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BIO 113: Evolution

Lektion 4

Phylogenie:
Rekonstruktion der evolutiven
Geschichte einer
Organismengruppe

Florian Schiestl
Institut für Systematische und Evolutionäre Botanik
Übersicht

1. Einführung
2. Was genau ist eine Phylogenie?
3. Wie erstellen wir eine Phylogenie?
4. Welche Merkmale kann man für Phylogenien
verwenden?
5. Was kann man mit Phylogenien anfangen?
1) Einführung

• Für viele Fragen in der vergleichenden


Biologie ist es wichtig, die genaue
Verwandtschaft von Organismengruppen
zu kennen.
• Aus der Verwandtschaft lässt sich das
Muster der Evolution herleiten (Analogie
Familien Stammbaum).
• Verwandtschaft bei Phylogenien heisst
Verwandtschaft auf hohen
hierarchischen Niveau, d.h. zw. Arten,
Gattungen, Familien, etc. die u.U. seit
vielen Mill. Jahren getrennt sind.
• Ähnlichkeit heisst nicht immer auch
Verwandtschaft (der Umkehrschluss gilt
ebenso)! Z.B. Konvergenzen, oder
schnelle evolutive Veränderung.
1) Einführung

Beispiel: Wer sind die Nächstverwandten der Vögel?

• Die Nächstverwandten
der Vögel sind
(ausgestorbene)
Dinosauriergruppen.
• Diese Phylogenie
stützt die Hypothese,
dass Vögel von den
Dinosauriern
abstammen

Ausgestorben
1) Einführung

Die Verwandtschaft des Menschen…

Phylogenie der Primaten


1) Einführung

…mit den ausgestorbenen Vorfahren

Gemeinsamer Vorfahre von


Mensch und Schimpanse.
Stammt der Mensch „vom
Affen“ ab?
1) Einführung

Forensische Medizin: Ein HIV-positiver Zahnarzt in Florida...

In Florida stecken sich einige Leute mit


Schluss- HIV an, viele waren Patienten beim
folgerung: Die
selben Zahnarzt.
Patienten A, B,
C, E, G wurden
vom Zahnarzt
infiziert, nicht
von den Um herauszufinden, wo die Ansteckung
Kontroll- herkam, wurde eine Phylogenie der
personen verschiedenen Virusstämme erstellt
(manche Viren-Gene evoluieren sehr
schnell; daher unterscheiden sich die
Virenstämme)

Nur zwei Erkrankte hatten


Virenstämme, die sich stark vom
LC: local control Zahnarzt unterschieden
2) Was ist eine Phylogenie?

Von Mikro- zu Makroevolution

Man unterscheidet prinzipiell zwei


Typen von evolutionären Änderungen:

Anagenese: Veränderungen Kladogenese: Aufspaltung


innerhalb evolutionärer Linien evolutionärer Linien
(=Transformation) (=Diversifikation)

z.B. über Selektion die z.B. über Adaptationen


zur Evolution von die Reproduktive Isolation
Adaptationen führt. nach sich ziehen.

“Nicht-adaptive” Evolution kann dieselben Muster bewirken.


2) Was ist eine Phylogenie?

• Phylogenie: Rekonstruktion der evolutionären Geschichte einer


Organismengruppe.
• Wie ist die evolutionäre Geschichte einer Organismengruppe verlaufen?
Nehmen wir an, wir hätten eine Zeitmaschine…

Bestäubung Bestäubung
durch durch
langrüsselinge kurzrüsselige
Schmetterlinge Schmetterling
(Sporn lang) (Sporn kurz)
0

Wenig Blütenduft Starker Blütenduft


10
Langer Blütenstand

kalte (boreo-alpine) Habitate


20

Vorfahre Der resultierende


30 (existiert phylogenetische
nicht Baum würde so
Mill. Jahre
mehr) aussehen
2) Was ist eine Phylogenie?

• Wir kennen niemals die genaue evolutionäre Geschichte!


• Eine Phylogenie ist ein Diagramm (“phylogenetischer Baum”),
welches eine Hypothese zum evolutionären Muster einer
Organismengruppe graphisch darstellt.
• Sie zeigt die hierarchische Sequenz von Aufspaltungen und
kann Informationen zum Zeitpunkt der Aufspaltungen enthalten
(zeitlich geeichte -“dated”- Phylogenie).

