster Halbkringel im Wutregenbogen: die unter- von schwärmt, wie befriedigend es sei, nicht erst auf
geschobenen Prämissen, die in diese Banalbotschaften einen fähigen Unkrautausrotter zu warten, sondern die
eingewickelt sind. In der Sparte »Beziehungen« rät Stre- dornigen Gewächse eigenhändig zu rupfen, damit
lecky, man solle keine Liebesverbindung weiterführen, sie nicht »das gesunde Gras im Garten« verdrängen.
nur um den anderen nicht zu verletzten, obwohl man
der Liaison doch nur »sechs von zehn Punkten« gebe. Anja Rützel hält viel von Straßenhunden und wenig vom
Und man solle auch nicht nur deshalb beieinanderblei- Unkrautjäten. Ihr derzeitiges Lieblingssachbuch ist »Better
ben, weil man Angst habe, danach womöglich in ein Living Through Selective Apathy« von M. C. Alexander.
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ihr Vater sie für hässlich hält. Ihr Va- spüren, die sonst ungefiltert in die
ter, der ihre Haare, ihre Ohren, ihre sozialen Netzwerke fließen, dem inne-
Nase und selbst ihr Kinn als »perfekt« ren Stammtisch eben. So folgt Man-
bezeichnet hatte, spricht plötzlich im gold seinen Impulsen zu Fragen der
Flüsterton davon, dass sie so hässlich Zeit: etwa der Greta-Frage. Wie hältst
sei wie ihre Tante, zu der er vor Jah- du es mit dem Klimawandel? Nun ver-
ren den Kontakt abgebrochen hat. So gessen Intellektuelle oft, dass auch sie
Neues zu Conora
Renate Bergmann: Dann bleiben wir
eben zu Hause.
K Ü N S T L E R P O R T R ÄT sowieso ein riesengroßes Nichts ist, Sprecherin: Carmen-Maja Antoni.
Mit Mahler übern See denkt er über sein Leben nach. DAV; 2 CDs; 7,99 Euro.
Das hat er der Musik unterworfen –
Robert Seethaler: Der letzte Satz. und mit seinem Ehrgeiz hat er die G »Das Conora ist ja so ein hochwis-
Sprecher: Matthias Brandt.
tacheles!/ROOF Music; Audio-CD;
Beziehung zu seiner Frau Alma und senschaftliches Thema, wo sich selbst
12,99 Euro. diverse Orchester ruiniert und sich die Studierten streiten, was richtig
selbst erst recht. Matthias Brandt liest und was falsch ist«, sagt sie. Wer mit
G Gustav Mahler hat es auch nicht diesen schmalen Roman in bedrohlich unfehlbaren Ratschlägen durch
leicht: In Robert Seethalers »Der letzte langsamem Tempo, er lässt seine diese Krise kommen will, hört also
Satz« befindet sich der Komponist Stimme wie eine irrlichternde Nadel besser auf sie: Renate Bergmann,
auf der »Amerika«, einem Schiff, das über eine Schallplatte kratzen. die Twitter-Omi, weiß Rat, auch wenn
ihn im Jahr 1910 über den Atlantik Gemächlich stutzt er dabei Seethalers ihr Atem manchmal gefährlich
nach Europa bringen soll. Aber eigent- eh schon knappe Sätze, mit denen rasselt. Etwa: jeden Tag eine kleine
lich weiß er, dass nach dieser Reise der Autor dieses große Leben im Klei- Aufgabe vornehmen, den Nähkorb
nicht mehr viel kommen wird. Mahler nen zeigt, noch weiter zusammen – aufräumen, Bügelwäsche erledigen,
ist krank, ihm ist ständig kalt, er kann bis nicht mehr viel übrig bleibt: bloß auf den Küchenschränken scheuern.
