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Weiter- und Fortbildung

Vaskulärer Schwindel
Nervenarzt 2002 · 73:1133–1143 M. Dieterich
DOI 10.1007/s00115-002-1454-5
Neurologische Klinik,Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Vaskulärer Schwindel
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Schlüsselwörter Zusammenfassung

Vaskulärer Schwindel · Ischämien, Blutungen oder andere vaskuläre Erkrankungen können unterschiedliche zentrale
Okulomotorikstörungen · oder periphere vestibuläre Syndrome mit Schwindel, Okulomotorik-, Gleichgewichtsstörungen
Gleichgewichtsstörungen · und Übelkeit auslösen.Die in Tabelle 1 aufgeführten „vaskulären Schwindelformen“ können
Vestibuläres System jedoch auch durch andere Ursachen wie MS-Entmarkungsherde oder Raumforderungen aus-
gelöst werden, so dass für die Therapie nicht nur die Lokalisation der geschädigten Struktur,
sondern auch die unterschiedlichen Ätiologien bestimmend sind.Gelegentlich gibt es kombi-
nierte Funktionsstörungen des peripheren und zentralen vestibulären Systems wie beim In-
farkt der A.cerebelli inferior anterior (AICA), die das Labyrinth sowie Teile des Hirnstamms und
Zerebellums versorgt.Selten kann eine zentrale Läsion eine periphere Funktionsstörung imitie-
ren: Ein lakunärer Infarkt in der Eintrittszone des 8.Hirnnerven kann einen einseitigen Teilaus-
fall des Labyrinths wie bei einer Neuritis vestibularis vortäuschen (sog.Pseudoneuritis).Die
Differentialdiagnose zwischen vestibulärer Migräne,Vestibularisparoxysmie, transient ischämi-
schen Hirnstammattacken und dem Morbus Menière kann gelegentlich so schwierig sein, dass
erst die probatorische Therapie z.B.die Prophylaxe mit Betarezeptorenblockern, Carbamazepin,
Thrombozytenaggregationshemmern oder Betahistin im Verlauf Klarheit bringt.

Vascular vertigo syndromes

Keywords Summary

Vascular vertigo · Ischemia, hemorrhages, and other vascular disorders can result in various central or peripheral
Ocular motor disorders · vestibular syndromes with vertigo, oculomotor/balance disturbances, and nausea.The vascular
Balance disorders · vertigo syndromes listed in Table 1 can however be brought about by other causes such as de-
Vestibular system myelitizing focusses in multiple sclerosis or space-occupying lesions, so that not only localizati-
on of the damaged structure but also the various etiologies are decisive for the choice of thera-
py.Occasionally, combined functional disturbances of the peripheral and central vestibular sys-
tem appear, such as an infarction of the inferior anterior cerebellar artery, which supplies the
labyrinth and parts of the brainstem and cerebellum.In rare cases, a central lesion can have the
same signs as a peripheral-vertibular disturbance: a lacunar infarct at the root entry zone of
the eighth nerve can mimic a unilateral partial loss of labyrinth function as it occurs in vestibu-
lar neuritis, thus named „pseudoneuritis“.Differential diagnosis between vestibular migraine,
vestibular paroxysmia, transient ischemic brainstem attacks, and Meniere’s disease is someti-
mes so difficult that only trial therapies such as prophylaxis with beta blockers, carbamazepine,
thrombocyte aggregation inhibitors, antiplatelet drugs, or betahistin can clarify the issue.

