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Volker Storch

Ulrich Welsch
Michael Wink

Evolutions-
biologie
3. Auflage
Evolutionsbiologie
Volker Storch
Ulrich Welsch
Michael Wink

Evolutionsbiologie
3. überarbeitete und aktualisierte Auflage
Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Storch Prof. Dr. Dr. Ulrich Welsch Prof. Dr. Michael Wink
Universität Heidelberg Universität München Universität Heidelberg
Centre for Organismal Studies Institut für Zellbiologie Inst. Pharmazie und Molekulare
(COS) Schillerstrasse 42 Biotechnologie (IPMB)
Im Neuenheimer Feld 230 80336 München Im Neuenheimer Feld 364
69120 Heidelberg Germany 69120 Heidelberg
Germany Germany

ISBN 978-3-642-32835-0     ISBN 978-3-642-32836-7 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-642-32836-7

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;


detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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dürften.

Redaktionelle Bearbeitung: Lars Wilker, Wittmoldt


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V

Vorwort

Seit mehr als dreieinhalb Milliarden Jahren gibt es Organismen auf der Erde, die sich zu einem
immer umfangreicheren Lebensstrom entwickelten, der nicht nur sich selbst stetig verändert
hat, sondern auch seine unbelebte Umwelt, und das in viel stärkerem Ausmaß als vielen von
uns bewusst ist. Der Sauerstoff der Erdatmosphäre, von dem das Leben der meisten Organis-
men abhängig ist, wurde und wird durch Photosynthese produziert; gleiches gilt letztlich für
den Ozonschild, unter dem sich die Organismenwelt entwickeln konnte. Ganze Landschaften
verdanken ihre Existenz kalkproduzierenden Lebewesen. Das Rheinische Schiefergebirge, die
Kalkalpen, die Schwäbische Alb und die Kreideküste von Rügen, um nur vier nahegelegene
unter vielen Beispielen zu nennen, sind emporgehobener ehemaliger Meeresgrund und bergen
vergangenes marines Leben in Form von Fossilien. Die damit verbundene Entfernung von
Kohlendioxid aus der Atmosphäre führte zu einem Temperaturbereich der Lufthülle unseres
Planeten, der Leben in komplexer Form erst ermöglichte. Kapitel 2 behandelt die Entfaltung
der Organismen in der Erdgeschichte.
Die Organismenwelt auf der Erde offenbart sich heute in einer kaum zu überschauenden
Diversität und in einer Fülle von Arten, die jedoch durch die kurzsichtigen Aktivitäten des
modernen Menschen zunehmend beeinträchtigt wird. Dieser moderne Mensch – Homo sapi-
ens – ist erst sehr spät in der Geschichte des Lebens aufgetreten. Wenn man die Erdgeschichte
mit einem Kalenderjahr vergleicht, existiert er seit dem 31. Dezember. Dieser eine Tag hat die
Biosphäre allerdings so stark verändert wie kein anderer zuvor.
In einer solchen Situation interessieren unsere eigene Stellung in der belebten Natur und
unsere Herkunft. Diesem Thema haben wir das umfangreiche Kapitel 5 gewidmet. Es werden
auch Phänomene angesprochen, die für den Menschen offensichtlich spezifisch sind, wie
Kulturgeschichte, Sprache, Tradition, Erkenntnis und Moral.
Der Mensch ist das erste Lebewesen in der Evolution, welches die Fähigkeit hat, sich selbst
und andere Organismen gezielt genetisch zu verändern. Die sich daraus ergebenden Konse-
quenzen vermitteln manchem Zeitgenossen Optimismus, anderen Ängste. In Zeitungen und
Magazinen, Reden von Politikern, Fernseh- und Rundfunkberichten werden diese Probleme
fast täglich angesprochen, oft von schmaler Sachkenntnis ausgehend. Dementsprechend haben
wir dem Themenbereich der Molekularen Genetik und der Molekularen Evolutionsforschung
in den Kapitel 3 und 4 breiten Raum gewidmet.
Der Mensch ist heute so sehr mit sich selbst, seinem Überleben und seiner Bedeutsamkeit
beschäftigt, dass er meist vergisst, dass er nur einen kleinen Teil der organismischen Vielfalt re-
präsentiert und in dieser verwurzelt ist. Über die Geschichte der Millionen und Abermillionen
anderer Organismen hat uns insbesondere die moderne Paläontologie bis in die jüngste Zeit
so viele Kenntnisse vermittelt, dass wir über den Ablauf der Evolution viele neue Einsichten
gewonnen haben. Auch diese werden in Kapitel 2 des vorliegenden Buches in angemessener
Breite dargestellt und in Kapitel 4 durch Einblicke in die neuesten Ergebnisse der molekularen
Phylogenieforschung ergänzt.
Damit ergibt sich eine breite Palette an Themen, die nicht für jeden Leser in allen Facetten
in gleicher Weise verständlich sein wird, aber jeden anregen und neugierig machen müsste,
mehr über die Evolution zu erfahren.
Das Gedankengebäude der Evolutionsbiologie ist komplex und verbindet Wissenschaften
wie Geologie, Paläontologie, Astro- und Geophysik, Klimatologie, Ökologie, Biochemie, Mo-
lekular- und Zellbiologie, Botanik, Mikrobiologie sowie Zoologie. Der vorliegende Text macht
VI Vorwort

deutlich, dass die Beiträge der verschiedenen Wissenschaftsbereiche durchaus widersprüchlich


sein können. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Evolutionstheorie auch auf Wis-
senschaften außerhalb der Naturwissenschaften ausgewirkt, so z. B. auf Medizin, Philosophie,
Psychologie, Soziologie und Theologie.
Aus einer Evolutionstheorie wurde im Laufe der Zeit ein solides Gefüge von Tatsachen. Die
Geowissenschaften liefern gemeinsam mit der Physik immer präzisere Daten zum Zeitverlauf
und zur Abfolge der Organismen in den verschiedenen Erdzeitaltern, die Molekularbiologie
immer genauere Beiträge zu möglichen phylogenetischen Beziehungen und Entwicklungsli-
nien. Dennoch akzeptieren nicht alle Menschen, dass die Evolution allein auf einer materiellen
Basis beruht, sondern bleiben bei einem Schöpfungsglauben. Wir denken, dass unser Buch
auch einen guten Beitrag zur Diskussion mit diesen Personen liefert.
Viele Kollegen haben uns während der Arbeiten an dieser Auflage geholfen. Einige haben
sogar spannende und aktuelle Exkurse zu Themen beigesteuert, zu denen sie eine besondere
Kompetenz besitzen.
Zu danken ist zunächst den bewährten Autoren der Exkurse, die schon in der zweiten
Auflage erschienen und die zum Teil deutlich überarbeitet wurden. Neu sind mehrere Exkurse
in den Kapiteln 1–3 und 5. Professor Harald Lesch (München) erweiterte Kapitel 1 mit dem
Exkurs „Unter dem Diktat der Physik“. Dr. Meinolf Hellmund (Halle/Saale) öffnet in Kapitel 2
die Augen für eine besondere Fossillagerstätte, Professor Hans Fricke (Tutzing) beschreibt die
erfolgreiche Suche eines lebenden Fossils. Kapitel 3 wurde von PD Jens Mayer (Homburg/
Saar) durch einen Exkurs zur Paläovirologie ergänzt, und Kapitel 5 bereicherten verschiedene
Autoren durch aktuelle Themen, auch aus Grenzbereichen der Evolutionsbiologie. Professor
Karl Zilles (Jülich) äußert sich zum Schimpansengehirn, PD Martina Paulsen und Prof. Jörn
Walter (Saarbrücken) zur Epigenetik, Prof. Eckart Voland (Gießen) zur Evolution der Religi-
osität, Prof. Gerhard Vollmer (Neuburg/Donau) zur Evolutionären Erkenntnistheorie.
Weitere Personen haben einzelne Abschnitte durchgesehen und Verbesserungsvor-
schläge gemacht. Insbesondere möchten wir folgenden Kolleginnen und Kollegen danken:
Madelaine Böhme (Tübingen), Claudia Erbar (Heidelberg), Monika Hilker (Berlin), Heide
Hüster-Plogmann (Basel), Ingelore Hinz-Schallreuter (Greifswald), Inge Kronberg (Büsum),
Andrea Zeeb-Lanz (Speyer), Peter Bengtson (Heidelberg), Olaf Elicki (Freiberg), Wolfgang
Eckart (Heidelberg), Clemens Eibner (Heidelberg), Walter Etter (Basel), Ernst-Peter Fischer
(Heidelberg), Heinz Furrer (Zürich), Colin Groves (Canberra), Hans Hagdorn (Ingelfin-
gen), Winfried Henke (Mainz), Reinhard Hildebrand (Münster), Uwe Hoßfeld (Jena), Bernd
Herkner (Frankfurt/Main), Peter Kappeler (Göttingen), Ottmar Kullmer (Frankfurt/Main),
Ralf-Dietrich Kahlke (Weimar), Wighart von Koenigwald (Bonn), Edgar Nitsch (Stuttgart),
Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger (Bad Dürkheim), Ronny Rößler (Chemnitz), Oliver Sandrock
(Darmstadt), Walter Salzburger (Basel), Stephan Schaal (Frankfurt/Main), Martin Schlegel
(Leipzig), Thomas Schmitt (Trier), Michael Schmitt (Greifswald), Hinrich Schulenberg (Kiel),
Guenter Schweigert (Stuttgart), Volker Sellin (Heidelberg), Dieter Uhl (Frankfurt/Main), Kurt
Weising (Kassel), Franz Wuketits (Wien) und Willi Xylander (Görlitz).

Bei der Illustration und Manuskriptbearbeitung halfen uns Frau Gisela Adam (Heidelberg)
und Herr Bernhard Glaß (Heidelberg). Theodor C. H. Cole erstellte dankenswerterweise
Übersichtsstammbäume der Pflanzen und Vögel. Allen genannten Personen sind wir sehr
dankbar und legen damit die Neuauflage vor.

Volker Storch, Ulrich Welsch, Michael Wink


Heidelberg und München, im Frühjahr 2013
VII


Inhaltsverzeichnis

1 Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament ������������������������������������������������������������������� 1


1.1 Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie ��������������������������������������������������������� 2
1.1.1 Die Antike: Griechenland und Rom��������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 2
1.1.2 Das Mittelalter ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 6
1.1.3 Renaissance und Humanismus����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 8
1.1.4 Aufbruch in die moderne Wissenschaft, Rationalismus, Empirismus, Aufklärung ���������������������� 10
1.1.5 Systematische Biologie���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 12
1.1.6 Die Evolutionsvorstellung entsteht������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 14
1.1.7 Das Zeitalter der Aufklärung������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 15
1.1.8 Ein Kapitel für sich: Charles Darwin������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 20
1.1.9 Ernst Haeckel und die Auseinandersetzungen in Deutschland �������������������������������������������������������� 35
1.1.10 Die Bedeutung der Genetik�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 39
1.1.11 Weitere Denkansätze im 20. und 21. Jahrhundert �������������������������������������������������������������������������������� 39
1.2 Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben������������ 45
1.2.1 Biogeographie�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 45
1.2.2 Paläontologie���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 51
1.2.3 Vergleichende Anatomie und Systematik, Artdefinitionen (Artkonzepte) ������������������������������������ 61
1.2.4 Entwicklungsbiologie ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 73
1.2.5 Biochemie und Zellbiologie�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 75
1.2.6 Verhaltensbiologie������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 81
Literatur ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 85

2 Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte �������������������������������������������������������������� 87


2.1 Präkambrium �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 91
2.1.1 Ediacara-Fauna: präkambrische Vielzeller������������������������������������������������������������������������������������������������ 91
2.2 Paläozoikum (Erdaltertum)������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 92
2.2.1 Kambrium ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 93
2.2.2 Ordovizium������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 105
2.2.3 Silur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 116
2.2.4 Devon���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 123
2.2.5 Karbon �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 134
2.2.6 Perm ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 141
2.3 Mesozoikum (Erdmittelalter)������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 148
2.3.1 Trias�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 149
2.3.2 Jura �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 170
2.3.3 Kreide ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 182
2.4 Känozoikum (Erdneuzeit) ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 188
2.4.1 Tertiär ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 188
2.4.2 Quartär�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 203
Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 215

3 Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen �������������������������������������������� 219


3.1 Einführung������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 220
3.2 Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik���������������������������������������������������������������������������� 222
VIII 
 Inhaltsverzeichnis

3.2.1 Aufbau der DNA���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 222


3.2.2 Replikation ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 224
3.2.3 Vom Gen zum Protein ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 225
3.2.4 Transkription und Mosaikstruktur der Eukaryotengene�������������������������������������������������������������������� 226
3.2.5 Genetischer Code ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 228
3.2.6 Proteinbiosynthese (Translation)�������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 229
3.2.7 Kern-, Mitochondrien- und Chloroplastengenom�������������������������������������������������������������������������������� 231
3.3 Veränderlichkeit und Vererbung der genetischen Information������������������������������������������������ 247
3.3.1 Mutationen������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 248
3.3.2 Mitose und Meiose���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 255
3.3.3 Rekombination������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 258
3.4 Veränderung des Genoms während der Evolution������������������������������������������������������������������������ 261
3.4.1 Eukaryotengene mit regulatorischen Sequenzabschnitten und Intron-Exon-Struktur������������ 261
3.4.2 Genomduplikationen und Evolution von Multigenfamilien ������������������������������������������������������������ 272
3.4.3 Nicht-codierende repetitive DNA�������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 275
3.4.4 Horizontaler Gentransfer und Symbiosen �������������������������������������������������������������������������������������������� 281
3.5 Vererbung, Populationsgenetik und Artbildung���������������������������������������������������������������������������� 285
3.5.1 Allel- und Genotypen­frequenz und Vererbungs­regeln���������������������������������������������������������������������� 285
3.5.2 Mendelsche Vererbungsregeln������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 286
3.5.3 Grundlagen der Populationsgenetik�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 288
3.5.4 Selektion und Mikroevolution�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 291
3.5.5 Genfluss und genetische Drift�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 295
3.5.6 Artbildung (Speziation)�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 296
Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 302

4 Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie,


Merkmalsevolution und Phylogeographie���������������������������������������������������������������������������� 305
4.1 Methoden der molekularen Evolutionsforschung ������������������������������������������������������������������������ 306
4.1.1 Ein kurzer historischer Rückblick �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 306
4.1.2 Wichtige Methoden der molekularen Evolutionsforschung ������������������������������������������������������������ 308
4.2 Molekulare Systematik und Phylogenie �������������������������������������������������������������������������������������������� 341
4.2.1 Hilfe der DNA-Daten bei der Erkennung von Arten und monophyletischen Gruppen������������ 342
4.2.2 Molekulare Phylogenie ausgewählter Organismengruppen������������������������������������������������������������ 349
4.3 Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse �������������������������������������� 375
4.3.1 Blütenmorphologie und Systematik�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 375
4.3.2 Morphologie, Verhalten und Systematik������������������������������������������������������������������������������������������������ 376
4.3.3 Pflanzliche Sekundärstoffe und Systematik ������������������������������������������������������������������������������������������ 383
4.4 Phylogeographie������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 408
4.4.1 Grundlagen der Phylogeographie������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 408
4.4.2 Disjunktion zwischen Alter und Neuer Welt������������������������������������������������������������������������������������������ 409
Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 414

5 Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten,


der nicht-humanen Primaten���������������������������������������������������������������������������������������������������������� 417
5.1 Evolution des Menschen – Allgemeine Einführung ���������������������������������������������������������������������� 419
5.2 Primaten���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 421
5.2.1 Strukturelle und funktionelle Kennzeichen der Primaten������������������������������������������������������������������ 421
5.2.2 Sozialsysteme der Primaten������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 424
IX
Inhaltsverzeichnis


5.2.3 Fortpflanzungsstrategien männlicher Primaten���������������������������������������������������������������������������������� 426


5.2.4 Fortpflanzungsstrategien weiblicher Primaten������������������������������������������������������������������������������������ 427
5.2.5 Systematische Gliederung der Primaten������������������������������������������������������������������������������������������������ 427
5.2.6 Verwandtschaftsforschung in der Ordnung der Primaten mit Hilfe von Biochemie
und Molekularbiologie �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 433
5.3 Menschenaffen und Mensch (Hominoidea)�������������������������������������������������������������������������������������� 435
5.3.1 Gibbons ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 435
5.3.2 Die großen, höheren Menschenaffen������������������������������������������������������������������������������������������������������ 436
5.3.3 Mensch�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 443
5.4 Fossilgeschichte der Tierprimaten�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 460
5.5 Fossilgeschichte der Hominini (Menschen und Vormenschen)������������������������������������������������ 468
5.6 Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen)���������������������������������������������������������������������������� 473
5.6.1 Ardipithecus������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 473
5.6.2 Australopithecus���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 474
5.6.3 Kenyanthropus platyops�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 479
5.6.4 Erste Angehörige der Gattung Homo������������������������������������������������������������������������������������������������������ 479
5.7 Die Menschheit heute�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 504
5.8 Die Entwicklung der Werkzeugkultur und der Zivilisation des Menschen �������������������������� 512
5.8.1 Paläolithikum�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 512
5.8.2 Mesolithikum�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 515
5.8.3 Neolithikum ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 515
5.8.4 Kupferzeit��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 525
5.8.5 Bronzezeit �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 525
5.8.6 Eisenzeit������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 527
5.8.7 Klassische Antike bis Neuzeit���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 528
5.9 Die biologisch-ökologische Sonderstellung des Menschen������������������������������������������������������ 529
5.10 Die geistig-kulturelle Sonderstellung des Menschen ������������������������������������������������������������������ 531
5.10.1 Lernen, Intellekt, Erinnerung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 532
5.10.2 Evolutionäre Erkenntnistheorie ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 533
5.10.3 Ethik, Sittlichkeit, Moral�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 538
5.10.4 Evolutionäre Medizin������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 545
Literatur ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 547

Stichwortverzeichnis ���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 553




Verzeichnis der eingeladenen Exkurs-Verfasser

Prof. Dr. Detlev Arendt PD Dr. Jens Mayer


Universität Heidelberg Universitätsklinikum des Saarlandes
Centre for Organismal Studies Humangenetik
Im Neuenheimer Feld 230 Geb- 60
69120 Heidelberg 66421 Homburg
detlev.arendt@cos.uni-heidelberg.de jens.mayer@uniklinik-saarland.de

Prof. Dr. Hans Fricke Dr. Gerald Mayr


Traubinger Str. 47 Forschungsinstitut Senckenberg
82327 Tutzing Senckenberganlage 25
hfricke@jago-sub.de 60325 Frankfurt/Main
gerald.mayr@senckenberg.de
Dr. Meinolf Hellmund
Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Prof. Dr. Heiner Niemann
Sammlungen Institut für Nutztiergenetik Mariensee
Geiseltalmuseum Höltystraße 10
Domstraße 5 31535 Neustadt am Rübenberge, Mariensee
06108 Halle / Saale heiner.niemann@fli.bund.de
meinolf.hellmund@zns.uni-halle.de
PD Dr. Martina Paulsen
Prof. Dr. Thomas Holstein Universität des Saarlandes
Universität Heidelberg FB 8.3 Biowissenschaften
Centre for Organismal Studies PF 151150
Im Neuenheimer Feld 230 66041 Saarbrücken
69120 Heidelberg m.paulsen@mx.uni-saarland.de
thomas.holstein@cos.uni-heidelberg.de
Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Sitte
Prof. Dr. Uwe Jürgens Lerchengarten 1
Deutsches Primatenzentrum 79249 Merzhausen
Zentrum für Neurobiologie des Verhaltens
Kellnerweg 4 Prof. Dr. Eckart Voland
37077 Göttingen Zentrum für Philosophie und Grundlagen der
ujuerge@gwdg.de Wissenschaften
Rathenaustr. 8
Prof. Dr. Harald Lesch 35394 Giessen
Universität München eckart.voland@phil.uni-giessen.de
Institut für Astronomie und Astrophysik
Scheinerstr. 1
81679 München 
lesch@usm.uni-muenchen.de
XI
Verzeichnis der eingeladenen Exkurs-Verfasser

Prof. Dr. Gerhard Vollmer


Professor-Döllgast-Straße 14
86633 Neuburg/Donau
gerhard.vollmer@gmx.de

Prof. Dr. Jörn Walter


Universität des Saarlandes
FB 8.3 Biowissenschaften
PF 151150
66041 Saarbrücken
j.walter@mx.uni-saarland.de

Prof. Dr. Gottfried Wilharm


Robert-Koch-Institut
Bereich Wernigerode
Burgstraße 37
38855 Wernigerode
wilharmG@rki.de

Prof. Dr. Karl Zilles


Forschungszentrum Jülich
52425 Jülich
k.zilles@fz-juelich.de
1 Evolutionsbiologie:
Geschichte und Fundament
V. Storch, U. Welsch, M. Wink, Evolutionsbiologie,
DOI 10.1007/978-3-642-32836-7_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
2 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

1.1 Geschichte weise. Thales entmythologisierte natürliche Phäno-


der Naturerkenntnis mene. Er vermutete, dass die Welt aus dem Wasser
und der Evolutionstheorie entstanden sei.
Anaximander (Milet, um 611 bis 546 v. Chr.):
Naturerkenntnis und Biologie gehen auf zwei Tra- War Schüler von Thales und schuf einen großen
ditionen zurück, die im östlichen Mittelmeerraum systematischen Entwurf zur Erklärung der natür-

-
entstanden: lichen Phänomene. Er fragte systematisch, z. B. wie
eine mindestens 4000 Jahre alte medizinische, entstand die Erde, wie entstanden die Gestirne,
z. B. in Ägypten und – später – bei Hippokra- wie das Universum, wie das Wasser, und umriss

-
tes, sowie eine Kosmologie und Kosmogonie. Am Anfang
eine naturgeschichtliche, die gut 2500 Jahre alt der Welt steht eine gewaltige Explosion. Er stellte
ist und mit ionischer Naturphilosophie und Berechnungen an und schrieb seine Erkenntnisse
Aristoteles beginnt. nieder. Er entwarf auch eine Anthropo- und Zoogo-
nie: die ersten Lebewesen entstanden im Wasser, im
Auf der medizinischen Tradition beruhen vor allem weiteren Verlauf der Entwicklung sind sie aufs Tro-
Anatomie, Physiologie und Pflanzenkunde, auf der ckene gewandert. Der Mensch ist aus einem Fisch
naturgeschichtlichen im Wesentlichen Systematik, entstanden und diesem anfänglich ähnlich gewesen.
Ökologie, vergleichende Disziplinen und Evoluti- Er beschreibt Gesetzmäßigkeit, Notwendigkeit und
onsbiologie. Medizinische und naturgeschichtliche Unentrinnbarkeit kosmischer Gesetze.
Traditionen blieben über die Botanik verbunden. Anaximenes (Milet, um 585 bis 525 v. Chr.): Er
Die moderne Biologie hat ihren Ursprung im schließt an Anaximander an, ist aber weniger spe-
19. Jahrhundert. Ein besonders wichtiges Jahr war kulativ und pragmatischer; er versucht, Theorien
1859, in dem Charles Darwins „Origin of Species“ den Tatsachen anzupassen; er führt den Gedan-
erschien. ken der Verwandlung der Stoffe ein, was bis heute
(Masse/Energie) die Physik beschäftigt.
Pythagoras (geboren um 570 v. Chr. auf Samos,
1.1.1 Die Antike: starb in Kroton, Süditalien, um 500 v. Chr.):
Griechenland und Rom Über ihn wissen wir vor allem durch Aristote-
les. Er beschäftigte sich insbesondere mit Zahlen,
Die ionische Naturphilosophie, Zahlenverhältnissen und der Ordnung der Welt.
die Vorsokratiker Zahlen bringen die seienden Dinge zum Ausdruck.
Mit den Vorsokratikern beginnt das rationale Nach- Er beschäftigte sich mit der Beziehung von Zahlen
denken über Kosmos, Natur und Philosophie. Sie und Tönen der Musik (Harmonie der Sphären).
waren Naturphilosophen, die bestrebt waren, die Zahlen sind Wesenheiten, die sich in verschiedenen
Welt zu verstehen. Sie gingen kritisch vor und Erscheinungen äußern, und nicht nur Einheiten im
stellten sogar schon die Frage, ob die wissenschaft- engen mathematischen Sinne. Satz des Pythagoras:
lich-rationale Methodik für die empirischen Wis- Bei einem gleichschenkligen, rechtwinkligen Drei-
senschaften unerschütterliche Gewissheit bringen eck ist das Quadrat der Hypotenuse die Summe der
kann. Die ersten Vertreter dieser Naturphilosophen Quadrate der beiden anderen Seiten.
lebten in den griechischen Kolonien an der ioni- Alkmaion (Kroton, Süditalien, spätes 6. bis frü-
schen und thrakischen Küste und in Unteritalien. hes 5.  Jahrhundert): Interessierte sich für Natur,
Wichtige Vertreter sind: Physiologie, Medizin und Embryologie. Erkannte,
Thales von Milet (um 624 bis 546 v. Chr.): Thales dass das Gehirn das zentrale Organ der Wahrneh-
war ein Wegbereiter. Er beschäftigte sich mit prak- mung und Erkenntnis war.
tischer und theoretischer Mathematik, war Ingeni- Xenophanes (um 570 bis 475 v. Chr.): stammte
eur, Astronom (Vorhersage der Sonnenfinsternis aus Kolophon, Ionien, und lebte dann in Unterita-
von 585 v. Chr.) und Weiser. Aristoteles zufolge war lien.
er Urheber der naturphilosophischen Erklärungs-
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 3

Er war Erkenntnis- und Religionskritiker, ein Substanzen oder Samen, die in unendlich kleinen
aufklärerischer Geist. Der Regenbogen ist nicht Iris, Bestandteilen in allen Dingen von Anfang an vor- 1
die Götterbotin, sondern eine besondere Wolke (die handen waren. Man kann also von einer Art quali-
korrekten Verhältnisse beschrieb wohl erst Dietrich tativem Atomismus sprechen. Welche Kraft bewegt 2
von Freiberg, ca. 1240 bis ca. 1318/20). Lebewesen diese Teilchen? Anaxagoras: das Nous. Was ist das
entstehen aus einem Urschlamm, was er aus der Be- Nous? Eine Art geistiger Stoff (Materie), ein Ver-
obachtung von fossilen Schnecken und Muscheln nunftstoff. Aus dem schlammartigen Urzustand der 3
in Gebirgen und weit im Binnenland schloss. Das Erde gingen, befruchtet von aus Luft und Äther nie-
Meer ist die Quelle der Wolken, Wolken sind die derfallenden Keimen, die Lebewesen hervor. Sein 4
Quelle von Regen und Wind; wir alle sind aus Erde Schüler Diogenes von Apollonia hat über physio-
und Wasser geboren. logische Themen spekuliert und das Gehirn als Sitz
Heraklit (Ephesos, um 550 bis 480 v. Chr.): Sein des Denkens angesehen.
5
Denken wird beherrscht von der Vorstellung, dass Demokrit (470/460 v. Chr. bis 390/370 v. Chr.)
einerseits alles einem ständigen Prozess von Wer- Er wurde 90–100  Jahre alt und lebte in Abdera 6
den, Wandel und Vergehen unterliegt und dass (Thrakien). Aristoteles erwähnt einen Vorgänger
andererseits alles eins ist; alles ändert sich kontinu- und Freund Demokrits, Leukippos, der offenkun- 7
ierlich und bleibt dennoch gleich. Es gibt ein im- dig ähnliche „atomistische“ Gedanken entwickelt
manentes tragendes Prinzip. Die Welt besteht schon hatte wie Demokrit.
immer und wird in Ewigkeit bestehen. Demokrits bekannteste Leistung ist seine Lehre 8
Parmenides (Elea, Unteritalien, 540/535 bis von den Atomen. Es gibt (wie bei den Eleaten) ein
483/475 v. Chr.): Parmenides ist – neben Zeno und ewiges in allem Wechsel beharrendes Sein. Dieses 9
Melissos – der wichtigste Vertreter der „Eleaten“. Er Sein besteht aus unendlich vielen Substanzen, die
dachte über Bedingungen der Erkenntnis nach und ihrerseits aus zahllosen kleinsten mit den Sinnen
die Sicherheit von wissenschaftlichen Aussagen. Er nicht mehr wahrnehmbaren Körperchen beste-
10
war der Auffassung, dass Tatsachen vor der Theorie hen, die nicht mehr teilbar sind und daher A‑tome
gebildet werden (nicht umgekehrt) und beruft sich (Nicht-Teilbare) genannt werden. Sie sind unge- 11
auf religiöse Entrückung und Offenbarung. Er ana- worden, unvergänglich, voll und körperlich. Sie
lysiert aber Begriffe und argumentiert logisch und sind aber verschieden an Gestalt, Lage und Größe, 12
bleibt in seiner Beweisführung kritisch. Nur rein ihre Unterschiede sind also rein geometrisch. Sie
theoretische Aussagen erreichen unerschütterliche heißen auch schêmata oder ideai (Formen und Ge-
Gewissheit, empirische nicht. Er erkannte, dass die stalten). Damit sie sich bewegen können, muss es 13
Erde kugelig ist (Eratosthenes von Kyrene, 290 bis neben ihnen einen „leeren“ Raum geben. Durch ihre
214 v. Chr., bestimmte als Erster korrekt den Erd- Bewegungen entstehen die Welten, wir gehören nur 14
umfang). Mondlicht ist von der Sonne geborgtes einer von zahllosen Welten an! Aus schweren Ato-
Licht, der Abendstern ist derselbe wie der Morgen- men entstand die Erde, aus leichteren Luft, Himmel
stern. Es gibt Beziehungen zu Platon: Die wirkli- und Feuer. Er hat auch versucht, die Atom-Lehre
15
che Welt ist das ewige Sein; es gibt den Dualismus: auf die Biologie anzuwenden. Seine quantitative
Erscheinung/Wirklichkeit. Zur Wahrheit führt das Naturauffassung ist grundlegend für die moderne 16
Denken (nicht die Sinne – so auch Heraklit). Naturwissenschaft geworden. Der Atomismus ist
Anaxagoras (geb. um 500 v. Chr. in Klazome- die erste mechanistische Weltanschauung. Ein wei- 17
nai bei Smyrna (heute Izmir), gest. 429 v. Chr. in terer wichtiger Gedanke: Alles geschieht aus einem
Lampsakos in Kleinasien) lebte lange in Athen Grunde und unter dem Zwang der Notwendigkeit,
(Freund von Perikles, Euripides u. a.). Das Meiste die auch den Zufall in enge Schranken verweist. Er 18
über seine Gedanken wissen wir durch Aristoteles. sieht – wie die moderne Evolutionstheorie – ein
Er war Physiker, Mathematiker, Astronom, Chemi- Zusammenspiel von Zufall und Gesetzmäßigkei- 19
ker, wirkte als „Aufklärer“. Musste Athen wegen der ten. Dennoch spricht er den Sinneswahrnehmungen
Anklage der „Gottlosigkeit“ verlassen. Nimmt kein eine gewisse Gültigkeit zu und leugnet Erscheinun-
Entstehen und Vergehen an. Es gibt unendlich viele gen nicht.
20
4 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