sich kaum auf den Beinen halten. Und ein alter Mann und das Meer und Man darf eben nicht in den Tag
wie er da schlotternd an Deck sitzt der Zweifel, ob er sein Leben richtig hinein lottern, findet sie. Im Hörbuch
und auf ein Meer blickt, das nach nichts gelebt hat. Oder ob er überhaupt eine »Dann bleiben wir eben zu Hause«
riecht und nach nichts aussieht und Wahl hatte. Elisa von Hof lernt man auch, was in eine Haus-
apotheke gehört, was in keinem Eis-
schrank fehlen darf, wie man einen
Rührkuchen backt und warum man
immer einen strammen Doppelkorn
parat halten sollte (hilft beim Ver-
dauen, schmeckt im Tee). Aber Ob-
acht: Vom Korn lieber nicht zu
viel, sonst sorgt er für Probleme, statt
sie zu lösen. Bergmann, Trümmer-
frau, vierfache Witwe, Haushaltsprofi,
weiß eben, wovon sie spricht. Und
die Schauspielerin Carmen-Maja
Antoni japst die Tipps so lebensnah
ins Mikrofon, als hätte sie vor der
Aufnahme selbst ein paar Einmach-
gläser aus dem Keller getragen.
Renate Bergmann ist das Pseudonym
des Controllers Torsten Rohde,
mit dem er seit 2013 ein ziemlicher
Hit auf Twitter und in den Bücher-
regalen ist. Mittlerweile sind 14 Bände
erschienen: Man kann mit der
Online-Omi campen, kochen, Häuser
bauen und Weihnachten feiern.
Das Bedürfnis nach herzerwärmen-
den Banalitäten ist eben größer
als gedacht. Und Rohdes derzeitiger
Erfolg auf der Hörbuch- und Hard-
cover-Bestsellerliste spricht dafür,
dass es während der Pandemie sogar
noch größer geworden ist. Selbst
wenn der Witz eigentlich nur aus
einem einzigen Buchstabenverdreher
Erzähler Seethaler: Das große Leben im Kleinen zeigen besteht: »das Conora«. Elisa von Hof
Bestseller Hörbuch
s gibt Menschen, die trifft man darunter schon gelitten, aber er lehnt verloren. Das Problem an »Cortex« ist:
E zum ersten Mal und glaubt doch,
sie schon lange zu kennen. Moritz
eine Therapie in einem Schlaflabor ab.
Immer wieder träumt Hagen von einem
Man muss viel Energie aufbringen, um
der Handlung folgen zu können und zu
Bleibtreu ist so ein Mensch. Man hat jungen Mann (Jannis Niewöhner), verstehen, wer am Ende wer ist. Aber
gemeinsam viel Zeit verbracht, ist mit scheinbar ein Kleinkrimineller. Bald der Film versackt so sehr im Treibsand
ihm hinter Lola hergerannt, hat ihn in wird ihm klar, dass Karoline eine Affäre des Somnambulen, die Geschichte bleibt
»Lammbock« gesehen, auch als Joseph mit ihm hatte – und dass ihn selbst mit so diffus und weit weg, dass es schwierig
Goebbels oder als Andreas Baader. Hannes mehr verbindet, als er sich zu- ist, bei der Sache zu bleiben.
Bleibtreu ist einer der wenigen ech- nächst eingestehen will. Im Gespräch fallen mehrfach die
ten Kinostars in Deutschland. Aber hin- Leicht macht Bleibtreu es dem Namen Quentin Tarantino und Chris-
ter den Masken blieb er stets sichtbar. Publikum mit seinem Film nicht: Es topher Nolan, dessen Film »Memento«
Wenn man ihm tatsächlich am Tisch ge- geht um Identität und Körpertausch, ein Vorbild für »Cortex« war. Warum
genübersitzt, am besten draußen, damit um die Frage, ob das Leben festgelegten sollte man nicht groß denken, wenn
es um Kinofilme geht? Man
sieht ja, was in deutschen Se-
rien plötzlich gelingt: Fantasy,
Science-Fiction, Thriller – alles
möglich.
Auch Bleibtreu dreht dem-
nächst die Krimiserie »Black-
out« für Joyn, den Streaming-
dienst von ProSiebenSat.1, aber
wirklich anfreunden kann er
sich nicht mit dem Format: »Was
vielen Serien fehlt, ist das Ende.