© Springer-Verlag 2002
Prof. Dr. Marianne Dieterich
Neurologische Klinik, Johannes-Gutenberg-Universistät Mainz, Langenbeckstraße 1, 55101 Mainz,
E-mail: dieterich@neurologie.klinik.uni-mainz.de

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Zentral-vestibulärer Schwindel
Ein zentral-vestibulärer Schwindel kann vorkommen entweder

● als klar definiertes Leitsymptom mit typischem Okulomotorikbefund (z.B. Down-


beat- oder Upbeat-Nystagmus), der sich nur bei zentralen Läsionen findet und
eine topische Zuordnung erlaubt (Tabelle 1, Abb. 1), oder
● als Teil eines komplexen neurologischen Syndroms mit begleitenden Okulomo-
torikstörungen und weiteren neurologischen Defiziten meist des Hirnstamms
(z.B. Wallenberg-Syndrom bei Infarkt der dorsolateralen Medulla mit Gaumense-
gelparese, Dysarthrophonie, Horner-Syndrom, Singultus, dissoziierten Sensibili-
tätsstörungen, Hemiataxie).

Die Dauer der Symptomatik erlaubt eine Nach der Dauer der Symptomatik lassen sich zentral-vestibuläre Schwindelformen in
Einteilung in 3 Kategorien 3 Kategorien einteilen:

 Sekunden bis Minuten ● Kurzdauernde Dreh- oder Schwankschwindelattacken für Sekunden bis Minu-
ten (z.B. transiente ischämische Attacke im vertebro-basilären Stromgebiet, basi-
läre Migräne, paroxysmale Ataxie bei MS, vestibuläre Epilepsie),
 Stunden bis Tage ● Stunden bis Tage anhaltende Syndrome (z.B. Hirnstamminfarkt, -blutung,
Plaque bei MS),
 Dauerschwindel ● Dauerschwankschwindel oder selten Dauerdrehschwindel (z.B. Arnold-Chiari-
Malformation mit Downbeat-Nystagmus; pontomedulläre oder pontomesenze-
phale Läsion mit Upbeat-Nystagmus bei einer Basilaristhrombose).

Infarkte mit peripher- oder zentral-vestibulären Störungen


Episodischer Schwindel und Augenbewegungsstörungen sind häufige Frühsympto-
me eines reduzierten vertebrobasilären Blutflusses aufgrund eines steilen Druckgra-
dienten zwischen der Aorta und den terminalen pontinen Arterien sowie der A. ce-
rebelli inferior anterior (AICA). Die AICA versorgt nicht nur die anterolaterale
Die A.labyrinthii ist der Endast der AICA Brücke, den mittleren zerebellären Pedunkel und den Flokkulus sondern auch das
Labyrinth [14]. Die A. labyrinthii ist ein Endast der AICA, weshalb Ischämien der

Tabelle 1
Vaskuläre Schwindelformen: Mechanismen und beteiligte Strukturen

Mechanismus Syndrom Struktur

Migräne Basiläre Migräne Ponto-medullärer Hirnstamm,Vestibulo-Zerebellum


und/oder Labyrinth
Vestibuläre Migräne “
Benigner paroxysmaler Schwindel der Kindheit
Infarkt oder Blutung Einseitiger Vestibularisausfall oder Hörstörung Labyrinth,Vestibularisnerv
(Infarkt der AICA oder A. labyrinthii)
Vestibuläre Pseudoneuritis (lakunärer Infarkt der PICA) Hirnstammeintrittszone des N. vestibularis
Ipsiversive „ocular tilt reaction“ mit Lateropulsion Vestibulariskern
(Wallenberg-Syndrom bei Infarkt der A. vertebralis oder PICA)
Kontraversive „ocular tilt reaction“ Ponto-mesenzephale MLF- oder Nucleus Cajal- u.riMLF-Läsion
Downbeat-Nystagmus Kommissurenfasern der Vestibulariskerne oder bilaterale
Flokkulusläsion
Upbeat-Nystagmus (z.B. Basilaristhrombose) Bilaterale kaudale Medulla- oder ponto-mesenzephale Läsion
Thalamische Astasie (z.B.Thalamusinfarkt) Posterolateraler Thalamus
Zentraler Lageschwindel/Nystagmus mit oder ohne Nausea Vestibulo-Zerebellum (Nodulus)
Neurovaskuläre Kompression Vestibularisparoxysmie (disabling positional vertigo) Vestibularisnerv
mit ephaptischer Reizung
Vaskuläre Mononeuropathie Diabetischer Vestibularisausfall Vestibularisnerv
Venöse Obstruktion Hyperviskositätssyndrom Labyrinth