maios“ bedeutsam. In diesem Werk sind seine Ge-


danken zu Kosmos und Natur niedergelegt. Platon
geht von der Einheit allen Wissens aus und erörtert
auf hohem Wissensstand Organsysteme des Kör-
pers des Menschen, z. B. Herz-Kreislauf-System
und aktiven und passiven Bewegungsapparat, den
er naturwissenschaftlich mechanistisch erklärt; das
Mechanische steht im Dienst des Lebendigen, der
Stoff richtet sich nach dem Zweck aus. Er erkennt
Wesentliches des Nervensystems: im Körper ist ein
Kettensystem seelischer Präsenz vorhanden, das
vom Gehirn ausgeht und über das Rückenmark
bis in alle Extremitäten reicht. Er sieht außerdem,
dass alle Lebewesen einen Wandel erfahren und be-
schreibt die Kunst des Züchters, der aus Wildpflan-
zen umfassend ertragreiche Kulturpflanzen schuf.
Anders als Aristoteles sieht Platon in der ganzen
Natur teleologische Kräfte am Werk. Er richtet sich
gegen die Entgöttlichung der Natur.
Von größter, bis heute andauernder Bedeutung
ist Platons Ideenlehre. Er vertritt einen eindeutigen
Universalien-Realismus, dem zufolge das Allge-
.. Abb. 1.1  Platon und Aristoteles auf einer Darstellung meine (z. B. die Begriffe Pferd, Mensch, Tisch) als
von Raffael. Platon (mit weißem Bart und den Gesichtszügen Idee vor dem individuellen Pferd, dem einzelnen
Leonardo da Vincis) weist mit der rechten Hand zum Himmel, Menschen oder dem einzelnen Tisch existiert. Bei
dem Sitz der Ideen. Aristoteles deutet auf die Erde
Aristoteles liegt das Allgemeine im einzelnen Ding
oder Tier. Den sichtbaren individuellen Phänome-
Die Großen: Platon und Aristoteles nen auf der Erde liegen seiner Auffassung zufolge
Platon (lat. Plato, . Abb. 1.1) geb. 428/427 v. Chr. also ewige immaterielle und unveränderliche Ideen
in Athen und dort 348/347 v. Chr. 80‑jährig gestor- zugrunde. Die Ideen sind etwas eigenständig Sei-
ben, Schüler des Sokrates, Reisen nach Sizilien und endes, das objektiv und unabhängig von unserer
Unteritalien sowie möglicherweise nach Ägypten, Vorstellungswelt existiert. Unsere Welt des Körper-
kennt und verarbeitet das gesamte Denken, das lichen hat ihr Sein nur in der Teilhabe an der Welt
ihm vorangeht. Gründet die „Akademie“ (benannt der Ideen. Den Einzelideen ist die Idee des Guten
nach dem Stadtheiligen von Athen, Akademos, in übergeordnet, die allem Maß, Ordnung und Einheit
dessen Hain die Akademie gebaut wurde). Die verleiht. Platon versteht unter dem Begriff „Idee“
Akademie ist Urbild der europäischen Universi- eine selbst nicht sichtbare, aber allem Sichtbaren
tät mit ihrer Einheit von Forschung und Lehre. Sie zugrunde liegende Gestalt (Höffe 2005). Die Dis-
bestand gut 900 Jahre und wurde erst von Justinian kussion über die Ideen hält bis heute an, auch Pla-
529 n. Chr. geschlossen. Platon gehört mit Aristo- ton problematisiert die Ideenlehre. Das Wesentliche
teles zu den größten Philosophen des Abendlan- erscheint unbestreitbar: das tägliche Wissen ist auf
des, seine Dialoge gehören zur Weltliteratur, die Elemente angewiesen, die man nur denken, aber
alle spätere Philosophie und die Grundlagen der nicht sehen kann (Höffe 2005).
Politik, Ethik, Erkenntnis- und Gerechtigkeitsthe- Aristoteles (. Abb. 1.1) ist einer der wichtigsten
orien u.v. a. beeinflussen. Er hat ein tiefes Verständ- Lehrer der Menschheit (Höffe 2009). Er wurde 384
nis für die Mathematik. v. Chr. in Stagira (Ostküste der Chalkidike) geboren
Für die Biologie ist er durch Systematisierung und starb 322 v. Chr. auf Euböa. Sein Vater war Arzt
des Denkens, seine Ideenlehre und den Dialog „Ti- am makedonischen Königshof. Mit 17 Jahren trat er
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 5

in Platons Akademie in Athen ein. Er war hier über seiner Begriffsbestimmungen haben die Sprache der
20 Jahre lang tätig, zuerst als Lernender, dann auch Wissenschaft geschaffen. 1
als Lehrender. Er war Schüler von Platon, sein Den- Für Aristoteles ist das Seiende das sich in den
ken entwickelte sich langsam in eine eigenständige Erscheinungen selbst entwickelnde Wesen (hier 2
Richtung, er blieb aber Platon auf sachliche Art und kann der Gedanke an das moderne Begriffspaar Ge-
Weise verbunden: Ich liebe Platon, aber noch mehr notyp/Phänotyp aufkommen). Seiendes entspringt
liebe ich die Wahrheit. Seiendem, nie Nicht-Seiendem. Im 19.  Jahrhun- 3
Im Jahre 347 v. Chr. musste Aristoteles aus po- dert n. Chr. nennt Louis Pasteur dies: omne vivum
litischen Gründen Athen verlassen und lebte zu- ex vivo. Es gibt bei Aristoteles auch Spontangenese 4
nächst unter dem Schutz des philosophisch an der (z. B. bei einfachen niederen Lebewesen), die Ma-
Akademie gebildeten Fürsten (Tyrannen) Hermias terie hat in sich Potenzen zur Veränderung. Bewe-
von Atarneus und Assos an der kleinasiatischen gung, Entwicklung und Wandel sind Schlüsselbe-
5
Küste und dann auf Lesbos, wo die enge Bezie- griffe für sein Verständnis der Welt, wörtlich: die
hung zu Theophrast, seinem wichtigsten Schüler Natur ist ein Prinzip von Bewegung und Wandel, 6
(s. u.) entstand. Um 342 v. Chr. wurde er für drei oder: die Natur schafft nichts ohne Bedeutung; ver-
Jahre Lehrer des damals 13‑jährigen Alexanders, borgene zielgerichtete Kräfte haben für ihn keine 7
des Sohns des makedonischen Königs Philipp II. wesentliche Bedeutung. Alles Erkennen (des Men-
335/334 v. Chr. kehrte er nach Athen zurück. Hier schen) beginnt mit Sinneswahrnehmung und wird
begann er seine eigene Forschungs- und Lehrtätig- durch den aktiven Geist mittels Abstraktion in eine 8
keit im Lykeion, einem öffentlichen Gymnasium, gedankliche Form gebracht. Diese Auffassung gilt
das in Form einer Wandelhalle (Peripatos) gebaut in der Naturwissenschaft weit verbreitet bis heute. 9
war. Erst Theophrast hat hier später eine eigene Ausführlich setzte er sich mit den Ursachen der
aristotelische Schule begründet, die peripatetische Dinge auseinander und bezieht auch den Zufall und
Schule genannt wurde, weil Lehrer und Schüler gern das Spontane in den Kreis möglicher Ursachen ein.
10
im Gehen Gedanken entwickelten und diskutierten. Für Biologie und Zoologie bildet sein Werk noch
Alexanders Tod im Jahre 323 bewirkte erneut einen heute wichtige Grundlagen, z. B. in den Schriften 11
politischen Umschwung in Athen, in dessen Verlauf „Über die Teile der Tiere“ und „Über die Entstehung
Aristoteles – wie zuvor Sokrates – mit einer Anklage der Tiere“. Er vertritt eine systematische Einführung 12
wegen Gottlosigkeit bedroht wurde. Er verließ da- in Klassen, Gattungen und Arten auf der Grund-
her die Stadt 322 und zog sich mit seiner Familie lage von natürlichen Merkmalen. Er entwickelt die
nach Euböa zurück, wo er noch im selben Jahr starb. Epigenesis-Lehre, d. h. in der Entwicklung entstehen 13
Aristoteles hat ein einzigartig reichhaltiges die Organe langsam nach- und nebeneinander, zu-
Werk hinterlassen. Es gibt fast nichts, vor dem sein erst entstehen Gattungs‑, dann Artmerkmale. 14
Interesse Halt machte. Seine außerordentliche in- Aristoteles unterschied einfache (niedere) von
tellektuelle Neugier richtete sich auf alle Bereiche höheren Lebewesen, den Menschen schließt er in
der Natur, des sozialen Zusammenlebens und der diesen Kreis der höheren Lebeweisen ein, in seiner
15
geistigen Welt. Er beobachtete selbst, sprach mit Schrift „Über die Seele“ behandelt er die Grund-
Fachleuten, studierte alle zur Verfügung stehende lagen der Biologie einschließlich der Humanbio- 16
Literatur vorurteilsfrei, analysierte und bildete syn- logie, seine Psychologie ist Naturwissenschaft. Er
thetische Urteile. Er bleibt immer undogmatisch untersuchte, vor allem am Huhn, die individuelle 17
und bearbeitete Logik, Dialektik, Methodik des Entwicklung vom Ei über den Embryo zum erwach-
Wissens, Naturkunde, Metaphysik, Ethik, Politik, senen Individuum. Er studierte nicht nur Anato-
Rhetorik, Gerechtigkeit u. a. Als Zoologe wurde mie und Physiologie, sondern auch Vogelzug und 18
er der wichtigste Naturforscher des Altertums, der Fischwanderungen. Ausführlich hat sich Aristoteles
viele Jahrhunderte nicht übertroffen wurde. Auch auch mit Anatomie und Verhalten des Aals beschäf- 19
Darwin sah in ihm einen der größten und besten tigt, der ein beliebter Flussfisch war. Er versuchte
Beobachter der Natur aller Zeiten. Die Logik des auch, Licht ins Dunkel der rätselhaften Fortpflan-
Aristoteles, die Sicherheit, Klarheit und Konsequenz zung des Aals zu werfen, fand aber nichts Hand-
20
6 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

festes und meinte schließlich, er entstamme dem ben 79 n. Chr. bei Betrachtung des Ausbruchs des
„Gedärm der Erde“ (was nicht zu seiner generell Vesuvs). Er stellte das Wissen seiner Zeit zusammen
vertretenen Linie „Seiendes entsteht aus Seiendem“ und brachte vor allem im Bereich der praktischen
passt). Der Kiefer- und Zahnapparat der Seeigel Landwirtschaft viele neue und dauerhaft gültige Ein-
trägt noch heute seinen Namen (Laterne des Aris- sichten. Sein Werk blieb für ca. 1500 Jahre in Europa
toteles). Er selbst war undogmatisch, pragmatisch die wichtigste Quelle für viele Naturforscher.
und flexibel und setzte sich mit anderen Auffassun- Dioskurides (1. Jh. n. Chr.) berichtete in seiner
gen immer sachlich und tolerant auseinander, leere Materia Medica über mehr als 400 Arzneipflanzen
Begriffsbestimmungen waren ihm fremd. Spätere und ihre medizinische Verwendung. Er schuf damit
Schüler und Verfechter seiner Gedanken brachten eine Phytomedizin, die teilweise bis heute aktuell ist.
meistens nicht die wissenschaftstheoretische To- Fast 1000 Jahre lang nach Dioskurides und Plinius
leranz auf, die Aristoteles kennzeichnete. Im Ge- wurde das botanische Wissen nicht wesentlich er-
gensatz zu den Naturforschern der Moderne (seit weitert. Erst Ibn Al-Baytar (ca. 1180 bis 1248) stellte
Bacon und Descartes) geht es Aristoteles nicht um ca. 1400 Pflanzen unter dem Aspekt der Heil- und
Nutzung und Beherrschung der Natur. Nahrungsmittel zusammen.
Theophrast (geboren 371 v. Chr. auf Lesbos, ge- Diese kurze Übersicht über philosophische und
storben 285 v. Chr. in Athen) war ein sehr angese- naturwissenschaftliche Vorstellungen und Theo-
hener Schüler und Freund von Aristoteles. Er folgte rien in der griechischen Antike zeigt, dass sich das
ihm in der Leitung des Lykeion und hatte zeitweilig Thema Entwicklung, also Evolution, wie ein roter
bis zu 2000 Hörer. Nach Aristoteles Tod leitete er Faden durch die Gedankenwelt der griechischen Na-
auch die peripatetische Schule. Er hat, wie Aristo- turphilosophie zieht. Unverkennbar ist die Zweck-
teles, versucht, die Möglichkeit eines Brückenschla- mäßigkeit, die uns in der belebten Natur gegen-
ges zwischen der Trennung von Gedachtem und übersteht (Vollmer 2010). Ob aber die Entwicklung
sinnlich Erfahrbarem zu erkunden. Er schuf neben zielgerichtet (teleologisch) verläuft oder nicht, ist
vielen anderen zwei wichtige botanische Werke, eine weitere, damals wie heute diskutierte Frage. Te-
„Ursachen des Pflanzenwuchses“ (ein Lehrbuch leologie bzw. teleologisches Denken geht davon aus,
der allgemeinen und angewandten Botanik) und dass Entwicklung auf ein Ziel zuläuft. Als Ziel der
„Geschichte der Pflanzen“ (Lehrbuch der Bäume, Evolution wird – auch heute noch – oft der Mensch
Sträucher, Kräuter und Arzneipflanzen) und defi- angesehen. Teleonomie ist keine Lehre, sondern eine
nierte die verschiedenen Pflanzenorgane, wie z. B. Eigenschaft; sie ist „Gen-erhaltende Zweckmäßig-
Rinde, Holz, Mark, Blatt, Blüte, Frucht und Samen keit“ auf der Basis eines evolutiv entstandenen (ge-
(z. B. angeiospermos und gymnospermos). netischen) Programmes (Vollmer 2010).

Hellenismus, Rom
Die berühmten medizinischen Schulen in Alexan- 1.1.2 Das Mittelalter
dria, wo unter anderem Herophilos und Erasistra-
tos um 300 v. Chr. lehrten, brachten zwar manche Das Mittelalter ist durch verschiedene geistige Strö-
Entdeckungen hinsichtlich der Anatomie des Men- mungen gekennzeichnet, die sich aus der griechi-
schen, aber keine weiterführenden allgemeinen schen sowie der römischen Antike, aus dem Chris-
Konzepte. Auch die Naturgeschichte der Römerzeit tentum und aus islamischer sowie auch jüdischer
kam nicht über Aristoteles hinaus. Lucretius Carus Philosophie speisen. Die daraus resultierenden
(Lukrez, 97 v. Chr. bis 55 v. Chr.), römischer Dichter unterschiedlichen Positionen führen z. T. zu hefti-
und Philosoph, entwarf in seinem Lehrgedicht „De gen Umbrüchen. Ein entscheidender Aspekt, der
rerum natura“ ein Bild von der Natur, welches erst das intellektuelle Leben vorantreibt, besteht darin,
im 19. Jahrhundert durch die Evolutionstheorie er- dass das Gesamtwerk von Aristoteles allen Interes-
setzt wurde. Die Vielfalt der Arten erklärte er durch sierten vollständig bekannt wird. Dies wird dadurch
Urzeugung. Berühmtheit erlangte Plinius (Gaius Pli- erreicht, dass lateinische Übersetzungen erarbeitet
nius Secundus, geboren 23 n. Chr. in Como, gestor- werden, die die überragende Bedeutung des Aristo-
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 7

teles ins Bewusstsein bringen. Zum Teil dienen gar Naturforschung. In seinem „Thierbuch“ finden sich
nicht altgriechische Texte, sondern aus diesen her- neben Kommentaren zu Aristoteles sieben Kapitel 1
vorgegangene arabische Übersetzungen als Vorlage. mit eigenen Beobachtungen. Seine Schilderungen
Leider kommt es im Spätmittelalter oft zu einer er- erweisen ihn als unabhängigen Geist und Forscher, 2
starrten Dogmatisierung seines Werkes, was ihn bei was sein „Thierbuch“ wohltuend abhebt von vielen
eigenständigen Denkern, die sein Werk aber nicht im zeitgenössischen Tierbüchern („Bestiarien“), in de-
Original kannten, oft in Misskredit bringt. Erst im nen oft Fabelwesen und christliche Moral wunder- 3
19. und vor allem im 20. Jahrhundert wird seine uni- sam vermischt wurden. Der Stauferkaiser Friedrich
verselle, grundlegende und philosophische Bedeu- II gründete nicht nur 1224 die Universität Neapel, 4
tung wieder erkannt. Ein weiterer wichtiger Aspekt, sondern trat generell für eine aufgeklärte naturwis-
der das mittelalterliche geistige Leben kennzeichnet, senschaftliche Lehre ein, und das gegen den Willen
ist die Gründung von Universitäten, beginnend in damaliger Päpste. Neapel war die erste europäische
5
Bologna (Gründungsdatum umstritten, da die Uni- Universität ohne Päpstliche Bulle. Friedrichs Buch
versität sich schrittweise formierte, zwischen 1088 über die Beizjagd mit Falken erweist ihn als Meister 6
und 1130), dann in vielen anderen Städten, z. B. in naturwissenschaftlichen Beobachtens.
Paris (1200), Oxford (1214), Salamanca (1218), Nea- In mancher Hinsicht sind für die spätere Theo- 7
pel (1224), Prag (1348), Wien (1365) und Heidelberg rie der Evolutionsbiologie die Philosophen Johan-
(1386). Die Universitäten entstehen in aufblühenden nes Duns Scotus (1265/66 bis 1308) und Wilhelm
Städten; ihre geistige Beweglichkeit und Neugier ruft von Ockham (1286 bis 1349) von Bedeutung. Duns 8
in unterschiedlichem Ausmaß, aber z. T. heftig, den beschäftigt sich (u. a.) mit Begriffen, die die aristo-
Widerstand der Kirche hervor, die zuvor das Ausbil- telischen Kategorien (Quantität, Qualität, Substanz 9
dungsmonopol in Kloster- und Domschulen besaß. usw.) überschreiten (transzendieren) und die so
Im gesamten Mittelalter gibt es eine Art Grund- allgemein sind, dass sie auf jedes Seiende zutreffen
schule mit einem „Bildungsprogramm“, das aus den müssen. Duns entdeckt zu den bekannten klassi-
10
sieben sogenannten freien Künsten (Artes) bestand: schen Transzendentalien (das Eine, das Gute, das
Grammatik, Rhetorik, Dialektik (umfasste weite Wahre), die disjunktiven Transzendentalien, die ent- 11
Teile der Philosophie), Arithmetik, Geometrie, Mu- weder/oder zutreffen, z. B. notwendig/nicht-notwen-
sik und Astronomie. Diese Künste standen vor allem dig, endlich/unendlich, möglich/unmöglich, verur- 12
denjenigen offen, die nicht unter Beschäftigungs- sacht/unverursacht. Wilhelm von Ockham wird zum
zwang standen, und bereiteten auf die höheren Fa- großen Denker der Kontingenz (= des Möglichen,
kultäten vor, nämlich Theologie, Recht und Medizin. aber nicht Notwendigen) und der Individualität 13
Aus dieser Aufzählung geht hervor, dass die Biologie – real ist nur das Einzelne in seiner Einmaligkeit.
im geistigen Leben der Zeit generell keine wichtige Notwendigkeit und Wahrheit gelten nicht länger 14
Rolle gespielt hat. Es gab jedoch auch Ausnahmen. als Eigenschaften der Dinge, sondern nur als solche
In Mitteleuropa führte die Mystikerin und Be- von Sätzen. Er verfasst die wohl wichtigste Logik
nediktinerin Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) des späten Mittelalters, die in England z. T. bis in die
15
einerseits die Tradition von Dioskurides fort, ande- Neuzeit gelehrt wird. Bekannt wurde in jüngerer Zeit
rerseits erweiterte sie die Kenntnis der Pflanzenwelt wieder sein Ökonomieprinzip („Ockhams Rasier- 16
erheblich und widmete sich vor allem deren medi- messer“), das freilich schon in der Antike bekannt
zinischer Nutzung. Von großer Bedeutung war der war und heute (in der Kladistik als „Parsimonieprin- 17
umfassend gebildete Gelehrte und Kirchenlehrer zip“) eine Rolle spielt: „pluralitas non est ponenda
Albertus Magnus (1193 bis 1280), der u. a. in Paris sine necessitate“ (zur Erklärung eines Sachverhaltes
lehrte und zuletzt Bischof in Köln war. Er gab wich- sind alle zur Begründung nicht notwendigen Argu- 18
tige Kommentare zu Aristoteles heraus und erörterte mente überflüssig und wegzuschneiden).
viele philosophische Fragen theologiefrei. Er vertei- Ein wichtiges Problemfeld des mittelalterlichen 19
digte die Freiheit, auch ohne Theologie über die Her- Denkens wird unter dem Begriff „Universalien-
kunft der Welt nachzudenken. Er förderte die sonst streit“ zusammengefasst. Es geht um die Frage, in
verbreitet vernachlässigte erfahrungsabhängige welcher Form allgemeine Begriffe (universalia), wie
20
8 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

z. B. Gattungsbegriffe (Vögel) oder Artbegriffe (z. B. 1135 bis 1204), der auch Arzt war und philosophi-
Mensch), zu bewerten seien und auf welche Weise schem Denken gegenüber offen blieb.
sie sich zum individuellen Vogel oder Menschen
verhalten. Diese Problematik wurde schon von Pla-
ton und Aristoteles durchdacht. Die Antworten auf 1.1.3 Renaissance
diese Fragen fallen bis heute unterschiedlich aus und Humanismus
und spielen in der heutigen Biologie z. B. eine Rolle
bei Erörterungen des Artbegriffes. Für den Uni- Die Renaissance bildet den Übergang vom Mit-
versalienrealismus kommt allein den Unversalien telalter zur Neuzeit und umfasst die Zeit von der
Existenz zu, die einzelnen Organismen oder Dinge zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts bis zum Ende
sind lediglich Ableitungen der Universalien. Für den des 16.  Jahrhunderts. Renaissance soll bedeuten:
Nominalismus existieren nur die Individuen bzw. Wiedergeburt des antiken Bildungsideals mit der
Einzeldinge, die Universalien sind lediglich Pro- Erziehung zu einem freien Menschen. Dazu gehört
dukte des menschlichen Geistes. die Lösung von übermächtigen Autoritäten wie
Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Kirche und Feudalgesellschaft. Platon wird stärker
griechischen Antike wurden im Mittelalter insbe- herausgestellt als Aristoteles. Vielfach kommt es zu
sondere durch persische und arabische Gelehrte, einer „visionären“ Weltsicht, z. B. bei dem großen
Philosophen und Ärzte bewahrt, die vor allem Aris- Gelehrten Giordano Bruno (1548 bis 1600; s. u.).
toteles kommentierten, weiterentwickelten und ei- Die Bewegung beginnt in Italien und breitet sich
gene Erfahrungen niederschrieben und die, ähnlich über ganz Europa aus. Die philosophisch-schrift-
wie auch im Abendland, oft auf die Gegnerschaft stellerischen Leistungen der Renaissance werden
der orthodoxen Theologen stießen. Humanismus genannt. Ein wichtiger, auch politisch
Ibn Sina (980 bis 1037, latinisiert: Avicenna), weitblickend denkender Vertreter ist Erasmus von
ein persischer Philosoph und Arzt, ist von über- Rotterdam (1469 bis 1536). Es beginnt die Spaltung
ragender Bedeutung in philosophischer Hinsicht. von Forschung und Wissenschaft in zwei Bereiche

-
Sein „Kanon der Medizin“ bleibt für Jahrhunderte („Kulturen“):
maßgebend. Er betont die Nichtnotwendigkeit in die Geisteswissenschaften mit Sprachfor-
(Kontingenz) der Welt, wie es auch heute viele schung, Literatur und Geschichtsforschung

-
Evolutionsbiologen tun. Im seit dem 9.  Jahrhun- und
dert unabhängigen Kalifat von Cordoba sammel- in Mathematik, Naturwissenschaften und
ten sich zahlreiche islamische Philosophen, die oft Medizin.
auch Mathematiker, Astronomen, Botaniker oder
Mediziner waren; die Bibliothek des Kalifen von Padua wird ein Zentrum emanzipierter Naturwis-
Cordoba umfasste schon im 10. Jahrhundert mehr senschaften, hier werden empirische Methoden
als 100.000 Bände. Ibn Rushd (1126 bis 1188, lati- entwickelt, hier lehrte Galilei. Die katholische Kir-
nisiert: Averroës) war der bedeutendste Denker im che widersetzt sich vielfach der Unabhängigkeit
Westen der islamischen Welt. Er war Mediziner, und Eigenständigkeit des Denkens, Forschens und
Philosoph und Jurist, der u. a. vorbildlich einen ge- Handelns. Mit Hilfe der Inquisition kann sie sich
waltigen Einfluss auch auf die damalige europäische missliebiger Denker durch Folter und Verbrennung
geistige Welt ausübte; zeitweilig fiel er wegen man- entledigen, insbesondere, wenn theologische Aussa-
gelnder Rechtgläubigkeit in Ungnade. gen angezweifelt oder geleugnet werden. Besonders
In der islamischen Welt des Mittelalters erlebt tragisch und exemplarisch ist die grausame Ver-
auch die jüdische Gelehrsamkeit einen Höhepunkt. brennung Giordano Brunos, der die Inkarnation
Isaak Israeli (ca. 850 bis 950) ist einflussreicher Me- Gottes leugnete und zudem für das neue Koperni-
diziner und schrieb u. a. das „Buch der Fieber“ und kanische Weltbild eintrat.
das „Buch vom Urin“ und das naturphilosophische Mitte des 15. Jahrhunderts hatte Johannes Gu-
„Buch der Elemente“. Über Jahrhunderte einfluss- tenberg (etwa 1397 bis 1468) mit einzelnen Buch-
reich blieb Rabbi Moses ben Maimon (Maimonides, staben aus Blei die Grundlage für den Buchdruck
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 9

.. Abb. 1.2a, b  Illustration aus der


„Historia animalium“. a „Wallfisch“ mit 1
„Meerschweinen“, b „Wallfisch“ beim
„Unterdrücken eines Schiffes“, das er
durch seine „Röhren“ (Nasenöffnungen) 2
mit Wasser füllt. Aus Conrad Gesner
(Ausgabe von 1670)
3
4
5
6
7
8
9
geschaffen. Bis zum Jahre 1500 waren in verschiede- reiche Illustrationen hinzufügte. Sein Nashorn bei-
nen Ländern Druckereien entstanden; die ars con- spielsweise stammte von Albrecht Dürer. . Abb. 1.2
10
servatrix, die Kunst des Bewahrens war entstanden. zeigt, wie man sich damals Wale vorstellte.
Dadurch bekam auch der innovative Geist Flügel. Ein anderes großes zoologisches Werk der Re- 11
Nikolaus Kopernikus (1473 bis 1543) schuf das naissance wurde von dem Bologneser Ulisse Aldro-
Werk „De revolutionibus orbium coelestium“, welches vandi (1522 bis 1605) verfasst. Pierre Belon, gebo- 12
er, um nicht in den Ruf eines Ketzers zu geraten, dem ren 1517 und ermordet von Straßenräubern 1564,
amtierenden Papst widmete. Seine Kernaussage, das bemühte sich um eine Systematik der Tiere, die auf
heliozentrische Weltbild, rief jedoch Unmut hervor, äußeren und inneren anatomischen und funktio- 13
selbst bei Luther und Melanchthon (s. auch Galilei, nellen Merkmalen beruhte. Bei ihm finden sich An-
Kepler; s. Abschn. 1.1.4). Das erste gedruckte Exem- fänge der vergleichenden Anatomie. Seine „Histoire 14
plar seines Werkes wurde Kopernikus auf seinem des oiseaux“ ist wegen der sorgfältigen Beobachtun-
Sterbebett überreicht – mit gefälschtem Vorwort. gen und Vergleiche von großer Bedeutung in der
Georgius Agricola (Georg Bauer; 1494 bis 1555) vergleichenden Anatomie geworden.
15
war ein Mann der Praxis. Er wirkte an verschiede- Auch die Botanik erlebte in der Renaissance
nen Orten in Sachsen, u. a. als Bürgermeister von eine deutliche Weiterentwicklung. Bedeutende Bo- 16
Chemnitz, und gilt als der Begründer der Geologie taniker waren Otto Brunfels (1488 bis 1534), Hie-
in Deutschland. Von ihm stammt der Begriff Fos- ronymus Bock (1498 bis 1554) und Leonhart Fuchs 17
silien, und er hat der Erde in unserem Sprachraum (1501 bis 1566; . Abb. 1.3a), die auch als die „Deut-
eine Geschichte gegeben. schen Väter der Pflanzenkunde“ bezeichnet werden.
Ein bedeutender Zoologe der Renaissance war Sie schufen reich bebilderte „Kreuterbücher“, die 18
der Züricher Arzt, Philologe und Bibliograph Con- eine Identifizierung vieler Arten erlaubten. In den
rad Gesner (1516 bis 1565), der neben vielen ande- pharmazeutischen Anwendungsbeschreibungen 19
ren Werken eine „Historia animalium“ schrieb, das beziehen sie sich noch weitgehend auf Dioskurides,
umfangreichste und bedeutendste Werk seiner Zeit Galen und Hippokrates. Fuchs stammte aus der
über Tiere. Neu war, dass Gesner den Texten zahl- Gegend von Nördlingen und war hochangesehener
20
10 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.3 a, b  a Leon-
hart Fuchs, Portrait aus dem
Jahre 1541, b Fuchsia

Professor der medizinischen Fakultät der Universi- entstand im Wesentlichen aufgrund seiner Tätigkeit
tät Ingolstadt, die er aber als Lutheraner bald wieder in Padua und wurde 1543 in Basel gedruckt. Nach
verlassen musste. Er wirkte bis zum Ende seines Le- der Veröffentlichung dieses großartigen Werkes
bens in Tübingen; nach ihm ist die Gattung Fuchsia wurde er Arzt am Hofe Karls V. und später Philipps
benannt (. Abb. 1.3b). II. in Madrid, dessen schwieriger Charakter der An-
Schon in dieser Zeit ist eine Gruppierung der lass war, wieder nach Norditalien zurückzukehren.
Pflanzen nach gemeinsamen Merkmalen zu finden, Vesalius betonte, dass dem männlichen Körper keine
die z. T. einigen der heutigen Familien entsprechen, Rippe fehlt; eine sollte der Bibel zufolge bekanntlich
wie z. B. Gräser, Liliaceen, Orchideen, Umbelliferen, zur Erschaffung Evas entnommen worden sein.
Labiaten, Compositen und manchen anderen. Die Einen besonders bedeutenden Platz nahm die
Anfänge der Pflanzensystematik sind insbesondere Erforschung des Herz-Kreislauf-Systems ein, des-
mit Botanikern wie Andrea Cesalpino (1519 bis sen funktionelle und strukturelle Prinzipien William
1603), Caspar Bauhin (1560 bis 1624), der erstmals Harvey (1578 bis 1657) aufdeckte. Dies erfolgte mit
Gattung und Art unterschied, und Joachim Jungius rein wissenschaftlicher Methodik: Beobachtung, Ex-
(1587 bis 1657) verbunden. Berühmt ist der „Pinax periment und quantitativen Berechnungen. Harvey
theatri botanici“ von Bauhin, in dem bereits 6000 Ar- arbeitete auch intensiv über die Embryonalentwick-
ten genannt werden. Viele der verwendeten Gat- lung von Tieren.
tungsnamen werden später von Linné übernommen.
Auch die Anatomie entwickelte sich in der Re-
naissance besonders rasch. Zu den Pionieren ge- 1.1.4 Aufbruch in die moderne
hörten u. a. Leonardo da Vinci (1452 bis 1519) und Wissenschaft,
Jacob Sylvius (1478 bis 1555). Zu den vielen großen Rationalismus, Empirismus,
Anatomen (Falloppio, Fabrizio, Eustachio, Varolio Aufklärung
u.v. a.) gehörte auch Andreas Vesalius (geboren 1514
in Brüssel, verschollen 1564 während einer Pilger- Mit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert be-
reise nach Jerusalem), der Vater der modernen Ana- ginnt Zeitalter großer naturwissenschaftlicher
tomie; sein Hauptwerk „De humani corporis fabrica“ Entdeckungen. Philosophen, Forscher, Juristen,
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 11