An die Stelle der Reflexion wird
ein unternehmerisches Prinzip
gesetzt: mehr davon. Und nun
sitzen wir da und schauen zehn
Stunden und länger. Ist nicht
meins.«
Szene aus »Cortex«: Im Treibsand des Somnambulen Dass das Kino stirbt, glaubt
Bleibtreu nicht. Aber die Vielfalt
er rauchen kann, erzählt er gleich drauf- Bahnen folgt oder sich radikal ändern werde leiden: »Was fehlen wird, ist der
los in diesem schnoddrig-hanseatischen lässt. In der besten Sequenz von »Cor- Mittelbau, also Filme mit Anspruch, die
und gleichzeitig theaterhaft-intensiven tex« taucht ein von dem österrei- sich an ein großes Publikum richten.
Tonfall, der einem noch präsenter ist chischen Schauspielberserker Nicholas Genau das Kino, das ich machen möch-
als sein Gesicht. Von dem ersten Film, Ofczarek verkörperter verrückter Apo- te.« Ihm sei klar, dass ihn allein schon
den er als Regisseur gemacht hat, wa- theker auf, der sich über Traum, Trau- sein Filmgeschmack in die Arme der
rum er das Kino liebt und was aus ihm ma und die Schnittstelle zur Realität in Streamingdienste treibe.
in Streaming- und Corona-Zeiten wer- einen surrealen Rausch redet. »Und wer weiß, wie viele Kinos am
den soll. »Cortex« heißt der Film, den Möglicherweise haben einige Zu- Ende Corona überstehen?«, sagt Bleib-
er geschrieben, produziert und insze- schauer den Faden aber schon vorher treu und seufzt. »Ich hoffe trotzdem,
niert hat. Ein schwieriger Stoff. dass auch mein zweiter Film ein Kino-
In »Cortex« geht es um den von ihm film sein wird.«
selbst gespielten Sicherheitsmann Ha- »Vielen Serien fehlt
gen, der seit Monaten so intensiv träumt, Cortex.
dass er Fantasie und Realität nicht mehr
das Ende. Zehn Ab 22. Oktober im Kino.
unterscheiden kann. Die Beziehung zu Stunden und länger?
seiner Frau Karoline (Nadja Uhl) hat Ist nicht meins.« Oliver Kaever
Fotos: Warner Bros., Filmwelt Filmverleih, Melinda Sue Gordon / Warner Bros., Sony Pictures 29
Charts Kino
1 Jim Knopf und die Wilde 13
ekliger rosafarbener Chemie- der abenteuerlustigen Bür-
Warner Bros., FSK: ohne Altersbeschränkung
schaum eindringt, den die gertochter Melanie (Gina
Die Abenteuer des schwarzen Waisenjungen, den der Autor Michael
Bewohner abschöpfen müs- Rodriguez) anfreunden,
Ende vor 60 Jahren erfand, gehen weiter. Mit über 200 000 Zu-
sen. Bei genauerer Betrach- dann schließen sich die bei- schauern in nur einer Woche ein Hoffnungsschimmer für die Kinos.
tung erweist sich die Gau- den Frauen zusammen.
nerkomödie aber als kluge In den schönsten Szenen des
2 Tenet
Abhandlung über die Bana- Films üben die Kleingangs- Warner Bros., FSK: ab 12 Jahren
lität des Kapitalismus und terhelden die Kunst der
Schon lange hatte Hollywoods Regie-
die emotionale Leere einer Umarmung. Unter der Ober- Wunderkind Christopher Nolan den
scheinbar verschworenen fläche aus schrägem Humor Traum, einen James-Bond-Film
Familiengemeinschaft. Zu- und perfekt scheußlicher zu drehen. Nun hat er seinen eigenen
nächst ist die Jungbetrügerin Ausstattung erzählt July eine Agenten-Blockbuster geschaffen.
Old Dolio schwer eifersüch- erstaunlich warmherzige
tig, als ihre Eltern sich mit Geschichte. Wolfgang Höbel 3 Gott, du kannst ein Arsch sein!
Leonine, FSK: ab 6 Jahren
Eine 16-Jährige erfährt, dass sie Krebs hat und die Heilungschancen
gering sind. Statt eine Chemotherapie zu beginnen, haut sie
von zu Hause ab und macht sich auf den Weg nach Frankreich.
4 After Truth
Constantin, FSK: ab 12 Jahren
Der zweite Adaption der Teeniesex-Romane von Anna Todd: große
Leidenschaft, noch größere Klischees. Weitere Fortsetzungen werden
kaum zu vermeiden sein.