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Vaskulärer Schwindel

Abb.1  Zentral-vestibuläre Syndrome in den 3 Ebenen des vestibulookulären


Reflexes, yaw, pitch und roll. In die schematische Darstellung des Hirnstamms
sind die Orte eingezeichnet, die das jeweilige Syndrom auslösen können

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Abb.2  MRT (T2-gewichtete Sequenzen) eines Patienten mit Störungen in der Yaw-Ebene des VOR
im Sinne einer „Pseudoneuritis“. Hirnstamminfarkt der PICA in der Medulla oblongata, der den Faszi-
kel und einen Teil des Kerngebietes des N. vestibularis einbezieht

AICA sowohl peripher-labyrinthäre als auch zentral-vestibuläre Defizite bzw. beides


gleichzeitig auslösen können [1]. Gefäßstenosen durch artherosklerotische Plaques
oder Osteophyten der HWS sowie funktionelle Blutdruckschwankungen (z.B. durch
Körperlagewechsel und extreme Kopfbewegungen) können zu einer kritischen Re-
duktion des Blutflusses führen. Anamnestisch sind vestibuläre (Drehschwindel, ge-
richteter Schwankschwindel, Nystagmus, Oszillopsien) und kochleäre (Hörminde-
rung, Tinnitus) Symptome ebenso bedeutsam wie weitere Hirnstammzeichen (Dop-
pelbilder, Dysarthrie, Sensibilitätsstörungen perioral). Typischerweise treten die Be-
schwerden plötzlich auf, meist mit ausgeprägtem Drehschwindel, Übelkeit und Erbre-
chen sowie einer Verstärkung der Symptome durch Bewegung.

Labyrinth und Hirnstamm

Der Labyrinthinfarkt ist gekennzeichnet Die vestibulären Bahnen ziehen vom 8. Hirnnerven über das Vestibulariskerngebiet
durch akuten Drehschwindel und in der lateralen Medulla oblongata einer Seite zum Fasciculus longitudinalis media-
Hörstörung lis (MLF), den Augenmuskelkernen des N. abducens, N. oculomotorius und N. troch-
learis und den supranukleären okulomotorischen Zentren im rostralen Mittelhirn
(rostraler Interstitialkern des MLF (riMLF) und interstitieller Nucleus Cajal (INC))
der Gegenseite. Zentral-vestibuläre Syndrome können durch Läsionen entlang dieser
Bahn im gesamten Hirnstamm von der Medulla bis zum Mittelhirn ausgelöst werden
[10] (s. Tabelle 1). Sie werden nach den 3 Arbeitsebenen des vestibulookulären Refle-
xes klassifiziert [4, 10] in Störungen der:
 Yaw-Ebene Yaw-Ebene (horizontal) mit horizontalem Nystagmus, horizontalem Vorbei-
zeigen, Fallneigung zur Seite, Abdrehen zur Seite im Unterberger-Tretversuch ent-
weder bei einseitigem Labyrinthinfarkt oder bei einseitigem AICA- bzw. PICA-In-
farkt mit Läsion des Vestibularis-Faszikels oder Vestibulariskerns (Abb. 2, 3). Bei Lä-
sion im Vestibulariskerngebiet werden diese Syndrome wegen ihrer Ähnlichkeit mit
denen der Neuritis vestibularis „Pseudoneuritis“ genannt.Auch bei der „Pseudoneu-
ritis“ kann neben einem horizontal-rotierendem Spontannystagmus eine kalorische
Untererregbarkeit der betroffenen Seite auftreten, allerdings in Kombination mit
leichten Zeichen einer zentralen Okulomotoriksstörung (z.B. Blickrichtungsnystag-