Mathematiker und z. T. Politiker suchen in Zeiten zungen mit der katholischen Kirche, die ihn schließ-
allgemeiner Unsicherheit, verkrusteter Universitä- lich vor das Inquisitionsgericht brachte. Kern des 1
ten und endloser Kriege auf der Suche nach Wahr- Disputes war die Bewertung von geo- und heliozen-
heit einen festen Grund, dieser kann überwiegend trischem Weltbild. In den Augen der Kirche sollte 2
im Bereich der Vernunft bzw. des Verstandes (latei- die Erde – bibelkonform – im Mittelpunkt des Ge-
nisch: ratio) oder im Bereich der Erfahrung (grie- schehens stehen (geozentrisches Weltbild), nicht die
chisch: empeiria) gesucht werden, wobei es breite Sonne, um die verschiedene Planeten, u. a. die Erde, 3
Überlappungen gibt. Der Rationalismus will die ihre Bahn ziehen (heliozentrisches Weltbild). Unter
Wirklichkeit aus Prinzipien des Denkens, der Ma- Androhung von Folter verlas Galilei schließlich sei- 4
thematik und dem methodischen Beobachten er- nen Widerruf und unterzeichnete ihn. 1992 wurde
kennen, ein großes Beispiel ist Isaak Newton (1643 er offiziell von der katholischen Kirche rehabilitiert.
bis 1727). Für den Empirismus ist die Sinneserfah- Johannes Kepler (1571 bis 1630) veröffentlichte
5
rung die Grundlage der Erkenntnis. – während des 30jährigen Krieges! – grundlegende
Der englische Lordkanzler und Jurist Francis Berechnungen unseres Sonnensystems. Er beschrieb 6
Bacon (1561 bis 1626) ist der Visionär der Wis- die elliptische Bahn der Planeten – von Kopernikus
senschaft der neuen Zeit. Er entwirft das Bild einer war sie als kreisförmig angesehen worden. Krö- 7
Wissenschaft als Forschung, was zu einer Revolu- nung seiner astronomischen Studien war das Werk
tion der Wissenschaft führt. Ein wichtiges Werk ist „Harmonices mundi“, ein Foliant von 400 Seiten, in
das „Novum Organum“ (neues Werkzeug, 1620). dem er die „Harmonie der Sphären“ mathematisch 8
Die Wissenschaft lässt sich auf das Wagnis gren- bewies. Kepler erlebte es als Trost am Ende seines
zenloser Wissbegier ein. Bacon schafft die gedank- schweren Lebens, „nicht verbrannt zu werden“. 9
liche Begründung moderner Naturwissenschaft John Ray (1627 bis 1705), der sich als Zoologe
mit nachvollziehbaren Experimenten und „ge- und Botaniker betätigte, systematisierte in seinem
richtsfesten Beweisen“ (lawful evidence). Neu ist „Methodus plantarum“ die Artbeschreibung, unter-
10
weiterhin, dass Bacon es als die Pflicht der Wissen- schied bereits Genera und Familien und ebnete so
schaft ansieht, dem Wohl der Menschheit zu die- den Weg für Linné. Als weitere Wegbereiter Linnés 11
nen. Er spricht in seinem Roman „Neu-Atlantis“ sind Joseph Pitton de Tournefort (1656 bis 1708),
(1627) von einer letztlich ruhelosen Republik der Pier Antonio Micheli (1679 bis 1731) und Johann 12
Forscher, die Abhilfe gegen Hunger, Krankheit und Jacob Dillenius (1687 bis 1747) zu nennen; letztere
Unwetter suchen. Er starb im Laufe des einzigen behandelten vor allem niedere Pflanzen (Algen,
von ihm selbst durchgeführten Experiments. Bei Pilze, Flechten, Moose). 13
der Prüfung der Frage, ob sich die Haltbarkeit von Maria Sibylla Merian (1647 bis 1717) aus Frank-
geschlachteten Hühnern durch Ausstopfen mit furt am Main widmete sich der Metamorphose von 14
Schnee verlängern ließe, zog er sich eine tödliche Schmetterlingen – in einer Zeit, als viele Zeitgenos-
Lungenentzündung zu. sen glaubten, Raupen entstünden im Schlamm.
Galileo Galilei (1564 bis 1642) wird als Jahrhun- Von großer Wichtigkeit für die Entwicklung
15
dert-Genie angesehen. Fast zwei Jahrzehnte war er der Biologie war die Erfindung neuer technischer
Professor der Mathematik in Padua und wurde zu Geräte, die den Erfahrungsraum vergrößerten. 16
einem Schöpfer der modernen Physik und Astro- Hierzu gehört die Entwicklung des Mikroskops,
nomie. Er verhielt sich bei seinen Forschungen im mit dessen Hilfe die Erforschung biologischer Sys- 17
Prinzip wie ein moderner Naturwissenschaftler. Mit teme wesentliche Fortschritte erzielte. Die ersten
seinem selbst gebauten Fernrohr erkundete er die guten Instrumente baute Antoni van Leeuwenhoek
Mondoberfläche und erkannte, dass die Milchstraße (1632 bis 1723), ein Textilhändler und Autodidakt 18
eine riesige Ansammlung von Sternen ist. Sein Werk in Delft. Marcello Malpighi (1628 bis 1694) aus
„Sidereus Nuncius“ (Sternenbote), 1610 in Venedig Bologna benutzte das Mikroskop als Arbeitsinst- 19
publiziert, wird als das einflussreichste Astronomie- rument und begründete damit die Mikroskopische
Buch der Geschichte angesehen. Besonders bekannt Anatomie der Tiere und der Pflanzen. Er machte
wurde er durch seine mehrjährigen Auseinanderset- zahlreiche Entdeckungen, und noch heute tragen
20
12 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

lium“. Es ist der schwedischen Königin Christine,


deren Arzt er zeitweilig war, gewidmet. Nicolaus
Steno (Niels Stensen, 1638 bis 1686), ein vielseitiger
dänischer Arzt, Anatom sowie Naturforscher und,
nach Konversion, auch hoher katholischer Wür-
denträger, legte u. a. den Grundstein zur modernen
Paläontologie und entwickelte klare Vorstellungen
zur Entstehung von Landschaften.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es ins-
besondere nach dem 14. Jahrhundert einen enor-
men Wissenszuwachs gab und dass sich das Denken
der Menschen grundlegend änderte. Während man
vorher Gewissheit durch Glauben erhalten hatte,
trat jetzt das selbständige Denken verstärkt in den
Vordergrund. Insgesamt stieg nun der Wert der Er-
fahrung.

1.1.5 Systematische Biologie

Im 18. Jahrhundert gab es ernsthafte Bemühungen,


die Vielfalt zu ordnen und eine Systematik der Tier-
und Pflanzenwelt zu erarbeiten. Eine dominante
.. Abb. 1.4  Ausschnitt aus der Titelseite der Bibel der Natur Position nahm in dieser Hinsicht der Schwede Carl
von 1752 (Übersetzung ins Deutsche, einschließlich des
von Linné ein.
Autorenamens Jan Swammerdam)
Carl Linnaeus (. Abb. 1.5a), wurde 1707 in
manche Strukturen seinen Namen, z. B. die Mal- Råshult (Südschweden) geboren und starb 1778 in
pighischen Körperchen der Niere und die Malpi- Uppsala. Wegen seiner wissenschaftlichen und me-
ghischen Gefäße am Darm der Insekten. Andere dizinischen Verdienste wurde er geadelt, daher hieß
große niederländische Forscher auf mikroskopi- er ab 1762 Carl von Linné. Sein primäres Interesse
schem Gebiet waren Jan Swammerdam (1637 bis galt der Botanik, mit der er sich, wie schon sein Va-
1680) und Reinier de Graaf (1641 bis 1673). Von Jan ter, von Kindheit an beschäftigte. Mit ungewöhn-
Swammerdam stammt auch die Bibel der Natur, die licher Beobachtungsgabe sah er Gemeinsamkeiten
ins Deutsche übersetzt wurde und deren Titelblatt und Unterschiede zwischen den Pflanzen seiner
(. Abb. 1.4) die Einstellung vieler damaliger For- Heimat. Relativ früh schuf er sein epochales Werk
scher widerspiegelt. „Systema naturae“ (1. Auflage 1735), das in Leiden
Im 17. Jahrhundert kam es zu immer neuen Ent- gedruckt wurde und zu seinen Lebzeiten zwölf Auf-
deckungen auf dem Gebiet der Anatomie. Thomas lagen erlebte. Die 10. Auflage (1758) etablierte die
Bartholin (geboren 1616 in Kopenhagen, gestorben binäre Nomenklatur (s. u.), und diese wird heute als
daselbst 1680) entdeckte z. B. das Lymphgefäßsys- Ausgangspunkt aller zoologischen Nomenklatur he-
tem und noch heute seinen Namen tragende Drü- rangezogen. Bereits 1753 hatte er die binäre Nomen-
sen an der äußeren Geschlechtsöffnung der Frau; klatur für die Pflanzenarten in seinem Werk „Species
Francis Glisson (1597 bis 1677) verfasste in Cam- plantarum“ eingeführt. In der „Systema naturae“ ist
bridge die erste Monographie über die Leber. das System der Pflanzen und Tiere in einer z. T. noch
Giovanni Alfonso Borelli aus Neapel (1608 bis heute brauchbaren Weise dargestellt. Linnaeus war
1679) hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Phä- kein radikaler Eiferer und Neuerer. Für ihn war die
nomene des Lebens mechanistisch zu erklären. Sein Natur von Gott geschaffen. Seine Vorstellung von
bekanntestes Werk trägt den Titel „De motu anima- Gott war eher allgemein, romantisch oder panthe-
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 13

1
2
3
4
5
6
.. Abb. 1.5 a–c a Carl von Linné, Gemälde von G. Lundberg, b Linnaea borealis und die „Hamburger Hydra“, c Rattus norvegi-
cus. Photo Reinhard 7
istisch. Besondere Förderung seiner Talente fand er Tiere und Pflanzen werden dann in Klassen, diese in
schon früh in Holland, z. B. durch den großen Na- Ordnungen und diese in Gattungen gegliedert. Die 8
turforscher Hermann Boerhaave. Linné bemühte Gattungen (Genera, Singular: Genus) gliedern sich
sich immer um ein natürliches System, in dem die in Arten (Spezies). 9
„drei Reiche der Natur“ (Tiere, Pflanzen, Minera- Weiterhin schuf Linné die technischen Regeln,
lien), eingeteilt in Klassen, Ordnungen, Gattungen wie die Nomenklatur, die Beschreibung, die Kenn-
und Arten, dargestellt wurden. Von Ray übernahm zeichnung der Arten, Gattungen usw. zu handhaben
10
er zunächst die Auffassung, dass die Arten zu Beginn sei. Auch für Synonyme erstellte er Regeln. Sein auf
der Schöpfung erschaffen wurden und unveränder- sorgfältiger Beobachtung beruhendes Gespür für 11
liche Einheiten darstellen. Dieses Konzept änderte natürliche Gruppierungen wird auch dadurch be-
er aber langsam. Bald musste er erkennen, dass die legt, dass viele Pflanzengruppen, die er als natür- 12
Grenzen zwischen den Arten manchmal unscharf lich bezeichnete, noch heute als gültige Gruppen
sind und dass es Hybriden gibt. Er erwog daher, dass angesehen werden. Bei den Tieren stellte er u. a. die
sich nach anfänglicher Schöpfung weniger Arten aus Gruppe der Mammalia auf und ordnete diesen als 13
diesen neue Arten entwickelt haben könnten. In der erster die Wale und auch den Menschen zu. Den
letzten Auflage seines Werkes „Systema naturae“ Menschen stellte er – sogar – in die Ordnung „Pri- 14
strich er den Satz, dass keine neuen Arten entstün- mates“. Erwähnenswert ist jedoch auch die Gruppe
den. Der große Erfolg seines Werks beruhte darauf, „Paradoxa“ mit Einhorn, Drachen und Satyr, an-
dass er 1753 die binäre (binominale) Nomenklatur geführt von der Hamburger Hydra (. Abb. 1.5b).
15
in sein Werk einführte und ihr damit zum Durch- Diese war ein Schmuckstück des Hamburgischen
bruch verhalf. Jede Art wurde mit zwei Namen ge- Naturalienkabinetts und wurde in der Hansestadt 16
kennzeichnet, z. B. Linnaea borealis (. Abb. 1.5b). als „echt“ angesehen. Als der 28‑jährige Linnaeus
Der erste Name ist der Gattungsname, der zweite das das hoch beliehene Schauobjekt als Fälschung iden- 17
Epitheton; beide zusammen ergeben den Artnamen. tifizierte, musste er umgehend die Stadt verlassen,
Eine der vielen wissenschaftlichen Bezeichnungen, um einer Anzeige zu entgehen.
die auf Linné zurückgehen, ist Rattus norvegicus für Linné ist sicher einer der ganz Großen in der 18
die Wanderratte (. Abb. 1.5c). Das Epitheton wählte Geschichte der Biologie. Er selbst hielt sich für den
er wegen seiner ausgeprägten Abneigung gegen größten Botaniker und Zoologen aller Zeiten und 19
Norwegen. Insgesamt sieht Linnés System folgen- schätzte seine Klassifikation als den größten Fort-
dermaßen aus: die gesamte natürliche Welt wird in schritt der Wissenschaft. Auf seinem Grabstein
drei Reiche gegliedert: Tiere, Pflanzen, Mineralien. wollte er die Inschrift Princeps Botanicorum haben.
20
14 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

1.1.6 Die Evolutionsvorstellung was angesichts der Tatsache, dass es sich bei den
entsteht Forschern dieser und auch früherer Zeiten um die
geistige Elite handelte, stets eine gewisse Warnung
Ein großer Biologe des 18. Jahrhunderts war Geor- in Hinsicht auf aktuelle Konzepte in der Biologie
ges Louis Leclerc de Buffon, der im selben Jahr wie sein sollte.
Linnaeus, 1707, in Montbard, Burgund geboren Caspar Friedrich Wolff (1734 bis 1794) gab der
wurde und 1788 starb. Sein Hauptwerk war die viel- Embryologie viele neue Impulse; seine Theorien,
bändige „Histoire naturelle générale et particulière“ vielfach Produkte einer lebhaften Vorstellungs-
Angeregt durch die großen Entdeckungen der Phy- kraft, wurden später immer wieder aufgegriffen. Er
sik und Mathematik (Newton, Leibniz) suchte er führt erneut die im Prinzip von Aristoteles vertre-
nach Gesetzmäßigkeiten auch in der Biologie. Dabei tene Lehre von der Epigenese ein, die besagt, dass
versuchte er biologische Phänomene in das Gesamt- sich ein Lebewesen im Laufe seiner Embryonalent-
bild aller Naturwissenschaften einzubauen. Mit die- wicklung langsam aus einfachen Vorstufen entwi-
ser Vision ist er auch heute noch modern. Er durch- ckelt und über Zwischenstufen vervollkommnet.
schaute Vereinfachungen und Naivitäten in den Das Konzept der Epigenese steht im Gegensatz zur
Schriften Linnés und nahm auch gegen Schwach- Theorie der Präformation, die auf Mikroskopiker
punkte in dessen System Stellung. Buffon deutete wie Malpighi, Leeuwenhoek und Swammerdam
schon an, dass sich Gruppen ähnlicher Arten durch zurückgeht und der zufolge bereits in Ei oder Sper-
Mischung, allmähliche Variation und „Entartung“ mium alle Strukturen des fertigen Organismus in
der ursprünglichen Arten gebildet haben könnten. Miniaturform vorhanden sind und sich lediglich
Alle Tiere, so meinte er, könnten „von einem ein- entfalten.
zigen hergekommen“ sein. In seiner Schrift „Epo- Ausgehend von Linné versuchten die Botaniker
ques de la nature“ erkannte er eine Abfolge von ver- in der Folgezeit, das natürliche System der Pflanzen
schiedenen Epochen und beschrieb Veränderungen zu vertiefen und zu erweitern. Wichtige Forscher
und Klimawechsel im Laufe der Erdgeschichte. Er sind in diesem Zusammenhang Antoine Laurent
brach auch mit dem Dogma, dass die Erde erst vor de Jussieu (1748 bis 1836, „Genera plantarum“
ca. 6000 Jahren geschaffen sei und erkannte ihr viel mit 1754  Gattungen in 100  Ordnungen), Joseph
höheres Alter; Angriffe der Kirche parierte er ele- Gärtner (1732 bis 1791, „De fructibus et seminibus
gant. Obwohl er wusste, dass der allgemeine Kennt- plantarum“, 1275 Gattungen), Robert Brown (1773
nisstand seiner Zeit nicht ausreichte, unangreifbare bis 1858) und Augustin Pyramus de Candolle (1778
allgemeine biologische Konzepte aufzustellen, ent- bis 1841, „Théorie élémentaire de la Botanique“ und
wickelte er eine einflussreiche Organismustheorie, „Prodromus systematis naturalis regni vegetabilis“).
die gegen die Präformationstheorie (s. u.) gerichtet Alphonse de Candolle hat das Werk seines Vaters
war und noch Darwin anregte. Sein Mitarbeiter war mit 17 Bänden abgeschlossen, in denen 5100 Gat-
übrigens Louis Daubenton (1716 bis 1800), der die tungen und über 59000  Arten beschrieben sind.
vergleichende Anatomie maßgeblich förderte und Nachdem Candolle die Dicotyledonen bearbeitet
nach dem das Fingertier (Daubentonia) Madagas- hatte, wurde das gesamte Pflanzenreich erstmals
kars benannt wurde. Buffons Gedanken regten u. a. seit Jussieu durch Stephan Endlicher (1805 bis 1849,
Cuvier, Bichat und Lamarck an. „Genera plantarum secundum ordines naturales dis-
Viele andere große Naturwissenschaftler des posita“) bearbeitet. Sein Werk blieb jahrzehntelang
18.  Jahrhunderts entwickelten einzelne Gebiete die Basis der Botanik. Zu den wichtigen Wissen-
weiter und kamen auf experimentellem Weg zu schaftlern, die neue Wege in der Botanik bahnten,
neuen Einsichten, z. B. in der Anatomie, Physio- gehören auch Jean Baptiste de Lamarck, der eine
logie und Entwicklungsgeschichte (Albrecht von Regionalflora nach der Idee der Stufenleiter auf-
Haller, Charles Bonnet, Lazzaro Spallanzani u.v. a.). stellte, sowie Friedrich Wilhelm Hofmeister (1824
Bei der gedanklichen Interpretation der beobach- bis 1877), der den Generationswechsel der Pflanzen
teten Phänomene überrascht aber immer wieder entdeckte und die Grundlagen für deren Phylogenie
das Ausmaß an z. T. spekulativen Interpretationen, schuf.
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 15

Wichtig für die Entwicklung der Biologie war, deutschen Universitäten gelehrt wurde. Als Arzt
dass sich im 18. Jahrhundert die vergleichende Ana- ging er davon aus, dass der Organismus kein ein- 1
tomie in schnellen Schritten entwickelte, dann im facher Mechanismus ist, sondern eine Mixtio, ein
19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte und für Chemismus, der von der Seele zusammengehalten 2
die Evolutionstheorie eine zentrale Rolle spielte. In wird (Animismus). Auch der große niederländische
jedem Fall waren ihre Ergebnisse eine Herausforde- Naturforscher und Arzt Hermann Boerhaave (1668
rung für Erklärungsversuche der gefundenen Über- bis 1738) befasst sich mit den Beziehungen von Kör- 3
einstimmungen und Verschiedenheiten. per und Seele und grenzt die beiden gedanklich klar
gegeneinander ab. Seine Studien der Organfunktio- 4
nen gehen von einem mechanistischen Grundkon-
1.1.7 Das Zeitalter der Aufklärung zept aus, Denken und Fühlen hingegen gehören in
den Bereich der Seele.
5
Die Zeit des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhun- Im 18. Jahrhundert findet man in verschiedenen
derts wird auch Zeitalter der Aufklärung genannt. Schriften verschiedener Autoren immer wieder Ge- 6
Sie erlebte fundamentale soziale und politische danken über Entwicklung und „Transmutationen“,
Veränderungen, deren sichtbarster Ausdruck die also Evolution der Organismen, so z. B. bei Johann 7
Französische Revolution 1789 war. In der Philoso- Gottfried Herder (1744 bis 1803), der von Einheit
phie gab es ganz unterschiedliche, z. T. rein mate- der Natur und kontinuierlicher Entwicklung der
rialistische, z. T. romantisch-spirituelle Strömun- Organismen nach Gesetzen der Natur spricht. 8
gen. Weiterführend war die kritische Philosophie Eine wichtige Stellung in der Entwicklung der
Immanuel Kants (1724 bis 1804). Er versuchte, die Biologie nahm Johann Wolfgang von Goethe (1749 9
Bedingungen zu bestimmen, unter denen Wissen bis 1832) ein. Seine Ideen zur Metamorphose der
und Erkenntnis möglich seien und welche Grund- Pflanzen und Tiere und zum Typus („Bauplan“)
lagen Moral und Religion haben („Was kann ich gelten zum Teil noch heute, ebenso wie die For-
10
wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“). mulierung des wichtigsten Homologiekriteriums
Seine kritische Philosophie verhalf auch der Natur- (s. Abschn. 1.2.3). Er entdeckte in der Vielfalt der 11
wissenschaft zu klareren gedanklichen Grundlagen. Arten einheitliche Prinzipien, betrieb ausgedehnte
Die Biologie beschränkte sich künftig auf die Er- vergleichende Studien und sah, was seit Darwin 12
forschung der materiellen Phänomene des Körpers. als Gemeinsamkeiten aufgrund gemeinsamer Ab-
Die Erforschung der Seele wurde Gegenstand der stammung interpretiert wird. Darwin nannte Goe-
Psychologie, die mit anderen Methoden arbeitete. the einen Partisanen für die Idee der Evolution. 13
Dies war ein gewaltiger Fortschritt. Dass diese me- Bekannt ist sein Nachweis des Os intermaxillare
thodische Trennung auch von Anfang an zu Wider- (Zwischenkiefer, trägt die oberen Schneidezähne) 14
spruch reizte und dass auch heute z. T. die seelischen beim Menschen, wenngleich es sich auch nicht um
und moralischen Äußerungen des Menschen ernst- den Erstnachweis handelte. Das angebliche Fehlen
haft auf rein materielle Bedingungen zurückgeführt dieses Knochens sollte bis dahin die einzigartige
15
werden, ist eine Entwicklung, die ihr Eigengewicht Stellung des Menschen belegen. Goethe formulierte,
erst durch Kants Philosophie erhält. Er ließ sich the- dass Tier und Mensch verwandt seien und sah im 16
oretisch sogar auf den Gedanken einer Evolution Tier- und Pflanzenreich Kontinuität. Er prägte zu-
der Organismen ein. dem den Begriff Morphologie und er hatte darüber 17
Weit verbreitet finden sich im 18. Jahrhundert hinaus einen großen, anregenden Einfluss auf die
zwei verschiedene Auffassungen vom Leben, eine physiologische und anatomische Forschung des
rein mechanistische und eine vitalistische, letztere 19. Jahrhunderts (z. B. Johannes Müller, Jan Evan- 18
wurde von Stahl und seinen Schülern vertreten. gelista Purkinje und Ernst Haeckel).
Georg Ernst Stahl (1660 bis 1734) war Arzt und Auch für Geologie einschließlich der fossilen 19
Chemiker und trug viel dazu bei, dass die Chemie Überlieferungen und für Mineralogie entwickelte
über das Niveau der Alchemie hinauskam, die am Goethe schon früh eine besondere Begeisterung.
Ende des 17. Jahrhunderts noch weit verbreitet an Er hinterließ eine wohlgeordnete Sammlung mit
20
16 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.6a, b  Zwei große franzö-


sische Forscher: a Jean Baptiste de
Lamarck, b Georges Cuvier

fast 20.000 Stücken und gab vielfältige Anregun- nach Lateinamerika und der Abfassung einer uni-
gen. Geologie und Mineralogie waren zu Goethes versellen Kosmogonie, die geistig im 18. Jahrhun-
Zeit geradezu „in Mode“. In der Interpretation der dert verwurzelt war und Fragment blieb.
Fossilien gab es jedoch erhebliche Unterschiede. Während Anfang des 19. Jahrhunderts beson-
Der französische Aufklärer Voltaire (1694 bis 1778) ders in Deutschland die romantische Naturphiloso-
leugnete, um die Überlieferung einer Sintflut zu phie sehr einflussreich wurde (Lorenz Oken, Albert
entkräften, die Existenz versteinerter Muscheln. Er Steffens, J.W. Richter), spielte sie in England und
ließ diese nur als „Spiele der Natur“ gelten. Goe- Frankreich nur eine untergeordnete Rolle. In Frank-
the dagegen „wollte sich nicht ausreden lassen, dass reich traten in den Jahrzehnten vor und nach 1800
das Rheintal eine unübersehliche Bucht gewesen eine ganze Reihe bedeutender Biologen auf, darun-
sei“. Fossile Schnecken, Ammoniten und andere ter vergleichende Anatomen wie Felix Vicq d’Azyr,
repräsentierten für Goethe „abgetrockneten Mee- Etienne Geoffroy Saint-Hilaire und Georges Cuvier.
resgrund“. Im fünften vorchristlichen Jahrhundert Besonders hervorzuheben ist Jean Baptiste de
hatten sich in der griechischen Antike Xenophanes Lamarck (1744 bis 1829, . Abb. 1.6a). Sein Leben
und Herodot ähnlich geäußert. Sie alle sollten Recht war ständig überschattet von finanziellen und per-
bekommen. sönlichen Sorgen, lange Jahre lebte er als armer Li-
Alexander von Humboldt (1769 bis 1859) leis- terat im Quartier Latin. Er war viermal verheiratet;
tete zahlreiche wissenschaftliche Beiträge zur mo- jedes Mal starb seine Ehefrau, ebenso wie die meis-
dernen Biologie. Den wichtigsten Beitrag stellen ten seiner Kinder. Er arbeitete auf vielen Gebieten
seine Forschungen zur Pflanzengeographie dar. der Naturkunde, Botanik, Meteorologie, Geologie
Er erkannte den Einfluss der Höhenstufen auf die und Zoologie und verfasste mehrere große Werke,
Pflanzenmorphologie und unterschied 16 land- darunter die „Philosophie zoologique“ (1809) und
schaftscharakterisierende Pflanzentypen (z. B. den die „Histoire naturelle des animaux sans vertèbres“
Kaktus-Typ, den Heide-Typ und den Fichten-Typ). (1815 bis 1822). Lamarck erkannte die Existenz der
Er lieferte damit fundiertes Material für die Analo- Evolution und wurde auch dem jungen Darwin be-
gienforschung. Er reiste auf eigene Kosten fünf Jahre kannt (s. u.). Die Lebewesen ordnete er anfänglich
mit dem Botaniker Aimé Jacques Bonpland durch in einer Reihe an, beginnend mit den einfachsten
Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Mexiko und und endend mit den höchst entwickelten, den Säu-
Kuba und machte hier zahlreiche geologische, geo- getieren. In seinen reiferen Werken erkannte er
graphische, botanische und zoologische Entdeckun- zunehmend die Beziehungen zwischen den ein-
gen. Seine letzten Lebensjahrzehnte verbrachte er zelnen Tiergruppen. Seiner Systematik lag vielfach
mit der Beschreibung der Ergebnisse seiner Reise der Ausbildungsgrad wichtiger Organsysteme zu-
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 17

grunde. Die Höherentwicklung ist korreliert mit zu- Saint-Hilaire, harte wissenschaftliche Auseinander-
nehmender Komplexität der Organe. Zudem stellte setzungen führte. Cuvier wurde in Montbéliard (sei- 1
er fest, dass die Lebensweise Gestalt, Komplexität nerzeit Mömpelgard genannt und zu Württemberg
und spezifische Struktur der Organe und Tiere be- gehörend) geboren. Er war ein brillanter, unermüdli- 2
stimmt – nicht umgekehrt. Maulwürfe haben ihre cher Geist mit außerordentlichen organisatorischen
Augen verloren wegen ihrer vor vielen Generatio- Fähigkeiten. Er war daher auch in verschiedenen
nen aufgenommenen unterirdischen Lebensweise, einflussreichen Ämtern für den französischen Staat 3
Ameisenbären haben ihre Zähne verloren, weil sie tätig, z. B. als Generalinspekteur für Erziehung unter
die Nahrung im Ganzen herunterschluckten usw. Napoleon und als Minister für die Angelegenheiten 4
Lamarck spekulierte weiterhin, dass, wenn man der Protestanten. Napoleon schätzte ihn außeror-
Kindern nach der Geburt ein Auge entfernen würde dentlich. Unter seiner Führung wurde das Erzie-
und wenn man solchen Kindern erlauben würde, hungswesen gründlich reformiert und es wurden so-
5
miteinander Nachkommen zu zeugen, dann würden gar neue Universitäten gegründet. Er war übrigens,
diese nach einigen Generationen eine neue einäu- wie Friedrich Schiller, Schüler der strengen Hohen 6
gige Menschenrasse bilden. Auch Klima, die Menge Karlsschule in Stuttgart, aus der Schiller flüchtete,
an zur Verfügung stehender Nahrung und andere deren Ausbildung Cuvier von 1784–1788 aber mit 7
Faktoren würden dadurch zur Veränderung von Auszeichnung abschloss. An der Karlsschule wirkte
Organismen führen, dass diese neue Bedürfnisse seinerzeit auch der Naturforscher Carl Friedrich Kiel-
und Triebe verursachen und die innere Organisa- meyer, der von einer Evolution und von Verwandt- 8
tion verändern. schaftsbeziehungen der Tiere überzeugt war und mit
In Bezug auf den Menschen sah er dessen be- dem Cuvier zeitlebens in Kontakt blieb. Cuvier starb 9
sonders hochdifferenziertes Wesen, hielt es aber 1832 in Paris an Cholera.
für denkbar, dass auch die Natur der Menschen- Cuviers systematisches Werk „Règne animal“
affen durch Training verfeinert werden könne. (1817) weist ihn als Begründer der modernen ver-
10
Erde und Leben haben sich nach Lamarck konti- gleichenden Anatomie aus. Er studierte sehr sorg-
nuierlich entwickelt und nicht in Form von Kata- fältig und methodisch, wie Organsysteme innerhalb 11
strophen, wie es Cuvier forderte. Alle Tiergruppen eines Organismus korrelieren, wie sich Form und
haben sich nach Lamarck auseinander entwickelt. Lebensweise entsprechen und wie bestimmte ana- 12
Seine bedeutendste Leistung erbrachte Lamarck tomische Strukturen Rückschlüsse auf die Gestalt
als Systematiker. Seine Wirbellosengruppen sind anderer Organe und die Lebensweise erlauben. Mit
weitgehend noch heute gültig; lediglich die Radiata den gleichen Methoden betrieb er das Studium der 13
werden heute auf zwei Gruppen verteilt: Echinoder- Fossilien, die gerade im Pariser Becken reichlich
mata und Cnidaria, und die Cirripedia werden den vorkommen. Er rekonstruierte aus einzelnen Fund- 14
Krebsen zugeordnet. Auf alle Fälle stellte sein Wir- stücken das Skelett des gesamten Tieres und bezog
bellosensystem einen gewaltigen Fortschritt gegen- fossile Formen in die zoologische Systematik ein.
über Linnés System dar, wobei bemerkenswert ist, Er verteidigte die induktive Methode, die auf ge-
15
wie bescheiden Lamarck seine eigenen Leistungen nauen Einzelbeobachtungen und daraus gefolgerten
bewertete. Im Hinblick auf die Entstehung des Men- Schlüssen beruht; er lehnte die deduktive Methode 16
schen zog er die Herkunft von vierbeinigen Men- Geoffroys (s. u.), der versuchte, die Vielfalt der Or-
schenaffen in Betracht, war aber betont vorsichtig ganismen aus einer allgemeinen Idee herzuleiten, 17
aus Furcht vor politischen Repressalien. Wie Buffon ab. Besonders bekannt wurde Cuviers Werk über
hielt er „Arten“ und alle taxonomischen Gruppen Elefanten, in dem er unter anderem die verwandt-
für künstliche Konstruktionen und nur Individuen schaftliche Nähe des Mammuts zum indischen Ele- 18
als „natürlich“ gegeben. fanten erklärte, die Gattung Mastodon errichtete so-
Georges Cuvier (1769 bis 1832; . Abb. 1.6b) wie die Klippschliefer von den Rodentiern entfernte 19
hatte zu seiner Lebenszeit einen viel größeren und in die Nähe der Elefanten stellte.
Einfluss auf die biologischen Wissenschaften als Cuvier ist auch der Begründer der wissenschaft-
Lamarck, mit dem er, ebenso wie mit Geoffroy lichen Paläontologie und ordnete mit sicherem
20
18 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