30 S P I E G E L B E STS E L L E R / H E R B ST 2 02 0
Charts DVD MARK ANNE
RUFFALO HATHAWAY ROBBINS PULLMAN
TIM UND BILL
1 Die Känguru-Chroniken
Warner Bros., FSK: ohne Altersbeschränkung
Marc-Uwe Klings kommunistisches Känguru hüpft unter Dani Levys
Regie nun erstmals über die Leinwand und knöpft sich unangenehme
Zeitgenossen wie Immobilienhaie oder Rechtspopulisten vor.
3 Nightlife
Warner Bros., FSK: ab 12 Jahren
Zwei Hallodris (Elyas M’Barek und Frederick Lau) und eine
pfiffige Musikmanagerin (Palina Rojinski) werden von Gangstern
durch die Berliner Nacht gejagt.
9 Emma
Universal Pictures, FSK: ohne Altersbeschränkung
Neue Adaption von Jane Austens Gesellschaftsroman: Regisseurin
Autumn de Wilde verwandelt ihn in eine Ausstattungsorgie.
10 Die Eiskönigin 2
Walt Disney, FSK: ohne Altersbeschränkung
Der zweite Teil von Disneys Kino-Blockbuster über eine junge Regentin, www.VergifteteWahrheit.de
die mit Zauberkräften Eis erzeugen und mit ihrem Charme
Herzen erwärmen kann. Eine vergnügliche Emanzipationsgeschichte.
32 S P I E G E L B E STS E L L E R H E R B ST 2 02 0
2. »Auf hoher See« – sie arbeiten in sen. Der ging nie kaputt. Ich Blödmann Schneider: Der hatte wie alles eine
einer Hupenfabrik und müssen zur habe den dann an einen Bekannten gute und eine schlechte Seite. Das
Kur auf See. verkauft. Der fährt ihn heute noch. Homeschooling hat mich fertiggemacht.
3. »Der Klaviertransport« – sie arbeiten SPIEGEL: Sind Sie für oder gegen ein SPIEGEL: Welche der derzeit kursie-
als Möbelpacker und müssen ein Tempolimit? renden Verschwörungstheorien finden
Klavier einen Berg hochtragen. Schneider: Ich fahre gerade 122 km/h. Sie am witzigsten?
SPIEGEL: Improvisieren Sie eigentlich Mein Auto kann aber doppelt so Schneider: Witzig ist das alles nicht.
viel auf der Bühne? schnell, 250 km/h. Mein Rekord war Aber natürlich ist die Vorstellung inte-
Schneider: Wenn ein Auftritt von mir mal 190 km/h. Da fällt mir ein: In ressant, dass Angela Merkel in Wirk-
strukturiert und durchgetaktet ist, dann Spanien gibt es ein Tempolimit von lichkeit ein Echsenmensch sein könnte.
kann ich auf diesem Boden gut impro- 120 km/h. Das ist sehr entspannt. Man SPIEGEL: Bedauern Sie es, nicht mehr
visieren. Manchmal verzichte ich auch kann die Landschaft angucken, und es live auftreten zu können?
auf die Struktur, dann ist ein Auftritt gibt nie Staus. Schneider: Aber ich trete doch live
von mir wie freie Rede. Da zwinge ich SPIEGEL: Benutzen Sie in SMS auch noch auf! Nur verdiene ich jetzt 50 Euro
mich dann, während des Konzerts auf Emojis? statt wie früher 10 000 Euro. Es kom-
neue Ideen zu kommen. Schneider: Sehr, sehr selten. Neulich men ja wegen Corona weniger Men-
SPIEGEL: Was kann man vom Jazz habe ich aber ein grünes Auto ver- schen. Als Künstler ist man da einfach
lernen? schickt. das schwächste Glied in der Nahrungs-
Schneider: Alles. Philosophie auch. SPIEGEL: Ist das Ihr Lieblings-Emoji?! kette.
Sich darauf zu freuen, dass man nicht Schneider: Auf meinem Telefon habe SPIEGEL: Welches Konzert haben Sie
weiß, was als Nächstes kommt, zum ich mir ein Emoji von mir selbst ge- zuletzt besucht?
