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DER SPIEGEL

GESCHICHTE
6 / 2019 DEUTSCHLAND € 8,50 ÖSTERREICH € 9,50 SCHWEIZ SFR 15,-
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Der Adel
Der Adel
Zum Herrschen geboren?
Warum viele Familien immer noch so mächtig sind

»MIR ZU EHREN« DIE HOHENZOLLERN HITLERS SCHERGEN


Alltag adeliger Damen Preußens Royals Aristokraten in der SS
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Vergangenheit kennen, Gegenwart verstehen

Im Esszimmer
ihres Augsburger
Familienstamm-
sitzes Schloss
Wellenburg emp-
fingen Hubertus
Fürst und Alexander
Graf Fugger-Baben-
hausen Redakteurin
Bettina Musall.

Dafür, dass es den Adel eigentlich nicht mehr näckig – und fasziniert bis heute nicht nur Ewig-
gibt, hat er sich gut gehalten: Mittels gekonnter gestrige.
Inszenierungen und eines immer noch dankbaren Redakteur Frank Patalong porträtierte die wich-
Publikums behaupten sich Fürsten, Herzoginnen tigsten europäischen Fürstenhäuser, die teils bis heu-
und Grafen auch hundert Jahre nach der Auf- te Staatsoberhäupter stellen. Redakteurin Bettina
hebung ihres Standes als eine klar identifizierbare Musall, die dieses Heft konzipiert hat, befragte die
Klasse von erstaunlicher Vitalität. Köpfe des Hauses Fugger über die Familienge-
Woher rührt dieses unerschütterliche Selbst- schichte und ihr heutiges Selbstverständnis (Seite
bewusstsein? Antworten gibt, wie so oft, der Blick 116). Im Augsburger Schloss gefiel ihr ein Detail
in die Geschichte. Diese Ausgabe von SPIEGEL besonders: Die Hirschgeweihe im Foyer dienen als
GESCHICHTE erklärt, wie seit dem Mittelalter Hutständer für die Kopfbedeckungen der Familie.
um die regierenden Herrscherhäuser Europas eine
Adelsschicht entstand, die Anspruch auf Privi- Wir wünschen eine anregende Lektüre,
legien und Mitregentschaft erhob – und in ihren Ihr Team von SPIEGEL GESCHICHTE
eigenen Landen selbst über Menschen herrschte.
Von Beginn an fußten Standesdünkel und Füh-
rungsanspruch von Aristokraten auf einer ver-
meintlich gottgewollten Gesellschaftsordnung, die
einer kleinen Schicht zugestand, etwas Besseres
als alle anderen zu sein (Seite 16). Das Heft erläu-
tert, warum der Adel auch über die Französische
Revolution hinaus so mächtig blieb (Seite 60) und
welche Rolle er wirklich im Nationalsozialismus
spielte (Seite 106). Das 20. Jahrhundert machte
Schluss mit dem System aus Gnade, Gunst und
Gewalt von oben, kritische Adelige wandten sich
ab von der Idee einer geborenen Elite. Doch Redakteur Frank Patalong besuchte das Schloss
ein Rest von Standesbewusstsein hält sich hart- der Wittelsbacher in Düsseldorf-Benrath.

Schreiben Sie uns, wie Sie das Heft fanden oder über welche Themen Sie künftig einmal in SPIEGEL GESCHICHTE
etwas lesen möchten. Sie erreichen uns unter info@spiegel-geschichte.de.

HAUSM ITTEI LUNG SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 3


Inhalt
Plus:
Zwölf
Adelshäuser
im Porträt
SPIEGEL GESCHICHTE 6 / 2019

6 Bildessay. Eine Klasse für sich 78 England. »Unter gar keinen Umständen waschen«
Wie wohl keine andere Familie stehen die Hohenzollern Im 18. Jahrhundert leisteten sich Adelige lebende
für Glanz und Niedergang der Aristokratie. Schmuckeremiten zur Zierde ihrer Gärten.
Was klingt wie der Gipfel der Exzentrik, hatte
16 Grundlagen. »Höheres Menschsein«
einen tieferen Sinn.
Gab es einen Adel immer schon? Eher nicht, sagt der
Historiker Werner Hechberger im Interview. 82 Kaiserreich. Aufstieg verwehrt
Und: Auch Normalsterbliche konnten aufsteigen. Die Verleihung eines Adelsprädikats galt als
Ausweis gesellschaftlichen Erfolgs. Doch jüdische
26 Mittelalter. Edle Mannen in schwerer Rüstung
Familien wurden nur selten nobilitiert. Warum?
Ritter prägten das Bild des Adels. Pracht und Risiko
ihrer Lebensweise wurden zum Mythos. 90 Landadel. Frondienst mit Freibier
Junker herrschten über Gut Stavenow, ihre Untertanen
34 Chronik. Der Adel in Deutschland
ackerten auf den Feldern. Die Macht schien
36 Herrschaft. Ergebenst dienen zum eigenen Vorteil klar verteilt – aber die Realität sah anders aus.
Die Habsburger Monarchen regierten mithilfe
98 Weimarer Republik. »Wie soll es nur werden?«
loyaler Adeliger wie der Familie Liechtenstein.
Mit dem Kaiserreich verschwanden auch die
Ein Geschäft auf Gegenseitigkeit.
adeligen Privilegien. Wie gingen die Aristokraten
mit dem Statusverlust um?

46
106 Nationalsozialismus. Nützliche Handlanger
Große Teile des Adels kollaborierten mit den
Nationalsozialisten. Einige organisierten als hohe
SS-Führer sogar Massenmorde.
Accessoires
Selbst die Tasche des Zaren 114 Seitenblick. Sitz!
zeigte seine Macht. Hunde gehören zur adeligen Selbstdarstellung.
Einige wurden europaweit berühmt.
116 Gespräch. »Wir wurden nie verbogen«
46 Kleidung. À la mode Hubertus Fürst und Alexander Graf Fugger-
Stoffe, Schnitte, Farben – die Garderobe diente dazu, Babenhausen diskutieren über das Vermächtnis ihrer
den adeligen Status hervorzuheben. Vorfahren aus der Augsburger Kaufmannsdynastie.
52 Unternehmertum. Die Alternativen

128
Arbeiten? Und etwa noch selbst? In der Theorie eine
Zumutung für jeden Edelmann. In der Praxis nicht.
58 Porträt. Was vom Adel übrig blieb
Gloria von Thurn und Taxis wurde als »Punk-Fürstin«
bekannt. Heute fällt sie mit ultrarechten Thesen auf. Verwandtschaft
Baron Börries von
60 Französische Revolution. »Ich bin es meinem Münchhausen war
Haus und mir selbst schuldig« der Urgroßonkel
Die Bürger forderten Gleichheit – und stürzten von Jutta Ditfurth.
Und Antisemit.
Frankreichs König. Für einen Grafen vom
Niederrhein ging es nun um seine Existenz.
128 Essay. »Es gab nur eine Ausnahme«
64 Dokument. »Sie glauben, noch zu führen«
Die Politikerin Jutta Ditfurth hat sich von ihrer
Der Publizist Alexis de Tocqueville beschrieb, wie
adeligen Herkunft abgewandt. Ein Grund war die
Missstände in der Aristokratie 1789 zum Umsturz in
Geschichte ihrer Familie.
Frankreich führten.
133 Nachschlagewerk. Die Bibel der Salonlöwen
68 Selbstzeugnisse. »Mein ganzes Schicksal hat
Wer in den »Gotha« aufgenommen wurde, war ganz
sich entschieden«
oben angekommen.
In Tagebüchern oder Briefen hielten adelige Damen
Details aus ihrem Leben fest. Sie geben Einblicke in 134 Adel heute. Ein Stimmungsbild
den Alltag von damals. Welche Rolle sollte die Aristokratie noch spielen?

4 3 Hausmitteilung 136 Buchempfehlungen 137 Impressum 138 Foto-/Bildnachweise, Vorschau


36 Aufsteiger
Die Krönungsfeier von
Kaiser Joseph II. 1764
in Frankfurt war prächtig.
Geld dafür kam von
Fürst Nikolaus I. von
Esterházy, einem
Getreuen der Habsburger.

90 Gutsherrschaft
Die Junker auf Gut Stavenow
herrschten im 18. Jahrhundert
über ihre Bauern. Doch die

60
ließen sich nicht alles gefallen.

Revolution
Reichsgraf Joseph zu
Salm-Reifferscheidt-Dyck
kämpfte um 1800 um
den Erhalt seines Erbes –
und um sein Schloss.
Eine Klasse für

6 BI LDESSAY
sich
Sie brachten Preußen zur Blüte, einigten
Deutschland und führten es in einen Weltkrieg: Wie
wohl keine andere Familie stehen die Hohenzollern
für Glanz, Gloria und Niedergang der Aristokratie.

Netzwerke der Macht


Um 1907 trafen sich der Hohenzollern-
Kaiser Wilhelm II. (7. stehend v. r.), der
britische König Edward VII. (11. stehend v. r.),
Kaiserin Auguste Viktoria (sitzend M.),
Königin Alexandra (sitzend 3. v. r.) und der
Prince of Wales, der spätere König Georg V.
(5. stehend v. r.), mit Anhang zu einem
Jagdvergnügen in England. Sieben Jahre
später schoss man im Ersten Weltkrieg
aufeinander.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 7


Familie Auf Postkarten und inszenierten Fotos stellte sich das
Herrschergeschlecht selbst zur Schau, huldvoll gewährte man den Untertanen
scheinbar private Einblicke. Männlicher Nachwuchs war für den Erhalt der
Dynastie entscheidend: Bei der Geburt eines Thronfolgers wurden 101 Kanonen-
schüsse zum Salut abgefeuert, kam eine Tochter zur Welt, mussten 21 reichen.

Der Erstgeborene
Kronprinz Wilhelm, ältester Sohn des
Kaiserpaares, verkörperte das preu-
ßische Ideal von Stolz und Schneid.
Wilhelms Kinder im Matrosenanzug (M.);
er selbst auf dem Pferd (o., vorn);
beim Weihnachtsfest mit Familie um
1920 auf Schloss Cecilienhof.
Rechte Seite: eine Postkarte des
Kaiserpaares.

8 BI LDESSAY
Fürstliches Theater
Bei der Ankunft von Kaiserin
Auguste Viktoria in Gera
überreichte eine knicksende
Untertanin der Monarchin
einen Blumenstrauß (1905).

10 BI LDESSAY
Herrschaft Kutschen, Pferde und ein staunendes Volk als
Staffage: Wenn die kaiserliche Familie erschien, musste die Inszenierung
stimmen. Hacken zusammen, tiefer Knicks, huldvolles Lächeln – Hauptsache,
jeder war am richtigen Platz. Die hierarchische Ordnung, angeblich
gottgewollt, hielt die Monarchie zusammen und die adelige Elite oben.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 11


12 BI LDESSAY
Militär Verteidigung und Vergrößerung des Landes war eine der
ursprünglichen Aufgaben des Adels. In Preußen wahrte man die Tradition: Seit
dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. bestand das Offizierscorps dort wieder
hauptsächlich aus Adeligen. Wenn der Monarch rief, hatten sie zu marschieren.

Waffenrock Hochzeitsparade
Um die Armee an das Haus Hohenzollern Zivile Großereignisse lieferten die
zu binden, wurden auch Prinzessinnen Kulisse für monarchisch-militärische
ehrenhalber militarisiert. Cecilie (r.), Selbstdarstellung – wie die Fahrt
Ehefrau von Kronprinz Wilhelm, firmierte der königlichen Hoheiten bei
als Chefin des Dragoner-Regiments der Hochzeit von Viktoria Luise von
König Friedrich III., Prinzessin Viktoria Preußen mit Ernst August III.
Luise (l.) repräsentierte das 2. Leib- von Hannover vom Brandenburger Tor
husaren-Regiment in Danzig (Langfuhr). zum Berliner Stadtschloss 1913.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 13


Politik Über Jahrhunderte hielt sich der Ständestaat – mit ihm
blieben die Hohenzollern an der Macht. Dann kam die Weimarer Demokratie und
beseitigte die Privilegien der Aristokratie, der Hohenzollern-Kaiser dankte ab.
Die Hoffnung auf Restauration aber blieb: Auch deshalb suchten viele Adelige
Hitlers Nähe.

Sprösslinge
Die Kinder des Kronprinzen – Prinz
Hubertus, Prinzessin Cecilie und
Prinz Friedrich von Preußen – im Jahr
1934, die Prinzen in SA-Uniform.
Ihr Vater rief 1932 zur Wahl Hitlers
als Reichspräsident auf. Die Frage,
welche Rolle die Hohenzollern für den
Aufstieg des Nationalsozialismus
spielten, beschäftigt derzeit das
Verwaltungsgericht Potsdam. Es
geht dabei um Rückerstattung von
Kunstschätzen oder Entschädigungen
für Enteignungen in den Jahren 1919
beziehungsweise 1945.

14 BI LDESSAY
DI E HOH ENZOLLE RN
Die Aufsteiger von der Schwäbischen Alb
wurden Grafen, Kurfürsten, Könige und Kaiser –
und Inbegriff des Preußischen.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Friedrich II., 1712 bis 1786. Der »Alte Wilhelm II., 1859 bis 1941. Der letzte
1061 Fritz« ist eine der widersprüchlichsten Figu-
ren der deutschen Geschichte: Aufklärer und
deutsche Kaiser hegte imperialistische
Großmachtallüren. Als Österreichs Kaiser
absoluter Herrscher, Schöngeist und Kriegs- Franz Joseph I. Serbien den Krieg erklärte,
treiber, der Länder ohne Kriegserklärung sprang ihm Wilhelm allzu freudig bei.
S TA M M S I T Z überfiel. Machte Preußen endgültig zu einer Der Konflikt eskalierte zu einem Weltkrieg,
Macht. Zu seinem Erbe gehören aber auch der 15 Millionen Menschen das Leben kostete.
Burg
Sozialreformen und die Formung eines Monarchie und Adel hatten danach aus-
Hohenzollern
für seine Zeit ungewöhnlich toleranten gedient in Deutschland und Österreich. [3]
Staatswesens, das sich als fit für die folgen-
den revolutionären Zeiten erwies. Sah sich Corinna von Hohenzollern, geboren
S TA M M L A N D E selbst als »erster Diener des Staates«. [1] 1990. Heiratete mithilfe von Carl Alexander,
geboren 1970, ins Adelshaus ein. Er liebte sie
Hechingen
Königin Luise von Preußen, 1776 bis nach eigener Aussage wegen ihrer Brüste, doch
(heute in Baden- 1810. Die starke, intelligente Frau hinter sie »wollte nur den Titel«: Nach zwei Monaten
Württemberg) dem schwächlichen Friedrich Wilhelm III. war der Spuk vorbei, die Ehe gescheitert.
Trieb ihren Mann zu Reformen, wirkte
auf seine Politik ein. Gegen jedes Protokoll G R Ö S S T E R S K A N DA L
HÖCHSTE suchte sie diplomatische Lösungen mit
ÄMTER Napoleon. Wurde nach ihrem Tod zur Heldin, Als Spross eines Prinzen und Patenkind eines
[GESCH ICHTE]
fast zu einer Heiligen verklärt. [2] Papstes schien Ferfried Prinz von Hohen-
zollern, geboren 1943, ein Leben in elitären
deutsche Kaiser
BEDEUTENDSTE LEISTUNG Zirkeln vorgezeichnet. Doch im reifen Alter
entdeckte er die Liebe zur Trash-TV-Ikone
[ G E G E N WA R T ]
Die Hohenzollern machten aus dem sandi- Tatjana Gsell – und wurde an ihrer Seite zum
gen Ackerland Preußen eine europäische Reality-TV-Star »Foffi«. Besonders unschön:
keine
Großmacht, um die sich 1871 die deutschen Zu diesem Zeitpunkt war er noch verheiratet.
Staaten scharten, um einen Nationalstaat Seit die Liaison beendet wurde, fällt er nur
zu begründen. noch selten auf. Gsell hingegen schon. [4]
BERÜH MTE
RESIDENZEN

Sanssouci und
Neues Palais
in Potsdam,
Berliner Stadt-
schloss, Schloss
Charlottenburg
sowie Stadtschloss [1] [2] [3] [4] [5]
Breslau und
Schloss
Königsberg
Bekannte Köpfe heute: Georg Friedrich Prinz von Preußen, geboren 1976. Das Oberhaupt der
preußischen Linie macht Schlagzeilen mit Forderungen nach Rückgabe von Familienschätzen.
Karl Friedrich Fürst von Hohenzollern, geboren. 1952, Oberhaupt der vermögenderen schwäbischen
Linie. Ist stiller, außer auf der Bühne: Er ist nicht nur Unternehmer, sondern auch Jazzer! [5]

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 15


»Höheres
Menschsein«
Gab es Adel immer schon? Eher nicht, sagt der
Historiker Werner Hechberger: Der Stand bildete sich
erst im Verlauf des Mittelalters heraus.
Auch Normalsterbliche hatten die Chance zum Aufstieg.

SPIEGEL: Herr Professor Hechberger, was Einen Adel gab es schon in der Antike: die
ist Adel? römische Nobilitas, jene römischen Bürger also,
Werner Hechberger: Adel ist ein soziales und die Grundbesitz hatten und politische Ämter
kulturelles Phänomen, das in vormodernen Ge- bekleiden konnten. Es gibt einige Historiker, die
sellschaften entstand. Modellhaft gehen Histori- meinen, dieser Adel habe nahtlos bis ins Mittel-
ker davon aus, dass sich Agrargesellschaften ir- alter fortbestanden, aber das ist umstritten. Si-
gendwann leisten konnten, einige Mitglieder von cher wurden einige Vorstellungen übernommen,
der normalen Arbeit freizustellen. Diese Leute und wahrscheinlich gab es auch personelle Konti-
mussten nicht mehr täglich aufs Feld, sondern nuitäten, vor allem in den ehemaligen römischen
übernahmen Spezialaufgaben, die für alle wich- Gebieten, in Gallien etwa. Aus der germanischen
tig waren: religiöse oder kriegerische Aufgaben. Vorzeit, den Gebieten außerhalb des römischen
Einflusses, haben wir kaum aussagekräftige Quel-
Für die Religion waren die Priester zuständig, len. Die Archäologie weist auf beträchtliche so-
für die Kriegsführung jene, die später adelig
wurden?
Genau, sie sorgten für den Schutz der Ge-
meinschaft, aber auch für die Expansion des
Territoriums. Weil sie dafür Fähigkeiten und
Kenntnisse brauchten, genossen sie besonderes
Ansehen und hatten eine gesellschaftliche Vor-
rangstellung, die später auch vererbt wurde. Die
Familien verfügten dann normalerweise über
reichlichen Grundbesitz und konnten auf eine
besondere Abstammung verweisen. Auch ein
bestimmtes Selbstverständnis gehörte dazu.
Schließlich fixierte man das Ganze rechtlich –
der Adel im klassischen Sinn war entstanden,
so stellt man sich zumindest in der Theorie die
Entstehung des Adels vor.

Gibt es in jeder Gesellschaft so etwas wie


Adel?
In vielen Gesellschaften dürfte es das Phäno-
men der frühen Arbeitsteilung gegeben haben,
bei der bestimmte Personengruppen einen Vor-
rang genossen. Der europäische Adel mag ein
paar Besonderheiten haben, die ihn vom Adel in
anderen Kulturen unterscheidet. Ein rein mittel-
europäisches Phänomen ist er sicher nicht.

Gab es große Unterschiede innerhalb


Europas?
Nein, im Gegenteil: Die Gemeinsamkeiten
sind sehr groß. Das begründet sich sicher in der
gemeinsamen Religion, dem Christentum. Auch
die Adeligen selbst waren sich durchaus bewusst,
dass es so etwas wie einen europäischen Adel
gab, die Netzwerke reichten früh schon über ter-
ritoriale Grenzen hinaus.
Oben bleiben
Man geht nicht einfach, man reitet. Königin Elizabeth II. und Prinz
Wann entstand diese Elite? Andrew 1964 (linke Seite); Miniatur aus dem »Codex Manesse«, 14. Jh.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 17


ziale Unterschiede in den germanischen Gesell-
schaften hin – welches Gesellschaftsmodell da-
hinter stand, ist allerdings unklar. Man geht aber
davon aus, dass Familien, die während der
Völkerwanderungszeit eine führende Funktion
hatten, diese auch danach behielten.

Ab wann weiß man Konkreteres?


In der Karolingerzeit, ab Mitte des 8. Jahr-
hunderts, kann man recht eindeutig eine Ober-
schicht feststellen: eine Personengruppe, die
über Ämter und Reichtum verfügt und deren
Status schon faktisch erblich ist. Ab dieser Zeit
sind dann auch vereinzelt personelle Kontinui-
täten nachweisbar. Möglicherweise hängt das
mit dem Wandel der Kriegsführung zusammen:
In der Merowingerzeit – vom 5. bis zum 8. Jahr-
hundert – bestanden die Heere wahrscheinlich
hauptsächlich aus Fußsoldaten, hier konnten fast
alle freien Mitglieder der Gesellschaft problem-
los Kriegsdienste leisten. In der Karolingerzeit
wurde die Reiterei dominierend, wer nun effek-
tiv kämpfen wollte, musste über großen materiel-
len Besitz verfügen: Er musste ein Pferd unter-
halten, eine Rüstung besitzen, hier konnten viele
nicht mehr mithalten, sodass die sozialen Unter-
Standesgemäß heiraten
schiede größer wurden. Ehe war das eine, Liebe – oft – das andere. Prinzessin Elizabeth
und Prinz Philip 1947 (linke Seite); »Codex Manesse«, 14. Jh.
War Kriegertum die einzige Wurzel des Adels?
Eine andere waren möglicherweise Ämter,
die vom König verliehen waren. In der fränki- ernannt und damit in die Aristokratie eingeglie-
schen Zeit sind neben zuverlässigen Gefolgsleu- dert worden.
ten offenbar auch lokale Machthaber zu Grafen
Ab wann hatten die Aristokraten eine recht-
liche Sonderstellung?
Im Hochmittelalter, ab dem 12. Jahrhundert,
Schnelles Durften Adelige wurden bestimmte Privilegien rechtlich fixiert.
Wissen Die sozialen Unterschiede wurden zu verfas-
Bürgerliche heiraten?
sungsmäßigen Rangstufen, es bildete sich ein
Heiraten zwischen adeligen Familien dienten seit dem Mittelalter dem Auf- Reichsfürstenstand, der sich schließlich mit den
bau von Netzwerken. Ehen mit Nichtadeligen waren verpönt oder verboten. Grafen und freien Herren als Hochadel abgrenz-
Als sich im 18. Jahrhundert die Idee der Liebesheirat durchsetzte, regelte te. Bekannt ist die Heerschild-Ordnung aus dem
das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794, unter welchen Bedingun- Sachsenspiegel: Die Besitzer von Lehen wurden
gen der adelige Status bei einer Ehe erhalten blieb. Regelungen, die bisher in sieben »Heerschilde« eingeteilt, das erste
nur für den Hochadel galten, wurden nun auf den gesamten Adel übertra- bildete der König oder Kaiser als oberster Lehns-
gen: Adelige Männer durften ohne Zustimmung von drei Verwandten oder herr. Das zweite und dritte waren geistliche
dem Landesherrn keine Ehe mit Frauen aus dem »Bauern- oder geringern und weltliche Reichsfürsten, das vierte Grafen
Bürgerstande« eingehen. Lediglich Töchter des höheren Bürgerstandes – und freie Herren, darunter kamen rangniedri-
von öffentlichen Beamten, Gelehrten, Kaufleuten – kamen als Bräute in- gere Vasallen und Dienstleute, die Ministerialen,
frage. Wenn adelige Frauen bürgerlich heirateten, verloren sie ihre Adels- bis hin zum »Einschildritter«, der Lehen nur
vorrechte, ihr Name wurde aus dem »Gotha« (siehe Seite 133) gestrichen. empfangen, nicht aber selbst vergeben konnte.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 19


Dieses Bild war kein Gesellschaftsmodell, sondern
sollte nur lehnsrechtliche Beziehungen systema-
tisch darstellen. Aber es zeigt eben auch die Un-
terschiede innerhalb des Adels und die Bemühun-
gen, sich vom Nichtadel rechtlich abzugrenzen.

Weshalb hat sich das Konzept der erblichen


Adelsherrschaft durchgesetzt? Aus heutiger
Sicht erscheint es ja ziemlich ungerecht.
Es war auch damals nicht die einzige Form,
Herrschaft zu organisieren. Schon im Frühmittel-
alter gab es Herrschaft, die durch Wahl legiti-
miert war, der Abt im Kloster etwa. Auch der
König wurde anfangs gewählt und ab dem Hoch-
mittelalter dann auch die städtischen Regierun-
gen. So gegensätzlich, wie sie scheinen, sind
diese unterschiedlichen Formen von Herrschaft
aber gar nicht. Herrschaft beruhte auch im
Mittelalter nicht auf bloßer Gewalt und reiner
Willkür, sondern sie bedurfte immer zumindest
Almosen gewähren
teilweise der Zustimmung der Beherrschten, sie Stiftungen für Mittellose, Hospitäler für Arme:
musste sich also legitimieren. Und das ist der Vor allem Adelige betätigten sich karitativ.
Adelsherrschaft offenbar gelungen: Sie scheint »Codex Manesse«, 14. Jh.; Lady Diana in Simbabwe 1993.
einigermaßen effektiv gewesen zu sein.

Was waren die Aufgaben des Adels?


Der Schutz der Armen und Machtlosen. Der
Schutzgedanke stammt aus der Antike, wurde
christlich untermauert und immer wieder betont,
er war zentral für die Legitimation des Adels.
Vom zehnten Jahrhundert an wurde die Idee
ausgebaut zum bekannten Drei-Stände-Schema
der Gesellschaft. Nun unterschied man drei
Funktionen: die Oratores, also jene, die beten,
die Laboratores, die Arbeitenden, und die
Pugnatores, die Leute, die kämpfen. Das
Schema galt als gottgewollt, und somit war
auch die Tätigkeit durch Gott legitimiert.

Auch aufgrund solcher Schemata haben viele


Menschen heute das Bild von einer statischen
mittelalterlichen Gesellschaft, in der es keine
soziale Mobilität gab. So, wie Sie es schildern,
war der Adel ja keineswegs eine von Beginn an
abgeschlossene Gruppe, sondern es gab Bewe-
gung in der Gesellschaft. War sozialer Aufstieg
im Mittelalter doch möglich?
Ich glaube nicht, dass die mittelalterliche Ge-
sellschaft so starr war, wie wir sie heute sehen.
Die damaligen Gesellschaftsbilder waren norma-
tive Entwürfe: Die Gesellschaft sollte statisch

20 GRUN DLAGEN
sein. In der Realität war sie es nicht. Aufstieg
war immer möglich. Die Ministerialen etwa
waren ursprünglich unfreie Dienstmannen, die
in der Verwaltung Funktionen ausübten oder
Kriegsdienste leisteten. Sie fanden ab dem
12. Jahrhundert Anschluss an den Adel, und ihre
Nachkommen bildeten den niederen Adel des
späten Mittelalters. Und schon früher, im späten
9. und frühen 10. Jahrhundert, gab es im Adel
vielleicht besonders hohe Fluktuation.

Wie kam es dazu?


Das späte Karolingerreich wurde von außen
bedroht, von Ungarn und Normannen. Einige
Quellen berichten von großen Verlusten fränki-
scher Heere, der bayerische Adel soll fast völlig
aufgerieben worden sein. Das ist ganz sicher
übertrieben, aber für solche Zeiten liegt die An-
nahme nahe, dass neue Männer durch Erfolge im
Kampf nachrücken konnten und sozial aufstie-
Landlust
gen. In Einzelfällen kann man das nachweisen. Man gab sich nicht nur glamourös, auch das
Rustikale wurde gepflegt. »Codex Manesse«, 14. Jh.;
Welche Rolle spielten Statussymbole für die Prinz Charles mit Jagdgesellschaft 1982.
soziale Abgrenzung zwischen einfacher Bevöl-
kerung und Adel? Musste man als Adeliger
Reichtum oder Besitz demonstrieren oder ein
bestimmtes Verhalten zeigen?
Der Historiker Johannes Fried hat mal formu-
liert: »Adelslos ist es, herrisch aufzutreten.« Die
meisten Forscher dürften sich einig sein, dass so-
ziale Abgrenzung durch ein besonderes Verhal-
ten immer schon dazugehört hat. Das ist ja auch
logisch: Wer Schutz ausüben will, muss auch
deutlich zeigen, dass er notfalls gewaltbereit ist.
Seit der Antike grenzte der Adel sich über einen
eigenen Habitus ab, über bestimmte Verhaltens-
normen: Anfangs spielten militärische Aspekte
eine große Rolle. Seit dem 12. Jahrhundert wur-
den die Normen im Kontext der ritterlich-höfi-
schen Kultur stark verfeinert, nun gab es detail-
lierte Vorgaben, wie man sich als Adeliger ver-
halten sollte: Demut, Mäßigung und Höflichkeit
waren wichtig, man musste Schach spielen kön-
nen, den Damen den Hof machen und vieles
mehr. Der normale Ritter hat sich sicher nicht
brav an diesen Tugendkatalog gehalten, aber das
Ideal hatte Auswirkungen auf die Wirklichkeit.

Sie haben anfangs gesagt, dass europäischer


Adel und Christentum eng verbunden waren.
Welche Folgen hatte das?

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 21


klopft, kann man immer eine Rechtfertigung
verlangen.

Wie kommt es, dass der Adel im Spätmittelal-


ter so stark unter Rechtfertigungsdruck geriet?
Der israelische Historiker Gadi Algazi hat vor
ein paar Jahren ein interessantes Konzept vertre-
ten: Er fragte, vor wem die Adeligen zu dieser
Zeit die Bauern eigentlich schützten. Die Ant-
wort verblüfft: vor den Fehden anderer Adeliger.
Aber wenn der Adel vornehmlich Schutz gegen
andere Adelige bot, konnte daraus natürlich
Fundamentalkritik erwachsen. Ein anderer, viel-
leicht wichtigerer Grund mag sein, dass im Spät-
mittelalter alternative Eliten entstanden: Die
Kaufleute in den Städten wurden meist durch
Leistung reich, nicht durch Herkunft – forderten
aber nun eine ähnliche gesellschaftliche Position
ein, wie der Adel. Und auch ein Universitätsstu-
dium konnte nun zu sozialem Aufstieg führen.

Kämpfen
Wie reagierte der Adel?
Einst zogen Adelige in den Krieg, heute aufs Spielfeld. Er war nun gezwungen, klarer zu definieren,
»Codex Manesse«, 14. Jh.; Prinzen William, Harry beim Polo (rechte Seite). was ihn eigentlich auszeichnet. Es scheint mir,
dass der Adel nun erst recht ein eigenes Bewusst-
sein, ein eigenes Selbstverständnis als Gruppe
Die adelige Vorherrschaft wurde, wie Herr- ausbildete und sich noch stärker abgrenzte. Nun
schaft im Mittelalter generell, religiös begründet. gab es so etwas wie Jagdverbote für Bauern
Aber das war durchaus ambivalent, und das und Jagdrechte für Adelige, die auch der gesell-
macht es unglaublich interessant. Denn nach schaftlichen Unterscheidung dienten. Die Trenn-
christlicher Lehre sind ja alle Menschen vor Gott linie zwischen Adel und Bauern wurde nun fast
gleich, es gibt keine Privilegien. Soziale Unter- zu einer ideologischen Kampflinie.
schiede auf Erden musste man deshalb immer
schon rechtfertigen – und nach heftigem Blättern Der Adel veränderte sich im Verlauf des
in der Bibel kann man dafür tatsächlich ein paar Mittelalters massiv, erfand sich auch immer
Stellen finden, die Herrschaft von Menschen wieder neu. Gibt es einen Gedanken, der sich
über Menschen begründen können. So hat etwa von Beginn an durchzieht?
Noah Kanaan, den Sohn seines Sohnes Ham,
und dessen Nachkommen dazu verflucht, Knech-
te von Hams Brüdern zu werden, nachdem
Ham seinen Vater betrunken und nackt schla- Schnelles Was ist eine
fend gesehen hatte. Aber aus Kreisen des Mönch- Wissen
»Adelsprobe«?
tums kam immer wieder Kritik am Adel, an sei-
nen Privilegien und an Hierarchien allgemein. Die Ahnen- oder Adelsprobe diente seit dem Hochmittelalter dazu nach-
In den Bauernunruhen des Spätmittelalters wur- zuweisen, dass jemand tatsächlich adeliger Abstammung war. Für den Ein-
de das zur Fundamentalkritik, die sogar die tritt etwa in Stifte oder Orden, aber auch für Heiraten wurde eine solche
Existenz des Adels gänzlich infrage stellte. Beim Adelsprobe verlangt. Mindestens wurde der Nachweis von vier standes-
englischen Bauernaufstand von 1381 soll der gemäßen Ahnen verlangt, doch es konnten bis zu 32 Vorfahren verlangt
Priester John Ball demonstrativ gefragt haben: werden, also eine nachgewiesen adelige Abstammung bis in die Genera-
»Als Adam grub und Eva spann – wo war denn tion der Ururgroßeltern. Als Beweismittel dienten Zeugen oder eidliche
da der Edelmann?« Wenn man auf die Bibel Beglaubigungen. Die Adelsprobe war bis ins 19. Jahrhundert hinein üblich.

22 GRUN DLAGEN
Hochgeboren
Wa s b e d e u te n d i e
verschiedenen Adelstitel?
Sicher das Selbstverständnis als Elite, die Vor-
stellung, besser zu sein als die anderen, die Idee
Adel beruhte ursprünglich auf Herrschaft über Men- vom »höheren Menschsein«, wie es einmal der
schen. Die Herrschaftsrechte und damit die Titel wur- Historiker Otto Gerhard Oexle genannt hat. Das
den vom König als Lehen vergeben und im Laufe ist die Grundidee. Das Spezifische am europäi-
der Zeit erblich, auch feste Herrschaftsterritorien schen Adel ist vielleicht der Dienstgedanke: das
bildeten sich heraus. Die Titel veränderten sich oft Bewusstsein, dass man nie automatisch herrscht,
aber auch: Ziel vieler Adelsfamilien war es, in den sondern einen Dienst leisten soll an der Gesell-
nächst-»höheren« Stand aufzusteigen, also etwa vom schaft. Das wäre ja eigentlich auch etwas, auf das
Freiherrn zum Grafen zu werden. man sich heute wieder besinnen könnte.

Fürsten: Anfangs die Einzigen, die nur der Herr- Was hat das Konzept Adel so erfolgreich
schaft des Königs unterworfen waren. Von circa 1500 gemacht, dass es so lange überdauert hat?
an gab es auch andere »reichsunmittelbare« Stände, Früher ging man von einer Krise des Adels im
den Fürsten blieben soziale Reputation und politi- späten Mittelalter aus: Es entstanden alternative
scher Einfluss im »Reichsfürstenrat« des Reichstags. Eliten, und die Kriegsführung änderte sich,
Auch Grafen und Herzöge konnten Fürsten sein. es gab Feuerwaffen, Landsknechtsheere, neue
Anrede: »Königliche Hoheit« (bei ehemaligen regie- Kampfweisen, der Ritter wurde überflüssig.
renden Häusern), sonst »Durchlaucht«.
Aber diese Krise gab es gar nicht?
Herzog: Übte in einem Herzogtum königliche Amts- Sie führte jedenfalls nicht automatisch zum
gewalt aus. Herzöge waren über mehrere Grafschaf- Niedergang des Adels. Die Forschungen der
ten gesetzt, ihr Status höher als der von Grafen. Im Adelshistoriker in den vergangenen 20 Jahren
Französischen spricht man von Duc, im Englischen haben ganz eindeutig gezeigt: Der Adel ist aus-
von Duke. gesprochen anpassungsfähig. Viele Adelige such-
Anrede: »Durchlaucht«. ten sich ein anderes Auskommen. Man konnte
in der Theorie die Arbeit verachten, den Handel
Graf: Ursprünglich königliche Amtsträger in be- und den Umgang mit Geld – wie es dem adeli-
stimmten Bezirken, den Grafschaften. Daraus ent- gen Wertekodex entsprach – aber in der Praxis
wickelten sich eigene Herrschaftsrechte. Markgrafen dennoch erstaunlich erfolgreich im Handel sein.
(französisch: Marquis), Pfalzgrafen und Landgrafen Es gab niederadelige Familien, die wagten sich
gehörten dem Fürstenstand an. Der französische ins Kreditgeschäft und finanzierten sogar den
»Comte« und der englische »Count« entsprechen Landesherrn oder übernahmen Ämter in der
dem Grafen. Landesherrschaft. Andere wurden Kriegsunter-
Anrede: »Erlaucht« beziehungsweise »Hochge- nehmer. Nur die extremen Nichtanpasser en-
boren«. deten als Raubritter – aber sie waren eher die
Ausnahme. Der Großteil des Adels reagierte auf
Freiherr: Der Titel bedeutet »Freier Edelmann« und die Veränderungen erstaunlich flexibel.
hing, wie alle anderen Adelstitel, an einem Herr-
schaftsgebiet, etwa einem Gut. Entspricht dem in Herr Professor Hechberger, wir danken Ihnen
anderen europäischen Ländern verwendeten Titel für dieses Gespräch.
»Baron«, den es in Deutschland nicht gab.
Anrede: »Hochwohlgeboren«. Das Gespräch führte die Redakteurin Eva-Maria Schnurr.

Werner
Historischer Adel: Mit dieser adelsintern heute Hechberger, 56,
noch verwendeten Bezeichnung sind Familien ge- ist Professor für
meint, die ihren Adelstitel gemäß dem 1919 abge- Mittelalterliche
schafften Adelsrecht tragen. Wer etwa durch Adop- Geschichte an
der Universität
tion den Titel erworben hat, zählt nicht dazu. Koblenz-Landau.
Er forscht über
das Mittelalter.

24 GRUN DLAGEN
Dietrich I. Konrad I. »der Große« Otto »der Reiche« Heinrich »der Erlauchte« Friedrich I. Friedrich II.
Graf von Markgraf von Meißen Markgraf von Meißen Markgraf von Meißen »der Streitbare« »der Sanftmütige«
Hassegau um 1096 bis 1157 1125 bis 1190 um 1215 bis vor 1288 Kurfürst von Sachsen Kurfürst von Sachsen
Geburtsdatum mächtigster Fürst Silbererzvorkommen erhält von Kaiser Friedrich II. 1369 bis 1428 1412 bis 1464
ungesichert, vor im Osten des Reiches machen seine Grafschaft die Landgrafschaft Thüringen 1425 Verleihung
976 gestorben reich; verleiht 1165 der Kurwürde
Leipzig die Stadtrechte

ERNESTINER (Thüringen) Ernst Albrecht III. ALBERTINER (Meißen)


Kurfürst Kurfürst von Sachsen »der Beherzte« Königliches Haus Sachsen
Friedrich III. Kurfürst Johann 1441 bis 1486 1443 bis 1500
»der Weise« »der Beständige« regieren lange Jahre gemeinsam,
1463 bis 1525 1468 bis 1532 aber 1485 kommt es zum Teilungsvertrag
Schutz Martin Luthers folgt seinem Bruder Kurfürst Moritz,
auf der Wartburg; nach dessen Tod Zeichnung aus dem
19. Jahrhundert
einer der ranghöchsten als Kurfürst
Reichsfürsten, verzichtet
1519 zugunsten des Kurfürst Johann Kurfürst Moritz
Habsburgers Karl I. auf
eine Kaiserkandidatur
Friedrich »der
Großmütige«
Die Wettiner 1521 bis 1553
nach Unterstützung des deutschen Kaisers
1503 bis 1554 Die Wurzeln des europäischen gegen die Franzosen sowie später auch im
Verzicht auf die Glaubenskrieg Verleihung der Kurwürde;
Kurwürde zugunsten Herrschergeschlechts aus Sachsen* später erbitterter Gegner des Kaisers und
der albertinischen wichtiger Akteur beim Religionsfrieden und
Linie der Anerkennung des Protestantismus

Kurfürst August
1526 bis 1586
Die namensstiftende
Burg Wettin an der Bruder von Moritz
Kurfürst Friedrich III., Saale, erworben im
Zeichnung von Albrecht 11. Jahrhundert; Kurfürst Johann Georg I.
Dürer, um 1523 zeitgenössischer Stich, 1585 bis 1656
um 1885
Kurfürst Friedrich August I. »der Starke«
1670 bis 1733
Zweig Sachsen-Coburg und Gotha zugleich als August II. gewählter
König von POLEN ab 1697
BELGIEN Friedrich August I. »der Gerechte«
Leopold Prinz von Sachsen-Coburg Saalfeld König von Sachsen
1790 bis 1865 1750 bis 1827
1831 vom belgischen Nationalkongress als Leopold I. Königstitel für Sachsen
zum ersten belgischen König gewählt 1806 durch Napoleon
verliehen
VEREINIGTES
PORTUGAL KÖNIGREICH
Ferdinand Prinz von Prinz Albert von Albert
Sachsen-Coburg und Gotha Sachsen-Coburg und Gotha König von Sachsen
1816 bis 1885 1819 bis 1861 1828 bis 1902
heiratet 1836 Königin Maria II. heiratet 1840 Königin Victoria von 1853 Heirat mit
da Gloria von Portugal und wird Großbritannien und Nordirland Caroline Prinzessin Wasa
als Ferdinand II. Titularkönig aus Schweden
König Edward VII.
1841 bis 1910
BULGARIEN Friedrich August III.
Ferdinand Prinz von König George V. König von Sachsen
Sachsen-Coburg und Gotha 1865 bis 1936 1865 bis 1932
1861 bis 1948 1917 Änderung des Namens 1918 Abdankung und
1887 Ferdinand I. Saxe-Coburg and Gotha Enteignungen in Sachsen;
Fürst der Bulgaren; in Windsor 1919 Abschaffung der Adelsprivilegien
1908 Zar der Bulgaren; durch die Weimarer Reichsverfassung
1918 Abdankung
Manuel II. König von Portugal König George VI. Friedrich Christian
1889 bis 1932 1895 bis 1952 Markgraf von Meißen
Regentschaft endet 1910 1893 bis 1968
mit Ausrufung der Republik zwischen 1945
Simeon II. Königin Elizabeth II. und 1949 erneute
geboren 1937 geboren 1926, Enteignungen
als Minderjähriger 1943 bis 1953 Krönung zur
1946 der letzte Zar der Bulgaren; Königin des Ver-
König Philippe 1946 Verlust der Thronrechte einigten König- Alexander
geboren 1960 nach einer Volksabstimmung reichs Groß- Prinz von Sachsen
belgischer König über die Staatsform; britannien Herzog zu Sachsen
seit 2013 zwischen 2001 und 2005 unter und Nord- Markgraf von Meißen
dem Namen Simeon Sakskoburg- irland geboren 1953
* Auswahl aus den gotski Ministerpräsident der seit 1997 Oberhaupt
Stammeslinien Republik Bulgarien des Hauses

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 25


Edle Mannen
in schwerer Rüstung
Von Johannes Saltzwedel

Ritter haben das Bild des mittelalterlichen


Adels geprägt. Pracht und Risiko der höfischen Lebensform
wurden zum Mythos.

26 M ITTELALTER
Wehrhaft ragende
Mauern, kunstvoll
durch Gräben und
Tore geschützt:
Burgen – hier Burg
Eltz in der Eifel –
sind seit dem ho-
hen Mittelalter ein
Symbol des Ritter-
tums. Rüstungen
wie die abgebildete
von Schloss Am-
bras bei Innsbruck
wurden aber erst im
späteren Mittelalter
üblich.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 27


G
lanzvoll war Kaiser Heinrich VI. im No- Hoftag im apulischen Bari die persönliche Freiheit
vember 1194 im sizilischen Palermo ein- – und dazu auch gleich das Herzogtum in Ravenna
gezogen. Wieder war er seinem Traum und der Romagna sowie die Markgrafschaft
eines europäischen Imperiums näher- Ancona als Erblehen.
gekommen. Und der Staufer wusste genau, wem Aus dem dienstbaren Untertan ohne Haus-
er diesen Erfolg zu verdanken hatte: Markward macht war fast im Handumdrehen ein adeliger
von Annweiler. Landesherr geworden, der bald weite Abschnitte
Der kluge, ritterlich gewandete Markward hatte der Adriaküste kontrollierte.
wohl schon an Heinrichs Erziehung mitgewirkt. Natürlich war Markwards Aufstieg zu höchsten
Vom Amt des Truchsessen, in dem es so komplexe Ritterehren etwas Ungewöhnliches. Aber mit sei-
Dinge wie die Verwaltung der kaiserlichen Pfalzen ner Anerkennung ehrte Heinrich ihn als Vorbild:
und das diplomatische Protokoll zu organisieren Wehrhaft, ergeben und doch eigenständig verant-
gab, war er in die Außenpolitik aufgerückt. Unter wortungsvoll sollte ein Ritter sein; alte aristokra-
Heinrichs Vater, Friedrich Barbarossa, hatte Mark- tische Ideale von Unabhängigkeit und erblicher
ward im Ersten Kreuzzug geholfen, die Festung Grundherrschaft verschmolzen mit dem Bild des
Nikitz bei Adrianopel zu erobern, später war er treuen Dienstmannen und des christlichen Strei-
als Gesandter in Konstantinopel gewesen. Eben ters. Aus kaiserlicher Sicht konnte es gar nicht
erst hatte er die misstrauischen Seemächte Genua genug solcher weitblickenden Ritter im Dienst des
Weiter Blick
und Pisa auf des Kaisers Seite gebracht. Bald sollte Reiches geben.
Die Burg Hohen- ganz Sizilien unter staufischer Kontrolle stehen. Freilich steckte die »Reichsaristokratie« (wie
zollern vor der Dabei agierte das politische Multitalent keines- der Mediävist Hubertus Tellenbach sie genannt
Schwäbischen Alb, wegs unabhängig. Markward kam aus einfachen hat) vor 1200 noch in den Anfängen. Früher waren
Stammsitz der
späteren preußi-
Hofbeamtenkreisen; zumindest auf dem Papier für kleine Grundherren Scharmützel unterein-
schen Königsfamilie, war er bislang ein Höriger gewesen, den sein Herr ander so alltäglich gewesen wie Essen und Schlaf;
wurde 1267 erst- verschenken oder verkaufen konnte. »Ministeria- Raubzüge hatten, so formulierte es der akribische
mals erwähnt, spä- le« wie er blieben Werkzeuge, im schlimmsten Fall Sozialhistoriker Marc Bloch, geradezu als aristo-
ter jedoch zerstört.
Der heutige histori-
Handlanger. kratischer »Lebenszweck« gegolten. Dieses raue
sche Prunkbau wur- Das sollte sich für Markward nach dem sizili- Dasein war erst durch das Lehenswesen deutlich
de 1867 vollendet. schen Erfolg ändern. Heinrich verlieh ihm beim zivilisiert worden, vor allem, weil die meisten Le-

28 M ITTELALTER
»Erst als
man begann,
den Gebrauch
der Waffen
moralisch zu
rechtfertigen,
wurde aus
hen um die Mitte des 11. Jahrhunderts erblich ge- temachens nicht in die Hölle zu kommen. Bald
dem adeligen worden waren. wurde dieses positive Image durch mönchisch or-
›Krieger‹ Als der Jurist Eike von Repgow im 13. Jahrhun- ganisierte Elitetruppen wie die Johanniter oder
ein ›Ritter‹.« dert seinen »Sachsenspiegel« verfasste, stellte er den Templerorden zusätzlich verklärt.
zwar eine säuberliche »Heerschildordnung« auf, Kein Wunder, dass im hohen und späteren Mit-
die vom König an der Spitze bis hinab zu den letz- telalter ein regelrechter Kult um die Daseinsform
ten kleinen »Hintersassen« reichte. Doch das hatte des Ritters und der höfischen Eleganz herrschte.
»weitgehend nur theoretische Bedeutung«, wie der Als Parzival, der Titelheld im großen Versepos des
Mediävist Joachim Bumke warnt. Gerade die An- Wolfram von Eschenbach (um 1220), eines Mor-
ziehungskraft des Ritterstandes belegt, wie durch- gens zum ersten Mal in seinem Leben drei Berit-
lässig die Schichten blieben. Begüterte Lehensleute tene »von Fuß auf gewappnet« heranpreschen
mussten dem König Kriegsfolge leisten und stellten sieht, fällt er ehrfürchtig auf die Knie: »Der Knap-
auch berittene Kämpfer. Diese Reiterkrieger, kei- pe glaubte ohne Spott, / ein jeglicher sei ein Gott.«
neswegs immer Adlige, waren Keimzelle des Rit- Einer der Kämpen trägt über der Rüstung kost-
tertums; ihre steinernen Wohntürme oder kleinen bare Gewänder: »Im Tau schleppte der Mantel-
Kastelle bildeten den Ursprung der Burgen. saum. / Güldene Schellen, kleine, / hörte er vor
Zur Zeit Heinrichs VI., in einer Epoche des kräf- dem Beine / an den Bügelriemen klingen, /die
tigen Bevölkerungswachstums, war das Rittertum hinab zum Fuße gingen. / Sein rechter Arm von
ein sozialer Schmelztiegel, denn es bekam Zulauf Schellen klang, / wenn er ihn bot oder schwang, /
von beiden Seiten: Aufstrebende Ministeriale wie damit es beim Schwertwechsel so tönt. / Der Held
Markward sahen hier die Chance zu Ruhm und war an Preis gewöhnt. / So ritt der Höfe Zierde /
baldiger Freiheit, aber auch Abkömmlinge der al- in köstlicher Zimierde«, heißt es in der Überset-
ten Hofaristokratie lockte das Ansehen des tugend- zung von Wolfgang Mohr.
haften Kämpfers. Herkunftsstolz, aristokratische
Haltung und die Ideologie vom »edlen« Rittertum Klar, dass der ahnungslose junge Parzival am
verschmolzen in einem geradezu mythischen liebsten auch solch ein »Kunstwerk Gottes« mit
Adelsideal. Entscheidend beschleunigt wurde die- blinkendem Panzer, Kettenhemd und Glöckchen-
se Entwicklung durch die Kreuzzüge seit 1095. zier werden möchte. Dabei hatte seine Mutter Her-
»Erst als man begann, den Gebrauch der Waffen zeleide gerade dies verhindern wollen, war doch
moralisch zu rechtfertigen, wurde aus dem adeli- ihr heldenhafter Mann auf Kriegszügen umgekom-
gen ›Krieger‹ ein ›Ritter‹«, sagt Joachim Bumke men. Nicht lange, und Parzival führt tatsächlich
pointiert. Der »miles christianus« übte sein vor- das Schwert, sogar von des legendären König
dem sündiges Waffenwerk endlich mit Gottes Se- Artus’ Gnaden. Aus Wolframs Reimerzählung er-
gen aus: Er durfte hoffen, trotz Leichen und Beu- fuhren die Zuhörer in allen Details, was ein edler,
tapferer Ritter so tut oder tun sollte: Kämpfe gegen
Monster und Unholde, sittsam-kluges, tugendhaf-
tes Benehmen in der Gesellschaft, Beistand für
Schnelles Wie viele mittelalterliche schöne, bisweilen kapriziöse Frauen und manch-
Wissen
Burgen gab es? mal auch zarte erotische Bande zu ihnen.
Literarische Überhöhungen des ritterlichen Da-
Mittelalterliche Burgen definiert das »Europäische Burgeninstitut« seins wurden von 1200 an eine Hauptattraktion
als befestigten Sitz eines Adeligen. Burgen dienten nicht nur der der Adelshöfe Mitteleuropas. In hochstilisierter
Verteidigung, sondern waren lokale Verwaltungszentren: Hier wurden Liebeslyrik, dem Minnesang, ging es gewitzt um
Abgaben gesammelt und Zölle erhoben, hier wurde Recht gesprochen. Leidenschaft, Psychologie und stilvolles Miteinan-
Wie viele Burgen es einst gab, ist unklar, denn bisher hat niemand der. Meist wurden die Stücke von professionellen
sie gezählt. Nun hat das Europäische Burgeninstitut damit begonnen; reisenden »Troubadours« gedichtet und gesungen;
in einer Hochrechnung der bisher gezählten Exemplare schätzen die aber auch Regenten und adlige Herren versuchten
Experten, dass es einst zwischen 20 000 und 25 000 Burgen auf dem sich als Minnesänger.
Gebiet des heutigen Deutschland gab. Noch viel mehr waren es in Die erzählende weltliche Dichtung wurde erst
ganz Europa, doch hierzu fehlen Zahlen bislang völlig. Übrigens leb- recht zum geistreichen Spiel mit den neuen Idea-
ten nicht alle Adeligen auf Burgen, einige wohnten auch in Städten. len. Von Anfang an ging es dabei um mehr als ade-

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 29


Ein Pferd, ein Schwert
und ein warmes Bad
A d e l m a c h te n o c h ke i n e n R i tte r – d a f ü r b e d u r f te
es einer eigenen Zeremonie. Der bis heute bekannte
R i t t e r s c h l a g k a m e r s t i m s p ä t e r e n M i t t e l a l t e r a u f.