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Vaskulärer Schwindel
Abb.3  MRT mit T2-
gewichteten Sequenzen
(oben) und T1-gewichteten
Sequenzen (Mitte, unten)
eines Patienten mit
akutem Infarkt der
Medulla am Übergang zum
zerebellären Pedunkel,
der zu einer Pseudoneuri-
tis mit horizontal-rotatori-
schem Spontannystagmus
(rasche Nystagmusphase
kontralateral), Fallneigung
ipsilateral, kalorische
Untererregbarkeit ipsilate-
ral geführt hat

mus nach oben oder bilateral, Sakkadenstörungen), wie sie bei einer Neuritis vesti-
bularis nicht vorliegen dürfen.
 Pitch-Ebene Pitch-Ebene (sagittal) mit vertikalem Nystagmus in Form eines Upbeat- oder
Downbeat-Nystagmus,Vorbeizeigen nach oben/unten, Fallneigung nach vorne/hin-
ten bei mittelliniennahen Läsionen der Medulla oblongata, der pontomesenzepha-
len Haube (paramediane pontine und mesenzephale Arterien aus der A. basilaris)
oder des Flokkulus beidseits (AICA; Abb. 4).
 Roll-Ebene Roll-Ebene (frontal) mit torsionellem Nystagmus, „ocular tilt reaction“ und
ihren Komponenten aus tonischer Augentorsion, vertikaler Augendivergenz (skew
deviation), Abweichen der subjektiven visuellen Vertikalen in der Rollebene und
Kopf-Körperkippung bei einseitigen Läsionen des Vestibulariskerns (A. vertebralis,
PICA oder A. spinalis posterior), des MLF (paramediane pontine Arterien) oder des

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Abb.4  MRT (T2-gewichtet) eines
Patienten mit akut aufgetretenem
Upbeat-Nystagmus-Syndrom durch
einen seltenen Infarkt der para-
medianen Medulla oblongata,
der Strukturen des paramedianen
Trakts (PMT) in der Nähe
des Nucleus praepositus hypoglossi
geschädigt hat

interstitiellen Nucleus Cajal, INC, und rostralen Interstitialkern des MLF, riMLF, im
Mittelhirn (paramediane mesenzephale Arterien aus A. basilaris) (Abb. 5).

Thalamus

Läsionen des posterolateralen Thalamus Unilaterale Thalamusinfarkte können ebenfalls Schwankschwindel, Fallneigung zur
führen zu Schwankschwindel, Fallnei- Seite und eine Auslenkung der subjektiven visuellen Vertikalen (d.h. einzelne Kompo-
gung und Auslenkung der subjektiven nenten einer „ocular tilt reaction“) auslösen [9]. Diese Symptome wurden früher wahr-
Vertikalen scheinlich unter dem Begriff „thalamische
Astasie“ verstanden, da aufgefallen war,dass
die Patienten zur Seite fielen, ohne eine dies
erklärende Hemiparese zu haben. Diese
Symptome treten bei Läsionen in den pos-
terolateralen Thalamuskernen (Vim, Vce)
auf, die aus tierexperimentellen Studien als
vestibuläre Relaystation der Bahnen vom
Hirnstamm zum Kortex bekannt sind.
Tritt eine komplette „ocular tilt reacti-
on“ mit „skew deviation“ und Augentorsion
beidseits auf, deutet dies auf einen parame-
dianen Thalamusinfarkt hin, bei dem es zu
einer Mitbeteiligung rostraler paramedia-
ner Mittelhirnanteile mit gleichzeitiger
Schädigung des INC und riMLF gekommen
ist [9]. Diese Kombination mit einem Mit-
telhirninfarkt tritt bei ca. 50% der parame-

Abb.5  Patient mit kompletter tonischer „ocular


tilt reaction“ nach links, d.h. Kopfneigung,
vertikale Augendivergenz (rechts höher als links),
Augenverrollung beidseits zum unten liegenden
linken Ohr und Auslenkung der subjektiven
visuellen Vertikalen nach links. Ursache war eine
Kavernomblutung im rostralen Mittelhirn und
Thalamus rechts, die die Kerngebiete des INC und
riMLF einschloss