Blick viele fossile Formen wie Flug- und Fischsau- deric Cuvier, der jüngere Bruder von George, war
rier korrekt in die Reptilien ein. Er erkannte, dass auch Biologe; sein Interesse betraf vor allem lebende
sich die Fauna in den Erdzeitaltern änderte und eine Tiere und ihr Verhalten. Er sah im Verhalten einen
Geschichte hatte und sah auch, dass dieser Sach- Merkmalskomplex, der eine Tierart genauso kenn-
verhalt eine Erklärung erforderte. Er beteiligte sich zeichnet, wie anatomische Merkmale.
aber nicht an Spekulationen dazu. Da er keine Zwi- Besonders bekannt wurde George Cuviers Kont-
schenformen sah, neigte er zur Annahme der Kon- roverse mit Etienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772 bis
stanz der Arten. Er interpretierte seine geologischen 1844) in den Jahren 1830 bis 1832 (Akademiestreit),
und paläontologischen Beobachtungen dergestalt, die von Cuvier zwar scharf, aber höflich und ohne
dass wiederholt große geologische Katastrophen persönliche Angriffe geführt wurde. Geoffroy hatte
stattgefunden haben müssten, die für das Ver- der Pariser Akademie der Wissenschaften eine Ar-
schwinden von Tierarten verantwortlich gewesen beit zweier junger Wissenschaftler über einen aus-
seien. Er kam zu seiner Katastrophentheorie, weil führlichen Vergleich von Tintenfischen und Wir-
er die geologischen Schichten des Pariser Beckens beltieren vorgelegt, um die Einheit des Tierreichs
gut kannte, und die zeigen abrupte Übergänge von „unité de plan“ zu beweisen. Der Tintenfisch wurde
Schicht zu Schicht. Er sah aber nicht nur, dass Ar- als ein in der Mitte umgeknicktes Wirbeltier angese-
ten verschwanden und neue auftauchten, sondern hen, mit dem After unter dem Kopf, mit Knorpeln,
auch, dass einige blieben. Er ging davon aus, dass bei die den Schädelknochen entsprechen sollten, und
jeder Katastrophe in nicht oder kaum betroffenen vielen anderen phantasievollen Gedanken. Die Stu-
Regionen Organismen überlebten, die sich erneut die enthielt eine mündlich vorgetragene Kritik an
ausbreiteten, er sprach nicht von Neuschöpfungen. Cuviers Einteilung des Tierreichs in vier getrennte
Zum Menschen stellte er fest, dass unter den bisher Typen. Cuvier antwortete ausführlich und sorgfältig
gefundenen fossilen Knochen keine des Menschen und wies die Absurdität des Vergleichs nach. Er kri-
existierten. Seine Intelligenz verbot ihm, auszu- tisierte die verschwommenen Grundprinzipien von
schließen, dass solche eines Tages gefunden werden Geoffroys Methodik, hob aber auch dessen große
würden. Er spekulierte nicht gerne und hielt sich Leistungen für die vergleichende Anatomie hervor.
an das, was er beweisen konnte. Cuvier verhinderte Geoffroy begann daraufhin einen langen und nutz-
aufgrund seiner streng naturwissenschaftlichen losen Streit, wie er zwischen grundverschiedenen
Denkweise, dass die Biologie den Kreis der exakten Charakteren immer wieder vorkommt. Geoffroy
Naturwissenschaften verließ und auf das Niveau nahm von dem unhaltbaren Vergleich Tintenfisch-
fantasiereicher, verschwommener Spekulationen Wirbeltier Abstand und verlagerte den Streit in den
absank. Bereich der Wirbeltiere und ersetzte seinen Begriff
In seinem „Règne animal“ spricht er sich klar unité de plan durch théorie des analogues. Er sah
gegen eine „aufsteigende Reihung“ von Tieren und dabei offensichtlich das Prinzip der Homologie,
Tierklassen aus, das „erste“ Säugetier sei nicht voll- wie es heute verstanden wird, blieb aber vage und
kommener als der „letzte“ Vogel aus einer Reihe. voller romantischer Spekulationen. Der nüchterne
Er gebrauchte, wie später die Kladisten, ein Gabel- Cuvier konnte im Detail immer wieder viele Fehler
schema für seine systematischen Darstellungen, und nachweisen. Das Suchen Geoffroys nach ideeller
teilte das Tierreich in vier Hauptgruppen ein: Ver- Einheit entsprach auch anfänglich Goethes Denken,
tebrata, Mollusca, Articulata und Radiata. Sie sind und dieser verfolgte mit Anteilnahme den Streit auf
durch einen Grundbauplan gekennzeichnet, der Seiten Geoffroys, suchte aber schließlich zu vermit-
innerhalb der Gruppe vielfach abgewandelt ist. Be- teln und die Berechtigung beider Standpunkte zu
ziehungen zwischen den vier Gruppen diskutierte begründen.
er nicht. Das sehr sorgfältig ausgearbeitete System Im Geburtsjahr des so einflussreichen Cuvier
Cuviers stellt eine ungeheure Leistung dar und ist erblickte in England der spätere Landvermesser
in modifizierter Form noch heute Grundlage der William Smith (1769 bis 1839, . Abb. 1.7) das Licht
Systematik. Auch die spätere Abstammungstheorie der Welt. Er wurde zum Begründer der Stratigra-
konnte mit diesem System verlässlich arbeiten. Fré- phie und gegen Ende seines Lebens als „Father of
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 19

English Geology“ geehrt. Die Existenz dieses schlich-


ten und unglaublich fleißigen Autodidakten weist 1
jedoch tragische Züge auf. Hunderttausende von Ki-
lometern legte er mit der Pferdekutsche und auch zu 2
Fuß zurück, beseelt von der Idee, die Tiefenschich-
ten des britischen Königreichs zu beschreiben und
„die wunderbare Ordnung in den Bergwerken und 3
Kanalbetten“ zu erfassen. Dahinter stand die Frage,
wo man welche Schätze (speziell Steinkohle) aus 4
dem Untergrund heben und wie man diese trans-
portieren konnte, insbesondere auf neuen Wasser-
wegen, deren Untergrund für die Anlage eines Ka-
5
nals geeignet sein musste. In keinem Land der Erde
wurde damals so viel gegraben wie in England, dem 6
Mutterland der industriellen Revolution. Smiths
Erkenntnis, dass Englands Untergrund geschichtet 7
ist und dass die Kenntnis dieser Schichtung eine .. Abb. 1.7  William Smith, Begründer der Stratigraphie
präzise Prospektion ermöglichte, wurde vom Wis-
senschafts-Establishment ignoriert. Das Sammeln das Fundament für die Kreideforschung. Otto Torell 8
von Fossilien galt zwar als fein, eine Interpretation (1828 bis 1900) schuf die Grundlage für das Ver-
lag jedoch noch fern. In der Tat schuf Smith nicht stehen glazialer (eiszeitlicher) Landschaftsformen. 9
nur die erste geologische Karte Englands, sondern Johann Friedrich Blumenbach (1752 bis 1840)
er dehnte die Zeitskala der Erdgeschichte zudem beschrieb mehrere Tiere aus dem Eiszeitalter, z. B.
so sehr, dass Darwins Konzept der Evolution darin Fellnashorn (Coelodonta antiquitatis) und Mammut
10
Jahrzehnte später Platz fand. Den Wert der Fossilien (Mammuthus primigenius). Johann Carl Fuhlrott
für die relative Zeitbestimmung erfasste er vollends. (1803 bis 1877) erkannte als erster, dass die 1856 11
Im 19.  Jahrhundert erlebte die Paläontologie im Neandertal entdeckten Skelettreste von einem
einen unglaublichen Aufschwung. Dabei ging es fossilen Menschen stammten; Hermann Schaafhau- 12
nicht nur um die Beschreibung von bisher unbe- sen (1816 bis 1893) nahm die erste wissenschaftli-
kannten Fossilien, sondern auch um zum Teil bis che Bearbeitung des Neandertalers vor.
zur Manie gesteigerte Sammelleidenschaft. Be- Karl Ernst von Baer (1792 bis 1876) war ein 13
rüchtigt wurden die amerikanischen Saurierjäger ungewöhnlich einflussreicher Mediziner. Er wurde
Othoniel Charles Marsh (1831 bis 1899) und Ed- 1811 Professor in Königsberg, wo er 1828 den ersten 14
ward Drinker Cope (1840 bis 1897). Letzterer teilte Teil seiner „Entwickelungsgeschichte der Thiere“
seine Beobachtungen in mehr als 1000 Artikeln mit. veröffentlichte, nachdem er 1827 die Eizelle der Säu-
In Deutschland ist Hermann von Meyer (1801 bis getiere entdeckt hatte. 1834 gab er die Entwicklungs-
15
1869) als bedeutendster Wirbeltierpaläontologe zu geschichte auf und ging nach St. Petersburg, von
nennen, der beispielsweise Archaeopteryx, Plateo- wo aus er u. a. Expeditionen an das Kaspische Meer 16
saurus und Rhamphorhynchus beschrieb. Einer der und nach Nowaja Semlja leitete. Er beschäftigte sich
wichtigsten Geologen dieser Zeit war Bruno Geinitz ausführlich mit Fragen der Rekapitulation im Laufe 17
(1814 bis 1900); er erkundete die Steinkohle, spe- der Embryonalentwicklung (s. Abschn. 1.2.4). Baer
ziell die in Sachsen. Friedrich August von Alberti stand dem Rekapitulationsgedanken recht kritisch
(1795 bis 1878) widmete sich der Schichtenfolge gegenüber, sah aber, dass Ähnlichkeiten zwischen 18
Südwestdeutschlands, schuf den Begriff Trias und Embryonen höherer und niederer Tiere bestehen.
gliederte die Trias in die Abschnitte Buntsandstein, Einer seiner Kerngedanken war, dass die individu- 19
Muschelkalk und Keuper. August Quenstedt (1809 elle Entwicklung vom Allgemeinen zum Speziellen
bis 1889) erforschte Trias und Jura Südwestdeutsch- fortschreitet. Der menschliche Embryo z. B. beginnt
lands. Friedrich von Hagenow (1797 bis 1865) legte mit allgemeinen Wirbeltiermerkmalen und gewinnt
20
20 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

zunehmend Eigenständigkeit. Zuerst bilden sich (natural selection) und revolutionierte das gesamte
„Keimblätter“, es folgen histologische Differenzie- Weltbild.
rungen, wobei immer mehr artspezifische Merk- Charles Darwin war Sohn wohlhabender, po-
male hinzukommen. Baer war ein hervorragender litisch liberaler und geistig interessierter Eltern. Er
Beobachter und verabscheute bloßes Spekulieren. wurde in Shrewsbury geboren. Sein Vater war Arzt.
Darwins Evolutionstheorie wurde von ihm an- Der Großvater väterlicherseits, Erasmus Darwin,
gegriffen. Darwin selbst war mit von Baers Werk war Arzt, Dichter und ein unabhängiger Denker,
recht gut vertraut und hatte großen Respekt davor. dessen Buch „Zoonomia“ den Gesetzen des Lebens
Er interpretierte jedoch die Befunde anders und und den ständigen Umwandlungen breiten Raum
schrieb 1859, dass die Gemeinsamkeiten embryo- ließ. Der Wunsch seiner Eltern, Charles solle Arzt
naler Strukturen bei verschiedenen Arten gemein- werden, scheiterte an dessen Widerwillen gegen die
same Abstammung offenbaren. 1839 begründeten Ausbildung zum Arzt an der Universität Edinburgh.
Matthias Schleiden (1804 bis 1881) und Theodor Es waren vor allem die Eindrücke in der Anatomie
Schwann (1810 bis 1881) die Zelltheorie. (Präpariersaal) und in der Chirurgie (man arbeitete
Interessant ist ein 1844 erschienenes Buch „Ves- noch ohne Anästhesie und ohne Hygienemaßnah-
tiges of the Natural History of Creation“, ein Bestsel- men), die ihn von der Medizin abstießen. Er er-
ler in England, verfasst von Robert Chambers (1802 fuhr aber in Edinburgh sehr vielseitige Anregun-
bis 1871). In diesem Buch wird Transmutation = gen naturwissenschaftlicher, philosophischer und
Evolution: eine Entwicklung ohne einen Schöpfer auch sozialpolitischer Art. Er erlebte die sozialen
klar angesprochen. Chambers spricht von „Evolu- Spannungen der Zeit des frühen Kapitalismus, sah,
tion governed by unknown laws“. wie Kirche und andere gesellschaftliche Gruppen
Der gesamte gesellschaftliche Kontext im Groß- ihre Macht verteidigten bzw. um Macht kämpften.
britannien des 19. Jahrhundert förderte die zuneh- Der Zoologe Robert Edmond Grant machte ihn
mende Akzeptanz des Evolutionsgedankens. Der mit Vorstellungen zur Evolution und mit den Ge-
technische Fortschritt, die um sich greifende Indus- danken Lamarcks bekannt. Darwin hielt vor einem
trialisierung, die verbreitete Besserung der sozialen wissenschaftlichen Verein, der Plinian Society, am
Lage, der Erfolg herausragender Leistungen Ein- 27. März 1827 seinen ersten Vortrag über Larven
zelner, die zunehmende Bereitschaft, naturwissen- mariner Moostierchen und über die Eier des Mee-
schaftlich zu denken, ein Geist des Liberalismus (in resegels Pontobdella muricata.
verschiedenen Schattierungen), aufkommender Ka- Darwin wechselte 1827 zum Theologiestu-
pitalismus sowie Sozialismus und Kommunismus, dium an die Universität Cambridge, mit dem Ziel,
die Philosophie des des Utilitarismus, verbesserte Landpfarrer zu werden. Dieser überraschende
Schulbildung u. a. im viktorianischen England führ- Plan ging auf seinen Vater zurück, der erkannte,
ten wichtigen und führenden Köpfen Entwicklungs- dass sein Sohn für den Arztberuf nicht geeignet
prozesse und Fortschritt sichtbar vor Augen. Zudem war und seine naturkundlichen Interessen besser
besteht in England, auch dem des viktorianischen mit einem geistlichen Amt verbinden könnte. Er
Zeitalters, die Tendenz, Konflikte und Spannungen hielt den Beruf eines Geistlichen auf dem Lande
eher auf evolutivem (J. St. Mills) als auf revolutio- für eine sichere Existenz. Charles Darwin war kein
närem Wege (K. Marx) zu lösen. herausragender Student, aber sein Interesse an der
Tier- und Pflanzenwelt und an der Geologie kam
immer stärker zum Vorschein. Er verbrachte viel
1.1.8 Ein Kapitel für sich: Zeit in freier Natur (lange Zeit war er vorwiegend
Charles Darwin mit Käfersammeln beschäftigt), hörte vor allem
Vorlesungen in Naturwissenschaften und suchte
Der entscheidende Durchbruch des modernen Evo- den Umgang mit Naturkundlern, unter denen er
lutionsgedankens kam mit Charles Robert Darwin sich vor allem dem besonders gebildeten Professor
(1809 bis 1882; . Abb. 1.8). Er entdeckte den Me- der Botanik John Henslow anschloss. Es ist nicht
chanismus der Evolution mittels natürlicher Auslese ganz leicht, sich ein Bild dieser Lebensphase von
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 21

Charles Darwin zu machen. Obwohl er die Schat- praktische geologische Erfahrungen. Auf seiner
tenseiten der Kirche kannte, steuerte er dennoch fünfjährigen Weltumsegelung an Bord der „Beagle“ 1
auf ein Amt in ihr zu. las er neben Alexander von Humboldt und Miltons
Von zentraler Bedeutung für Darwin war die „Paradise Lost“ intensiv und kritisch Charles Lyells 2
Naturkunde, einschließlich Geologie und Paläonto- „Principles of Geology“. In Kapstadt diskutierte er
logie. Im letzten Jahr seines Studiums in Cambridge mit Sir John Herschel über Vulkanismus, die Ent-
hörte er bei Adam Sedgwick, Professor für Geolo- stehung und Veränderungen von Kontinenten und 3
gie, und sammelte mit ihm in Nord-Wales auch über die Entstehung neuer Arten.
4
  EXKURS 1.1  

Darwins Weltreise
5
Als Charles Darwin 1831 nach dem Studium in das werden. Zusätzlich wurde ihm auferlegt, die Fahrt
väterliche Haus zurückkehrte, fand er dort einen nach Westen fortzusetzen. 6
Brief mit aufregendem, für sein weiteres Leben Schließlich hatte FitzRoy einen Naturwissen-
entscheidendem Inhalt vor: John Henslow und schaftler als Gast – also auf seine Kosten – mit- 7
George Peacock, Dekan an der Universität Cam- zunehmen. FitzRoy war wohl aus drei Gründen
bridge, fragten, ob er bereit wäre, als Naturforscher
an einer Weltumsegelung des Vermessungsschif-
zunächst gegen Darwin eingenommen: Erstens
wollte er einen Freund mitnehmen, zweitens war
8
fes der königlichen Marine „Beagle“ teilzunehmen. Darwin ein whig, ein Liberaler, der Sklaverei verab-
Darwins Vater fand ein solches Vorhaben eines scheute, und drittens hing FitzRoy mit Nachdruck 9
jungen Pfarrers unwürdig, meinte jedoch: „Wenn der Lehre an, derzufolge man aus der Physiogno-
Du einen Menschen mit gesundem Menschenver- mie eines Menschen auf dessen Charakter und 10
stand findest, der Dir zurät, dann gebe ich meine Verhalten rückschließen könne. Darwins Nase, so
Zustimmung.“ Dieser Mensch war sein Onkel Josiah FitzRoy, ließ nicht auf Energie und Ausdauer schlie-
Wedgwood, er hielt die Reise für eine großartige ßen, wie sie für eine Weltumsegelung nötig sind. 11
Idee und stimmte Robert Darwin um. Aber auch der Darwin suchte die persönliche Begegnung mit
Kapitän des Vermessungsschiffes, Robert FitzRoy FitzRoy, dessen Freund kurz vorher von der Mitreise 12
(. Abb. 1.8), mit 25  Jahren schon ein erfahrener Abstand genommen hatte und wirkte auf ihn im
Seemann und bewährter Kartograph, hatte Ein-
wände. Er war gerade von einer fünfjährigen Ver-
Gespräch überzeugend. FitzRoy suchte natürlich
auch einen verträglichen und gebildeten Gefähr-
13
messungsfahrt zurückgekommen, von der er vier ten und „Gentleman“ der eigenen Generation, mit
Feuerländer mitgebracht hatte. Das verstieß gegen dem die harte Zeit einer mehrjährigen Isolation auf 14
die bestehenden Gesetze und hätte ihm eine hohe einem Schiff erträglicher war. Er durfte als Kapitän
Strafe wegen Sklaverei einbringen können. FitzRoy, mit der Mannschaft des Schiffes nur auf sehr rituali- 15
ein Tory (Konservativer), der für Sklavenhaltung sierte und distanzierte Art verkehren. FitzRoy hatte
eintrat, wurde verpflichtet, auf eigene Kosten die wohl auch Angst vor Depressionen und verübte in
drei noch lebenden Indianer nach Tierra del Fuego der Tat später in einem Depressionsanfall Selbst- 16
zurückzubringen; der vierte war zwischenzeit- mord.
lich an Typhus gestorben. Die Admiralität stellte Charles Darwin war 22 Jahre alt, als er am 27. 17
ihm dafür die mit zehn Kanonen bestückte Brigg Dezember 1831 an Bord der „Beagle“ (. Abb. 1.8)
„Beagle“ zur Verfügung und gab ihm zusätzlich
Aufträge zur Vermessung, eine Fortsetzung der
England verließ. Er kam stets gut mit der Mann-
schaft aus und erwarb rasch den Respekt der Offi-
18
Arbeiten, welche 1826–1830 unter Kapitän King ziere und Matrosen. Es gehörte zu Darwins Charak-
begonnen worden waren. Speziell die Falklandin- ter, sich gut auf verschiedene Menschen einstellen 19
seln (Malvinas) und die Küsten Südamerikas sowie zu können. Während der ganzen Reise, die fünf
verschiedene Inseln des Pazifik sollten vermessen Jahre dauerte, litt Darwin jedoch unter Seekrank- 20
7
22 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

 EXKURS 1.1 (Fortsetzung) 

.. Abb. 1.8  Charles Darwin und Kapitän FitzRoy, die „Beagle“ sowie die Reiseroute in Südamerika

heit und starken Kopfschmerzen, was aber seine Tropen hatte. Er war überwältigt von der Fülle ver-
Schaffenskraft nicht beeinträchtigte. Dies ist auch schiedener Organismen, aber entsetzt über die
deswegen erwähnenswert, da er an Bord in sehr Sklaverei, über die er mit FitzRoy in heftigen Streit
beengten Verhältnissen zusammen mit dem Ka- geriet.
pitän in einer Kabine leben musste. Die „Beagle“ Kurze Zeit später unternahm er von Rio de
war 31 m lang und hatte 70  Mann Besatzung zu Janeiro aus einen zweiwöchigen Ausflug auf einen
befördern. landwirtschaftlichen Betrieb im Landesinneren. Er
Über Teneriffa und die Kapverdischen Inseln brachte sehr deutlich seine Ablehnung der Skla-
ging es nach Brasilien (. Abb. 1.8), wo Darwin in verei und der doppelten Moral der Weißen zum
São Salvador da Bahia den ersten Kontakt mit den Ausdruck.
7
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 23

 EXKURS 1.1 (Fortsetzung) 
Nach einem kurzen, durch politische Verwick- erst im Laufe der Eiszeit und wurde möglicherweise 1
lungen gekennzeichneten Aufenthalt in Montevi- durch den modernen Menschen verursacht.
deo – es ist die Zeit der Loslösung vieler südame- Für Darwin verliert zunächst die damals vor- 2
rikanischer Länder von Spanien – erreichte die herrschende „Katastrophentheorie“, die auf Cuvier
„Beagle“ Mitte August 1832 Argentinien, wo sich zurückgeht, an Überzeugungskraft. Seine Beobach-
Darwin zunächst an der Küste bei Patagonas (an tungen zeigen ganz klar, dass eine „große Katastro-
3
der Mündung des Rio Negro) und Bahia Blanca auf- phe“ nicht die Ursache des Aussterbens gewesen
hielt, aber auch Ausflüge in dieser Gegend und so- sein kann. Er stellt Vergleiche mit Trockengebieten 4
gar eine große Reise über Land nach Buenos Aires Afrikas an, erwägt Klimaschwankungen, Ausrot-
unternahm. Sehr sachlich und aufgeschlossen be- tung durch den Menschen und ungünstige Popu-
5
urteilte er die Indianer und ihr Schicksal. lationsentwicklungen, kommt aber zu dem Schluss,
Es stellte sich heraus, dass Darwin die entschei- dass alle Erklärungsversuche letztlich unbefriedi-
denden Eindrücke für seine biologischen Konzepte gend bleiben. Sehr deutlich wird, dass Darwin in 6
in Südamerika einschließlich der Galapagos-Inseln Kategorien wie Populationen, Populationsschwan-
erhalten hat. Sein Tagebuch und seine anderen kungen und Kontrollmechanismen denkt, welche 7
Aufzeichnungen sind dementsprechend in dem die Individuenzahlen in einer Population steuern
langen Zeitraum, in dem er sich in Südamerika
aufhält, besonders ausführlich, inhaltsreich und
können. Auf alle Fälle kam Darwin durch die Ana-
lyse der ausgestorbenen Säuger zur Auffassung
8
engagiert. Alle späteren Notizen, die vor allem Aus- eines allmählichen Wandels von Arten und steti-
tralien betreffen, sind knapp, der Verfasser wirkt re- ger, langsamer Veränderungen („Gradualismus“). 9
lativ unbeteiligt und nicht mehr sonderlich interes- Weiterhin lehnt er einfache Erklärungen des Aus-
siert. Hierbei gilt es zu beachten, dass die „Beagle“ sterbens beziehungsweise der Zu- und Abnahme 10
in Neuseeland bzw. Australien erst die Hälfte der von Individuen einer Art ab.
Erdumsegelung hinter sich hatte, aber schon 80 % Beim Einlaufen nach Puerto Deseado, einem
der geplanten Zeit verstrichen war. kleinen einsamen Hafen im südlichen Patagonien, 11
Seine geologischen Interessen veranlassen ihn in dem schon berühmte Seefahrer wie Magellan,
zu Untersuchungen der Pampa und ihrer geologi- Francis Drake, Cavendish u. a. Schutz gesucht hat- 12
schen Struktur. Er findet dabei nicht nur zahllose ten, erlitt die „Beagle“ Schaden. Die Reparatur er-
fossile Schalen von Schnecken und Muscheln, son-
dern auch Skelette von ungefähr zehn ausgestor-
folgte weiter südlich an der Mündung des Santa-
Cruz-Flusses, den Darwin mit Ruderbooten mehr
13
benen Großsäugerarten, vor allem ausgestorbener als 100 km flussaufwärts fährt, so dass er bis an
Huftiere und Verwandter der Gürteltiere, der Faul- den Fuß der Anden kommt. Er notiert hier beson- 14
tiere und der Ameisenbären, also von Säugetieren, ders viel über die Geologie Patagoniens, das eine
die heute unter dem Begriff Xenarthra zusammen- erhebliche Anhebung des Landes in den letzten 15
gefasst werden und ihre wesentliche phylogeneti- Jahrzehntausenden kennzeichnet.
sche Entwicklung in Südamerika erfahren haben. Während der Reise mit der Beagle besucht Dar-
Zum Teil handelt es sich um Riesenformen: Das win zweimal Feuerland im Abstand eines Jahres. 16
Riesenfaultier Megatherium erreichte Elefanten- Hier werden die drei Feuerländer – Jemmy Button,
größe und muss – auf den Hinterbeinen sitzend – York Minster und Fuegia Basket (die Namen gehen 17
Baumkronen zu sich heruntergezogen haben, um zum Teil auf Ereignisse während des „Erwerbs“
deren Laub zu verzehren. Vertreter der fossilen
Riesengürteltiere, Riesenfaultiere und Ameisenbä-
zurück) in ihrer Heimat abgeliefert. Darwin be-
obachtet die Vorgänge der Wiederaufnahme und
18
ren sowie der großen ausgestorbenen Huftiere die Lebensbedingungen der Feuerlandindianer.
findet man heute übrigens eindrucksvoll aufge- Er ist sehr beeindruckt von dem, was er sieht, und 19
stellt im naturkundlichen Museum von La Plata bei empfindet Mitleid mit diesen ursprünglich leben-
Buenos Aires. Das Aussterben dieser Arten erfolgte den Menschen und ihrer Behandlung durch die 20
7
24 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