A uch der höchste Adel machte einen jungen


Mann nicht von selbst zum Ritter – das
wurde man erst durch eine besondere
Seit etwa 1250 wurde es allerdings üblich,
dass ganze Scharen junger Leute auf einmal
dem Ritterstand beitraten. Vor allem während
Zeremonie. Zunächst hieß dieser weihevolle der Kreuzzüge fand die Zeremonie häufig im
Akt »Schwertleite«, weil der Herr seinem un- Feld statt – zum Beispiel vor oder nach einer
tergebenen Knappen, oft der Vater dem Sohn, Schlacht, als Anreiz oder Belohnung. Bis zu
die Waffe am Wehrgehenk umlegte. Zuvor hatte 200 Kandidaten nacheinander zu umgürten hätte
gewöhnlich ein Priester das Schwert gesegnet. Da- jedoch zu viel Zeit gekostet. Wohl hauptsächlich
nach wurden dem neuen Ritter meist noch seine deswegen fand man für den Verleihungsakt eine
Sporen angelegt sowie Schild und Speer über- neue Form: Entweder die Knappen reckten
reicht, damit er gänzlich wehrhaft war. kniend ihre neuen Schwerter nach oben, und
Natürlich signalisierte der ganze Vorgang der Herr berührte kurz deren Spitze, oder der
auch den Übergang zur Volljährigkeit. In der Herr gab den gebückt Knienden unter mahnen-
Regel fand die Initiation in den Worten einen befrei-
festlichem Rahmen statt; end-verpflichtenden sanf-
so machte Kaiser Fried- ten Schlag an den Hals
rich I. Barbarossa 1184 oder auf den Nacken –
die Schwertleite seiner bei- zuerst mit der bloßen
den Söhne Friedrich und Hein- Hand, dem Zepter oder ei-
rich zum Mittelpunkt des prunk- nem Stab, bald dann mit sei-
vollen Mainzer Hoftages. Für die jun- nem Schwert.
gen »Schwertdegen« – meist etwa 14 bis 17 Jahre Der Historiker Wilhelm Erben hat
alt – gab es Geschenke, zum Beispiel kostbare Ge- akribisch aus Quellen ermittelt, dass sich diese Art
wänder; anschließend veranstaltete man, wenn der Ritterweihe von etwa 1350 an durchsetzte. Der
möglich, ein zünftiges Turnier. »Ritterschlag«, dem Zeremoniell der Lehensnahme
Natürlich ließ sich der Ablauf ausbauen: In recht ähnlich, wurde für die Nachwelt zum festen
Frankreich etwa bezeugten die Kandidaten bis- Symbol; jahrhundertelang hielt man in Adelskrei-
weilen durch ein warmes Bad, eine Nachtwache sen daran fest, selbst als es schon längst keine Rit-
in der Kirche und frische Kleider, dass sie ihren terheere mehr gab. Noch 1764 durfte der spätere
neuen Ehrenstand körperlich und seelisch rein an- Kaiser Joseph II. nach seiner pompösen Krönung
traten. Sie legten ein Gelübde ab, und auch von zum Deutschen König in Frankfurt schließlich auch
einem Gottesdienst im Anschluss an die Schwert- einen ersten Ritterschlag ausüben. Er selbst nannte
leite ist manchmal die Rede. in einem Brief an seine Mutter Maria Theresia die
Da der Ritterstand Privilegien und finanzielle steifen Feierlichkeiten trocken »une vraie comédie«,
Vorteile bot, mussten Kaiser und Fürsten schon eine wahre Komödie. Johannes Saltzwedel
bald Beschränkungen gegen den Andrang erlas-
sen. So verfügte Barbarossa 1186, dass Söhne von
Glanzvolle Symbolik
Priestern, Diakonen oder gar Bauern nicht ein- Mit diesem Prunkschwert schlug August
fach zu Rittern gemacht werden könnten; offen- der Starke von Sachsen 1722
bar hatte es solche Fälle gegeben. seinen Sohn zum Ritter vom Goldenen Vlies.

30 M ITTELALTER
lige Superhelden in blitzendem Eisen. Die Haupt- ergänzte; Stammbäume oder Familiengrabmale Rekordbau
figuren mussten sich bewähren; der »Parzival« wirkten dank der bunten Zier sowieso viel hübscher. Im bayerischen
Burghausen erhebt
handelt letztlich von der Suche nach dem geheim- Begeistert tüftelten Heraldiker immer subtilere Ge- sich die längste
nisvollen »Gral« und dem Ritterorden, der ihn hü- schlechterzeichen und Wappenregeln aus. Burg der Welt – mit
tet. In seinem nächsten Versroman »Willehalm« All dies war für Enguerran de Coucy (1340 bis ihren umfangrei-
fragt Wolfram dann sogar, ob ein Ritter feindliche 1397), den Siebten dieses Namens, schon selbst- chen Wohn- und
Wehranlagen misst
Heiden, nämlich die muslimischen Kreuzzugsgeg- verständlich. Seine fünftürmige Burg in der Picar- die Anlage über
ner, bedenkenlos abschlachten darf – sind sie denn die kontrollierte die Region; der Festungsturm in einen Kilometer.
nicht auch von Gott erschaffene Menschen? der Mitte, rekordverdächtige 30 Meter breit, nahm Ausgebaut wurde
im Ernstfall 1000 Menschen auf. Schon 1216 hatten der um 1000 ge-
gründete Adelssitz
Zum Glanz der Ideologie vom christlich-tugend- die Coucys für Feldzüge 30 Ritter stellen müssen, vor allem von
haften, adeligen Ritter trugen die parallel auf- nur 4 weniger als das Herzogtum Anjou. den Wittelsbachern
kommenden Turniere viel bei. Entstanden aus Zwölf Wappen zeugten von Generationen klu- um 1500.
militärischem Training, entwickelten sich die ger Heiratspolitik und entsprechend stattlichen
durchaus riskanten Wettkämpfe allmählich zur Ländereien. Bei allem Reichtum musste man stets
Show-Sportart mit kompliziertem Regelwerk. auf der Hut sein: Scharen von Briganten-Kompa-
Aber das ursprüngliche Szenario blieb: Schwer nien, Trupps aus entwurzelten Rittern, Bastarden
gerüstet preschten zwei Reiter in Kampfbahnen und anderen Freibeutern, machten seit der Pest-
aufeinander zu und versuchten, den Gegner mit epidemie 1348 das Land unsicher. Mit 18 musste En-
eingelegter Lanze aus dem Sattel zu heben. guerran VII. erst einmal als Geisel nach England,
Ein von Kopf bis Fuß gepanzerter Streiter war das nach zermürbenden Kriegsjahren ein bitteres
nur durch äußere Zeichen erkennbar, am deutlichs- Friedensdiktat über Frankreich verhängt hatte.
ten an den Mustern und Symbolen auf seinem Immerhin kam der junge Aristokrat am schwel-
Schutzschild. Schon um beim Turnier nicht ver- gerisch-eleganten Hof von Windsor so gut an, dass
wechselt zu werden, legte jeder ritterlich Gewapp- er Ende 1365 die Königstochter Isabella von Eng-
nete Wert auf ein individuelles Wappen. Im Deut- land als Gemahlin heimführen durfte – und es fort-
schen macht die enge Wortverwandtschaft zwi- an ablehnte, mit seinem Schwiegervater jenseits
schen »Waffe« und »Wappen« hörbar, wie gut der des Kanals Krieg zu führen. Lieber zog er auf ei-
neue Brauch das ritterliche »Schild-Amt« (Wolfram) gene Rechnung ins Feld, zum Beispiel für den

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 31


und damit Fakten schuf: Kaiser Maximilian per-
sönlich.
Der Habsburger Maximilian (1459 bis 1519) war
eben dabei, sich die ungarische Krone zu sichern.
Das pompöse »Gesellenstechen« der jungen, begü-
terten Herren sah der stets kapitalschwache Kaiser
als Chance, sich Sympathie und Kontakte beim neuen
Geldadel zu verschaffen. Hinzu kam, dass Maximili-
an, eminent traditionsbewusst, für Adelsbräuche wie
den Turniersport ehrlich begeistert war – und erst
Strategischer Ort Papst oder gegen die Österreicher ins Elsass und recht für die Ideologie des christlichen Rittertums.
An der Burg Stahl- die Schweiz (1375/76). Bisweilen überdeckten Fes- In einem monumentalen »Heldenbuch« ließ er
eck bei Bacharach
am Rhein imponiert
te voll verschwenderischer Pracht »wie ein vergol- später wichtige Sagen, darunter das komplette Ni-
die Lage, von der detes Leichentuch« das Seuchen- und Kriegselend belungenlied, bündeln. Gedruckte Prachtwerke,
aus man den Fluss der Epoche, schreibt Enguerrans Biografin Barbara zum Beispiel über den vorbildlichen Ritter »Theu-
kontrolliert. Gut zu Tuchman. erdanck« oder den »Weiß kunig« (weisen König),
erkennen sind die
Wehrgänge auf den
Bis nach Nordafrika sollten ihn seine Waffen- die er selbst mitverfasste und von den besten
Mauern, der Wohn- gänge führen. Als 1396 ein Heer von 10 000 Kreuz- Künstlern ausstatten ließ, feierten das Leitbild des
trakt (Palas) links rittern aus ganz Europa unter König Siegmund edlen, tapferen Aristokraten.
und der dickwandi- von Ungarn in der Schlacht vor der Balkanfestung
ge Turm als letzte
Nikopolis den Truppen des Sultans unterlag, kam Zukunftsfähig aber waren solche Muster kaum
Zuflucht. Der um
1100 begonnene, Enguerran de Coucy, der schon zu Lebzeiten als noch. Gleich nach dem Tod Maximilians, den
später schwer »erfahrenster und klügster aller Ritter Frankreichs« schon seine Zeitgenossen als »letzten Ritter« auf
beschädigte Bau gegolten hatte, mit etlichen Standesgenossen – da- dem Kaiserthron betrachtet hatten, brach die Re-
ist heute restauriert
und dient als
runter dem Erbprinzen von Burgund – in Gefan- formation los. Sozialrevolutionäre wie der Bau-
Jugendherberge. genschaft, die er nicht überlebte. ernführer Thomas Müntzer wandten sich radikal
Zunehmend entwickelte sich der hohe europäi- gegen alle Adelsprivilegien. Als 1563 in Frankfurt
sche Ritteradel zu einer auch geistig weithin abge- am Main eine Abhandlung »Vom Ursprung, An-
kapselten Sonderwelt. Fast verstiegen exklusiv – fang und Herkommen des Adels« aus der Feder
und gerade deshalb doch auch maßstabsetzend – des eben verstorbenen Festungsfachmanns Graf
war der 1430 im reichen, kunstsinnigen Burgund Reinhard zu Solms erschien, wirkte es wie ein nos-
gestiftete, noch heute existierende »Orden vom talgischer Rückblick auf große Zeiten.
Goldenen Vlies«. Nur 24 Ritter mit je vier adligen Tapfer wurde da behauptet, ohne Adel hätte es
Ahnen durften dieser Champions League europäi- kein Deutsches Reich gegeben, denn nur er habe
scher Fürstenhäuser angehören. »die Tugent des Gemeynen nutzs« garantiert. Vor-
Zugegeben: Längst konnte man damals durch bildlich hätten Adelige mit »tugent, vernunfft und
ein vom König ausgestelltes Privileg (»Lettre de no- geschicklickkeyt« seit Jahrhunderten für Stabilität
blesse«) ebenfalls adelig werden. Aber oft kam das gesorgt – so solle es auch künftig sein.
nicht vor. In der Regel blieben Adelsrechte sogar An der politischen Wirklichkeit ging das weit
Großbürgern verwehrt. Doch dass sich die Regeln vorbei: Überall bestimmte die neue Finanzober-
verändern konnten, zeigte sich 1491 in Nürnberg. schicht aus Händlern und Großbürgern das Ge-
So manche der Patrizier in der blühenden Han- schehen; höfische Lebensformen hatten sich in Ge-
delsstadt stammten aus Adelshäusern; Wirtschafts- sellschaftsspiele der Höflichkeit verwandelt.
macht und Feudalerbe hatten sich schon seit ge- Handbücher dafür gab es allerdings genügend.
raumer Zeit hier wie in vielen Städten zukunfts- Sie konservierten den überlebten ritterlichen
weisend verbündet und versippt. Adelsmythos des Mittelalters als Stilideal, das noch
Stolz richteten diese reichen Kaufleute nun für immer nachwirkt – von den Umgangsformen des
ihre aufstrebenden Söhne Ritterspiele aus. Zwar gebildeten, weltgewandten »Hofmannes« der Re-
ärgerte das den Landadel, der das Turnierrecht naissance über den Kavalier des Barock bis zum
für sich allein beanspruchte. Aber die Klagen ver- beinahe zeitlosen »Gentleman«, der auch heute
stummten, als sich ein hoher Gast anmelden ließ ritterlich allen Damen den Vortritt lässt. 

32 M ITTELALTER
D I E W I T T E L S BAC H E R
In 839 Jahren brachte das Haus Wittelsbach mehr als 130 regierende
Fürsten hervor. In der Rückschau überstrahlen zwei
alle anderen – zu ihrer Zeit waren sie der Familie eher peinlich.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Elisabeth von Österreich, 1837 bis 1897. Ludwig II., König von Bayern, 1845
1180 Für viele war »Sisi« die schönste Frau
der Welt, für die Ungarn eine Art Mutter
bis 1886. Die Schlösser des »Märchen-
königs« sind heute weltberühmt, doch
der Nation: Mit ihrer Unterstützung Ludwig entzog man wegen der horren-
bekamen sie eine Verfassung. Elisabeth den Baukosten die Krone. Zuvor wurde
S TA M M S I T Z war davon überzeugt, dass das Ende der er für geisteskrank erklärt, Hinweise
Burg
Herrscher von Gottes Gnaden absehbar dafür gab es seit seiner Jugend. Ludwig
Wittelsbach
sei (siehe auch rechts). [1] wurde immer seltsamer, weder bereit
noch in der Lage, die Pflichten eines
Rupprecht von Bayern, 1869 bis 1955. Königs zu erfüllen. Sein rätselhafter Tod
Lehnte das NS-Regime ab und bezahlte ist heute Teil seiner Legende. [4]
S TA M M L A N D E dafür: Er floh 1939 ins Exil. Frau, Sohn
Bayern (Region
und zwölf Verwandte sperrte man 1944 Elisabeth von Österreich. Heute zur
Augsburg)
ins Konzentrationslager. Nach dem Krieg Kultfigur romantisiert, fand »Sisi« zu Leb-
Fürsprecher einer föderalistischen Neuord- zeiten in ihrem Umfeld wenig Zuspruch.
nung. Sein Vermächtnis besteht auch in Für den Hochadel war sie bestenfalls eine
der Hoffnung, dass es doch noch einmal Außenseiterin, wenn nicht gar Feindin. So
HÖCHSTE einen bayerischen König geben könnte. oft sie konnte, verließ sie Wien, ihren kai-
ÄMTER Manchem Bayern wäre das wohl recht. [2] serlichen Pflichten kam sie kaum nach. [2]
[GESCH ICHTE]

BEDEUTENDSTE LEISTUNG G R Ö S S T E R S K A N DA L
Kaiser in zwei,
Könige in sieben
Ländern
Der Erhalt des Katholizismus in Bayern Ob Morde, Einweisungen, Intrigen: Die
gegen starke reformatorische Kräfte im Wittelsbacher produzierten zahllose – teils
16. und 17. Jahrhundert legte die zukünfti- im Wortsinn irre – Skandale. Besonders
[ G E G E N WA R T ]
ge kulturelle, aber auch wirtschaftliche pikant: die Abdankung König Ludwig I.
keine
Entwicklung des Landes fest. Maximilian im Jahr 1848 wegen seiner Affäre mit
I. war dabei die treibende Kraft als der angeblich aus Spanien stammenden
Mitbegründer der katholischen Liga. [3] Tänzerin Lola Montez. [5]

BERÜH MTE
RESIDENZEN

Zum Beispiel das


Innenstadtschloss
in München,
weltweit bekannt
ist auch das
»Märchenschloss« [1] [2] [3] [4] [5]
Neuschwanstein.

Bekannte Köpfe heute: Ludwig Prinz von Bayern, IT-Unternehmer und Entwicklungshelfer.
Lebt meist in Kenia, wo er Tech-Start-ups auf die Sprünge hilft. Die meiste mediale
Aufmerksamkeit wird wohl Erbprinzessin Sophie ernten: spätestens wenn ihr Gatte eines
Tages Staatsoberhaupt von Liechtenstein wird.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 33


Chronik
Der Adel in Deutschland
Um 750 Schon im Frankenreich gibt Ab circa 1100 Der Titel »Graf« dient Bulle« regelt nun die Modalitäten für
es neben dem König führende Fami- nun zur Kennzeichnung von Würde diese Wahl: Wahlberechtigt sind nur
lien, die über Macht, Ansehen und und Rang einer Familie. Ebenso wie noch die sieben Kurfürsten (siehe Sei-
Besitz verfügen und regional auch der Graf war auch der »Herzog« te 43).
herrschen. Die Karolinger gliedern ursprünglich ein königliches Amt.
lokale Machthaber in ihr Reich ein, Auch dieser Titel wird nun 1360 Kaiser Karl IV. erhebt
nun formt sich ein Kreis von Familien, vererbt und ist ein Rang- den Spross einer mäch-
der zunehmend die wichtigsten kennzeichen. Siegel und tigen Frankfurter Fami-
Ämter im Reich für sich beansprucht: Wappen sollen die lie durch einen kai-
Diese Familien bilden eine frühe Adelsgeschlechter serlichen Gnadenbrief
»Reichsaristokratie«. repräsentieren. in den Adelsstand.
Solche Nobilitie-
Um 1000 Im Lehnswesen werden Ab 1180 Der »Reichs- rungen gab es zu-
Ämter und die Verfügung über Güter fürstenstand« besteht nächst in Frankreich.
im Adel erblich. Indem kleine Vasal- aus geistlichen (zunächst Es dauert oft Genera-
len aus dem Dienst für den König in etwa 92) und weltlichen tionen, bis ein Aufsteiger
jenen von Fürsten wechseln, festigt (etwa 20) Fürsten. Sie unter- Kaiser Karl IV. tatsächlich im Adel aner-
stehen lediglich dem König. (1316 bis 1378) kannt ist.

Ab 1200 Aus der Masse der Ministe- Ab 1400 Einige Fürsten, Grafen und
rialen entwickelt sich der niedere Bischöfe können ihre Macht steigern,
Adel, daraus bildet sich später unter sie bündeln und sammeln Rechte und
anderem die »Reichsritterschaft«. entwickeln sich so zu Landesherren,
Manche Bischofssitze gelangen unter die über Territorien herrschen. Inner-
die Kontrolle von Adelsfamilien. halb dieser Landesherrschaften ent-
Die Bischöfe stammen oft aus dem steht in vielen Territorien der »land-
Grafenstand oder dem niederen Adel. sässige Adel«, er untersteht der Herr-
schaft des jeweiligen Landesherrn.
Um 1225 Die Heerschildordnung Die Nähe zum fürstlichen Hof ge-
im »Sachsenspiegel«, einer Sammlung winnt an Bedeutung für den Adel.
Wartburg in Eisenach geltender Rechte, zeigt eine lehns-
rechtliche Stufenordnung des Adels: Um 1500 Der Adel macht einen An-
sich eine Hierarchie innerhalb des Die Spitze bildet der König, es teil von etwa 1,5 Prozent der Gesamt-
Adels. Burgen werden nun zu Adels- folgen die geistlichen Fürsten, dann bevölkerung aus. Seine Vorrechte
sitzen, um die herum Herrschafts- die weltlichen, auf dem vierten umfassen einen besonderen Gerichts-
bereiche entstehen. Die Familien Schild stehen die Grafen und freien stand, Privilegien im Kriminalprozess,
nennen sich häufig nach dieser Herren, darunter weitere Vasallen. wie zum Beispiel die Hinrichtung mit
Stammburg, Dynastien und Adels- dem Schwert, besondere Erbrechte
geschlechter bilden sich heraus. 1356 Der König wurde traditionell und Sonderrechte bei Jagd, Zoll und
von Adeligen gewählt. Die »Goldene Steuern. Nicht zuletzt gibt es spezielle
Ab 1060 Die ursprünglich unfreien Regelungen hinsichtlich der Kleidung
»Ministerialen«, Dienstmannen des und der Anrede sowie das Recht auf
Königs und später auch anderer Adeli- einen eigenen Kirchenstuhl. Für seine
ger, die zunächst Güter verwalteten, Untertanen ist der Adelige der Ge-
entwickeln sich zu einem eigenen richtsherr.
»Stand«. Einigen von ihnen gelingt
der Anschluss an den Adel, bisweilen Ab 1550 In der Verwaltung der früh-
auch über Bischofsämter. Die Minis- neuzeitlichen Territorien spielen die
terialen könnten das Ritterideal mit Adeligen eine große Rolle, etwa als
seinem ausgeprägten Dienstgedanken Geheimräte oder Minister. Auch diplo-
beeinflusst haben. Die »Goldene Bulle« von 1356 matischer Dienst oder Militärdienst

34 ÜBERBLICK
sind unter Adelssöhnen gefragt (Töch- 1848 Die Revolution von 1848/49
ter werden in der Regel verheiratet stellt den Adel grundsätzlich infrage:
und haben keine eigenen Berufe, eine Die Frankfurter Nationalversamm-
Ausnahme sind Äbtissinnen und Stifts- lung beschließt, den Adel und seine
damen). Darüber hinaus gelten noch Einzug Napoleons in Berlin 1806 Privilegien abzuschaffen. Doch
die Verwaltung ererbter Güter, die un- weil die Revolution scheitert, behält
ternehmerische Tätigkeit in der Land- 1806 Unter dem Einfluss von Napole- der Adel eine Sonderstellung.
wirtschaft oder – zumindest für Katho- on endet mit der Unterzeichnung der
liken – die Versorgung durch eine Kar- Rheinbundakte das »Heilige Römi- 1874 Nach der Gründung des Deut-
riere in der Kirche als standesgemäß. sche Reich Deutscher Nation«, letzter schen Reichs formiert sich die Deut-
Kaiser war Franz II. Viele Kleinstaa- sche Adelsgenossenschaft (DAG).
ten und Reichsstädte werden unter Ihre Ziele sind die Erhaltung adeligen
französischer Besatzung oder im Grundbesitzes, die Verhinderung
Reichsdeputationshauptschluss von sozialen Abstiegs unter Adeligen und
1803 mediatisiert, also in größere Ter- die Bindung aller Standesgenossen an
ritorien integriert. Insbesondere im strenge konservative Grundsätze in
Westen und Süden des Reichs wird Sachen Familie, Stand und Politik.
die adelige Macht beschnitten. Auch
die Reichsritterschaft ist aufgehoben.

1807 Das Oktoberedikt in Preußen


hebt die alte Ständeordnung auf. Die
Erbuntertänigkeit von Bauern ist fort-
an Geschichte, sie werden zu Eigen-
tümern ihrer Bauernhöfe. Nun darf
Hofbeamte des 17. Jahrhunderts jeder Bürger – und nicht wie bisher
lediglich der Adel – Rittergüter
Um 1750 Der Preußische König Fried- kaufen und besitzen.
rich II. macht den Adel zur staatstra-
genden Schicht in Preußen. In sei- 1815 Statt wie bisher nur der Kaiser
nem politischen Testament schreibt er und wenige andere Regenten können
1752: »Der Herrscher soll es als seine nun alle deutschen Landesfürsten
Pflicht ansehen, den Adel zu schützen, Standeserhöhungen in den Adel vor-
der den schönsten Schmuck seiner nehmen. Im Gebiet des Deutschen Gründung des Deutschen Reichs 1871
Krone und den Glanz seiner Armee Bundes gibt es jetzt noch 36 regieren-
ausmacht.« de Häuser. Außerdem wird auf dem 1919 Die Revolution von 1918/19
Wiener Kongress eine neue Gruppe stürzt den Kaiser. Mit der Weimarer
1794 Ungeachtet der Gleichheitsideen des Hochadels geschaffen: Die ehe- Reichsverfassung werden dem Adel
der Französischen Revolution von mals regierenden, nun mediatisierten Privilegien und Titel genommen. In
1789 festigt das Allgemeine Land- Häuser (um die 70) werden zu Österreich wird das »von« aus den
recht für die Preußischen Staaten »Standesherren«. Sie gelten als den adeligen Namen getilgt, in Deutsch-
die Rechte des Adels wei- regierenden Häusern land hingegen wird es zum Namens-
ter. Dort heißt es: »Dem ebenbürtig und behal- bestandteil. Der politische Einfluss des
Adel, als dem ersten Stan- ten erhebliche Herr- Adels nimmt in der Demokratie mas-
de im Staate, liegt, nach schafts- und Ehrenrech- siv ab. Hausgesetze wie eigene Hei-
seiner Bestimmung, die te, Privilegien wie die rats- und Erbregeln sollen aufgehoben
Vertheidigung des Staats, Freiheit von Militär- werden. Insbesondere die Abdankung
so wie die Unterstützung dienst und Steuern und des Kaisers und der noch verbliebe-
der äußern Würde und in- das Recht auf bestimm- nen regierenden Fürsten – zentrale
nern Verfassung derselben, te Anreden wie »Durch- Symbole gesellschaftlicher Ungleich-
hauptsächlich ob.« laucht« und »Erlaucht«. heit – schockieren viele Adelige tief.

Kaiser Franz II. (1768 bis 1835)


SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 35
Die Habsburger Monarchen
regierten mithilfe loyaler Adeliger
wie der Familie Liechtenstein.
Es war ein Geschäft auf
Gegenseitigkeit – dessen Regeln
sich immer wieder änderten.

Ergebenst
dienen
zum eigenen
Vorteil

Von Torben Müller

E
s ging um alles für Rudolf von Habsburg
am 26. August 1278. Um seine Macht,
seinen Titel, sein Leben. Jahrelang hatte
der inzwischen 60-Jährige mit dem böh-
mischen König Ottokar II. Premysl gestritten, denn
der wollte die Wahl Habsburgs, des Emporkömm-
lings aus dem Alemannischen, zum König des Hei-
ligen Römischen Reichs nicht akzeptieren. Nun
kämpften die Rivalen auf dem Marchfeld nahe der
Getümmel
österreichischen Stadt Dürnkrut die entscheidende Die Schlacht auf
Schlacht. dem Marchfeld
Unter den Getreuen des Habsburgers warteten 1278 gilt als eine
auch die Brüder Friedrich und Heinrich II. von der größten Ritter-
schlachten Europas
Liechtenstein auf ihren Einsatz. Ihr Vater hatte (Darstellung von
einst König Ottokar und dessen Vorgänger Wenzel Julius Schnorr von
gedient. Nach dessen Tod aber hatten sich die Carolsfeld, 1835).
österreichischen Stände gegen den Böhmen ge-
wandt, und auch die Söhne der Familie Liechten-
stein waren zum römischen König übergelaufen.
Im Kampf gegen Ottokar ging es nicht nur um die
Macht des Habsburgers Rudolf, sondern auch um
die Zukunft der Familie.
Beinahe schon geschlagen, griff Rudolf zu ei-
nem Trick. Eine versteckte Reservetruppe mit

36 H ERRSCHAFT
SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 37
rund 60 Rossen brach hervor, griff die verdutzten
Feinde von der Flanke aus an und spaltete deren
Heer. Die Ritter, die durch die Sehschlitze ihrer
Topfhelme kaum etwas erkennen konnten, ergrif-
fen die Flucht. Ottokar selbst kämpfte weiter – bis
ihm ein Schwerthieb den Kopf spaltete. Rudolf
hatte an diesem Tag nicht nur seinen Titel vertei-
digt, sondern auch Österreich und die Steiermark
von seinem Widersacher erobert. Mehr als 600
Jahre lang sollten diese Territorien die Basis der
Habsburger bleiben. Sie waren Ausgangspunkt
einer beispiellosen Karriere: Von 1438 bis 1806
stellte die Familie fast durchgehend den König und
den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs.

Zu verdanken hatte der Monarch den Triumph


vor allem den loyalen Adeligen, die ihn mit Geld,
Truppen und eigenem Einsatz unterstützt hatten.
Wie das Haus Liechtenstein, das die Dynastie von
ihrem Aufstieg bis zum Absturz 1918 begleitete,
ihr diente und so zu einer der ersten Familien in
der Donaumonarchie avancierte.
Die enge Symbiose aus Aristokratie und Herr-
scherhaus folgte Regeln, die im mittelalterlichen
Lehnswesen wurzelten: Adelige sicherten dem Kö-
nig Treue und militärischen Beistand zu und er-
hielten umgekehrt Schutz und Mitspracherechte
auch in der Politik. Der Monarch gewährte der
Oberschicht zahlreiche Privilegien. So durften die
Adeligen zum Beispiel Gericht halten, hatten die
Hoheit über Jagd- und Fischgründe inne, mussten
keine Steuern zahlen und bildeten die adeligen
»Stände« im Reichs- oder im Landtag, die unter
anderem die Steuern für den Herrscher bewilligten regiert wurde, wandte sich dem neuen Glauben Getreuer
Karl I. von Liechten-
(siehe Seite 43). zu. In ihrem Gebiet, im Südosten, rückten die Os-
stein wurde als
Die Adeligen zogen im Gegenzug von ihren Un- manen bedrohlich nah. 1529 zogen diese sogar bis erstes Mitglied
tertanen die Abgaben für den obersten Herrscher vor Wien. Um Geld für den Krieg, die sogenannte seiner Familie
ein. Über Jahrhunderte bestimmte die Aristokratie Türkensteuer, bewilligt zu bekommen, gestand in den »Orden zum
Goldenen Vlies«
auf diese Weise weitgehend das politische, wirt- Kaiser Karl V. den Lutheranern kurzzeitig wider-
aufgenommen,
schaftliche und gesellschaftliche Geschehen in den willig Religionsfreiheit zu, die auf dem Reichstag den Ritterorden
österreichisch-böhmischen Erblanden, die zum von Augsburg 1555 bestätigt wurde. der Habsburger.
Heiligen Römischen Reich gehörten. Doch langfristig wollten die Herrscher, die auch In Österreich galt
das als Höhepunkt
Im 16. Jahrhundert erreichten die adeligen Stände politisch eng mit der katholischen Kirche verbun-
der Adelskarriere
den Zenit ihrer Macht. Viele von ihnen hatten die den waren, die Religionsvielfalt nicht hinnehmen. (Porträt, um 1625).
Lehren Martin Luthers begeistert aufgenommen Vom Beginn des 17. Jahrhunderts an betrieben sie
und waren konvertiert – auch um ihre Eigenstän- die Gegenreformation. So erhoben die habsburgi-
digkeit gegenüber den streng katholischen Habs- schen Kaiser beispielsweise gezielt Katholiken in
burgern zu zeigen. Die Liechtenstein holten evan- den Adelsstand, um die Stände zu spalten, und
gelische Pfarrer aus dem Reich, und auch die wohl- besetzten offene Stellen in ihren Ämtern bevor-
habende Magnatenfamilie Esterházy in Ungarn, zugt mit Glaubensbrüdern. Viele führende Fami-
das mittlerweile ebenfalls von den Habsburgern lien der Donaumonarchie kehrten in dieser Zeit

38 H ERRSCHAFT
Karl von Liechtenstein galt als
weitsichtig, kaltblütig und entschlossen.

zum alten Christentum zurück. Einer profitierte


davon besonders: Karl von Liechtenstein.
Nach seiner Konversion 1599 hatte er unter den
Kaisern Rudolf II., Matthias und Ferdinand II. Kar-
riere gemacht, war zum Geheimen Rat berufen
worden und später sogar zum Obersthofmeister –
nun stand kein Beamter dem Monarchen näher
als er. Immer wieder hatte der Finanzexperte, wie
schon seine Väter und Brüder, dem klammen Hof
Geld geliehen. Zum Dank erhob der Kaiser ihn
1608 in den erblichen Fürstenstand.

Gerissen und skrupellos, weitsichtig und reak-


tionsschnell, kaltblütig und entschlossen – so wird
Karl beschrieben. Dem Ruf wurde er im Dreißig-
jährigen Krieg gerecht. Aus Protest gegen die pro-
katholische Politik des Kaisers Ferdinand II. waren
die Stände der böhmischen Länder gegen den Mo-
narchen ins Feld gezogen. Karl half entscheidend,
den Aufstand am 8. November 1620 bei der
Schlacht am Weißen Berg nahe Prag militärisch
niederzuschlagen. Kurz darauf verhängte er als
Vorsitzender eines Strafgerichts drakonische Ur-
teile wegen Hochverrat gegen mehrere sogenann-
ten Rebellen. 27 Adelige und Bürger wurden unter
seiner Aufsicht am 21. Juni 1621 von einem einzi-
gen Henker öffentlich auf dem Altmarkt hingerich-
tet. Die Köpfe von zwölf Getöteten stellte man an-
schließend am Altstädter Brückenturm zur Schau,
zehn Jahre mussten sie dort zur Abschreckung
hängen bleiben.
Reihenweise wurden nun die Güter von geflo-
henen oder bestraften Adeligen in Böhmen und
Mähren konfisziert und billig verkauft. Und kaum Die großen Dynastien wie die Liechtenstein be- Gefürsteter
einer nutzte die Gelegenheit so konsequent wie saßen Ländereien in mehreren habsburgischen Ge- Der kaiserliche
Feldmarschall Paul I.
die Familie Liechtenstein, allen voran Fürst Karl. bieten, deshalb waren auch sie nur noch bedingt Esterházy de Galán-
Rasant stieg die Sippe zu einem der reichsten regional verwurzelt. So regte sich kaum Wider- tha wurde 1687
Adelsgeschlechter Mährens auf, sie gebot nach stand, als die Regenten im 17. Jahrhundert die einst in den Fürstenstand
dem Krieg über fast ein Fünftel des Landes, au- so starken Landtage weitgehend entmachteten und erhoben, ab 1712
durfte seine Familie
ßerdem besaß sie Güter in Schlesien, Böhmen und die Regierungsgewalt immer weiter in ihre Hand den Titel vererben.
natürlich ihren Stammsitz in Niederösterreich. nahmen. Der Fürst spielte
Der Sieg über die aufrührerischen Stände ließ Viel interessanter wurde für die Aristokraten auch Cembalo
die adelige Opposition in den böhmischen und nun der Hof in Wien. Er entwickelte sich immer und komponierte
(Gemälde von
österreichischen Erblanden weitgehend verstum- stärker zum politischen Zentrum der Monarchie. Benjamin von Block,
men. Wer nicht konvertieren wollte, wanderte aus. Gerade für viele nachgeborene Söhne, die keine 1655).
Die Güter übernahmen vielfach Edelleute aus dem Familiengüter übernehmen würden, gab es jetzt
Reich, Italien oder Spanien. Sie waren katholisch, nur ein Ziel: einen Posten in der kaiserlichen Ver-
akzeptierten die Regeln der Habsburger und hat- waltung zu ergattern. Denn die Präsenz am Hofe
ten meist kein großes Interesse an starken födera- versprach Einfluss, Ruhm und Kontakte.
len Ständevertretungen, wie es die Reichs- und Die Habsburger förderten diese Entwicklung,
Landtage waren. denn sie profitierten aus vielerlei Gründen von

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 39


»… Printzen, Grafen und Herren,
welche grosse Länder besitzen«.

diesem Sog. Indem sie die wichtigsten Familien


um sich versammelten und politisch einbanden,
konnten sie deren Einfluss nutzen und ihre Inte-
ressen in deren Herrschaftsbereichen durchsetzen.
Zudem strömten Adelige aus allen Teilen des
habsburgischen Machtbereichs an den Hof: Tsche-
chen, Italiener, Ungarn, Deutsche, Spanier und
Gesponsert
Österreicher. In diesem Vielvölkerhofstaat im Her- Anlässlich der
zen des Reichs vernetzten Vertreter aus den ver- Krönung des Habs-
schiedenen Regionen die unterschiedlichen Teile burgers Joseph II.
des Habsburgerreichs miteinander. 1764 auf dem
Römerberg in Frank-
Die Anwesenheit vieler hochrangiger Ge- furt (Gemälde von
schlechter wertete das Wiener Regierungszentrum Martin von Meytens,
auf. So schrieb ein Beobachter 1729, der Kaiserhof 1764) ließ Fürst
könne zwar nicht mit Prachtbauten wie in Frank- Nikolaus I. von
Esterházy spekta-
reich aufwarten, doch werde man »seine Augen kuläre Lichtspiele
nicht wenig ergötzen, wenn man um Ihro Kayser- inszenieren.
liche Majestät und bey Hofe überhaupt lauter gros-
se Printzen, Grafen und Herren siehet, welche
nicht nur gantz ausserordentliche meriten haben,
sondern auch grosse Länder und vieles Reichthum
besitzen und daher die Magnificence des Kayser-
lichen Hofes sehr vermehren«.

So entwickelte sich die alte Symbiose zwi-


schen Adel und Monarch weiter: Die Aristokratie
stützte die Macht des Herrschers – und der ent-
lohnte die Loyalität nun mit Posten und Titeln,
Geld und Ländereien.
Rund 2000 Personen zählte der Wiener Hof-
staat zu Beginn des 18. Jahrhunderts, doch die
Zahl der einflussreichen Ämter war begrenzt. So
entstand ein ständiger Wettkampf unter den Ade-
ligen. Den Monarchen konnte dies recht sein, denn
nun stritten die hohen Herren sich nicht mit ihnen,
sondern untereinander. Die Herrscher verschärf-
ten die Konkurrenz noch dadurch, dass sie zahl-
reiche Bürger nobilitierten, die sich um den Staat
verdient gemacht hatten. Dieser Briefadel versuch-
te, den alten Erbadel zu imitieren und ihm so sei-
nen Platz streitig zu machen.
Mit eher mäßigem Erfolg. Am Hof gaben wei-
terhin vor allem Abkömmlinge der ganz alten Elite
den Ton an: Angehörige der Liechtenstein, Schwar-
zenberg und Auersperg. Sie besetzten über Gene-
rationen fast ausnahmslos die höchsten Positionen,
wie die des Obersthofmeisters, Oberstkämmerers
oder Obersthofmarschalls, und hatten so direkten
Zugang zum Kaiser.
Doch auch eine ungarische Dynastie konnte
sich bei Hofe etablieren: die Esterházy. Seit Jahr-

40 H ERRSCHAFT
SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 41
»… ein schönes modell, Fürstlich
zu leben und hauß zu halten«.

zehnten hatte sich die rekatholisierte Grafenfami-


lie im Grenzschutz gegen die Türken bewährt und
1652 sogar vier Männer auf einmal in einem Ge-
fecht verloren. Erst drei Monate später waren sie
beerdigt worden, angeblich weil die Osmanen ihre
Köpfe nicht eher herausgegeben hatten.
Paul I., der danach als 17-Jähriger an die Spitze
des Hauses gerückt war, hatte um 1670 fest an der
Seite der Habsburger gestanden, als ungarische
Adelige gegen den Herrscher in Wien rebellierten.
Als die Türken 1683 vor Wien standen, war er es,
der die ungarischen Kroninsignien in Sicherheit
brachte. Doch vor allem hatte er später die stets
widerspenstigen Stände des Landes dazu bewegt,
den Erbanspruch der Habsburger auf die Königs-
krone des Landes anzuerkennen.
Am 7. Dezember 1687 empfing er den höchsten
Lohn dafür: Kaiser Leopold I. erhob ihn in Press-
burg zum Fürsten – eine seltene Ehre für einen
Ausländer, der im Reich keine Ländereien besaß.
Nun gehörten die Esterházy zum europäischen
Hochadel. Als Zeichen der Verbundenheit mit den
Habsburgern zeigte ihr Wappen fortan ein »L«,
die Initiale des Kaisers. Den Titel gab es jedoch
nicht umsonst: In seinen Unterlagen notierte Paul,
dass allein die Auslagen dafür 27 000 Gulden über-
schritten – immerhin so viel Geld, wie ihm die
Herrschaft Eisenstadt im Burgenland in einem Jahr
einbrachte.
Vermögen war eine entscheidende Vorausset-
zung, um in den höchsten Kreisen mithalten zu
können. Die Esterházy lagen nach Besitz und Ein-
künften im Habsburgerreich auf dem zweiten Platz
hinter der Familie Liechtenstein. Im 18. Jahrhun- dernsten Stadtschloss Wiens vollenden. Mit seiner Grandezza
dert besaßen sie 400 000 Hektar Land, eine Flä- Fassade im klassisch-strengen Stil wurde das Ge- Nikolaus I. von
Esterházy trug
che fast so groß wie das Saarland, Hamburg und bäude zum Urtyp fortschrittlicher Palastarchitektur.
den Beinamen
Berlin zusammen, und nahmen pro Jahr 700 000 Das »Fürstliche hauß Liechtenstein giebet Fürs- »der Prachtliebende«.
Gulden ein. Im selben Zeitraum musste ein Tage- tenpersonen in Teutschland ein schönes modell, Er beschäftigte
löhner mit höchstens 30 Gulden auskommen. Fürstlich zu leben und hauß zu halten«, schrieb an seinem Hof
den Komponisten
der zeitgenössische Autor Zacharias Zwantzig über
Joseph Haydn
Doch selbst sechsstellige Einkommen reichten dieses Schloss und den prächtigen Gartenpalast, als Kapellmeister
oft kaum aus, um den aufwendigen Lebensstil des den der Fürst in der Rossau vor den Toren der (zeitgenössisches
Hochadels zu finanzieren. Getrieben vom Kon- Stadt errichten ließ. Regelmäßig zogen sich die Porträt).
kurrenzkampf bei Hofe, gaben viele Aristokraten adeligen Familien in solche Lustschlösser außer-
Unsummen für steinerne Statussymbole aus: Rund halb zurück, um ihre Unabhängigkeit zu demons-
um die Hofburg des Kaisers in Wien entstand ein trieren. Und manchmal folgten ihnen die Monar-
Barockpalast nach dem anderen. chen sogar – um den Prunk zu bewundern.
Maßstäbe setzte dabei das Majoratspalais der Im September 1773 besuchte Maria Theresia,
Familie Liechtenstein in der Bankgasse: Fürst Jo- Erzherzogin von Österreich und Königin von Un-
hann Adam, der »Krösus von Österreich«, kaufte garn und Böhmen, den Großmeister des Pomps
den Rohbau 1694 und ließ das Gebäude zum mo- unter ihren Untertanen: Fürst Nikolaus I. von Es-

42 H ERRSCHAFT
Mitsprache!
Wie der Adel in
terházy, auch der Prachtliebende genannt. Neun Ständeversammlungen
Jahre zuvor hatte er für Maria Theresias Sohn Jo- mitregierte
seph II. in Frankfurt eine spektakuläre Feier zur
Krönung inszeniert. Johann Wolfgang von Goethe
hatte hinterher vom »Esterházyschen Feenreich« Das Heilige Römische Reich war kein Nationalstaat,
geschwärmt. Jetzt empfing der Fürst die Regentin sondern ein im Mittelalter gewachsener hierarchi-
in seiner opulenten Schlossanlage Esterházy, die scher, ständischer, auf Treuebekundung beruhender
er in Fertöd nahe dem Neusiedler See bauen ließ. Verband. Oberhaupt war der König, der meist an-
Gerade war die Bagatelle, ein Lusthaus im chine- schließend zum Kaiser gekrönt wurde. Er fungierte
sischen Stil, vollendet worden. In der 8000 Men- als höchster Lehnsherr, Richter und Wahrer von
schen fassenden Schlossanlage verzauberte er Ma- Frieden und Recht und wurde gewählt.
ria Theresia mit einem gigantischen Fest – zwei Die »Goldene Bulle«, eine Gesetzessammlung
Tage lang. von 1356, bestimmte endgültig, dass allein die Kur-
Mit Esterhazy lustwandelte sie durch die Gär- fürsten (anfangs die Erzbischöfe von Trier, Köln und
ten, hörte im Opernhaus »L’infedeltà delusa« unter Mainz, der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sach-
Leitung des hauseigenen Kapellmeisters Joseph sen, der Markgraf von Brandenburg und der König
Haydn und vergnügte sich abends beim Masken- von Böhmen, vom 17. bzw. 18. Jahrhundert an zu-
ball in der Bagatelle. Als sie eigenhändig ein Feu- sätzlich auch der Herzog von Bayern und der Herzog
erwerk entzündete, erstrahlte das ungarische Wap- von Braunschweig-Lüneburg) einen neuen König
pen und darüber glitzerten die Buchstaben VMT: wählen durften.
Vivat Maria Theresia. Der Monarch konnte nicht unabhängig regieren,
Nikolaus’ Liebe zur Pracht kam die Esterházy sondern musste für viele Entscheidungen, die zum
teuer zu stehen: Als er 1790 starb, hinterließ er sei- Beispiel Kriege, Steuern und Gesetze betrafen, auf
nen Nachkommen 3,8 Millionen Gulden Schulden. Reichstagen die Einwilligung der Reichsstände
Doch der Einsatz lohnte sich, noch immer. Die einholen. Zu diesen gehörten Einzelpersonen und
Habsburger hatten die Aristokratie zwar ge- Korporationen, nämlich die Kurfürsten, die Fürsten,
schwächt, doch nicht völlig entmachtet. Der Adel Grafen und Herren, geistliche Vertreter wie zum
regierte weiterhin maßgeblich mit – nun nicht Beispiel Bischöfe und Äbtissinnen sowie die Reichs-
mehr gemeinsam in den Ständeversammlungen, städte. Um in den Reichsstand erhoben zu werden,
sondern als Berater des Kaisers in Wien. Das war musste ein Adliger von 1654 an ein reichsunmittel-
auch so geblieben, nachdem Maria Theresia mit bares Territorium besitzen, also ein Lehen, das di-
ihrer Staatsreform 1749 die Adelsprivilegien weiter rekt vom Kaiser vergeben wurde und keinem Herrn
beschnitten hatte: Die Familien verloren die obers- darunter unterstellt war.
te Gerichtshoheit und mussten Verwaltungskom- Auf Länderebene verhielt es sich ähnlich: Hier
petenzen an die neuen Kreisämter abgeben. Und traten Landtage zusammen, also der Landesherr
statt wie bisher der Monarchin jährlich die Steuern mit den jeweiligen Ständen, um zum Beispiel
zu bewilligen, mussten die Aristokraten jetzt län- Steuerangelegenheiten zu regeln. Die Zusammen-
gerfristige sogenannte Rezesse verabschieden – setzung der Landstände konnte sich regional
und sogar selbst Abgaben zahlen. unterscheiden. Meist gehörten der Herren-, Präla-
Auch das Militär reformierte die Habsburgerin, ten- und Ritterstand sowie die Städte dazu, mit-
Untertanen konnten als Soldaten nun zwangsre- unter waren aber auch, wie in Tirol, die Bauern
krutiert werden, die lokalen Adeligen hatten keine vertreten.
Mitspracherechte mehr. Wer es jedoch wie Fürst Die Ständeversammlungen verstanden sich
Josef Wenzel von Liechtenstein geschickt anstellte, zwar als Repräsentation des ganzen Landes, spie-
konnte seinen Einfluss durchaus behaupten. Im gelten aber nicht die Meinungsverhältnisse der Be-
österreichischen Erbfolgekrieg 1741/42 hatte Öster- völkerung wider. Schließlich war hier nur die Elite
reich eine herbe Niederlage gegen Preußen erlitten. vertreten, die die Interessen ihres jeweiligen Stan-
Fürst Josef Wenzel erkannte als Generalissimus des vertrat, und keine demokratisch gewählten
der Regentin die entscheidende Ursache für die Abgeordneten.
eklatante Schwäche der österreichischen Armee:
die veraltete Artillerie.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 43


Gefällig
Die Gartenseite des
Rokokoschlosses
Esterházy lässt
die Pracht des An-
wesens ahnen.
Mit seinem riesigen
Schlosshof und
dem ausgreifenden
Park gilt der huf-
eisenförmige Bau
als ungarisches
Versailles (Gemälde,
18. Jahrhundert).