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Abb.6  Thalamusstrukturen, die bei akuter Läsion zu Schwankschwindel, Fallneigung
und Auslenkung der subjektiven visuellen Vertikalen führen, nicht zu Augenfehl-
stellungen oder Nystagmus, befinden sich im posterolateralen Thalamus. Überlagerung
der Infarktareale von 9 Patienten mit Schwankschwindel mit ipsilateraler Fallneigung
(i; n=6) oder kontralateraler (c; n=3) Symptomatik auf die entsprechende transversale
Schicht eines Thalamusatlas (van Buren and Borke, 1972) [9]. Die Infarkte betreffen
unabhängig von der Richtung der Fallneigung die thalamischen Subnuclei Vce, Vim, Dc,
Vci, die aus tierexperimentellen Studien als „vestibuläre“ Relaystationen bekannt sind

dianen Thalamusinfarkte auf; sie ist durch einen gemeinsamen Abgang der parame-
Der INC im oberen Mittelhirn ist das dianen Mittelhirn- und Thalamusarterien aus der A. basilaris zu erklären. Die INC-
rostralste Zentrum im Hirnstamm und und riMLF-Kerne im Mittelhirn sind die rostralsten Strukturen im Hirnstamm, die
verantwortlich für die Koordination des das komplette Syndrom der „ocular tilt reaction“ in der Rollebene auslösen können.
vestibulookulären Reflexes In den vestibulären Strukturen oberhalb davon, d.h. im posterolateralen Thalamus [9]
und temporoparietalen Kortex [6], werden nur noch die Komponenten Wahrneh-
mungsstörung (Verkippung der visuellen Vertikalen) und seitliche Fallneigung indu-
ziert. Die Richtung der Fallneigung und Auslenkung kann bei posterolateralen Tha-
lamusinfarkten sowohl ipsi- wie auch kontralateral sein (Abb. 6).

Temporo-parietaler Kortex

Mehrere Areale im temporoparietalen Kortex (Area 2v,Area 3aV,PIVC,VTS,Area 7) wa-


ren in tierexperimentellen Studien als multisensorisch vestibulär identifiziert worden.
Hierbei wurden enge Verbindungen von PIVC zu den anderen vestibulären Kortexarea-
len und zu beiden Vestibulariskernen im Hirnstamm nachgewiesen,woraufhin Grüsser
und Guldin [12, 13] das Konzept eines Integrationszentrums („core region“) für das ge-
Der PIVC-Region scheint eine besondere samte vestibuläre System entwickelten.Der Region im insulären temporoparietalen Kor-
klinische Bedeutung für das vestibuläre tex (PIVC) scheint auch beim Menschen eine besondere klinische Bedeutung für das
System zuzukommen vestibuläre System zuzukommen: Anhand von Läsionsstudien bei Patienten mit Me-
diainfarkten [6, 7] und funktionellen Bildgebungsstudien an Gesunden während vesti-
bulärer Stimulation konnte eine entsprechende Region in der hinteren Insel ebenfalls
als PIVC identifiziert werden (Abb. 7, 8). Ähnlich wie bei den Patienten mit posterolate-
ralen Thalamusinfarkten litten die Patienten mit insulären Mediainfarkten an einer Fall-
neigung und Auslenkung der subjektiven visuellen Vertikalen meist zur kontralateralen
Seite, ohne dass Okulomotorikstörungen oder signifikante Paresen vorlagen [6].
Die Therapie der Ischämien im vertebrobasilären Strombahngebiet entspricht
je nach Ätiologie der Therapie von Schlaganfällen oder transient ischämischen Atta-
cken anderer Gefäßterritorien.