= gemeinsamer Vorfahr von „pink“ und „weiss“

= gemeinsamer Vorfahr von „braun“, „pink“ und „weiss“

Ist braun näher mit pink oder mit weiss verwandt?


3) Erstellen einer Phylogenie

2) Wie erstellen wir einen phylogenetischen Baum?

Gymnadenia
Gymnadenia Gymnadenia (=Nigritella)
conopsea odoratissima rhellicani
A B C

A B C A C B B C A

Prinzipiell sind
3 verschiedene
Bäume
möglich:

• Annahme: die Merkmale der Arten haben sich im Laufe der Evolution verändert.
• Die Gruppen, die mehr Unterschiede aufweisen, sollten weiter entfernt, die mehr
gemeinsame Merkmale aufweisen, sollten näher verwandt sein.
• Welche Merkmale unterscheiden sich?
3) Erstellen einer Phylogenie

Sporn
„Lippe“
„Lippe“
Sporn Sporn

Merkmal 1 2 3 4
Sporn Blütenstand Blüten Habitat
lang lang gedreht boreo-alpin
Art A X X X 0
B 0 X X 0
C 0 0 0 X
X,X,X,0 0,X,X,0 0,0,0,X 0,X,X,0 0,0,0,X X,X,X,0
A B C
B C A

zB Merkmal 2 Welcher Baum ist


entstand hier besser?
2 Nach welchem
Kriterium?
Welches sind die
besten Merkmale?
3) Erstellen einer Phylogenie

X,X,X,0 0,X,X,0 0,0,0,X 0,X,X,0 0,0,0,X X,X,X,0


A B C B C A
1 4

2
3

angenommene
evolutionäre Änderungen:
Baum1: 4; Baum 2: 6

• Prinzip der sparsamsten Erklärung («maximum parsimony»): Die


Hypothese (in diesem Fall der Baum) welche mit weniger evolutionären
Änderungen auskommt, ist die bessere. D.f. Baum 1 ist besser.
• Nur Synapomorphien (gemeinsame, abgeleitete Merkmale) sind
informativ für eine Phylogenie, z.B. Merkmal 2 und 3 sind
Synapomorphien in Baum 1. Merkmal 1, 4 sind nicht informativ, weil sie
nur in einer Art vorkommen (Autapomorphie). Merkmale die ursprünglich
für alle Arten sind (Plesiomorphien, z.B. „Blüten in Blütenstand
angeordnet“) sind ebenfalls nicht informativ.
3) Erstellen einer Phylogenie

• Je mehr Taxa im Baum, desto mehr mögliche Bäume,


z.B. 8 Taxa: 10‘395 mögliche Bäume.
• Phylogenetische Analyse ist sehr rechenintensiv. Oft gibt
es mehrere „sparsamste“ („most parsimonious“) Bäume.
Dann wird ein Consensus-Baum errechnet.
• Wie kann man die Qualität eines Baumes berechnen?
Bootstrapping: Computerprogramm zieht aus dem
Datensatz eine Zufallsprobe und berechnet den Baum
neu; nachdem dies z.B. 1000 mal gemacht wurde, kann
man für jede Verzweigung ermitteln, wie häufig diese in
der Analyse der Zufallsprobe vorgekommen ist
(=bootstrap Wert).
3) Erstellen einer Phylogenie

Vorsicht bei kleinen bootstrap-Werten! z.B. Phylogenie europäischer


Diese Verzweigungen sind nur in knapp Orchideen
über 50% der rekonstruierten Bäume so
aufgetreten.

OK! Hohe bootstrap values

Polytomien, oder „Rechen“


zeigen fehlende Auflösung in
der Phylogenie an
3) Erstellen einer Phylogenie

• Alternative zu maximum Parsimony: Maximum


Likelihood, Bayesian Inference; diese Methoden
benutzen mathematische Formeln, die die
Wahrscheinlichkeit berechnen, mit denen ein Baum zu
einem bestimmten Datensatz passt.
4) Merkmale für Phylogenien

3) Welche Merkmale verwenden wir


für Phylogenien?