Im Auftrag der Kaiserin, mithilfe ausländischer gen, zählten weiterhin. Und so bemühte sich auch
Experten und eigenem Geld entwickelte der Fürst die Familie Esterházy hartnäckig darum, endlich
neuartige Feldstücke, Haubitzen und Mörser. Jähr- auf eine Stufe mit ihren Konkurrenten, den Liech-
lich zog er das Artilleriekorps zu Gefechtsübungen tenstein, zu gelangen, Sitz und Stimme im Reichs-
zusammen und verteilte Lehrschriften zur Hand- fürstenrat zu erhalten.
habung der Geschütze, die er auf eigene Kosten Wie sein gleichnamiger Großvater gab auch das
neu herausbrachte. amtierende Oberhaupt des Hauses, Fürst Nikolaus
Uneigennützig war der Einsatz jedoch nicht: II., das Geld mit beiden Händen für Kunst, Neu-
Als privater Unternehmer produzierte Josef Wen- bauten und einen luxuriösen Lebenswandel aus.
zel in seinen neuen böhmischen Manufakturen Trotzdem gelang es ihm, die Reichsgrafschaft
jene Waffen für die Armee, die er als staatlicher Edelstetten in Bayern für eine jährliche Leibrente
Generaldirektor der Artillerie entwickelt hatte. von 11 000 Gulden zu kaufen. Am 20. Juni 1804
Das österreichische Heer rüstete auf, bis Maria nahm der Ungar die Herrschaft in Empfang, ein
Theresia schließlich im Siebenjährigen Krieg Ra- knappes halbes Jahr später wurde sie von Kaiser
che an Preußen nahm. 1757 schlugen ihre Truppen Franz II. zur gefürsteten Reichsgrafschaft erhoben.
den Gegner bei Kolin – dank der überragenden Nikolaus II. hatte es geschafft: Er war nun unmit-
Geschütze. Der preußische König Friedrich II. telbarer Reichsfürst und damit endlich den Liech-
nannte Josef Wenzel daraufhin anerkennend einen tenstein, den Schwarzenberg und den anderen
»Pionier der modernen Artillerie«. führenden Adelsgeschlechtern in der Habsburger-
monarchie ebenbürtig.
Die Familie Liechtenstein hatte nun fast alles Auf der Bank des Reichsfürstenrats saß er je-
erreicht, was man als Adelsgeschlecht erreichen doch nie. Am 6. August 1806 legte Franz II. die
konnte. 1719 waren ihre Territorien rund um römisch-deutsche Kaiserkrone auf Druck Napo-
Schloss Vaduz am Rhein zum Reichsfürstentum leons nieder. Das Heilige Römische Reich deut-
erhoben worden, damit wurden die Fürsten in den scher Nation war nach 844 Jahren Geschichte.
Reichsfürstenrat des Reichstags aufgenommen. Für die Familie Liechtenstein hingegen zahlten
Jetzt durften sie also nicht mehr nur an der Politik sich die Investitionen der vergangenen Jahrhun-
in den Habsburgischen Landen mitwirken, son- derte aus: Mit dem Fall des Reichs wurde ihr Fürs-
dern auch im Reich. tentum souverän, nun war der Fürst selbst oberster
Mochten die Staaten auch zunehmend auf eine Regent in seinem Land.
moderne Verwaltung durch Berufsbeamte setzen, Bis heute existiert der Kleinstaat als konsti-
mochten Unternehmer und Bankiers durch eigene tutionelle Erbmonarchie. Und bis heute stellt die
Verdienste gesellschaftlich aufsteigen, die alten Ti- Familie der Liechtenstein den regierenden Landes-
tel und die Versprechen, die mit ihnen einhergin- fürsten. 

44 H ERRSCHAFT
DI E HABSBURGER
Dieser Familie gehörte einst die Welt: Kein Adelsgeschlecht
weitete seine Herrschaft so global aus wie die Habsburger.
Am Ende scheiterten sie auch an sich selbst.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Maximilian I., 1459 bis 1519. Der erste Karl II., 1661 bis 1700. Mit ihm endete die
1090 römisch-deutsche Kaiser aus dem Hause
Habsburg steht fast synonym für den Auf-
Herrschaft Habsburgs in Spanien. Körperlich
missgestaltet und geistig stark eingeschränkt,
stieg der Familie zur europäischen Macht. wirkte Karl auf Zeitgenossen grotesk, sie
Das gelang dem »letzten Ritter« zum Teil gaben ihm den Beinamen »der Verhexte«. In
S TA M M S I T Z auf dem Schlachtfeld, weit größeren Erfolg Wahrheit war er das bedauernswerte Opfer
aber erzielte er durch seine eigenen Hoch- der familientypischen Heiratspolitik. Über
Habsburg
zeiten und die seiner Kinder. [1] Generationen hatten sich seine Vorfahren
weitgehend untereinander verbunden. [3]
Maria Theresia, 1717 bis 1780. Früh ver-
S TA M M L A N D E waist, fand sich die Erzherzogin als Regentin Rudolf von Österreich, 1858 bis 1889,
mit den Begehrlichkeiten von Konkurrenten nahm ein unrühmliches Ende, um das sich
Aargau,
konfrontiert, die die vermeintliche Gunst bis heute Legenden ranken. Den Sohn von
Schweiz
der Stunde nutzen wollten. Sie war jedoch Kaiserin Elisabeth, »Sisi«, fand man tot
keine Frau, die sich die Butter vom Brot neh- neben seiner 17-jährigen Geliebten, Baroness
men ließ. Am Ende setzte sie ihren schwachen Mary Vetsera, auf Schloss Mayerling. [4]
HÖCHSTE Gatten Franz I. Stephan sogar als römisch-
ÄMTER deutschen Kaiser durch – und wurde G R Ö S S T E R S K A N DA L
[GESCH ICHTE]
zur eigentlichen Regentin des Reiches. [2]
Die Cousine, der Cousin, immer wieder:
Kaiser von
BEDEUTENDSTE LEISTUNG In keinem Adelshaus war die Heirat unter
Österreich-
Verwandten so verbreitet wie bei den Habs-
Ungarn, römisch-
Die Ausweitung des Machtbereichs der Fami- burgern. Über Jahrhunderte gab es dadurch
deutscher
lie durch konsequente Heiratspolitik: Zeit- eine erschütternd hohe Zahl von Totgeburten
Kaiser
weise gab es rund um den Globus Habsburg- und geistigen und körperlichen Gebrechen,
regierte Länder und Kolonien. Die Sonne die durch Inzucht verursacht worden waren.
[ G E G E N WA R T ]
ging nicht mehr unter in diesem Reich, die Die Habsburger wussten das und taten es
Dynastie dann aber doch – gerade auch trotzdem: Es ging um Machterhalt – doch es
keine
wegen dieser Heiratspolitik (siehe rechts). trug zum Niedergang des Hauses bei.

BERÜH MTE
RESIDENZEN

Allein im heuti-
gen Österreich
unterhielten die
Habsburger rund
zwei Dutzend [1] [2] [3] [4] [5]
Residenzen. Die
bekanntesten:
die Hofburg und
Schloss Schön- Bekannte Köpfe heute: Karl Habsburg-Lothringen, geboren 1961, ist aktuelles Oberhaupt der
brunn in Wien. Familie. Trat als Medienunternehmer, TV-Moderator und ÖVP-Politiker auf. In der Klatsch-
presse präsenter sind Eleonore Habsburg-Lothringen, geboren 1994, Model für edle Marken, und
Ferdinand Zvonimir Habsburg-Lothringen, geboren 1997, Rennfahrer (Formel 3 und DTM). [5]

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 45


Kaum etwas war dem Adel wichtiger, als seinen herausgehobenen Platz
in der Ständegesellschaft zu behaupten – auch mithilfe der Garderobe.
Strenge Vorschriften legten fest, wer welche Stoffe, Schnitte, Farben,
Kopfbedeckungen und welchen Schmuck tragen durfte.

Von Bettina Musall

À la mode
46 KLEI DUNG
P
aris wurde schon im 12. Jahr-
hundert Hauptstadt der Mo-
de, als Heinrich II., Herzog
der Normandie, und Philipp
IV., »der Schöne«, Frankreichs Vor-
macht in Europa ausbauten. Der fran-
zösische Hof bestimmte die »mâze«,
Schnitte und Materialien, Ritter brach-
ten von ihren Kreuzzügen Eindrücke
einer prunkvollen Textil- und Anzieh-
kultur mit in die Heimat. Die so entste-
hende höfisch-ritterliche Welt legte
Kleiderordnungen für den Adel fest, um
sich von niederen Ständen – und von-
einander – zu unterscheiden.
Samt, Seide und Damast, aufwendi-
ge Stickereien, Pelze, Unmengen Stoff,
reine, leuchtende, also teure Farben –
alles setzten die edlen Herrschaften ein,
um mithilfe der Aufmachung klarzustel-
len, welcher Platz in der Hofhierarchie
ihnen zustand. »Entartet« und »unma-
ßend« nannte König Karl VII. von
Frankreich (1403 bis 1461) sein Volk,
weil es dulde, »dass jeder nach seinem
Vergnügen sich kleidet«, sodass »man
vermittelst der Kleider nicht mehr den
Stand und Rang der Leute erkennt, ob
sie Prinzen sind oder Edelleute oder
Handwerker«. Je mehr sich Bürgertum
und Adel im Laufe der Jahrhunderte
im Status annäherten, umso rigider wur-
de auf Unterscheidung geachtet: Die
Auswahl an Stoffen, Applikationen und
Schnitten wurde eingeschränkt.

Unnahbar

17. Jahrhundert »Verdugado« hieß der sperrige Reif-


rock am spanischen Hof, nach jener biegsamen Gerte,
über die der Stoff gespannt wurde. Unter dem Einfluss der
Gegenreformation wurde der weibliche Körper ab dem
16. Jahrhundert nicht nur verhüllt, sondern quasi un-
erreichbar – umso unerreichbarer, je ausladender der
Reifen und je edler die Hofdame, die ihn herumschwenkte.
Französische Comtessen flachten hundert Jahre später
ihre korbförmigen Gewänder (»Paniers«) zu einem zwar
breiten, aber zugänglicheren Oval ab, das dem galanten
Liebesspiel des Rokoko weniger im Weg stand. Leicht
gekürzt, gaben die kostbaren Toiletten nicht nur kokett
den Knöchel frei, sie wurden auch durch eine mühsam
antrainierte, wippende Gangart derart in Schwingung
versetzt, dass Ansätze der Beine und – mon dieu – des
Spitzenunterrocks zu erspähen waren.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 47


Üppig

13. Jahrhundert Die Portalstatuen der Kirchen und


Kathedralen prägten im Hochmittelalter das Bild der höfi-
schen Mode. Je mehr Rittertum und Adel zu einer Feudal-
schicht zusammenwuchsen, umso entschiedener regelte
eine feste Ordnung die Hofgesellschaft und ihr modisches
Erscheinungsbild. Angelehnt an die griechische Klassik,
traten Stofffülle und Anordnung des Faltenwurfs bei Män-
nern wie Frauen an die Stelle extravaganter Schnitte
wie etwa einer betonten Taille, die ein Jahrhundert zuvor
als Standeszeichen höfischer – also nicht arbeitender –
Frauen galt. Mit einem Knopf oder einer Nadel wurde nun
der Brustschlitz geschlossen, was einen kleineren Hals-
ausschnitt erlaubte. Der Schultermantel, gelegentlich mit
einem Kragen ausgestattet und lange den Männern vor-
behalten, wurde für die Herrin in der Ritterzeit zum Reprä-
sentationsgewand. Edelsteinbesetzte Borten schmückten
Ärmel und Hals.

Vielsagend

13. Jahrhundert Da es den mittelalterlichen Gewän-


dern noch an Taschen fehlte, trugen die Ritter zum Aus-
reiten reich verzierte und bestickte Beutel, mit langen
Riemen am Gürtel befestigt, in denen sie Habseligkeiten,
Geld und kleine Geschenke verstauten. Der Handschuh
diente beiden Geschlechtern durch die Jahrhunderte dazu,
Absichten und Befindlichkeiten auszudrücken. Aus edlen
Materialien reich bestickt und feierlich überreicht, galten
sie geistlichen wie weltlichen Herrschern als Gunst-
beweis. Schwungvoll vor die Füße geworfen, forderte der
Fehdehandschuh zum Duell. Und ließ eine Dame ihren
ellbogenlangen Satinfingerling lasziv zu Boden gleiten,
konnte sich der Höfling, der ihn aufhob, einen einladen-
den Blickkontakt vorausgesetzt, womöglich Hoffnungen
auf eine Privataudienz machen.

48 KLEI DUNG
Eckig

16. Jahrhundert Nach der Entdeckung Amerikas stieg


Spanien nicht nur politisch zur Weltmacht auf. Die Adels-
mode an Europas Fürstenhöfen orientierte sich über Jahr-
hunderte am Vorbild der spanischen Hoftracht. Inquisition
und Absolutismus erzwangen dort für beide Geschlechter
eine modische Strenge, die einer Uniform gleichkam.
Der rigorosen Etikette entsprach ein fast geometrisches
Design, in dem das Dreieck von der Halskrause bis zum
Beinkleid dominierte. Der männliche Oberkörper wurde
bis zur Taille in eine Art Panzer gequetscht, der oberhalb
einer bauchigen, wattierten Oberschenkelhose endete.
Delikaten Blickfang bildete zeitweilig eine zunehmend
fantastisch gestaltete Schamkapsel, die das männliche
Geschlecht akzentuierte, untenherum gefolgt von haut-
engen Seidenstrümpfen (die nach Erfindung des mechani-
schen Strumpfwirkstuhls in England 1589 allmählich
an Wert verloren). Das im lustfeindlichen Spanien vorherr-
schende Schwarz modifizierte der elisabethanische Höf-
ling in London nicht immer zum Vorteil eines eleganten
Stils. Überhaupt hing viel davon ab, wie der Mann sein Out-
fit trug. Der spanische Mantel, mit Kragen und Kapuze ein
flottes Requisit, machte kavaliermäßig nur dann etwas
her, wenn er gekonnt um die Schulter geworfen wurde.

Ellenlang

18. Jahrhundert Wer Gold, Samt oder Seide, Perlen,


Edelsteine oder gar Pelz tragen durfte und, wenn ja, wel-
chen, bestimmte die Kleiderordnung. Niederen und mittle-
ren Adeligen waren dezente Verbrämungen an Dekolleté
oder Kragen gestattet. Bei Hermelin und Zobel hörte die
Großzügigkeit auf: Derart rare Pelztiere galten absolutis-
tischen Herrschern wie Ludwig XIV. oder Napoleon Bona-
parte und deren Gattinnen als Insignium der Macht. Auch
die Länge einer Schleppe gab Auskunft über den Rang der
Trägerin innerhalb der höfischen Hierarchie: Königinnen
durften elf Ellen schleppen, Königstöchter neun, Herzogin-
nen drei. Wobei die Frage, wer schleppte, zu klären war:
Nur Fürstinnen durften zu diesem Zweck eine Hofdame
beschäftigen, ansonsten trugen Junker oder Pagen, was
nicht über den Boden schleifen sollte. Zu dekorativen
Zwecken trugen die Damen den Anhang schon mal selbst,
ließen aber alles fallen, wenn sich jemand näherte, den
sie umarmen wollten.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 49


Klassisch

Heute Kleiderordnungen waren nach der Französischen


Revolution in ganz Europa abgeschafft. Das Ende des
Adels als Stand 1918/19 und der Aufstieg reicher bürger-
licher Schichten haben unter anderem dafür gesorgt, dass
Kleidung nur noch eine Frage des Geldes, nicht mehr der
Herkunft ist. Seither schwappt jede Mode, die beim ge-
meinen Volk auf der Straße oder auf Instagram en vogue
ist, zurück in die Schlösser und Paläste. Eine Entwicklung,
die dem verarmten Teil des Adels zugutekommen dürfte.
Und dann gibt es noch die Gräfinnen, Fürsten und Vons,
die mit dem Erbe einer untergegangenen Zeit lieber nicht
so auffallen wollen oder die es tatsächlich vorziehen,
bescheiden zu leben. Jene, die sich von der postmodernen
Welt des »anything goes« unterscheiden wollen, entschei-
den sich auffällig oft für die Unauffälligkeit wachsbeschich-
teter Regenjacken oder regional verorteter Trachtenoutfits.
Ganz und gar befreit von niederrangigen Rücksichtnah-
men lässt sich Elizabeth II., Königin von England, seit
Jahrzehnten so gleichbleibend wie unverwechselbar aus-
staffieren. In 68 Dienstjahren als »Queen« bezauberte die
163 Zentimeter messende Monarchin mit farbenfrohen
Mänteln und Hüten, konsequent begleitet von Schnallen-
pumps und einer in Schulterblatthöhe befestigten Brosche,
eine Mode, die nur einer, selbstverständlich Ihrer Majestät
eigenen Regel folgt: »Ich muss sichtbar sein.«

50 KLEI DUNG
O R A N I E N - NA S SAU
Sie begannen als Provinzadelige und stiegen zum einfluss reichen
Haus des Hochadels auf: Den Weg zur Macht fand
das Haus Oranien vor allem durch politisches Geschick.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Wilhelm I. von Oranien, 1533 bis 1584. Marianne von Oranien-Nassau, 1810
1544 Unter Philipp II. von Spanien Statthalter
der »Siebzehn Provinzen«. Als dort eine cal-
bis 1883, ließ ihren permanent untreuen
Ehemann sitzen und brannte mit ihrem Leib-
vinistische Revolte losbrach, setzte sich kutscher Johannes Rossum durch. Mit dem
Wilhelm I. erfolgreich an deren Spitze: 1581 er- lebte sie in wilder Ehe, bis sie schwanger
S TA M M S I T Z klärten sieben Provinzen ihre Unabhängigkeit. wurde, dann durften die beiden heiraten. [3]
Die Oranier wurden erst Statthalter der Konfö-
ab 1581 de facto
deration und später Könige der Republik der Bernhard Prinz zur Lippe-Biesterfeld,
Den Haag
Niederlande, die daraus hervorging. [1] 1911 bis 2004, Prinzgemahl von Königin
Juliana. Ließ sich vom US-Rüstungskonzern
Juliana von Oranien-Nassau, 1909 bis Lockheed mit 1,1 Millionen Dollar schmie-
S TA M M L A N D E 2004. Galt als volksnah, prägte mit ihrer ren, den für 116 Piloten tödlichen »Star-
unprätentiösen Art den ganz eigenen, fighter« F-104 einzuführen. Mutierte im
Zunächst Nassau-
vergleichsweise lockeren Stil der niederlän- Alter vom passionierten Großwildjäger zum
Dillenburg
dischen Royals. Dass sie einen Ehemann Gründungspräsidenten des World Wildlife
(zwischen
mit Glaubwürdigkeitsproblemen und eine Fund (WWF). [4]
Westerwald und
Vorliebe für esoterische Beraterinnen hatte,
Taunus) sowie
verzieh man ihr (siehe rechts). Anekdotisch G R Ö S S T E R S K A N DA L
Orange (Frank-
überliefert ist die ihr zugeschriebene Aussa-
reich), später
ge, sie wäre gern Sozialarbeiterin geworden, Die Greet-Hofmans-Affäre, 1956. Der
Niederlande
wenn sie nicht Königin geworden wäre. [2] SPIEGEL enthüllte, dass die amtierende
Königin Juliana unter Kontrolle einer obsku-
BEDEUTENDSTE LEISTUNG ren Geistheilerin stehe. Durchgestochen wur-
HÖCHSTE den die Informationen von ihrem Ehemann
ÄMTER Die sieben nördlichen Provinzen der Nieder- Prinz Bernhard. Die Affäre erreichte ihren
[GESCH ICHTE]
lande durch 80 Jahre Krieg mit Spanien Höhepunkt, als die Geistheilerin eine Hand-
geführt zu haben und am Ende den Keim granate in ihrer Post fand und verängstigt
Großherzöge
einer Republik zu pflanzen, ohne dabei den abtauchte. Erstmals seit 1815 wackelte die
von Luxemburg,
royalen Status zu verlieren. Hut ab! niederländische Monarchie, und zwar kräftig.
König von
England, Könige
der Niederlande

[ G E G E N WA R T ]

Könige der
Niederlande

[1] [2] [3] [4] [5]

BERÜH MTE
RESIDENZEN

Bekannte Köpfe heute: Noch immer Beatrix, geboren 1938, Königin bis 2013. Erste nieder-
Das
ländische Monarchin, die an öffentlichen Schulen unterrichtet wurde. In der Öffentlichkeit
Palais op de Dam
oft als winkende, volksnahe »Königin mit Hut« wahrgenommen, galt die studierte Juristin als
in Amsterdam
machtbewusste Strippenzieherin, die gern Einfluss auf die Politik nahm. [5]

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 51


Arbeiten? Und etwa auch noch selbst? In der Theorie war schon
der Gedanke für Aristokraten eine Zumutung. Tatsächlich aber wurden
zahlreiche Blaublüter zu erfolgreichen Unternehmern.

Die Alternativen Von Benno Stieber

A
ls sich Königin Victoria von England für Januar leben und ihr Vermögen in die aufwendige Repräsentation
1845 zu Besuch in Stowe House ansagt, will sich ihres gesellschaftlichen Status investieren, ist ein Klischee,
der Herzog von Buckingham nicht lumpen lassen. immer wieder aufgekocht in Romanen und Serien wie
Auf eigene Kosten lässt er ein Regiment aufmar- »Downton Abbey«. Es entsprach aber auch dem Selbstbild
schieren, 400 seiner Pächter stehen zum standesgemäßen der europäischen Fürsten, Grafen, Herren und ihrer Familien
Empfang der Queen zu Pferd sauber aufgereiht Spalier. Hun- bis ins späte 19. Jahrhundert.
derte Landarbeiter sind angetreten, Blaskapellen spielen, Ar- Fleiß und Sparsamkeit galten als bürgerlich, Arbeit wurde
tilleriesalven werden abgefeuert. Der Herzog hat seine riesige im Adel traditionell eher verachtet. So schrieb das »Deutsche
Landvilla für diesen royalen Anlass komplett neu einrichten Adelsblatt« noch 1887: »Uns will eine kaufmännische, fabrik-
lassen. Im königlichen Badezimmer sollen Tigerfelle gelegen atomische Ausbeutung des größeren Grundbesitzes nicht an-
haben. »Ich habe in keinem meiner beiden Paläste solche gemessen erscheinen … Der adelige Majoratsherr scheint uns
Pracht«, merkt die Queen an. aber vor allem die Pflicht zu haben, den Familienbesitz, den
Der Besuch der jungen Königin und ihres Gemahls war er von den Vorfahren überkommen, zu erhalten, auf das
der Höhepunkt des extravaganten Lebensstils des Herzogs – Beste zu bewirtschaften, ohne deshalb mit aller seiner Thä-
und sein Endpunkt. Richard Plantagenet Temple-Nugent- tigkeit in der materiellen Beschäftigung auf zu gehen.«
Brydges-Chandos-Grenville der Zweite Herzog von Bucking- Als der Text erschien, hatte sich dieses adelige Selbstbild
ham erfüllte das klassische Ideal des Adels: Er lebte von den faktisch längst überlebt: Die Industrialisierung wirbelte die
Einkünften seiner Güter, war als Politiker im Oberhaus tätig Wirtschaft durcheinander, die Agrargesellschaft früherer Zei-
und ein Agrarlobbyist, der von sich behauptete, »jeder Maß- ten, auf deren Grundlage der Adel gewachsen war, löste sich
nahme Widerstand zu leisten, die den Interessen der Land- auf. Doch das Ideal hatte auch vorher nie ganz der Realität
wirtschaft schaden würde«. Doch damit verfolgte er eine Stra- entsprochen. Zu allen Zeiten waren einzelne Aristokraten
tegie, die schon an ihr Ende kam, bevor die Korngesetze 1846 mehr als bloße Verwalter ihres ererbten Vermögens, sie ver-
abgeschafft wurden; sie hatten den Preis für britisches Ge- suchten, mit Innovationen und Investitionen ihr Vermögen
treide mit hohen Einfuhrzöllen abgesichert. zu sichern oder zu mehren.
Sein luxuriöses Leben mit Affären und unehelichen Kin-
dern hatte den Herzog schon zuvor dem Bankrott nahege- Wie hoch der Anteil der Unternehmer in Adelskreisen in
bracht. Um den Ruin der Familie aufzuhalten, musste sein den verschiedenen Epochen war, können Historiker heute
Sohn Richard kurz nach dem königlichen Besuch die gesamte allerdings schwer einschätzen. Weil der Schriftverkehr über
Inneneinrichtung wieder versteigern. Mit Sparsamkeit und wirtschaftliche Belange in den adeligen Familienarchiven sel-
einem geradezu bürgerlichen Erwerbs- tener aufbewahrt wurde als jener zu juristischen Vorgängen,
einkommen in der Leitung der London gibt es nur wenige Dokumente. Insgesamt sei die Forschung
Fernverkehr
and North-Western Railroad konnte über adelige Unternehmer noch höchst lückenhaft, schreibt
Im ganzen Habs-
burger Reich, bis dieser Dritte Herzog von Buckingham Manfred Rasch, Professor für Technik- und Umweltgeschichte
hin nach Granada, schließlich einen Teil des Familienver- an der Ruhr-Universität. Vor allem die Frage nach den Be-
beförderten die mögens, das Stowe House und manch sonderheiten des adeligen Unternehmertums sei noch nicht
Postkutschen der
anderes im Familienbesitz halten. erforscht.
Thurn und Taxis De-
peschen, Waren und Das Bild von Adeligen, die allein von Doch herausragende Figuren repräsentieren in der Art,
auch Menschen. Pachten und Erträgen ihrer Ländereien wie sie ihre Unternehmungen führten, ihre Zeit. Sie zeigen,

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 53


dass weitsichtige Adelige sich schon früh nicht mehr allein Rüstungswerkstätten von Raspenava im heutigen Tschechien
auf die Tradition und ihre Ländereien verließen – und auf produzierten allein von Mai bis September 1627 rund 4000 gro-
welche Ideen sie kamen, um mit eigener Arbeit Geld zu ver- ße Artilleriekugeln, 3000 Äxte und Beile, 10 000 Schaufeln
dienen. und Zehntausende Hufeisen.
Für die Arbeiter »am Hammer« gab es, um die Moral zu
heben, gelegentlich Freibier aus den eigenen Brauereien.
Der Kriegsunternehmer
Schon bald reichte die Rüstungskammer Friedland nicht mehr
Das Kriegshandwerk ist die Wurzel vieler alter Adelshäuser aus, um Güter für die kaiserliche Armee zu liefern. Während
in Europa. Oft bekamen treue Kämpfer Titel und Ländereien die zivile Wirtschaft durch den verheerenden Krieg in ganz
als Belohnung für ihre Dienste auf dem Feld verliehen. Der Europa zerstört wurde, baute Wallenstein mithilfe seines
Dreißigjährige Krieg ab 1618 brachte einen neuen Typus des Finanziers Hans de Witte europaweit ein effizientes Handels-
Kriegsunternehmers hervor: Unabhängige Heeresführer, netzwerk für Rüstungsgüter aller Art auf, das sich vom Krieg
nach dem Vorbild der mittelalterlichen Söldnerführer »Con- nährte.
dottiere« genannt, oft aus niederem Adel, stellten sich gegen Das funktionierte jedoch nur so lange, wie Wallenstein Ge-
Sold in den Dienst eines oder wechselnder Herren. Keiner neralissimus des Kaisers war. Und solange es ihm möglich
betrieb dieses Kriegsgeschäft so ehrgeizig, konsequent und war, immer weiter Kontributionen aus den besetzten Gegen-
erfolgreich wie der böhmische Landadelige Albrecht Wenzel den zu pressen. Das wurde mit jedem Jahr des grausamen
Eusebius von Waldstein, genannt Wallenstein. Er wurde – Krieges schwieriger. Als Wallenstein 1630 das erste Mal auf
auch dank des Dramas, das Friedrich Schiller über ihn Druck des Kurfürstentags vom Kaiser als Oberbefehlshaber
schrieb – zum berühmtesten Söldnerführer seiner Zeit. Und der kaiserlichen Armee entlassen wurde, beging sein Kredit-
er war Rüstungsunternehmer und Kriegsfinanzier. geber de Witte Selbstmord: auch weil er wusste, dass Wallen-
Wallenstein, geboren 1583, stammte aus einem alten, aber stein ohne Heer seine Kredite nicht mehr bedienen konnte.
wenig begüterten böhmischen Adelsgeschlecht. Das Start- Wallenstein kehrte noch einmal als Feldherr zurück. Doch als
kapital für seinen Aufstieg verschaffte er sich in jungen Jahren er 1634 endgültig abgesetzt wurde, brach das Wirtschaftssys-
durch die Heirat mit einer enorm vermögenden Witwe. Zu tem Wallenstein zusammen. Der Kaiser verdächtigte seinen
weiteren Ländereien kam er nach der böhmischen Stände- Feldherren des Hochverrats, fünf Wochen später wurde der
revolution, die vom protestantischen Adel angeführt wurde: Kriegsunternehmer von Offizieren liquidiert. Tatsache war
Wallenstein stellte sich an die Seite des katholischen Kaisers aber auch, dass der Monarch sich mit Wallensteins Tod aus
in Wien und wurde dafür mit gewaltigen Gütern belohnt. Als einer enormen Abhängigkeit befreit hatte. Das Vermögen des
Herzog von Friedland, wie er sich nun nennen durfte, führte Kriegsunternehmers fiel an den Kaiser und seine Anhänger.
er seine landwirtschaftlichen Betriebe nach damals noch wenig
verbreiteten betriebswirtschaftlich anmutenden Grundsätzen.
Die Dienstleister
Als der Dreißigjährige Krieg ausbrach, trat er, wie viele andere
Adelige, mit eigenen Soldaten in den Dienst des Kaisers. Bereits lange vor Wallensteins Aufstieg legten lombardische
Aber Wallenstein stellte nicht nur einzelne Regimenter Adelige den Grundstein für eine der größten und wichtigsten
auf, wie der Kaiser das von seinen Fürsten erwartete. Er bot Unternehmungen im Europa der Neuzeit: die Post. Das
1625 an, auf eigene Kosten eine ganze Armee von 24000 Mann Know-how für das harte Geschäft der berittenen Boten pfleg-
aufzustellen. Eine solch riesige Armee konnte der notorisch te die Familie wohl schon seit dem 12. Jahrhundert. Damals
klamme Kaiser nicht auf Dauer finanziell unterhalten. Wal- soll Amadeo Tasso mit 32 seiner Verwandten ein Kurier-
lenstein entwickelte deshalb sein Kontributionssystem: Ter- system zwischen Venedig und Rom eingerichtet haben. Später
ritorien, in denen seine Armee stationiert war, mussten den waren die Tassis Postmeister des Papstes. 1489 trat Janetto
gesamten Unterhalt der Soldaten bezahlen, egal ob sie de Tassis seinen Dienst beim späteren Kaiser Maximilian I.
Freund, Feind oder neutral waren. So wurde Wallenstein un- von Habsburg an. Ein Bote mit einem Brief des Fürsten schaff-
abhängig von der Zahlungsfähigkeit und -willigkeit des Habs- te zu dieser Zeit zwischen 20 und 50 Kilometer pro Tag – zu
burger Hofs. langsam für wichtige Korrespondenzen.
Sein eigenes Herzogtum Friedland im nordöstlichen Böh- Um die Zeit zu verkürzen, brachte Janettos Bruder Fran-
men stellte er ganz in den Dienst seiner Armee und baute cesco, der sich auch Franz von Taxis nannte, eine innovative
eine eigene Rüstungswirtschaft auf: Er ließ im ganzen Her- Idee an den Hof von Innsbruck: eine Poststrecke mit Relais-
zogtum Kornspeicher zur Versorgung der Soldaten anlegen. stationen zwischen dem Hof und den Städten Mailand und
Schuster produzierten in anderthalb Jahren 26 700 Paar Schu- Brüssel. Nun hatte ein Bote nicht mehr die ganze Strecke zu
he, Schneider nähten Tausende Landsknechtskleider. Die bewältigen. Stattdessen wurde die Nachricht etwa alle 40 Ki-

54 UNTERN EH M ERTUM
1505 gelang Franz von Taxis der
nächste Schritt zum freien Dienst-
leistungsunternehmer. Er schloss
mit dem kastilischen König Phi-
lipp I., dem Sohn Maximilians, den
spanisch-niederländischen Postver-
trag. Die Taxis hatten nun inner-
halb ihres Unternehmens gewisse
staatliche Hoheitsrechte, wie sie
ein Landesfürst besaß. Sie konnten
jeden, der die Beförderung der Post
behinderte, zur Unterstützung
zwingen und über Postangestellte
Gerichtsurteile fällen.

Die von den Taxis organisierte


Post war höchst erfolgreich: Ab dem
17. Jahrhundert gab es Postrouten
im ganzen Habsburger Reich, bis
nach Granada reichte das Netzwerk.
Die schnellen Nachrichten ließen
Europa enger zusammenrücken.
Bald wurden nicht mehr nur Nach-
richten, sondern auch Waren und
Wertgegenstände in Postsäcken und
später auch Personen in Post-
kutschen transportiert. Doch der
Versuch, die Taxis’sche Post als
Monopol im Kaiserreich zu etablie-
ren, gelang nie ganz. Vor allem die
protestantischen Fürsten unterhiel-
ten aus Misstrauen gegenüber dem
katholischen Kaiser weiter ihre
eigenen Post- und Botensysteme.
Erst 1615 erhielt Lamoral von Taxis
das kaiserliche Postregal – das Recht
Postadel lometer einem neuen Boten zur alleinigen Postbeförderung – als erbliches Lehen. Nun ge-
Franz von Taxis mit frischem Pferd übergeben. Damit hörte die kaiserliche Post den Taxis, die sich ab 1650 Thurn
schuf ein Imperium
schaffte es eine Depesche aus Innsbruck und Taxis nannten und später zu Reichsgrafen aufstiegen.
aus einer Idee: Statt
nur eines Kuriers 1505 innerhalb von fünf oder sechs Den Dreißigjährigen Krieg, die Französische Revolution,
nutzte er für lange Tagen nach Brüssel. weitere Kriege und Veränderungen überstand die Post der
Strecken mehrere Der Unterhalt der Relaisstationen Thurn und Taxis. Erst der Zerfall des Heiligen Römischen
Boten mit jeweils
aber kostete, und auch die Taxis muss- Reiches Deutscher Nation 1806 läutete das Ende der Post als
frischen Pferden.
ten die Erfahrung machen, dass der Privatunternehmen ein. Aus dem Kaiserreich wurden Klein-
Kaiser in Wien ein säumiger Zahler staaten, etliche führten eine eigene staatliche Post ein.
war. Das zwang die kaiserlichen Postmeister, sich nach Im Konflikt zwischen Habsburg und Preußen um die Vor-
solventeren Kunden umzusehen. Die süddeutschen machtstellung hatten die Thurn und Taxis in Otto von Bis-
Handelshäuser der Fugger und Welser wurden zu wichti- marck einen mächtigen Gegner, er nahm ihnen die Nähe zum
gen Kunden der Post. Damit wurde sie, wenigstens teil- Haus Habsburg übel. Als Preußen im Deutschen Krieg 1866
weise, von einer staatlichen Einrichtung zu einem Unter- Österreich besiegte, erzwang das Haus Hohenzollern die Ab-
nehmen. tretung sämtlicher Postrechte an Preußen. Es war der Beginn

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 55


KÖNNEN
ZAHLEN
LEBEN
RETTEN
? der staatlichen Post in Deutschland – und das Ende eines
Familienunternehmens, das fast 600 Jahre lang existierte.

Der Fabrikant

Mit der Industrialisierung gewann die bürgerliche Gesellschaft


gegenüber dem Adel an Bedeutung. Die Aristokratie kämpfte
nun zunehmend mit vermeintlich bürgerlichen Mitteln ums
»Obenbleiben«, wie es Adelsforscher Rasch formuliert. In
England investierten Lords und Peers zur Sicherung ihres
Wohlstands in Aktien. In Deutschland war man in dieser Hin-
sicht, gemessen am Vermögen, das zur Verfügung stand, zu-
rückhaltender. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
stieg die Zahl der adeligen Unternehmer allmählich. Das lässt
sich anhand der Mitgliederlisten von Industrieverbänden fest-
stellen. Besonders viele Adelige fanden sich danach in Vor-
ständen und Verbänden der Chemieindustrie.
Die Industrialisierung gab nicht nur dem Bürgertum neue
Aufstiegschancen. Auch die adeligen Unternehmer hatten
nun mehr Möglichkeiten, waren immer weniger abhängig
von Obrigkeit und höfischen Konventionen. So brauchte der
westfälische Landadlige Johann Ignaz Franz Reichsfreiherr
von Landsberg-Velen nicht mehr die Gunst des preußischen
Königs, um 1822 seine Chemiefabrik zu gründen. Die not-
wendigen Konzessionen konnte er als Adeliger, der auch re-
gionale Ämter innehatte, leicht selbst besorgen.
224 Seiten mit Abbildungen, gebunden Als einer der wohlhabendsten Männer Westfalens brachte
€ 20,00 ( D ) · Auch als E-Book erhältlich
Landsberg-Velen bessere Voraussetzungen mit als die meisten
bürgerlichen Gründer: Über Kapital und Produktionsmittel
verfügte er bereits. Aber die Motivation und der Stil, mit der
JA, er sein Unternehmen zum Erfolg führte, waren von der eines
Bürgerlichen kaum zu unterscheiden. Landsberg-Velen for-
Zahlen können Leben retten – mulierte seinen eigenen Anspruch 1851 so: »Es genügt nicht,
oder uns dumm, krank und das Verfahren selbst zu kennen, sondern es bedarf auch einer
Beurtheilung in seiner Wirkung, um ein klares und richtiges
unglücklich machen. Wie Zahlen
Urtheil über den Verlauf der Sache zu faßen und, im Falle
unseren Alltag erobert haben und Schattenseiten sich ergeben, zu erwägen, wie diese zu besei-
warum sie solche Macht auf uns tigen seyn möchten.«
ausüben, das zeigt Daten- Dass ein westfälischer Landadeliger überhaupt auf die
Idee kam, eine Chemiefabrik zu gründen, hatte einen für die
korrespondentin Sanne Blauw Zeit typischen Grund: Rohstoffknappheit. Zu Landsberg-
anhand ebenso unterhaltsamer wie Velens Vermögen gehörte seit je die Wocklumer Eisenhütte
eindrucksvoller Beispiele. im Sauerland, südöstlich von Iserlohn. Sie verschlang große
Mengen Holzkohle, die damals in offenen Meilern hergestellt
Und sie gibt hilfreiche Tipps, wurde. Landsberg-Velen konnte den Holzbedarf dafür nicht
wie wir uns die Deutungshoheit aus dem eigenen Waldbestand decken. Und weil in der Region
über unsere zahlenbasierte viele weitere Hochöfen standen, stiegen die Holzpreise immer
weiter an.
Welt zurückerobern.
In dieser Situation wurde der Freiherr vom Münsteraner
Apotheker Ferdinand Herold mit einem neuen Verfahren zur
Holzkohlegewinnung bekannt gemacht: Das Holz sollte in

56 UNTERN EH M ERTUM
www.dva.de
geschlossenen Öfen verkohlt werden. Dabei entstehende Ne-
benprodukte wurden unter anderem zu Teer, Gips und Blei-
weiß weiterverarbeitet, die im Baugewerbe, in der Glasver-
edelung und der Farbproduktion gebraucht wurden.
1822 eröffnete die Chemische Fabrik Wocklum. Lands-
berg-Velen ging dabei ein hohes unternehmerisches Risiko
ein: Die Verkohlung in geschlossenen Öfen war noch nicht
praktisch erprobt. Er verließ sich auf den Fachmann; der Apo-
theker Herold wurde als »Dirigent« der Fabrik sein Geschäfts-
partner. Landsberg-Velen stellte den Hauptteil des Kapitals
und ließ die notwendigen Produktionsgebäude bauen, ein
Labor wurde in einer ehemaligen Kapelle untergebracht. Fast
alle Rohstoffe für die chemische Produktion kamen von den Taschenbuch. € (D) 11,–
Gütern der Landsberg-Velens. So war die Wocklumer Che- Verfügbar auch als E-Book
miefabrik nie auf Bankkredite angewiesen.
Bald produzierte die Chemiefabrik neben Holzkohle bis

IM
zu 38 Produkte aus organischen und anorganischen chemi-
schen Prozessen, etwa Schwefel- und Salpetersäure oder
Soda.

ZICKZACK
Der Reichsfreiherr fungierte zunächst als stiller Teilhaber:
Er tat alles für den Erfolg seines Unternehmens, hielt sich
aber aus den operativen Prozessen heraus. Er sorgte sich um

DURCH
den Ausbau von Straßen in der Region und richtete für die
Mitarbeiter eine Krankenkasse ein, damit sie kostenlos me-
dizinisch behandelt wurden. Doch nachdem Herold ausge-

DIE
stiegen und ein Nachfolger gescheitert war, musste der Frei-
herr nach 17 Jahren selbst eingreifen.

WELT-
Um seine Investitionen, aber auch die Arbeitsplätze zu
retten, entschloss sich Landsberg-Velen 1839, für Produktion
und Finanzen jeweils einen Geschäftsführer anzustellen.

GESCHICHTE
Er selbst trieb von nun an als chemischer Laie Innovatio-
nen voran. Als »wissenschaftlicher Koordinator«, wie er es
nannte, wertete er in seinem Schloss in Münster systematisch
chemische Zeitschriften, Hand- und Lehrbücher aus, über-
mittelte den Chemikern im Betrieb fast täglich seine Notizen
mit Anregungen für Verbesserungen und neue Produkte. So In sieben Schritten
entstand zwischen den Experten und dem chemischen Auto-
didakten Landsberg-Velen eine rege schriftliche Diskussion entstehen die verblüffendsten
über Fabrikationsmethoden und Reaktionsabläufe, die die
Firma vorantrieb. Zusammenhänge – so
Als Landsberg-Velen 1863 starb, führte sein Sohn Fried-
rich die Geschäfte erfolgreich weiter. Ihn hatte der Vater überraschend, vergnüglich
nicht mehr auf die im Adel traditionelle Kavaliersreise durch
Europa geschickt, sondern mit Studienreisen an Standorte und unterhaltsam war
der englischen Chemieindustrie auf die Nachfolge vorberei-
tet. Mit der Weltwirtschaftskrise allerdings gingen 1930 Teile Geschichte noch nie.
des freiherrlichen Unternehmens in Konkurs. Ein Prokurist
der Landsberg-Velens übernahm die Chemiefabrik und führ-
te sie nach dem Zweiten Weltkrieg weiter. Die Chemie Wock-
lum existiert bis heute. 

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 57


www.spiegel.de www.kiwi-verlag.de
58 PORTRÄT
Einst galt sie als rebellischer Popstar, inzwischen sorgt sie für Schlagzeilen
mit ultrarechten und rassistischen Thesen: Gloria von Thurn und Taxis.

Was vom Adel übrig blieb


Von Uwe Klußmann

D
ie Frau mit dem adeligen Namen Gloria Prinzes- mitnichten anders drauf als wir. Dass die mehr schnackseln,
sin von Thurn und Taxis verblüffte Beobachter hat mit den klimatischen Bedingungen da unten zu tun.«
schon in jungen Jahren. Mit Anfang zwanzig galt Zwei Monate zuvor hatte Papst Benedikt XVI. sie zur
sie als »Punk-Fürstin«. Da ließ sie sich ihre Haare »Komturdame mit Stern des Päpstlichen Ritterordens des hei-
von Starfriseur Gerhard Meir zu turmartigen Kunstwerken ligen Gregor des Großen« ernannt. Schon 2006 hatte sie vom
verformen. Sie erschien mit einer haarspraysteifen Löwen- Bundespräsidenten das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundes-
mähne in Pink auf dem Hochzeitsball ihrer Schwester in Salz- republik Deutschland erhalten. Die Auszeichnung wird »ver-
burg. Und tanzte in der New Yorker Disco »Palladium« in ei- dienten Männern und Frauen des deutschen Volkes« verlie-
nem Kettenhemd von Paco Rabanne auf einer Tischplatte. hen. Dass sie zu diesen gehört, daran scheint auch Bayerns
Auch ein SPIEGEL-Reporter schwärmte 1986 von ihren Ministerpräsident Markus Söder, Aspirant auf die Kanzler-
»fiebrig schönen Augen« und fand, sie habe »etwas ungemein kandidatur, nicht zu zweifeln. Er bezeichnete sie kürzlich als
Explosives«. »Kunstwerk« und »liebe Fürstin« – als habe er die nach der
Geboren wurde sie im Februar 1960 als Tochter von Joa- Revolution 1918 erfolgte Abschaffung des Adelsprivilegs noch
chim Graf von Schönburg-Glauchau und seiner ersten Frau nicht bemerkt.
Beatrix. Die Schönburgs gehörten zum sächsi- Sein Kabinettskollege Bernd Sibler, Staats-
schen Adel, per Bodenreform 1945 in der Sowjeti- minister für Wissenschaft und Kunst, nennt die
Auffällig
schen Besatzungszone entschädigungslos expro- Gloria feierte 1987 Schlossbesitzerin ernsthaft »Ihre Durchlaucht«.
priiert, Vater Schönburg verdiente sein Geld als als Glamour-Punk Ebenso halten es TV-Moderator Kai Pflaume
Journalist, unter anderem als stellvertretender auf einem Charity- und Hofschranzen des Bayerischen Rundfunks.
Chefredakteur der Jagdzeitschrift »Die Pirsch«. Ball im Waldorf- So bekommt die Schlossherrin immer wieder ein
Astoria Hotel in
»Wir waren verarmt, weil uns die Kommunisten New York City. Forum, nicht selten für reaktionären Nonsens.
enteignet hatten«, bilanziert Gloria ihr Familien- Mal behauptet die »Fürstin zum Anfassen«
schicksal. Doch der vermeintlichen Armut entfloh (Bayerischer Rundfunk), Kondome schützten nicht
sie mit einem Schlag. 1980 heiratete sie einen der reichsten vor Aids, mal nennt sie Schwangerschaftsabbrüche »Massen-
Männer Deutschlands, Johannes Prinz von Thurn und Taxis, mord« und hebt lobend hervor, »dass die AfD die einzige
Universalerbe des riesigen Vermögens der Familie, zu dem Partei ist, die offen gegen Abtreibung ist«. Zugleich behaup-
auch umfangreicher Waldbesitz gehört. tet die Shitstorm-Erprobte, mit der AfD nicht viel am Hut
Die Hochzeit mit dem 34 Jahre älteren Lebemann feierte zu haben.
sie 1980 auf Schloss St. Emmeram bei Regensburg, vergoldete Allerdings findet sich die Schlossherrin ein bei Versamm-
Kutsche und Brautdiadem inklusive. Der Milliardär und Star lungen rechter Abtreibungsgegner, etwa in Verona im Februar
der Regenbogenpresse pflegte sein Jetset-Leben, mal mit, 2018. Und sie pflegt einen trauten Umgang mit Ikonen des
mal ohne die auffällige Gestalt an seiner Seite, bis er zehn Erzkonservativismus wie Ungarns Premier Viktor Orbán und
Jahre später verstarb. So erbte sie mit 29 Jahren sein Vermö- Trumps Ex-Chefideologen Stephen Bannon. Den findet sie
gen und das Schloss, mit einer Wohnfläche von 21 500 Qua- »nicht so schlimm«.
dratmetern größer als Buckingham Palace. Zum Thema »Migration« offerierte sie 2015 eine Sicht,
Ihrem Hang zum Hemmungslosen blieb sie treu. Schon die selbst den rechtesten Flügel der AfD nur erfreuen kann:
zu Lebzeiten ihres Mannes hatte sie dessen Freunde aus der »Wir stehen am Rand des dritten Weltkrieges, man könnte
Familie Rothschild als »Weinjuden« bezeichnet. In der ARD- fast sagen, diese Völkerwanderung, die hier auf uns zuströmt,
Talkshow »Friedman« dozierte sie 2001 mit erhobenem Zei- ist schon eine Art Krieg.« Die »Süddeutsche Zeitung« be-
gefinger über das Sexualverhalten von Afrikanern: »Der zeichnete sie kürzlich als »Popstar der Rechten«.
Schwarze schnackselt gern.« Das Entsetzen war groß, doch Damit ihr Auftreten Schule macht, bietet Gloria auf ihrem
folgenlos – im September 2008 legte Gloria noch einmal Schloss seit 2013 Kurse an in »gesellschaftlicher Etikette«.
nach, in der »Bild«-Zeitung, dem Zentralorgan für das, was Bei ihr lasse sich lernen, sagt sie, »Benimmregeln« zu beher-
man doch noch mal wird sagen dürfen: »Die Afrikaner sind zigen und »souverän und anschaulich zu plaudern«. 