 EXKURS 1.1 (Fortsetzung) 
Europäer: „… wer hätte glauben können, dass in von der Existenz der Evolution während des kur-
unserem Zeitalter solcherlei Abscheulichkeiten in zen Aufenthaltes auf den Galapagos-Inseln vom
einem christlichen, zivilisierten Land begangen September bis zum Oktober 1835 entstanden sei,
werden können …“ Er sieht die Unvereinbarkeit ist allerdings zu einfach. Darwins Gedanken fes-
der Lebensweise moderner Europäer mit derjeni- tigten sich vielmehr allmählich und unter stetiger
gen der Indianer, er beschreibt erneut seine Ableh- kritischer Überprüfung der Tatsachen. Die we-
nung der Doppelmoral der Europäer und sieht den sentliche evolutionsbiologische Bedeutung der
Untergang der Indianer voraus. Erst Jahre nach Dar- Galapagos-Inseln liegt darin, dass hier auf einzel-
wins Besuch setzt die unnachsichtige Verfolgung nen, recht dicht beieinanderliegenden Inseln nahe
der Feuerländer ein, die heute fast ausgerottet sind. verwandte Vogel- und Reptilienarten vorkommen,
Schon Darwin vergleicht ihr Schicksal mit dem der die sich in geringfügigen, aber konstanten Merk-
Eskimos, der Ureinwohner Australiens, der südaf- malen unterscheiden. Darwin schenkt der Tatsa-
rikanischen Ureinwohner und anderer Menschen, che, dass auf den Inseln unterschiedliche Riesen-
die nicht in den Sog der Zivilisation geraten sind. schildkröten und Vogelarten existieren, allerdings
Er stellt auch anthropologische Forschungen an, zunächst nur wenig Beachtung. Erst Monate nach
analysiert soziale Strukturen und Verhaltenswei- dem Aufenthalt erwähnt er in seinem Tagebuch,
sen und äußert natürlich auch sein Erstaunen über dass es lohnenswert sei, die Organismen derar-
manches, was er sieht. Seine Ausführungen sind tiger Archipele zu untersuchen, weil solche Tat-
nicht verletzend oder herabsetzend, wie ihm das sachen die Vorstellung von der Stabilität der Ar-
bis heute von voreingenommenen Autoren biswei- ten unterminieren würden. Auch die gründliche
len unterstellt wird. Erörterung der berühmten Darwinfinken erfolgt
Im Juni 1834 verließ die „Beagle“ Feuerland in erst 1845 in der zweiten Auflage seiner „Reise ei-
Richtung Pazifik und Chile. Während der Fahrt nes Naturforschers“, also zehn Jahre nach seinem
machte Darwin ausführliche Notizen über den Rie- kurzen Besuch auf den Galapagos-Inseln. Bei den
sentang und erkannte die große ökologische Be- Darwinfinken, die zu den Geospizinae gehören,
deutung dieser wohl längsten Pflanzen der Erde. handelt es sich um finkenähnliche Vögel, die of-
Das Schiff erreichte nach gut einem Monat Valpa- fensichtlich von einer einzigen Art abstammen,
raiso. Dort nutzt er die Zeit zu Exkursionen in die welche die einzelnen Inseln besiedelte und in
Berge, wo er ausgiebige biologische und geologi- relativer Isolation spezielle Anpassungen an ge-
sche Studien unternimmt. Er überquert dabei die gebene Nahrungsverhältnisse herausbildete, so
Anden und erreichte Mendoza in Argentinien. Die dass dreizehn leicht unterschiedliche neue Arten
Küstenvermessungen des Kapitäns FitzRoy in Nord- entstanden. Die Unterschiede betreffen vor allem
Chile und Peru geben Darwin Gelegenheit, auch in die Schnabelform. Darwin schreibt, man könne
dieser Region Proben zu nehmen. In Iquique, das sich vorstellen, dass auf diesem Archipel eine Art
damals zu Peru gehörte, besucht er die bekannten, für verschiedene Zwecke modifiziert worden sei.
wirtschaftlich wichtigen Salpeterlagerstätten. Eine Von den Galapagos-Inseln ging es weiter nach
persönliche Krise FitzRoys, die dazu führte, dass Tahiti. Wie auch bei früheren Darstellungen über
dieser aufgeben wollte und Selbstmordgedanken Menschen anderer Kulturen beschreibt Darwin
hegte, wurde vor allem durch Darwins Ruhe und die Südsee-Insulaner sachlich und mit viel Sym-
verständnisvolles Argumentieren beseitigt. pathie.
Ende August  1835 verlässt die „Beagle“ die Von Tahiti erreichte man nach dreiwöchiger
südamerikanische Küste in Richtung Galapagos- Fahrt die Bay of Islands auf der Nordinsel Neusee-
Archipel, wo Darwin weitere wichtige Erkennt- lands. Der kurze Aufenthalt dort hat Darwin ent-
nisse sammelt. Seine Zweifel an der Unverän- täuscht. In der Tat hat er nicht viel gesehen, und
derlichkeit der Arten wurden hier besonders es blieb ihm in diesem Land vieles verborgen, was
genährt. Die Behauptung, dass seine Vorstellung seine Gedanken durchaus hätte anregen können.
7
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 25

 EXKURS 1.1 (Fortsetzung) 
Auch Australien hat Darwins Ideen nicht be- Schaden nach sich gezogen. Als man diese spä- 1
sonders beeinflusst, obwohl Flora und Fauna dieses ter abschoss, war es schon zu spät, die geringen
Kontinentes aus heutiger Sicht immer wieder als Reste der Wälder noch zu retten. St. Helena ist für 2
Schulbeispiele für das Phänomen der Konvergenz uns heute ein Schulbeispiel für Umweltzerstörung,
herangezogen werden.
In Hobart, der Hauptstadt Tasmaniens, hatte
Faunen- und Florenverfälschung.
Nach einem kurzen Aufenthalt auf Ascension
3
Darwin keine Möglichkeit zu eingehenden Studien, ging es noch einmal nach Sao Salvador da Bahia in
da der Aufenthalt der „Beagle“ nur kurz währte. Die Brasilien. Abermals erlebte Darwin die grausame 4
Südküste Australiens besuchte Darwin 1836 nahe Behandlung von Negersklaven.
Albany, also schon weit im Westen. Er vermerkte, Im Anschluss an entsprechende Erlebnisse in 5
dass er in ein so wenig einladendes Land niemals Pernambuco, dem heutigen Recife, betont er, dass
zurückkehren wolle. Hier unterlag er einer Fehlein- all diese Grausamkeiten von Menschen ausgeführt
schätzung, und schon sein Freund, der Botaniker Sir und verteidigt würden, die vorgäben, ihren Nächs- 6
Joseph Hooker, wies darauf hin, dass er selten so ten wie sich selbst zu lieben.
viele bemerkenswerte Pflanzen in einem so kleinen Auf der gesamten Reise zeigt sich Darwin also 7
Gebiet gesehen hatte wie im Süden Australiens. nicht nur als ungewöhnlich vielseitiger Biologe und
Wenn Australiens Natur Darwin auch nicht in
besonderem Maße inspiriert hat, so ist es umso be-
Geologe mit Fähigkeit zu weitreichenden Schluss-
folgerungen, der unermüdlich beobachtet und
8
merkenswerter, dass in diesem Lande eine Stadt Fakten sammelt, sondern auch als aufrechter, der
nach ihm benannt wurde: die Hauptstadt des Nord- Wahrheit verpflichteter Mensch, der sich persön- 9
territoriums. Bedeutende Erkenntnisse sammelte lich über fünf Jahre lang in der schwierigen Situ-
er über Korallenriffe und entwickelte eine Theorie ation zwischen einem neurotischen Kapitän, den 10
zu deren Entstehung, die im 20. Jahrhundert durch Schiffsoffizieren und der Mannschaft menschlich
Tiefbohrungen bestätigt wurde. hervorragend bewährt hat.
Von Australien ging es in den Indischen Ozean, Am 2. Oktober 1836 kehrte er nach Falmouth 11
wo die Keeling- oder Cocos-Inseln südlich von Su- (England) zurück, um fünf Jahre älter, aber unver-
matra besucht wurden; von dort segelte man über gleichlich reicher an Erfahrungen, die Tagebücher 12
Mauritius in Richtung Südafrika. voll von Ideen, die Kisten voll von Gesammeltem.
In Kapstadt traf Darwin mit Sir John Herschel
zusammen, einem berühmten Astronomen, der
Von 1837 bis 1842 arbeitete er in London, um mit
Hilfe der Museumszoologen die Sammlungen
13
dort seit zwei Jahren den südlichen Sternenhim- auszuwerten. Die zahlreichen fossilen Säugetier-
mel studierte und auf den winzigen Platz hinwies, skelette, die er in Südamerika gefunden hatte, 14
den unser Sonnensystem im Universum einnimmt. hatten seinen Glauben an die Unveränderlichkeit
Darwin war davon bis an sein Lebensende außeror- der Arten nachhaltig erschüttert. Die Verbindung 15
dentlich beeindruckt, und offensichtlich haben die zwischen noch lebenden und ausgestorbenen For-
beiden auch über den Ersatz ausgestorbener Arten men hatte ihn auf den Gedanken weitreichender
durch andere diskutiert. Zusammenhänge gebracht, die nur mit Kontinuität 16
Von einiger Bedeutung war wenig später der und schrittweisem Wandel zu verstehen waren. Die
Aufenthalt auf St. Helena im Südatlantik. Auf dieser taxonomische Analyse der Tierwelt der Galapagos- 17
Insel waren zu Darwins Zeiten über 700 Pflanzenar- Inseln gab ihm die Überzeugung, dass sich eine
ten bekannt, von denen nur etwa 40 einheimisch
waren. Die Konkurrenz der Arten untereinander
schrittweise Umwandlung – die Evolution – der
Lebewesen tatsächlich abgespielt haben muss,
18
wurde Darwin hier besonders deutlich. Rücksichts- dass also neue Arten sich aus schon bestehenden
loses Abholzen der Wälder hatte die Vegetation gebildet haben. Die nächsten zwanzig Jahre seines 19
nachhaltig beeinträchtigt, die Einfuhr von Ziegen Lebens verwendete er darauf, diese Hypothese zu
zu Beginn des 16.  Jahrhunderts hatte weiteren untermauern. 20
26 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.9 a, b  a Darwins
Frau Emma, geb. Wedg-
wood (1808 bis 1896),
kurz nach ihrer Hochzeit;
Aquarell von J. Richmond
(1839). b Darwinia, nach
Erasmus Darwin benannte
Pflanzengattung, die mit
Eucalyptus verwandt ist
(Myrtaceae)

Schon ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr be- in die Ehe eingebracht, die es Darwin ermöglichte,
gann Darwin eine Reihe von Notizbüchern über die als „Privatgelehrter“ zu arbeiten. In seiner Auto-
„Transmutation of species“ – die Umwandlung der biographie – die vollständig erst 1958 von seiner
Arten – anzulegen. Er war sich der Schlussfolgerung Enkelin Lady Nora Barlow herausgegeben wurde
bewusst, dass wahrscheinlich alle Lebewesen der – beschrieb Darwin, dass er ganz langsam und all-
Erde, einschließlich des Menschen, auf gemeinsame mählich den Glauben an die Kirche und das über-
Vorfahren zurückzuführen seien. Im Oktober 1838 kommene Christentum verlor. Erst 1842 verfasste
las er fast zufällig „Das Bevölkerungsgesetz“ („Es- er auf 35 Seiten mit Bleistift eine Zusammenfassung
say on the Principle of Population …“) von Thomas seiner Evolutionstheorie. Dieses Manuskript wurde
Robert Malthus, und dabei blitzte ihm der Gedanke zu Darwins Lebzeiten nicht veröffentlicht, man
von der natürlichen Auslese auf. „Hier nun“, so fährt fand es erst 50 Jahre später in einem Schrank unter
er fort, „hatte ich endlich eine Theorie gefunden, der Treppe seines Hauses in Kent. Offensichtlich
mit der sich arbeiten ließ“. war sich Darwin der weitgehenden Konsequenzen
Darwins eigene Entwicklung als Schöpfer der seiner Vorstellungen in vollem Umfange bewusst.
Theorie von der Evolution des Lebens ging stetig Wenn die belebte Welt nicht, wie man glaubte, sta-
und langsam voran. Er türmte Berge von Tatsachen- tisch sei, sondern sich unaufhörlich aufgrund wis-
material auf, das für seine Vorstellungen sprach. senschaftlich erfassbarer Vorgänge wandelte, dann
Die Beweisführung arbeitete er bis ins letzte, fest war ganz offensichtlich, dass die Annahme eines
begründete Detail aus. Veröffentlichungen schob er Schöpfergottes nicht notwendig ist: Hier lag auch
immer wieder hinaus. Sein Zaudern, vor die Öffent- die Ursache für spätere Anfeindungen, die bis in
lichkeit zu treten, hatte fast etwas Krankhaftes, so unsere Tage reichen.
Julian Huxley, und hätte ihn beinahe seinen Platz 1844 verfasste Darwin eine 230  Seiten lange
unter den Großen der Wissenschaft gekostet. Zu Abhandlung seiner Evolutionstheorie. Hätte er sie
einem Teil resultierte das Zaudern aus der Rück- damals schon veröffentlicht, sie hätte nach Ansicht
sichtnahme auf religiöse Gefühle anderer, insbe- Julian Huxleys die gleiche Durchschlagskraft ge-
sondere seiner Frau (. Abb. 1.9a). Diese stammte habt wie fünfzehn Jahre später sein großes Buch
aus der wohlhabenden Familie Wedgwood, die eine von der Entstehung der Arten. Nur mit wenigen
Porzellanmanufaktur besaß. Sie hatte ein Vermögen Freunden, vor allem dem Geologen Charles Lyell
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 27

und dem Botaniker Joseph Hooker, diskutierte er Werkes in gut einem Jahr. Es wurde das Hauptwerk
seine Gedanken. 1856 begann er, auf Lyells Veran- seines Lebens, erschien am 24. November 1859 in 1
lassung, eine breit angelegte Abhandlung über die einer Auflage von 1250 Exemplaren und war noch
Transmutation der Arten niederzuschreiben. Diese am selben Tag vergriffen. Dieses epochale Werk 2
Arbeit ist jedoch erst aus seinem Nachlass als sein trug den Titel „On the Origin of Species by Means of
„Big Species Book“ 1975, von R.C. Stauffer ediert, Natural Selection or the Preservation of Favoured Ra-
erschienen. Im Frühsommer 1858 erlitt Darwin den ces in the Struggle for Life“. Die Reaktion auf dieses 3
größten Schock seines wissenschaftlichen Lebens: Opus war Entsetzen und Faszination, nicht nur in
Alfred Russel Wallace (1823 bis 1913), ein Naturfor- der breiten Öffentlichkeit, auch in seinem engeren 4
scher, der im fernen Ternate im heutigen Indonesien Umkreis (. Abb. 1.10, 1.11). Sein früherer Lehrer,
arbeitete und mit Darwin seit etwa einem halben Adam Sedgwick, fand Teile des Buches „ganz und
Jahr in Briefwechsel stand, schickte ihm von den gar falsch und bitter schädlich“. Der Astronom Sir
5
Molukken die Abhandlung „Über die Tendenz der John Herschel sprach vom „Kraut- und Rüben-Ge-
Varietäten, unbegrenzt vom Originaltypus abzuwei- setz“. Der bedeutende Zoologe und Paläontologe 6
chen“. Bei der Lektüre fand Darwin Punkt für Punkt Richard Owen, der die Begriffe Homologie und
eine Zusammenfassung seiner eigenen Theorie von Analogie im heutigen Sinne schuf, gehörte zu den 7
der Evolution durch natürliche Auslese. Auch Wal- massivsten Kritikern. Lyell, Wallace und Hooker
lace hatte, ähnlich wie das freilich größere Genie waren begeistert. Thomas Henry Huxley wurde in
Darwin, nach vielen Jahren der Beobachtung in der England zum geschickten Vorkämpfer Darwins, in 8
freien Natur den Gedanken einer Evolution und des Deutschland übernahm diese Aufgabe der noch
Selektionsprinzips gefasst, konnte ihn jedoch nicht jüngere Jenaer Zoologe Ernst Haeckel. 9
mit der gleichen Fülle von Beweismaterial stützen Im Jahre 1860 hielt die „Britische Vereinigung
wie Darwin. Bekannt geblieben ist Wallace daher für den Fortschritt der Wissenschaft“ ihre Tagung
auch mehr durch seine lebendige, wenn auch we- in Oxford ab. Nach dem Hauptvortrag eines Ame-
10
niger grundlegende Arbeit über die geographi- rikaners namens Dr. Draper mit dem Thema „The
sche Verbreitung der Tiere. Zudem vertrat er die intellectual development of Europe considered with 11
Auffassung, dass die Entstehung des Lebens und reference to the views of Mr. Darwin“ kam es zu ei-
auch des menschlichen Geistes und Bewusstseins ner lebhaften Diskussion zwischen dem Bischof von 12
auf göttliche Eingriffe zurückgehe (s. EXKURS 5.11 Oxford, Samuel Wilberforce, Robert FitzRoy, dem
Abschn. 5.10.2) Nach einem schweren Gewissen- inzwischen zum Admiral beförderten ehemaligen
skampf Darwins („… viel lieber würde ich mein Kapitän der „Beagle“, Thomas Henry Huxley und 13
ganzes Buch verbrennen, als dass Wallace oder ir- Joseph Hooker. Darwin war nicht anwesend. Nach-
gendjemand denken sollte, ich hätte mich irgendwie dem Wilberforce angeblich „eine volle halbe Stunde 14
unredlich benommen …“) und dank der Tatsache, mit unnachahmlicher Lebhaftigkeit, Hohlheit und
dass Lyell und Hooker sich der Angelegenheit an- Unehrlichkeit“ gesprochen hatte, fragte er Hux-
nahmen, wurden seine und Wallaces Auffassungen ley, ob er seinen Großvater oder seine Großmutter
15
zugleich vor der Linnean Society am 1. Juli 1858 meine, wenn er behaupte, vom Affen abzustammen.
verlesen und noch im selben Jahr in der Zeitschrift Huxley erwiderte, dessen brauche man sich nicht 16
der Gesellschaft veröffentlicht. Auf diese Publi- zu schämen. Eine Schande dagegen sei jedoch ein
kation erfolgte keine großartige Reaktion, und so Mensch, der, nicht zufrieden mit seinem fragwür- 17
wird Alfred Russel Wallace trotz seiner Ideen und digen Erfolg auf dem eigenen Tätigkeitsgebiet, sich
seines Einsatzes zu einer tragischen Figur der Wis- auf ein Feld wissenschaftlicher Probleme wagt, von
senschaftsgeschichte. Schon seine Forschungsreise denen er nichts versteht, und das nur, um sie durch 18
nach Südamerika (1848–1852) war unglücklich zu sinnloses Gerede zu verdunkeln und die Aufmerk-
Ende gegangen. Bei der Heimreise sank das Schiff samkeit seiner Zuhörer durch redegewandtes Ab- 19
und mit ihm seine gesamte Sammlung. schweifen und geschicktes Appellieren an religiöse
Charles Darwin vollendete unter dem Druck Vorurteile vom entscheidenden Thema abzulenken.
von Lyell und Hooker eine „Kurzfassung“ seines Ob diese Diskussion tatsächlich so einfach abgelau-
20
28 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.10 a, b Karika-
turen von Charles Darwin
(um 1880): a Darwin und
der Affe, b Darwin und der
Regenwurm. Darwin hatte
erkannt, dass Regenwürmer
für die Bodenfruchtbarkeit
wichtig sind; bis dahin wa-
ren sie negativ eingeschätzt
worden

.. Abb. 1.11 a, b  Kari-
katuren von Gegnern der
Evolutionstheorie: a Samuel
Wilberforce, Bischof von
Oxford. b Richard Owen,
anonym und gegen Charles
Darwin überwiegend hinter
den Kulissen agierender,
prominenter Paläonto-
loge und vergleichender
Zoologe

fen ist, bleibt zweifelhaft. Soweit überhaupt rekonst- wins Wunsch dessen Werk ins Deutsche. In weniger
ruierbar, verlief sie relativ ruhig, und es war im We- als einem Jahr lag die deutsche Version vor. „Struggle
sentlichen Hooker, der überzeugende Argumente for Life“ wurde mit „Kampf um’s Daseyn“ (eine nicht
für Darwins Theorie vorbrachte. besonders glückliche, aber eingängige Übertragung)
Heinrich Georg Bronn (1800 bis 1862), Zoologe übersetzt. In den USA trat der Botaniker Asa Gray
und Paläontologe in Heidelberg, übersetzte auf Dar- (1810 bis 1888) für Darwins Theorie ein.
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 29

Darwins „Origin of Species“ löste eine wissen- Dieser von Darwin erkannte Mechanismus der
schaftliche Revolution aus, die auf fünf Hauptthe- Evolution wurde vielfach in grober, vereinfachen- 1
orien beruht, an denen Darwin seit der Beagle-Ex- der und verfälschender Form wiedergegeben und

- 2
pedition gearbeitet hatte: politisch missbraucht. „Der Kampf ums Dasein“
Evolution beruht auf gemeinsamer Abstam- (bei Darwin „struggle for life“, struggle = Wettbe-
mung. Die Entwicklung erfolgt nicht in Form werb, nicht Kampf) gehört zu den unglücklichen
einfacher gerader Linien, sondern in Form von Formulierungen, die Eingang fanden in einen kru- 3
sich verzweigenden Stämmen. Die Evolution den Sozialdarwinismus und Rassismus. In der Tat
bedarf keiner übernatürlichen Erklärung. Die war Karl Marx von Darwins Ausführungen so an- 4
Vielfalt der Organismen spiegelt die zahllosen getan, weil er im „Klassenkampf “ das Pendant zum
evolutiven Entwicklungswege wider, die in „Kampf ums Dasein im Tierreich“ sah. Er fragte
einem „natürlichen System“ erfasst werden. Darwin, ob er ihm den zweiten Band des „Kapital“
5
Diese theoretischen Überlegungen wurden widmen dürfe. Darwin verzichtete jedoch höflich

--
rasch akzeptiert. aber bestimmt, und ein Werk von Marx (Das Ka- 6
Organismen entwickeln sich ständig weiter. pital), welches nur zu Beginn aufgeschnitten war,
Arten vervielfachen sich im Laufe der Zeit. wurde später bei ihm gefunden. Indes „darwini- 7
Darwin sah z. B., dass die seinerzeit vier Spott- sierte“ Friedrich Engels den Marxismus, indem er
drosselarten auf den Galapagos-Inseln von den Klassenkampf besonders betonte.
einer Spottdrosselart des südamerikanischen Kooperative Wechselwirkungen: Neben der 8

-
Festlandes abstammen. natürlich von Generation zu Generation stattfin-
Die Evolution erfolgt in Form eines allmähli- denden Verschiebung von Genfrequenzen und der 9

-
chen Wandels. allgemein bei erfolgreichen Lebewesen vorkom-
Der Evolutionsmechanismus beruht auf der menden Überproduktion von Nachkommen gibt es
Konkurrenz unter zahlreichen einzigartigen einen ganz anderen Aspekt, der für die Evolution
10
Individuen um begrenzte Ressourcen: The- von sehr großer Bedeutung ist und über den auch
orie der natürlichen Selektion, die an der Darwin nachgedacht hat, und der auf den ersten 11
Variabilität der Individuen ansetzt, welche Blick im Gegensatz zum struggle for life zu stehen
„im Übermaß“ vorhanden sind. Generell gibt scheint: Lebewesen können nur in Kooperation 12
es bei Organismen eine Überproduktion von mit anderen überleben. Diese Kooperation kann
Nachkommen. Wir wissen heute, dass die Va- zwischen Individuen einer Art oder verschiedener
riabilität letztlich auf Mutationen und Rekom- Arten bestehen. Das Phänomen der Kooperation er- 13
bination ( s. Kap. 3) beruht. Selektion bedeutet weitert stark unsere Vorstellungen von den Evoluti-
Wettbewerb, bei dem sich der Bestangepasste onsmechanismen und ist ein wesentliches Grund- 14
durchsetzt; natürliche Selektion kann aber auch prinzip der Evolution.
zu Kooperation und Altruismus führen (s. u.).
15
  EXKURS 1.2  
16
Intertaxonische Kooperation
Bei der Beurteilung der von Charles Darwin for-
mulierten Evolutionsfaktoren wird häufig ein Ge-
wäre die Eroberung der Festlandes durch Pflanzen
wahrscheinlich nur in geringem Umfang erfolgt und
17
sichtspunkt übersehen, der ihn jedoch – auf der vermutlich wären nicht so riesige Waldflächen ent-
organismischen Ebene – über Jahre beschäftigt standen, sei es der Sporenpflanzen-Wald im Karbon 18
hat: die Kooperation. Ohne Kooperation wären (Steinkohlenwald, s. Abschn. 2.2.5) oder der jüngere
noch nicht einmal die Zellen (Eucyten) entstanden, Nackt- und Bedecktsamer-Wald bis in unsere Tage. 19
aus denen Pflanzen, Pilze und Tiere aufgebaut sind Ohne Kooperation wären Blütenpflanzen nicht zur
(s. EXKURS 3.1, Abschn. 3.2.7). Ohne Kooperation größten Pflanzengruppe und Insekten nicht zur
20
7
30 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

 EXKURS 1.2 (Fortsetzung) 
größten Tiergruppe geworden. Beide haben sich in erschließen der Pflanze anorganische Substanzen,
einer engen Co-Evolution bis zur heutigen Formen- die sie effizienter aus dem Boden lösen können als
fülle entfaltet. Diesem Phänomen hat sich Darwin die durch sie ersetzten Wurzelhaare, insbesondere
ganz speziell gewidmet. Besonders lange hat er stickstoff- und phosphorhaltige Mineralstoffe so-
sich mit Orchideen sowie mit Selbst- und Fremdbe- wie Wasser und Spurenelemente. Die autotrophe
fruchtung beschäftigt, so dass er zu einem frühen Pflanze versorgt den Pilz mit Kohlenhydraten, die
Wegbereiter der Blütenökologie wurde. Die engen sie selbst synthetisiert hat. Über 80 % der Land-
Beziehungen von Insekten und Pflanzen bringen pflanzen leben heute in einer sogenannten Endo-
jedoch auch Probleme für Pflanzen mit sich, weil oder arbuskulären Mykorrhiza. Die Pilze gehören
viele Insekten von ihrer Substanz leben, also her- zu den Zygomyceten. Sie dringen mit ihren Hy-
bivor sind. Dagegen wehren sich Pflanzen mit ei- phen in die Zellen der inneren Wurzelrinde der
ner ganz speziellen, subtilen Kooperation, die erst Pflanze ein und bilden in diesen ein bäumchen-
in unserer Zeit in ihrer Tragweite und Komplexität artiges System, das Arbuskel, bleiben jedoch im-
verstanden wird. Ohne Kooperation wären die von mer von der Pflanzenzellmembran umschlossen,
Scleractiniern dominierten, modernen Korallenriffe, durchstoßen diese also nicht. Hunderte von Genen
ein Produkt des Känozoikums, nicht entstanden. Sie der Pflanze verändern unter dem Einfluss des Pil-
liefern zudem Beispiele für eine Fülle von Koopera- zes ihre Aktivität und rufen Veränderungen hervor,
tionen im Bereich der Körperpflege und damit zur die wir noch nicht absehen können. Bei Bäumen in
Erhaltung der Integrität des Tierkörpers, sei es von gemäßigten Zonen überwiegt die ectotrophe My-
Fischen oder von Echinodermen und Mollusken, korrhiza. Die beteiligten Pilze sind überwiegend
die wir zunehmend auch aus anderen Lebensräu- Asco- und Basidiomyceten. Sie bilden einen Man-
men kennen lernen (Putzer-Symbiosen). Schließlich tel aus Pilzhyphen, der die kleinen Seitenwurzeln
muss die Frage gestellt werden, ob für die Mehr- umschließt und funktionell die fehlenden Wur-
zahl der Tiere – oder sogar für alle, und der Mensch zelhaare ersetzt. Insgesamt liegt der Vorteil der
ist ausdrücklich eingeschlossen – eine Ernährung Pflanzen in einer Förderung der Wasseraufnahme,
ohne kooperative Symbionten überhaupt möglich der Verbesserung der Mineralsalzversorgung und
ist. Gleiches gilt für die Mineralisierung von Exkre- auch in einem gewissen Schutz gegen Pathogene.
menten, Exkreten und Leichen, die das Zusammen- Vermutlich begann die unterirdische Beziehung
wirken ganz verschiedener Organismen erfordert. zwischen Pflanzen und Mykorrhiza-Pilzen schon im
Schließlich seien die ökologisch so erfolgreichen Ordovizium – vor ca. 450  Mio. Jahren – als sich
Flechten erwähnt, bei denen ganz verschiedene Moose in feuchten Landbiotopen entwickelten.
Partner zu etwas ganz Neuem geworden sind.
Die Kooperation – hier nur angesprochen auf Blütenpflanzen und Bestäuber: Kooperation
der intertaxonischen Ebene – ist also ein Phänomen schafft Vielfalt
der Evolution, welches viele Fortschritte erst ermög- Eine enge Wechselbeziehung ist zwischen Blü-
licht und ganze Lebensräume erschaffen hat und tenpflanzen und meist flugfähigen Tieren (Insek-
bis heute erhält. ten, Vögeln, Fledermäusen) entstanden. Sie lässt
sich bis in die Kreide zurückverfolgen. Die Tiere
Mykorrhiza: Ohne Pilze keine Wälder? transportieren den Pollen von einer Blüte zu einer
Solange es Landpflanzen gibt, also seit über anderen und erhöhen so die Wahrscheinlichkeit
400  Mio. Jahren, solange gibt es wohl auch die einer Bestäubung. Dabei leben sie teilweise von
Mykorrhiza, eine enge Symbiose von Pilzen und dem proteinhaltigen Blütenstaub und bekommen
Pflanzen in deren Wurzelbereich, in der Rhizo- oft noch weitere Nahrungsmittel dargeboten, ins-
sphäre. Insgesamt sind Tausende Pilz-Arten an besondere kohlenhydratreichen Nektar.
dieser Symbiose beteiligt und schätzungsweise Mit der Insektenbestäubung geht die Zwitt-
90 % aller Landpflanzen. Die heterotrophen Pilze rigkeit der Blüten einher, zudem entstanden
7
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 31