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Basiläre und vestibuläre Migräne
 Wichtige Differentialdiagnose Die basiläre oder vestibuläre Migräne ist eine wichtige Differentialdiagnose episodi-
episodischer Schwindelformen scher Schwindelformen,die bis heute zu selten beachtet wird [11,15].In einer retrospek-
tiven Studie von 90 Patienten mit vestibulärer Migräne fanden sich Erstmanifestatio-
nen über die gesamte Lebensspanne, am häufigsten zwischen der 3. und 5. Dekade. Die
Diagnose ist einfach, wenn wiederholt mehr als 5 voll reversible Attacken mit unter-
schiedlicher Kombination von Schwindel,Sehstörungen,Stand- und Gangataxie,even-
tuell auch anderen Hirnstammausfällen,sowie okzipital betontem Kopfschmerz bei ei-
gener oder familiärer Migränebelastung auftreten.Die Diagnose wird schwieriger,wenn
die Schwindelattacken ohne Kopfschmerz auftreten (30%),monosymptomatische ves-
tibulokochleäre Attacken überwiegen (mehr als 70%) und die Dauer der Schwindel-
attacken von Sekunden bis wenige Minuten oder über mehrere Stunden reicht.
Über 60% der Patienten mit vestibulärer Mehr als 60% der Patienten zeigen im attackenfreien Intervall über die Alters-
Migräne haben im beschwerdefreien norm hinausgehende, zentrale Okulomotorikstörungen in Form von sakkadierter
Intervall leichte zentrale Okulomotorik- Blickfolge, Blickrichtungsnystagmus, Spontannystagmus, zentralem Lagenystagmus,
störungen INO, Upbeat- oder Downbeat-Nystagmus [11].Während der Migräneattacke sind die
Patienten besonders empfindlich gegenüber Bewegung [8], was vergleichbar der Pho-
no- und Photophobie in der Migräneattacke auf eine neuronale sensorische Überer-
regbarkeit, hier der Innenohrrezeptoren, zurückgeführt werden kann (Tabelle 2).
Die Therapie der einzelnen Migräneattacke und die prophylaktische Einstellung
entspricht der anderer Migräneformen. Mittel der ersten Wahl sind ß-Rezeptoren-
blocker wie Metoprolol retard (Beloc zok®) oder Propanolol (Dociton®), gefolgt von
Flunarizin (Sibelium®), Valproinsäure (z.B. Ergenyl®) und (Sandomigran®).

Vestibularisparoxysmie
Eine hirnstammnahe Gefäßkompression kaudaler Hirnnerven ist als Ursache von
Trigeminusneuralgie, Glossopharyngeusneuralgie, Spasmus hemifacialis und Obli-
quus superior Myokymie anerkannt. Sie wird auch als Ursache episodischer Schwin-
delformen diskutiert und wurde früher „disabeling positional vertigo“ genannt, weil
bei einigen Patienten eine Kopflageabhängigkeit der Attackenauslösung aufgefallen

Abb.7  Mediainfarkte mit Schwindel: Patienten mit Infarkten, die die Inselregion und den Gyrus
temporalis superior mit einbeziehen, leiden an akutem Schwankschwindel, Fallneigung und Aus-
lenkung der subjektiven visuellen Vertikalen mit meist kontralateraler Richtung. MRT eines Patien-
ten, der ausschließlich diese Symptomatik sowie eine Sensibilitätsstörung des kontralateralen Ar-
mes akut für die Dauer einer Woche erlitt (T1-gewichtete Sequenz links, T2-gewichtet rechts). Der
kleine ischämische Infarkt liegt in der unteren hinteren Insel, wohin man aufgrund tierexperimen-
teller Studien den parieto-insulären vestibulären Kortex (PIVC) projiziert