• Morphologisch – molekular
• Merkmale müssen homolog sein (vom gemeinsamen
Vorfahren geerbt). Gegenteil von homolog:
konvergent oder „homoplaseous“.
• Merkmale die unter Selektion stehen, eigenen sich
häufig weniger gut, weil sie eher zu Homoplasien
(Konvergenzen) neigen.
• Molekulare Merkmale (z.B. Gene) müssen ortholog
sein.
• Merkmale müssen abgeleitet (apomorph) sein.
4) Merkmale für Phylogenien

Bsp. Für Homoplasien ahnliche Funktionen

• Molekulare Merkmale:
• Orthologe/paraloge Gene: Gene mit mehrere Kopien;
wenn nicht die gleichen Kopien miteinander verglichen
werden spricht man von paralogen Genen (Gegenteil:
orthologe Gene)
• Homoplasien gibt es auch bei molekularen Markern:
gleiche Sequenzlänge, aber unterschiedliche Sequenzen.
die Marken sind nicht unbedingt gleich!
4) Merkmale für Phylogenien

Beispiel paraloge Gene: anderes Problem

A A1
Mensch

OK X Nicht OK

Schimpanse

A(Mensch) ist zu A1(Schimpanse) ein paraloges


Gen; diese dürfen nicht verglichen werden.
4) Merkmale für Phylogenien

• Apomorphie: Kladistik (begründet von Willi Henning) besagt


dass nur apomorphe Merkmale (Apomorphien) für
Phylogenien verwendet werden dürfen.
• Werden ursprüngliche (plesiomorphe) Merkmale
(Plesiomorphien) verwendet, bekommen wir entweder keine
Informationen (kein phylogenetisches Signal) oder sogar falsche
Verwandtschaften.
• Z.B. Fünffingrigkeit bei Wirbeltieren (=Plesiomorphie).
vertébrés

Falsche Phylogenie,
weil Fünffingrigkeit ein
plesiomorphes
Merkmal der
Tetrapoden ist (das in
Die Pferde sind nähere als die Amphibien von Mensch manchen Gruppen
?? verloren ging)
4) Merkmale für Phylogenien

• Gruppen, die aus einem gemeinsamen Vorfahren entstanden


sind (=monophyletische Gruppen) werden von gemeinsamen,
einmal entstandenen, abgeleiteten Merkmalen charakterisiert
(=Synapomorphien; Anm.: wenn Merkmale mehrmals
unabhängig entstanden sind, sind es Homoplasien).
• Verzweigungsmuster einer Phylogenie wird durch kleinere
monophyletische Gruppen, die in grösseren monophyletischen
Gruppen eingenistete sind, definiert. Aut: selbst
Apo:
Plesio:
Morph: Gestalt
PRÜFUNG Mono: eins
Phyl: Stamm
Zsf wichtige Begriffe der Kladistik:
Apomorphie: ein abgeleitetes Merkmal (bezogen auf eine bestimmte Gruppe); d.h.
eine evolutionäre Novität;
Plesiomorphie: ein ursprüngliches Merkmal; d.h. es wurde vom Vorfahren vererbt.
Synapomorphie: ein abgeleitetes Merkmal, das bei mehreren Gruppen gemeinsam
vorkommt.
Autapomorphie: ein abgeleitetes Merkmal, das nur bei einer bestimmten Gruppe
vorkommt.
Symplesiomorphie: ein gemeinsames, ursprüngliches Merkmal
4) Merkmale für Phylogenien

Beispiele für Synapomorphien

Behaarung
Plesiomorphie für Säugertiere

Echte Säuger

Beuteltiere

Kloakentiere
Reptilien und Vögel
Amphibien

Synapomorphie Monophyletische Gruppe (Säugetiere)


4) Merkmale für Phylogenien

lebendgebärend
Behaarung
Echte Säuger

Beuteltiere

Kloakentiere

Reptilien und Vögel


Amphibien

Synapomorphie Monophyletische Gruppe (lebendgebärende Säugetiere)


4) Merkmale für Phylogenien

• Wie kann man feststellen, ob ein Merkmal


apomorph oder plesiomorph ist?
• Möglichkeiten sind phylogenetische
Analysen (Outgroup-Analyse) oder
Fossilienreihen.

• Aus der Fossilreihe von Pferde-


verwandten lässt sich rekonstruieren, dass
der einzehige Fuss eine Apomorphie ist.
4) Merkmale für Phylogenien

• Vollständige Fossilreihen sind eher selten.