Beispiel. staltet: Als mein eigenes Emoji werfe Schneider: AC/DC 2002 im Olympia-
SPIEGEL: Fällt Ihnen spontan ein guter ich mit Geld um mich. stadion Berlin.
Film mit Jazzmusik ein? SPIEGEL: Messen Sie Erfolg in Geld? SPIEGEL: Und bei welchem Song
Schneider: Kennen Sie den Film verlassen Sie die Tanzfläche?
»Jazzclub«? Das ist ein toller Film mit Schneider: Ich habe früher viel ge-
toller Jazzmusik. Die habe ich übrigens »Ich sehe das Plakat tanzt, aber nicht zu Reggae. Das ist eine
live aufgenommen und nicht zu Play- schon vor mir: statische Musik mit politischem An-
back gespielt. Robert de Niro spielt spruch – ein Stampftanz. Ich kann dafür
SPIEGEL: Die drei besten Kriminal- sehr gut zu Swing tanzen.
Helge Schneider.«
filme von Herman Melville? SPIEGEL: Mögen Sie Elvis?
Schneider: 1. »Vier im roten Kreis« Schneider: Als 18-Jähriger bin ich im
2. »Der eiskalte Engel« Schneider: Nein. Ich bin ein Realist: Januar 1973 nachts aufgeblieben, um
3. »Der zweite Atem« Ich gebe nicht viel darauf, wenn Leute im Fernsehen Elvis live zu sehen. Die
SPIEGEL: Wer ist der beste Bond- mich loben. Show hieß: »Elvis live in Hawaii«. Er
Darsteller? SPIEGEL: Wie verändert Erfolg den stand im Scheinwerferlicht mit dem
Schneider: Cary Grant. Das wär’s Menschen? Rücken zum Publikum, auf dem Rü-
gewesen. Schneider: Er stärkt die Persönlich- cken seines Showanzugs hatte er eine
SPIEGEL: Die drei besten Kriminal- keit. Wenn man den Erfolg so positiv riesige goldene Sonne gestickt. Wäh-
romane, die je geschrieben wurden? nutzt, wie ich es tue, dann kann man rend die Kamera auf ihn zufuhr, drehte
Schneider: 1. Dashiell Hammett: »Der durch ihn wesentlich cooler werden, als er sich um. Da hatte der ganz fette
dünne Mann« man sowieso schon ist. Und das Beste Backen bekommen, richtig dick war
2. Raymond Chandler: »Tote schlafen ist: Erfolg ist nie total. Wenn man Erfolg der. Ich war schockiert.
fest« hat, ist man als Künstler trotzdem noch SPIEGEL: Welches sind die drei besten
3. Frederik Forsyth: »Der Schakal« auf der Suche. Platten von Bob Dylan?
SPIEGEL: Was verbindet Sie mit Philip SPIEGEL: Was haben Sie eigentlich Schneider: Ganz ehrlich: Ich habe mir
Marlowe? während des Lockdowns gemacht? noch nie eine Platte von dem gekauft.
Schneider: Ich habe auch so einen An- Schneider: Ich habe meine neue Jemals.
zug, so einen Hut und so einen Mantel. Schallplatte »Mama« aufgenommen, SPIEGEL: Und mit wem würden Sie
SPIEGEL: Das beste Auto, das Sie je die hat mich glücklich gemacht. Da sind gerne mal zu Abend essen?
besessen haben? Lieder drauf, die ich jetzt statt meiner Schneider: Na, mit Bob Dylan natür-
Schneider: Ein Peugeot 403 Cabrio. alten Lieder singe – »Heute hab’ ich lich! Den würde ich gerne mal kennen-
Den hat schon Inspektor Columbo gute Laune«, aber auch »Ich setz’ mein lernen.
gefahren. Herz bei Ebay ein« oder »Der müde SPIEGEL: Was schätzen Sie an Alexan-
SPIEGEL: Das beste Auto, das je Reiter«. Dass ich diese Lieder mag, ist der Kluge am meisten?
gebaut wurde? für mich der größte Erfolg. Schneider: Wir passen ganz gut zu-
Schneider: Das war der Honda Pre- SPIEGEL: Der Lockdown hatte für Sie sammen. Während er selbst für Intel-
lude Coupé. Den habe ich auch beses- also auch eine gute Seite? lektuelle manchmal schon zu schwer
verständlich schreibt, können Intellek- SPIEGEL: Welches sich hartnäckig hal- schneiderei »Saarner Lädchen«. Da
tuelle meine Artikulierungen umge- tende Gerücht über Sie ist schlichtweg habe ich alle meine Sachen zum Ändern
kehrt ganz gut verstehen. nicht wahr? hingegeben. Auch zum Wärmermachen.