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Abb.8  a Transversale Schichten des Atlas von Duvernoy (1991), in die 7 Infarktareale von Patienten
mit Mediainfarkten projiziert wurden, die eine kontralaterale Fallneigung und Auslenkung der
subjektiven visuellen Vertikalen aufwiesen (0 mm, +8 mm und +16 mm über der anterior-posterior
Kommissur-Linie, AC-PC) [6]. Das Überlappungsareal aller Patienten (Kernregion schwarz) liegt
in den beiden hinteren langen insulären Gyri und im Gyrus temporalis transversus (Heschl). Diese
Region entspricht dem PIVC. b Das Areal passt zu der Lokalisation, die auch in PET-Hirnaktivierungs-
studien bei Gesunden während vestibulärer Stimulation (kalorische Reizung eines Ohres) aktiviert
gefunden wird

 Vestibularisparoxysmie = war. Die heute Vestibularisparoxysmie genannte neurovaskuläre Kompression des


Neurovaskuläre Kompression 8. Hirnnerven vermuten wir bei Sekunden dauernden und häufigen Schwindelatta-
cken mit folgenden 5 Merkmalen [5]:

● kurze, häufige Attacken eines Schwank- oder Drehschwindels für Sekunden bis
Minuten,
● Auslösung der Attacken durch bestimmte Kopfpositionen oder Beeinflussung
der Attacken durch Änderung der Kopfhaltung,

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● Hörminderung und Tinnitus während
Tabelle 2 oder zwischen den Attacken,
Über die Altersnorm hinausgehende Okulomotorik- ● messbare auditive und/oder vestibulä-
störungen bei 90 Patienten mit vestibulärer Migräne re Defizite bei neurophysiologischen
im beschwerdefreien Intervall [11] Funktionstests (kalorische Spülung,
AEP, subjektive visuelle Vertikale),
N [%] ● rasche Besserung durch Carbamazepin
(niedrige Dosis von 200–400 mg/d).
Zeichen einer zentralen Okulomotrikstörung,
insgesamt 59 65,6
Kurze, sekunden- Ähnlich der Trigeminusneuralgie gibt es
dauernde Dreh- Blickfolgesakkadierung vertikal 43 48offenbar zwei Häufigkeitsgipfel mit frü-
schwindelattacken Blickfolgesakkadierung horizontal 20 22hem Beginn bei vertebrobasilären Gefäß-
mit oder ohne Blickrichtungsnystagmus in 2 Richtungen 24 27anomalien und spätem Beginn durch Ge-
Ohrsymptome Spontannystagmus (>5°/s)a 10 11fäßelongation im Alter. Der Gefäß-Nerv-
können durch eine Zentraler Lagenystagmus 10 11Kontakt lässt sich meist mit Hilfe von spe-
neurovaskuläre Dissoziierter Blickrichtungsnystagmus 8 9ziellen Sequenzen in der Magnetresonanz-
Kompression des Downbeat-Nystagmus 3 tomographie (CISS) darstellen, was jedoch
3,3
8.Hirnnerven Upbeat-Nystagmus 2 nicht eindeutig zu verwerten ist, da solche
2,2
ausgelöst sein Störung der Fixationssuppression 3 Kontakte gelegentlich auch bei Gesunden
3,3
Nukleäre Okulomotoriusparese 1 nachgewiesen werden können. Der Symp-
1,1
tomverlauf ist meist chronisch.
a In Kombination mit anderen zentralen Zeichen
Wir empfehlen in Analogie zur Trige-
minusneuralgie einen Therapieversuch
mit Carbamazepin (Tegretal®, Timonil®)
in niedriger Dosis (200 bis 600 mg/die), bei Unverträglichkeit alternativ Gabapentin
(Neurontin®), Phenytoin (Zentropil®) oder Primozid (Orap®). Die Indikation zur
operativen mikrovaskulären Dekompression sollte trotz beschriebener Teilerfolge
zurückhaltend gestellt werden, da die Diagnose und Bestimmung der betroffenen
Seite häufig nicht ausreichend sicher ist und Durchblutungsstörungen der AICA
durch Vasospasmusauslösung auftreten können.