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 59


»Ich bin es meinem Haus
und mir selbst schuldig«
60 FRANZÖSISCH E REVOLUTION
Von Joachim Mohr

E
Familiensitz ndlich! Im Mai 1793 erhielt der jugend-
Die Wurzeln der liche Reichsgraf Joseph zu Salm-Reiffer-
Familie Dyck, die in
scheidt-Dyck die ersehnte »Großjährig-
einem Schloss
mit Wassergraben keitserklärung« von Kaiser Franz II.,
residierte, reichen dem letzten Kaiser des Heiligen Römischen Rei-
mindestens bis ins ches Deutscher Nation. Der Kaiser schrieb darin,
11. Jahrhundert
dass er Joseph »tüchtig und fähig befinde, die ei-
zurück (Postkarte
aus dem 20. Jahr- gene Verwaltung seiner Güter und Herrschaften,
hundert). ohne allen vormundschaftlichen Beistand und Hil-
fe, antreten und führen zu können«.
Der niederrheinische Graf hatte seinen Vater
bereits im Alter von zwei Jahren verloren und seit-
dem unter der Vormundschaft seiner Mutter und
eines Onkels gestanden. Nun, mit knapp 20 Jahren,
war er endlich sein eigener Herr und alleiniger Ge-
bieter über seine Besitztümer und damit auch über
die Herrschaft Dyck, ein Territorium von etwa
neun Quadratkilometer Größe, gelegen südwest-
lich von Düsseldorf.
Allerdings konnte der Graf seine Regentschaft
nur für knapp anderthalb Jahre genießen: Im Ok-
tober 1794 besetzten französische Revolutionstrup-
pen das linke Rheinufer, marschierten in die Reichs-
grafschaft Dyck ein und übernahmen auch das
schmucke Wasserschloss, in dem Joseph residierte.
Es blieb nicht die einzige dramatische Verände-
rung im Leben des Grafen Joseph zu Salm-Reif-
ferscheidt-Dyck in den unruhigen Zeiten vor und
nach der Französischen Revolution. Wie auch viele
andere Vertreter des Adelsstandes kämpfte er da-
rum, sich in einer rasant verändernden Welt ge-
sellschaftlich oben zu halten. »Ich bin es meinem
Haus und mir selbst schuldig«, notierte Salm-Reif-
ferscheidt-Dyck einmal, »mir die Verhältnisse zu
sichern, die meinem Stande und meiner Geburt
angemessen sind. Dieses Ziel werde ich nie aus
den Augen verlieren.« Von vielen anderen Ade-
ligen jedoch unterschied Joseph zu Salm-Reiffer-
scheidt-Dyck vor allem eines: Er erreichte mit viel
Mühen und Einsatz sein Ziel am Ende – fast.
Josephs Kindheit und Jugend waren geprägt von
überlieferten adligen Vorstellungen: Die eigene Dy-
nastie und die Kirche waren die alles entscheiden-
den Instanzen. Die Familie war sich ihrer Tradition
bewusst: Bereits Ende des 11. Jahrhunderts wurden
die Herren von Dyck erstmals genannt, sie stiegen
als Gefolgsleute der Kölner Erzbischöfe auf. Die
Ahnengalerie auf dem Schloss versuchte sogar, die
Familie bis auf Karl den Großen zurückzuführen
Freiheit und Gleichheit forderten (was allerdings nur gelang, indem auch Vorfahren
die Bürger in der Französischen der Ehefrauen miteinbezogen wurden).
Revolution. Für einen Grafen Im Alter von sechs Jahren schickte seine Mutter
den kleinen Joseph gemeinsam mit seinem jünge-
vom Niederrhein ging es nun um ren Bruder auf die Schule nach Köln, zuerst auf
seine Existenz. das in der Tradition der Jesuiten stehende Konvikt
Xaverianum, dann auf das ehrwürdige Gymnasium

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 61


Tricoronatum, das auf eine schon im 15. Jahrhun- Französisch, schrieb der damals 15-Jährige be- Bibliothek
dert gegründete Lehranstalt zurückging. Die Leit- eindruckt, wie der Politiker und Schriftsteller Graf Die bis heute er-
haltenen Gebäude
begriffe des strengen Unterrichts lauteten »Tugend Mirabeau die hitzige Debatte nur »avec tant von Schloss Dyck
und Frömmigkeit«. d’adresse et de modération« (»mit so großem Ge- stammen aus dem
Mit zwölf Jahren ging Joseph mit einem aufge- schick und Mäßigung«) beruhigen konnte. 17. Jahrhundert
klärten und progressiven Hofmeister und seinem Josephs Hofmeister, sein Lehrer und Erzieher (Postkarte aus dem
20. Jahrhundert).
Bruder auf die damals für junge Adelige übliche während der Reise, ahnte wohl, dass die Ruhe nur
Kavalierstour. Die mehrere Jahre dauernde Bil- vorläufig war und fuhr mit den beiden jungen Gra- Ahnengalerie
dungsreise führte ihn zunächst durch Afrika bis fen weiter nach Wien, bevor die Revolution tat- Im Alter von 81 Jah-
zum Kap der Guten Hoffnung, dann unter ande- sächlich ausbrach. Die Forderungen nach Freiheit, ren ließ sich
Joseph zu Salm-
rem nach Brüssel, Paris und Wien. Brüderlichkeit und vor allem Gleichheit, mit denen Reifferscheidt-Dyck
die Bürger das »Ancien Régime«, das alte Reich überlebensgroß
In Paris verbrachte Joseph fast zwei Jahre. Die mit seinen Städteprivilegien, hinwegfegten, mag in der Uniform eines
Großstadt übte großen Einfluss auf ihn aus, nicht Joseph in der österreichischen Metropole vernom- Obristen der preu-
ßischen Landwehr
nur wegen des Harfen-, Fecht- und Tanzunter- men haben. Doch noch konnten die Adligen außer- porträtieren
richts, den er hier erhielt: Er entdeckte die Botanik, halb Frankreichs hoffen, dass sie vom Umsturz (Gemälde, 1854).
die sich zu einer lebenslangen Leidenschaft ent- verschont würden.
wickelte (siehe Seite 66). Und er bekam eine Ah- Joseph heiratete und trat seine Regentschaft in
nung davon, welche gesellschaftlichen und politi- Dyck an. Doch dann trafen auch ihn die Folgen
schen Umbrüche in Europa bevorstanden. der Revolution: 1794 marschierten französische
Am 4. Juli 1789, knapp sechs Wochen vor dem Truppen ins Rheinland ein. Die dortigen Adeligen
blutigen Sturm der Revolutionäre auf die Bastille, verloren kurzerhand all ihre Titel, Herrschaftsrech-
wohnte Joseph einer Deputiertenversammlung te und Privilegien sowie in vielen Fällen auch weite
des Dritten Standes bei. Aufgebracht stritten die Teile ihres Besitzes.
Abgeordneten über das Verhältnis zu dem bei vie- Viele rheinische Adelige setzten sich ins Exil
len Bürgern verhassten Adel und Klerus. In einem ab. Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck aber ent-
Brief an seine Mutter, wie fast alle seine Briefe auf schied sich zu bleiben – er wollte seine Heimat

62 FRANZÖSISCH E REVOLUTION
ner Weise vorgeworfen werden, er sei jemals ein
Feind der französischen Republik gewesen. Der
Unterzeichnende erklärt ausdrücklich, dass er
französischer Bürger bleiben will.«

Wiederholt versicherte Joseph den neuen Her-


ren seine Gefolgschaft. Und seine Loyalität wurde
geschätzt: Bereits im Jahr 1800 wurde er Mitglied
im Departementsrat seiner Gegend, 1803 ernannte
ihn Napoleon Bonaparte zum Präsidenten der
Kantonalversammlung von Elsen im Arrondisse-
ment Köln, 1804 wurde er in die Gesetzgebende
Körperschaft nach Paris berufen. Napoleon ver-
folgte nach seiner Kaiserkrönung 1804 auch im
Rheinland eine Art Refeudalisierung, um sich auf
eine Schicht getreuer Untergebener verlassen zu
können: So wurde der »Citoyen Joseph« in den
Verdienstorden der Ehrenlegion aufgenommen,
1808 verlieh Napoleon ihm sogar den Titel eines
Grafen (»Comte d’Empire«).
Von großer Bedeutung für den rasanten Wie-
deraufstieg unter Napoleon war Josephs zweite
Heirat: 1803 nahm er die bekannte französische
Schriftstellerin, Komponistin und Salonière Con-
und den Besitz seiner Ahnen nicht aufgeben. Sei- stance Marie de Théis zur Frau. Die sechs Jahre
ner Frau ging das zu weit: Sie verließ ihn und floh ältere Constance, die aus einer gutbürgerlichen
an den Kaiserhof nach Wien. Familie stammte, hatte bereits große literarische
Joseph versuchte, die neuen Herren für sich zu Erfolge gefeiert, sie war emanzipiert und setzte
gewinnen. Gleich im Oktober 1794 empfing der fran- sich für die Rechte der Frauen ein. In ihrem Pariser
kophile Graf drei französische Generäle, bewirtete Salon verkehrte die intellektuelle und künstleri-
sie festlich und umgarnte sie mit Geschenken. Doch sche Elite Frankreichs ebenso wie etwa der deut-
er wurde, wie alle anderen Untertanen, zum einfa- sche Forschungsreisende Alexander von Hum-
chen Bürger erklärt. Er hieß nun »Bürger Joseph boldt oder der britische Dichter Lord Byron.
Salm«, musste hohe Kontributionen leisten, jahre- Bei der Heiratszeremonie mit Constance in Paris
lange Einquartierungen von französischen Truppen soll Napoleon, der eingeladen war, zu Bürger Joseph
ertragen und wie jeder andere Steuern zahlen. Im- Salm gesagt haben: »Vous allez épouser une muse«
merhin durfte er, anders als andere Adelige, seinen (»Sie sind im Begriff, eine Muse zu heiraten«).
Besitz weitgehend behalten, wenn auch die Feld- Der französische Schriftsteller Stendhal berich-
früchte enteignet wurden. Obwohl Joseph 1803 auf tete amüsiert, dass die selbstbewusste Constance
dem Regensburger Reichstag eine üppige jährliche vor ihrer Hochzeit zwei Monate mit ihrem Auser-
Rente für den Verlust seiner landesherrlichen Rechte wählten Joseph auf seinem Wasserschloss am Nie-
erwirkte, reiste er wiederholt auch nach Paris, um derrhein genächtigt hatte, schlicht um zu prüfen, »Der Unter-
sich dort für seine Interessen einzusetzen. ob sie es dort in der Provinz auch aushalte. Dabei zeichnende
Sogar an den französischen Außenminister war die Ehe kein Arrangement, wie es in adeligen
Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord wandte Kreisen üblich war, sondern eine echte Liebesheirat.
erklärt
er sich und präsentierte sich unterwürfig als Frank- Constance beschrieb ihren Mann 1810 in einem ausdrücklich,
reichanhänger: »Der Unterzeichnende hat weder Gedicht mit den Worten: »... l’aimable époux qui dass er
direkt noch indirekt, weder freiwillig noch gezwun- me charme et m’enchaÎne« (»der liebenswerte Gat-
französischer
gen auf irgend eine Weise an dem Krieg des deut- te, der mich verzaubert und in Ketten legt«).
schen Reichs gegen die französische Republik teil- Constance, geschieden von einem reichen Bürger
genommen. Dem Unterzeichnenden kann in kei- Chirurgen, brachte eine Tochter und drei Enkel bleiben will.«

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 63


Dokument

»Sie glauben, noch zu führen«


1856 analysierte der französische Publizist Alexis de Tocqueville die
Geschichte der Französischen Revolution – und beschrieb
die Missstände in der Aristokratie, die den Umsturz beschleunigten.

M it ihren Forderungen
nach »Freiheit, Gleich-
heit, Brüderlichkeit«
sich und bildet sich neben ihnen,
ohne sie und gegen sie; sie hat-
ten die Bürger weder zu Verbün-
richtete sich die Französische deten noch zu Mitbürgern ha-
Revolution 1789 gegen die alten ben wollen: sie sollen in ihnen
Vorrechte des Adels. Die anfangs erst Nebenbuhler, bald Feinde
gemäßigten Revolutionäre radi- und endlich Herren finden. Eine
kalisierten sich in der zweiten fremde Macht hat sie der Sorge
Phase der Revolution, bevor schließlich Napoleon Bona- überhoben, ihre Vasallen zu leiten, zu schützen, zu
parte sich 1804 zum Kaiser von Frankreich krönte und unterstützen; da diese Macht ihnen aber zu gleicher
einen neuen Adel schuf, die »Noblesse imperiale«. Zeit ihre pekuniären Rechte und ihre Standesprivi-
In seinem Werk »Der Alte Staat und die Revolution« legien gelassen hat, glauben sie, nichts verloren zu
untersuchte der Publizist und Politiker Alexis de Tocque- haben; da sie noch immer vorangehen, glauben sie,
ville 1856 die Geschichte des Umsturzes und die Be- noch zu führen, und allerdings sind sie von Menschen
dingungen, die dazu führten. Tocqueville stammte umgeben, die sie in notariellen Urkunden ihre Unter-
selbst aus einer alten normannischen Adelsfamilie, er tanen nennen; andere nennen sich ihre Vasallen, ihre
beschrieb sich selbst als »Aristokrat aus Instinkt und Zinsbauern, ihre Pächter. In Wahrheit folgt ihnen nie-
Demokrat aus Vernunft«. Dennoch hielt er die Entwick- mand, sie sind allein, und wenn man endlich auftreten
lung vom aristokratischen, »alten«, zum neuen, »de- wird, um sie niederzuwerfen, wird ihnen nur die
mokratischen« Zeitalter für unaufhaltbar. In seinem Flucht übrig bleiben …
Werk kritisierte er die Fehler und Versäumnisse des Zu allen Zeiten wird man staunen, wenn man die
Adels vor 1789, die schließlich zur Revolution führten. Trümmer dieses großen französischen Staatsgebäudes
sieht, dem es beschieden zu sein schien, sich über ganz
»Der französische Adel hält sich hartnäckig von den Europa zu erstrecken; diejenigen aber, die seine Ge-
anderen Klassen getrennt; die Edelleute lassen sich schichte aufmerksam lesen, werden seinen Fall leicht
endlich von den meisten der öffentlichen Lasten be- begreifen. Fast alle die Gebrechen, fast alle die Irr-
freien, die jene drücken; sie wähnen, ihre Größe be- tümer und verderblichen Vorurteile, die ich geschildert
haupten zu können, indem sie sich diesen Lasten ent- habe, verdankten in der Tat sowohl ihr Entstehen als
ziehen, und anfangs scheint dem auch so zu sein; bald ihre Dauer und Entwicklung jener Kunst, welche die
aber scheint eine innere unsichtbare Krankheit ihre Mehrzahl unserer Könige besaß, nämlich die Men-
Stellung befallen zu haben, die sich allmählich ver- schen zu trennen, um sie desto unumschränkter zu
ringert, ohne dass sie selbst von jemand angetastet beherrschen.«
werden; sie verarmen in dem Maße, wie ihre Vorrech-
te zunehmen. Der Bürgerstand dagegen, mit dem sich Zitiert nach J. P. Mayer (Hg.): »Alexis de Tocqueville. Der alte Staat
zu vermengen sie sich so sehr scheuten, bereichert und die Revolution«. Carl Schünemann; Bremen, 1959.

64 FRANZÖSISCH E REVOLUTION
mit in die Ehe; auf Schloss Dyck residierte somit den preußischen König Friedrich Wilhelm III., ab, Waffensaal
eine Patchworkfamilie – zumindest im Sommer. um auf sich aufmerksam zu machen: »Ein großer Ursprünglich eine
wehrhafte Burg-
Die Wintermonate verbrachte das Paar stets in Teil des linken Rheinufers hat sich im Gefolge
anlage, verwandelte
der französischen Hauptstadt. Für Joseph war der glücklicher Ereignisse, bei welchem die königlich sich der Adelssitz
Pariser Salon seiner Gattin ein hervorragender preußische Armee sich mit Ruhm bedeckte, jetzt von Dyck in den
Ausgangspunkt, um Verbindungen in die franzö- das Glück, in Eurer Majestät ihren König und Lan- Jahren 1656 bis
1667 in ein reprä-
sische Politik, in die Verwaltung und ins Militär desvater zu verehren.«
sentatives Schloss
zu knüpfen. Er engagierte sich auch bei den Frei- Auf heutige Menschen mag Josephs Verhalten (Postkarte aus dem
maurern und in Jagdvereinigungen. anbiedernd und opportunistisch wirken. Doch er 20. Jahrhundert).
selbst wird es als schlüssig und notwendig betrach-
Josephs Stellung schien wieder gesichert: Er tet haben. Zu seiner Zeit gab es noch kein Natio-
verkehrte in höchsten Kreisen, war angesehen und nalbewusstsein, man gehörte noch nicht zu einem
hatte sogar direkten Kontakt zum Kaiser. Doch Staat, sondern man war Untertan eines Herrn –
dann wurde Napoleon im Juni 1815 in Waterloo und der konnte eben wechseln.
von englischen und preußischen Truppen vernich- Für Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck zählte
tend geschlagen. Das französische Herrschafts- deshalb nicht so sehr, ob er einem deutschen oder
system in Europa zerbrach – und mit ihm der Sta- französischen Kaiser oder einem preußischen Kö-
tus in der französischen Gesellschaft, den Joseph nig unterstand, für ihn war vielmehr entscheidend,
sich erarbeitet hatte. wie er sein gesellschaftliches Ansehen, seine Macht
Auf dem Wiener Kongress 1815 wurde das und seine Güter durch die Umwälzungen der Zei-
Rheinland und mit ihm die Grafschaft Dyck dem ten retten konnte. Seine Frau Constance schildert »… das Glück,
Königreich Preußen zugeschlagen. Erneut drehte diese Einstellung in einem Brief im Jahr 1814 ein-
sich Josephs Schicksal: Aus dem in Frankreich bes- drücklich: »... wende ich mich doch denen zu, bei
in Eurer
tens vernetzten »Comte« wurde plötzlich wieder denen ich bin; weil nun einmal alles so ist, wie es Majestät
ein unbedeutender rheinischer Gutsherr, der zu- ist. Ich folge den Bewegungen der Königreiche, ihren König
nächst kaum Verbindungen in die höhere preußi- Imperien und ihren Regenten, wie man einer Par- und Landes-
sche Gesellschaft hatte – und zudem in ungünstiger tie Schach folgt.«
Randlage angesiedelt war. Sofort setzte Joseph Nun war sein Herr eben der preußische König. vater zu
eine Ergebenheitsadresse an seinen neuen Herrn, Und diesem gegenüber versuchte Joseph, seine In- verehren«.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 65


DIE LIEBE ZU DEN PFL ANZEN
Salmia, Reifferscheidia und Dyckia sind Pflanzengattungen,
die im 19. Jahrhundert erstmals wissenschaftlich erfasst
wurden – und zu Ehren des Fürsten zu Salm-Reiffer-
scheidt-Dyck ihre Namen bekamen. Exotische
Pflanzen zu sammeln, sie im Sommer in Zier-
gärten, im Winter in Orangerien zu präsentie-
ren, war über Jahrhunderte Teil der Adels-
kultur und wurde an vielen Herrscherhäu- Reifferscheidt-Dyck als Vertreter des Ersten Stan-
sern praktiziert. Fürst Josephs Leiden- des in den Rheinischen Provinziallandtag, 1828
schaft ging jedoch weiter: Viele Pflanzen- und 1830 wurde er zum stellvertretenden Land-
arten wurden von ihm erstmals beschrie- tagsmarschall ernannt, was einem heutigen Vize-
ben und bestimmt, er stand in regem präsidenten entspricht. Als im Februar 1847 erst-
Austausch mit allen wichtigen Botanikern mals alle Provinziallandtage zusammen als Ver-
seiner Zeit. In Dyck baute er eine Pflanzen- einigter Landtag nach Berlin gerufen wurden und
sammlung mit Tausenden Arten auf, seine er auch dort zum stellvertretenden Marschall be-
Sammlung von Sukkulenten (dazu zählen unter ande- rufen wurde, dankte er dem König bewegt: »Den
rem die Kakteen) war zu seiner Zeit die größte weltweit. Beweis des allerhöchsten Vertrauens weiß ich
umso höher zu würdigen ...«
Kaktee Opuntia salmiana Blind folgte Joseph dem Monarchen jedoch
nicht. Im Rheinischen Provinziallandtag vertrat
er häufig liberale Ansichten, er zeigte Distanz
zu den konservativen Kreisen der Ritterschaft
teressen durchzusetzen. Dabei halfen sicher sein und damit auch zu vielen Vorstellungen des
einnehmendes Wesen, sein diplomatisches Ge- Königs. Auch setzte er sich immer wieder dafür
schick – und sein Einsatz. Der Wiener Kongress ein, dass die rheinische Rechtsordnung aus der
setzte die alten Rechte der Adeligen auch in den französischen Zeit erhalten blieb; sie war bürger-
ehemals französischen Gebieten wieder in Kraft. freundlicher als das preußische Recht und folgte
Joseph war nun wieder Graf und Feudalherr. Doch den Grundsätzen der Gewaltenteilung. Dass
auch diesmal strebte er nach mehr. Im April 1816 er innerlich durchaus haderte mit dem Verlust
schrieb er in einem weiteren Brief an den König: seiner Stellung, mit der Tatsache, nun Untertan
»Gegenwärtig, wo ... mit der Vereinigung meiner in Preußen zu sein, zeigt ein Bild in der Ahnen-
Besitzungen unter Euer Königlichen Majestät be- galerie auf Schloss Dyck: Erst 1854, fast 40 Jahre
glückendem Zepter eine neue Epoche für mich be- nachdem der preußische König sein Herr ge-
ginnt, wünsche auch ich ..., den Fürstlichen Titel worden war, ließ sich Joseph zu Salm-Reiffer-
annehmen zu dürfen.« scheidt-Dyck in der königlich preußischen Uni-
Bis 1794 hatte die Familie zu Salm-Reiffer- form porträtieren.
scheidt-Dyck im Heiligen Römischen Reich Deut-
scher Nation zu den reichsunmittelbaren Adels- Sein Leben verlief genau auf dem Übergang zwi-
familien gehört, sie unterstand also direkt dem schen traditioneller und moderner Gesellschaft,
Kaiser und niemand anderem. Der preußische zwischen Stände- und Nationalstaat, zwischen
König Friedrich Wilhelm III. gestand Joseph im ständischer und bürgerlicher Gesellschaft. Und
Mai 1816 nun »aus besonderer königlicher Gnade« entlang dieser Bruchlinie agierte der Fürst auch
wieder den Fürstenstand zu, verwehrte ihm aller- selbst: Einerseits gehorchte Joseph zu Salm-Reif-
dings die Anerkennung als reichsunmittelbarer ferscheidt-Dyck der traditionellen Maxime des
Standesherr. Joseph zu Salm-Reifferscheidt-Dyck Adels, der zufolge der Rang der Familie und dessen
blieb auf Dauer preußischer Untertan, was ihn Erhalt oder Erhöhung das wichtigste Ziel war und
schmerzte. auch das persönliche Handeln leitete. Gleichzeitig
Doch auch dem neuen Herrn gegenüber ver- jedoch akzeptierte er aufgeklärt und nüchtern, wie
hielt er sich loyal. Er stellte sich dem preußischen die Welt sich veränderte.
Militär zur Verfügung und stieg bei der Landwehr Nachdem seine Frau Constance 1845 gestorben
zum Bataillonskommandeur und zum Oberst auf. war, gab der Fürst seine Aufenthalte in Paris auf.
»... wünsche 1833 schrieb er Friedrich Wilhelm III. ergeben: 1860 siedelte er nach Südfrankreich über, weil
auch ich, »Vom ersten Augenblick an, wo diese Länder mit er sich vom milden Klima des Mittelmeers Linde-
den Fürst- Preußen vereinigt wurden, habe ich Ew. Majestät rung seines chronischen Katarrhs versprach. Er
meine Dienste unbedingt angeboten. Mit Stolz starb am 21. März 1861 in Nizza im Alter von
lichen Titel
habe ich die preußische Uniform angelegt.« 88 Jahren. Begraben wurde er selbstverständlich
annehmen Wieder zahlte sich seine Treue aus: Im Jahr in der Familiengruft im St. Nikolauskloster bei
zu dürfen«. 1826 berief der preußische König Joseph zu Salm- Schloss Dyck. 

66 FRANZÖSISCH E REVOLUTION
KA PE T I N G E R & B O U R B O N E N
Die Kapetinger mit ihrer Nebenlinie Bourbon sind Europas
zweitältestes Adelshaus. Kaum ein Thron, auf dem
sie nicht einst saßen – und auf zweien sitzen sie noch heute.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Hedwig von Anjou, 1373 bis 1399. Erb- Philippe I. de Bourbon, Duc d’Or -
987 streitigkeiten spülten sie auf den polnischen
Thron – unter der Auflage, den litauischen
léans, 1640 bis 1701, war am französischen
Hof Teil der homosexuellen Bruderschaft
Großfürsten Jogaila zu heiraten. Der musste »Confrérie d’italianisants«. Doch als Vor-
dafür Christ werden, und mit ihm alle Litau- reiter der LGBT-Emanzipation taugt er
S TA M M S I T Z er. Hedwigs Verdienst, fand Papst Johannes damit nicht: Einen unwilligen Knaben ließ
Paul II. und sprach sie heilig. Das dafür nöti- er angeblich beseitigen. So wie möglicher-
Paris
ge Wunder: Den Auftrag zur Jogaila-Heirat weise auch seine erste Frau, die vergiftet
habe sie von einem leuchtenden, sprechen- worden sein soll. [4]
den Kruzifix bekommen. [1]
S TA M M L A N D E Kaum weniger grenzwertig trieben es sein
Ludwig XIV., 1638 bis 1715. Frankreichs Sohn Philippe II. und seine Enkelin
Westfranken,
»Sonnenkönig« strahlte zumindest als Proto- Marie Louise Élisabeth [5], 1695 bis
das spätere
typ des absolutistischen Herrschers (»Der 1719. Legendär wurden ihre Orgien, bei
Frankreich
Staat bin ich«): Kunst, Architektur und Wis- denen sich Vater und Tochter vergnügten:
senschaft fördernd, wirkte er stilbildend und Voltaire sagte ihnen Inzest nach, was ihn
zeitprägend – und war lebendes Modell eines zeitweilig in Haft brachte. Gerade 24-jährig,
HÖCHSTE schwelgerisch-parasitischen, höchst artifiziel- kollabierte Marie bei einem Gelage und
ÄMTER len Lebensstils. Ludwig war durch und durch starb. Als erster Bourbonin verweigerte man
[GESCH ICHTE]
»barock«, ein dem normalen Leben komplett ihr die Trauerrede – angeblich, weil es nichts
entrücktes Kunstwesen. [2] Gutes zu sagen gab.
Großherzöge,
Könige
BEDEUTENDSTE LEISTUNG G R Ö S S T E R S K A N DA L
und Kaiser

Hugo Capet, circa 940 bis 996, wurde 987 Juan Carlos I., spanischer König von 1975
[ G E G E N WA R T ]
König der Franken und machte den Titel erb- bis 2014, trat nach Affären, Skandalen sowie
lich. Er begründete eine Königslinie, die erst dem Vorwurf der Bestechung, Korruption
König von
1848 endete: Über 861 Jahre waren alle Köni- und Geldwäsche zurück. Seine Erben versu-
Spanien,
ge Frankreichs seine direkten Nachfahren. [3] chen nun, die spanische Monarchie zu retten.
Großherzog von
Luxemburg

BERÜH MTE
RESIDENZEN

Unter den
Dutzenden
Schlössern [1] [2] [3] [4] [5]
der Sippe
ragen die von
Fontainebleau
und Versailles Bekannte Köpfe heute: Felipe VI. (geboren 1968), König von Spanien, Henri von Nassau, Groß-
heraus. herzog von Luxemburg: Obwohl Nachkomme der Nebenlinie Bourbon-Parma, nennen sich die Groß-
herzöge von Luxemburg seit 1919 »von Luxemburg-Nassau«. Das hat – ähnlich wie bei den Windsors,
die man den Häusern Wettin oder Sachsen-Coburg und Gotha zuordnen kann – politische Gründe.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 67


68 SELBSTZEUGN ISSE
»Mein ganzes
Schicksal
hat sich
entschieden«
Um 1800 war das Tagebuch-
schreiben groß in Mode. In ihren
privaten Notizen oder
in Briefen an Verwandte hielten
auch adelige Frauen
Details aus ihrem Leben fest.
Sie geben Einblicke
in den Alltag von damals.

Ball
1878 malte Adolf Menzel ein »Ballsouper«
(Abendessen mit Tanz) am preußischen
Königshof. Der Besuch solcher Feste gehörte
zu den Verpflichtungen vieler Adeliger.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 69


Palastdame
Maria Gräfin von Esterházy-Galantha-Forchtenstein gehörte
dem Hofstaat der Kaiserin von Österreich an.

70 SELBSTZEUGN ISSE
W
ie lebten adelige Frauen low aus altem mecklenburgischen Adel, als daß er sie nicht hätte errathen sollen.
um 1800? Wie sah ihr der ebenfalls eine Diplomatenkarriere Auch war es mein Wunsch nicht, sie
Alltag aus, wie das Fa- einschlug. Als Botschaftergattin lebte ihm zu verbergen, aber mein Herz war
milienleben? Und vor al- Bülow acht Jahre lang in London, wo zu voll, meine Gefühle zu heftig, als
lem: Wie nahmen die Aristokratinnen sie enge Kontakte zum Hochadel und daß ich sie hätte durch Worte ausdrü-
ihr Leben wahr? Waren sie glücklich? sogar ins Königshaus pflegte. Mit ihrem cken können. Er schlang seinen Arm
Und waren sie sich ihrer privilegierten Mann, der nach der Rückkehr nach Ber- um mich, zog mich sanft an seine Brust,
Stellung bewusst? lin preußischer Außenminister wurde, blickte mich zärtlich an u. drückte einen
In Tagebüchern oder Briefen notier- aber schon 1846 starb, bekam sie sieben Kuß auf meine Wangen. So standen wir
ten viele Frauen um diese Zeit Ein- Kinder, als Witwe kümmerte sie sich ein Weilchen. Ich war nicht vermögend,
drücke und Begebenheiten aus ihrem um die Verwaltung der Güter ihrer mehr als abgebrochne Worte zu spre-
Leben: private Details, intime Gedan- Familie. In Briefen an ihren Mann und chen, eine Feuerröthe überflog mein
ken, präzise Beobachtungen ihrer Um- vor allem ihre Schwester Adelheid er- Gesicht, mein Herz schlug dem seinigen
gebung. zählte sie detailliert aus ihrem Leben, entgegen u. ich sank an seinen Busen.
Freifrau Caroline von Lindenfels das 1887 endete. Endlich blickte er mich noch einmal an
etwa, geboren als Caroline von Flotow Es sind drei Frauen mit drei unter- u. sagte: Darf ich sie nun meine liebe
1774 in Arzberg in der Markgrafschaft schiedlichen Schicksalen und Biogra- Caroline nennen? Ein Kuß war meine
Bayreuth. Ihr Vater war Leutnant im fien, aber sie alle schrieben ihr Leben Antwort. Wir umarmten uns von neu-
preußischen Regiment, ihr Ehemann und ihre Gedanken so nieder, dass sie em u. der Bund unsrer Herzen war ge-
Friedrich (»Fritz«) von Lindenfels ein heutigen Lesern ermöglichen, in die schloßen.«
entfernter Vetter. Die beiden bekamen adelige Welt von damals einzutauchen. Caroline von Lindenfels über die erste
zehn Kinder, bewirtschafteten verschie- Begegnung mit Friedrich von Lindenfels,
dene Güter und schließlich den Stamm- nachdem sie in eine Ehe mit ihm eingewilligt
hatte, 23. März 1796
sitz der Familie Lindenfels in Thumsen- Über die Liebe:
reuth. Neben ihren Aufgaben als Guts-

herrin – sie leitete die Bediensteten an »O! Gott! er liebt mich. Er liebt mich
und half auch beim Schlachten und wirklich! Wie glücklich bin ich! Ein un- »Es ist so entsetzlich unsinnlich daß ich
Kerzenziehen – unterrichtete sie ihre aussprechlich süßes Gefühl durchdringt in letzter Zeit gar nicht in mein Journal
Kinder, pflegte Kontakte zu Verwand- mein(e) Brust, ich möchte der ganzen schrieb. Allein wir brachten den Mor-
ten und anderen adeligen Familien und Welt laut zurufen: Ich bin glücklich, gen immer an tausend Geschäften und
erfüllte ihre gesellschaftlichen Verpflich- denn Lindenfels liebt mich, ist mein! Besuchen zu – dann war Nicky viel hier,
tungen. Seit ihrem 16. Lebensjahr führ- mein auf ewig! Ich hatte die Nacht ziem- so daß ich auch zu nichts kam. Wir aßen
te Caroline – mit Unterbrechungen – lich unruhig zugebracht, stand also be- immer bei Louis Karoly, einmal bei Stef-
Tagebuch, sie starb 1850. zeiten auf, kleidete mich an u. ginng fy Karoly … bei Esterhazy … – Montag
Oder Maria Gräfin von Esterházy- mit Luisen ins Eßzimmer. Hier entdeck- war ein großes Diner, eine Art von
Galantha-Forchtenstein: Sie wurde te ich ihr die Ursache meiner Unruhe Verlobung – am Tage nach unserer
1809 als Reichsgräfin Maria Plettenberg- u. wurde durch ihre Versicherung, daß Ankunft erhielt ich viele Geschenke …
Mietingen zu Nordkirchen geboren; da ihr Bruder aus eigner, freier Wahl und am 20t schenkte Nicky mir ein sehr
ihr Bruder gestorben war, wurde sie zur ohne die geringste Überredung, blos schönes Brautlet das mich sehr freute.«
Alleinerbin des Familienbesitzes. Als mit Zustimmung seiner Eltern, um mei- Maria Gräfin von Esterházy-Galantha-F.
Kind lebte sie im Westfälischen, als Ju- ne Hand gebeten hätte, sehr erheitert über ihre Verlobung, 18. Dezember 1832
gendliche in Ungarn und Österreich. … Nach dem Frühstücke gingen wir

1833 vermählte sie sich mit dem ungari- in die Kirche … Nun kleidete ich mich
schen Grafen Nikolaus (»Nicky«) Paul an und ginng ins Zimmer der Frau v. »Seitdem ich Dir das letzte Mal schrieb,
Esterházy von Galantha, Erbgraf zu Lindenfels, wo ich die übrigen Mäd- hat sich soviel zugetragen, mein ganzes
Forchtenstein, der als Kämmerer und chens u. auch meinen Fritz fand. Es künftiges Schicksal hat sich entschieden,
Reichsrat am kaiserlichen Hof in Wien wurde Clavier gespielt, gesungen u. ge- ich bin versprochen, mit Bülow, ach,
tätig war. Mit ihm und den drei Söhnen plaudert, mir wurde dieß aber doch zu- und bin so glücklich, so unaussprechlich
(Paul, Maximilian, Nicolas) lebte sie in lezt ein wenig lästig, weil ich in Fritzens glücklich. Du glaubst nicht, was es für
Nordkirchen und Wien vom Ertrag ihrer Blick den Wunsch zu lesen glaubte, ein lieber, guter, edler Mensch ist und
Güter, unter anderem in Württemberg. mich allein sprechen zu können. End- wie ich an ihm mit so ganzer Seele hän-
Die Palastdame der Kaiserin verfasste lich waren wir allein. Er faßte meine ge und ewig hängen werde … Doch
zwölf Tagebücher mit insgesamt 3308 Hand, drückte sie sanft an seinen Mund lieb hab’ ich meinen Bülow seit dem
Seiten, bevor sie 1861 starb. u. fragte: ob ich ihm wohl ein wenig gut ersten Augenblick, wo ich ihn sah, ge-
Freifrau Gabriele von Bülow, Toch- seyn könnte? Ich schwieg, blickte ihn habt und im tiefsten Herzen gefühlt,
ter des Botschafters und Staatsministers an, eröthete u. schlug die Augen nieder, daß nur er mich ganz glücklich machen
Wilhelm von Humboldt, wurde 1802 in aber mein Händedruck u. das laute könnte. Der Allmächtige weiß, wie ich
Berlin geboren. 1821 heiratete sie den klopfen meines Herzens waren zu deut- ganz von Dankbarkeit durchdrungen
Sekretär ihres Vaters, Heinrich von Bü- liche Verräther meiner Empfindungen, bin, daß ich so ganz die Befriedigung

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 71


aller meiner Wünsche gefunden lien Bouquets von Wilhelm Böse-
habe.« lager bekommen, einen Ring
Gabriele von Bülow an ihre von Paula S. ein Körbchen
Schwester, 5. November 1816 von Clärchen Herrmann –
& Diner en téte á téte mit
meinem geliebten Mann
Über die Geburten … Um 7 Uhr kamen
ihrer Kinder: sehr viele Leute wir
waren 48 Personen –
»Ruhig legte ich mich unsere Soirée war sehr
am 16ten zu Bette, hübsch und animirt
aber ein heftiger …«
Schmerz weckte mich Maria Gräfin von
am 17ten schon um 3 Esterházy-Galantha-F.
Uhr u. ließ mich auch über ihren 29. Geburtstag
am 22. März 1838
nun nicht mehr ruhen.
Ich glaubte immer, daß 
es sich wieder geben
würde, stattt dessen aber »Diesen Mittag aßen wir
wurden die Schmerzen im- beym Onkel, wo noch
mer heftiger und anhalten- eine grose Gesellschaft war,
der u. gegen 8 Uhr sah ich die aber leider! aus Personen
mich genöthigt, Weiber rufen bestand, die ich gar nicht ken-
zu laßen, um mir beyzustehen. ne, oder aus solchen, die nicht
Mein lieber Fritz schickte nach H. mit mir übereinstimmen. Freilich
Doctor Greding u. verließ mich um kei- war auch Frl. Caroline v. Schaumberg
nen Augenblick mehr, bis alles vorbey dabey, und dieß wäre mir schon genug
war, welches mir, ob gleich er mir ei- Gutsherrin und Mutter
gewesen, wenn wir hätten allein seyn
gentlich nicht helfen konnte, denn doch Caroline von Lindenfels kümmerte sich können. Aber in einer so steifen, kalten
eine grose Erleichterung verschafte u. engagiert um ihre Kinder. Sie stillte Gesellschaft! wie hätten wir da mit der
meine Standhaftigkeit unterstüzte. … die Kleinen bis zu elf Monate lang. Herzlichkeit mit einander sprechen kön-
Mein bester Mann zeigte mir durch sei- nen, wie wir es sonst zu thun gewohnt
ne ängstliche Sorgfalt u. seine Geduld, sind! Wir begnügten uns also, uns an-
bey einem so unangenehmen Auftritt nug. Ich bekam von Mutter ein Zucker- zusehn, u. schwiegen die meiste Zeit
bey mir auszuhalten, wie sehr er mich wasser Service von Papa noch ein oder sprachen von alltäglichen Sachen,
liebt u. wie sehr ihm mein Wohl am Kreuz u andere einzelne Steine … – u. daß mir dies unmöglich Vergnügen
Herzen liegt. Endlich, nach mancher Von Mama ein Diademe von Gold und machen konnte, ist wohl sehr natürlich,
peinlichen viertelstunde schenkte uns Korallen … am 22t. stand ich zum ers- da ich nichts mehr hasse als Zwang u.
Gott um ¾ auf 2 ein gesundes, wohlge- ten Mahle auf und fühlte mich Gottlob steifes Wesen u. dem ohngeachtet
staltetes Mädchen. Weg waren nun auf so wohl wie möglich.« freundlich aussehen muss.«
einmal alle Schmerzen! vergessen wie Maria Gräfin von Esterházy-Galantha-F. Caroline von Lindenfels, 30. März 1794
ein Traum!« über die Niederkunft mit ihrem ersten Sohn
im Mai 1837
Caroline von Lindenfels über die Geburt 
ihres ersten Kindes, Juni 1797
»Visiten gemacht – Lange Besuche von

Über gesellschaftliche Antonia K. u Pauline Schmiesing mit
»13t. früh ward ich etwas leidend, blieb Verpflichtungen und das Leben dieser herumgegangen – Diner bei Mer-
aber den ganzen Tag auf bis 11 Uhr da in der Familie: veldts – dem Brautpaar zu Ehren – son-
legte ich mich zu Bette – um 3 Uhr früh derbare Fügung, daß ich hier bin – zu
am 14t. kam der Accoucheur (Geburts- »Ich bin 29 Jahre alt, und wurde um Hause – zahlreiche Soirée hier über
helfer) – ich litt sehr heftig und auf 7 Uhr durch den Musik Chor der 13t. 60 Personen … Nicky sang sehr hübsch
ängstliche Weise bis ich um 11 Uhr Mit- Infanterie Reg. geweckt … 30 Musikan- – mein lieber lieber Mann, ich kann
tags Gottlob so glücklich als möglich ten standen auf unserm kleinen Entrée nicht beschreiben wie glücklich er mich
mit einem Söhnchen niederkam der am vor dem Schlafzimmer, eine hübsche macht – er ist hier sehr beliebt, er ist
15t. durch Hugo Gallenberg getauft Attention mehrerer Herrn … – ich aber auch unbeschreiblich freundlich
ward und in der H(eiligen) Taufe Maxi- fuhr um 12 Uhr zu Galen von wo mich und herzlich mit allen Leuten. Alles
milian Ernst genannt ward – ich konnte die Kinder um 2 Uhr abholten – es wa- blieb sehr lange – …«
ihn selbst stillen was mich fast gar nicht ren während dieser Zeit viele Besuche Maria Gräfin von Esterházy-Galantha-F.,
leidend machte auch hatte ich Milch ge- gekommen – ich hatte 2 schöne Came- 27. März 1838

72 SELBSTZEUGN ISSE
  Zimmern – Max und ich setzten bis ½
»Gegen Abend wanderten wir nach »Wenn man einmal sich ans Wohnen in 8 Uhr die BillardParthie fort – dann las
Hause, kamen daselbst aber sehr spät verschiedenen Etagen gewöhnt hat, so Max mir eine ½ Stunde abwechslnd
an, weil wir die Kinder tragen mußten, sind die Komforts und Bequemlichkei- Englisch, Deutsch, Französisch vor. …
denn auch Mariane hatte sich in Rosen- ten eines solchen englischen Hauses um 8 ¼ kam der Thee, und unser tägli-
hof mit den Kindern der Hirschberg so groß, wie die der ganzen häuslichen cher AbendGast der Verwalter Mors-
herum getummelt, daß sie jetzt wenig Einrichtung … So folge ich also allen bach. Die Post kam auch gegen 8 Uhr
Lust zum Laufen bezeigte. Linchen hiesigen Gebräuchen und werde da- es wurde etwas Politik gelesen aber
trank während dem gehen u. schlief durch heimisch in der Fremde, ohne da- mehr noch geplaudert. … Zuweilen
endlich an meiner Brust ein.« rum der Heimath fremd oder noch viel machten wir Abends eine kleine Lot-
Caroline von Lindenfels, 10. Juni 1801 weniger hochmüthig u.s.w. zu werden. terie.«
Meine dereinigste, hoffentlich deutsche Maria Gräfin von Esterházy-Galantha-F.
 Dienerschaft soll sich, hoffe ich, künftig über ihren Tagesablauf im Winter,
darüber nicht zu beschweren haben. Ich 22. März 1855
»… So ist die Bibliothek aus einem würde es hier ebensowenig wie dort un- 
traurigen verlassenen Raum allmählich ter meine Würde halten, ein menschlich
unser Aller Lieblings Aufenthalt gewor- Wort mit meinem Küchenmädchen … »Um fünf waren wir wieder zu Hause,
den – Jeder Abend vereinigt uns dort – zu sprechen, aber ich muß es gut finden, die Herzogin nahm mich dann wieder
wir kommen gegen ½ 7 Uhr dort zu- daß ich keine Gelegenheit dazu habe in ihre Stube. Wir könnten noch ein
sammen und blieben bis zum Schlafen- dadurch, daß sie die oberen Regionen Stündchen nähen, meinte sie. Daraus
gehen – Seitdem Herbste, sind neue des Hauses nicht zu betreten hat.« wurde aber eine kleine Schulstunde für
Schränke in einem Raum angebracht – Gabriele von Bülow aus London an ihre mich. Ich bewunderte eine Stickerei in
Fenster und Thüre haben Gardinen – Schwester, 1. Juli 1830 bunter Wolle, die sie zu einem Kleid-
Die Nebenstehende Zeichnung zeigt chen für die kleine Prinzeß Viktoria so-

die Art, wie wir den Raum bewohnen eben vollendet, gleich wollte sie sie mich
– a sind 4 Schränke – b großer Tisch »Wir brachten den Winter Gottdank lehren, und that das nicht allein, sondern
– c das Clavier – d ein Canapé – e Fau- recht froh, still und sehr heimlich hier gab mir gleich den ganzen Rest ihrer Ar-
teuils – f Stühle – g ein Spieltisch – h der zu! Im November verließen wir die Bi- beit nebst der Wolle u.s.w. mit, so daß
Gesellschafts-Tisch – i ein Schreibtisch bliothek und etablirten uns Abends im ich die Kinder sehr beglücken werde mit
– K mein Platz – L Nickys Platz SüdSalon – Unsere TagesEintheilung der Hoffnung auf den Besitz gleicher
– M Mäxchens Platz – N Nicolas Platz ward verändert – Wir frühstückten um Kleider wie Prinzeß Viktoria. Es ist eine
– O des Verwalters Morsbach unser 9 Uhr – hatten um 12 Uhr unser Dejeu- gute Arbeit, aber ich will sie wirklich un-
täglicher Abend Gast – P der Englän- ner á la Fourchette – um ½ 6 Uhr di- ternehmen, schon in Erinnerung an die
derin Miss Georgina Barry (Englisch- nirten wir – dann gingen wir ins Billard Herzogin. Wenn sie nur keine Herzogin
lehrerin) – Q Lampen – R Thee Service Zimmer, wo der Abbe (Erzieher der wäre! Das sage ich so oft, wenn mir in
– S Spanische Wand – T Spielsachen Kinder) mit 4 spielte – es war recht ani- ihrem Umgang so wohl wird, den ich
der Kinder – U Kindertisch – V Ofen.« miert, um 7 Uhr hatte Nicolas bis 8 Uhr dann doch noch mehr genießen könnte.
Maria Gräfin von Esterházy-Galantha-F., eine Violin Stunde mit König auf dem Und doch ist es wieder so erfreulich, daß
25. Februar 1850 sogenannten Spielgange vor unseren sie als eine so Hochgestellte so ist, wie
sie ist.«
Gabriele von Bülow aus England an ihre
Schwester, 5. April 1830
Schnelles Woher stammt der Ausdruck 
Wissen
»Adel verpflichtet«? »Übrigens ist jezt der Unterricht der
Es ist einem cineastisch interessierten Publikum nahezu unmöglich, bei dem Sprich- Kinder, so weit ich es vermag, meine
wort »Adel verpflichtet« nicht an den wandlungsfähigen Alec Guinness zu denken, Hauptbeschäftigung. Vormittags haben
der in dieser schwarzen Komödie aus dem Jahr 1949 gleich acht Rollen spielte. Der wir abwechselnd Geographie, Religion,
Filmtitel hat aber einen älteren Ursprung, denn es ist die Übersetzung des franzö- Geschichte, Teutsch u. französisch le-
sischen Sprichworts »noblesse oblige«. Das findet sich 1808 in den »Maximen und sen, auswendig lernen. Nachmittags
Reflexionen« von Pierre Marc Gaston Duc de Lévis, später auch in dem Balzac-Roman schreiben, rechnen, um welches sich
»Le Lys dans la Vallée«. Es handelt sich um einen Spruch aus der Zeit nach der Franzö- vorzüglich mein Mann annimmt, wenn
sischen Revolution, als der Adel sich herausgefordert sah und durch solchen Verweis er Zeit hat. Abends list Marianne etwas
auf die moralische und tugendhafte Implikation des Standes eine Rechtfertigung aus der Geschichte, der Erdbeschrei-
versuchte. Vor der Revolution war Adel einfach von Gott gegeben, aber in einer zu- bung pp vor, dann die beiden Kleinen
nehmend aufgeklärten und säkularen Gesellschaft wurden Fragen und Ansprüche laut, abwechselnd aus einem nützlichen und
die mit dieser Formel teils abgewehrt, teils verstärkt wurden. Der Schriftsteller unterhaltenden Buche, z.B. Campens
Valery Larbaud erkannte in dem Ausdruck eine tiefe Wahrheit über den französischen Robinson pp.«
Adel: »Der verpflichtet andere und macht selbst nichts.« Caroline von Lindenfels, 29. Januar 1814

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 73


 keln Grün machten einen angenehmen nen mit dem Leutnant von Lindenfels
»Für heute muß ich Dich leider wieder Eindruck. Von Zeit zu Zeit erschien und den letzten mit dem Obrist von
verlassen, ich muß hinaufgehen, mir auch ein zahmes Reh auf dem Berge, Meyern, dann drey Deutsche … Um
meine drei großen Töchter besehen, die stieg die Stuffen herab u. wieder hienan halb 11 gab der Herr Minister ein Zei-
zu einer kleinen Teaparty fahren, muß u. verlor sich im Gebüsche. Als das Con- chen, die Musick verstummte, die Thü-
mein süßes Baby, ehe es schlafen geht, zert geendigt war, stiegen die Kinder ren des einen Zimmers öfneten sich, der
noch ein bißchen hätscheln, mein biß- herab, führten die Gesellschaft den Herr Minister führte die alte Frau von
chen Mittagstoilette machen …« Berg hienan, auf der andern Seite wie- Seckendorf hinein und alles folgte zur
Gabriele von Bülow an ihre Schwester, der hinunter u. in die lange Kegelbahn, Tafel. Das Zimmer wo servirt ward, war
Juli 1833 an deren Ende ein schön beleuchteter sehr geschmackvoll verziehrt, die Ta-
Altar stand, auf welchem die Geburts- peten waren roth und auf 3 Seiten des
tags Geschenke der Kinder lagen, aus Zimmers waren Amphitheaters mit wei-
Über Feste und Zeichnungen u. kleinen Arbeiten beste- sen Tüchern überzogen und mit Festons
Empfänge: hend. H. Dasch war abermals der Er- von Blumen behangen, worauf der
finder dieses kleinen Schauspiels, bei Nachtisch, die Pasteten, Torten und
»Der Herzog Adolf, Sohn des Groß- dem alle gern länger verweilt hätten, dergl. rangiert waren. … In beyden fol-
herzogs (von Mecklenburg) giebt eine wenn nicht die Feuchtigkeit des Bodens genden Zimmerns waren rund herum
Soiree, wie man behauptet, mir allein sie genöthigt hätte, weg zu gehen.« kleine Tafeln zu 6 Persohnen. Jedes sez-
zu Ehren. Ich könnte ordentlich eitel Caroline von Lindenfels, 8. Oktober 1815 te sich, wo es Platz fand, der Herr Mi-
werden, denn auch in Ludwigslust ist nister und seine Frau Gemahlin ordne-
mir bei der Erzgroßherzogin dies Glück  ten selbst alles an, ginngen an jede Tafel
widerfahren – allein mich rührt es nicht. und munterten die Gäste zum Speisen
Von der Gesellschaft will ich Dir aber »Wir leben jetzt hier leider schon in auf. Kurz, alles war fröhlich und überall
doch noch erzählen … Die Erbgroß- Saus und Braus, vorgestern Soiree bei herschte Ueberfluß und die größte Ord-
herzogin nahm mich unendlich freund- der Ducheß of Conizzaro, gestern Di- nung. … Nach Tische wurde wieder
lich auf, indessen war mir die erste hal- ner bei uns und Soiree bei Esterhazys, getanzt und wir fuhren um 3 Uhr nach
be Stunde ganz peinlich zu Muthe, ob- morgen desgleichen bei Lievens, vorher Hause.«
gleich ich sehr gut zwischen ihr und der Kinderball bei Münsters. Und einmal Caroline von Lindenfels über den Ball des
Prinzeß Marie saß, die recht angenehm muß ich doch auch der Einladung der Ministers von Hardenberg am Geburtstag des
ist, aber es war unbeschreiblich feierlich alten Lady Salisbury folgen, und das Al- preußischen Königs, 25. September 1791
um den Theetisch, jedes Wort wurde les ist nur ein Vorgeschmack der Season,

abgemessen.« es heißt wir würden acht Drawing-
Gabriele von Bülow aus Schwerin rooms und vier Hofbälle haben, das »Vorgestern am 8t July fuhr ich mit Ni-
an ihre Schwester, März 1821 ist wirklich runinös. Auf die meisten kolas nach Schönbrunn, wir stellten uns
muß ich doch und kann doch nicht im- an der Rampe auf mit vielen … – Die

mer aussehen, als hätte ich im Keller Treppe waren mit Teppichen belegt –
»Eine grose glänzende Gesellschaft war gesesen. Mein Pariser silberner Anzug die Kaiserliche Familie stand erwar-
heute in Reuth versammelt, um der Ge- ist zum Glück noch ganz neu und trotz tungsvoll in den Fenstern und auf der
burtstagsfeier der Frau v(on) R(eitzen- des Londoner Kohlenstaubes ganz vor- Treppe. Um 7 Uhr kam der liebe König
stein) bey zu wohnen. Gegen Abend trefflich erhalten und wirklich außeror- von Preußen an – mit ihm der Kaiser,
wurden wir in das Kegelhaus geführt, dentlich schön. Mein Berliner Gold- welcher ihm bis Gänserndorf entgegen
welches in eine Waldparthie verwan- kleid ist aber ganz unbrauchbar. Die gefahren war – … ich stand 2 Schritte
delt war. Einige reiche Fichtenbäume, rothe Sammetrobe wird dagegen noch vom Wagen konnte alles sehen – oben
die bis an die Decke ragten, um gaben sehr gute Dienste leisten. Du glaubst standen die schöne liebliche Kaiserin,
die Wände, der Fußboden war mit nicht, wie unangenehm und langweilig die Erzherzogin Sophie – beide umarm-
Moos belegt, wie auch die Stühle u. Ka- mir alle diese Toiletteangelegenheiten ten den König, küßte ihnen die Hände
napee’s; ein Eichhörnchen kletterte auf sind.« – der Empfang war unbeschreiblich
den Bäumen herum u. mehrere Vögel Gabriele von Bülow aus London an herzlich verwandtschaftlich & sehn-
flatterten von Baum zu Baum. Auf der ihre Schwester, Februar 1830 suchtsvoll – es freute mich sehr – dies
hintern Seite führten Stuffen zu einer Alles so gut gesehen zu haben!«

mit Moos bedeckten u. mit kleinen Maria Gräfin von Esterházy-Galantha-F.
Lampen beleuchteten Erhöhung, auf »Nach Tische kleidete ich mich an und über ihre Teilnahme beim Empfang
welcher die Kinder mit ihren Instru- um 7 Uhr fuhren wir aufs Schloß. … des Preußenkönigs in Wien, 10. Juli 1857
menten standen … So bald wir einge- Wir traten in den Tanzsaal, alles wim-

treten waren, begann das Conzert, bey melte von Menschen in den schönsten
welchem H. Dasch auf dem Forte Piano Kleidern … Wir bekamen, wie ich mir »Bei Tisch erhielten wir eine sehr komi-
… accompagnirte. Das Ganze sah schon vermuthet hatte, sehr wenig zu sche Einladung zu einer Bauernhoch-
recht artig aus, die Kinder in ihren wei- tanzen, ich tanzte 3 Englische, einen zeit. … Die Braut ein recht hübsches
sen Klidern u. die Lichter auf dem dun- mit dem Regierungsrath Wipprecht, ei- Mädchen von 14 Jahren, und ihr Bräu-

74 SELBSTZEUGN ISSE
Diplomatengattin
Gabriele von Bülow führte zeitweise eine Fernbeziehung mit ihrem Mann zwischen
London und Berlin (Gemälde von Friedrich Wilhelm Herdt, 1826).