 EXKURS 1.2 (Fortsetzung) 
Klebrigkeit des Pollens, Lockduft, Blütenfarben duziert wird, die Parasiten der Insekteneier oder 1
und Nektarien, die Zuckerlösungen (Nektar) pro- der daraus schlüpfenden Larven sowie Prädatoren
duzieren. Unter den Insekten treten Hautflügler anlocken, die dann die Herbivoren abtöten. Die 2
(Hymenoptera), Schmetterlinge (Lepidoptera) und Fraßfeinde der Herbivoren kooperieren also mit
der Pflanze. Befallene Pflanzen können ihre Duft-
Zweiflügler (Diptera) hervor. Die Hymenopteren
machen etwa die Hälfte aller blütenbestäubenden produktion zeitlich so präzise fokussieren, dass Pa-
3
Insekten-Arten aus. Allen voran sind die sozialen rasiten oder Räuber nur so lange zu Hilfe gerufen
Aculeaten zu nennen, vor allem Bienen und Hum- werden, wie sich Insekteneier bzw. -larven in einem 4
meln. Durch ihre Blütenstetigkeit werden speziell Entwicklungszustand befinden, in dem eine Para-
die Honigbienen zu besonders wichtigen Bestäu- sitierung erfolgreich verlaufen kann. Die Pflanzen 5
bern zahlreicher Kulturpflanzen. Pflanzen, die produzieren je nach Herbivorenart unterschiedli-
nur oder fast ausschließlich von Hymenopteren che und hochspezifische Duftmuster, wenn sie be-
bestäubt werden, sind oft zygomorph (bilateral; fallen werden. Die Reaktion der Parasiten auf sehr 6
Schmetterlingsblütler, Rachenblütler und Orchi- spezifische fraß- bzw. eiablageinduzierte pflanzli-
deen). Schmetterlinge sind meist mit einem langen che Düfte kann von einigen Parasiten auch erlernt 7
Saugrüssel ausgestattet und saugen Nektar. Viele werden und zeigt somit eine breite phänotypische
Schmetterlingsblumen haben eine lange Blüten-
kronröhre, z. B. Nelkengewächse. Groß ist auch die
Plastizität. Durch das spezifische Duftmuster kön-
nen in einigen Pflanze-Parasit-Kooperationsbezie-
8
Zahl der Blütenbesucher unter den Dipteren. Nur hungen solche räuberischen oder parasitischen
auf ihren Besuch eingestellte Blüten sind jedoch Insektenarten angelockt werden, die sich optimal 9
eher selten. Blütenbesuchende Vögel gehören von den gerade an der Pflanze fressenden Her-
zu etwa 50 Familien; besonders bekannt sind die bivorenarten ernähren können. Die spezifischen 10
heute auf Amerika beschränkten Kolibris (Trochi- Reaktionen der Pflanzen sind bedingt durch die
lidae), die altweltlichen Nektarvögel (Nectariidae) artspezifischen Fraß- bzw. Eiablagemodi der her-
und unter den Papageien die in Südostasien und bivoren Insekten und auch durch die Chemie des 11
Australien beheimateten Pinselzüngler (Tricho- Speichels, der beim Fraß in die pflanzlichen Wun-
glossidae). Vogelblumen sind oft arm an Duft, den gerät, bzw. die Chemie der Sekrete, mit deren 12
aber leuchtend (oft rot) gefärbt, entsprechend der Hilfe Insekten ihre Eier an ein Blatt kleben.
vorwiegend optischen Orientierung der Vögel. Fle- Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die
Kooperation zwischen Pflanzen und den Parasiten
13
dermausblumen dagegen entwickeln v. a. nachts
einen starken Geruch. ihrer Feinde bietet eine Studie am Rosenkohl, der
Eiparasiten darüber informieren kann, wo Eier 14
Pflanzen holen die Feinde ihrer Feinde zu Hilfe vom Kohlweißling abgelegt worden sind und da-
Die Biomasse aller Pflanzen (Phytomasse) übertrifft durch die Suche des Parasiten nach Wirtseiern 15
die Biomasse aller Tiere (Zoomasse) um ein Vielfa- erleichtert; somit werden aus vielen Kohlweiß-
ches. Auf die gesamte Biosphäre bezogen wird das lingseiern keine Larven mehr schlüpfen, sondern
Verhältnis beider mit 99:1 angegeben. Von dieser Parasiten und die Gefahr von Schäden durch Kohl-
16
Pflanzensubstanz leben Unmengen von Tieren, un- weißlingslarvenfraß ist für den Rosenkohl vermin-
ter ihnen Hunderttausende von Insekten-Arten. Sie dert. Das Rosenkohlblatt verändert in Reaktion auf 17
legen ihre Eier an oder in Pflanzen ab, ihre Larven die Eiablage seine Oberflächenchemie und das
leben von ihrer Wirtspflanze und funktionieren in
vielen Fällen Pflanzengewebe so um, dass für sie
veränderte Oberflächenmuster wird von den Pa-
rasiten erkannt. Der Rosenkohl „bemerkt“ die Eiab-
18
Wohnraum und optimale Nahrung produziert lage des Kohlweißlings am Klebstoff, mit dem das
werden (Gallenbildung). Erst in jüngerer Zeit wird Kohlweißlingsweibchen die Eier an das Blatt hef- 19
deutlich, dass durch Insektenfraß oder sogar schon tet. Der Klebstoff stammt aus einer akzessorischen
durch die Eiablage die Bildung von Blattdüften in- Drüse im Genitaltrakt der Weibchen. Der eigentli- 20
7
32 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

 EXKURS 1.2 (Fortsetzung) 
che „Wirkstoff“ im Eiklebstoff, der im Rosenkohl- rallen anfällt. Die Kalkbildungsrate der symbiotisch
blatt die Oberflächenveränderung auslöst, ist Ben- lebenden Korallen übertrifft die der algenfreien um
zylcyanid. Das Weibchen hat diese Substanz bei den Faktor 10. Es kann zu einer jährlichen Deposi-
der Verpaarung vom Männchen erhalten und gibt tion von 10 kg/m2 kommen.
sie mit den Eiern an die Pflanze ab. Das Männchen
gibt Benzylcyanid als Antiaphrodisiakum an die Putzer-Symbiosen: Erhaltung der Integrität
Weibchen, um seine Vaterschaft zu sichern. Für die Die große Fülle von Fischen in Riffen – Korallenriffe
Pflanze ist dieses Antiaphrodisiakum eine Informa- beherbergen ein Viertel der marinen Fischarten –
tion darüber, dass befruchtete Eier auf den Blät- und wirbellosen Tieren mit einer weichen Oberflä-
tern liegen. Nur gegen diese muss sich die Pflanze che, welche Korallenriffe besiedeln, ist bakteriellen
Feinde der Feinde zu Hilfe holen. und Pilzinfektionen sowie Parasiten ausgesetzt.
Hier schaffen Putzer Abhilfe, das sind Organismen,
Korallen: besonders effiziente Baumeister die darauf spezialisiert sind, anderen – auch Raubfi-
Etwa 600.000 km2 bzw. 15 % der Flachseeböden schen – Haut und sogar Körperöffnungen (Kiemen-
zwischen 0 und 30 m Wassertiefe werden heute von und Mundraum) zu säubern (. Abb. 1.12). An Put-
dem artenreichsten Ökosystem der Meere einge- zerstationen im Korallenriff, die oft im Paar- oder
nommen, den Korallenriffen der Tropen und Sub- Haremsverband betrieben werden, können sich
tropen. Sie stellen – geologisch betrachtet – einen mehrere Meter lange Schlangen von Wartenden
recht modernen Lebensraum dar. In der uns be- bilden, die nacheinander behandelt werden. In
kannten Form existieren sie erst seit dem Tertiär. sechs Stunden können bis 300 „Kunden“ einer Säu-
Hauptriffbildner sind die Steinkorallen (Scleracti- berung unterzogen werden. Experimente, bei de-
nia). Selbst das größte heutige Riff, das Große Bar- nen Putzer aus Riffgebieten entfernt worden waren,
riereriff vor der Nordostküste Australiens, liegt in haben gezeigt, dass unter diesen Umständen viele
einem Gebiet, das vor etwa 20.000  Jahren noch Fische abwandern und dass bei den Ortstreuen die
landfest war. Riesige Wassermengen waren als In- Befallsrate mit Parasiten ansteigt. Nicht nur in Rif-
landeis gebunden und der Meeresspiegel lag mehr fen gibt es Putzer, hier sind es vor allem Fische und
als 100 m unter dem heutigen. Der Großteil der Krebse, sondern auch in anderen Lebensräumen,
Produktion des Großen Barriereriffs erfolgt heute in z. B. in Savannen mit Großtierherden, die von Vö-
einer Wassertiefe bis 50 m. Das liegt an der intrazel- geln gepflegt werden.
lulären Symbiose mit einzelligen Algen, die in den
Gastrodermis-Zellen der Korallen-Polypen leben. Verdauung in Kooperation mit
Das Große Barriereriff ist mit seiner Länge von Mikroorganismen
2300 km und einer Breite von 20–300 km wohl das Verdauungstrakte von Tieren werden üblicherweise
größte Bauwerk, das jemals von Lebewesen herge- von Mikroorganismen (z. B. Bakterien und Proto-
stellt wurde. zoen) besiedelt, die in vielen Fällen obligatorische
Etwa die Hälfte der Zoomasse der sessilen Symbionten sind. Termiten haben eine spezielle Gär-
Riffbildner lebt mit phototrophen Organismen kammer ausgebildet, in denen Mengen von Flagel-
in Symbiose. Als Primärproduzenten fungieren laten leben, die wiederum Bakterien enthalten. Ent-
Dinophyceen (Gymnodinium, Symbiodinium). Sie fernt man diese im Experiment, sterben die Insekten.
nutzen stickstoffhaltige Exkrete ihres Wirtes, wer- Unter den Säugetieren sind Wiederkäuer mit einem
den von dessen Kohlendioxid versorgt und liefern speziellen Magenabschnitt ausgestattet, dem Pan-
Kohlenhydrate, Glycerin und Aminosäuren. Es han- sen, der Mengen von Ciliaten, also tierische Einzeller,
delt sich um eine effiziente Kreislaufwirtschaft auf und Bakterien enthält, die wesentlich an der Aufar-
kleinstem Raum, als dessen Nebenprodukt durch beitung der pflanzlichen Cellulose beteiligt sind. Wie
die laufende Aufnahme von Kohlendioxid durch die fast alle anderen Tiere, die Cellulose zu sich nehmen,
Alge noch Calciumcarbonat zum Skelettbau der Ko- sind Wiederkäuer nicht imstande, diese chemisch
7
7
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 33

 EXKURS 1.2 (Fortsetzung) 
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13

..  Abb. 1.12a–f  Symbiosen im Korallenriff. a, b Putzerfische (Labroides) säubern die Oberfläche von Fischen. c Putzer-
14
fisch und Garnele beim Säubern. d Garnelen säubern eine Muräne. e, f Symbiose von Fisch (Gobiidae) und Krebs
(Alpheidae), die in einer Höhle leben. Photos W. Werzmirzowsky 15
aufzuarbeiten. Das machen Symbionten, speziell nicht verdauter Nahrungsbestandteile und von ab-
Bakterien. Beim Menschen ist das Colon ein speziel- gegebenen Darmepithelzellen, vor allem aus dem 16
les Ökosystem, welches eine umfangreiche Bakteri- Dünndarm. Täglich fällt pro Kilogramm Körperge-
enflora beherbergt. Man schätzt, dass wir im Dick- wicht etwa 1 g Protein an, das ebenfalls von den 17
darm etwa 1014 bis 1015 Bakterien beherbergen. Das Darmbakterien metabolisiert wird. Vor allem im dis-
entspricht einer Trockenmasse von 1,5 kg. Im Darm
eines Menschen leben diesen Schätzungen zufolge
talen Dickdarm gehen die Mikroorganismen selbst
zum erheblichen Teil zugrunde und stellen ihrerseits
18
etwa 10- bis 100-mal so viele Bakterien wie wir kör- Nahrung für andere Mikroben dar.
pereigene Zellen haben. Das bedeutet, dass wir – Eine weitere wichtige Aufgabe der Colonbakte- 19
numerisch gesehen – bis zu 99 % aus Bakterien be- rien besteht darin, dass sie die Besiedlung des Dar-
stehen. Die Mikroorganismen leben von Resten mes mit pathogenen Bakterien verhindern. Etwa 20
7
34 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

 EXKURS 1.2 (Fortsetzung) 
99 % der Darmbakterien sind Anaerobier. Sie pro- Flechten: 1 + 1 = 1
duzieren ein saures Milieu und flüchtige (volatile) Mit etwa 20.000 beschriebenen Arten besiedeln
Fettsäuren, die das Aufkommen der pathogenen Flechten nahezu alle terrestrischen Habitate, leben
Bakterien hemmen. vereinzelt auch im Süßwasser und sind an Mee-
resküsten zu finden. In Polnähe und den höchsten
Phoresie: Nutzung zeitlich limitierter Gebirgen sind sie die am weitesten vordringen-
Nahrungsquellen den vielzelligen Organismen, im Himalaja bis über
Tierische Lebewesen geben Kot (Faeces) und Urin
7000 m. Das Spektrum der im trockenen Zustand
(Exkrete) ab. Am Ende ihres Lebens verbleibt eine
tolerierten Temperaturen reicht von etwa −170 bis
Leiche. Leichen und Ausscheidungen müssen ab-
80 °C. Ihr Wachstum ist äußerst gering. Flechten be-
gebaut werden (Dekomposition) und werden
stehen aus dem Geflecht eines Pilzes (dem Myko-
letztlich (re-)mineralisiert. Dieser Prozess ist örtlich
bionten) und darin eingebetteten Grünalgen oder
und zeitlich limitiert. Speziell der Abbau von grö-
Cyanobakterien (den Photobionten). Man schätzt,
ßeren Kothaufen und Leichen zieht in kürzester
dass ein Fünftel bis ein Viertel der über 60.000 be-
Zeit Gilden von Organismen an, insbesondere flie-
kannten Pilz-Arten an der Bildung von Flechten
gende Insekten, die auf ihrer Oberfläche z. B. Bak-
beteiligt sind, denen sie ihre neue, arttypische Ge-
terien und flugunfähige Tiere wie Milben und Fa-
stalt vermitteln. Die Anzahl der Photobionten-Arten
denwürmer transportieren und mit diesen den
liegt bei etwa 100. Die bei weitem dominierenden
Abbau vollziehen. Nach Erledigung ihrer Tätigkei-
Pilze (98 %) sind die Ascomyceten, einen kleinen Teil
ten werden die nächsten duftenden Kotwelten
stellen die Basidiomyceten. Die Photobionten sind
aufgesucht. Das geschieht wiederum oft über
mehrheitlich Grünalgen (85 %), der Rest entfällt auf
Phoresie. Phoresieverhalten wird z. B. durch Tro-
Cyanobakterien. Der Pilz ist in der Flechtensymbi-
ckenheit des Substrates induziert. Fadenwürmer
ose in seinem Kohlenhydratstoffwechsel völlig auf
können sich zu kleinen Türmen aggregieren und
seine Photobionten angewiesen. Er erhält Glucose
winkende Bewegungen ausführen. Sie erhöhen so
(von Cyanobakterien) oder Zuckeralkohole (von
die Chance, ein Fluginsekt zu erreichen. Wie dieses
Grünalgen). Die Photobionten sind in Wasser- und
System gestört werden kann, wurde in den letzten
Mineralstoffversorgung vom Pilz abhängig. Flech-
Jahrzehnten speziell in Australien deutlich, wohin
ten bilden spezielle Flechtenstoffe – mehrere Hun-
man europäische Großsäuger eingeführt hatte,
dert sind bisher bekannt –, was die isolierten Sym-
deren Kot von den einheimischen Insekten nicht
biosepartner nicht tun. Sie dienen zum Beispiel zur
hinreichend abgebaut wurde. Es waren erhebliche
Abwehr von Fraßfeinden. Wenn sich Flechten auch
Forschungsanstrengungen nötig, um die adäqua-
seit dem Paläozoikum als ökologisch besonders
ten Kotverwerter von anderen Kontinenten aus-
erfolgreich erwiesen haben, werden ihre Grenzen
findig zu machen und in Australien einzusetzen.
durch die anthropogen beeinflusste Erdatmosphäre
Australischer Säugetierkot war vor dem Eintreffen
deutlich. Ihre Artenvielfalt ist in Ballungsgebieten
der Europäer und ihrer Haustiere vorwiegend Kot
deutlich rückläufig, wenngleich in Mitteleuropa der
von Beuteltieren.
Tiefpunkt hinter uns liegt.

Sexuelle Selektion, d. h. geschlechtliche Zucht- die Fitness des Trägers. Der genetische Beitrag eines
wahl (engl. selection in relation to sex), ist ein Phä- individuellen Organismus zur nächsten Generation
nomen, das Darwin in hohem Maße beschäftigte wird durch besondere Eigenschaften gesichert, die
und das er für die Evolution für sehr wichtig hielt. den ganzen Bereich der Reproduktionsbiologie be-
Man versteht darunter die Selektion auf Merkmale, treffen. Hierher gehören z. B. besonders auffällige
welche den Fortpflanzungserfolg der Merkmalsträ- männliche sekundäre Geschlechtsmerkmale, wie
ger vergrößern; sie geben indirekt einen Hinweis auf das Gefieder der Paradiesvögel. Die Weibchen ha-
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 35

lich schaffensfreudiger, ideenreicher und fleißiger


Zoologe. Seine großen Werke über Radiolarien, 1
Kalkschwämme und Medusen sind unübertroffen.
Er studierte Medizin und schloss mit Staatsexamen 2
und Approbation als praktischer Arzt, Wundarzt
und Geburtshelfer ab. Haeckel habilitierte sich in
der medizinischen Fakultät der Universität Jena 3
für vergleichende Anatomie. Von hier aus, wo er
seit 1865 als ordentlicher Professor für Zoologie 4
amtierte, verbreitete und popularisierte er den
Evolutionsgedanken. Es konnte nicht ausbleiben,
dass er massiven unsachlichen und diffamierenden
5
Angriffen ausgesetzt war (die z. T. auch heute noch
andauern, insbesondere im angelsächsischen Be- 6
reich). Er selbst neigte zu kämpferischer Polemik,
was ihm auch unter Kollegen und seinen hervor- 7
.. Abb. 1.13  Ernst Haeckel, Gemälde von F. Lenbach ragenden Schülern Feindschaften einbrachte. In
Preußen wurden die Schriften von Haeckel und
Darwin an höheren Schulen verboten, weil man sie 8
ben oft die Fähigkeit, ihren Partner nach solchen für staatsgefährdend hielt. Diesem Verbot war 1879
Merkmalen auszuwählen (sexuelle Zuchtwahl durch eine dreitägige Debatte im preußischen Abgeordne- 9
die Weibchen). Innerhalb einer Art wählt das Ge- tenhaus vorausgegangen. Ab 1882 wurde Haeckels
schlecht den Sexualpartner aus, das mehr an eige- wegen sogar der Biologieunterricht in den höheren
nen Energien in die Nachkommen investiert. Das ist Schulklassen in Preußen verboten. Mit welcher In-
10
bei den meisten Tierarten das weibliche Geschlecht. tensität hier gestritten wurde, geht aus . Abb. 1.14
In modernen Interpretationen der sexuellen Selek- hervor, die Haeckel für eine „Bierzeitung“ anfer- 11
tion spielen daher Weibchen eine wichtigere Rolle tigte. Hier wird der preußische Kultusminister v.
bei der Paarung als die Männchen. Zedlitz-Trützschler verspottet, den Haeckel schon 12
Weitere wichtige Werke von Darwin sind z. B. früher wegen seines „ultramontan gefärbten Volks-
„Animals and Plants under Domestication“ und „The schulgesetz-Entwurfes“ bekämpft hatte: Er widmet
Descent of Man“. Darwin starb am 19. April 1882 und ihm eine neu entdeckte Tierart, für die eine neue Fa- 13
wurde trotz großer Ferne zu Kirche und Christen- milie errichtet wird, die Coelocephala (Hohlköpfe).
tum in der Westminster Abbey beigesetzt, die größte Die Auseinandersetzungen haben auch unmittelbar 14
Ehre, die England ihm zuteilwerden lassen konnte. nach Haeckels Tod hohe Wellen geschlagen. Seine
Die weitere biologische Forschung stand jetzt Asche wurde schließlich auf der Ammerbacher
im Rahmen der Gedanken Darwins und unter dem Platte (bei Jena) verstreut; Herz, Schädel und Gehirn
15
Konzept der Evolution. wurden in Jena aufbewahrt.
Haeckels „Kunstformen der Natur“ (. Abb. 1.15) 16
hat Hunderttausenden die Augen für die Schönheit
1.1.9 Ernst Haeckel und die der belebten Natur geöffnet und hatte Auswirkungen 17
Auseinandersetzungen auf den Jugendstil.
in Deutschland Haeckel hat über 90 größere Reisen bis nach
Java und Sumatra unternommen. Er hat dabei 18
Ernst Haeckel (. Abb. 1.13; 1834 in Potsdam gebo- zahllose Anregungen erhalten und zumeist auch
ren und 1919 in Jena gestorben) war der engagier- wissenschaftlich gearbeitet. Sein primäres Inter- 19
teste Verfechter Darwins und der Evolutionslehre esse galt immer der Meeresbiologie. Auf Haeckel
in der deutschen Wissenschaft des 19. und des be- gehen wichtige Begriffe wie Ökologie, natürliches
ginnenden 20. Jahrhunderts. Er war ein unglaub- System der Organismen, Ontogenie, Phylogenie
20
36 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.14  Zedlitztrütschleria papalis


E. Haeckel. Darstellung aus einer Bierzei-
tung, die von Haeckel an Studenten
ausgegeben wurde. In der Diagnose
heißt es unter anderem: Cerebrum
minimum, sanguis coeruleus, gonades
maximae, penis permagnus duplex. Die
neue Tierart soll von einem Jesuiten-
Pater in einem Sumpf einer preußischen
Provinz auf einem einsamen Wald-
spaziergang mit der frommen Helene
entdeckt worden sein

Haeckel schuf in der „Generellen Morpholo-


gie“ (1866) die Begriffe Ontogenie und Phylogenie
und wies nachdrücklich auf den Kausalzusammen-
hang zwischen beiden hin. Ontogenie ist die „Ent-
wicklungsgeschichte der organischen Individuen“,
also die Entwicklung von der befruchteten Eizelle
bis zum erwachsenen Organismus. Phylogenie
ist die „Entwicklungsgeschichte der Stämme“. Er
betonte nachdrücklich Parallelen zwischen Onto-
und Phylogenie und formulierte das Biogenetische
Grundgesetz folgendermaßen: „Die Ontogenie ist
die kurze und schnelle Rekapitulation der Phyloge-
nie, bedingt durch die physiologischen Funktionen
der Vererbung (Fortpflanzung) und der Anpassung
(Ernährung). Das organische Individuum wieder-
holt während des raschen und kurzen Laufes seiner
individuellen Entwicklung die wichtigsten derjeni-
gen Formveränderungen, welche seine Voreltern
während des langsamen und langen Laufes ihrer
paläontologischen Entwicklung nach den Geset-
zen der Vererbung und Anpassung durchlaufen
haben.“
.. Abb. 1.15  Darstellung von Radiolarien aus Ernst Haeckels Haeckel sah in der Analyse von Embryonalsta-
„Kunstformen der Natur“ (1904) dien die Möglichkeit, phylogenetische Rekonstruk-
tionen vorzunehmen, womit er eine Fülle von For-
schungsvorhaben auslöste. Diese führten zu vielen
und monophyletische Gruppe zurück, und er regte Einschränkungen des Haeckelschen „Grundgeset-
viele wissenschaftliche Arbeiten an. Sein „Biogene- zes“ bis hin zur völligen Ablehnung, und Haeckel
tisches Grundgesetz“ (s. u.) erwies sich bis heute als schrieb bereits 1866: „Jede Wiederholung der Stam-
besonders fruchtbar und betrifft eine zentrale Frage mesgeschichte ist eben nur in seltenen Fällen ganz
der Evolutionsbiologie; sich damit auseinander zu vollständig und entspricht nur selten der ganzen
setzen, ist heute so wichtig wie damals. Buchstabenreihe des Alphabets. In den allermeis-
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 37

ten Fällen ist vielmehr dieser Auszug sehr unvoll- Embryologie auf der Erforschung der Regulation
ständig, vielfach verändert, gestört oder gefälscht“. und des Zusammenspiels der Expressionsmuster 1
Er selbst modifizierte sein Gesetz und baute es aus. verschiedener Gene.
So unterschied er z. B. Palingenesen (Stadien oder Seit seiner Veröffentlichung von Abbildungen 2
Merkmale in der Embryonalentwicklung, die für der Embryonalstadien verschiedener Wirbeltiere in
die Beurteilung der Phylogenie geeignet sind) und der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ (1868) sah
Caenogenesen (Embryonalstadien, die spezielle An- sich Haeckel immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, 3
passungen an das Embryonalleben darstellen und Befunde gefälscht zu haben. Dieser Vorwurf ist bis
keine Beziehungen zur Phylogenie haben). in unsere Zeit hinein zu hören, speziell in der angel- 4
Interessant ist, dass homologe Organe auf unter- sächsischen Welt und in kirchlichen Kreisen. Einer
schiedliche Art und Weise in der Ontogenese ent- der ersten, die diesen Vorwurf erhoben, war der Ba-
stehen können. Adolf Remane (1971) hält 60–70 % seler Anatom Ludwig Rütimeyer (1868). Rütimeyer
5
der Morphogenese für phylogenetisch auswertbar, wies nach, dass Haeckel für frühe Stadien von Schild-
auf frühen Embryonalstadien seltener als auf spä- kröte, Huhn und Hund denselben Druckstock be- 6
teren. nutzt hatte. Haeckel erwiderte darauf, dass diese frü-
Seit einiger Zeit wird der Begriff „phylotypisches hen Stadien einander außerordentlich ähnlich seien; 7
Stadium“ für die Entwicklungsphase gebraucht, in er wies den Vorwurf der Fälschung zurück und war
der sich die Embryonen eines Tierstammes oder ei- sich offenbar keiner Schuld bewusst; der Druckstock
ner Tierklasse besonders stark ähneln. Bei Säugern wurde in späteren Auflagen aber nur noch für die Il- 8
tritt dieses Stadium nach der Neurulation und der lustration eines frühen Säugetierstadiums gebraucht.
Bildung der Somiten auf. Haeckels Persönlichkeit und seine Stellungnahmen 9
Obwohl man an fast jeder Einzelformulierung zu Politik und Kirche brachten ihm viele Gegner ein,
von Haeckels Biogenetischem Grundgesetz Kritik die nur zu gerne auf den Vorwurf der „Fälschungen“
üben kann, bleibt es im Kern gültig. Haeckel ging es zurückgriffen, um ihn zu diskreditieren, besonders,
10
um die Beziehung von Phylogenie und Ontogenie, als er sich nicht scheute, konsequent auch den Men-
und es ist unbestritten, dass die Embryonalentwick- schen als Produkt der Evolution zu bezeichnen („An- 11
lung die Evolution der Vorfahren widerspiegelt. Die thropogenie“, 1874; . Abb. 1.16). Haeckels polemi-
molekularbiologische Forschung hat hochkonser- schen Angriffe gegen Institutionen des Staates, gegen 12
vierte molekulare und zelluläre Entwicklungsme- Missstände in Schulbehörden, das Kartell von Kirche
chanismen nachgewiesen. Bei Arthropoden und und Staat usw. provozierten wütende, unsachliche
Vertebraten werden z. B. Hox-Genkomplexe und Gegenangriffe. Man hätte ihn gerne ausgeschaltet, 13
dieselben Familien von Signalmolekülen in der seine Vorgesetzten in Jena hielten aber schützend die
Embryonalentwicklung eingesetzt. Was heute bei Hand über ihn. Auch aus der Wissenschaft kamen 14
Drosophila in dieser Hinsicht entdeckt wird, hat Angriffe gegen ihn, immer wieder tauchte neben der
meistens auch große Bedeutung für das Verständ- Ablehnung des „Darwinismus“ auch der Vorwurf
nis der Entwicklung anderer Tiere (EXKURS 3.3 Ab- von unzulässiger Vereinfachung, Fälschung und so-
15
schn. 3.4.1). Einmal entstandene Entwicklungs- gar Unglaubwürdigkeit auf. Er verteidigte sich u. a.
mechanismen, die sich bewährt haben, werden mit dem Hinweis, dass „einfache schematische Figu- 16
beibehalten, obwohl die betreffenden Organismen ren weit brauchbarer und lehrreicher seien als mög-
seit mehreren 100 Mio. Jahren getrennt sind. Zum lichst naturgetreue und sorgfältigst ausgearbeitete“. 17
Beispiel spielen in der frühen Entwicklung der Te- Im Grunde ging es Haeckel um allgemeine Prinzi-
trapodenextremität wie bei der Bildung der Kno- pien und große Linien, bei deren Vermittlung er zum
chenfischflossen die Schlüsselsignal-Gene sonic Teil großzügig verfuhr. Persönlichkeiten, die ihre 18
hedgehog und die Hox-Gene (dies sind Transkrip- Konzentration auf das Detail richteten, fanden hier
tionsfaktoren) eine wichtige Rolle. Im Laufe der leicht Anlass zur Kritik. Manche konnten und woll- 19
Weiterentwicklung entstehen eigene Genexpressi- ten die große didaktische Linie Haeckels offensicht-
onsmuster, die oft mit den Ontogeneseabläufen lich nicht sehen. Dass Haeckel jedoch auch im Detail
korrelierbar sind. Heute liegt der Schwerpunkt der exakt sein konnte, hat er in seinen Radiolarien- und
20
38 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.16  Ernst Haeckels Stamm-


baum der Tiere und des Menschen
(1874), der den heutigen Vorstellungen
nicht sehr fern ist

Medusen-Monographien bewiesen. Haeckel war der der Freiheit der Lehre“ den Kampf des Keplerbun-
erste, der Stammbäume aller Organismen entwarf, des gegen Haeckel „aufs Schärfste“ verurteilen und
da musste er in großen Linien vorgehen, und dies sich uneingeschränkt zum „Entwicklungsgedanken“
tat er mit der ihm eigenen Begeisterung. Bewusstes bekennen. 1910 trat Haeckel aus der Kirche aus. Er
Fälschen ist ihm in keinem Falle zu unterstellen. 1909 konzentrierte sich immer mehr auf seine Weltan-
kam es – nach heftigen Angriffen des evangelischen schauung, den Monismus, in dem er die Einheit von
Keplerbundes – zu einer Erklärung von 46 bekannten Materie, Geist und Seele zu definieren suchte, so wie
Biologen, darunter Theodor Boveri, Karl Grobben es sich für ihn logisch aus dem Evolutionskonzept
und Richard Hertwig, in der diese zwar ein „in eini- ergab. Haeckels Wirken reichte weit in die Geistes-
gen Fällen geübtes Schematisieren“ und einige „un- wissenschaften und die Kunst hinein. Sein immen-
zutreffend wiedergegebene Embryonenbilder“ nicht ses Werk, seine pointierten Formulierungen, seine
„gutheißen“, aber „im Interesse der Wissenschaft und zahllosen Anregungen sind noch heute wirksam.
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 39

Die molekularbiologische Forschung bestätigt seine


Grundgedanken immer wieder. Es gelang ihm, das 1
Phyletische Museum in Jena zu gründen (Eröffnung
1912), dessen Besuch heute ebenso lohnt wie der des 2
Ernst-Haeckel-Hauses (Berggasse 7, 07745 Jena).

