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Lärm macht krank - Bauvorschriften sind wichtig 15.05.

23, 11:08

GASTKOMMENTAR

Radikaler Abbau des Lärmschutzes

Im Spannungsfeld zwischen baulicher Verdichtung und Lärmschutz


legte der Bundesrat im vergangenen Dezember einen Gesetzesentwurf
vor. Dieser «löst» das Problem mit einem Kahlschlag beim Lärmschutz.
Zu einer qualitätsvollen inneren Verdichtung trägt er jedoch nichts bei.
Alain Griffel
5 Kommentare
29.03.2023, 05.30 Uhr

Steffen Schmidt / Keystone


Verkehrslärm ist vielerorts ein Dauerthema

In der Stadt Zürich sind in den letzten Jahren mehrere grössere


Wohnbauprojekte aufgrund von Rekursen an den
Lärmschutzvorschriften gescheitert. Für diesen Scherbenhaufen wird
vielfach eine angebliche Verschärfung der Gerichtspraxis verantwortlich
gemacht; dies entspricht jedoch nicht den Tatsachen.

Rechtswidrige Praxis

Um in lärmbelasteten Gebieten leichter bauen zu können, erfand die


Fachstelle Lärmschutz der Zürcher Baudirektion vor Jahren die
sogenannte Lüftungsfensterpraxis. Nach dieser galten die
Immissionsgrenzwerte in einem Wohnraum als eingehalten, wenn auf

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der lärmabgewandten Seite des Raums ein für die Lüftung


ausreichendes Fenster zur Verfügung stand. Diese Praxis verstiess
offensichtlich gegen Bundesrecht, denn nach der Lärmschutz-
Verordnung sind Lärmimmissionen in Wohnräumen in der Mitte der
offenen Fenster – aller Fenster – zu messen. Dass das Bundesgericht dies
früher oder später feststellen würde, war deshalb zu erwarten gewesen.
Dies geschah im Jahr 2016.

In der Folge gab die Baudirektion sinngemäss die Devise heraus «Weiter
wie bisher, aber leicht modifiziert», so dass die Gerichte erneut
korrigierend eingreifen mussten. Sie machten klar, dass Bauvorhaben in
lärmbelasteten Gebieten nur dann bewilligt werden können, wenn der
Lärmschutz von Anfang an in die Projektplanung einbezogen, optimiert
und dokumentiert wird. Ein Lärmschutzkonzept muss darlegen, welche
Massnahmen aus welchen Gründen getroffen beziehungsweise
verworfen werden. Ich bin überzeugt, dass die meisten der gescheiterten
Projekte die Rekurse überstanden hätten, wenn die Bauherrschaften von
der kantonalen Fachstelle in einer bundesrechtskonformen
beziehungsweise mit der Rechtsprechung übereinstimmenden Weise
beraten worden wären.

Aufgrund einer Motion zur Förderung der Siedlungsverdichtung macht


nun der Bundesrat mit dem Lärmschutz Tabula rasa. Ein überwiegendes
Interesse am konkreten Bauvorhaben, wie es heute verlangt wird, wenn
die Immissionsgrenzwerte (IGW) überschritten sind, soll nicht mehr
nötig sein. Der bundesrätliche Vorschlag geht sogar hinter die frühere
Lüftungsfensterpraxis zurück. So sollen Baubewilligungen in lärmigen
Gebieten erteilt werden dürfen, wenn pro Wohnung «mindestens die
Hälfte» der Wohnräume zumindest über ein Fenster verfügt, bei dem die
IGW eingehalten sind.

Das heisst: Wenn es auf der Rückseite eines Gebäudes einigermassen


ruhig ist, dürfen mehr oder weniger alle gegen die Strasse gerichteten
Räume bei geöffnetem Fenster übermässig belärmt sein. Sie müssen
nicht einmal mehr über ein ruhiges Lüftungsfenster verfügen.

Ja mehr noch: Bei grossen Wohnüberbauungen soll die


Lüftungsfensterquote in zehn Prozent der Wohnungen sogar
unterschritten werden können. Diese Wohnungen dürfen dann also in
allen Wohnräumen übermässig belärmt sein. Eine Kapitulation des
Lärmschutzes!

Überall statt gezielt verdichten

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Umgekehrt bringt die Vorlage nichts, was eine qualitativ hochwertige


Siedlungsverdichtung fördern würde. Eine solche muss auf
raumplanerischer Ebene ansetzen. So hat die Raumplanung festzulegen,
in welchen Gebieten wie stark verdichtet werden soll und welche
Voraussetzungen dafür zu schaffen sind, einschliesslich Massnahmen,
um den Lärm an der Quelle zu reduzieren. Darauf haben weder der
Bauherr noch die Baubewilligungsbehörde Einfluss.

Eine planerische Gesamtschau des Komplexes Verdichtung -


Lärmschutz - Verkehr ist deshalb unerlässlich. Der vorliegende
Gesetzesentwurf stellt diese Verknüpfung mit der Raumplanung nicht
einmal ansatzweise her. Er wird zwar dazu führen, dass in lärmigen
Gebieten an beliebigen Orten leichter gebaut werden kann – also auch
dort, wo keine Verdichtung erwünscht ist –, aber nichts zu einer
qualitätsvollen Siedlungsentwicklung nach innen beitragen.

Lärm macht krank. Der konzeptionell völlig missratene Gesetzesentwurf


des Bundesrates verdient deshalb nur eine Richtung: zurück an den
Absender!

Alain Griffel ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich.

5 Kommentare

Armin Loose vor etwa 2 Monaten 3 Empfehlungen

Aus einer logischen Betrachtung muss der Bewohner/Mensch nicht nur in Neubauten vor Lärm
geschützt werden. Es muss gesamt betrachtet werden. Ein Lärmschutz muss zwingend auch für
bestehende Bauten gelten. Wenn das nicht so ist, geht es wohl nicht wirklich um den Schutz des
Menschen an sich, sondern darum, einen Grund zu finden Neubauten zu verhindern.

Marc Anderson vor etwa 2 Monaten 1 Empfehlung

Am Meer oder während stürmischem Wetter schläft es sich oft am besten. Kindergeschrei ist auch
schön. Es geht um Verkehrslärm. Schaffen wir die Autos einfach ab.

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