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 75


tigam 16 Jahr alt. Die erstere war schränkungen anderer Art zu
in einem kleinen Stübchen ein- machen, ist leichter gesagt, als
gesperrt, und blieb so lange da- getan … Die Kinder haben
rin bis nach langem Streiten der jetzt sehr guten Unterricht und
Brautführer die Braut ihrem fast zu viele Stunden. Aber das
Bräutigam verkauft hatte. Da- macht mir oft ein recht peinli-
rauf tanzten die Bauern nach ches Gefühl, daß ich so wenig
Herzenslust, bis man die Braut oder vielmehr gar nicht die Gabe
nach der ihre künftigen Woh- der Erziehung besitze. Dieses
nung brachte, wo dann das Tan- Mangels bin ich mir nur zu deut-
zen von neuem erging. Mutter lich bewußt, und doch, das weiß
und die Kinder gingen nach Hau- der Himmel, liegt mir nichts
se u. Maria Kathrin u. ich zu dem mehr am Herzen als die lieben,
Kirchenvater dessen Sohn am lieben Kinder zum Besten zu lei-
Morgen geheirathet hatte. Man ten. Sie machen viele Fortschrit-
führte uns in ein kleines Zimmer te und wenn sie deutsch spre-
wo wir sehr viel Wein trinken chen, sagen sie ›Mutter‹, was ei-
und Kolatschen (Mehlspeisen) nen ganz eigenen Zauber für
essen mussten. Das Brautpaar mich hat.«
war auch dort in diesem Zimmer. Gabriele von Bülow aus Berlin an
Eine halbe Stunde blieben wir in ihren Mann, 8. Februar 1834
diesem kleinen Zimmer, darauf

gingen wir in ein größeres, wo
viele Bauern waren, und wo ge- »In Ungarn geht alles schnur-
tanzt wurde. Der Raum zum straks der Republik entgehen.
Tanzen war entsetzlich klein, ich bin überzeugt, daß wenn
ich tanzte einige ungarische mit nicht eine große Reaction erfolgt,
Westfälische Hochzeit
Bauern und einen deutschen. so wird Kossuth u Batthiany
Auf den Vermählungsfeiern ihrer Bauern waren Adelige
Um 9 Uhr war ein großes Souper, oft als Ehrengäste geladen (Lithografie um 1875). (Köpfe der Revolutionäre und
wir aßen an einem Ende des Reformer) nicht ruhen bis die
Tisches und neben mir der Bräu- entfernten Adligen Steuer zah-
tigam und die Braut. Diese mussten aus frieden seyn können, denn sie sind an len und die Güter der nicht rückkehren-
einem Teller essen und der Bräutigam wenig Bedürfniße gewöhnt u. dieß, den als Emigranten Güter sequestriert
seinen großen Huth aufbehalten. Zum glaube ich, ist nebst einem gesunden (beschlagnahmt) und verkauft werden –
Ende des Festes kamen warme Kolat- Körper u. so viel möglich, gesunden Gott gebe daß ich mich täusche – jezt
schen von welcher jeder der Gäste ein Seele, das beste, was Eltern den Kin- sehe ich in Ungarn den gänzlichen
Stück mit nach Hause nehmen musste. dern mitgeben können.« Verlust allen Besitzes; in Westfalen und
Ich ging erst um 11 Uhr zu Hause.« Caroline von Lindenfels, 7. Dezember 1808 Würtemberg den Verlust aller bäuer-
Maria Gräfin von Esterházy-Galantha-F. lichen Renten & entgegen also eigent-
über die Einladung bei Untertanen,
 lich unserer Armuth! In der Welt sieht
20. November 1825 »Es ist hier übrigens leicht, geliebt zu überhaupt ganz toll her – Gott wolle
werden von der Dienerschaft, die so helfen.«
gewohnt ist, wie Maschinen behandelt Maria Gräfin von Esterházy-Galantha-F.
Reflexion über zu werden, daß die geringste Aeuße- über die Revolution von 1848 in Deutschland
rung und Bezeugung, daß man sie nicht und Ungarn, 24. März 1848
die eigene Rolle:
für solche hält, in ihnen unendliche

»Wir haben freilich … schon sehr viel Freude und Dankbarkeit erregt.«
an Rechten, Vortheilen u. Einnahme Gabriele von Bülow an ihre Schwester, Zusammengestellt von Eva-Maria Schnurr
verlohren, allein man kann sehr viel 1. Juli 1830
Quellen:
entbehren, ohne von seiner Zufrieden-
 Britta Spies: »Das Tagebuch der Caroline von
heit zu verliehren, u. ich würde gewiß Lindenfels geb. von Flotow (1774 bis 1850).
nicht mit meiner Mutter oder Grosmut- »Der Kinder wegen dürfen wir nicht wie Leben und Erleben einer oberfränkischen
ter tauschen, ohngeachtet ich manche bisher in London fortleben, wenn Dei- Adeligen am Ende der ständischen Gesell-
schaft«. Waxmann 2009.
Bequemlichkeit enbehre, die sie haben ne finanziellen Verhältnisse sich nicht Sheila Patel: »Adeliges Familienleben, weibliche
konnte, u. mich überhaupt weit mehr bessern. Es ist bisher das Mögliche für Schreibpraxis. Die Tagebücher der Maria Ester-
einschränken muß. … Meine Kinder ihren Unterricht dort geschehen, aber házy-Galántha (1809 bis 1861)«. Campus 2015.
Anna von Sydow: »Gabriele von Bülow. Toch-
werden wahrscheinlich sich noch mehr es muß mit jedem Jahre und für jedes
ter Wilhelm von Humboldts. Ein Lebensbild aus
einschränken müßen als wir, aber ich Kind mehr geschehen. Hierin dürfen den Familienpapieren Wilhelm von Humboldts
hoffe, sie werden des wegen eben so zu- wir keine Ausgabe vermeiden, aber Ein- und seiner Kinder 1791 bis 1887 (1918).«

76 SELBSTZEUGN ISSE
DIE WELFEN
Das älteste Adelshaus Europas übte lange Zeit Macht aus,
ohne in erster Reihe zu stehen. Noch heute aber
gehören die Welfen zu Deutschlands reichsten Familien.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Heinrich der Löwe, 1129 bis 1195. Erst Caroline von Braunschweig, 1761 bis 1821.
819 engster Verbündeter, am Ende Gegner
Friedrich Barbarossas, verlegte der Herzog
Gilt als Skandalnudel des Geschlechtes, weil
sie ihrem Gatten und Cousin mehrfach Hör-
das Machtzentrum der Welfen von Süd- ner aufsetzte. Der aber, Georg IV., König von
deutschland nach Braunschweig – ein Wen- England, war der wahre Missetäter: Schon der
S TA M M S I T Z depunkt in der Geschichte der Familie. Eheschluss war Bigamie, weil er sich vorher
Was er als Kriegsherr gewonnen hatte, verlor anderweitig heimlich hatte trauen lassen. [3]
Ravensburg
er auch wieder, doch große Teile gingen
später an die Familie zurück. Die war fürder- Ernst August, 1887 bis 1953. Eine ZDF-
hin eine Macht unter den Mächtigen. [1] Dokumentation erhob 2014 schwere Vorwür-
S TA M M L A N D E fe gegen ihn: Er habe in der NS-Zeit von der
Victoria von England, 1819 bis 1901, war Enteignung jüdischer Bürger profitiert und
Schwaben, später
die letzte Welfin auf Englands Thron. Nach KZ-Häftlinge in familieneigener Rüstungs-
Braunschweig
ihr benannte man im Englischen die imperia- firma für sich arbeiten lassen. Urenkel Erb-
le Blütezeit Großbritanniens und eine die prinz Ernst-August ließ prüfen und musste
Welt verändernde Epoche. Ihre enorm zahl- die Vorwürfe bestätigen: Der Welfen-Fürst
HÖCHSTE reiche Nachkommenschaft (9 Kinder, 42 En- habe finanzielle Vorteile gesucht. [4]
ÄMTER kel, 87 Urenkel) machte sie zur »Großmutter
[GESCH ICHTE]
Europas«: Kaum ein Adelshaus, das Victoria G R Ö S S T E R S K A N DA L
heute nicht in seiner Ahnenreihe führt. [2]
Römisch-
Ernst August, geboren 1954, verschaffte
deutscher Kaiser,
BEDEUTENDSTE LEISTUNG sich durch Tritte und Schläge mit und ohne
König von
Regenschirm einen Ruf als »Sid Vicious
Großbritannien
Den Welfen gelang es, quasi aus der zweiten der Aristokratie« (Song »Ernst August« von
Reihe heraus, über mehr als tausend Jahre »Terrorgruppe«) und den Spottnamen
[ G E G E N WA R T ]
Strippenzieher in Europa zu bleiben. Eine »Prügelprinz«. Noch mehr Spott erfuhr er
über längere Zeit gekrönte Dynastie wurden aber auf der Weltausstellung 2000: Da beob-
keine
sie erst, als 1714 bis 1901 die englische Krone achtete man ihn, als er gegen den türkischen
an die Nebenlinie Haus Hannover fiel. Pavillon urinierte. [5]

BERÜH MTE
RESIDENZEN

Schloss
Herrenhausen
bei Hannover
ist für seine
Gärten bekannt,
Schloss [1] [2] [3] [4] [5]
Marienburg
diente auch
schon als
Filmkulisse. Bekannte Köpfe heute: Ernst August von Hannover, geboren 1983. Verwaltet seit 2004 die Liegen-
schaften der Welfen und restauriert den zuletzt leicht lädierten Ruf des Hauses. Gilt schon jetzt
als Erneuerer, der die Welfen auf die Höhe der Zeit bringt. Beim eigenen Nachwuchs brach er die
Ernst-August-Tradition seiner Linie: der erste Sohn heißt Welf-August. Nach Graf Welf I., um 819.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 77


Im 18. Jahrhundert leisteten sich englische Adelige Schmuckeremiten –
»edle Wilde« – zur Zierde ihrer Parkanlagen. Was klingt wie der Gipfel britischer
Exzentrik, hatte einen tieferen Sinn.

»Unter gar keinen


Umständen waschen«

78 ENGLAN D
Von Patrick Spät

D
er englische Landadelige Charles Ha- die potenziellen Dekorationseinsiedler boten ihre
milton suchte 1763 für seinen Painshill Dienste an. Am 11. Januar 1810 erschien beispiels-
Park das ultimative Gimmick. Der 80 weise in der Zeitung »The Courier« folgende An-
Hektar große Landschaftsgarten süd- zeige: »Ein junger Mann, der sich aus der Welt zu-
westlich von London war einer der ersten seiner rückziehen und als Eremit an einem angenehmen
Art und avancierte schnell zum Vorbild für viele Plätzchen in England leben möchte, ist bereit, sich
Anlagen in Europa: Ein künstlicher See, neogoti- von jedwedem Ehrenmann anheuern zu lassen,
sche Zierbauten und prachtvolle Bäume machten der einen Eremiten begehrt.«
den Park zum »begehbaren Landschaftsgemälde«. Die englischen Landschaftsgärten entstanden
Doch der Eremitage fehlte für den Geschmack damals als Gegenpol zu den verschmutzten und
ihres Besitzers der letzte Farbtupfer. Kurzerhand lebensfeindlichen Städten der industriellen Revo-
veröffentlichte Hamilton eine Zeitungsannonce lution. Als Ideal galt nun die befreite und dennoch
und bot 700 Pfund für jenen, der bereit war, »sie- beherrschbare Natur. Fast jeder Park hatte eine
ben Jahre in der Eremitage zu bleiben, wo er ver- Eremitage, einen verwunschenen Rückzugsort in
sorgt wird mit einer Bibel, einer Brille, einer Fuß- Form einer einfachen Grotte oder Hütte, wo man
matte, einem Strohsack als Kissen, einer Sanduhr entspannen und nachdenken konnte. Die ersten
als Zeitmesser, Trinkwasser und Essen aus dem Eremitagen waren als Stillleben komponiert: Sie
Haus. Er muss ein wollenes Gewand tragen und sollten so aussehen, als ob dort jemand hauste.
darf sich unter gar keinen Umständen die Haare, Erst später gingen einige Adelige dazu über, nach
den Bart oder die Nägel schneiden. Er darf nicht Bewohnern zu suchen.
jenseits der Parkgrenzen herumstreunen oder auch
nur ein Wort mit dem Diener wechseln.« Denn echten Eremiten konnte man in England
Kost und Logis waren frei, doch die 700 Pfund zu dieser Zeit kaum noch begegnen: Im Jahr 1534
sollten erst nach Vertragserfüllung gezahlt werden. hatte sich die anglikanische Kirche von Rom los-
Die hohe Summe lockte: Hamilton fand einen ge- gelöst, woraufhin die katholischen Mönche ihre
wissen Mister Remington, der ins eigens gebaute Orden und Klöster verließen, die nunmehr zer-
Baumhaus einziehen wollte. Doch nach nur drei stört, für weltliche Zwecke verwendet oder schlicht
Wochen wurde Remington gefeuert, nachdem man dem Verfall überlassen wurden. Doch schon bald
ihn beim Biertrinken im örtlichen Pub und oben- wieder sehnten sich viele Menschen nach asketisch
drein beim Techtelmechtel mit der Milchmagd er- lebenden Einsiedlermönchen und romantisierten
wischt hatte. die mit Efeu umrankten Klosterruinen – auch die
So kurios das Zeitungsinserat klingen mag: Von Parkbesitzer wollten dieses Verlangen stillen.
Exzentrik, Prunk- und Geltungssucht getrieben, Deshalb veranstalteten manche Fürsten Rollen-
heuerte der englische Adel während der Georgia- spiele, bei denen sie sich als Eremiten verkleideten
nischen Epoche von 1714 bis 1830 tatsächlich so- und durch ihre Gärten lustwandelten, um dann
genannte Schmuckeremiten (»ornamental her- zum Abendessen wieder das Schloss aufzusuchen.
mits«) an. Inspiriert von der Philosophie Jean- Europaweit bekannt waren die Rollenspiele des
Jacques Rousseaus und Erzählungen wie Daniel Markgrafen Georg Wilhelm und seines Hofstaats
Defoes »Robinson Crusoe« (1719), wünschten sich in der 1715 erbauten Eremitage zu Bayreuth. Ähn-
viele Parkbesitzer einen »edlen Wilden« mit ver- liche Spiele sollen Herzog Carl August und Johann
Ziermönch
Ende des 18. Jahr-
zotteltem Bart, wallendem Haar und abgerissenen Wolfgang von Goethe im Borkenhäuschen des
hunderts schwappte Klamotten, der durch ihr begehbares Gesamt- Weimarer Ilmparks inszeniert haben.
die Eremitenmode kunstwerk lustwandelte. Die Befindlichkeiten der Oberschicht haben das
aus England herü- Die Annoncen dieser Zeit ähnelten sich. So Bild der Parks entscheidend geprägt. »Die ›Grand
ber. Der Hamburger
suchte 1797 auch der exzentrische Bankierssohn Tour‹, also die Bildungsreise, war für Adelige
Kaufmann Caspar
Voght unterhielt auf Joseph Pocklington einen Schmuckeremiten für damals fast obligatorisch. Zurück in der Heimat,
seinem Landgut sieben Jahre, »während derer er mit niemandem versuchten sie, in ihren Gärten die ganze Welt
in Flottbek mehrere reden und sich unter gar keinen Umständen wa- abzubilden«, erklärt Antonio Lucci, Kulturwissen-
Eremitagen (Johann
schen darf«. Seine Haare und Nägel sollen »so schaftler an der Berliner Humboldt-Universität.
Baptist Schmitt:
»Der Eremit in lange wachsen, wie es die Natur ihnen erlaube«. »Deshalb findet man dort chinesische Pavillons,
Flottbek«, 1795). Doch nicht nur die Oberschicht inserierte, auch türkische Zelte, griechische Statuen, nordameri-

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 79


Show-Eremit
Karikatur eines
Eremiten,
der als Attraktion
in Londons
erfolgreichstem
Vergnügungspark
Vauxhall Gardens
gelebt haben soll,
um Adlige und
wohlhabende Be-
sucher zu unter-
halten (1832).

kanische Nadelhölzer und sogar norwegische Ren- trales Motiv der Schmuckeremiten. Die »positive
tiere. Die Schmuckeremiten vervollständigen die- Traurigkeit« war bei den Gutbetuchten durchaus
ses akribisch geplante Ensemble.« angesagt, denn nach damaligem Verständnis zeug-
Im April 1830 berichtete das »Blackwood’s te sie von charakterlicher Tiefe. Der britische His-
Edinburgh Magazine« von einem barfüßigen Ere- toriker Gordon Campbell hat mit »The Hermit in
miten, der diese Tätigkeit 14 Jahre lang bei Sir the Garden. From Imperial Rome to Ornamental
Richard Hill in der Grafschaft Shropshire ausgeübt Gnome« das bislang umfassendste Buch zum
haben soll und dabei »in einer Höhle saß, die sich Thema verfasst. Er beschreibt die Parkbesitzer als
auf dem Grundstück des ehrenwerten Adligen be- »viel beschäftigte CEOs, die sich dazu entschieden
fand. Er hielt, von Sonnenaufgang bis Sonnenun- haben, die besinnliche Seite ihrer Persönlichkeit
tergang, eine Sanduhr in der Hand und trug einen outzusourcen«.
Bart, der zuvor einer alten Ziege gehörte hatte«. Der Trend, sich einen Schmuckeremiten zu leis-
Dabei war es ihm verboten, Geld von Besuchern ten, fand um 1760 seinen Höhepunkt. Nachdem
anzunehmen. England 1833 den »Slavery Abolition Act« verab-
schiedet und alle Sklaven im britischen Kolonial-
Die englischen Parks waren der breiten Öffent- reich zu freien Menschen erklärt hatte, galt auch
lichkeit zwar zugänglich, wurden allerdings »nur die Anstellung eines Schmuckeremiten zuneh-
dann für Besucher geöffnet, wenn der Parkbesitzer mend als anrüchig. Viele Parkbesitzer, die keinen
persönlich vor Ort war. Man wollte seine Macht Einsiedler haben wollten oder sich keinen leisten
zur Schau stellen«, sagt Antonio Lucci. »Und konnten, gingen dazu über, stattdessen steinerne
schon das Wort ›Schmuckeremit‹ zeigt, dass es Statuen oder hölzerne Puppen in der Eremitage
sich um etwas Wertvolles handelt, mit dem man zu platzieren. Bei manchen handelte es sich um
sich selbst verzieren möchte.« Der Andrang auf ausgeklügelte Automaten, die in ihren Bewe-
die Eremiten war dermaßen groß, dass Richard gungen einen lesenden oder trinkenden Eremiten
Hill sogar einen Pub eröffnete, um die Besucher- imitierten.
massen zu versorgen. Ein zeitgenössischer Be- Auch Richard Hill stieg in seinem Park in der
sucher schilderte die Szenerie in Hills Hawkstone Grafschaft Shropshire schließlich auf einen künst-
Park so: »Man zieht an der Türglocke und bittet lichen Eremiten um. Doch an die Faszination der
um Einlass. Der Eremit befindet sich für gewöhn- echten falschen Eremiten kamen die Puppen nicht
lich in einer sitzenden Haltung, vor ihm ein Tisch, heran. Der Adlige Sir Richard Colt Hoare, selbst
auf dem sich ein Totenschädel, eine Sanduhr, ein Besitzer und Gestalter eines prächtigen Parks, war
Buch und eine Brille befinden.« bei seinem Besuch in Hills Park not amused: »Das
Neben Bildung (Buch, Brille) und Vergänglich- Gesicht ist kreatürlich genug, aber die Figur wirkt
keit (Schädel, Sanduhr) ist Melancholie ein zen- steif und unförmig.« 

80 ENGLAN D
SAC H S E N-C O B U RG-G O T H A
Prinz Albert heiratete 1840 Königin Victoria, und ihre Ehe
war fruchtbar: Von England aus vermählte sich
das Haus Sachsen-Coburg und Gotha quer durch Europa.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Ernst II., 1818 bis 1893. Ein aufgeklärter Luise, 1800 bis 1831. Hatte das Pech, mit
1826 Förderer des liberalen Bürgertums: Als einzi-
ger Landesfürst nahm der Sachsen-Coburger
Ernst I. (siehe u.) verheiratet zu werden.
Rebellierte gegen dessen Affären und zahlte
die 1848 formulierten Bürger-Grundrechte in es ihm mit gleicher Münze heim, doch sie
seine Gesetze auf und schrieb Konzepte für wurde verstoßen und zur »Schand-Luise«
S TA M M S I T Z einen deutschen Bundesstaat. Kaiser Wil- abgewertet. 1826 geschieden, heiratete sie
helm I. würdigte ihn als einen der Architek- noch im gleichen Jahr ihren Liebhaber und
Veste Coburg,
ten der Reichsgründung 1871. [1] erfuhr ein spätes, kurzes Glück. [4]
Schloss
Callenberg
Alexandrine von Baden, 1820 bis 1904. Carl Eduard, 1884 bis 1954. Unterstützte
Ehefrau von Ernst II.: Er reformierte auf poli- den Kapp-Putsch, engagierte sich in diversen
tischer Ebene, sie auf sozialer. Gründete Stif- Freikorps und antisemitischen Terrortruppen.
S TA M M L A N D E tungen und unterstützte mit Geld, was ihr Von 1929 an in der NSDAP, besetzte der
wichtig erschien, etwa ein Mädchen-Gymna- Hitler-Verehrer bald diverse Ämter: in
Sachsen-Coburg
sium. Als sie starb, hinterließ sie der Gemein- der SS, der SA, im Nationalsozialistischen
de Coburg über 600 000 Mark »zum Wohl Fliegerkorps. Bekam nach dem Krieg gegen
des Volkes«. Die Stadt errichtete unter ande- Zahlung von 5000 Mark einen »Persil-
HÖCHSTE rem ein Volksbad – und ihr ein Denkmal. [2] schein«. Ist der Familie heute noch peinlich.
ÄMTER
[GESCH ICHTE] BEDEUTENDSTE LEISTUNG G R Ö S S T E R S K A N DA L

Könige, Zaren
Als Simeon II. war Simeon Sakskoburg- Die Griechin Pauline Alexandre Panam
und ein
gotski von 1943 bis 1946 letzter Zar von Bul- lernte im zarten Alter von 14 Jahren Ernst I.,
Premierminister
garien. Die sowjetische Besatzung trieb ihn 1784 bis 1844, so intensiv kennen, dass sie
[ G E G E N WA R T ] ins Exil, aus dem er 1996 zurückkehrte. 2001 mit 16 Mutter wurde und ihn damit erpresste.
gründete er eine Partei, mit der er zehn Wo- Ernst zahlte mit seinem Ansehen: Ihre
Monarchen
chen später Premierminister von Bulgarien »Memoiren einer jungen griechischen
in Belgien
wurde – der einzige Monarch, der in Europa Dame« erschienen 1823 – zum hämischen
und England
je per Wahl wieder an die Macht kam. [3] Vergnügen des europäischen Hochadels.

BERÜH MTE
RESIDENZEN

Sieben
Residenzen
werden heute
noch genutzt,
[1] [2] [3] [4] [5]
darunter der
Königspalast
Brüssel und
die britischen Bekannte Köpfe heute: Philippe König von Belgien [5], Königin Elizabeth II. Deren Familie
Königspaläste. nennt sich seit 1917 Windsor, weil ihr die Verbindung zu Deutschland peinlich wurde. Mit
Elizabeth wird die Linie in England erlöschen: Ihre Nachkommen gehören zum Haus Schleswig-
Holstein-Sonderburg-Glücksburg. Auch sie bleiben per Namensänderung aber Windsors.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 81


Im Kaiserreich galt die Verleihung
eines Adelsprädikats als Ausweis
gesellschaftlichen Erfolgs. Doch jüdische
Familien wurden nur selten nobilitiert.
Warum?

Aufstieg
verwehrt Von Nils Minkmar

D
as faszinierende Thema der in den Adelsstand
erhobenen Juden erweist sich als geschichtswis-
senschaftliches Kaleidoskop – je nach Situation,
Stand der Sonne und betrachtetem Ausschnitt ver-
mag jede und jeder etwas anderes darin zu erkennen. Der
erste Überraschungseffekt stellt sich schon gleich bei der
Frage nach jüdischem Adel ein, denn die Welt des Adels und
jene der Juden erscheinen weit voneinander entfernt. Kon-
servative Adelsfamilien betonten gern ihre christliche Genea-
logie und spezifische Autonomie. Soziale Mobilität, Offenheit
für andere Religionen und Kulturen sind in diesen Kreisen
nicht von großem Wert, alles dreht sich um Tradition und
Kontinuität.
Zwei Wege führten in den Adel: Einmal der Militärdienst
oder die Organisation militärischer Dienstleistungen – diese
Diplomat Option war Juden traditionell verwehrt, sie konnten kein Of-
Der Nahostexperte
fizierspatent erwerben, solche Titel nicht erben oder dazu
Max von Oppen-
heim (3. v. l.) po- berufen werden. Der andere Weg war der Besitz von Grund
siert mit dem deut- und Boden – Herrschaft ging mit einem Adelsprädikat einher.
schen Botschafter Man konnte erben, einheiraten oder wurde vom Monarchen
Johann Heinrich
mit Land und Titel bedacht. Nicht so die Juden in der vor-
von Bernstorff (mit
Mantel) 1906 vor modernen Gesellschaft.
der Gesandtschaft Das Thema nobilitierter Juden fällt in eine Phase des his-
in Kairo. torischen Übergangs zwischen traditioneller und moderner

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 83


Gesellschaft, in eine Zeit, in der es möglich war, rung und zur Abwehr der Revolution, aber nicht
den Adel auch für Personen jüdischer Herkunft zuletzt auch, um über ein meritokratisches Instru-
zu öffnen, und überhaupt noch der Wunsch da- ment zu verfügen. Wer in den Adelsstand erhoben
nach bestand. Auch das ist erst einmal erstaunlich, wurde, dokumentierte dadurch eine besondere
assoziiert man den Vorgang der »Judenemanzi- Nähe zu den herrschenden Fürsten und seine Zu-
pation«, die Anerkennung als gleichberechtigte gehörigkeit zu höchsten Kreisen.
Staatsbürger, gemeinhin nicht mit einer Reform Für das Phänomen der nobilitierten Juden er-
der Ständegesellschaft, sondern im Gegenteil mit gibt sich daraus eine zwiespältige Wahrnehmung:
ihrer gänzlichen Abschaffung. Einerseits ist die akzeptierte, sozial integrierte
Ein zentrales Ereignis in der neuzeitlichen Ge- Position, von der eine Erhebung in den Adelsstand
schichte der europäischen Juden ist mit der Fran- kündet, ein Symbol für gesellschaftlichen Fort-
zösischen Revolution von 1789 verknüpft: Den schritt, Offenheit und Toleranz. Andererseits ste-
französischen Juden wurden 1791 die vollen staats- hen die Fürstenhäuser, die diese Nobilitierungen
bürgerlichen Rechte zugesprochen. Jahrhunderte- vornahmen, eigentlich nicht für diese Entwicklun-
lang hatten Sonderstatuten ihr Leben geregelt, gen, sondern mitunter für das genaue Gegenteil.
wurden sie in mal zu-, mal abnehmender Toleranz

M
drangsaliert. All das änderte sich über Nacht. anche Fälle sind eindeutig: Die
Man konnte nun Jude und Citoyen, Staatsbür- Erhebung von Nathaniel de Roth-
ger, sein, mit allen Rechten und Pflichten wie ins- schild in den Adelsstand, der 1885
besondere der Möglichkeit, eine Beamtenkarriere zum ersten Lord jüdischen Glau-
oder die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Militär- bens wurde, galt nicht nur den britischen Juden
dienst wurde national definiert, die Armee galt als als rundum positives Signal. Ganz anders verhält
Schule der Nation, in der das Leistungsprinzip galt. es sich in Preußen. Die Bewertung der dortigen
Höchste militärische Ehren wurden nun durch Ereignisse ist kaum vom Wissen um die weitere
Tüchtigkeit und Tapferkeit verdient. Somit öffnete geschichtliche Entwicklung zu trennen: dem durch
sich einer der Wege in den Adel genau in dem his- die traditionellen preußischen Eliten beförderten
torischen Moment, in dem der Adel insgesamt für Aufstieg des Nationalsozialismus, dem eliminato-
überflüssig erklärt wurde. Diese Entwicklung hatte rischen Antisemitismus und schließlich der Schoa.
auch ihren Preis, denn die Nation wollte keine Den Ton gab der große Historiker Fritz Stern
andere Nation im Inneren dulden, viele jüdische vor. In seinem meisterlichen Buch »Gold und
Bräuche und ihre eigene Gerichtsbarkeit gingen Eisen«, einer Doppelbiografie von Otto von Bis-
verloren. Dennoch machten sich in den folgenden marck und dessen Vertrauten Gerson von Bleich-
Jahrzehnten ambitionierte jüdische Familien aus röder, schildert er den Bankier jüdischer Herkunft
vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas auf nach als, so eine Kapitelüberschrift, »Jude als patrioti-
Paris, wo ein Neubeginn möglich war. scher Parvenü«: Bleichröder sei hungrig nach Ti-
teln gewesen, strebte nach völliger Assimilation.
Doch die Revolution wurde keineswegs überall Dieses kritische Bild des Strebens nach sozialer
begeistert aufgenommen, auch nicht in Frankreich Anerkennung durch Nobilitierung im Kaiserreich,
selbst. In vielen katholischen Kreisen, in weiten das Stern hier zeichnete, überzeugte Leser und
Teilen des Adels und in ländlichen Gebieten sah Historiker so sehr, dass der spezifische historische
man den Umsturz als Übel, das eine gottlose Pöbel- Kontext darüber in den Hintergrund geriet:
herrschaft heraufbeschworen hatte. Errungenschaf- Bleichröder war keine Ausnahme, sondern agierte
ten wie die Erklärung der Menschen- und Bürger- völlig im Einklang mit seinem Milieu und seiner
rechte und die Emanzipation der Juden galten Epoche.
reaktionären Kreisen in ganz Europa als Symbole Der Gang auch der preußischen Geschichte war
der vermeintlich schlechten neuen Zeit. nicht festgeschrieben, moderne und reaktionäre
Und obwohl die Revolution zunächst das Ende Elemente mischten sich. Eine Republik, in der Adel
der adeligen Sonderstellung bedeutet hatte, feierte keine Rolle spielt, der Glaube Privatsache ist und
sie schon bald eine Wiederauferstehung. Napoleon die Funktionseliten nach Kriterien von Leistung
und später die Restauration machten sich an eine und Tüchtigkeit gebildet werden, scheint uns heute
Wiederbelebung des Adels zur Herrschaftssiche- selbstverständlich – damals aber war sie eine radi-

84 KAISERREICH
Dynastie
Der Bankier Na-
thaniel Meyer von
Rothschild, hier
auf dem Wiener
Kostümball 1886 (1),
erbte von seinem
Vater Anselm
Salomon den
österreichischen
Freiherrentitel.
Nathan Mayer Roth-
schild wurde 1822
von Kaiser Franz I.
in den Freiherren-
stand erhoben (2).
Sein Sohn Lionel
musste elf Jahre
lang auf seinen
Sitz im britischen
Parlament warten,
weil er sich wei-
gerte, auf die Bibel
1 zu schwören (3).

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 85


1

Gesellschaftsleben
Eine Kaffeetafel
im Garten der Fami-
lie von Bleichröder
in Heringsdorf
1927 (1). Moritz
Freiherr von Königs-
warter, Mitglied des
österreichischen
Oberhauses, heira-
tete 1860 Charlotte
Edler von Wertheim-
stein (2). Der Unter-
nehmer Moritz von
Hirsch entstammte
einer bayerischen
Bankiersfamilie (3).
2

86 KAISERREICH
kale Utopie, an die kaum jemand glaubte und die urteilt: »Die jüdische Großbourgeoisie und die Mehr-
überdies auch kaum jemand wünschte. heit der jüdischen Millionäre waren besonders assi-
In seinem Buch »Der Kaiser« aus dem Jahre miliert. Sie waren zwar weniger ›feudalisiert‹ als
1919 schildert Walther Rathenau eine Szene in ihre nicht jüdischen Klassengenossen. Ballin, Fürs-
einem Bahnabteil, die er 1909 datiert. Dort hätten tenberg und die Berliner Zeitungszaren zum Bei-
sich einige Großindustrielle so über den Kaiser spiel lehnten die Nobilitierung ab, andere waren
echauffiert, dass sie einer Verfassungsänderung freilich für das Adelsprädikat empfänglich.«
das Wort redeten, um die Macht des Monarchen Einige Jahre später schrieb der Bielefelder Ge-
zu beschränken. Die Idee einer Petition wurde be- schichtsforscher Hans-Ulrich Wehler: »Gar nicht
sprochen, einer Unterschriftenliste, die diesem so selten wurde sogar die angebotene Erhebung
Wunsch in der Öffentlichkeit Nachdruck verleihen in den Adelsrang von millionenschweren deut-
sollte. Doch Rathenau, so jedenfalls seine Darstel- schen Unternehmern selbstbewusst abgelehnt: von
lung, antwortete ihnen: »Sie irren. Keiner würde Carl Fürstenberg und von Max Warburg etwa,
unterschreiben. Die Aussicht auf das Herrenhaus auch von Albert Ballin, Emil Kirdorf, August
und den Adel wäre zu Ende. Die Karriere des Soh- Scherl und anderen.«
nes erledigt, der Verkehr mit Hof und Würdenträ-

D
gern abgeschnitten.« och, so stellt Drewes in seiner 2013 er-
Diese interessengeleitete Nähe auch des preu- schienenen Arbeit fest: Für die Ableh-
ßischen Bürgertums zu Monarchie und Adel wurde nung des Adelsprädikats gibt es keinen
in der Diskussion um den »Deutschen Sonder- Beleg. Trocken bemerkt er: »Wilhel-
weg« – die Frage, ob eine mangelhaft ausgebildete minische Juden, die eine Nobilitierung ablehnten,
bürgerlich-liberale Tradition im Deutschen Reich obwohl sie sogar angeboten worden war, gab es
den Nationalsozialismus begünstigte – zum belas- nicht. Vielmehr überstieg die Nachfrage nach
tenden Argument: Das Bürgertum in Preußen sei Adelstiteln bei Weitem das Angebot.«
eben nicht bürgerlich genug gewesen, sondern Die preußische Monarchie war mit Nobilitie-
habe sich zu sehr an Adel und Militär orientiert. rungen sehr zurückhaltend und schloss sie für nicht
Doch mit der Zeit trat eine andere Betrachtung konvertierte Juden ganz aus. Diese nüchterne
in den Vordergrund. Nun, verstärkt in den Jahren historische Realität erklärt die geringe Zahl geadel-
nach der deutschen Wiedervereinigung, suchten ter Juden in Preußen.
Historiker, wo sich gewissermaßen Reservate des Demgegenüber entfaltet die These vom selbst-
Bürgersinns auch in Preußen ausfindig machen bewussten jüdischen Großbürgertum, das nicht ge-
ließen. Als solche galten zunehmend jene großbür- adelt werden wollte, sehr viel mehr Charme: Hier
gerlichen, vermögenden Juden, die, im Unter- könnte das Vorbild für eine moderne, tolerante
schied zu Bleichröder, nicht nobilitiert wurden. Bürgergesellschaft liegen, eine Tradition, an die
Aus dem Umstand der nicht erfolgten Adelserhe- sich anknüpfen lässt, während man zugleich über
bung wurde also ein kühner Schluss gezogen. Die- die alten Zöpfe des Wilhelminismus spottet. Denn
ses Vorgehen erinnert an den berühmten Fall, in das ist ein nicht zu vernachlässigender Begleit-
dem Sherlock Holmes den Täter überführt, indem effekt dieses Bildes: Ein Kaiser, der es nicht ver-
er untersucht, warum ein Hund nicht gebellt hat. mag, Leute in den Adelsstand zu erheben, weil
die gar nicht wollen, wirkt schon ziemlich armselig.
So wurde aus dem Komplex der geadelten preu- 2003 fasste der Schriftsteller Sten Nadolny in
ßischen Juden ein ganz besonderes, mitunter auch seinem »Ullsteinroman« über das Leben des Ver-
kurioses Thema der Geschichtswissenschaft. Der legers Franz Ullstein das Bild von der Adelsver-
Historiker Kai Drewes hat sich in seiner Studie weigerung noch einmal eindrücklich zusammen:
»Jüdischer Adel. Nobilitierungen von Juden im »Franz sollte den Wilhelmsorden erhalten – von
Europa des 19. Jahrhunderts« mit den mannigfal- Seiner Majestät persönlich. Womöglich auch ge-
tigen Deutungen dieses Themas beschäftigt. adelt werden, munkelte man lockend. Warum?
Ausgangspunkt seiner Betrachtung sind zwei Wegen der Ullstein-Kriegsbücher, die vom Verlag
seltsam umfassende, dann auch wieder bloß ange- zu Hunderttausenden kostenlos an die Front ge-
deutete Befunde wichtiger deutscher Historiker, gangen waren … Er bat sich Bedenkzeit aus. Aus-
der erste von Thomas Nipperdey. Der hatte ge- gerechnet den Wilhelmsorden! Man hatte ihn

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 87


Schmuck
Für ihren Premier
und Vertrauten
Benjamin Disraeli
erfand Königin
Victoria 1876
den Titel Earl of
Beaconsfield.

nen, waren bürgerlich selbstbewusst, stolze Juden


und einer Nobilitierung nicht abgeneigt. Ähnliches
gilt für die von Drewes genauer untersuchte Fami-
lie der Königswarter. »Die Aufnahme in den Adels-
stand«, so resümiert Drewes die Sicht der Zeit-
genossen, »setzte der großbürgerlichen Geste die
Krone auf.«

Es ist ein verständlicher, aber eben ein ahisto-


rischer Wunsch, das jüdische Großbürgertum des
Kaiserreichs als eine aus ihrer Kultur und Epoche
herausgehobene Gruppe zu stilisieren, die die
höchsten Ehrungen ihrer Zeit nicht annehmen
mochte, weil sie gewissermaßen den Vorschein
einer besseren Zeit erkennen konnte.
Dabei schmälert es keineswegs die historische
Attraktivität, wenn sich an dieser Gruppe eben
alle widerstreitenden Momente der Epoche beson-
ders klar ablesen lassen: einer Übergangszeit, in
der Industrialisierung, Weltwirtschaft und Medien
schon weit ausgebildet waren, die Gesellschaft
schon 1909, als Emilie Mosse ihn wegen wohltäti- aber auch in alten Rollen und Ritualen schwelgte.
ger Stiftungen bekam, als den Orden »Pour les Se- Und es wirft auch ein grelles Licht auf die Geis-
mites« bezeichnet … Das innerlich angeschlagene tesverfassung der preußischen Monarchie und des
Hohenzollernsystem suchte sich der Tüchtigen Adels, dass dermaßen restriktiv mit Nobilitierun-
durch Orden und Titel zu versichern, als würden gen von Personen jüdischer Herkunft verfahren
sie sonst jeden Augenblick davonlaufen. Bei die- wurde. Schon die wenigen, die nobilitiert wurden,
sem Kasperletheater machte ein Ullstein nicht riefen in Adelskreisen antisemitische Schmähun-
mit – was hätte Vater Leopold dazu gesagt! Neffe gen und Proteste hervor – so kritisierte 1886 im
Karl hatte jetzt für große Tapferkeit vor dem Feind »Deutschen Adelsblatt« ein Artikel, bald stehe
das Eiserne Kreuz bekommen. Das war etwas! »Wappenschild neben Firmenschild«, was impli-
Nein, Ende der Diskussion! Franz lehnte ab, preu- zierte, die spezifische Nobilität des Adels werde
ßisch-bescheiden und wilhelminisch-untertänig, der Gier nach Geld geopfert.
vor allem glänzend formuliert.« Statt also den Blick auf die charmante Chimäre
des adelsfeindlichen jüdischen Großbürgertums

E
s hätte so sein können. Doch für diesen zu richten, sollte man den Alltag der antisemiti-
Vorgang – Majestät bietet an, Unterneh- schen Einstellungen und Praktiken in Preußen im
mer lehnt ab – fehlt jeder Beleg. Warum Blick behalten. Und erkennen, dass die respekt-
auch hätte ein Großbürger des Kaiser- volle Beschreibung einer historischen Gruppe da-
reichs so reagieren sollen? Die Nobilitierung ver- rin besteht, sie in ihrer Zeit zu würdigen.
vielfältigte das symbolische Kapital noch einmal er- Weil die Menschen damals weder das Ende der
heblich. Drewes resümiert: »Orden und Adelstitel Monarchie noch das Ende Preußens oder gar den
kamen gesellschaftlichen Ambitionen ebenso zugu- Weg in den Massenmord an den europäischen Ju-
te wie ihrer Kreditwürdigkeit und Ehre.« Das aller- den vorausahnen konnten, gab es für preußische
dings war keine preußische oder deutsche Beson- Bürger jüdischer Herkunft, von denen viele zum
derheit, sondern ein europäisches Phänomen. In Län- Protestantismus konvertiert waren, schlechter-
dern, in denen mehr und häufiger nobilitiert wurde, dings keinen Grund, die eigene Lebensleistung
etwa in Österreich, waren unter den Neuaristokra- nicht durch einen der seltenen Adelstitel zu krö-
ten auch zahlreiche Personen jüdischer Herkunft. nen. Und durch solchen Ausweis der Tüchtigkeit
Große jüdische Familien wie die Rothschilds und des individuellen Leistungsprinzips die Anti-
kombinierten diverse Traditionen und Distinktio- semiten in Adelskreisen auch kräftig zu ärgern. 

88 KAISERREICH
DA S H AU S S AV O Y E N
Könige hat die Sippe erst spät hervorgebracht.
Aber auch ohne gekrönte Häupter gehörte sie lange
zu den einflussreichsten Adelshäusern Europas.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Prinz Eugen von Savoyen, 1663 bis 1736. Karl Emmanuel II., 1634 bis 1675, ließ
1034 Zum europäischen Helden wurde er 1697 als
Oberbefehlshaber des habsburgischen Hee-
1655 ein Massaker an vermeintlich ketze-
rischen Waldensern verüben. Das empörte
res im Großen Türkenkrieg: Mit dem Sieg in Europas Protestanten, Britannien drohte
der Schlacht von Zenta leitete er die Nieder- mit Truppen. Der Herzog gab nach, aber
S TA M M S I T Z lage des Osmanischen Reiches ein – und den nicht auf. Der resultierende Krieg endete
Aufstieg Österreichs zur Großmacht. [1] erst 15 Jahre nach seinem Tod.
Chambéry

Maria Luisa Gabriella von Savoyen, Olympia Mancini, 1639 bis 1708, war
Königin von Spanien 1701 bis 1714. Regierte Mätresse des französischen Königs und Ehe-
S TA M M L A N D E das Land erstmals mit nur 13 Jahren, frau von Eugen Moritz von Savoyen-Cari-
mitten im spanischen Erbfolgekrieg, und gnan, der diese Ehe nicht überlebte. Olympia
Maurienne
das auch noch gut, klug und resolut. In den wurde angeklagt, ihn vergiftet zu haben.
und Savoyen
für Spanien erfolgreichen Friedensverhand- Der Nachweis misslang, trotzdem landete sie
lungen sicherte sie ihrem Mann Philipp V. im Exil. Nach dem plötzlichen Tod der spani-
die Krone. Sie starb mit nur 25 Jahren, schen Königin Marie Louise d’Orléans geriet
HÖCHSTE vom spanischen Volk verehrt. [2] sie erneut als Giftmörderin in Verdacht. [4]
ÄMTER
[GESCH ICHTE]
BEDEUTENDSTE LEISTUNG G R Ö S S T E R S K A N DA L

Könige
Mitte des 19. Jahrhunderts gelang es den Der 1937 geborene italienische Kronprinz
von Sizilien,
Savoyern, zuerst Norditalien unter ihrer Viktor Emanuel machte über Jahrzehnte
Sardinien und
Führung zu einen und dann die eigentlich Schlagzeilen: wegen angeblicher Verbindung
Italien, Kaiser
republikanische Unabhängigkeitsbewegung zur terrorverdächtigen Geheimloge P2 und
von Abessinien
Giuseppe Garibaldis in Süditalien und Sizilien durch Anklagen wegen Korruption, Betrug
für sich zu gewinnen. 1861 wurde Viktor und Ausbeutung von Prostituierten. Schuldig
[ G E G E N WA R T ]
Emanuel II. so zum ersten König Gesamt- gesprochen wurde er nie, trotzdem setzte
italiens seit der Antike – und zum Mitbe- ihn das Adelshaus als Oberhaupt ab – wegen
keine
gründer des italienischen Nationalstaats. [3] nicht standesgemäßer Ehe.

BERÜH MTE
RESIDENZEN

Zum Beispiel der


Palast Madama
in Turin sowie
Venaria Reale,
Castello di Rivoli
[1] [2] [3] [4] [5]
und Stupinigi im
Piemont. Keines
der Schlösser
ist heute noch Bekannte Köpfe heute: Emanuele Filiberto von Savoyen, geboren 1972. Fiel 2010 als
im Besitz Schlagersänger beim Festival in San Remo auf und durch. Gehört zu Europas adeliger Schickeria,
der Familie. unter Dauerbeobachtung von »Gala«, »Bunte« und Co. [5]

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 89


Adelige Junker herrschten über das preußische Landgut Stavenow,
untertänige Bauern bestellten die Felder. Die Macht schien klar verteilt – doch
im Alltag sah es ganz anders aus.