3
1.1.10 Die Bedeutung der Genetik
4
Die entscheidenden Fortschritte nach Darwin
brachte vor allem die Genetik, deren Grundlagen
schon 1865 von Johann Gregor Mendel (1822 bis
5
1884; . Abb. 1.17) gelegt worden waren, die aber
erst um das Jahr 1900 aufzublühen begann. 6
Mendel hatte ein naturwissenschaftliches Stu-
dium in Wien abbrechen müssen, nachdem er .. Abb. 1.17  Johann Gregor Mendel, im Amtsornat des 7
Prüfungen nicht bestanden hatte. Im Augustiner- Abtes um 1868, Brünn, Mendelianum
Kloster in Brünn, das er später als Abt leitete, hatte
er seine grundlegenden Kreuzungsexperimente mit genetischen Information ist. Mit der Aufklärung 8
Erbsen zwischen 1854 und 1863 durchgeführt. Nie- der Struktur der DNA und ihres Replikationsme-
mand erkannte jedoch sein weitreichendes Konzept chanismus (J. D. Watson, F. H. C. Crick, M. H. F. Wil- 9
der genetischen Informationseinheiten, von ihm kins, 1953) ließen sich immer exaktere Einblicke
Faktoren, heute Erbanlagen oder Gene genannt. in das Phänomen Evolution und seine Mechanis-
Nach seinem Tod hat man im Kloster fast alles ver- men gewinnen. Der genetische Code wurde ent-
10
brannt, was sich in seinen Unterlagen fand. Promi- deckt (M. W. Nirenberg, H. G. Khorana, S. Ochoa),
nente Botaniker wie Carl Naegeli nahmen Mendels Exons wurden von Introns unterschieden (s. Ab- 11
Ausführungen nicht ernst. Darwin blieben Mendels schn. 3.4.1). Heute beherrscht die molekulare Gene-
Ergebnisse unbekannt, und auch Haeckel, der erst tik die Evolutionsforschung. Bedeutsam war u.v. a. 12
nach 1900 von ihnen erfuhr, hat ihre Bedeutung die Entdeckung der Hox-Gene (Hom/Hox-Gene),
nicht verstanden. Hugo de Vries, Carl Correns und die in allen Tiergruppen nachgewiesen wurden und
Erich von Tschermak wiederholten die Versuche die die relative Lage von Organen in einem Organis- 13
Mendels Ende des 19. Jahrhunderts, ohne dessen mus und Phänomene wie Segmentierung codieren
Experimente und Resultate zu kennen. Sie kamen (s. Abschn. 3.4.1). Vergleiche von DNA-Abschnitten 14
zu denselben Erkenntnissen und entdeckten die und DNA-Produkten, den Proteinen, können jetzt
vergessene Arbeit Mendels wieder. auch für die Verwandtschaftsforschung eingesetzt
Ab 1900 setzte sich die Genetik durch. Die Men- werden („molekulare Evolutionsforschung“, s. Kap. 3
15
delschen Regeln (s. Abschn. 3.5.2) waren die Basis, und 4). Das Zusammenspiel des gesamten Genoms
es wurden Präzisierungen und Erweiterungen erar- ist heute noch ein ungelöstes Problem der geneti- 16
beitet. In der Zoologie wurde durch den Amerika- schen Forschung, worauf Rupert Riedl (1925 bis
ner Thomas Hunt Morgan (1866 bis 1945) Droso- 2005) in der von ihm mitgeprägten Systemtheorie 17
phila mit ihren Riesenchromosomen das beliebteste besonders nachdrücklich hinweist.
Untersuchungsobjekt. Der dänische Pflanzenzüch-
ter Wilhelm Johannsen (1857 bis 1927) schuf 1909 18
den Begriff Gen, abgeleitet vom „Pangen“ im Sinne 1.1.11 Weitere Denkansätze
von de Vries. Im Jahr 1943 wies Oswald Avery nach, im 20. und 21. Jahrhundert 19
dass die Desoxyribonucleinsäure (DNA), die bereits
1869 von Friedrich Miescher in Tübingen entdeckt Neben der Genetik mit all ihren Teildisziplinen
worden war, in den Chromosomen Trägerin der entwickelten sich nach Darwin und Haeckel auch
20
40 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

schaft zu ordnen, gab es ab ca. 1950 große Fort-


schritte.
Der Zoologe und Meeresbiologe Adolf Remane
(1898 bis 1976), ein Schüler Willy Kükenthals, ver-
öffentlichte 1952 sein Hauptwerk „Grundlagen
des natürlichen Systems“. Es beruht auf einzigarti-
ger Kenntnis der Geschichte der Biologie und der
Tier- und Pflanzenwelt. Besonders fruchtbar sind
die von Remane formulierten Homologiekriterien,
deren Erkennen und Anwendung für theoretische
und praktische Arbeit von entscheidender Bedeu-
tung ist. Remanes Natürliches System beruht auf der
modernen Evolutionstheorie und methodisch vor
allem auf der Ermittlung von Homologien. Der The-
.. Abb. 1.18  Alfred Wegener, Polarforscher und Begründer
orie des natürlichen Systems Remanes entspricht die
eines mobilistischen Bildes der Erdoberfläche „evolutionäre“ oder „Darwin(i)sche“ Systematik,
die später formuliert wurde.
vergleichende Anatomie, Systematik, Entwicklungs- Es existieren konkurrierende Denkschulen, z. B.
biologie und Erforschung der biologischen Vielfalt die numerische Phänetik, die versucht, „objektive“,
intensiv weiter, zumeist getragen von der Idee der abzählbare Merkmale zu erfassen und in ein Sys-
Evolution und oft auch von Haeckels Biogeneti- tem umzusetzen. Relativ überzeugende Ergebnisse
schem Gesetz. hat diese Vorgehensweise nur in der molekularen
Die Kontinentalverschiebungstheorie wurde Systematik erbracht, im Rahmen der Computerta-
1912 von Alfred Wegener (. Abb. 1.18; 1880 bis xonomie mit „Abstands-“ oder „Distanzmethoden“
1930) vorgestellt. Sie basierte auf einer Fülle von (s. Abschn. 4.1.2). Hier wird das alte Problem deut-
Fakten, z. B. aus Geographie, Geologie, Klimatolo- lich, dass Merkmale nicht nur abgezählt, sondern
gie und Paläontologie. Wegener formulierte sogar auch bewertet werden müssen.
schon, dass es im Atlantik eine Meeresbodenerwei- Auf Willi Hennig (1913 bis 1976) geht die Kladis-
terung gegeben haben müsse. Das fixistische (sta- tik zurück. Wie andere Taxonomen fordert er, dass
tische) Bild der Erde wurde in seinen Augen durch eine Klassifikation auf phylogenetischer (evolutio-
ein mobilistisches Modell ersetzt. Nach Jahrzehnte närer) Verwandtschaft (natürliches System) beru-
währender, vehementer Ablehnung ist es seit etwa hen muss. Der Verwandtschaftsgrad ist messbar,
1960 in modifizierter Form anerkannt und zur was sich – mit Hilfe phänetischer Methodik – bei
Plattentektonik weiterentwickelt. Die Bewegung der DNA-Analyse bestätigt hat. Versuche, Kladis-
der Platten kann heute sogar gemessen werden tik ohne Phylogenie zu betreiben, waren kurzlebig
(s. Abschn. 1.2.1). Plattentektonik ist bei biogeogra- und wurden von Kreationisten benutzt, um zu be-
phischen Untersuchungen und für die Erklärung haupten, dass es wichtige Biologen gäbe, die Zweifel
mancher evolutionärer Phänomene von großer Be- an der Evolution haben. Wesentliches Element der
deutung und in der Paläogeographie unverzichtbar. Kladistik ist die Feststellung der Monophylie (der
Sie hat sich auch bei der geographischen (allopat- Begriff geht auf Ernst Haeckel zurück). Angehö-
rischen) Artbildung (Speziation) als fruchtbar er- rige monophyletischer Gruppen müssen sich auf
wiesen, wenn sich auch nicht alle disjunkten Ver- einen gemeinsamen Vorfahren zurückführen las-
breitungen auf die Kontinentaldrift zurückführen sen. Gruppen, die nur Abkömmlinge eines gemein-
lassen (s. Abschn. 4.4.2). samen Vorfahren, aber nicht alle Abkömmlinge
In den theoretischen Grundlagen der Syste- dieses Vorfahren enthalten, werden paraphyletisch
matik, deren Ziel es ist, in der biologischen Vielfalt genannt. Gruppen, die von einem gemeinsamen
die Verwandtschaft der Organismen zu erkennen Vorfahren abstammen, der selbst nicht Teil dieser
und Pflanzen und Tiere aufgrund ihrer Verwandt- Gruppe ist, werden als polyphyletisch bezeichnet.
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 41

Para- und polyphyletische Gruppen sollen in der sogenannte Punktualismus (punctuated equilibria)
Systematik, sobald sie erkannt werden, durch mo- von Niles Eldredge und Stephen Jay Gould (1971, 1
nophyletische Gruppierungen ersetzt werden. So 1972). Er besagt, dass wichtige Ereignisse der Evo-
hat der Kladismus eine umfängliche Terminologie lution während kurzer Phasen mit vielfacher Art- 2
mit jeweils möglichst exakter Definition geschaf- bildung stattfinden und dass erfolgreiche Arten
fen. Viele dieser neuen Begriffe haben ältere mit dann oft für lange Zeit nur geringe Veränderungen
gleichem oder ähnlichem Inhalt abgelöst. In der erfahren (Stase). Mit dem Phänomen, dass es in den 3
heutigen taxonomischen Arbeit stehen kladistische Erdzeitaltern immer wieder zu Phasen mit Entste-
Begriffe und Betrachtungsweisen im Vordergrund. hung neuer Arten und Typen kam und dass z. T. re- 4
In welchem Umfang Kladogramme die evolutionäre lativ schnell viele Arten verschwanden, hatten sich
Verwandtschaft wiedergeben, ist eine noch offene schon in der Vergangenheit Forscher beschäftigt,
Frage (s. EXKURS 3.1  Abschn. 3.2.7; EXKURS 3.4 Ab- z. B. Cuvier und in der Mitte des 20. Jahrhunderts
5
schn. 3.4.3; EXKURS 3.5, Abschn. 3.4.4). der Tübinger Paläontologe Otto Schindewolf mit
Ein wichtiger Schritt in Hinsicht auf die Ak- seinem Typostrophismus. 6
zeptanz der Evolutionstheorie war deren Weiter- Man sollte sich bei solchen Theorien immer vor
entwicklung unter Einbeziehung der Genetik und Augen halten, dass es allgemein nicht nur einen 7
Populationsgenetik („synthetische Theorie“), die Grund für ein Phänomen gibt und nicht nur eine
sich allmählich im Zeitraum von 1930 bis 1950 he- Erklärung für ein Problem. Der Punktualismus ist
rausbildete. Wichtige Evolutionsbiologen dieser Zeit keineswegs die einzig mögliche Theorie zum evolu- 8
waren u. a. Theodosius Dobzhansky („Genetics and tionären Wandel (siehe Tempo der Evolution, Kap. 3
the Origin of Species“, 1937), Julian Huxley („Evo- und 4). Es ist wohl so, dass die meisten Phänomene 9
lution, the modern synthesis“, 1942), Ernst Mayr in der Biologie mit mehreren Theorien erklärt wer-
(zahlreiche Veröffentlichungen zu Artbildung und den müssen (Pluralismus der Erklärungen). Zu
Evolution), Bernhard Rensch („Neuere Probleme berücksichtigen ist stets, dass es auch bei Wissen-
10
der Abstammungslehre“, 1947), George Ledyard schaftlern grundlegende Ideologien („Tiefen-Para-
Stebbins („Variation and Evolution of Plants“, 1950) digmen“) gibt, so dass sie bestimmte Auffassungen 11
und George Gaylord Simpson („Tempo and Mode in nicht akzeptieren können. Wissen entwickelt sich
Evolution“, 1944). Zentrale Erkenntnis dieser und weiter, z. B. durch neue Methoden. Ein Beispiel sind 12
vieler anderer Biologen jener Zeit war, dass die Evo- die molekularbiologischen Methoden, welche die
lution das zentrale Prinzip aller Lebensäußerungen makro- und mikroskopischen Methoden erweitern.
ist. Insbesondere Ernst Mayr (1904 bis 2005), ein Wissen wird durch den Wettstreit alternativer An- 13
Leben lang der Ornithologie und der Evolutions- sichten gefördert. Auch die Wissenschaft entwickelt
biologie verbunden, hat die synthetische Theorie – sich – wie die organische Welt – weiter; man kann 14
gemeint ist die Synthese von Abstammungs- und sich sogar auf den Standpunkt stellen, dass es trotz
Vererbungslehre – über Jahrzehnte in Originalar- aller Verschiedenheiten auch bei naturwissenschaft-
beiten entwickelt und in Buchpublikationen einem lichen Theorien Phänomene wie Variation und Se-
15
breiten Publikum vorgestellt. lektion gibt.
Die synthetische Evolutionstheorie gab weiten Im Rahmen der synthetischen Evolutionstheo- 16
Raum auch für kontroverse Diskussion und For- rie spielt auch die Ökologie eine wichtige Rolle, und
schung. Eine Rolle spielte immer wieder die Frage, zwar in Hinsicht auf Nischen, Konkurrenz, Popula- 17
ob die Variation zufällig zustande kommt oder tionsdichte, Fortpflanzungsstrategien (r-Selektion
nicht. Es wurde deutlich, dass Evolution zeitliche [Produktion vieler Nachkommen, von denen die
und räumliche Aspekte hat, dass Adaptationen in große Mehrzahl zugrunde geht, stark schwankende 18
einer Stammlinie ebenso wichtig sind wie die Ent- Populationen, die oft Katastrophen ausgesetzt sind],
stehung organismischer Vielfalt. Beruhend auf dem K-Selektion [konstante, geringe Nachkommen- 19
Konzept der synthetischen Evolutionstheorie ent- zahl]), Räuber-Beute-Beziehungen, Nahrungskette
standen verschiedene, z. T. spektakulär vorgebrachte und Co-Evolution. Unter Co-Evolution versteht
Evolutionstheorien, z. B. zur Makroevolution der man evolutionäre Veränderungen bei zwei zusam-
20
42 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

menlebenden Organismen, z. B. bei Blüten und Blü- unser Genom viel zu unserem Verhalten, unseren
tenbestäubern (s. Abschn. 4.3.1). Vorlieben und unseren Begabungen beiträgt.
Motoo Kimura (1924 bis 1994) war Evolutions- Gerhard Vollmer (geb. 1943) und Eckart Voland
biologe, Molekularbiologe und Populationsgeneti- (geb. 1949) stehen für evolutionäre Erkenntnisthe-
ker, der die Theorie neutraler Mutationen aufstellte, orie und Soziobiologie unter Einschluss des Men-
der zufolge die Mehrheit genetischer Mutationen schen.
sich in Hinsicht auf die Selektion neutral verhält. John Maynard Smith (1920 bis 2004) war Ge-
Neutrale Mutationen (s. Abschn. 3.3.1) erfolgen mit netiker, Verhaltensforscher und Theoretiker, der
gewisser Konstanz, was Basis für das Konzept der Spieltheorie, Soziobiologie, Molekularbiologie und
molekularen Uhr wurde. Systemtheorie (R. Riedl) verband, um das Verständ-
Manfred Eigen (geb. 1927), Nobelpreis für Che- nis für evolutionäre Strategien zu vertiefen. Mit
mie (1967), stellte weiterführende Hypothesen zur verschiedenen Kollegen schuf er das Konzept der
Selbstorganisation der Moleküle, die das Leben evolutionär stabilen Strategie.
kennzeichnen, auf und verband Elemente der Spiel- Richard Dawkins (geb. 1941) trug entscheidend
theorie mit der Evolutionstheorie („Das Spiel“, mit zur „genozentrischen Revolution“, die von George
R. Winkler). G. Williams (geb. 1926) eingeleitet worden war, bei
William Donald Hamilton (1936 bis 2000) unter- („Das egoistische Gen“). Er schuf auch den Begriff
suchte Aspekte des Sozialverhaltens in Hinsicht auf „Mem“, der auf dem Felde von kulturellen Entwick-
die Biologie und ist ein Vorläufer der Soziobiologie. lungen dem Begriff Gen analog ist. Im Jahr 2006 er-
Er war Genetiker, der u. a. genetische Grundlagen schien sein viel beachtetes Werk „The God Delusion“,
für das Phänomen Verwandtenselektion unter- in dem er das zerstörerische Potenzial von Religio-
suchte und Erklärungen für den Altruismus fand. nen behandelt (s. auch EXKURS 1.5 Abschn. 1.2.6).
In der gegenwärtigen Diskussion um die Evo- Unsere Vorstellungen zur Evolution sind im
lution nimmt die Soziobiologie einen beachtlichen 20. Jahrhundert insbesondere durch die Entdeckung
Raum ein (Edward O. Wilson: „Sociobiology, the der Plattentektonik und die Molekularbiologie be-
New Synthesis“, 1975). Sie beschäftigt sich mit der reichert worden. Dass die Evolution der Organis-
Bedeutung der Evolution für das Sozialverhalten. men ganz wesentlich durch die Drehung der Erde
Bestehende Kontroversen beruhen vor allem da- um die eigene Achse, die Dauer des Umlaufes der
rauf, dass die Soziobiologie ausdrücklich und mit Erde um die Sonne sowie den Mond beeinflusst
Recht menschliches Verhalten einschließt (s. Ab- wurde, soll im folgenden Exkurs 1.3 erläutert wer-
schn. 1.2.6), denn es ist seit langem bekannt, dass den. Circadiane und Jahresperiodik, Lunar- und

  EXKURS 1.3  

Unter dem Diktat der Physik


Harald Lesch (München)

Das Leben auf der Erde hat sich vor und in einer systems. Damit werden grundsätzliche Para-
Kulisse entwickelt, deren Randbedingungen durch meter, wie Erdmasse und anfängliche Rotation
physikalische Prozesse definiert werden. Grundle- festgelegt, aber auch der Ursprung des Wassers

- -
gend sind hier die sieben Eckpfeiler: auf der Erde.
Die Entstehung des Sonnensystems: sie stellt Die Entstehung und der Einfluss des Erdmon-
den Rahmen für alle materiellen Transformati- des, denn er stabilisiert über die sich wandeln-

-
onsprozesse dar. den Gezeitenkräfte die Achsenneigung der
Die Bildung der Planeten, insbesondere der Erde sowie die Veränderungen der Oberfläche
Erde innerhalb der Entwicklung des Sonnen- durch Ebbe und Flut.

7
1.1  •  Geschichte der Naturerkenntnis und der Evolutionstheorie 43

-
 EXKURS 1.3 (Fortsetzung) 
Die Nähe des Planeten zur Sonne, sie bestimmt und damit zur Schaffung der Voraussetzungen für 1
die Strahlungsintensität, die den Planeten er- die Entstehung von relativ leichten Felsenplaneten

- 2
reichen kann. im inneren Bereich des Sonnensystems und der
Die innere Dynamik des Planeten Erde liefert Bildung von großen, schweren Gasplaneten weiter
die grundlegenden Bausteine der Uratmo- draußen. Während also Jupiter und Saturn das kalte
3
-
sphäre. Gas der Scheibe aufsammelten und dabei zu im-
Die Entwicklung der Atmosphäre definiert die mer größeren Gasriesen anwuchsen, bildeten sich

-
Stärke des planetaren Treibhauseffektes. näher zur Sonne rot glühende Felsenkugeln, deren 4
Die Entwicklung der Sonne entscheidet darü- Temperatur sich durch den Aufprall von Felsen und
ber, ob die Erde zunächst global vergletschert Asteroiden von einigen Hundert bis Tausend Kilo-
5
und nie mehr auftaut, oder ob sie sich zum metern immer weiter erhöhte.
blauen, lebendigen Planeten entwickelt In einem ersten „Aufräumungsprozess“ wurde
der innere Teil des Sonnensystems zum endgültigen 6
Wir beginnen im Universum, in der Zeit vor dem Platz der Felsenplaneten. Bis auf wenige verblie-
Sonnensystem und erzählen die vermutliche bene Vagabunden hatte sich die innere Scheibe des 7
Geschichte Schritt für Schritt. Sonnensystems in vier Planeten verdichtet. Einer
Voraussetzung für Planeten mit festen Oberflä-
chen und für Lebewesen sind chemische Elemente
dieser Vagabunden traf die Erde. Aus der Analyse
von knapp 400 kg Mondgestein, auf die Erde ge-
8
jenseits von Helium, insbesondere Eisen, Silicium, bracht durch sechs erfolgreiche Apollo-Missionen,
Magnesium und Aluminium für den Erdkörper, so- ergibt sich folgendes Szenario: Ein Felsbrocken von 9
wie Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor, ca. 20 % der Erdmasse schlug streifend in die noch
Calcium, Chlor, Natrium u. a. für Lebewesen. All glutflüssige Erde ein. Der Eisenkern des Einschlä- 10
diese Elemente werden nur in großen, schweren gers drang ins Erdinnere vor, aus Erdmantelgestein
Sternen durch Kernverschmelzung „erbrütet“, die – vermischt mit Mantelgestein des Einschlägers –
ihr Leben in einer Supernova-Explosion beenden. bildete sich in ca. 30.000 bis 50.000 km Abstand der 11
Erste Voraussetzung für die Entstehung von Fel- Erdmond. Seine Zusammensetzung lässt nur einen
senplaneten und Lebewesen ist also die stellare Schluss zu: Die Zusammensetzung des Einschlägers 12
Nucleosynthese, bevor das Sonnensystem ent- muss der der Erde sehr ähnlich gewesen sein. Des-
stand. Ebenso wichtig ist der Transport der in den
großen Sternen synthetisierten Elemente in die
halb geht man heute davon aus, dass die Erde in
einem Doppelplanetensystem entstanden ist. Die
13
Gaswolke, in der das Sonnensystem sich bilden beiden Brocken haben sich umkreist, sind streifend
konnte. Analysen von Meteoriten liefern ein ein- aneinander vorbei gezogen und haben dabei den 14
drucksvolles Bild der Zeit vor unserem Sonnen- Mond gebildet. Dieses Szenario erklärt alle wesent-
system. Aus der Verteilung der Zerfallsprodukte in lichen Eigenschaften des Erdbegleiters. 15
den Meteoriten lässt sich eindeutig rekonstruieren, Die Oberfläche des Mondes ist gekennzeichnet
dass rund 2 Mio. Jahre vor der Entstehung unseres von Einschlagkratern, die auf ein letztes Bombarde-
Sonnensystems zwei große Sterne als Supernova ment rund 500 Mio. Jahre nach seiner Entstehung 16
explodierten. Diese Explosionen trieben die mit hindeuten. Die moderne Planetenforschung liefert
schweren Elementen angereicherten Sternhüllen hierfür eine Erklärung, die ziemlich sensationell ist 17
mit einigen Hundert Kilometer pro Sekunde in eine und eine weitere, sehr wichtige Randbedingung für
Gaswolke. Die mit den stellaren Schockwellen ver-
bundene Dichteerhöhung ließ die Gaswolke unter
Leben auf der Erde erklärt: den Ursprung des Was-
sers.
18
ihrem eigenen Gewicht zusammenstürzen und Hier die Hypothese: Das späte Bombardement
in mehreren Kollapsschritten die Sonne und eine ist das Ergebnis der Planetenmigration von Jupi- 19
Gas-Staub-Scheibe entstehen. In der Scheibe kam ter, Saturn, Neptun und Uranus relativ zu einer Ge-
es schnell zu einer Trennung von Gas und Staub steinswolke von circa 20 bis 30 Erdmassen. Dabei 20
7
44 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

 EXKURS 1.3 (Fortsetzung) 
sprang Neptun über den Uranus und kippte seine Erde auf die heutigen 24 Stunden Tageslänge abge-
Rotationsachse um 90°. Zugleich löste er die Ge- bremst und zugleich den Mond auf die heutige Dis-
steinswolke auf und eine große Zahl von größeren tanz von rund 380.000 km transportiert. Der Mond
und kleineren Asteroiden drang ins Innere des Son- stabilisiert die Drehachse der Erde, sie schwankt nur
nensystems ein und prallte dort teilweise auf die ein wenig um die knapp 24°-Neigung gegen die
Felsenplaneten und auch den Erdmond. Durch die Ebene des Sonnensystems und lässt sie präzisieren.
Bewegung der großen Planetenmassen (Jupiter ist Mit anderen Worten, ohne den Mond würde
doppelt so schwer wie alle anderen Planeten zu- die Erde im Weltraum taumeln. Ihre Drehachse
sammen), wurden auch Asteroiden aus dem Aste- würde so stark schwanken, dass eine Seite ständig
roidengürtel (zwischen Mars und Jupiter liegend) zur Sonne gerichtet wäre, während die andere in
herausgeschleudert und ins Innere befördert. völliger Dunkelheit erfröre. So aber ist das System
Isotopen-Vergleichsanalysen des Wassers auf der Erde-Mond stabil und die Erdachse schwankt nur
Erde mit dem Wasser von Material aus dem Astero- wenige Grad hin und her, so dass die unterschied-
idengürtel legen den Schluss nahe, dass die Erde lichen Jahreszeiten dabei entstehen.
von dort ihr Wasser bekam. Die Erde bewegt sich auf einer leicht ellipti-
Vorher war die Erde ein trockener Planet, denn schen Bahn um die Sonne in einem Abstand von
in dem Abstand zur Sonne, in dem sie entstand, rund 150 Mio. km. Die geringe Abweichung von der
gab es kein Wasser. Die Scheibe um die Sonne, aus Kreisbahn führt, zusammen mit der Neigung ihrer
der die Planeten entstanden, war zu heiß. Wasser Drehachse, zu den vier Jahreszeiten, aber das spielt
in kondensierter Form, vor allem aus Eis, gab es ab erst viele Millionen Jahre später eine Rolle.
dem doppelten Abstand Erde-Sonne, jenseits der In unserer Erzählung muss sich die Erde jetzt
Marsbahn. Nur Brocken aus dieser Region können zunächst einmal abkühlen. Und das tut sie auch,
als relevante Wasserlieferanten gedient haben. ihre Oberfläche erkaltet und erhärtet allmählich,
Wir haben es jetzt mit unserer Erde in ihrer ab- der Wasserdampf aus der Atmosphäre kondensiert
gekühlten Urform zu tun, mit einem Trabanten, der zu einem globalen Regen unvorstellbaren Ausma-
an ihr zieht und an dem sie zieht. Die Einschläge ßes. Er wäscht über Zehntausende von Jahren das
des späten Bombardements haben die Erde an Kohlendioxid und Methan aus der Luft, löst es in
ihrer Oberfläche aufgerissen und aufgeheizt. Eine den Meeren auf und verstaut es im Gestein. Der
undurchdringliche, sehr dichte und schwere At- Erde bleibt damit das Schicksal der Venus erspart.
mosphäre aus Wasserdampf, Kohlendioxid und Dort hat der galoppierende Treibhauseffekt des
anderen vulkanischen Ausgasungen umgibt den Kohlendioxids zu einer Oberflächentemperatur von
Planeten. Zugleich kneten die Gezeitenkräfte über 450 °C geführt. Denn dort, auf der Venus, hat
sein Inneres weiter durch und bremsen seine ur- es nie geregnet, sie ist nämlich offenbar nicht von
sprüngliche Rotation um die eigene Achse von 6 Asteroiden beliefert worden. Andererseits hat die
bis 7 Stunden auf 10 bis 14 Stunden ab. Ohne den Uratmosphäre der Erde aber anfangs dafür gesorgt,
Mond würde sich die Erde deshalb so schnell um dass sie nicht völlig vereiste. Schließlich war die
die eigene Achse drehen, dass die Windgeschwin- noch junge Sonne in der Frühphase des Sonnen-
digkeiten auf ihrer Oberfläche ständig zwischen systems noch um rund 25 % leuchtschwächer als
300 und 500 km/h lägen. Wenn sich größere Lebe- heute. Ohne die genügende Menge an Treibhaus-
wesen entwickelt hätten, dann wären diese in jeder gasen wäre die Erde noch heute eine weiße Kugel,
Hinsicht sehr flach. In die Höhe wachsende Pflan- die fast alles an Strahlung ins Universum reflektiert,
zen gäbe es sicher nicht. Blumen und Astrophysiker die sie von der Sonne bekommt. Aber offenbar
wären ohne den Mond nicht vorstellbar. hatte sie gerade genügend Methan, Wasserdampf
Zurück zu unserer Geschichte: In den folgenden und Kohlendioxid, dass ihr das Schicksal der globa-
4 Mrd. Jahren hat die gegenseitige Anziehung von len Vergletscherung erspart blieb. Aber die Gase
Erde und Mond (ein wenig auch von der Sonne), die verbleiben auch nicht zulange in der Atmosphäre,
7
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 45

 EXKURS 1.3 (Fortsetzung) 
so dass sie das Höllenschicksal der Venus ebenfalls von kleinen und großen organischen Molekülen 1
nicht erleiden musste. bildeten. Die ersten membranartigen Strukturen
Und während sich die Atmosphäre aus Stick- erlaubten die Aufrechterhaltung von Konzentrati- 2
stoff, Wasserdampf und Kohlendioxid allmählich onsgefällen wichtiger Aufbaustoffe für die weite-
lichtete, trieb die innere Hitze der Ur-Erde die Ent- ren Synthesen immer größerer Moleküle. Angetrie-
stehung der Kontinente und die Dynamik des Oze- ben durch kosmische Zyklen und Rhythmen
3
anbodens an. In der Umgebung hydrothermaler vollzog sich die Transformation von ehemals stel-
Schlote, aber auch in Flachwassergebieten, immer laren chemischen Elementen in irdische Moleküle 4
wieder durch Ebbe und Flut bewässert und tro- bis hin zu den ersten einfachen Einzellern. Ihre
ckengelegt, entwickelten sich in den ersten
500 Mio. Jahren der Erdgeschichte die Bedingun-
komplexeren Nachfahren sollten 2 Mrd. Jahre spä-
ter lernen, wie man vom Sonnenlicht lebt. Sie wer-
5
gen, aus denen dissipative Nichtgleichgewichts- den die Photosynthese erfinden, Sauerstoff freiset-
systeme entstanden, die als winzige biochemische zen und damit aus der Erde den blauen Planeten 6
Reaktoren die Voraussetzungen für die Entstehung machen.
7

Gezeitenperiodik sind zwingend Folgen dieser wiederholbar sei, ist nicht überzeugend. Jedes durch 8
Konstellationen. zwei Geschlechter gezeugte Lebewesen ist ein Uni-
kat, und eine Wiederholung der Zeugung ist nicht 9
möglich.
1.2 Wissenschaften, 10
die zum Fundament
der Evolutionsbiologie 1.2.1 Biogeographie
beigetragen haben 11
Tier- und Pflanzengeographie (Biogeographie) lie-
Im Folgenden werden die Wissenschaften kurz dar- ferten – historisch gesehen – die ältesten Hinweise 12
gestellt, die zu unserem Wissen über die Evolutions- auf eine Evolution. Ausgangspunkt war die Tatsa-
biologie in besonderem Ausmaß beigetragen haben. che, dass viele Tier- und Pflanzenarten nur in einem
Für historische Abläufe können keine Beweise begrenzten Gebiet vorkommen. Da die Arten be- 13
im mathematischen Sinne geliefert werden. Man ist stimmte Anforderungen an Nahrung, Temperatur,
daher auf Indizienbeweise angewiesen. Selbst für die Wasser und andere Umweltfaktoren stellen, ist diese 14
Existenz Karls des Großen und Cäsars gibt es keine Tatsache scheinbar von problemloser Selbstver-
Beweise im mathematischen Sinn – Aufzeichnun- ständlichkeit. Ökologisch gleichartige Lebensräume
gen und Berichte können ja die Wahrheit entstellen müssten demnach gleichartige Tier- und Pflanzen-
15
und tun es oft genug –, aber die Indizienbeweise arten aufweisen; das ist aber keineswegs der Fall.
sind so zwingend, dass niemand an der historischen Die Polarmeere des Nordens und des Südens 16
Wahrheit betreffs deren Existenz zweifelt. Anders ist (. Abb. 1.19a) haben – trotz ähnlicher physikali-
die Situation bei Pandion, dem ersten König Athens, scher Bedingungen – völlig verschiedene Faunen. 17
oder bei Romulus und Remus, und noch schwie- Im Norden sind Herings- und Dorschartige (Clupei-
riger wird es, wenn Abläufe rekonstruiert werden und Gadiformes) sowie Plattfische (Pleuronectifor-
sollen, die Millionen oder gar Milliarden Jahre zu- mes) typische Fische. Sie fehlen im Südpolarmeer, 18
rückliegen, und nach heutiger Vorstellung ist das wo eine eigenständige Fischfauna lebt, die sich von
Leben auf der Erde vor 3,5 Mrd. Jahren entstanden, der des Nordpolarmeers stark unterscheidet und in 19
vielleicht sogar noch früher. der Nototheniidae und Channichthyidae (Eisfische)
Der bisweilen gebrachte Einwand, naturwissen- bis über 90 % ausmachen. Auch die Gefrierschutz-
schaftlich sei nur akzeptierbar, was im Experiment proteine im Gewebe dieser Fische sind in beiden Po-
20
46 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.19a–e Antarktis. a Schelfeis (links) und Meereis (Vordergrund und rechts). b Glyptonotus (Assel), c Epimeria (Floh-
krebs). d von Schwämmen dominiertes Benthos, e von Cnidariern und Echinodermen dominiertes Benthos. Photos b, c: M.
Rauschert; d, e: J. Gutt

largebieten verschieden. Unter den bodenlebenden wordene ökologische Nischen eingenommen haben,
Krebsen sind im Norden die brachyuren Decapoden entwickelt. Der antarktische Ring-Ozean, seit Öff-
eine dominierende Gruppe. Sie fehlen heute in den nung des Wasserweges zwischen der Antarktischen
Gewässern der Hochantarktis; hier haben sich vor Halbinsel und Südamerika (Drake-Passage) weit-
allem Isopoden und Amphipoden (. Abb. 1.19b, gehend isoliert von anderen Meeren, enthält heute
c), die im Zuge der Vereisung Antarktikas frei ge- einen hohen Prozentsatz an endemischen Formen.
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 47