• Bei der Outgroup-Analyse muss man über bestimmte
phylogenetische Informationen verfügen, d.h. eine
Outgroup kennen.
• Bei der Outgroup wird angenommen, dass der
plesiomorphe Zustand am häufigsten ist
• Bsp.: 4 Beine bei Schmetterlingen
4 Beine ist eine abgeleitete Merkmale
4) Merkmale für Phylogenien

Vergleich morphologische
und molekulare Merkmale:
die „Walverwandtschaften“

zwei Merkmale Veränderungen

Ein morphologisches
Merkmal: Knöchelknochen
Wieviele Veränderungen
müssen mit den jeweiligen
Bäumen angenommen
werden?

„Gewinn“
„Verlust“
4) Merkmale für Phylogenien

Molekulare Merkmale:
Synapomorphie

B-Casein Gen
Baum a): 47 Veränderungen
Baum b): 41 Veränderungen
• Morphologische und molekulare Merkmale widersprechen sich.
• Was hat mehr Gewicht?
• Folgende Kriterien sind entscheidend: Welcher Datensatz ist
grösser? Welche Merkmale sind eher homolog? Gibt es
zusätzliche Daten? Synapomorphien?
5) Anwendungen von Phylogenien

Sollen wir Organismen nach Ähnlichkeit oder nach


Verwandtschaft klassifizieren?
parenté
5) Anwendungen von Phylogenien

a) Klassifikation nach phylogenetischen Prinzipien.


• Nur eine monophyletische Gruppe kann eine taxonomische Einheit sein
(clade). Monophyletisch = auf einen gemeinsamen Vorfahr zurückgehend

paraphyletisch

Andere Beispiele für


paraphyletische
Gruppen
polyphyletisch

• Eine paraphyletische Gruppe geht auf gemeinsamen Vorfahren zurück,


enthält aber nicht alle Abkömmlinge dieses Vorfahren.
• Eine polyphyletische Gruppe geht nicht auf einen (direkten)
gemeinsamen Vorfahr zurück
5) Anwendungen von Phylogenien

Bsp. Reptilien: sind Reptilien eine monophyletische Gruppe?


nein, weil verschiedenen sind schon

gemeinsamer Vorfahr aller Reptilien


5) Anwendungen von Phylogenien

Tuatara, Geckos,
Skinke

Schlangen

Iguanas,
Chamäleone,
Warane, etc.

Paraphyletisch oder monophyletisch? a) Paarhufer, b) Eidechsen (im


weitesten Sinn), c) Schlangen a) Paraphyletisch, weil
b) Paraphyletisch, wegen der Schwanz
c) monophyletisch
5) Anwendungen von Phylogenien

b) Biogeographie
• wie kann man die Verbreitung der Chamäleons erklären?
• Zwei Hypothesen: Kontinetaldrift (Gondwana), oder Verbreitung nachdem
sich die Kontinente geteilt hatten (dispersal)
• Welche Voraussagen machen diese Hypothesen bezüglich der
Verwandtschaft unterschiedlicher Chamäleonarten?

Hypothese nach Gondwana Resultat phylogenetischer


Studien
5) Anwendungen von Phylogenien

c) Ko-speziation: Blattläuse und ihre Bakterien


5) Anwendungen von Phylogenien

d) Rekonstruktion von evolutionären Zeitskalen (dating)


• Molekulare Uhr: gewisse (neutrale) Mutationen evoluieren in einer
konstanten Weise.
• Wir können mithilfe solcher Mutationen eine Zeitskala für evolutionäre
Änderungen aufstellen.
• Die Zeitskala muss mit Fossilien, deren Alter bekannt ist, geeicht
estimer
werden.

Montrichardia

Caladium

Amorphophallus
Montrichardia
Peltandra
ca. 60 Mill.J
Colocasia

Sauromatum

Helicodiceros

Dracunculus

Arum

Arisaema

Alocasia
Mill. J Arisaema
90 80 70 60 50 40 30 20 10 18-16 Mill.J
5) Anwendungen von Phylogenien

e) Merkmals-Rekonstruktion mit Phylogenien


• So wie man mittels Merkmalen eine Phylogenie rekonstruieren kann,
kann man auch mit einer bestehenden Phylogenie die Evolution von
Merkmalen rekonstruieren.
• Wir verwenden wiederum das Prinzip der sparsamsten Erklärung
(maximum parsimony).

Sporn: lang kurz kurz


Blütenstand: lang lang kurz
Blütenduft: schwach stark stark

ancêtre
Wie sah der gemeinsame Vorfahre aus? Sporn? Blütenstand? Blütenduft?
—> kürzer, stärker!

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