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Vaskulärer Schwindel
Fragen zur Zertifizerung
1. Welche Arterie versorgt das Innenohr? e) Horizontal-rotatorischen Spontan- 8. Ein posterolateraler Thalamusinfarkt
a) A. cerebri media nystagmus, kalorische Untererregbar- a) führt zu einer Fallneigung mit
b) A. vertebralis keit und entzündliches Liquorsyndrom Auslenkung der subjektiven Vertikalen
c) A. cerebelli inferior anterior b) führt zu einer Hemiparese mit
d) A. cerbelli inferior posterior 5. Typische Zeichen einer Schädigung Fallneigung zur Seite
e) A. cerebelli superior der Roll-Ebene des vestibulookulären c) führt zu einer Hemiataxie mit
Reflexes sind Auslenkung der visuellen Vertikalen
2. Symptome des Labyrinthinfarkts sind a) torsioneller Nystagmus und „ocular tilt d) führt zu einer Fallneigung nach hinten
a) Drehschwindel reaction“ e) führt zu einer Fallneigung und
b) Hemiparese b) Downbeat-Nystagmus und Fallneigung Augenbewegungsstörung
c) Nystagmus und Hemiataxie zur Seite
d) Drehschwindel und Hemiataxie c) Upbeat- und Downbeat-Nystagmus 9. Die vestibuläre Migräne
e) Drehschwindel, Nystagmus und d) „ocular tilt reaction“ und Upbeat- a) ist eine typische Erkrankung junger
Hörstörung Nystagmus Frauen
e) „ocular tilt reaction“ und horizontaler b) ist immer begleitet von halbseitigen
3. Eine Neuritis vestibularis kann in ihrer Nystagmus temporal betonten Kopfschmerzen
Symptomatik imitiert werden durch c) kommt nur bei Erwachsenen ab dem
a) einen Mediainfarkt 6. Eine Störung in der Pitch-Ebene mit 50. Lebensjahr vor
b) einen Posteriorinfarkt Upbeat- oder Downbeat-Nystagmus d) ist oft begleitet von zentralen Okulo-
c) einen Mittelhirninfarkt mit Beteiligung wird durch eine Läsion verursacht, die motorikstörungen, auch im Intervall
des INC lokalisiert ist e) geht regelmäßig mit einem zentralen
d) einen Medullainfarkt mit Beteiligung a) im Vestibulariskerngebiet einer Seite Lageschwindel einher
des Vestibulariskern b) im rostralen Mittelhirn
e) einen Labyrinthinfarkt c) in der lateralen Brücke 10. Die Vestibularisparoxysmie ist eine
d) in der paramedianen Medulla neurovaskuläre Kompression des
4. Die Pseudoneuritis ist charakterisiert e) im paramedianen Thalamus 8. Hirnnerven, die charakterisiert
durch ist durch
a) Horizontal-rotatorischen Spontan- 7. Ein Thalamusinfarkt führt a) häufige Drehschwindelattacken
nystagmus und kalorische Untererreg- zu Augenfehlstellungen und über Stunden
barkeit Augenverrollung, wenn b) häufige Drehschwindelattacken
b) Kalorische Untererregbarkeit und a) er paramedian gelegen ist mit Doppelbildern
Hörstörung und das angrenzende Mittelhirn c) häufige Drehschwindelattacken
c) Horizontal-rotatorischen Spontan- mitbetroffen ist für Sekunden bis Minuten
nystagmus, kalorische Untererreg- b) er posterolateral gelegen ist z.T. mit Ohrsymptomen
barkeit und zentrale Zeichen c) er paramedian gelegen ist und die d) häufige Drehschwindelattacken
d) Horizontal-rotatorischen Spontan- angrenzende Brücke mitbetroffen ist für Minuten mit Hörminderung und
nystagmus, kalorische Untererreg- d) er dorsolateral gelegen ist und das zentralen Zeichen im Intervall
barkeit und Hörstörung angrenzende Mittelhirn mitbetroffen ist e) häufige Schwindelattacken mit
e) er paramedian beidseits gelegen ist Lagerungsschwindel und Druck im Ohr

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Der Nervenarzt 12•2002 | 1143

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