Frondienst mit
Freibier

90 LAN DADEL
Von Martin Pfaffenzeller

Ö
stlich der Elbe, auf halber Strecke zwi- schaft in Stavenow für immer verändern: Mit dem
schen Berlin und Hamburg, herrscht Widerstand gegen die Holzfahrten begann der
Friedrich Joachim von Kleist um 1768 langsame Zusammenbruch der Junkerherrschaft.
über das Rittergut Stavenow. Er wohnt Zwar waren die Bauern Erbuntertanen ihres Guts-
in der Burg Stavenow, einem viereckigen Wehr- herrn: Er bewirtschaftete mit ihrer Arbeitskraft
turm aus dem Mittelalter, ausgebaut zu einem seine Ländereien, ohne seine Genehmigung durf-
30 Meter langen Herrenhaus. Daneben erheben ten sie weder wegziehen noch heiraten. Doch wohl
sich eine Kapelle, ein Wirtshaus, mehrere Bara- zu keiner Zeit konnten sich die adeligen Herrscher
cken für Tagelöhner und Gesinde sowie Stallungen in Stavenow auf den blinden Gehorsam ihrer Un-
für 40 Pferde und 300 Kühe. tertanen verlassen. Die wussten, dass sie es waren,
Aus seinem Gemach im dritten Stock blickt die den Ertrag des Guts sicherstellten – an ihnen
Kleist, 38 Jahre alt und Major der preußischen hing das wirtschaftliche Schicksal des Gutsherrn.
Armee, auf die Brücke über die Löcknitz, einen Und so ist die Geschichte von Stavenow ein Bei-
Nebenfluss der Elbe, über Äcker, Weiden und spiel dafür, wie die Interessen von Adeligen und
Wälder. Er sieht die Bauerndörfer Mesekow und jene der unfreien Bauern aufeinanderprallten, wie
Karstädt, die beiden nächstgelegenen der neun sie ganz praktisch um Kompromisse rangen – und
Siedlungen auf seinen Tausende Hektar großen wie wenig die formale Macht des Adels im kon-
Junkerburg
Um 1900, als die- Ländereien. kreten Fall bisweilen nutzte.
ses Foto von Gut Die etwa 1500 Menschen, die dort leben, sind Schon in den wenigen erhaltenen Akten der
Stavenow entstand, Kleists Untertanen – jedes Familienoberhaupt hat Junkerfamilie Quitzow, die das Gut Stavenow von
war die Zeit der ihm Treue und Gehorsam geschworen. Der Guts- 1405 bis 1647 besaß, fand Historiker Hagen Spu-
unfreien Bauern vor-
bei. Gut hundert herr besitzt die Flächen, die sie beackern, und die ren von Widerstand: 1549 verringerte Gutsherr
Jahre zuvor wurden Häuser, die sie bewohnen. Nach Belieben kann er Lütke von Quitzow die Frondienste auf drei Tage
die Landarbeiter ein- sie zu Abgaben und Fronarbeit zwingen. – vermutlich hatten die Bauern rebelliert.
gekerkert und gefol- Doch als Kleist im Winter 1768/69 verlangt, Nach Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648
tert, wenn sie Fron-
arbeit verweigerten dass seine Untertanen jede Woche Dutzende Wa- erließ der neue Gutsherr Joachim Friedrich von
oder die Anordnun- genladungen Holz zum über 20 Kilometer entfern- Blumenthal seinen Leuten noch mehr Frondienste.
gen der Gutsherren ten Elbhafen in Lenzen karren, weigern sie sich: Der Krieg hatte das Gut mit voller Grausamkeit
kritisierten. Die Fracht würde ihre Pferde über Gebühr schin- getroffen: Nur ein Drittel der Bauern hatte Kämpfe
den, klagen sie. Zudem verstieße die Forderung und Pest überlebt, sie galt es, auf dem Gut zu
gegen frühere Vereinbarungen. halten und möglichst neue Siedler anzulocken.
Kleists Gutsaufseher bestrafen die Bauern für Als die Kornpreise wegen Ernteüberschüssen um
ihren Ungehorsam. Sie schlagen sie und nehmen 30 Prozent fielen, forderte Blumenthal wieder
ihnen die Zugtiere weg – so werden es die Unter- mehr Dienste von seinen Untertanen. Damit stieß
tanen später vor Gericht schildern, wie der er auf Widerstand: In der ganzen Region im Nord-
US-Historiker William W. Hagen in seiner Studie westen Brandenburgs habe sich die »gemeine
»Ordinary Prussians« anhand der Gutsakten Bauernschaft« zu einem »kühnen und frechen Auf-
rekonstruiert hat. Angebliche Rädelsführer wie stand« erhoben, berichtete ein besorgter Prignitzer
der Bauer Peter Ebel werden eingekerkert. Die Junker 1701 dem Berliner Hof.
Wärter werfen feuchtes Kiefernholz in den Ofen Ein königlicher Beamter befragte Gutsherren
seiner Zelle, zwei Tage sitzt der 63-Jährige im und sammelte die Beschwerden der Landbevölke-
Rauch. rung. Die Bauern klagten nicht nur über die zu-
So eskalierte in Stavenow ein Konflikt, wie er sätzliche Arbeit. Auch dass sie zu den Frondiens-
auf ostelbischen Rittergütern seit Jahrhunderten ten kein Freibier bekamen und der Gutsverwalter
immer wieder vorkam: Ein profitgetriebener Guts- Schafe auf ihren Äckern weiden ließ, trieb sie um.
herr stieß auf Untertanen, die ihren Lebensstan- Besonders ärgerte sie der neue Folterkerker,
dard und ihre traditionellen Rechte mit allen Mit- »Brack« genannt, in dem Gefangene mit Hand-
teln zu verteidigen suchten. schellen so an die Wand gehängt würden, dass
Doch was in diesem Winter 1768/69 zunächst ihnen der Rücken fast entzweibreche.
wie einer der üblichen Arbeitskämpfe erscheint, Der Beamte schlug sich auf die Seite des Adels:
sollte das Verhältnis zwischen Adel und Bauern- Mehr als zwei Jahre lang steckte er Prignitzer

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 91


Bauernführer in die Zitadelle Spandau, einen Pro- als er für Stavenow gezahlt hatte. Die zehn Söhne
zess gegen die Junker verhinderte er. sollten zwölf Jahre lang Stipendien von 500 Talern
Offenbar brach der Widerstand dann zusam- erhalten, damit sie Offizierskarrieren verfolgen
men. Der Stavenower Gutsherr setzte Abgaben könnten: weitere 60 000 Taler.
auf Vorkriegsniveau durch: für einen Bauern mit Um seine hohen Ausgaben zu decken, stellte
mittelgroßem Hof rund 300 Kilogramm Roggen der neue Gutsherr sogar Waisenkindern aus einer
im Jahr, dazu wöchentlich drei Tage Frondienst. Bürgerfamilie im nahe gelegenen Perleberg nach,
Im Jahr 1719 kaufte Andreas Joachim von Kleist deren verwitwete Mutter bei ihrem Tod mit 107
das Gut. Der stammte aus einem hinterpommer- Talern in Verzug war. Auch gegenüber anderen
schen Junkergeschlecht, mit sieben Jahren wurde Junkern wie dem mächtigen Prignitzer Landrat
er zum Waisen. Wohlstand und Ansehen verdank- Hans von Grävenitz bestand Kleist auf die Rück- Oben und unten
te er der preußischen Armee: Vom Pagen hatte er zahlung von Zinsen. Ostelbische Groß-
sich bis zum Oberst im Regiment des Soldaten- Vor allem aber sollten die Bauern für Einkünfte grundbesitzer wie
Adolf Graf von Ar-
königs Friedrich Wilhelm I. hochgedient. sorgen. Weil er sie allesamt für faul und untüchtig
nim-Muskau (hier
Der Kauf des Guts sollte Kleists Status demons- hielt, kaufte Kleist neue Kirchturmglocken: pünkt- 1926) inspizierten
trieren – und Geld in die Kasse der Familie brin- lich um sechs Uhr morgens sollten die Untertanen auf edlen Pferden
gen. Denn der Unterhalt einer Junkerfamilie war zum Frondienst erscheinen. Faulenzer werde er ihre Latifundien. Die
Untertanen ver-
teuer, einer kinderreichen umso mehr. Allein für von ihren Höfen werfen, drohte er, und mit »bes-
gnügten sich beim
die Mitgift seiner fünf Töchter hatte Kleist in sei- seren Bauern« ersetzen. Wer Holz mitgehen ließ, Schweinereiten
nem Testament 60 000 Taler eingeplant – mehr musste den »Spanischen Mantel« tragen: eine Mi- (rechte Seite).

92 LAN DADEL
Schnelles Waren die Bauern der Junker
Wissen
Leibeigene?
Rechtlich waren die meisten Bauern im ostelbischen Preußen des 18. Jahr-
hunderts keine Leibeigenen, denn ihr Körper gehörte dem Gutsherrn nicht.
Außerdem konnten sie vor Gericht ziehen und hatten eigenes Geld, Kleidung
und Vieh. Gleichwohl waren die Bauern vom Junker abhängig, denn er
war Eigentümer ihrer Häuser, Äcker und Pflüge – für die Nutzung verlangte er
Frondienste. Zudem unterlagen sie auf dem Gut seiner Rechtsprechung: dem Gutsherrn für eine Stunde in den Folter-
Sie waren daher seine Untertanen. Übergaben Bauern ihre Höfe an die kerker.
nächste Generation, musste der Gutsherr zustimmen. Meist übernahmen Nachgiebiger zeigte sich Junker Kleist 1738: Als
die Bauernkinder Status und Nutzungsrechte von ihren Eltern, das Ver- bei einem Transport von 400 »Holländer-Käsen«
hältnis von Gutsherren und Bauern nennt man daher Erbuntertänigkeit. nach Berlin 100 Pfund verschwanden und später
sogar ein ganzer Käsetransport nach Potsdam, ver-
urteilte der Gutsrichter die Bauern dazu, den Wert
des verlorenen Käses zu ersetzen. Weil die Bauern
schung aus Pranger und Folterwerkzeug, das über aber damit drohten, ihre Höfe dann ganz aufzu-
Kopf und Schultern geschnallt wurde – meist am geben, musste Oberst Kleist nachgeben: Statt die
Sonntag auf dem Kirchplatz. Gegen die neue Dis- aufmüpfigen Bauern vom Gut zu werfen, verzich-
ziplin wehrten sich die Stavenower: 1726 stand tete er auf Bußgelder.
der Bauernsohn Jochen Milatz vor Gericht, weil Nachdem Kleist im selben Jahr gestorben war,
er einen Aufseher mit einem Knüppel geschlagen änderte seine Witwe Marie Elisabeth als neue Guts-
haben soll. Der Angeklagte rechtfertigte sich damit, herrin die Strategie: Statt die Untertanen auszu-
dass sein Pferdegespann wegen der Fronarbeit pressen, setzte sie auf landwirtschaftliche Reformen.
kurz vor dem Zusammenbruch gestanden habe. Sie schaffte Dutzende Zugpferde an, um die Fel-
»Der Hund« – wie er den Aufseher nannte – könne der effektiver zu pflügen. Sie vergrößerte die Kuh-
ihm schließlich keine neuen Pferde »scheißen«. ställe, damit mehr Mist als Dünger abfiel. Auch
Der Gutsrichter schickte Milatz in Absprache mit die Einnahmen aus Viehverkauf und Käserei stie-

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 93


Offizier mit Landbesitz
So herrschte der Landadel in Preußen.

D ie Zeit der Junker begann im Mittelalter, als


Ordensritter und Fürsten die heidnischen
Slawen in Osteuropa unterwarfen. Mit den
es trotzdem wagte, den konnte der Junker gewaltsam
zurückholen.
Die Güter entwickelten sich zu eigenen Herrschafts-
Heerführern zogen besitzlose Söhne aus deutschen räumen, in denen der Junker zugleich Arbeitgeber,
Adelsfamilien nach Osten: Sie wurden als »Juncherre« Grundeigentümer, Gerichtsherr und Oberpolizist war;
(junger Herr) bezeichnet, woraus sich später das Wort willkürlich konnte er Geldbußen, Peitschenhiebe oder
Junker ableitete. Kerkerstrafen verhängen.
Zum Dank erhielten die Junker Teile des eroberten Obwohl die preußischen Könige im 18. Jahrhundert
Gebiets – samt Verfügungsgewalt über die Menschen, nach absoluter Herrschaft strebten, unternahmen sie
die dort lebten. So bestand ein ostelbisches Gut aus lange nur wenig gegen die Sonderrechte des Adels –
zwei Bereichen: den vom Junker selbst bewirtschafte- die Monarchen waren von den Junkern abhängig, weil
ten Äckern und jenen Feldern, die seine Untertanen sie fast alle Offiziere im preußischen Militär stellten.
pflügten. Dafür, dass die Bauern das Land nutzen durf- Trotzdem war die Macht der Junker kleiner, als ihre
ten, schuldeten sie dem Junker Frondienste: Sie muss- Privilegien vermuten lassen. Mit Streiks wehrten sich
ten etwa Botengänge erledigen, Straßen bauen oder die Bauern vielerorts gegen ungerechte Behandlung,
die Äcker des Gutsherrn abernten. so etwa auf dem Gut Stavenow.
Anders als westlich der Elbe, wo sich die Bauern 1806 besetzte Napoleon große Teile des Königreichs
zu Beginn der Neuzeit formelle Unabhängigkeit erstrit- Preußen. Die Niederlage in der Schlacht von Jena und
ten, kontrollierte der ostelbische Adel die Landbevöl- Auerbach erschütterte das Prestige des Landadels, der
kerung: Bauern durften das Gut nicht verlassen – wer seine Privilegien auch mit Erfolgen auf dem Schlacht-
feld gerechtfertigt hatte.
Reformer setzten ein Edikt durch, das die Gutsherr-
schaft abschaffte: Bauern übernahmen als »freie Leute«
das von ihnen bewirtschaftete Land, die Junker erhiel-
ten als Entschädigung Boden oder Geld.
Trotz der Revolution von 1848 und der späteren
Reichsgründung behaupteten die Junker im 19. Jahr-
hundert ihre politische Macht. Die Landadeligen do-
minierten den Preußischen Landtag – das wohl wich-
tigste Organ im Kaiserreich –, weil das Dreiklassen-
wahlrecht reiche Wähler begünstigte.
Im Militär besetzten die Junker weiterhin wichtige
Posten: Generäle aus dem ostelbischen Landadel wa-
ren maßgeblich beteiligt, als das Reich in den Ersten
Weltkrieg zog. Die Niederlage wurde für die Junker
zum Desaster. In der Weimarer Republik verloren sie
ihre Sonderrechte. Viele gingen bankrott und schlossen
sich rechtsradikalen Freikorps an. Als Adolf Hitler die
Macht ergriff, glaubten einige Junker, den Diktator für
ihre Zwecke nutzen zu können (Seite 104).
Mit dem Zusammenbruch Nazideutschlands im
Zweiten Weltkrieg verschwand die Lebenswelt des
Landadels endgültig. Der Großteil der Güter lag östlich
der Oder-Neiße-Linie – nach 1945 gehörten die Gebiete
zu Polen oder der Sowjetunion. Den Rest enteigneten
die Kommunisten in der Sowjetischen Besatzungszone
und späteren DDR unter der Parole »Junker-Land
Plakat, um 1946 in Bauernhand«. Martin Pfaffenzeller

94 LAN DADEL
Ebel erkrankt schwer. Nach fünf Tagen geht es
ihm so schlecht, dass der Gefängniswärter ihn ent-
lässt. Für andere Stavenower Aufrührer aber dau-
ert die Tortur im Kerker drei Wochen.
Dennoch geben die Bauern nicht klein bei –
und sie organisieren ihren Widerstand gewiefter
als damals gegen den alten Kleist. Sie streiken wei-
ter und sammeln Geld für einen Anwalt, der eine
Petition an den König verfasst. Denn obwohl die
Gutsgerichte weitgehend autonom Recht sprechen,
kann sich das königliche Kammergericht in Fällen
besonderen Unrechts einschalten.
Im Sommer 1769 kommen Beamte nach Stave-
Formale Macht gen. Dazu ließ sie mehr Schnaps brennen und now, untersuchen den kranken Ebel, begutachten
Die Arbeit ihrer mehr Bier brauen. die Pferde, messen die Strecke zur Elbe und befra-
erbuntertänigen
Bauern erhielt den
Wichtigste Neuerung aber war die Abkehr von gen die Bauern. Viele behaupten, ihnen drohe we-
Gutsbesitzern ihre der Dreifelderwirtschaft. Die Bauern sollten die gen der Holztransporte der Ruin. Vermutlich über-
stattlichen Anwe- Felder nun in elf Phasen bewirtschaften: Ab- zeichnen sie ihre Geldnot jedoch, denn die meisten
sen (hier im Land- wechselnd wurden Winter- und Sommergetreide Bauernhöfe wirtschaften im 18. Jahrhundert trotz
kreis Meißen) und
ihren herrschaft-
sowie Kartoffeln angebaut, zwischendurch weide- Abgaben an Gutsherrn und König rentabel.
lichen Lebensstan- te das Vieh auf den Flächen – die Erträge stiegen 1764 etwa vererbt eine Bäuerin aus einem der
dard. Doch ab Mitte deutlich. Mitte des 18. Jahrhunderts erwirtschaf- Stavenower Gutsdörfer 11 Kleider, 16 Mieder, 27
des 18. Jahrhun- tete das Gut im Schnitt rund 4000 Taler Rein- Hauben und einen Schal aus Musselin. Selbst un-
derts begehrten
die Bauern auf und
gewinn pro Jahr. verheiratete Mägde und Knechte bekommen täglich
erkämpften sich Fünf Jahre nach dem Tod von Marie Elisabeth Käse, Butter und mindestens anderthalb Liter Bier,
Besitzrechte und von Kleist 1758 legten die zehn Söhne der Guts- essen mehrmals in der Woche Fleisch und trinken
bessere Arbeits- herrin »in brüderlicher Harmonie«, wie es in einer Schnaps – eine reichere Kost, als sie damals die
und Lebens-
bedingungen.
Urkunde hieß, fest, dass Stavenow 127 483 Taler meisten freien Bauern westlich der Elbe genießen.
wert sei – mehr als doppelt so viel wie der einstige Die Stavenower rebellieren nicht aus purer Not.
Kaufpreis. Übernehmen sollte der Sechstgebore- Sie wollen ihren Lebensstandard bewahren – oder
ne: Major Friedrich Joachim von Kleist, damals verbessern.
32 Jahre alt. Das Berliner Kammergericht urteilt zunächst
Der junge Major startete seine Gutsherrnzeit im Sinne Kleists, weil die Untertanen nicht nach-
mit 75 000 Talern Schulden, denn er musste seinen weisen können, dass die Holzfahrten »absolut un-
Brüdern das Erbe auszahlen. Um die Last zu tilgen, möglich« seien. Doch anders als beim Prignitzer
kombinierte er die Strategien seiner Eltern. Wie Bauernaufstand knapp sieben Jahrzehnte zuvor ge-
seine Mutter versuchte er, die landwirtschaftlichen ben die Untertanen nicht nach. Sie streiken weiter
Erträge durch Innovationen zu steigern. Er bestell- und ziehen vor das »Ober-Appellations-Tribunal«,
te Bücher über Viehzucht und Ackerbau und ließ die höchste Instanz im Rechtssystem Preußens.
Wälder roden, um das Holz zu verkaufen und neue Und nun triumphieren die Bauern: Im Novem-
Felder zu erschließen. ber 1771 hebt das Tribunal den alten Richterspruch
Das Holz aber musste irgendwie zum Händler auf – und erklärt die Holzfahrten für illegal. Die
kommen. Da Kleist keine zusätzlichen Knechte Strecke zum Elbhafen und zurück sei zu weit für
oder Tagelöhner bezahlen wollte, versuchte er wie einen Tag, heißt es in der Begründung.
sein Vater, die Untertanen zu mehr Frondiensten Gutsherr Kleist verfasst Beschwerdebriefe an
zu zwingen. König, Kammergericht und Kabinett, die seine
Und so begann der Konflikt um die Transporte Verzweiflung offenbaren. »Trotzige« Bauern wür-
zum Elbhafen, der sich über Monate immer weiter den nicht einmal mehr pflügen und düngen. Das
verschärfte – eben bis der Bauer Peter Ebel im »wundersame« Urteil sei »schlecht für das Land«,
Winter 1768/9 in einer verqualmten Kerkerzelle denn es gefährde das Rückgrat der preußischen
nach Sauerstoff japst. Armee: Ohne Gutsherrschaft könne kein Junker

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 95


eine Offizierskarriere finanzieren. Doch aus Berlin
erhält er nur die Empfehlung, das Urteil »ruhig«
zu akzeptieren. Nun setzt Kleist auf Gewalt. 1772
schlägt er den Bauern Christian Schütt mit seiner
Peitsche – weil er ihn beim Pfeiferauchen ertappt
hat. Einen anderen Untertanen, der aus dem Ker-
ker ausgebrochen war, würgt er angeblich bis zur
Bewusstlosigkeit.
Doch der Major führt einen Kampf, den er nicht
gewinnen kann. In einer Zeit, als Aufklärer die Idee
von allgemeinen Menschenrechten verkünden, las-
sen sich die Bauern die Gewalttaten ihres Gutsherrn
nicht länger gefallen: Sie verweigern insgesamt drei
Jahrzehnte lang Befehle und Bußgelder, überziehen
den Gutsherren mit immer neuen Klagen – ihr Wi- »Stavenow war ein ehrgeiziges und gut gelei- Ständewelt
derstand ist so ausdauernd und koordiniert wie nie tetes, aber nicht untypisches ostelbisches Groß- Die einen verlustie-
ren sich, die ande-
zuvor. »Renitenz und Ungehorsam erwiesen sich als grundbesitzer-Unternehmen«, schreibt Historiker ren schuften: Auf
preußische Tugenden«, schreibt Historiker Hagen. Hagen: »Das Bild einer technologisch rückwärts- dem pommerschen
Zahlreiche Beschwerden über die Junker er- gewandten Junkerwirtschaft, in der autoritäre Gut Karwitz, heute
reichen das Kammergericht auch von anderen Starrheit und Ausbeutung jegliche Marktanreize Polen, nimmt sich
eine Landarbeiterin
Gütern. 1787 droht der neue König Friedrich Wil- unterdrücken, ist eine Karikatur.« der feinen kleinen
helm II.: Wenn ein Gutsbesitzer die Untertanen Doch die Zeit der Gutsherrschaft ging zu Ende. Edelfräulein an.
mit Diensten über ihre Schuldigkeit belästige, sie Streikende Bauern schwächten die Rendite der
in ihrem Eigentum beeinträchtigte, sie erpresse Junker, durch ihre Klagen rückten sie Willkür und
oder misshandle, werde dies seine königliche Unfreiheit auf den Gütern ins Bewusstsein auf-
Majestät mit »höchster Ungnade« ahnden. klärerischer Reformer. 1806 erlitt Preußen eine
1789 stürzen die Franzosen in der Revolution vernichtende Niederlage gegen Napoleon, verlor
das Ancien Régime und mit ihm die Vormacht vorübergehend seinen Status als europäische Groß-
des Adels. Die Parolen von Freiheit und Gleichheit macht. Nun sollten Reformen das Land moderni-
und die Forderungen nach einer Verfassung tönen sieren und wieder wettbewerbsfähig machen.
weit über die Grenzen des Landes hinaus. Auch Dazu gehörte auch das Ende der Erbuntertänig-
in Stavenow werden sie vernommen: Nur wenig keit, die »Bauernbefreiung«. 1807 erlassen, trat
später unterzeichnen Junker und Untertanen eine das königliche Edikt 1810 in Kraft.
Art Gutsverfassung mit 191 Paragrafen. Der Guts- Eine Revolution von oben. Ein Jahr später er-
herr verpflichtet sich, den Bauern nach Missernten hielten die Stavenower Bauern die Besitzrechte
mit Saatgut auszuhelfen, ihre Kinder als Erben der an zwei Dritteln der Äcker, die sie zuvor bestellt
Höfe anzuerkennen und die Frondienste unter kei- hatten. Das dritte Drittel fiel an den Gutsherrn.
nen Umständen zu erhöhen. Die Bauern sichern Der australische Historiker Christopher Clark
im Gegenzug zu, nach Todesfällen in der Junker- urteilt in seinem Standardwerk über Preußen:
familie vier Wochen lang jeden Mittag die Kirchen- »Der durch Napoleon erlittene Schock war ledig-
glocken zu läuten. Dafür erhalten sie ein Fass Bier lich der Katalysator, nicht die Ursache.« Die Guts-
– so vermutlich auch, als 1803 der letzte Gutsherr herrschaft wäre aufgrund des ideologischen und
Friedrich Joachim aus dem Geschlecht Kleist stirbt. wirtschaftlichen Drucks wohl ohnehin früher oder
Seine Witwe heiratet erneut und verkauft Sta- später zusammengebrochen.
venow für 255 000 Taler. Trotz aller Querelen hat Der neue Gutsherr auf Stavenow, der ehemalige
Major Kleist den Wert des Guts weiter gesteigert Staatsminister Otto Carl Friedrich von Voß, ließ
und seine Schulden zur Hälfte getilgt. Es war nicht die Gutsfelder von billigen Landarbeitern bestel-
der Druck auf die Untertanen, der ökonomische len. Seine Biografie ist typisch für den Wandel der
Wirkung zeigte, sondern die Reformen, die Kleist Grundbesitzer im 19. Jahrhundert: Anders als die
umgesetzt hatte: mehr Tagelöhner und Knechte, alten Junker stieg Voß nicht mehr als Offizier auf,
mehr Ochsen, Schnaps und Bier. sondern als Politiker und Kapitalist. 

96 LAN DADEL
DA S H AU S O L D E N B U R G
Der Name klingt nach norddeutscher Provinz, doch dahinter
verbirgt sich weit mehr: »Oldenburger« regierten Großmächte –
heute sind sie im englischen Königshaus vertreten.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Auguste Viktoria, 1858 bis 1921. Engagier- Nikolaus Friedrich Wilhelm von
1091 te sich als erste deutsche Monarchin karitativ,
kirchlich und für Frauenrechte, insbesondere
Oldenburg, 1897 bis 1970. NSDAP-Mitglied
und SA-Standartenführer. Fühlte 1941 bei
für die Schulbildung von Mädchen. War Himmler vor, ob er im zu erobernden Osten
schon zu Lebzeiten deutlich populärer als ihr günstig Ländereien erwerben könne. Das In-
S TA M M S I T Z Mann, der kriegerische Kaiser Wilhelm II., vestment scheiterte aus bekannten Gründen.
und wird im Gegensatz zu ihm heute wegen
Burg
ihrer Verdienste gewürdigt. [1] Zar Alexander III., 1845 bis 1894. Erfand
Aldenburg
die Geheimpolizei Ochrana und Gefangenen-
Christian X. von Dänemark, 1870 bis lager in Sibirien. Erließ antijüdische Gesetze,
1947. Trotzte 1940 den deutschen Besatzern scheiterte aber am Versuch, die Leibeigen-
S TA M M L A N D E die Zusicherung ab, sich nicht in innerdäni- schaft wieder einzuführen. Eine Frau unter
sche Angelegenheiten einzumischen. Das den »schwarzen Schafen« des Hauses Olden-
Großherzogtum
ermöglichte die lebensrettende Abschiebung burg konnten wir nicht finden. Das liegt oft
Oldenburg
von 7000 dänischen Juden ins neutrale auch daran, dass Frauen eine weniger aktive
Schweden. Seine Renitenz gegenüber den Rolle zugestanden wurde als Männern. [3]
Nazis machte ihn zu einer Symbolfigur des
HÖCHSTE dänischen Widerstands. [2] G R Ö S S T E R S K A N DA L
ÄMTER
[GESCH ICHTE]
BEDEUTENDSTE LEISTUNG Der mysteriöse Tod von Friedrich VIII.
von Dänemark, 1843 bis 1912. Starb unter
Könige und
Durch geschicktes Knüpfen von Familien- unklaren Umständen an einem Herzinfarkt:
Zaren
banden dehnte das ursprünglich gräfliche Der Monarch logierte unter falschem Namen
Haus seinen Einfluss auf viele Länder in einem Hamburger Hotel. Gefunden wurde
[ G E G E N WA R T ]
Europas aus. Die Zahl der regierenden »Ol- er in der Nähe eines Bordells; ob er bei
denburger« dürfte sogar noch steigen: Mit einem Spaziergang starb (so die offizielle
Könige in
einer Thronfolge zu Charles oder William Darstellung) oder posthum aus dem Ge-
Dänemark und
fällt der englische Thron der Nebenlinie bäude getragen wurde, blieb ungeklärt – um
Norwegen
Schleswig-Holstein-Sonderburg-Glücksburg die Königsfamilie nicht zu verletzen, wie es
zu, die sich dort aber Windsor nennt. seitens der Polizei hieß.

BERÜH MTE
RESIDENZEN

Das königliche
Schloss in Oslo
und Schloss
Amalienborg in
Kopenhagen
[1] [2] [3] [4] [5]

Bekannte Köpfe heute: Philip, Duke of Edinburgh (*1921) [4], Charles, Prince of Wales (*1948),
William, Duke of Cambridge (*1982), Königin Margrethe II. von Dänemark (*1940) [5],
König Harald V. von Norwegen (*1937).

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 97


»Mein neuer Gutsnachbar is’ ’n Bürgerlicher,
der Kerl versaut die ganze Landschaft.«

98 WEI MARER REPUBLI K


Mit dem Kaiserreich verschwanden 1918 auch die Privilegien
des Adels. Das Beispiel des mecklenburgischen Grafen Bernstorff zeigt,
wie die Aristokraten mit dem Statusverlust umgingen.

Von Eckart Conze einer Familie des Adels, der sich nicht nur in die
bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in-
tegriert, sondern in dieser bürgerlichen Gesell-
schaft seine Dominanz verteidigt, der sich behaup-
tet hatte, der »oben geblieben« war: politisch, öko-
nomisch und kulturell.
Drei Jahrzehnte später war diese Selbstgewiss-

»Wie soll
heit dahin. Mit dem Untergang des Kaiserreichs
und der Niederlage im Ersten Weltkrieg lag die
Welt des Adels, so schien es, in Scherben. »Was
soll nur aus uns werden, wenn ich keine lohnende
Stellung finde«, fragte und klagte der Kavallerie-

es nur offizier Andreas Graf Bernstorff, Sohn des ein-


gangs zitierten Werner Graf Bernstorff, dem es
nach 1919 nicht gelungen war, seine Stellung im
Militär zu behalten.
»Wenn ich auch still zu Hause sitze und jeden

werden?« Pfennig spare, so wird mir doch schwarz vor Au-


gen, wenn ich an die Zukunft denke. Wie soll es
nur werden?« Andreas Graf Bernstorff war keine
Ausnahme. Für viele Adelige bedeutete das Jahr
1918 – Kriegsniederlage, Revolution, Republik-
gründung – einen Absturz aus großer Höhe.
Sicher, auch schon im 19. Jahrhundert war der
Adel in seinem politischen und gesellschaftlichen
Führungsanspruch herausgefordert worden. In der
ständischen Gesellschaft war die Herrschaft des
Adels Teil der politischen Ordnung gewesen. Im

J
Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft wurden
e länger ein Gebäude den Stürmen der Privilegien des Adels abgebaut: Das aufsteigende
Zeit Trotz geboten hat, ohne in Verfall zu Bürgertum forderte selbstbewusst seine Beteili-
geraten, je sicherer können wir auf die gung an der politischen Herrschaft, die Vertretung
Güte und Festigkeit des Materials, aus in Parlamenten, den Zugang zu öffentlichen Äm-
dem es ausgeführt wurde, je sicherer auch auf die tern und die Durchsetzung des Leistungsprinzips
hohe Verehrung, mit welcher es von Geschlecht anstelle des Geburtsprinzips. Die großen Ideen
zu Geschlecht geachtet und gepflegt wurde, der Französischen Revolution, allen voran Freiheit
schließen.« und Gleichheit, erschütterten auch in Deutschland
In dieser Überzeugung, die Graf Werner von die jahrhundertealte Herrschaft des Adels.
Bernstorff in den 1880er-Jahren an die Spitze einer Und dennoch wusste sich der Adel zu behaup-
familiengeschichtlichen Betrachtung stellte, spie- ten. In der Sozialhierarchie des deutschen Kaiser-
gelt sich das Selbstbewusstsein einer Adelsfamilie, reichs rangierte er ganz oben. Die monarchische
die zu den größten Grundbesitzern in Mecklen- Ordnung des Kaiserreichs, auf nationaler Ebene
Gespött burg und Hannover zählte. Einer Familie, deren und in seinen Einzelstaaten, stabilisierte die poli-
Die adelskritischen Schlösser und Herrenhäuser ihren materiellen tische und gesellschaftliche Dominanz des Adels.
Karikaturen auf
dieser und den
Wohlstand demonstrierten; die in den politischen Adelskultur und adeliger Lebensstil wurden zum
folgenden Seiten Institutionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts Modell für das Bürgertum. Erfolgreiche Unterneh-
erschienen zwi- gut vertreten war; deren Vertreter auch im Staats- mer erwarben ländliche Rittergüter und imitierten
schen 1903 und dienst, als Diplomaten beispielsweise, hohe Posi- dort das Leben des Adels. Historiker sprechen von
1912 in den Satire-
zeitschriften »Sim-
tionen bekleideten; die im mecklenburgischen einer Feudalisierung des Bürgertums, das durch
plicissimus« und Wedendorf oder im hannoverschen Gartow unan- seine Orientierung am Adel zu dessen Selbstbe-
»Der wahre Jacob«. gefochten die lokale politische Herrschaft ausübte; hauptung entscheidend beitrug.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 99


Macht übte er aber andererseits auch weiterhin
auf staatlicher Ebene aus. In Preußen waren nicht
nur Militär und öffentliche Verwaltung adelig
geprägt, sondern über das Herrenhaus, die erste
Kammer des preußischen Parlaments, nahm vor
allem der ländlich-ostelbische Adel, die berühmten
Junker, entscheidenden Einfluss auf Politik und
Gesetzgebung.
Und weil die Dominanz Preußens in der Ver-
fassung des Kaiserreichs von 1871 verankert war,
reichte die Macht des preußischen Adels bis in die
nationale Politik. Diese blieb bis zum Ende des
Ersten Weltkriegs – und damit des Kaiserreichs –
entscheidend von adeligen Interessen bestimmt.
Vor diesem Hintergrund bildete der Zusammen-
bruch des Kaiserreichs und seiner monarchischen,
adelsfreundlichen Ordnung für den Adel eine tiefe
Zäsur. Mit der Abdankung des Kaisers und seiner
Flucht ins niederländische Exil sowie dem Thron-
verzicht der übrigen Fürsten endeten die Prestige-
potenziale der höfischen Gesellschaft und der
»Erlauchte Ostelbiens, wahret Nähe zu den Monarchen.
Durch die flächendeckende Einführung des all-
eure heiligsten Güter!« gemeinen Wahlrechts entfiel eine weitere, politisch
wirksame Privilegierung. Zudem hatte der Adel
nun nicht mehr das Sagen in den ersten Kammern
der Länderparlamente. Das preußische Herren-
Denn der Adel schaffte es, sich durch Distinkti- haus wurde abgeschafft.
on weiterhin vom Bürgertum abzuheben. Anders
als beispielsweise in England entstand in Deutsch- Der Gleichberechtigungsgrundsatz der Wei-
land und insbesondere in Preußen keine gemein- marer Verfassung – »Die öffentlich-rechtlichen
same adelig-bürgerliche Elite. Der Adel blieb ein Vorrechte … der Geburt oder des Standes sind auf-
»Meister der Sichtbarkeit« (so der Historiker Heinz zuheben« – tat ein Übriges: Adelige Titel und Prä-
Reif), der aus seiner herausgehobenen Präsenz in dikate waren von nun an nur noch Bestandteil des
den Hofgesellschaften in Berlin, Dresden oder Namens. Aus Graf Andreas von Bernstorff wurde
München, aus seiner Dominanz im Offizierskorps Andreas Graf von Bernstorff. Aber auch andere
oder aus der ostentativen Pflege einer ländlich- Vorrechte gingen verloren: vom Kirchenpatronat
agrarischen Lebensweise symbolisches Kapital zu bis hin zu dem Privileg, den ländlichen Besitz un-
ziehen vermochte, das seinen gesellschaftlichen geteilt weitervererben zu können, das sogenannte
Vorrang befestigte. Fideikommissrecht.
Auch politisch gelang es dem Adel, seinen Herr- Vor solchem Hintergrund kann die vehemente
schaftsanspruch zu verteidigen. Das gilt einerseits Republikfeindschaft, die den ganz überwiegenden
für die lokale Ebene, wo Adelige als Guts- oder Teil des deutschen Adels kennzeichnete, kaum
Grundbesitzer weiterhin politische Herrschafts- überraschen.
rechte wahrnahmen und wo sie darüber hinaus als Doch die Ablehnung von Republik und Demo-
Agrarunternehmer und ländliche Arbeitgeber ih- kratie speiste sich auch aus dem Verlust beruflicher
ren Status stabilisierten. Perspektiven. Am deutlichsten wurde das im Mi-
Anders als es der Soziologe Max Weber Ende litär, wo durch die Einführung des 100 000-Mann-
des 19. Jahrhunderts diagnostizierte, befand sich Heeres in der Folge des Versailler Vertrags viele
der ländliche Adel keineswegs in einem »Todes- Posten wegfielen. Aber auch in der Landwirtschaft
kampf«. wurde es schwieriger: Die Interessen des Adels

100 WEI MARER REPUBLI K


»Es ist eine liberale Stimme abgegeben worden. Der Schulmeister
kriegt von heute ab keine Kartoffeln mehr!«

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 101


»Hüter des Thrones«
Die russische Revolution von 1917 ließ vom Adel nicht
viel übrig. Den Rest erledigte er selbst.

Porträts aus Russlands letzter Adelsgeneration: Baron Pjotr Nikolajewitsch Wrangel, Großfürst Nikolai
Nikolajewitsch Romanow, Großfürst Kirill Wladimirowitsch Romanow und dessen Tochter Kira (l.)

D ie Warnung, die Fürst Georgij Lwow dem


Zaren Nikolai II. im Februar 1916 zukommen
ließ, hätte eindringlicher nicht sein können.
Ein weiteres Zentrum des Exiladels wurde Frank-
reich. Dort lebte seit 1922 in Antibes bei Cannes in
einer Villa an der französischen Riviera Großfürst Ni-
Mitten in den Kämpfen des Ersten Weltkriegs richtete kolai Nikolajewitsch. Der strebte mit Unterstützung
der liberale Mann aus altem russischen Adelsgeschlecht des russischen Barons Wrangel auf den vakanten russi-
einen Hilferuf an den Regenten: »Die Regierung hat schen Zarenthron. Die Nikolai-Anhänger wandten sich
Russland in furchtbares Unglück gestürzt. Die Isolie- im Februar 1924 nach Lenins Tod von Berlin aus mit
rung der Staatsgewalt und die Entfremdung zwischen einem Komitee »zur Rettung Russlands« in einem Ma-
ihr und dem Volk ist gefährlich, verhängnisvoll.« nifest an ihr Volk. Doch statt zur baldigen »Befreiung
Ein Jahr später dankte der Zar ab, Fürst Lwow wur- des russischen Landes«, die sie versprachen, kam es zu
de Premierminister einer provisorischen Regierung. einem bitteren Zwist unter den Blaublütigen. Denn
Doch in den Wirren der Russischen Revolution trat er auch Großfürst Kirill Wladimirowitsch, ein Vetter des
im Juli 1917 zurück. Vier Monate später übernahmen letzten Zaren, sah sich im sonnigen Nizza als »Hüter
die linksradikalen Bolschewiki unter Wladimir Lenin des kaiserlichen Thrones«. Nach dem Tod seines Riva-
die Macht. Am 17. Juli 1918 wurde der gefangene Zar len Nikolai Nikolajewitsch verkündete Kirill Wladimi-
Nikolai und dessen Angehörige aus der Familie der rowitsch im Mai 1929, die Zeit sei reif für eine »neue
Romanows in Jekaterinburg ermordet. russische Volksmonarchie«. Er rief die Landsleute auf,
Die Kommunisten hatten Russlands alten Eliten »sich um die kaiserliche Standarte zu scharen«.
einen Vernichtungskampf angesagt – und dazu gehörte Abgeschreckt von solchen Auftritten der Exilanten,
an vorderer Stelle auch der Adel. Adelige sammelten entschlossen sich manche Adelige zu Rückkehr nach
sich daher im beginnenden Bürgerkrieg ab Dezember Russland. Der bekannteste von ihnen war Graf Alexej
1917 zur Gegenwehr in einer Freiwilligenarmee, ge- Tolstoi. Der Schriftsteller söhnte sich mit den Revolu-
nannt »Die Weißen«. Sie kämpften gegen die im Feb- tionären aus. Er betrachtete sie als Fortsetzer des im-
ruar 1918 formierte Rote Armee. perialen Erbes. Die Genossen dankten es dem Adels-
Schon vor der endgültigen Niederlage der Weißen mann mit einer Datsche im noblen Moskauer Vorort
gegen die Rote Armee flohen mehrere Millionen Rus- Barwicha samt Automobil und Chauffeur. Der »Ge-
sen in den Westen, darunter zahlreiche Adelige. nosse Graf«, wie er auch genannt wurde, erhielt 1941
Deutschland, vor allem Berlin, wurde in den Zwanzi- den »Stalin-Preis«, für seinen geschichtsbewussten
gerjahren zum Ankerplatz des russischen Adels. Roman »Peter der Große«. Uwe Klußmann

102 WEI MARER REPUBLI K


Schnelles Wie viele adelige Familien
Wissen
gab es?
Um 1815 gab es auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reichs
36 regierende Fürstenhäuser, etwa 70 standesherrliche Häuser (hoch-
adelige Familien, die mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs
zwischen 1803 und 1805 ihre Landeshoheit verloren), circa 350 ehe-
malige Reichsritterfamilien und etwa 28 000 Familien des landsässigen
wurden nun nicht länger staatlich niederen Adels – insgesamt umfasste der Adel etwa 140 000 Personen,
gestützt, Modernisierungsdefizite 0,4 Prozent davon waren hochadelig. An der Gesamtbevölkerung hatte
führten zusammen mit der allgemei- der Adel einen Anteil von 0,5 Prozent. Je nach Land waren die Zahlen
nen wirtschaftlichen Entwicklung zu sehr unterschiedlich: Im ostelbischen Preußen zählte man etwa 20 000,
einer schweren Krise, die viele ade- in Baden und Württemberg nur 150 beziehungsweise 200 bis 250 Adels-
lige Güter nicht überlebten. All das familien. 1925 lebten im selben Gebiet nur noch maximal 70 000 adeli-
war, so sah man es zumindest im ge Personen. Nun war nur noch etwa 0,1 Prozent der Bevölkerung adelig.
Adel, die Folge einer politischen Ge-
samtsituation, die von adelsfeindli-
chen Kräften beherrscht wurde.
Die Adeligen reagierten auf unterschiedliche in einer Reihe antidemokratischer Organisationen.
Weise auf diese Entwicklung. Nicht wenige zogen Dazu gehörten Parteien, allen voran die nationa-
sich auf ihre Landgüter zurück, was freilich kei- listische Deutschnationale Volkspartei (DNVP),
neswegs Schwäche oder Selbstaufgabe bedeutete. aber auch Adelsorganisationen wie insbesondere
Im Gegenteil: Oft steckte eine Strategie dahinter, die Deutsche Adelsgenossenschaft (DAG), die zah-
die darauf gerichtet war, vom ländlichen Einfluss- lenmäßig wichtigste Standesvertretung der Zwi-
bereich aus, von dort, wo man die Dinge noch un- schenkriegszeit.
ter Kontrolle zu haben glaubte, früher oder später Die DAG war 1874 gegründet worden und hatte
die demokratisch-republikanische Ordnung zu schon vor dem Krieg einen völkisch-nationalisti-
überwinden. Man sammelte seine Kräfte und war- schen Kurs eingeschlagen, sie bewegte sich im
tete auf eine günstige Gelegenheit, den verhassten Dunstkreis des Alldeutschen Verbandes und der
Staat von Weimar zu beseitigen. radikalnationalistischen Deutschen Vaterlandspar-
tei. In der DAG organisierte sich vor allem der pro-
Während manche Adelige noch eine Rückkehr in testantische Adel Nordostdeutschlands, der sich
die »gute alte Zeit« vor 1914 anstrebten, ging es einer politisch angesichts der Absturzerfahrung von
immer größer werdenden Zahl um eine autoritäre 1918/19 weiter radikalisierte. 17 000 Mitglieder ge-
Überwindung der Demokratie, einen »Führerstaat«, hörten ihr 1925 an.
der nicht zwingend monarchisch ausgeformt sein Immer stärker wurde nach dem Ersten Welt-
musste. »Uns kann nur ein Diktator noch helfen, der krieg die rassistische und vor allem antisemitische
mit eisernem Besen zwischen dieses ganze interna- Aufladung des völkischen Nationalismus der DAG.
tionale Schmarotzer-Gesindel fährt«, vertraute An- Das ermöglichte Brückenschläge zur aufsteigen-
dreas Graf von Bernstorff 1928 seinem Tagebuch an. den NSDAP.
»Hätten wir doch, wie die Italiener, einen Mussolini!« Auch für Andreas Graf von Bernstorff erklärten
Jenseits der ländlichen Güter sammelte der re- »jüdische« Aktivitäten die Kriegsniederlage, die
publikfeindliche Adel seine Kräfte allerdings auch Revolution von 1918 – Stichwort: »Dolchstoß« –,
die permanenten Unruhen im Reich, die desolate
ökonomische Situation, die Dauerkrise der Land-
wirtschaft und, dies alles überwölbend, den von
Schnelles Wie reich waren adelige ihm wahrgenommenen allgemeinen gesellschaft-
Wissen lichen und kulturellen Verfall.
Familien im 19. Jahrhundert? Auch sich selbst macht er zum Opfer angebli-
Der Adel blieb trotz des Aufstiegs bürgerlicher Industriellenfamilien cher jüdischer Machenschaften: »Der jüdische Mo-
im 19. Jahrhundert an der Spitze der Vermögenspyramide. Unter den loch arbeitet unentwegt an unserem Untergang.
elf reichsten Personen Preußens fanden sich um 1914 sechs Adelige. Das ist nicht der einzelne Jude, sondern das inter-
Das Einkommen der Grafen von Westphalen lag 1825 bei etwa 70 000 nationale Judentum mit den Riesen-Geldmitteln,
Taler jährlich, 1914 betrugen die versteuerten Einnahmen 150 000 Taler die Juden als Rasse.« Die Adelsgenossenschaft füg-
(450 000 Mark). Die schlesischen und sächsischen Güter des Fürsten te ihrer Satzung bereits 1920 einen »Arierparagra-
zu Hohenlohe-Oehringen brachten ihm 1828/29 103 Taler jährlich ein, fen« hinzu. Wer jüdische Vorfahren hatte, konnte
bis 1914 stiegen seine Einnahmen auf 2,3 Millionen Taler (7 Millionen nicht Mitglied der DAG sein. Zur selben Zeit ent-
Mark). Zum Vergleich: Der durchschnittliche Jahresverdienst eines Arbei- stand auch das »Eiserne Buch Deutschen Adels
ters betrug im Jahr 1914 lediglich 1083 Mark. Deutscher Art« (EDDA), eine rassistisch-antisemi-

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 103


Das ist auch deswegen wichtig, weil es die At-
traktivität nationalsozialistischen Gedankenguts
für den Adel schon vor 1933 erklären hilft – jenseits
aller Karrierechancen, die die nationalsozialisti-
sche Kriegs- und Aufrüstungspolitik nach 1933 ge-
rade auch für den ostelbischen Adel bot. Und mit
dem Antisemitismus, der integraler Bestandteil
solcher Vorstellungen war, ließen sich die Ideen
eines neuen Führertums einfach verbinden.

Die Annäherung an den Nationalsozialismus fiel


vielen Adeligen, gerade in Preußen, umso leichter,
weil führende Exponenten des ehemaligen Kaiser-
hauses der Hohenzollern den Nationalsozialismus
offen unterstützten.
Zu ihnen gehörte der ehemaligen Kronprinz
Wilhelm, der älteste Sohn Wilhelms II., der seit
Mitte der Zwanzigerjahre dazu beitrug, die Natio-
nalsozialisten salonfähig zu machen, indem er bei-
spielsweise 1926 Adolf Hitler, gerade aus der
Landsberger Haft entlassen, im Schloss Cecilien-
hof in Potsdam empfing.
»Es ist furchtbar, was die Leute Bei der Reichspräsidentenwahl 1932 veröffent-
dieses Jahr unter der Sonnenglut lichte der Kronprinz einen Wahlaufruf zugunsten
zu leiden haben – Hitlers und leistete dadurch wie andere Angehö-
rige des Hochadels und bis 1918 regierender Dy-
morgen fahre ich ins Seebad.«
nastien, unter ihnen beispielsweise der ehemalige
Herzog Carl-Eduard von Sachsen-Coburg-Gotha,
dem Nationalsozialismus erheblichen Vorschub.
Die Hoffnungen, die viele Adelige auf den Na-
tische Adelsmatrikel nach den Kriterien »strenger tionalsozialismus setzten, erfüllten sich nach 1933
Rassereinheit«. individuell in der Stabilisierung von Lebens- und
Die Selbststilisierung zu Opfern und der aus Karriereverläufen, nicht zuletzt im Militär. Aber
ihr resultierende Antirepublikanismus sind für die zur Rekonsolidierung des Adels als gesellschaftli-
politische Radikalisierung des deutschen Adels che Gruppe oder gar als Herrschaftsstand trug der
von besonderer Bedeutung. Sich als Leidtragende Nationalsozialismus nicht bei.
»linker« oder »jüdischer« Machenschaften zu se- Der unbedingte Machtwille der Nationalsozia-
hen, verband sich leicht mit der Rede vom »Blut- listen und ihre Ideologie der Volksgemeinschaft ver-
opfer« des Adels auf den Schlachtfeldern des Welt- trugen sich nicht mit dem politischen, gesellschaft-
kriegs, das sich als umsonst erwiesen hätte. Und hier lichen und kulturellen Führungs- und Distinktions-
ergaben sich bald auch Anknüpfungsmöglichkei- anspruch des Adels. Dennoch gehört der Kampf
ten an die Opfermythen und den Opfer- und Gefal- des Adels gegen Niedergang und Absturz zu den
lenenkult des aufsteigenden Nationalsozialismus. Ursachen des Nationalsozialismus und zu den Be-
Gerade der preußisch-deutsche Militäradel, dingungen seiner Machtübernahme 1933.
durch die Entmilitarisierung nach 1918 vieltausend-
fach in den Grundfesten seiner Existenz erschüt- Eckart Conze, 56, ist Professor für Neuere und Neueste Ge-
tert, musste sich von Vorstellungen eines »solda- schichte an der Universität Marburg. Er beschreibt die Familie
tisch-kriegerischen Führertums« angezogen fühlen, Bernstorff ausführlich in seinem Buch »Von deutschem Adel.
Die Grafen von Bernstorff im 20. Jahrhundert«; Deutsche
wie sie überall in völkisch-nationalen Zirkeln, vor
Verlags Anstalt, antiquarisch erhältlich. Außerdem verfasste
allem aber im aufsteigenden Nationalsozialismus er ein »Kleines Lexikon des Adels. Titel, Throne, Traditionen«;
vertreten wurden. C. H. Beck; 260 Seiten; 14,95 Euro.