SPIEGEL: Und was an Werner Nekes? Schneider: Dass ich 1,74 Meter groß Leider ist der Schneider jetzt in Rente
Schneider: Seinen kindlich-naiven bin. Tatsächlich bin ich in den letzten gegangen.
Blick auf die Welt und auf die Techno- Tagen geschrumpft. Ich bin nur noch SPIEGEL: Wo sind Sie am liebsten im
logie. 1,72 Meter groß. Winter?
SPIEGEL: Wie steht es um den deut- SPIEGEL: Geben Sie gern Geld aus? Schneider: Zu Hause an der Ruhr.
schen Film? Schneider: Allerdings! Ich gebe wahn- Auf dem Ruderboot.
Schneider: Tja, ich weiß auch nicht. sinnig viel Geld aus. Ich habe mir allei- SPIEGEL: Ist das nicht kalt?
Entweder ist der deutsche Film so trübe ne in den letzten Jahren 15 Flügel ge- Schneider: Es braucht nur einen
und elegisch und mit vielen Pausen und kauft – und die kosten ja gebraucht Schluck Rum, dann ist einem warm.
mit betroffenen Schauspieler*innen schon 100 000 Euro das Stück. Die sind SPIEGEL: Ist Mülheim an der Ruhr
besetzt, die ganz leise sprechen. jetzt bis auf einen alle in der Garage. eine Reise wert?
SPIEGEL: Oder …? SPIEGEL: Was steht heute auf Ihrem Schneider: Ich weiß nicht. Seit Corona
Schneider: … er ist ein schlecht recher- Einkaufszettel? ist die Fußgängerzone völlig unbelebt.
chierter Krimi. Oder ein Lustspiel. Schneider: Eigentlich wollte ich mir Die City ist total leer. Und die Shopping-
SPIEGEL: Welcher Schauspieler sollte heute in Berlin ein Übungsschlagzeug malls außerhalb der Innenstadt sehen
Sie in Ihrer verfilmten Autobiografie ehrlich gesagt so aus wie überall.
spielen? SPIEGEL: Ein Herzensprojekt, das Sie
Schneider: Das kann nur Robert De »Ich habe diesen noch verwirklichen wollen?
Niro. Ich sehe schon das Plakat vor mir: Schrottplatz seitdem Schneider: Ja: grenzenlos reisen. Mit
»Robert De Niro in: HELGE SCHNEI- oft gesucht, aber nie dem Motorrad. Aber das wird wohl nie
DER – SO WAR DAS – sein Leben.« wiedergefunden.« mehr gehen.
SPIEGEL: Ein deutscher Schauspieler SPIEGEL: Ein Ort, an den Sie gerne
könnte Sie nicht spielen? einmal wieder zurückkehren würden?
Schneider: Doch, natürlich: Mario kaufen, aber ich fürchte, wenn ich dort Schneider: In Rillieux-la-Pape in der
Adorf. Oder Romuald Karmakar? Oder, ankomme, haben die Geschäfte schon zu. Nähe von Lyon gab es vor 50 Jahren
noch besser: Matthias Brandt. Das ist SPIEGEL: Und was stand gestern auf mal einen Schrottplatz unweit eines
der von der Zwieback-Dynastie. Ihrem Einkaufszettel? Einkaufszentrums. Auf dem Schrott-
SPIEGEL: Haben Sie einen wieder- Schneider: Brot, Stück Butter, biss- platz habe ich damals eine Woche ver-
kehrenden Traum? chen Käse, Salami, Milch, Cornflakes bracht, weil mein Motorrad kaputt war.