104 WEI MARER REPUBLI K


DI E ROMANOWS
Mehr als 300 Jahre stellten das Haus Romanow und seine
Nebenlinie Romanow-Holstein-Gottorp
die Zaren und Zarinnen Russlands. Dann kam die Revolution.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Katharina II., genannt die Große, 1729 bis Elisabeth I., 1709 bis 1762. Ließ ihren mit
1553 1796. Die gebildete Kaiserin galt als »Philoso-
phin auf dem Thron« (Denis Diderot). Ord-
zwei Monaten zum Zar gekrönten Großneffen
Iwan VI. nach nur einem »Regierungsjahr«
nete per Verwaltungsreform das Reich neu stürzen. Gab Klein Iwan in Lagerhaft, wo er
und schuf eine Struktur, in der auch Bildungs- 23 Jahre lang überleben durfte. Nach ihrem
S TA M M S I T Z wesen, Kranken- und Armenversorgung er- Ableben wurde er wohl präventiv ermordet,
weitert wurden. An die Macht putschte sie um Erbfolgestreit zu vermeiden. Offiziell kam
Moskau
sich allerdings gegen ihren Ehemann Peter er bei einem Fluchtversuch ums Leben.
III., den sie wohl auch ermorden ließ. [1]
Nikolaus I., Zar von 1825 bis 1855: stützte
S TA M M L A N D E Alexander I., 1777 bis 1825, fiel durch sein Regime auf eine gefürchtete Geheimpoli-
keinerlei Säuberungen, Massendeportationen zei. Aufgeklärte Ideen wie die Beendigung
Großfürstentum
oder Verwandtenmorde auf. Stattdessen der Leibeigenschaft lehnte er ab, stattdessen
Moskau
bemühte sich der aufgeklärte Geist um Refor- erließ er Gesetze gegen Juden und trug damit
men bei der Leibeigenschaft und um Frieden zu ersten Pogromen in Russland bei. [4]
in Europa. Trotzdem vergrößerte er das
HÖCHSTE Reich. Am Ende nahm er – zunehmend G R Ö S S T E R S K A N DA L
ÄMTER verbittert und paranoid – jedoch etliche
[GESCH ICHTE]
seiner Reformen wieder zurück. [2] Zarin Alexandra vertraute dem Wunder-
heiler Rasputin, 1869 bis 1916, bei der
Zaren und Kaiser
BEDEUTENDSTE LEISTUNG Behandlung ihres Sohnes Alexej, der Bluter
Russlands
war. Weil das geheim war, gab es Gerüchte:
Zar Peter I., 1672 bis 1725, genannt der Hatten Zarin und Heiler ein Verhältnis? Am
[ G E G E N WA R T ]
Große, ragte körperlich (mehr als zwei Meter) Ende wandte sich Zar Nikolaus II. von Ras-
wie politisch heraus: Er verschaffte Russland putin ab, der von Adeligen ermordet wurde –
keine
Zugänge zur Ostsee und zum Asowschem wohl auch, weil er sich gegen die Kriegs-
Meer und machte es so zur maritimen Groß- beteiligung Russlands ausgesprochen hatte.
macht. Als Erster nahm er für sich den Titel Sauferei und sexuelle Exzesse hatte man ihm
BERÜH MTE eines russischen Kaisers in Anspruch. [3] verziehen, aber das ging wohl zu weit.
RESIDENZEN

Der Kreml in
Moskau
und der
Winterpalast
in Sankt
Petersburg

[1] [2] [3] [4] [5]

Bekannte Köpfe heute: Olga Prinzessin Romanow, Kopf der Romanov Family Association
(RFA), die 28 der überlebenden Nachfahren des letzten Zaren vertritt. Außerdem Maria
Wladimirowna: Bekannt ist sie, weil sie selbst sich zwar als Großherzogin und Thronfolgerin sieht,
die RFA das aber kategorisch bestreitet. Das ist idealer Stoff für die Regenbogenpresse. [5]

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 105


Im Takt
Hohenzollern-Prinz
August Wilhelm,
hier 1934 in Berlin
(mit Schnauzbart),
war SA-Gruppen-
führer.

Nützliche Handlanger
106 NATIONALSOZIALISMUS
Von Uwe Klußmann Große Teile des Adels kollaborierten mit den
Nationalsozialisten. Adelige organisierten
als hohe SS-Führer sogar Massenmorde an Juden.

W
as sich am 21. März 1933 vor der
Potsdamer Garnisonkirche abspiel-
te, machte auf den früheren Kron-
prinzen Wilhelm von Preußen tie-
fen Eindruck. Der »Führer« und Reichskanzler
Adolf Hitler hatte sich dort verneigt vor dem
»ehrwürdigen Herrn Reichspräsidenten« Paul
von Hindenburg. Da habe eine »Hochstimmung«
geherrscht, schrieb der Kronprinz dem rechts-
gerichteten britischen Verleger Lord Rothermere
am 20. Juni 1934. Hitler, so der Hohenzoller, habe
die Hoffnung geweckt auf eine »Wiedereinsetzung
der Monarchie«.
Schon im Juli 1933 hatte der Kronprinz in Lord
Rothermeres Zeitung »Sunday Dispatch« eine
Hymne auf Hitler publiziert und ihn als Retter vor
der »roten Gefahr« gepriesen. Nun legte er in sei-
nem Brief an den Verleger nach: Die »ersten Schrit-
te der neuen Regierung« seien »höchst zufrieden-
stellend« gewesen. Die Hitler-Regierung habe
»Entschlossenheit« erkennen lassen. Als erfreulich
kam aus seiner Sicht hinzu: »Die Wiederaufrüs-
tung wurde als Notwendigkeit erkannt.«
Wilhelm von Preußen stand mit seiner Meinung
nicht allein. Etliche Adelsfamilien setzten wie er
hohe Erwartungen in Hitler. Sie wünschten sich
einen starken Führer, der das Land aus den – wie
sie es sahen – demokratischen Verirrungen der
Weimarer Republik herausführen sollte.
Die Nazis allerdings dachten nicht daran, die
Monarchie zu restaurieren. Sie wollten mit ihren
Parteigenossen eine neue Machtelite schaffen. Zu-
gleich versuchte Hitler, Adelige in sein System
einzubinden, um keine Opposition entstehen zu
lassen und vor allem ihre verwandtschaftlichen
Auslandsbeziehungen zu nutzen.
Die adeligen Hoffnungen auf Hitler hätten auf
einem »doppelten Missverständnis« beruht, erläu-
tert der Historiker Stephan Malinowski, der die
Beziehungen des Adels zu den Nationalsozialisten
detailliert erforscht hat. Weder wollten die Nazis
den Adel in seine alten Rechte einsetzen, noch teil-
ten sie dessen Traditionsverständnis. Aus ihrer
Sicht war die adelige Oberschicht verantwortlich
für »jene Kluft zwischen den breiten Massen des
Volkes und der Führungsschicht, an der im Jahre
1918 das kaiserliche Deutschland zerschellt war«,

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 107


wie es der führende national- umfasste, hatte sich bereits
sozialistische Historiker Wal- 1920 einen »Arierparagra-
ter Frank 1941 formulierte. fen« gegeben. Darin hieß es,
Adelige, die das nicht wer »zu mehr als einem Vier-
durchschauten, machten sich tel anderer als arischer Ras-
zum nützlichen Handlanger se entstammt«, könne nicht
des Regimes. So erging es Mitglied werden. Für diese
etwa dem Bruder des Kron- Regelung hatten sich vor
prinzen, Prinz August Wil- allem pommersche Adelige
helm, genannt Auwi, dem engagiert, die moniert hatten,
vierten Sohn des letzten Kai- der Adel sei »bereits stark
sers. Er war der NSDAP be- verjudet«. Antisemitische
reits im April 1930 beigetre- Ausfälle »gegen Juden und
ten und stieg in deren Sturm- Judengenossen« gehörten in
abteilung (SA) 1931 zum der DAG schon in den Jah-
Standartenführer auf. Die ren vor 1933 zum Standard.
Nazis ließen ihn 1932 bei Rassenideologie und Anti-
Wahlkundgebungen gemein- bolschewismus bildeten die
sam mit Hitler auftreten, um alte Kaisertreue Schnittmenge zwischen traditionell deutschnatio-
anzulocken. Der Trick funktionierte. nalen Adeligen und Nazis. Dennoch schloss sich
Doch der Hohenzollernsprössling war im NS- der NSDAP bis Anfang der Dreißigerjahre nur
Staat kaum mehr als ein Statist. Das zeigen auch eine kleine Minderheit von Adeligen an. Die aber
die Tagebücher von NS-Propagandaminister Jo- machten bald Karriere. Zu ihnen gehörten Erhard
seph Goebbels. Der schrieb 1936, der Kaisersohn Graf von Wedel, der unter Hitler zum bevollmäch-
sei »ein armer Teufel«. Fünf Jahre später höhnte tigten Minister im Auswärtigen Amt aufstieg, und
Schulterschluss
Goebbels, Auwi sei jemand, der »nicht vor Weis- Hitler, hier im März Wolf-Heinrich von Helldorf. Durch Wettschulden
heit überläuft«. Und er werde »in der Partei nicht 1933 in Potsdam und einen verschwenderischen Lebensstil als
mehr richtig angesehen«. mit Kronprinz Frauenheld war Helldorf, Spross sächsischen Ur-
Das unterschied Auwi von seinem Vetter, Fried- Wilhelm, suchte adels, 1931 bankrott. Und stürzte sich nun ganz in
zu Beginn seines
rich Christian zu Schaumburg Lippe, NSDAP-Mit- Regimes die Nähe die Politik. Nach der »Machtübernahme« avan-
glied seit 1929. Der eloquente Prinz distanzierte zu den alten Eliten. cierte der Abenteurer zum Polizeipräsidenten von
sich vom adeligen Milieu , avancierte zum »Reichs- Berlin. Goebbels schätzte den rabiaten Antisemi-
redner« der Partei und im April 1933 zum Ad- Glamour ten, der ihm bereits im Juni 1938, ein halbes Jahr
Sie wurde durch
jutanten von Propagandaminister Goebbels. Der eine Heirat zur vor dem Novemberpogrom, die »Heraustreibung
ließ den Prinzen im Jahr darauf eine Kampfschrift Prinzessin: Stepha- der Juden aus Berlin« versprach.
herausgeben, die scharf gegen den alten Adel pole- nie von Hohenlohe Mit dem Aufstieg der NSDAP zur Massenpartei
misierte. Darin hieß es, der Adel mit seiner »mor- (hier 1932) nannte ab 1930 wuchs in Adelskreisen das Interesse an Hit-
Adolf Hitler schon
schen Kastengesinnung« habe »sich zu Tode bla- mal einen »char- ler. Und auch Hitler bemühte sich nun um Unter-
miert«, insgesamt »völlig versagt« und »als Stand manten Hausherrn« stützung in aristokratischen Kreisen. Erzkonserva-
keine Existenzberechtigung mehr«. (rechte Seite). tive Rittergutsbesitzer hatten jahrelang gefürchtet,
Wenig Schmeichelhaftes über die Blaublütigen die Nationalsozialisten wollten ihnen ihre Güter
hatte Adolf Hitler bereits 1924/25 in »Mein Kampf« nehmen. Anlass dafür war Punkt 17 des »unabän-
geschrieben. Darin attestierte er dem Adel »Bluts- derlichen« NSDAP-Programms. Der forderte eine
vergiftung« und »völlige Degeneration«: In Adels- »unseren nationalen Bedürfnissen angepasste Bo-
kreisen gelte »jede Warenhausjüdin als geeignet, denreform« samt einem »Gesetz zur unentgeltlichen
die Nachkommenschaft seiner Durchlaucht zu Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke«.
ergänzen«. In einer Runde mit Gutsherren beteuerte Adolf
Doch derartige Hetze rief im Adel keineswegs Hitler im Januar 1931, er habe »nie und nimmer
allgemeine Empörung hervor. Die Deutsche Adels- auf eine Zerschlagung oder Enteignung größerer
genossenschaft (DAG), die in den Zwanzigern mit Güter« abgezielt. Mehr noch: Er hatte bereits
bis zu 17000 Mitgliedern rund 20 Prozent des Adels 1928 erklärt, der Passus zur unentgeltlichen Ent-

108 NATIONALSOZIALISMUS
SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 109
Der »reinblütige deutsche Adel«
wollte mit Hitler die »nationale
Revolution gewinnen«.

eignung richte sich »in erster Linie gegen die jüdi-


schen Grundstücksspekulationsgesellschaften«.
Die Beschwichtigungen wirkten: Der Historiker
Stephan Malinowski hat in seiner Studie »Vom Kö-
nig zum Führer« nachgewiesen, dass die NSDAP
von 1930 an »massive und ständig zunehmende
Unterstützung« aus dem ostelbischen Gutsbesitzer-
adel erhielt. Malinowski hat in der NSDAP min-
destens 3592 Adelige ausgemacht. 26,9 Prozent
von ihnen traten vor 1933 bei.
Einen Durchbruch für die Nazis brachte der
Adelstag in Münster im Juni 1932, die Vollver-
sammlung der DAG. Einstimmig wählten die An-
wesenden Adolf Fürst zu Bentheim-Tecklenburg-
Rheda zum Adelsmarschall, wie der Vorsitzende
der DAG betitelt wurde. Dazu trug auch das Credo
bei, mit dem er sich präsentierte: »Mit elementarer
Gewalt ringt die nordische Seele in unserem Volke
mit den artfremden Mächten, die westlerische,
undeutsche Demokratie uns beschert hat.«
Fürst Bentheim, Chef einer alten, standesherr-
lichen Familie, grüßte schon ab April 1932 schrift-
lich mit »Sieg Heil und Front Heil«. Im Frühjahr
1933 bemühte er sich um eine Audienz bei Hitler,
damit er »die Gefolgschaftstreue des deutschen
Adels zum Ausdruck bringen« könne. Hitler emp-
fing ihn am 22. Juni 1933 und gab sich konziliant:
Der Adel sei durch die »jetzt noch in ihm ruhende
Erbmasse« eine »Realität, die kein Staatsmann
übersehen könne«.
Die DAG bestand fortan weiter, blieb aber ein-
flusslos. Das Regime behandelte sie nicht als Ver-
handlungspartner. Nicht als Stand, sondern als In-
dividuen sollten Adelige dem NS-System dienen.
Dabei fanden die Nazis im protestantischen Klein-
adel weit mehr Resonanz als im Hochadel und im
katholischen Adel. Denn der wurde wie viele Ka-
tholiken von der Rassendoktrin abgestoßen.
Wachsende Bedeutung bekam der Adel von
1933 an für die Außenpolitik des Regimes. Eine fanterie gewesen. Dass ihn im November 1918 ein
Schlüsselrolle nahm dabei Carl Eduard Herzog Arbeiter- und Soldatenrat unter roten Fahnen für
von Sachsen-Coburg und Gotha ein. Der letzte re- abgesetzt erklärte, traf ihn schwer. Daher war er
gierende Herzog seines Sprengels war ein Enkel durch Hitler ansprechbar, den er 1922 kennen-
der britischen Königin Victoria, geboren 1884 in gelernt hatte. Dies beschreibt die Historikerin Ka-
der Grafschaft Surrey südwestlich von London. rina Urbach in ihrem 2016 erschienenen Buch »Hit-
Mit 15 Jahren war er nach Deutschland gekommen. lers heimliche Helfer«, in dem sie die Beziehungen
Ansehen im Hochadel gewann er, nachdem er im des Adels zum NS-Regime untersucht.
Schloss Glücksburg bei Flensburg mit 21 Jahren Für die NSDAP trat der Herzog von Coburg
eine Nichte der deutschen Kaiserin Auguste Vik- von 1929 an öffentlich auf, früh genug, um im
toria geheiratet hatte. Während des Ersten Welt- Juli 1933 zum SA-Gruppenführer ernannt zu
kriegs war er General der Kavallerie und der In- werden.

110 NATIONALSOZIALISMUS
Doch das Verhältnis der Nazis zu Edward war
zynisch, wie im Tagebuch von Propagandaminister
Goebbels dokumentiert ist: Der sei »kein ganzer
Mann, aber ein liebenswerter Charakter«. Edward
sei »tatsächlich etwas verrückt« und zudem »de-
kadent, taktlos und eben etwas übergeschnappt«.
Um effektiver auf die Briten einzuwirken, mach-
ten die Nationalsozialisten den Herzog von Sach-
sen-Coburg 1936 zum Präsidenten der Vereinigung
deutscher Frontkämpferverbände. Der Verband
pflegte Kontakte zur British Legion, die Coburgs
Vetter Edward führte.
Als die Wehrmacht im März 1936 das durch
den Versailler Vertrag entmilitarisierte Rheinland
besetzte, reiste der Herzog von Coburg zu seinem
britischen Cousin und warb um Verständnis für
diesen Schritt des »Führers«.
Parallel dazu versuchte Hitler, auch andere
Adelsverbindungen zu nutzen. Geschickt instru-
mentalisierten die Nationalsozialisten etwa die
enge Beziehung der durch Heirat zur Prinzessin
avancierten Stephanie von Hohenlohe zum briti-
schen Pressemagnaten Lord Rothermere.
Prinzessin Hohenlohe wird in zahlreichen Pu-
blikationen als »Hitlers Spionin« oder »Geheim-
agentin« bezeichnet. Doch sie hatte weder eine
geheimdienstliche Anbindung, noch hat sie je
eine nachrichtendienstliche Ausbildung erhalten.
Ihre Rolle war die einer inoffiziellen Mittlerin –
ihre Netzwerke nutzte sie für die Nazis.
Der Verleger Lord Rothermere erlag dem
Charme der gebürtigen Wienerin. Kronprinz Wil-
helm verschaffte ihr Ende 1933 eine Audienz bei
Hitler. Der gab ihr einen Brief an Lord Rothermere
mit. Darin dankte der Diktator dem Lord für die
»zielführende journalistische Unterstützung« sei-
ner Politik. Und er beteuerte, er betreibe eine
»wahre europäische Friedenspolitik«.
Die freundschaftliche Beziehung zwischen der
Der »Führer« träumte von einer deutsch-briti- Verbunden Prinzessin von Hohenlohe, die den »sehr verehr-
Im September 1933
schen Allianz gegen die Sowjetunion. Und so war ten Herrn Reichskanzler« schon mal einen »char-
marschierte Kron-
Coburg für ihn vor allem wegen dessen Verwandt- prinz Wilhelm (vorn) manten Hausherrn« nannte, und dem »Führer«
schaft in Großbritannien interessant. Edward VIII. bei einer Parade setzte sich bis 1938 fort. Hitler strich ihr bisweilen
war Coburgs Cousin zweiten Grades. Mit ihm neben SA-Führer über das Haar und kniff sie freundschaftlich in die
Ernst Röhm (mit
stand er in regem Kontakt. Edwards Mutter, Queen Wange, sein Adjutant Fritz Wiedemann begann
Hitlergruß) in
Mary, stammte aus dem deutschen Hause Teck. Hannover. ein Verhältnis mit der Prinzessin. Doch Ermittlun-
Hitlers Feindschaft gegenüber dem Kommunismus gen des SS-Gruppenführers Reinhard Heydrich
und gegenüber der Sowjetunion als geopolitischem brachten die Faszination der Nazigrößen zum Er-
Erzfeind Britanniens, aber auch seine Verbeugun- löschen. Nach Einschätzung der SS war die Prin-
gen vor dem »germanischen« Brudervolk machten zessin, geboren als Stephanie Richter in Wien, eine
Eindruck auf das Haus Windsor. »Halbjüdin«. Ihr Liebhaber Wiedemann, blamiert

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 111


durch eine Liaison mit einer Die Pläne der SS zum Ge-
»Nichtarierin«, wurde im Ja- nozid an den slawischen
nuar 1939 aus der Reichs- Völkern, zynisch »Ostkolo-
kanzlei entlassen. nisation« genannt, und das
In Hitlers Vision von SS-Konzept eines »Sippen-
einem britisch-deutschen ordens« zogen vor allem ost-
Bündnis hatten die Adels- elbische Adelige an. So ge-
verbindungen ohnehin nicht hörte zu den adeligen höhe-
weitergeführt. Das zeigte ren SS-Führern Ludolf von
sich bereits, als Edward VIII. Alvensleben, der zeitweilige
im Dezember 1936 abdank- Adjutant des Reichsführers
te. Offiziell spielte seine un- SS Heinrich Himmler. Er be-
standesgemäße Beziehung fahl Massenexekutionen auf
zu der geschiedenen Ameri- der von den Deutschen be-
kanerin Wallis Simpson die setzten Halbinsel Krim am
Hauptrolle. Doch er war Schwarzen Meer.
auch wegen seiner Haltung Mitverantwortlich für Er-
gegenüber Hitler unter schießungen mehrerer Tau-
Druck geraten. Im Septem- send polnischer Zivilisten im
ber 1939 zerstoben endgültig besetzten Polen war SS-Ober-
alle Hoffnungen des deut- gruppenführer Udo von
schen Diktators auf einen Woyrsch, der zum persön-
Deal mit den Briten, als das Empire dem Reich lichen Stab des Reichsführers SS gehörte. Schuldig
wegen des Überfalls auf Polen den Krieg er- am Tod Tausender Zivilisten, Juden und vermeint-
klärte. licher Partisanen in der besetzten Ostukraine war
Im Verhältnis zwischen Adel und Regime ka- Avancen auch SS-Gruppenführer Georg Graf von Basse-
men nun traditionelle Rollen zum Tragen. In der Getrieben vom witz-Behr.
Wehrmacht besetzten Adelige Schlüsselfunktio- Wunsch nach Während Graf von Bassewitz im Raum Dnje-
einem Arrangement
nen. Während der Weimarer Republik lag der An- mit den Briten,
propetrowsk morden ließ, zog SS-Obergruppen-
teil adeliger Offiziere konstant bei mehr als 20 bemühte sich Hitler führer Curt von Gottberg eine Blutspur durch das
Prozent. Dagegen stieg bei den Offiziersanwärtern (hier 1937 mit dem besetzte Weißrussland. Sein Vorgehen brachte der
der Anteil seit 1929 und erreichte 1932 den Höchst- Herzog von Windsor pommersche Adelige in einem Befehl im Dezem-
Edward VIII.) um
stand von 35,9 Prozent. Zu den Blaublütern in Kontakte nach
ber 1942 auf die Formel: »Als Feind anzusehen ist
Hitlers Truppe gehörten Erich von Manstein, Gerd London. jeder Bandit, Jude, Zigeuner.«
von Rundstedt und Walter von Reichenau, die In diesem Sinne handelte auch SS-Obergrup-
beim Überfall auf Polen und im Vernichtungskrieg Hilfsbereitschaft penführer Erich von dem Bach-Zelewski, den
Carl Eduard von
gegen die Sowjetunion führend beteiligt waren. Sachsen-Coburg,
Himmler zu seinem »Bevollmächtigten« für die
Wie sich dabei die Reste des adeligen Ethos ver- SA-Gruppenführer, »Bandenbekämpfung« ernannte – eine Chiffre
flüchtigten, dokumentiert ein Befehl (»Geheim«) war durch seine für Massenmorde im besetzten europäischen
des Generalfeldmarschalls von Reichenau vom internationalen Osten unter dem Vorwand der Partisanenbe-
Beziehungen für die
10. Oktober 1941. Darin hieß es, der Soldat »im Nazis nützlich
kämpfung.
Ostraum« sei »Träger einer unerbittlichen völki- (rechte Seite). Hitler sagte über von dem Bach-Zelewski, die-
schen Idee«. Daher müsse er für die »Notwendig- ser könne »für die schwierigsten Sachen« ein-
keit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen gesetzt werden. Daher erhielt der adelige SS-
Untermenschentum volles Verständnis haben«. Obergruppenführer im August 1944 den Befehl,
Während des Krieges waren Adelige, vor allem den Aufstand in Warschau gegen die deutschen
aus dem Kleinadel, dem NS-Regime auch führend Besatzer niederzuschlagen. SS-Truppen erschos-
in der SS zu Diensten. 1938 waren 8,4 Prozent sen dabei Tausende Zivilisten.
der SS-Standartenführer, 9,8 Prozent der Grup- Doch der Adel war politisch keine einheitliche
penführer und 18,7 Prozent der Obergruppenfüh- Formation. Das zeigte sich in der Endphase des
rer Adelige. NS-Regimes. Nach der Schlacht von Stalingrad

112 NATIONALSOZIALISMUS
1943 mehrten sich in ade- ter in Rom. Das brachte in
ligen Kreisen Zweifel Westdeutschland nach dem
am »Führer«. Nun wurde Krieg die Deutung hervor,
immer deutlicher, dass der Adel als Schicht habe
Deutschland dabei war, den Widerstand gegen die Nazis
Krieg zu verlieren. Der geleistet. Ein Mythos: Der
Rückzüge an der Ostfront Marburger Historiker Eckart
und aus Nordafrika verstärk- Conze weist in dem Band
ten in adeligen Offizierskrei- »Adel und Bürgertum in
sen die Angst vor einer Nie- Deutschland« darauf hin,
derlage. dass es »nur winzig kleine
Der Offizier Claus adelige Personengruppen«
Schenk Graf von Stauffen- gab, die sich von Anfang an
berg sprach davon, es drohe »kompromisslos gegen Hitler
die »Vernichtung der mate- stellten«. Vor allem waren
riellen und blutsmäßigen dies mit bürgerlichen Frauen
Substanz des deutschen Vol- verheiratete Adelige.
kes«. Auch deshalb ent- Nach dem gescheiterten
schloss sich Stauffenberg mit Anschlag des Grafen von
zahlreichen Mitverschwö- Stauffenberg riss für einen
rern innerhalb und außer- Moment ein Graben auf zwi-
halb der Wehrmacht am schen der NS-Elite und dem
20. Juli 1944 zu einem Atten- Adelsmilieu. Robert Ley,
tat auf Hitler und einem Putsch. Unter den Ver- NSDAP-Reichsleiter und Chef der »Deutschen Ar-
schwörern waren viele Adelige. Etwa 50 der beitsfront«, wetterte Ende Juli in einer Rede vor
150 wegen des 20. Juli Hingerichteten stammten Arbeitern eines Berliner Metallbetriebs, die auch
aus adeligen Familien. Hohenzollern waren nicht im Rundfunk gesendet wurde, brachial gegen die
darunter. Zum Widerstandskreis zählten Generäle alte Elite. Ley tönte gegen »Reaktionäre« und »die
wie Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben Adelsclique«. Diese sei »degeneriert bis in die Kno-
und Diplomaten wie Friedrich-Werner Graf von chen, blaublütig bis zu Idiotie, bestechlich bis zur
der Schulenburg, bis Juni 1941 Botschafter in Mos- Widerwärtigkeit«. Und er drohte: »Dieses Ge-
kau, oder Ulrich von Hassell, langjähriger Botschaf- schmeiß muss man ausrotten, mit Stumpf und Stiel
vernichten.« Propagandaminister Goebbels war
entsetzt. Mit »widerlichen Hass- und Wutausfällen
gegen alles, was adlig ist«, habe Ley »wie der Ele-
Schnelles Warum spricht man vom fant im Porzellanladen gewütet«, notierte der Pro-
Wissen
»Haus Hohenzollern«? pagandist in seinem Tagebuch. Goebbels bestellte
den Polterer Ley ein und zwang ihn, sich für die
Ab etwa 1500 bürgerte sich der Begriff »Haus« als Bezeichnung für das ein, Ausfälle zu entschuldigen. Am 26. Juli 1944 schrieb
was wir heute »Dynastie« nennen: die viele Generationen umfassende Ab- Goebbels, es sei auch Hitlers Ansicht, »dass keine
stammungskette eines Adelsgeschlechts, bei der die Familienzugehörigkeit Adelshetze stattfinden soll« und »immer wieder
in der Regel über die männliche Linie vererbt wird. Auch die Herrschafts- betont werden muss, dass unser Heer vollkommen
rechte, die von dieser Verwandtschaftsgruppe ausgeübt wurden, waren mit- intakt ist«.
gemeint. Der Begriff entstand in einer Zeit der Selbstvergewisserung des Hitler und Goebbels wussten, dass sich ihr Re-
Adels, nun wurden in fast allen Rangstufen lange Abstammungslinien mit gime auf Tausende adelige Offiziere in Wehrmacht
zum Teil mythischen Wurzeln konstruiert, von den Mitgliedern eines Hauses und Waffen-SS verlassen konnte. So hatte es Adels-
erwartete man Kenntnisse über die »Hausgeschichte«. Mit der Zeit wurden marschall Fürst Bentheim im März 1933 verspro-
verschiedene Zweige der Abstammungslinie mit tatsächlichen »Häusern« in chen, als er gelobte, »der reinblütige deutsche
Verbindung gebracht, in der Realität Schlösser oder Burgen: So entstanden Adel« werde entweder mit Hitler »die nationale
im »Haus Askanien« der Fürsten von Anhalt beispielsweise 1609 die Linien Revolution gewinnen« oder sich »mit Ehren unter
Anhalt-Bernburg, Anhalt-Dessau, Anhalt-Köthen und Anhalt-Zerbst. ihren Trümmern begraben lassen«. 

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 113


W
er historische Bilder aus dem Adel
ansieht, entdeckt – neben Pferden
– erstaunlich viele Hunde. Schon
auf barocken Ölgemälden sitzen sie
dekorativ neben ihren aristokratischen Besitzern.
Vielleicht weil man an ihnen das Befehlen so gut
üben kann? Noch als Königin Elizabeth II. von
England 2012 zur Eröffnung der Olympischen
Spiele einen selbstironischen Imagefilm mit »James
Bond« (Daniel Craig) drehte, spielte ein Hund mit:
ein kurzbeiniger Welsh Corgi, lange so etwas wie
das inoffizielle Wappentier der Queen.
1933 hatte Papa George den ersten dieser wali-
sischen Hütehunde mit nach Hause gebracht und
ihn seinen Töchtern Elizabeth und Margaret ge-
schenkt. Eine Liebe fürs Leben begann: 85 Jahre
lang streiften die Hunde durch den Buckingham
Palace. Die Rasse war ungewöhnlich, weitaus gän-
giger in Adels- und Königshäusern waren Jagd-
hunde. Der Besitz irischer Wolfshunde, eingesetzt
für die Jagd auf Großwild und Wölfe, war sogar
lange Zeit dem hohen Adel vorbehalten. Eine der-
artige Funktion brauchten die Vierbeiner an Eli-
zabeths Seite nicht mehr zu erfüllen, sie züchtete
sie, es waren ihre manchmal bissigen Begleiter.

Sitz!
Hunde gehören zur Die Angriffe auf das Personal sind verbrieft.
adeligen Selbst- Wehrhaft inszenierte sich auch der deutsche
Reichskanzler Otto von Bismarck, ein Doggennarr:
darstellung dazu. Die Hunde begleiteten ihn seit seiner Jugend in
Einige wurden Kniephof (heute Konarzewo), dem Familiengut in
europaweit berühmt. Pommern. 1874 bekam Bismarck die Dogge Sultan
als Leibwächter vom bayerischen Grafen von
Holnstein geschenkt. Aus diplomatischen Gründen
Von Anke Wellnitz wurde der Hund fortan Sultl gerufen – man wollte
das Osmanische Reich nicht verärgern.
Für einen außenpolitischen Krisenmoment sorgte
dann aber eine andere Dogge des Kanzlers: Tyras.
1878 verhandelte Bismarck mit dem russischen
Außenminister Fürst Alexander Michailowitsch
Gortschakow, es ging um eine neue Ordnung für
Südosteuropa und einen direkten Zugang Russ-
lands zum Mittelmeer. Ob die Unterhaltung zu
laut wurde oder einer der Verhandlungspartner
zu wild gestikulierte, ist nicht überliefert, doch
offenbar sah Tyras einen Grund, seinen Herrn zu
verteidigen: Das Tier fiel über den russischen Ge-
sandten her. Dieser hatte Glück und kam mit einem
Schock und einer zerfetzten Hose davon.
Tyras wurde durch den Vorfall so berühmt, dass
die Nachricht seines Todes später durch die ganze
Welt gekabelt wurde. In Deutschland wurden Bis-
marcks Wadenbeißer fortan »Reichshunde« ge-
Brav
nannt. Seine letzte Ruhe fand Tyras auf Bismarcks
Reichskanzler Landgut bei Köslin (heute Koszalin).
Otto von Bismarck Willow, der letzte Pembroke Welsh Corgi der
mit Dogge Tyras Queen, starb im April 2018. Er war in 14. Generation
1884 (o.), Prinzes-
sin Elizabeth mit
auf ihre erste Hündin Susan zurückzuführen. 2009
ihren Corgis Jane hatte die Monarchin erklärt, sie beende die Zucht.
und Dookie 1936. Sie wolle keine Corgis allein zurücklassen. 

114 SEITEN BLICK


D I E B E R NA D OT T E
Als Napoleon einen bürgerlichen Offizier zum Grafen machte,
entstand eines der jüngsten europäischen Adelshäuser.
Dessen Nachkommen regieren bis heute als Könige von Schweden.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Jean Baptiste Bernadotte, 1763 bis 1844, Carl XVI. Gustaf, geb. 1946, ist die Aus-
1806 brachte es zu Adel und als Karl XIV. Johann
zur Königswürde. Kämpfte sich als Offizier
nahme in einer ansonsten als fast skandalfrei
geltenden Familie. 2010 erschütterten Ent-
Napoleons derart erfolgreich durch sämtliche hüllungen über seine angeblichen Rotlicht-
Schlachten, dass Schweden ihn umwarb, als ausflüge und Affären die schwedische Monar-
S TA M M S I T Z dort die Thronfolger ausgingen. Fortan focht chie. Carl Gustaf tauchte ab und schob
er für Schweden und gegen Bonaparte. Der Thronfolgerin Victoria ins Scheinwerferlicht.
Stockholm
kinderlose schwedische König adoptierte ihn Deren Naturell und ihre entzückenden
1810, acht Jahre später war er selbst König – Kinder haben die Schweden seitdem wieder
so wie heute noch seine Nachkommen. [1] versöhnt. [3]
S TA M M L A N D E
Silvia von Schweden, geb. 1943. Die Die Herzensdamen, immer wieder: Die
Schweden
amtierende Königin begann bürgerlich in Bernadotte hatten eine so ausgeprägte Nei-
Heidelberg, lernte ihren Mann als Hostess gung zur »unstandesgemäßen« Heirat, dass
bei den Olympischen Spielen 1972 kennen. in einer Generation sämtliche Thronfolger
HÖCHSTE Sie gilt heute als royaler als ihr Mann Carl aus der Erbfolge fielen: Seit 1973 dürfen sie
ÄMTER Gustaf (siehe r.). [2] deshalb heiraten, wen sie wollen.
[GESCH ICHTE]

BEDEUTENDSTE LEISTUNG G R Ö S S T E R S K A N DA L
Könige von
Schweden und
Das Haus Bernadotte brachte eine beeindru- 1957 landete Prinz Carl Bernadotte im
Norwegen
ckende Zahl musisch oder wissenschaftlich »Huseby-Skandal« vor Gericht. Mit zwei
begabter Vertreter vor: Darunter ernst Komplizen soll er eine reiche Landbesitzerin
[ G E G E N WA R T ]
zu nehmende Schriftsteller, Maler, Kompo- ausgenommen haben. Carl legte ein volles
nisten, einen Filmemacher. Lennart Graf Geständnis ab. Er ging allerdings als Einziger
König von
Bernadotte machte sich gar als Garten- straffrei aus, weil man bei ihm keinerlei kri-
Schweden
bauer um den Bodensee-Tourismus verdient: minelle Energie entdeckte, sondern nur tota-
Von 1932 an gestaltete er das bis dahin le finanzielle Inkompetenz – ein peinlicher
öde Eiland Mainau zur Blumeninsel um. Freispruch. Carl wanderte danach aus. [4]
BERÜH MTE
RESIDENZEN
Das Stockholmer
Schloss ist
Amtssitz bis
heute. Daneben
nutzt die könig -
liche Familie
noch drei der [1] [2] [3] [4] [5]
ursprünglich
insgesamt zehn
Königsschlösser
Schwedens. Bekannte Köpfe heute: Victoria von Schweden, geb. 1977. Die Bernadotte erlauben seit 1980
die Thronfolge auch auf weiblicher Linie, und sie dürfen »unstandesgemäß« heiraten: Es sprach
also absolut nichts dagegen, dass Victoria ihren Fitnesstrainer heiratete. Und siehe, die Schweden
finden das sogar klasse, die Zustimmung für das Königshaus steigt seitdem wieder – geht doch! [5]

SPI EGEL GESCH ICHTE 5/2019 115


Hubertus Fürst und Alexander Graf Fugger-Babenhausen,
Vater und Sohn aus der berühmten adeligen Kaufmannsdynastie,
diskutieren über das Vermächtnis der Vorfahren,
Erfolg und gesellschaftliche Verantwortung des Adels.

Standhaft
Vater und Sohn
Fugger-Baben-
hausen vertreten
die 652-jährige Ge-
schichte der Fugger
in Augsburg. In der
Kirche St. Ulrich
und Afra hält ein
Engel neben dem
Wappen der Ilsung
von Tratzberg den
gevierteilten Fugger-
Wappenschild,
der zweimal die
Doppellilie in Gold
und Blau zeigt.

»Wir wurden
nie
verbogen«
116 GESPRÄCH
Sie halten sich aus der Klatschpresse und aus den sozialen Netzwerken heraus. Seit ihrem
Aufstieg vom Kaufmanns- in den Adelsstand vor fast 500 Jahren arbeiten die Augsburger
Fugger an ihrem Ruf als soziale Wohltäter – und an der Vermehrung ihres Vermögens.
Einem SPIEGEL-Gespräch stimmten sie zu, weil der Text grundsätzlich autorisiert wird.

SPIEGEL: Meine Herren, wie dürfen wir Sie merhin acht Jahre. Nach der Bundeswehr habe
ansprechen? ich in St. Gallen studiert und danach gleich hier
Fürst Fugger: Hier zu Hause werde ich mit im Betrieb gearbeitet, weil mich mein Vater we-
Durchlaucht und mein Sohn wird mit Erlaucht gen seiner schlechten Gesundheit gerufen hat.
angesprochen. Aber ansonsten sind wir Fürst
und Graf Fugger. Diese Anreden sind ja ohnehin SPIEGEL: In den Siebzigerjahren sind Sie
ziemlich unhandlich. nach Amerika gegangen, mit Ihrer Frau und
fünf Kindern. Was haben Sie von den Ameri-
SPIEGEL: Fürst Fugger, Sie sind in den Fünfzi- kanern gelernt?
gern aufgewachsen. Was mussten Fugger-Kinder Fürst Fugger: Einen sehr viel weiteren Hori-
abgesehen von der Schule zu Ihrer Zeit lernen? zont als zuvor. Und eine große Faszination für
Fürst Fugger: Gehorsam. die Möglichkeiten, die die dortige Gesellschaft –
ausgenommen in der jüngeren Zeit – jedem bie-
SPIEGEL: Klingt wenig lustig. tet. Die Kinder sind drüben in den Kindergarten,
Fürst Fugger: Ich hatte den Vorteil, dass ich in in die Schule und ins College gegangen.
Babenhausen auf dem Dorf aufgewachsen bin
und ein Leben wie Tom Sawyer und Huckleber- SPIEGEL: Graf Fugger, Sie sind 37 Jahre alt,
ry Finn führen konnte. Ich ging da zur Volksschu- an welche Erziehungsmaßnahmen können Sie
le und konnte mit meinen Spezis meistens unter sich erinnern?
dem Radar meines ehrgestrengen Vaters rum- Fürst Fugger: Maßnahmen?!
toben. Meine Seele ist immer noch da draußen. Graf Fugger: Ja, deswegen zögere ich. Das
Positive ist vielleicht, dass mir keine konkreten
SPIEGEL: Aber zu den väterlichen Erziehungs- Maßnahmen einfallen. Ich denke unheimlich
zielen gehörten sicher noch andere Dinge? gern an meine Kindheit zurück, mit meinen vier
Fürst Fugger: Boxen, Reiten, Schießen, Jagen Geschwistern. Wir hatten eine Mordsgaudi und
gehörten absolut zum Programm. Ich habe mich waren und sind sehr eng mit unseren Eltern. Wir
schon früh für die Jagd interessiert. Reiten war wurden nie in eine Richtung verbogen.
Vorbild
Anton Fugger (1493 für mich dagegen immer vorn gefährlich, hinten Fürst Fugger: Ich wollte ja auch nicht unbe-
bis 1560), »Fürst gefährlich, in der Mitte unbequem, wie Mark dingt da weitermachen, wo es bei mir und mei-
der Kaufleute«, Twain gesagt hat. nen Geschwistern mit der Strenge der voran-
knüpfte Verbindun-
gegangenen Generation aufgehört hatte.
gen in höchste
politische und kirch- SPIEGEL: Welche Rolle hat Ihre Mutter
liche Kreise – in gespielt? SPIEGEL: Fürst Fugger, unter Ihren Ahnen
einer Weise, bei der Fürst Fugger: Sie war immer wunderschön gibt es viele überaus erfolgreiche Männer …
man heute über
und vielleicht etwas unterkühlt, sie kam aus Fürst Fugger: … und Frauen!
Korruption diskutie-
ren würde. Seiner- einer schwedischen Familie. Die Erziehung wur-
zeit war das de delegiert an das Kindermädchen. SPIEGEL: Gibt es jemanden, den oder die Sie
übliches Geschäfts- sich zum Vorbild genommen haben?
gebaren.
SPIEGEL: Und das durfte auch strafen? Fürst Fugger: Mir gefällt der Anton Fugger
Fürst Fugger: Sie und mein Vater. Das war sehr gut. Er ist von seinem Onkel ausgesucht
dann manchmal schmerzhaft. In der Schule wur- worden, das Unternehmen zu übernehmen, weil
de ab und zu mit Bambusstöckchen gestraft. der meinte, Anton sei der Fähigste.
Aber das hat mir nicht geschadet. Heute wäre
das unmöglich. SPIEGEL: Der Onkel war der berühmte Jakob
Fugger, genannt der Reiche. Er trat 1473 mit
SPIEGEL: 1968 waren Sie 22. Wie und wo ha- 14 Jahren in das Familienunternehmen ein.
ben Sie die Zeit der Studentenunruhen erlebt? Fürst Fugger: Und Anton übernahm Ende
Fürst Fugger: Ich wurde mit zehneinhalb 1525, in einer Zeit, in der es politisch große Um-
Jahren in die Schweiz geschickt, ins Internat. Ich brüche gab: Die Reformation, die Türkenkriege,
fand’s prima, denn es gab viel Sport. Man war der Amerikahandel, die Spanier in Südamerika,
dadurch natürlich wirklich weg. Dort war ich im- das waren alles Kräfte, die auf die Firma wirkten.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 119


»Anton Fugger war ein
begnadeter Netzwerker.
Das war Teil seines Genies.«

SPIEGEL: Was zeichnet Anton aus? Millionen Gulden vermehrt hatte. Was hat
Fürst Fugger: Er hatte ein großes diplomati- Jakob besser gemacht als seine Mitbewerber?
sches Geschick. Nur ein Beispiel: Nachdem Kai- Fürst Fugger: Er hat früh im Ausland, in Ita-
ser Karl V. 1547 den Schmalkaldischen Krieg ge- lien, Erfahrungen gesammelt, er hat selbst trotz
gen die protestantischen Reichsstädte, darunter des Reichtums ziemlich bescheiden gelebt. Wahr-
Augsburg, gewonnen hatte, wehrte Anton ge- scheinlich hat ihm persönlich auch geholfen, dass
meinsam mit anderen Handelsherren Strafmaß- er letztlich zum alten Glauben gehalten hat.
nahmen gegen seine Heimatstadt ab. Graf Fugger: Sicher war er auch so erfolg-
Graf Fugger: Man muss sich das mal vorstel- reich, weil er schon früh überlegt hat, wie er den
len: Die Firma lebte vom Handel, vor allem mit Bürgern von seinem Reichtum etwas zurück-
Textilien, Silber und Kupfer. Aber Anton durch- geben kann. Er hat jungen Männern aus seinen
schaute früh die Entwicklung am Rohstoffmarkt. Herrschaften mit Stipendien das Studieren er-
Bemerkenswert, diese Weitsicht zu haben: Da möglicht. Und er hat Kunst, Musik, Architektur
ändert sich was politisch, im Risikoprofil des der italienischen Renaissance diesseits der Alpen
Genialer Kapitalist Unternehmens, da muss ich gegensteuern, mit imposant umgesetzt.
Eigentlich sollte er einer langfristigen Strategie in Grund und Bo- Fürst Fugger: Er war ein begnadeter Netz-
Geistlicher werden.
Doch sein absoluter
den, in Herrschaften investieren. Das ist beein- werker. Das war Teil seines Genies. Engste Kon-
Führungswille druckend. Gleichzeitig war er ein neugieriger, takte zu knüpfen zur Kirche, zu den regierenden
und ein untrüglicher kulturaffiner Humanist, ein intelligenter, be- Habsburgern und in den Adel hinein.
Riecher fürs Profi- lesener Mann.
table machten Jakob
Fugger (1495 bis
SPIEGEL: Die Fugger waren Kaufleute, die als
1525) zu Lebzeiten SPIEGEL: Anton Fugger konnte auf einem Kaiser- und Königsmacher galten. Wie war
zum angeblich Vermögen aufbauen, das sein Onkel zwischen das möglich?
reichsten Mann 1511 und 1525 von knapp 200 000 auf zwei Fürst Fugger: Nehmen Sie den Habsburger
der Welt.
Maximilian I., der war ein reisender Imperator
ohne Vermögen. Als er 1477 Maria von Burgund
heiraten wollte, konnte er sich keine angemesse-
ne Hochzeitsausstattung leisten. Die Fürsten wa-
ren angewiesen auf erfolgreiche Kaufleute. Es
passte, dass Jakob und Maximilian gleichaltrig
waren und Maximilian oft nach Augsburg kam.
Graf Fugger: Das macht diese Zeit für mich so
spannend. Da etabliert sich eine Unternehmer-
familie in Augsburg und gewinnt einen einfluss-
reichen Kunden, den König, den sie vorfinanzie-
ren muss. Durch das Kreditgeschäft entsteht eine
Abhängigkeit auf Gegenseitigkeit. Denn umge-
kehrt bot sich natürlich die Chance politischer
Einflussnahme für den Unternehmer.

SPIEGEL: Und die Gelegenheit, selbst sozial


aufzusteigen. Die erste Gegenleistung für die
Finanzierung der Hochzeit Maximilians I. war
das Familienwappen.
Fürst Fugger: Und nachdem Maximilian sich
selbst zum Kaiser proklamiert hatte, ernannte er
Jakob höchstpersönlich zum Reichsgrafen im
lehensrechtlichen Sinn. Das war nach 1507.

SPIEGEL: Warum brauchte so ein reicher und


einflussreicher Mann einen Adelstitel?

120 GESPRÄCH
DIE FUGGEREI
»Würdige Arme«, so erklärte »der Reiche«, wie Ja-
kob Fugger genannt wurde, sollten in der Freien
Reichsstadt Augsburg eine menschenwürdige
Unterkunft finden. Er stiftete 1521 die älteste be-
stehende Sozialsiedlung der Welt, in der aktuell
88 Cent Miete im Jahr bezahlt werden, Gegen-
wert für einen Rheinischen Gulden. Die Mieter
sprechen bis heute täglich drei Gebete für die
katholische Stifterfamilie. Acht Gassen, 67 efeu-
berankte Reihenhäuser, ein Springbrunnen, ein
malerischer Garten, zwei Museen, eine kleine Kir-
che – wie eine bessere, friedvolle Miniaturwelt
umgibt die Fuggerei ihre 150 Bewohner, darunter
alleinerziehende Mütter, Paare und Studenten
ebenso wie ältere Männer und Frauen. Wer
würdig ist, entscheidet das fuggersche Familien-
seniorat, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind:
Bedürftig und katholisch müssen die Bewerber
sein (oben rechts eine nachgebaute Schlafstube).