Schneider: Früher hatte ich einen: und Obst. Und der Algerier, der den Schrottplatz
dass ich von einem grünen Auto über- SPIEGEL: Welches Tier sind Sie in betrieb, hat mir einen Regler aus einem
fahren werde, einem Spielzeugauto. welchem Kinderbuch? VW-Käfer in mein Motorrad eingebaut,
Das ist aber wirklich schon sehr Schneider: Ich bin die kleine Raupe und es hat trotzdem funktioniert. Ich
lange her. Halt! Ich hatte noch einen Nimmersatt. habe nach diesem Ort seitdem oft
zweiten Traum: Ein Dackel bellt mir SPIEGEL: Bei welchem Modedesigner gesucht, aber ich habe ihn nie wieder-
ins Ohr. lassen Sie Ihr Geld? gefunden.
SPIEGEL: Welche Journalistenfrage Schneider: In Mülheim-Saarn gab es SPIEGEL: Ihr Tipp für die nächste
möchten Sie nie wieder gestellt be- bis vor Kurzem noch die Änderungs- Generation?
kommen? Schneider: Mal das Handy weglegen
Schneider: Gerade neulich stellte mir und Dinge erleben, an die man sich
eine Journalistin die Frage: »Welches anschließend erinnern kann.
Ihrer Kinder haben Sie am liebsten?« SPIEGEL: Gibt es ein Leben nach dem
Wer so etwas fragt, riskiert meiner Tod?
Ansicht nach, vom PEN-Club ausge- Schneider: Bedingt. Dafür kann ich
schlossen zu werden. Gedanken lesen.
SPIEGEL: In welchem Klub sind Sie SPIEGEL: Was soll auf Ihrem Grabstein
Mitglied? stehen?
Schneider: In keinem! Das heißt … Schneider: Puh! Also wenn es dann
Moment! Ich bin ja Ehrenpräsident noch Grabsteine gibt und die nicht ver-
vom Polizeisportverein in Mülheim an boten sind, dann könnte man da zum
der Ruhr. Beispiel, also wenn ich wirklich einen
SPIEGEL: Ihre Lieblingssportart? Grabstein haben wollte, draufschrei-
Schneider: Im Rudern bin ich sehr gut, ben: »Heute hab’ ich gute Laune.«
und in Nordic Walking auch. Da werden Helge Schneider: »Mama« (Roof Records);
alle Muskeln gleichmäßig trainiert. Deutschlandtour bis Dezember Interview: Max Dax
34 S P I E G E L B E STS E L L E R H E R B ST 2 02 0
Charts Pop
1 Metallica & San Francisco Symphony: S&M2
EMI
Klassik-Fans und Metal-Enthusiasten eint der
Hang zum schwarzen Outfit, das Faible für Saiten-
instrumente – und dieses Album.
A K T UE L L E HI GHL I GH T S
2 Lang Lang: Bach – Goldberg Variations
Deutsche Grammophon
Einer der berühmtesten Pianisten unserer Zeit interpretiert einen der
berühmtesten Komponisten aller Zeiten.
5 Joy Denalane: Let Yourself Be Loved JETZT ERHÄLTLICH — CD | VINYL | STREAM | DOWNLOAD
Vertigo Berlin
Wie verneigt man sich vor Papas Soul-Plattensammlung?
Zum Beispiel so, wie die 47-jährige Berlinerin es auf ihrem neuen
englischsprachigen Album tut. »Let Yourself Be Loved« ist
nicht nur Denalanes erstes Album beim berühmten Label »Motown«,
sondern das erste einer deutschen Sängerin dort überhaupt.
Charts Klassik
Are You« ist eine Frage – die Antwort ist der künstlerische
Idealfall: selbstbewusste junge Typen in einer alt gewor-
denen Kunstform. Tobias Rapp
1 Lang Lang: Bach – Goldberg Variations
Deutsche Grammophon
Der Weltstar nimmt sich einen der größten Klavier-
zyklen der Musikgeschichte vor – auch so
kann man Bachs Kontrapunktik bewundern lernen.
Jazzmusiker Ross
MOSAIK LIEBE
Bis 27.03.2021 in allen teilnehmenden Märkten und im Onlineshop. Nur solange der Vorrat reicht.