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 121


Die Fugger
Profit und Seelenheil
Fürst Fugger: Jakob und Anton verlegten sich
zunehmend darauf, Landbesitz zu erwerben, der

S chon bei seiner Ankunft in Augsburg 1367


zahlte der Weber Hans Fucker, wie sich
der Stammvater des schwäbischen Fugger-
auch mit alten Herrschaftsrechten einherging.
Aber die alten Adelsfamilien und ihre Herrschaf-
ten hätten diese, nun ja, Neureichen gar nicht
Geschlechts aus der ländlichen Gemeinde Graben ernst genommen, wenn die plötzlich einen Herr-
noch schrieb, eine Steuer von 44 Pfennigen, was für schaftsanspruch anmelden. Da musste unsere Fa-
damalige Verhältnisse auf ein ordentliches Start- milie zeigen, dass sie dazugehörte, indem sie le-
kapital schließen lässt. Für den Aufstieg der Familie hensrechtlich eine höhere Stufe erhielt.
in der Reichsstadt am Lech sorgte vor allem auch
Hans’ zweite Frau Elisabeth, die nach seinem Tod SPIEGEL: 1530 wurde Anton Fugger dann in
innerhalb von 25 Jahren den Besitz verdoppelte. den erblichen Reichsgrafenstand erhoben.
1448 verfügten die Tuchhändler über das fünftgrößte Was veränderte sich dadurch für die Familie?
Vermögen der Stadt. Neben dem »gewaltigen handel Fürst Fugger: Antons Kinder heirateten sehr
mit Specereien, Seiden, vnd wullin gewand« be- dezidiert in Adelsfamilien hinein. So wurden sie
tätigten sich die Kaufleute zunehmend im Finanz- auch unabhängig von ihrer Person akzeptiert.
geschäft, verliehen große Summen an klamme Kir-
chenfürsten, Könige und Kaiser. Die Habsburger SPIEGEL: Welche Privilegien waren sonst
Monarchie hatte ihren Aufstieg nicht zuletzt dem noch mit dem Adelstitel verbunden?
unermüdlichen Sponsoring der Augsburger Handels- Fürst Fugger: Eine teilweise Befreiung von
firma zu verdanken. der Augsburger Gerichtsbarkeit, das Jagdrecht
Die Fugger verließen sich nicht darauf, ihre Dar- und das Recht, Münzen zu prägen. Diese Rechte
lehen irgendwann mit Zinsen zurückgezahlt zu be- waren aber nicht an die Person geknüpft, son-
kommen (oder nicht), sie kassierten im Gegenzug dern an den Besitz ihrer Herrschaften.
wertvolle Rechte am Abbau von Gold, Silber und
Kupfer und ließen sich mit Insignien und Privilegien SPIEGEL: Und der Kaiser nobilitierte die Fug-
der Oberschicht ausstatten: 1473 gab es von Kaiser ger, weil er ihr Geld für seinen nächsten Feld-
Friedrich III. ein Wappen mit Lilie, 1530 die Beför- zug wieder brauchte?
derung in den erblichen Reichsgrafenstand. Fürst Fugger: Es war vielmehr so, dass die
Jakob Fugger, ein Virtuose auf der Klaviatur des Nobilitierung auf den Pfandbesitz gründete, den
Frühkapitalismus, bemühte sich, seine Geschäftspro- er ihnen für den Kredit von 500 000 Gulden für
fite durch gute Werke wettzumachen: Der gottes- die Kaiserkrönung gab. Jakob hat sich auch poli-
fürchtige Fugger-Chef und seine Nachfolger inves- tisch zu Wort gemeldet. Als Maximilian I. auch
tierten massiv ins Soziale, Klerikale und Kulturelle, noch Papst werden wollte, hat er ihm das aus-
spendeten hier ein Altargemälde, dort eine Orgel geredet.
und erwarben im Gegenzug die eine oder andere Fa-
miliengruft – Kapitalanlagen fürs ewige Leben. SPIEGEL: Karl V. wäre ohne Jakob Fugger
Diesseits des Fegefeuers heirateten sich die ambi- nicht zum König und Kaiser geworden. Jakob
tionierten Unternehmer systematisch nach oben. Im zahlte den Kurfürsten, die den König wählen
20. Jahrhundert hatten sie es bis in den Hochadel sollten, 1519 über eine halbe Million Gulden,
geschafft. um die Wahl des Habsburgers sicherzustellen.
650 Jahre nach dem Start betreiben drei Familien- Heute würde man das Bestechung nennen.
linien – Fugger von Glött, Fugger Kirchberg und Fug- Fürst Fugger: Damals war das anders, die Kur-
ger-Babenhausen – neun Stiftungen, 3200 Hektar fürsten meldeten einen Anspruch auf finanzielle
Forstwirtschaft und diverse unternehmerische Akti- Unterstützung an. Sie brauchten Geld für ihren
vitäten. Ein Fugger-Musical, Konzerte und Vortrags- eigenen Einflussbereich, mussten ihre Infrastruk-
reihen sowie ein Historiker-Slam künden in Augs- tur und vieles andere finanzieren. Die schauten,
burg bis heute vom Ruhm der Stifter. von welchem Kandidaten sie ihr Geld bekamen.
Das war ein Austausch von Verbindlichkeiten …
Graf Fugger: … das waren im Grunde Finanz-
haushaltsverhandlungen …

122 GESPRÄCH
Mainz, aus dem Ablasshandel erworben hatte,
und finanzierten anfangs sogar die Schweizer-
garde des Papstes. Mit den Habsburgern
kämpften die Fugger gegen die Reformation.
Was überwog bei Jakob Fugger: der Wohltäter,
der Gottesfürchtige oder der Geschäftsmann?
Fürst Fugger: In seinem Innersten sicher die
Gottesfurcht. Mit seinen Talenten garantiert der
Kaufmann – aus der Kombination von beidem
erwuchs die Verantwortung fürs Gemeinwohl.

SPIEGEL: Wie wichtig ist das Verhältnis der


Fugger zur Kirche heute noch? Sollte eine
evangelische Braut konvertieren?
Fürst Fugger: Das war schon bei meiner Groß-
mutter nicht mehr der Fall. Die hat gemütlich
und sehr lieb als Protestantin in der Familie ge-
lebt, und ihr Mann war katholisch.
Graf Fugger: Wir haben einige Kapellen und
kleinere Kirchen im Patronatsrecht.

SPIEGEL: Was bedeutet das?


Graf Fugger: Diese Kirchen liegen in unseren
ehemaligen Herrschaftsgebieten. Wir haben ein
Durchlaucht Fürst Fugger: … in dem Fall war der Konkur- Mitspracherecht bei der Auswahl des Gemeinde-
Hubertus Fürst Fug- rent der französische König Franz I. Hätte er sich pfarrers durch die Diözese. Da gibt es immer
ger-Babenhausen,
73, empfing zum Ge-
durchgesetzt, dann würden wir hier heute alle wieder Berührungspunkte mit dem Bistum.
spräch mit seinem Französisch sprechen.
Sohn auf Schloss SPIEGEL: Im 15. Jahrhundert waren es mehr-
Wellenburg im SPIEGEL: Waren die Beziehungen der Fugger fach die Frauen und Witwen der Fugger, die
Augsburger Stadt-
teil Bergheim. Das
zu Königen und Kaisern rein geschäftlicher das Vermögen zusammenhielten und beträcht-
Schloss wird von Art, oder gab es auch private Kontakte? lich vermehrten. Wie erklären Sie sich, dass
der Familie Fugger Fürst Fugger: Sicher überwiegend geschäft- sowohl Jakob wie Anton Fugger die weibli-
bewohnt und ist lich. Aber wenn Sie zum Beispiel Jakobs Schrei- chen Familienmitglieder durch Verträge von
der Öffentlichkeit
normalerweise
ben von 1523 nehmen, in dem er den Kaiser da- der Teilhabe an den Handelsgesellschaften
nicht zugänglich. rauf hinweist, dass er jetzt langsam mal seine und vom Erbe der Besitztümer ausschlossen?
Schulden bezahlen solle, schließlich habe er ihm Fürst Fugger: Das war eine Frage der Exis-
seine Wahl zu verdanken, war das gesellschaft- tenz. 1548 hat unsere Familie das Fideicommiss
lich eigentlich eine Ungeheuerlichkeit. Es gab da eingeführt, von da an konnte immer nur einer er-
also wohl schon persönliche Beziehungen. Die ben. Das war eine kaufmännische Entscheidung:
Herrschaften haben ja auch hier in Augsburg Das Vermögen sollte nicht in Einzelteile zerfallen,
häufig bei uns über Monate gewohnt und uns die damit das Unternehmen weiterwachsen konnte.
Rechnungen für ihre Gelage geschickt.
SPIEGEL: Hat da nie eine Frau aufbegehrt?
SPIEGEL: Jakob und Anton Fugger waren got- Fürst Fugger: Das ist nicht schriftlich überliefert.
tesfürchtige Katholiken. Davon war auch ihr
Verhältnis zur römischen Kurie bestimmt. Die SPIEGEL: Sind die Frauen heute noch von der
Fugger investierten große Summen in eine Erbfolge ausgeschlossen?
Augsburger Kirche und legten die Erträge ge- Fürst Fugger: Natürlich hat jeder einen Pflicht-
winnbringend an, die Albrecht von Branden- teilsanspruch, aber wir achten darauf, dass das
burg, der Erzbischof von Magdeburg und Erbe in einer Hand bleibt.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 123


»Beim Heiraten im Adel unter
sich zu bleiben, das wäre kaum
mehr vermittelbar.«

SPIEGEL: Egal, ob Tochter oder Sohn? schnell, was für ein besonderer Ort das ist. Und
Graf Fugger: Ich habe noch keine Kinder, natürlich gibt es Dankbarkeit, an Orten wie
aber grundsätzlich: ja. Wir müssen in der Familie Schloss Wellenburg und Babenhausen aufwach-
gar nicht weit schauen, der Familienzweig Fug- sen zu dürfen, das wird Teil der Identität. Beson-
ger-Kirchberg wird schon seit der letzten Genera- ders wenn man die Aufgabe erhält, das Erreichte
tion von einer Frau geführt. zu erhalten und weiterzuentwickeln. Da sagt
man nicht: Ich guck mir das mal an, und wenn’s
Jungsouverän SPIEGEL: Was macht die Identität der Fugger nichts für mich ist, bin ich halt wieder weg. Das
Mit 27 folgte Alexan-
der Graf Fugger-
aus? ist eine generationsübergreifende Aufgabe.
Babenhausen 2009 Graf Fugger: Für mich ist es zuerst die Kern-
dem Ruf seines familie, in der ich aufgewachsen bin. Für uns alle SPIEGEL: Gibt es Familiengeschichten, die
Vaters, fortan den prägend ist sicher auch die Verantwortung für abends zum Einschlafen erzählt werden?
Augsburger Familien-
betrieb aus Forst-
die fuggerschen Stiftungen, um das positive, so- Graf Fugger: Das war in meiner Kindheit eher
wirtschaft und ziale Wirken dieser Einrichtung sicherzustellen. Astrid Lindgren.
Immobilien zu leiten.
Zuvor hatte der SPIEGEL: Gibt es so etwas wie Stolz auf das, SPIEGEL: Was machen die Fugger anders als
Volkswirt in London
bei einer amerika-
was die Dynastie erschaffen hat? andere adlige Familien?
nischen Bank ge- Graf Fugger: Sicher, die Fuggerei schon als Fürst Fugger: Anders kann ich nicht sagen.
arbeitet. Kind intensiv erlebt zu haben zeigt einem Wir treten nicht gern sehr bunt in der Gesell-
schaftspresse auf, das ist keine unserer Familien-
tugenden. Wir halten uns lieber im Hintergrund.

SPIEGEL: Wird noch darauf geachtet, beim


Heiraten unter sich, ebenbürtig zu bleiben?
Fürst Fugger: Vor zwei Generationen gab es
das schon noch. Heute wohl noch in Familien,
deren interner Kodex das vorschreibt. Wir ha-
ben so etwas nicht, das wäre auch heutzutage
kaum mehr vermittelbar.

SPIEGEL: Wie weit dringt unsere Gegenwart


mit ihren Debatten um Geschlechtervielfalt,
um alternative Lebens- und Liebesmodelle in
die traditionelle Welt des Adels ein?
Graf Fugger: Ich fühle mich nicht als jemand,
der in einem anderen Jahrhundert stecken geblie-
ben ist. Ich bin liberal aufgewachsen und Frei-
geist genug, offen für alle Diskussionen zu sein.

SPIEGEL: Die Fugger wurden im 16. Jahrhun-


dert geadelt. Macht es heute noch einen Unter-
schied, ob man zum Uradel gehört oder nicht?
Fürst Fugger: Das spielt heute keine große
Rolle mehr. Und wenn sich einige noch darauf
beziehen, sollte das mit der notwendigen Zu-
rückhaltung und einem zeitgemäßen Verantwor-
tungsgefühl geschehen.
Graf Fugger: Wenn wir den Hochadel auf der
Ebene der Queen von England nehmen, dann
ist das etwas anderes. So wie sie ihre Rolle als
Staatsoberhaupt gelebt hat und lebt, löst das

124 GESPRÄCH
DIE FUGGER-K APELLE
Rosa Marmor, verschnörkelte Stukkaturen und
ein Stilbruch in Blau und Gold: In der Augsburger
Kirche St. Anna haben die Fugger dafür gesorgt,
dass der Widerstand der Katholiken gegen die
Reformation bis heute sichtbar ist. Ihre ab 1509
für die Familie errichtete Grabkapelle, an deren
fürstlicher Ausstattung auch Albrecht Dürer mit-
gewirkt hat, gilt als erster sakraler Renaissance-
bau diesseits der Alpen. Die Kapelle blieb auch
nach 1517 katholisch; das barockisierende Lang-
haus der Kirche hingegen wurde protestantisch,
ein Symbol für die bikonfessionelle Reichsstadt
Augsburg. Die Fugger verewigten sich als Stifter
der Kapelle nicht nur durch das allgegenwärtige
Lilienwappen; auf dem linken Flügelbild der
großen Orgel sind der Stifter Jakob Fugger (mit
Goldhaube) und vermutlich sein Neffe Raymund
verewigt – geschickt unter die Zeitzeugen von
»Christi Himmelfahrt« gereiht.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 125


»Wir versuchen, das
Mäzenatentum in der heutigen
Zeit zu animieren.«

sicher bei jedem eine gewisse Ehrfurcht aus. Museum und den Parkanlagen zu erhalten, an-
Ansonsten verhalte ich mich nicht anders, weil dererseits eine nachhaltige Nutzung zu finden.
jemand diesen oder jenen Namen trägt. Gemeinsam mit der Gemeinde Babenhausen
wollen wir dort eine Kita, Kindergarten und
SPIEGEL: Wenn Sie dem Herzog von Bayern Hort unterbringen und unserer sozialen Verant-
begegnen, gibt es keine Hierarchie? wortung gerecht werden.
Fürst Fugger: Doch, die gibt es. Letztendlich
wäre er der König von Bayern, und wir haben SPIEGEL: Sie brauchen öffentliche Gelder,
uns dementsprechend zu benehmen. um das Schloss zu erhalten?
Graf Fugger: Es gibt einschlägige Fördermög-
SPIEGEL: Was bedeutet das dann? lichkeiten, zum Beispiel aus der Denkmalpflege,
Fürst Fugger: Zurückhaltung, gelebter Respekt. die so wiederum der Allgemeinheit zugute-
kommen.
SPIEGEL: Ein Fugger-Forum 2018 trug den
Titel »Muss denn Reichtum Sünde sein«. SPIEGEL: Im sogenannten Damenhof des
Wie kann man vermeiden, dass Reichtum Augsburger Fuggerpalais kann man in einer
zur Sünde wird? Sommerbar beim Sundowner auf die fresken-
Fürst Fugger: Indem man seiner Verantwor- geschmückten Arkaden des ersten Renais-
tung der eigenen Umgebung gegenüber sanceprunkbaus nördlich der Alpen schauen.
gerecht wird. Und die Verbundenheit zu Ein- Setzen Sie Grenzen für das, was mit dem
richtungen aufrecht hält, die es seit Generatio- Namen Fugger heute gemacht werden darf?
nen gibt. Graf Fugger: Wir müssen uns immer fragen,
welche Nutzungen ein Ort verträgt.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Fürst Fugger: Etwa zur Universität Augsburg, SPIEGEL: Und welche nicht?
wo wir die wissenschaftliche Arbeit unterstüt- Fürst Fugger: Alles, was irgendwie schreie-
zen, aber auch im Schützenverein Babenhausen, risch oder kurzlebig angelegt ist, oder Investi-
den Anton Fugger 1557 gegründet hat. tionen, die schnelle hohe Rendite versprechen,
aber nicht solide durchdacht sind. Die vertragen
SPIEGEL: Die kleine amerikanische Gemein- sich nicht mit dem, was wir zu bewahren haben.
de, in der Jeff Bezos und Bill Gates wohnen,
hat neulich vermeldet, dass ihr das Geld für SPIEGEL: Wozu verpflichtet Adel heute noch?
Feuerwehr, Polizei und Straßen ausgeht. Das Graf Fugger: Der Adelstitel wurde in der Ge-
kann in Augsburg oder Babenhausen nicht schichte immer für eine besondere Leistung an
passieren? Einzelne vergeben, deren Nachkommen idealer-
Graf Fugger: Stiftungsvermögen und Privat- weise die Verantwortung und Vorbildfunktion
vermögen sind bei uns strikt getrennt. Als Firma fortführen. Klar, wir sind im Laufe der Familien-
muss ich wie jedes Unternehmen gut wirtschaf- geschichte geadelt worden. Und wir versuchen,
ten, als Familienseniorat sind wir unter anderem das Erbe von Jakob und Anton Fugger in die Ge-
verantwortlich für neun Stiftungen, darunter die genwart und Zukunft zu tragen, unter anderem
Fuggerei. das Mäzenatentum in der heutigen Zeit zu ani-
mieren. Aber ich tue mich schwer damit, mich in
SPIEGEL: Und dann sind da noch eine ganze meinem Alter als Vorbild zu sehen. Ich habe hier
Reihe von Schlössern … eine Aufgabe im Kontext der Familie in 19. Ge-
Graf Fugger: …die im 21. Jahrhundert zu er- neration und darf mich nicht nur auf mich selbst
halten ist eine gewaltige Aufgabe. Ein Projekt, und meine Ziele konzentrieren.
an dem wir momentan arbeiten, ist die Sanie-
rung der ehemaligen Wirtschaftsgebäude von SPIEGEL: Fürst Fugger, Graf Fugger,
Schloss Babenhausen, dem Stammsitz meiner wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Familie. Auf der einen Seite geht es darum, die
kulturhistorisch wichtigen Gebäude mit dem Das Gespräch führte die Redakteurin Bettina Musall.

126 GESPRÄCH
D I E B R AGA N ZA
Fast 400 Jahre lang wurde Portugal von Königen aus dem
Haus Braganza regiert, unter ihnen erlebte das Land
eine Blütezeit. Viel geblieben ist vom alten Glanz nicht.

ERSTMALS L I C H T G E S TA LT E N S C H WA R Z E S C H A F E
N AC H W E I S B A R

Johann IV., 1604 bis 1656. Als 1640 ein Charlotte Joachime von Spanien, 1775
1442 Aufstand gegen die spanischen Habsburger
losbrach, stellte sich Johann an dessen Spitze.
bis 1830. Versuchte, ihren Ehemann ent-
mündigen zu lassen, und unterstützte Sohn
Die Revolte gelang, und die Portugiesen Michael I. im Putsch gegen den Vater und im
krönten ihn zum König. Ein Coup zur rech- Krieg gegen den Bruder. Machte posthum
S TA M M S I T Z ten Zeit: Halb Europa lag im Krieg, die Groß- Karriere in Film und TV – als Schurkenfigur. [3]
mächte waren abgelenkt. Portugal nutzte das,
Vila
um seine Kolonien in Afrika und Südamerika Michael I., 1802 bis 1866, putschte erfolg-
Viçosa
auszudehnen – mit der Herrschaft der los gegen seinen Vater. Nach dessen Tod bot
Braganza begann Portugals Blütezeit. [1] Thronfolger Peter IV. dem Bruder Versöh-
nung, die Regentschaft und die Hand seiner
S TA M M L A N D E Kronprinzessin Isabella, 1846 bis 1921, siebenjährigen Tochter. Doch Michael wollte
vertrat ihren Vater Peter II. dreimal auf Krieg: Tausende starben, Michael landete im
Herzogtum
dem Kaiserthron Brasiliens. Und das nicht Exil. Der Familienkrach dauerte an, von nun
Braganza
nur pro forma: 1888 unterzeichnete sie an aber ohne Opfer.
(Nordost -
das »Goldene Gesetz« zur Sklavenbefrei-
portugal)
ung. Das Establishment empörte sich, G R Ö S S T E R S K A N DA L
das Militär putschte, die Monarchie endete.
In Brasilien erinnert man sich heute mit Prinz Franz Joseph, 1879 bis 1919, wurde
HÖCHSTE einem Ehrennamen an Isabel: Man nennt in London wegen einer homosexuellen Or-
ÄMTER sie »die Erlöserin«. [2] gie mit Minderjährigen angeklagt. Der Prinz
[GESCH ICHTE]
erklärte, ein Junge (15) habe ihn zu einer
BEDEUTENDSTE LEISTUNG Prostituierten führen sollen, stattdessen sei
Könige von
er überrascht gewesen, junge Männer anzu-
Portugal, Kaiser
Durch politische Allianzen mit England ze- treffen. Am Ende wurde er freigesprochen.
von Brasilien
mentierten die Braganza die Unabhängigkeit Wenig überrascht war man in Österreich, wo
Portugals von Spanien – und brachten das der Prinz wegen seiner Vorliebe für Tüllklei-
[ G E G E N WA R T ]
kleine Land so auf den Weg, zu einer der der bekannt gewesen sein soll. Für ein Paten-
mächtigsten Nationen Europas zu werden. kind des Kaisers galt das als unpassend. [4]
Kongress-
abgeordneter
in Brasilien

BERÜH MTE
RESIDENZEN

Der Stammsitz
ist auch der [1] [2] [3] [4] [5]
schönste, der
Palast aus dem
16. Jahrhundert
Bekannte Köpfe heute: Luiz Philippe Prinz von Orléans-Braganza, geboren 1969. Banker, Inter-
in Vila Viçosa.
netunternehmer und aufstrebender sozialliberaler Politiker in Brasilien. Bisher bemerkenswerteste
Initiative: Forderung nach einer neuen Verfassung nach dem Vorbild von 1824 – möglicherweise
Monarchie inklusive. Das würde Luiz Philippe zum brasilianischen Kronprinzen machen. [5]

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 127


»Es gab nur eine
Die Politikerin Jutta Ditfurth hat sich von ihrer adeligen
Herkunft abgewandt – auch die Geschichte ihrer Familie spielte
dabei eine Rolle. Hier erklärt sie die Hintergründe.

128 ESSAY
Verwandtschaft
Die Braut auf dem

Ausnahme«
Foto, Hertha von
Raven-Beust, ist die
Großtante von Jutta
Ditfurth; sie heira-
tete 1909 Johannes
von Schierstädt.
Gertrud von Raven-
Beust (die zweite
Frau links der Braut)
ist Ditfurths
Urgroßmutter.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 129


Die Publizistin Jutta Ditfurth, 68, wurde als
Mitgründerin und Bundesvorsitzende der Grünen
bekannt, die sie 1991 verließ. Geboren wurde sie
als Jutta Gerta Armgard von Ditfurth, sie stammt
aus den Adelsgeschlechtern von Ditfurth und von
Raven. Aufgewachsen im Adelsmilieu, besuchte
sie als Jugendliche Adelsbälle und wurde »auf
Familienverbandstage geschleppt, wo mir Ver-
wandte von Preußen, vom Kaiser und von ver-
lorenen Gütern im Osten vorschwärmten«. Poli-
tisiert durch die 68er-Revolte, lehnte sie dann
jedoch die Mitgliedschaft im Familienverband ab
und legte das »von« in ihrem Namen ab.
Nach dem Mauerfall reiste Ditfurth zu den
ehemaligen Gütern ihrer Familie in Sachsen,
Thüringen und Pommern und spürte der Familien-
geschichte nach. In den der Forschung sonst meist
verschlossenen Hausarchiven der Familienver-
bände fand sie Briefe, Tagebücher, Dokumente
und Fotos aus der weiteren Verwandtschaft – ein
bis zwei Dutzend adelige Familien mit rund hun-
dert Personen –, weiteres Material entdeckte sie in die feine Gesellschaft einschlichen, dann wür- Protest
in Bundes-, Landes- und Militärarchiven. den bald statt Fasanen »Christenkinder ge- Jutta Ditfurth war
eine der ersten
Besonders schockierte sie der Antisemitismus, schlachtet«. Er wünschte sich chemische Expe-
Umweltaktivistinnen,
dem sie darin begegnete und den sie hier be- rimente, um zu beweisen, dass ein jüdischer hier 1981 bei einer
schreibt. Ausführlich behandelt sie das Thema in Mensch aus »Dreck« bestehe, und bedauerte, Aktion gegen die
ihrem Buch »Der Baron, die Juden und die Nazis. dass man Juden nicht die Haut abziehen könne. Startbahn West in
Frankfurt am Main.
Adliger Antisemitismus«. Hoffmann und Campe. Als Friedrich Wilhelm IV. König von Preußen
Heute sitzt sie für die
Geld für seine Hofhaltung brauchte, berief er Wähler*innenvereini-
1847 den Ersten Vereinigten Landtag Preußens gung »ÖkoLinX-ARL«

K
aum etwas markiert das Wesen des ein; Vorfahren von mir nahmen teil. Auf der Ta- in der Frankfurter
Stadtverordneten-
Adels präziser als sein Verhältnis gesordnung stand auch die »Emancipationsfrage
versammlung.
zum Judentum. Das »inkorporierte der Juden«, ein Gutachten belegte deren bedrü-
kulturelle Kapital« (so der Soziolo- ckende Lage. Die adeligen Delegierten ereiferten
ge Pierre Bourdieu) des Adels enthält mehr als sich über die Juden. Die stünden »auf einer sehr
tausend Jahre Judenhass. Von Gott »begnadet«, niedrigen Stufe der Kultur«, seien »fremdartige
kämpfte der christliche Adel gegen die ältere Re- Elemente ohne Recht«, in »einem christlichen
ligion. Während der Kreuzzüge verübten Ritter Staate ein obrigkeitsstaatliches Amt zu beklei-
noch auf deutschem Boden die ersten europäi- den«. Auch den Judenfreundlicheren ging es am
schen Pogrome. Ende darum, »das Judentum zu vernichten«.
Der Reformator Martin Luther, Vorbild mei- Kaiser Wilhelm II. beobachtete die zionisti-
ner Vorfahren, rief die protestantischen Fürsten sche Bewegung Theodor Herzls um 1900: »Ich
zum Niederbrennen von Synagogen, zur Vertrei- bin sehr dafür, daß die Mauschels nach Palästina
bung und Ermordung der Rabbis auf. Aber der gehen.« Herzl bemühte sich um eine Audienz,
Adel hatte da längst entdeckt, dass Pogrome ihn aber der Kaiser wollte mit keinem Juden gesehen
schlagartig von jüdischen Gläubigern befreiten. werden, die hätten schließlich »den Heiland
Der romantische Dichter Achim von Arnim, umgebracht«. Dennoch, dankbare »Hebräer«
mütterlicherseits weitläufig mit mir verwandt, konnten vielleicht von Nutzen sein, warum kein
gründete 1811 die »Deutsche Tischgesellschaft«, deutsches »Schutzgebiet« in Palästina? Am
in der sich die preußische Elite traf. Von Arnim Ende waren dem Kaiser die Eisenbahnverträge
befürchtete, dass sich Juden als getaufte Christen mit dem Osmanischen Reich wichtiger.

130 ESSAY
Beim Kuren hörte die Großtante einen Vortrag über die Protokolle
der Weisen von Zion. Danach verprügelte ihr Mann einen Juden.

Der Dichter Freiherr Börries von Münchhau- willkommen. Sie waren Aktivisten, Ideologen
sen, mein Urgroßonkel, schrieb in jungen Jahren und Agitatoren. Der größte Adelsverband, die
jüdische Heldenballaden, gab sie unter dem Titel Deutsche Adelsgenossenschaft (DAG), beschloss
»Juda« heraus und wurde von Herzl dafür ge- 1920 einen »Arierparagrafen« (siehe Seite 106).
lobt. Aber noch vor dem Ersten Weltkrieg lernte Adelige Familien gaben sich entsprechende
Münchhausen, Juden zu hassen. »Jedesmal, Satzungen.
wenn ich Berlin wiedersehe, erschreckt mich die Zum »Gotha«, dem genealogischen Handbuch
Verjudung unseres Volkes aufs Höchste … Es ist des Adels (siehe Seite 133), kam 1925 die »Edda«,
eine fürchterliche Rasse!« Else Lasker-Schüler das Eiserne Buch Deutschen Adels deutscher
»ist weitaus die übelste Jüdin des Tiergartens«. Art, ein Register des »reinblütigen« Adels, das
»Rassereinheit« wurde sein zentraler Gedanke. nur Mitglieder aufnahm, die auch vor 1750
»Eine Kreuzung von Mops und Dackel ergibt weder jüdische noch nicht weiße Vorfahren be-
immer nur ein Mistvieh … Eine Ehe zwischen sessen hatten. Damit übertraf man sogar die SS.
Arier und Juden ergibt immer einen Bastard.« Bald hatten sich 6000 adelige Männer registrie-
ren lassen, zusammen mit ihren Familien ergab

D
ie Quartiere der mehrheitlich adeli- das vermutlich eine Mehrheit im deutschen Adel.
gen Offiziere im Ersten Weltkrieg Es gab nur wenige Ausnahmen. Und in meiner
waren – bis heute oft unterschätzte – Verwandtschaft nur eine einzige: Karl Freiherr
Orte völkischer und antisemitischer von Brandenstein war SPD-Innenminister sowie
Agitation. 1918 vereinigten sich die Alldeutschen Justizminister in Thüringen und aktiver Nazi-
mit anderen rechtsradikalen Organisationen zur gegner. In meiner Familie nannte man ihn ver-
Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), einer ächtlich »das rote Biest von Brandenstein«.
Vorläuferorganisation der NSDAP. Die Hälfte Meine Urgroßmutter Gertrud von Raven-
meiner adeligen Verwandtschaft war Mitglied Beust rief 1923 die Reichswehr gegen aufrühre-
oder machte Wahlkampf. rische Landarbeiter auf ihrem Gut im thüringi-
Mit der Kriegsniederlage habe »sich die ur- schen Langenorla zu Hilfe. Oberstleutnant Wer-
alte, nordische Sage erfüllt, der Fenris-Wolf hat ner von Blomberg, ab 1935 Reichskriegsminister,
die Sonne verschlungen«, meinte meine Urgroß- half. Drei Tage später marschierten Truppen der
mutter Gertrud von Raven-Beust. Selbst als ihr Reichswehr aus Bayern nach Thüringen ein und
Ehemann einen großen Teil ihres Vermögens gingen gewaltsam gegen die neu gewählte links-
verspekuliert hatte, waren andere schuld, denn sozialistische Regierung vor. Sechs Jahre später
»der Jude zog uns durch seinen Terminhandel war die NSDAP dort zum ersten Mal in einer
noch das letzte Geld aus der Tasche«. Landesregierung vertreten.
Verwandte waren in der Weimarer Republik

V
Mitglieder des rechtsradikalen Freicorps Brigade erwandte nahmen 20 Jahre vor der
Ehrhardt, der nationalistischen Terrorgruppe Schoa die Vernichtung der Juden in
Organisation Consul (OC), im präfaschistischen ihren Alltagswortschatz auf: »Am
»Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten«. Einige liebsten schlüge ich noch heute einen
wurden mitverantwortlich für politische Morde. Juden tot und käme um Dich zu holen!«, schrieb
Die Verwandtschaft machte Ferien auf »juden- meine Großtante Hertha von Schierstädt ihrer
freien« Nordseeinseln. Urgroßtante Armgard Mutter in den Zwanzigerjahren, als sie knapp
von Hardenberg empörte sich im Schwarzwald bei Kasse war. Beeindruckt von der »üppigen«
über »Schieber und Juden«, die in den »elegan- Sanierung des elterlichen Guts Lemmie bei
testen Autos herumsausten«. Großtante Arm- Hannover, fragte meine Großmutter 1924 ihre
gard Maria von Holtzendorff hörte beim Kuren Schwester: »Hat Vati einen Juden erschlagen,
in Bad Kissingen einen Vortrag über »Die Pro- oder macht Ihr aus Häckerlingen Gold?«
tokolle der Weisen von Zion« und lernte: »Sie Münchhausen, mein Urgroßonkel, half, die
haben alle Macht in der Hand.« Danach ver- Akademie der Künste in Berlin von Juden wie
prügelte ihr Gatte einen Juden. Alfred Döblin und Demokraten wie Thomas
Adelige mit ihren in Jahrhunderten gereiften Mann zu »befreien«. Er brachte das Naziregime
einflussreichen Netzwerken waren bei den Nazis 1936 auf Trab, als es um die »Entdeutschung von

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 131


Judennamen« ging. Das mache
sie leichter erkennbar. Aber jüdi-
sche und nicht jüdische Nach-
namen waren nicht auseinander-

Wie man Ziele setzt zusortieren. So wurden Juden


ab 1938 gezwungen, einen zu-
sätzlichen Vornamen im Pass zu
und erreicht tragen: »Israel« und »Sara«.
Es herrschte kein Mangel an
Prinzen in der NSDAP: Bis zum
Jahr 1941 traten mehr als 270
Mitglieder fürstlicher Häuser in
SPIEGEL-Gespräch die NSDAP ein, 80 von ihnen
im Bucerius Kunst Forum schon vor dem 30. Januar 1933.
An der Front brach sich der ade-
lige Hass auf Juden Bahn.
Generalleutnant der Waffen-
SS Ludolf-Hermann von Alvens-
leben errichtete in Polen Erschie-
ßungskommandos und schrieb
an Himmler: »Die Arbeit macht,
Reichsführer, wie Sie sich ja den-
ken können, eine riesige Freu-
de.« Claus Schenk Graf von
Stauffenberg schrieb 1940 an
seine Frau aus Polen: »Die Be-
völkerung ist ein unglaublicher
Pöbel, sehr viele Juden und sehr
Erst setzt man sich ein Ziel – aber dann erreicht man es doch nicht. viel Mischvolk. Ein Volk, wel-
Diese frustrierende Erfahrung machen alle Menschen irgendwann. ches sich nur unter der Knute
Mal sind die Vorhaben zu aufwendig oder zu unkonkret, mal fehlt es an der
wohlfühlt.« Fritz Dietlof von der
Willenskraft. Doch es gibt aus der psychologischen Forschung abgeleitete
Schulenburg, gleichfalls eine
Techniken, die dabei helfen, realistische Ziele zu identifizieren und diese
Schlüsselfigur des Attentats vom
20. Juli 1944, forderte »scho-
dann auch zu erreichen.
nungslose Maßnahmen« für
Über die Bedeutung von Selbststeuerung und Zukunftsorientierung sowohl
»Gesindel« und »Lebens-
für jeden einzelnen Menschen als auch für die Gesellschaft diskutiert
schwache« und den »größten
SPIEGEL-Redakteurin Marianne Wellershoff mit Gabriele Oettingen,
Teil der heutigen Arbeiter-
Professorin für Psychologie in Hamburg und New York.
schaft«.
Die Motivationsforscherin hat die WOOP-Methode entwickelt, die
Nach 1945 wurde der Mythos
Strategien des Gelingens vermittelt.
erschaffen, dass der Adel maß-
geblich am Widerstand gegen
Montag, 6. Januar 2020, um 20 Uhr das NS-Regime beteiligt gewe-
Bucerius Kunst Forum, Alter Wall 12, 20457 Hamburg sen sei. Ich wuchs mit der Legen-
de auf, der deutsche Adel sei
»gegen Hitler« gewesen. Aber
Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und an allen bekannten alle unter meinen Hunderten
Vorverkaufsstellen erhältlich.
Verwandten – bis auf den einen,
Die Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro) berechtigt am Veranstaltungstag
zum Besuch der Ausstellung »AMERIKA! DISNEY, ROCKWELL, der in der Familie stigmatisiert
POLLOCK, WARHOL« (19.10.2019 bis 12.1.2020). und verachtet wurde – verab-
Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von 19 bis 19.45 Uhr scheuten die Juden und bauten
exklusiv für Veranstaltungsgäste geöffnet. Änderungen vorbehalten.
mit am »Tausendjährigen
Reich«.
Wenn heute der ermordeten
Juden gedacht wird, sind manch-
mal auch Menschen mit adeli-
gem Namen dabei. Aber in den
seltensten Fällen öffnen sie ihre
Archive. Sie wissen, warum. 
Bildnachweis: Unsplash

132
Anderthalb Jahrhunderte lang war der »Gotha« das wichtigste Handbuch
des europäischen Adels. Wer dort verzeichnet war, war ganz oben angekommen.

Die Bibel der Salonlöwen


Von Johannes Saltzwedel

schnitt, der die europäischen Adelshäuser auf neu-


estem Stand verzeichnete, von ihrer Entstehung
bis zu den gegenwärtigen Familienoberhäuptern.
Diplomaten, Hotelmanager, Salonlöwen, Proto-
kollchefs, Luxusschneider oder eben Snobs – wer
immer in aristokratischen Kreisen verkehrte, konn-
te diesen Handbuchteil nicht entbehren, denn dort
ließ sich die genaue Stellung eines Menschen
namens Kinsky oder Donnersmarck, Broglie oder
Orsini ermitteln. Verzeichnet waren Fürstenhäuser,
für Deutschland auch die ehemaligen Kleinsouve-
räne, sowie ein Gutteil der herzoglichen oder prinz-
lichen Familien – eben Europas Crème de la crème.
Im »Gotha« zu stehen bedeutete quasi ein zusätz-
liches Adelsprädikat.
Entwickelt hatte sich das Nachschlagewerk aus
einem weitverbreiteten »Schreib-Calender« für
Termine und Notizen, der seit 1740 im thürin-
gischen Gotha erschienen und 1763 von dem
umtriebigen Verleger Johann Christian Dieterich
weitergeführt worden war. Die deutsche Version
nannte sich bald »Hofkalender«; neben galanten
Illustrationen und allerlei unterhaltsamem Stoff
»zum Nutzen und Vergnügen« fand man darin nun
immer mehr Angaben über Herrscherhäuser.
Erst nach dem Sturz Napoleons aber entwickelte
sich das kleine Buch so richtig zur Marke: Der neue
Verleger Justus Perthes überflügelte mit einer eige-
nen Redaktion alle Konkurrenz, stellte dem peinlich
genau recherchierten Nachschlagewerk noch wei-
tere »Genealogische Taschenbücher« über Grafen,
Freiherren und den restlichen Adel an die Seite.
Auch den Zusammenbruch des alten Europa
im Ersten Weltkrieg überlebte das deutsche Pro-

A
dukt; der letzte »Almanach de Gotha« erschien
ls der 22-jährige Pariser Autor Mar- Erlauchter Kreis für das Jahr 1944. Im Jahr darauf brannte das
cel Proust 1893 eine »Snobdame« be- Porträts aus dem Perthes-Archiv nieder.
»Gotha« von 1853:
schrieb, nannte er als wichtigste Quel- Marie Königin von
Seit 1997 aber hat ein britischer Verlag den
len ihrer Weltkenntnis spöttisch die Hannover, Georg V. ehrwürdigen Namen wiederbelebt – und offenbar
Gesellschaftsblätter »Tout-Paris«, »High-Life« König von Hannover, mit Erfolg. Der jüngste, 120 Pfund teure »Alma-
und – den »Gotha«. Marie Herzogin von nach de Gotha 2019« umfasst zwei Bände mit
Sachsen-Altenburg,
Der war damals bereits im 130. Jahrgang zu ha- Zar Nikolaus I.
zusammen mehr als 2800 Seiten. 2015 erkannte
ben. Mit vollem Namen hieß das fast 1300 Seiten (im Uhrzeigersinn) das Deutsche Adelsarchiv den Trend und nennt
dicke Buchklötzchen »Almanach de Gotha«. Es nun seine Buchreihen auch wieder »Gothaisches
enthielt ein Kalendarium, eine Statistik über alle Genealogisches Handbuch«. Stoff genug für Nostal-
Länder der Welt und einen umfangreichen Ab- giker, Traditionalisten – und Freaks. 

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 133


Ein überholtes Konzept?
Adel heute – ein Stimmungsbild

»Ob Adel oder


nicht Adel:
Ich erwarte
grundsätzlich
von Menschen,
dass sie Werte wie
Verantwortung,
Zivilcourage oder
Solidarität zum
selbstverständ-
lichen Bestandteil
ihres täglichen
Handelns inte-
grieren. Aktives
Engagement für
die Gesellschaft
ist dann die
gewinnende Kür.«
Philip Dönhoff, 53,
Großneffe der 2002 ver-
storbenen »Zeit«-Heraus-
geberin Marion Gräfin
Dönhoff, arbeitet an der
Zukunftsfähigkeit von
Organisationen. Gemeinsam
mit seiner Frau baut er
eine Schule für die vom IS
geflüchteten Kinder im
kurdischen Teil des Irak auf:
handfuerhand.org

»Es gibt heute viele im Adel, die mit ihrem Namen renommieren
gehen und versuchen, ihre Herkunft für wirtschaftliche Zwecke
zu instrumentalisieren. Ich bezweifle, dass der Adel heute
noch die Aufgabe einer Orientierung ausfüllen könnte. Er hat
als Klasse abgewirtschaftet, und zwar schon lange. Er hat
sich selbst abgewirtschaftet. Und er sollte in seiner traditionellen
Form abgewirtschaftet bleiben.«
Elisabeth Plessen, 75. Die Autorin, geboren als Elisabeth Charlotte Marguerite Auguste Gräfin von
Plessen, distanzierte sich in den Siebzigerjahren vom Adel. Ihre Erfahrungen beschreibt sie auch in ihrem
kürzlich erschienenen Roman »Die Unerwünschte« (Berlin Verlag).

134 GEGENWART
»Man muss
den Menschen,
die glauben,
wichtig zu sein,
ihre Wichtigkeit
nehmen. Da-
durch, dass ich
die Leute normal
»Wir haben keine behandele, reden
Macht, wir haben sie auch anders
keine Schlösser, miteinander,
wir haben kein es spielt dann
Land, wir haben keine Rolle,
nur unsere Ge- welches Amt sie
schichten. Und das innehaben.«
ist auch gut so.« Marianne Fürstin
zu Sayn-Wittgenstein-Sayn,
Konstantin von Hammerstein, 99, Fotografin, »Gesell-
58, arbeitet als SPIEGEL-Autor schaftsexpertin« und Gast-
in Berlin. geberin

»Wir haben eine


konstitutionelle
Monarchie
in Norwegen.
Meine Rolle
gestattet es mir
nicht, mich an
politischen »Wer privilegiert
Debatten zu aufwachsen
beteiligen, aber durfte, hat auch
ich kann meine die Pflicht,
Stimme erheben, sich positiv in
wenn es um die Gesellschaft
die großen He- einzubringen.«
rausforderungen
Anna Bayern, 41, nach
der Menschheit ihrer Heirat mit Manuel
geht.« Prinz von Bayern eigentlich
Anna-Natascha Prinzessin
von Bayern, wurde als
Haakon, 46, Kronprinz von
Prinzessin zu Sayn-Wittgen-
Norwegen
stein-Berleburg geboren.
Die zweifache Mutter arbeitet
als Autorin und Redakteurin
im Axel Springer Verlag und
verzichtet offiziell auf ihren
Adelstitel.

SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019 135


Buchempfehlungen

Auch Herzog
Wilhelm Ernst von
Sachsen-Weimar
sammelte Bücher –
sie bildeten
den Grundstock
der berühmten
Herzogin Anna
Amalia Bibliothek
in Weimar.

Frauengeschichte Biografie Analyse


Christa Diemel: Adelige Fritz Stern: Gold und Eisen. Stephan Malinowski: Vom
Frauen im bürgerlichen Jahr- Bismarck und sein Bankier König zum Führer – Der
hundert: Hofdamen, Stifts- Bleichröder. Beck’sche Rei- deutsche Adel und der
damen, Salondamen 1800 – he; 861 Seiten; 19,95 Euro. Nationalsozialismus.
1870. Fischer Taschenbuch; Eine Doppelbiografie? Eine Fischer Taschenbuch;
280 Seiten; 19,90 Euro. politische Ereignisgeschich- 672 Seiten; 24,99 Euro.
Einfluss und Niedergang – te? In jedem Fall hat der Wie hielten es deutsche
beides findet die Historike- großartige Fritz Stern mit Adelige mit den Nazis?
rin Christa Diemel in der diesem Beziehungsbuch Dieser Frage geht der
Geschichte von Hofdamen, über den machtvollen Historiker Stephan Mali-
Ehefrauen hoher Staats- Preußen und den jüdischen nowski auf Basis solider
diener, Mätressen und Salo- Kapitalisten in anschauli- Archivkenntnis nach. Die
nièren im 19. Jahrhundert. cher Prosa ein Vermächtnis glänzende Analyse kommt
Sehr persönliche, teilweise hinterlassen – »ein an- zu einem differenzierten,
intime Brief- und Tagebuch- spruchsvolles Buch«, wie aber eindeutigen Urteil:
bekenntnisse machen die der SPIEGEL 1978 nach Die Mehrheit der Adeligen
ausführliche Spurensuche dem Erscheinen schrieb. stützte das Hitler-Regime,
anrührend und lesenswert. nur sehr wenige wagten
Detailstudie Widerstand.
Standardwerk Karina Urbach: Hitlers
Daniel Schönpflug: Die heimliche Helfer – Der Adel Panorama
Heiraten der Hohenzollern. im Dienst der Macht. wbg Frank Lorenz Müller: Die
Verwandtschaft, Politik Theiss; 464 Seiten; 15 Euro. Thronfolger. Macht und
und Ritual in Europa. Warum und auf welche Zukunft der Monarchie im
Vandenhoeck und Ruprecht; Weise europäische Adels- 19. Jahrhundert. Siedler;
336 Seiten; 70 Euro. häuser mit den Nazis kol- 464 Seiten; 28 Euro.
90 Heiraten der Hohen- laborierten, untersucht Der König war tot. Warum
zollern zwischen 1640 und die in Princeton forschende überlebte die Monarchie?
1918 hat der Historiker Historikerin detailliert. In einer informativen,
Daniel Schönpflug untersucht Sie schildert, wie Mitglie- kraftvollen Prosa schildert
und sie als »unspezifisches der des Hauses Windsor Frank Lorenz Müller,
Element« der Außenpolitik sich um Hitlers Gunst warum die Thronfolger im
identifiziert – wenn auch bemühten. Und sie analy- langen 19. Jahrhundert
nur von begrenzter poli- siert die Rolle des Herzogs nach der Hinrichtung von
tischer Wirkung. Immerhin: von Coburg und der Ludwig XVI. 1793 bis zur
Eine politische Rolle, so Prinzessin Stephanie von Ermordung des Erzherzogs
der Autor, haben die dynas- Hohenlohe bei dem Ver- Franz Ferdinand 1914
tischen Netzwerke noch bis such Hitlers, die britische zur Aufrechterhaltung der
ins 19. Jahrhundert gespielt. Elite zu umgarnen. Monarchie beitrugen.

136 SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019


Impressum

SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein


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Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
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Der europäische Adel –


Telefax (040) 3007-2246 (Verlag),
(040) 3007-2247 (Redaktion)
E-Mail spiegel@spiegel.de
Herausgeber Rudolf Augstein (1923 bis 2002)
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Clemens Höges
Warum wir die
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Aristokratie nicht
Redaktion Solveig Grothe, Christoph Gunkel,
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Kringiel, Joachim Mohr, Frank Patalong,
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Bildredaktion Anke Wellnitz
Infografik Gernot Matzke im Bucerius Kunst Forum
Schlussredaktion Gartred Alfeis, Lutz Diedrichs,
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Dokumentation Dr. Walter Lehmann-Wiesner;
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© SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein Und wie einflussreich ist er noch? Darüber sprechen die SPIEGEL-Redakteurinnen
GmbH & Co. KG, Dezember 2019 Bettina Musall und Eva-Maria Schnurr mit der Historikerin und Schriftstellerin
ISSN 1868-7318
Karina Urbach.

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BRIDGEMAN ART LIBRARY Leitfigur Leitkultur Leitmotiv
SEITEN 106 – 113 HIS / INTERFOTO, BUNDESARCHIV KOBLENZ,
ULLSTEIN BILD (2), EMPICS / PICTURE-ALLIANCE / DPA, BPK Die Lehrerin Gertrud Architekten etwa aus 1,5 Millionen Männer
SEITE 114 KLAUS WINKLER / BERLINER VERLAG / DDP, HULTON ROYALS Bäumer zählte zu den dem Bauhaus träumten kehrten als »Krüppel«
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SEITE 115 SEEGER-PRESS, WIKIMEDIA, NTB / SCANPIX / AKG, STELLA ersten Frauen, die nach von einer besseren Zu- aus dem Ersten Welt-
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SEITE 127 H.-D. FALKENSTEIN / IMAGEBROKER / VARIO, FINE ART tag saßen. Sie sah diesen wie Frankfurt am Main Das Echo des Krieges
IMAGES, HISTORY COLLECTION / ALAMY / MAURITIUS IMAGES, THE
PICTURE ART COLLECTION / ALAMY / MAURITIUS IMAGES, WIKIPEDIA Schritt als »Beginn oder Stuttgart wurden hallte so im Alltag
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PICTURE-ALLIANCE / AP eines Jahrtausends«. zu ihren Laboren. vieler Familien nach.
SEITE 133 AKG (ALLE)
SEITEN 134 – 135 MONIKA KEILER / SPIEGEL GESCHICHTE, THOMAS
GRABKA / DER SPIEGEL, DIETER MAYR / AGENTUR FOCUS, JEPPE BØJE
NIELSEN, GISELA SCHOBER / GETTY IMAGES
SEITE 136 KLASSIK STIFTUNG WEIMAR / BPK Die nächste Ausgabe erscheint am Dienstag, dem 28. Januar 2020.
SEITE 138 STEFAN DILLER / AKG, ULLSTEIN BILD / GETTY IMAGES,
ULLSTEIN BILD

138 SPI EGEL GESCH ICHTE 6/2019


Mit SPIEGEL GESCHICHTE
durch das Jahr

Vom Rad bis zur Glühlampe, von der Tauchen Sie ein in die Welt der Könige,
Dampfmaschine bis zum 3-D-Drucker. Ritter und Minnesänger.
Der Wochenkalender nimmt Sie mit auf eine Zeit- Dieser Kalender überrascht jede Woche neu
reise zu den größten Entdeckungen der Mensch- mit spannenden Geschichten, großen Persönlich-
heit. Informative Texte und anschauliche Bilder keiten und längst vergessenen Bräuchen einer
erzählen von den bahnbrechendsten Erfindungen faszinierenden Epoche. Ein einzigartiger Wand-
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X Erhältlich im Buchhandel und
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05/19 Geheimdienste – Von 1500 bis heute: Die Schattenwelt 04/19 Jüdisches Leben in 03/19 Unser Italien! – Chronik
der Spionage Deutschland – Die unbekannte einer turbulenten Beziehung
Welt nebenan

02/19 Widerstand gegen 01/19 Wie Essen die Welt 06/18 Der Buddhismus – 05/18 Die Kreuzzüge –
Hitler – Mit dem Mut prägte – Revolutionen, Weltreligion aus Fernost Kulturkonflikt im Mittelalter
der Verzweiflung Kriege, Entdeckerfahrten

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