Zudem sind die benthischen Lebensgemeinschaften vorkommen, bezeichnet man als endemisch für
einzigartig. . Abb. 1.19d, e vermittelt ein Bild des das betreffende Areal (Endemiten). Die Ahnen 1
antarktischen Benthos: In mehreren Stockwerken solcher Arten erreichten zufällig einmal die Inseln,
leben Organismen übereinander. z. B. durch Verdriftung, durch Wind, Wasser, Flöße 2
Ebenso sind die tropischen Regenwälder Süd- oder Vögel und bildeten sich dann zu den speziel-
amerikas und Afrikas trotz klimatischer Über- len Arten und Gattungen um (s. Abschn. 3.5.6). Die
einstimmung botanisch und zoologisch völlig Zahl der Arten ist proportional zur Inselgröße und 3
verschieden; es gibt unter den Säugetieren keine zur Festlandsnähe.
gemeinsamen Arten, in Südamerika nur Affen der Inseln bzw. inselhaft vorkommende Organismen 4
Gruppe der Platyrrhinen, in Afrika nur Catarrhi- sind hervorragende Modellsysteme für allopatrische
nen. Lediglich der Mensch ist beiden Gebieten ge- Artbildung. Das gilt auch für Organismen, die zu
meinsam, aber wir wissen, dass er erst sehr spät über unterschiedlichen Zeiten aktiv sind (tags, nachts,
5
die damals trockene Landverbindung in der heuti- in der Dämmerung) und durch die Besetzung ver-
gen Bering-Straße nach Amerika eingewandert ist. schiedener Zeitnischen Konkurrenz vermeiden. 6
Schon Alfred Russel Wallace und andere Bio- In der Tat füllen Inselbiologie und Chronobiolo-
geographen des 19. Jahrhunderts erkannten, dass gie Bücher, z. B. Glaubrecht (2002) „Die ganze Welt 7
viele verwandte Arten jeweils mehr oder weniger ist eine Insel“, Sehgal (2003) „Molecular Biology of
kongruente Verbreitungsgebiete aufweisen, die aber Circadian Rhythms“, Lemmer (2011) „Chronophar-
nicht genau den heutigen Kontinenten entsprechen makologie“. 8
müssen. Auf diese Weise kann man auf der Erde
verschiedene tier- und pflanzengeographische Re- Plattentektonik – Relikte 9
gionen unterscheiden: Paläarktis, Aethiopis, Orien- Eine ähnliche Situation ergibt sich, wenn sich Kon-
talis, Australis, Antarktis, Nearktis und Neotropis. tinente oder Kontinentalschollen von Landmassen
Die Aethiopis umfasst Afrika südlich der Sahara trennen: Je früher in der Erdgeschichte die Ablösung
10
und beherbergt beispielsweise Nilpferde, Giraf- erfolgte, desto eigenständiger sind Landflora und
fen, Gorillas, Schimpansen und Paviane, für die -fauna heute. Sie entwickelten nach der Ablösung 11
Australis sind Kloakentiere und die Großzahl der ihre heutige Eigenart. Das gilt z. B. für Australien
Beuteltiere typisch, in der Neotropis (Mittel- und und Madagaskar, die schon sehr lange eigenstän- 12
Südamerika) leben Ameisenbären, Gürtel- und dig sind, während Nordamerika und Eurasien, die
Faultiere sowie Neuweltkamele. Diese Beispiele lie- sich erst spät trennten, trotz ihrer Entfernung eine
ßen sich beliebig vermehren. Die Verbreitung der ähnliche Tier- und Pflanzenwelt aufweisen. Viele 13
genannten Säugetiere ist nur zu einem geringen Teil Arten sind sogar beiden Kontinenten gemeinsam,
direkt durch ihre Lebensansprüche interpretierbar, besonders in den nördlichen Regionen, die daher 14
es bleibt ein großer Rest, den nur die Evolutionsbio- auch als Holarktis zusammengefasst werden; Wolf
logie erklären kann. und Eisbär sind Beispiele für Tiere, die sowohl im
nördlichen Eurasien als auch in Nordamerika vor-
15
Inseln – Endemiten – Zeitnischen kommen.
Inseln, die im Ozean durch Vulkanausbrüche ent- Wenn lange getrennte Kontinente erneut in 16
standen, besitzen eine Anzahl spezifischer Arten Kontakt treten, wandern viele Arten von dem ei-
und Gattungen, die nur hier existieren. Solche nen auf den anderen Kontinent und entwickeln sich 17
Inseltiere und -pflanzen sind von den Galapagos- im neuen Bereich zu eigenen Arten und Gattungen.
Inseln, wo Darwin sie studierte, den Hawaii-Inseln, So erhielt Südamerika im Pliozän Bären, Hirsche,
den Kanaren und anderen Inseln in großer Zahl Schweine, Kamele, Katzen u. a. von Nordamerika, 18
bekannt. Ihre nächsten Verwandten leben auf den die sich zum Teil zu geographischen Rassen (Puma),
benachbarten Kontinenten; die Galapagos-Echsen meistens sogar zu eigenen Arten und Gattungen 19
sind z. B. Leguane, deren nächste Verwandte auf (Plianchenia: Pliozän, Nordamerika; Lama: rezent,
dem Festland des benachbarten Südamerika leben. Südamerika) entwickelten.
Solche Formen, die nur in begrenzten Gebieten
20
48 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.20a–c Tertiär­
relikte. a Polyodon spathula,
b Andrias japonicus, c Alli-
gator sinensis. Nach Storch,
Welsch (1989)

Insgesamt hat die Erdgeschichte nicht nur dazu Cryptobranchus und Andrias (Megalobatrachus,
geführt, dass abgrenzbare Regionen der heutigen . Abb. 1.20b) sowie die Alligatoren Alligator mis-
Floren und Faunen entstehen, sondern oft ist es sissippiensis und A. sinensis (. Abb. 1.20c). Auch
auch zu disjunkter Verbreitung gekommen, das ihre nächsten Verwandten lebten früher in einem
heißt, dass nahe verwandte Formen weit voneinan- zusammenhängenden Areal.
der entfernt leben, auf verschiedenen Kontinenten, Disjunkte Verbreitung kann auch durch Wan-
unter Umständen in kleinen Gebieten. So gibt es derungen entstehen, so sind die Kamele in Nord-
die heutigen Lungenfische in Südamerika (Lepi- amerika – wo es sie heute nicht mehr gibt – entstan-
dosiren), in Afrika (Protopterus) und in Australien den. Von hier wanderten sie nach Südamerika und
(Neoceratodus, . Abb. 2.79a). Offensichtlich sind sie Eurasien. Auch Verdriftung im Meer und über den
Relikte aus Zeiten, als die Kontinente noch zusam- Luftraum sind nicht zu unterschätzende Faktoren
menhingen. Gleiches gilt wenigstens teilweise für (s. Abschn. 4.4.1).
die Südbuche Nothofagus, die mit etwa 35 Arten auf So ist also ein erheblicher Teil der heutigen Ver-
bestimmte Regionen der Südhemisphäre um den breitung von Lebewesen nur durch evolutive Verän-
Pazifik beschränkt ist. Vieles spricht zudem dafür, derungen der Organismen und Veränderungen der
dass mehrere an ihnen lebende Insekten und Pilze Erdoberfläche zu verstehen.
die gleiche Geschichte hinter sich haben und dass Viele Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte ha-
die Verbreitung auf das Auseinanderbrechen des ben unsere Vorstellungen von der Entwicklung der
alten Südkontinents Gondwana zurückgeht. Kontinente sehr differenziert, so dass sich für die
Weitere Beispiele für disjunkte Verbreitung Evolutionstheorie wichtige Ergänzungen und wei-
sind in . Abb. 1.20 dargestellt. Es handelt sich um tere Beweise ergeben haben. Inzwischen ist es sogar
Tertiärrelikte, die im Süden Nordamerikas und gelungen, heutige Bewegungen von Landmassen di-
in Ostasien vorkommen: die Löffelstöre Polyodon rekt zu messen, so etwa die von Hawaii gegen Japan
(. Abb. 1.20a) und Psephurus, die Salamander oder die von Nordamerika und Europa: Hawaii
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 49

1
2
3
4
5
6
7
8
.. Abb. 1.21  Aufbau der Erdoberfläche aus Platten, die sich in Bewegung befinden (Pfeile). Einige bewegen sich an mitteloze-
anischen Rücken voneinander weg (Divergenz), manche stoßen in Subduktionszonen zusammen (Konvergenz; durch Pfeilköpfe 9
markiert), andere gleiten aneinander entlang. HHS und GHS bezeichnen die hot spots unter Hawaii und Galapagos. Hot spots
sind über viele Millionen Jahre stationäre, eng umgrenzte Gebiete, in denen es in der Erdkruste zur Aufheizung und magmati-
scher Aktivität kommt 10
bewegt sich um gut 8 cm Jahr für Jahr in Richtung Auswirkungen auf den Wasserstand der Meere, Mee-
Japan; Europa und Nordamerika entfernen sich in resströme, Klima und Verbreitung von Organismen 11
derselben Zeit um knapp 2 cm voneinander. gehabt. Mehrfach hat es einen Anstieg des Meeres-
Im ausgehenden Paläozoikum existierte ein riesi- spiegels (Transgressionen) gegeben, dann wieder 12
ger Kontinent (Pangaea), im Mesozoikum waren es Absenkungen (Regressionen).
– vereinfacht ausgedrückt – ein Nord- (Laurasia) und Aus Laurasia gingen Nordamerika, Grönland
ein Südkontinent (Gondwana) sowie ein umfangrei- und Eurasien hervor, Gondwana zerfiel fortschrei- 13
ches Meer, die Tethys, zwischen den beiden, welche tend von Osten nach Westen und ist heute durch
die Erdoberfläche über längere Zeit prägten. Wenn Australien, Antarktika, Indien, Afrika und Südame- 14
es auch bezüglich der Datierung noch Diskrepanzen rika repräsentiert. Australien ist seit dem Oligozän
gibt, so besteht doch darin Übereinstimmung, dass vollständig vom Meer umgeben und behielt weitge-
diese Kontinente nicht nur zerbrachen, sondern auch hend seine ursprüngliche Fauna, Antarktika driftete
15
ihre Lage veränderten. Man spricht von Plattentek- südwärts, kühlte ab und verlor viele ihrer Lebensfor-
tonik (früher Kontinentaldrift); der Begriff trägt der men. Unter Berücksichtigung der heutigen Verhält- 16
Tatsache Rechnung, dass verschobene Platten un- nisse ist interessant, dass auch Indien aus Gondwana
terseeisch sein können. Diese Platten (. Abb. 1.21) hervorgegangen ist. Es nahm dabei einen Teil der 17
werden z. B. dadurch dauernd verlagert, dass sich Südkontinent-Organismen mit. Afrika und Südame-
zwischen ihnen Material aus der Tiefe emporschiebt rika schließlich waren lange in kontinentaler Verbin-
(mittelozeanische Rücken, Spreizungszonen), so dung und haben sich erst in der Kreide getrennt. Im 18
dass sie übereinandergeschoben werden, Gebirge Bereich von Laurasia blieb die Verbindung zwischen
entstehen oder Platten zerbrechen. Man schätzt, Nordamerika und Eurasien lange bestehen. 19
dass durch diese Veränderungen innerhalb von etwa Natürlich änderte sich mit der Plattentektonik
400 Mio. Jahren 70 % der Erdoberfläche ausgetauscht auch die Gestalt der Ozeane. Die Tethys wurde
werden. All das hat in der Erdgeschichte natürlich durch die Norddrift Afrikas eingeengt und hier
20
50 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.22 a, b  a Gondwana-Verbreitung verschiedener fossiler Formen im ausgehenden Paläozoikum (Perm), als der
Südkontinent noch existierte. Mesosaurus, ein im Wasser lebendes Reptil, und Cynognathus, ein terrestrisches, säugetierartiges
Reptil, sind fossil aus Südamerika und Afrika bekannt, das säugetierartige Reptil Lystrosaurus aus Afrika, Indien und Antarktika.
Über fünf Kontinente war der Nacktsamer Glossopteris verbreitet. Im Jungpaläozoikum war Gondwana großflächig von Inland-
eis bedeckt. Die Gletscher bewegten sich vom Akkumulationszentrum (in Afrika) zum Meer (gestrichelte Pfeile). Betrachtet man
die heutigen Kontinente Südamerika und Australien sowie Indien, so weist die Richtung der Gletscherbewegungen vom Meer
aufs Land. Als Südamerika und Afrika noch einen Kontinent bildeten, floss der Amazonas – aus dem Gebiet des heutigen Tschad
kommend – gen Westen und mündete nahe dem heutigen Guajaquil in den Pazifik. Durch die Entstehung der Anden im Tertiär
kehrte sich die Fließrichtung des Amazonas um. b Unter den Wirbellosen besitzen die Onychophoren (abgebildet: Peripatopsis)
eine Gondwana-Verbreitung. Photo H. Ruhberg
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 51

zum Binnenmeer, dem heutigen Mittelmeer. Am der Farn Glossopteris (. Abb. 1.22a) verbreitet, ein
ehesten vermittelt die rezente Meeresfauna des altes Gondwana-Element, das man von allen oben 1
Indo-Westpazifik einen Eindruck von der Vielfalt genannten Gondwana-Abkömmlingen aus Fossil-
der Tierwelt der Tethys. Hier kommen noch zahl- stätten kennt. Unter den rezenten Tieren haben die 2
reiche Tiergruppen vor, die aus anderen Gebieten Onychophoren (. Abb. 1.22b) eine Gondwana-
der Erde, z. B. auch aus marinen Ablagerungen Verbreitung.
Mitteleuropas, nur fossil bekannt sind. Tethys- 3
Relikte im Indo-Westpazifik sind z. B. die leben-
den Fossilien Lingula (. Abb. 2.9a) und Nautilus 1.2.2 Paläontologie 4
(. Abb. 2.78f).
In den letzten Jahrzehnten hat man sehr intensiv Direkte Zeugen des Lebens früher Erdepochen sind
daran gearbeitet, Paläogeographie und aktuelle Bio- die Fossilien. Aufgrund ihres Auftretens in aufein-
5
geographie unter Einbeziehung der Plattentektonik anderfolgenden Gesteinsschichten kann man eine
in Einklang zu bringen (. Abb. 1.22). Die ältesten relative Zeitbestimmung vornehmen (Biostratigra- 6
Amphibien sind aus Eurasien und Nordamerika phie; Leitfossilien); mit Hilfe radioaktiver Elemente
bekannt; wie gesagt, bestand die Verbindung dieser und deren Zerfallsprodukten sind zudem absolute 7
Kontinente im Bereich des heutigen Nordatlantik Altersbestimmungen möglich (radiometrische Da-
recht lange. Mehrere fossile Reptilien, z. B. der aqua- tierung), die heute schon recht genau sein können.
tische Mesosaurus und Cynognathus, sind bis in die Technische Fortschritte in der Massenspektromet- 8
Trias hinein aus dem heutigen Südamerika und aus rie ermöglichten zudem Messungen der Isotopen-
Afrika bekannt; noch weiter waren Lystrosaurus und verhältnisse, z. B. in Schalen, und bei vorsichtiger 9
  EXKURS 1.4  
10
Fossilien in der Menschheitsgeschichte – Interpretation
und Verwendung
11
Das Interesse des Menschen an Fossilien ist bereits (z. B. Echinocorys) als Donnersteine interpretiert.
aus der Steinzeit belegt; schon im Neolithikum ha- Man brachte sie mit dem Donnergott Donar (=
ben Menschen Fossilien in Metall gefasst und of- Thor) in Verbindung. Wenn er mit seinem Hammer 12
fenbar als Schmuck oder Idole verwendet. geschlagen hatte und es blitzte und donnerte, blie-
Was die Interpretation betrifft, so haben schon ben Donnersteine liegen. Auch Donnerkeile (Reste 13
griechische Philosophen und Naturforscher vor des Innenskeletts mesozoischer Cephalopoden
Aristoteles (z. B. Pythagoras, Xenophanes und
Herodot) vermutet, dass Fossilien auf ehemals le-
[Belemnoida, s. Abschn. 2.2.5]) wurden mit Gewit-
tern in Verbindung gebracht.
14
bende Organismen zurückgehen. Aristoteles (384 Die Stielglieder fossiler Seelilien (Encrinus,
bis 322 v. Chr.) jedoch sah im Zusammenhang mit . Abb. 1.23a) aus der Trias Mitteleuropas wurden 15
seiner Vorstellung zur Potenz der Materie zu Ver- als Sonnenradsteine verehrt. Wo sie in großen Men-
änderungen (lat. vis plastica) Fossilien als Produkte gen vorkamen (Trochitenkalk, s. EXKURS 2.9, Ab- 16
von Ausdünstungen (= Exhalationen) der Erde, schn. 2.3.1), gab es sogar Kultstätten. Im Zuge der
eine Verlegenheitslösung des großen Logikers. Christianisierung wurde dieser Brauch geächtet,
Diese Vorstellung wirkte bis ins 16. Jahrhundert. aus den Sonnenradsteinen wurden „Bonifatius- 17
Plinius d. Ä. (23 bis 79), der vieles von Aristoteles Pfennige“.
übernahm, hielt fossile Haizähne für versteinerte Die jüdisch-christliche Vorstellung von der Er- 18
Zungen, die vom Himmel gefallen waren (glosso- schaffung der Erde in sechs Tagen stand mit ihrer
petrae: Zungensteine). Bei den Germanen wurden
die in Norddeutschland in der Schreibkreide und in
Ad-verbum-Interpretation (buchstabengetreuem
Festhalten am Wortlaut) des Schöpfungsberichts
19
eiszeitlichen Geschieben häufigen fossilen Seeigel lange Zeit einer angemessenen Deutung der Fossi-
20
7
52 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

 EXKURS 1.4 (Fortsetzung) 

.. Abb. 1.23 a–d  a Stielglieder mesozoischer Seelilien (Crinoidea); Bonifatius-Pfennige, b Foraminiferen: zwei Maria-


Ecker-Pfennige aus Bayern und fünf kleinere Nummuliten von der Cheops-Pyramide bei Kairo, c als „Homo diluvii testis“
oder „armer Sünder“ interpretierter fossiler Salamander (Andrias scheuchzeri), d Andrias japonicus (Japanischer Riesensa-
lamander). c nach Scheuchzer (1726), d nach Temminck und Schlegel (1838)

lien als Zeugnissen längst vergangenen Lebens sie mit unbezweifelbaren naturwissenschaftlichen
entgegen. Nur mit Verzögerung und oft nach erbit- Erkenntnissen in Einklang blieb. Doch wird auch
tertem Widerstand modifizierten insbesondere heute noch die Lehre von der Schöpfung als einem
christliche theologische Autoritäten die Lehre vom abgeschlossenen Werk von sechs Tagen (oder in
Schöpfergott und seinem Wirken jeweils so, dass abgemilderter Form dem Sechsfachen eines größe-
7
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 53

 EXKURS 1.4 (Fortsetzung) 
ren Zeitraums bis hin zum Jahrhundert oder Jahr- Interessante Neuinterpretationen folgten: 1
tausend) vertreten (Kreationismus). Aus wissen- Der Lindwurm, Wahrzeichen der österreichi-
schaftlicher Sicht wirkt eine solche Interpretation schen Stadt Klagenfurt, erwies sich als Phanta- 2
anachronistisch und hat auch zu merkwürdigen sieprodukt mit dem Kopf eines Wollnashorns;
Schlussfolgerungen geführt. Bis ins 18.  Jahrhun- das legendäre Einhorn, nach dem heute noch
dert sah man Fossilien (damals Petrefakten ge- Gaststätten und Apotheken genannt werden,
3
nannt) meist als Naturspiele (lusus naturae) an. konnte mit den Stoßzähnen tertiärzeitlicher Rüs-
Auch wurden sie als Opfer der Sintflut (Sündflut) seltiere (Gomphotherium), den Stoßzähnen des 4
interpretiert. Dass ein Großteil der Fossilien Mee- Mammuts (Mammuthus primigenius), aber auch
restiere sind, die ja eigentlich Hochwasser überste- dem Zahn des rezenten Narwales (Monodon) in
5
hen sollten, blieb unberücksichtigt. Bedeutendster Verbindung gebracht werden. Aus „versteinerten
Verfechter der Sintflutlehre (Diluvianer, lat. dilu- Münzen“ (Nummuliten) wurden eozäne Forami-
vium = Überschwemmung) war der Züricher Natur- niferen (. Abb. 1.23b, 2.69). Der einäugige Riese 6
forscher und Stadtarzt Johann Jakob Scheuchzer Polyphem aus der Homerischen Odyssee bzw. die
(1672 bis 1733), der gezielt nach einem in der einäugigen Zyklopen lassen sich möglicherweise 7
„Sündflut“ umgekommenen Menschen suchte. Er auf Schädel des Zwergelefanten (Palaeoloxodon)
glaubte, ihn bei Öhningen, nahe dem Bodensee,
gefunden zu haben und interpretierte das miozäne
von Mittelmeerinseln zurückführen. Plausibel
erscheint auch eine andere Erklärung: Mit Alka-
8
Skelett eines 1,2 m langen Riesensalamanders loiden aus dem Germer (Veratrum), einem Lilien-
(heute: Andrias scheuchzeri, . Abb. 1.23c) als gewächs, kann man Föten so beeinflussen, dass 9
„Homo diluvii testis“, also als einen Zeugen der sie einäugig (stirnäugig) werden. Da Germer in
Sintflut und armen Sünder. Seine Interpretation Griechenland vorkommt, wäre es möglich, dass 10
wird heute nur noch von wenigen Kreationisten die alten Griechen dieses Phänomen bei Tieren
geteilt, wenn auch vielleicht nicht in jeder Einzel- und beim Menschen gesehen haben.
heit. Scheuchzer veranschlagte die Sintflut (und Was an Kalkstein seit Jahrtausenden als Bau- 11
damit den Tod der Fossilien) auf 250 Jahre vor dem material verwendet wird, ist zu einem erheblichen
Bau der Pyramiden bei Kairo. Ihm verdanken wir Teil biogenen Ursprungs, also durch Organismen 12
das erste detaillierte Werk über fossile Pflanzen entstanden und enthält vielfach Fossilien. Die Ze-
(„Herbarium diluvianum“).
Erst im 19. Jahrhundert entstanden das Bild der
mentindustrie basiert auf dem biogenen Produkt
Calciumcarbonat (s. EXKURS 2.1, Abschn. 2.2.1), und
13
Erdgeschichte und eine Interpretation der Fossi- bei dessen Abbau werden in Steinbrüchen Fossilien
lien, wie wir sie heute noch akzeptieren. Charles zutage gefördert. In den großen Pyramiden Ägyp- 14
Lyell (1797 bis 1875) brachte 1830 seine „Principles tens wurde eozäner Nummulitenkalk verbaut, das
of Geology“ heraus und schuf auch die Bezeichnung Berliner Olympiastadion besteht aus Muschelkalk, 15
Paläontologie für eine neue Wissenschaft. 1841 das Dach der Hagia Sophia in Istanbul aus spezifisch
prägte Richard Owen (1804 bis 1892) den Begriff leichten, da hohlraumreichen Diatomeen- und Ra-
Dinosaurier und erkannte diese als ausgestorbene diolarienskeletten, und Kalkstein in vielen Gebäu- 16
riesige Reptilien. Fossilien wurden nicht mehr nur den zeigt Anschliffe durch Schwämme, Belemniten
als Zeitmarken angesehen, die „Petrefaktenkunde“, u. a. 17
die eine Hilfswissenschaft der Geologie gewesen Schließlich sind Erdöl, Steinkohle und Braun-
war, begann ihr eigenes Dasein.
Der Begriff Leitfossil, im frühen 19. Jahrhundert
kohle (s. Abschn. 2.2.5 und 2.4.1) zu nennen, we-
sentliche Rohstoffe für die moderne Industrie und
18
geschaffen, leitet nicht mehr „nur“ zu bestimmten damit ein Eckpfeiler heutiger Zivilisation. Diese
Gesteinsschichten, er wurde zu einem wesentlichen fossilen Energieträger sind Reste ausgestorbener 19
Begriff im Zusammenhang mit der Evolution der Or- Organismen, die große Teile der Erde gestaltet
ganismen auf der Erde. haben. 20
54 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.24 a–f  Im Paläozoikum ausgestorbene Formen: a, b Archaeocyatha, c, d Tabulata. a und c zeigen Querschnitte,
b und d Längsschnitte, e Trilobita, f Graptolitha
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 55

.. Abb. 1.25 a, b Im
Mesozoikum ausgestorbe-
ne Formen: a Pterosauria
1
(Pteranodon, Flügelspann-
weite 7 m), b Plesiosauria 2
(Macroplata, Körperlänge
7 m)
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Handhabung sogar Aussagen über frühere Um- Organismen einen bestimmten und klar definier-
weltverhältnisse wie Wassertemperatur und Salini- ten Raum-Zeit-Abschnitt kennzeichnen. Abgesehen 12
tät (Salzgehalt). Zusätzlich besteht die Möglichkeit, vom wissenschaftlichen Interesse hat die genaue Al-
das relative Alter mittels magnetischer Anomalien tersbestimmung erhebliche praktische Bedeutung
zu bestimmen (s. u.). Die einander ergänzenden bei der Suche nach Bodenschätzen (v. a. Erdgas und 13
Methoden erlauben heute eine gute Gliederung der Erdöl). Hier arbeitet man vorwiegend mit Mikro-
Erdgeschichte. fossilien. 14
Die Paläontologie erbrachte zunächst fol-
Methoden der Altersbestimmung gende besonders wichtige Tatsachen: Zahlreiche
15
Zurzeit sind fast 300.000 fossile Organismen-Arten Arten, Gattungen und sogar Ordnungen früherer
bekannt. Diese Zahl liegt wesentlich unter der der Erdzeitalter sind ausgestorben. . Abb. 1.24 zeigt
rezenten Arten, aber sie vermittelt uns bei Tierstäm- Wirbellose, die auf das Paläozoikum beschränkt 16
men, die Hartteile ausgebildet hatten, doch ein ver- sind, . Abb. 1.25 im Mesozoikum ausgestorbene
gleichsweise gutes Bild ihrer Verteilung in Raum Wirbeltiere. Viele fossile Organismengruppen sind 17
und Zeit. Unter der Voraussetzung, dass keine tek- nicht die Ahnen heutiger Arten, sondern gehören
tonischen Veränderungen erfolgt sind, kann man zu ausgestorbenen Ästen des Stammbaumes. Diese
davon ausgehen, dass die unteren Gesteinsschich- sind keineswegs immer kurzlebig, die meisten ha- 18
ten früher abgelagert wurden als die weiter oben ben sogar viele, oft Hunderte von Millionen Jahren
liegenden. Sind sie durch Fossilien gekennzeichnet, gelebt, ehe sie ausstarben. Bei dieser Vielfalt von 19
so kann man diese und die entsprechenden Schich- erloschenen Seitenlinien ist die Entscheidung oft
ten zeitlich ordnen: relative Altersbestimmung. schwer, ob eine fossile Art in die Ahnenreihe einer
Man spricht von Leitfossilien, wenn die fossilen rezenten Gruppe gehört oder eine ausgestorbene
20
56 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.26 a–h  Entwicklung der


Vorderextremitäten vom eozänen Phe-
nacodus (a) zu rezenten Pferden (b–f)
sowie zu miozänen südamerikanischen
pferdeähnlichen Formen (Litopterna)
(g–h). a Phenacodus, b Hyracotherium,
c Miohippus, d Parahippus, e Pliohippus
(ähnlich Dinohippus), f Equus, g Diadia-
phorus, h Thoatherium. Bei den letzten
beiden Formen handelt es sich um
eine Parallelentwicklung zu den echten
Pferden. Aus Gregory (1951)

Seitenlinie ist. Die dreizehigen Pferde der tertiären Die absolute Altersbestimmung beruht auf
Gattung Hipparion, die in der Alten Welt verbreitet dem natürlichen Zerfall radioaktiver Elemente (ra-
waren, hielt man lange Zeit für die Ahnen unserer diometrische Datierung). Voraussetzung ist, dass
heutigen, einzehigen Pferde (. Abb. 1.26). Morpho- das Ausgangselement (= Mutterelement) und sein
logisch wäre das durchaus möglich; aber mit der Zu- Zerfallsprodukt (= Tochterelement) in einem ge-
nahme der Fossilfunde, durch welche die Lücken schlossenen System vorliegen, d. h. dass im System
in Reihen immer mehr geschlossen wurden, ergab keine Mutter- oder Tochterelemente entweichen.
sich, dass die rezenten Pferde nicht von Hipparion Mutterelemente zerfallen exponentiell, Tochter-
abzuleiten sind (s. Abschn. 2.4.1). Evolutionsbiolo- elemente nehmen entsprechend zu. Die Zeit, in der
gen müssen für die Lösung mancher Einzelfragen das Mutterelement zur Hälfte zerfällt, nennt man
Geduld aufbringen, bis neue Funde die Linienfüh- Halbwertszeit. Diese ist unabhängig von chemi-
rung der Stammesentwicklung sichern. Es geht scher Bindungsart und Außeneinflüssen und erfolgt
ihnen wie dem Archäologen, dessen historische ganz präzise (radioaktive Uhr). Tochter- und Mut-
Schlüsse von den Fundmaterialien abhängen. Er- terelement werden im Allgemeinen im Massenspek-
freulicherweise wächst dieses Fundmaterial in der trometer gemessen.
Paläontologie auch heute noch von Jahr zu Jahr.
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 57

.. Abb. 1.27  14 C-Methode. Höhen-


strahlung in den oberen Schichten
der Atmosphäre macht Kohlenstoff
1
radioaktiv. Radioaktiver Kohlenstoff hat
eine Halbwertszeit von 5730 Jahren; 2
zusammen mit normalem Kohlenstoff
wird er in lebende Organismen bis zu
deren Tod eingebaut. Der Tod markiert 3
also den Nullpunkt einer möglichen
Messreihe. Bei 60.000 Jahren liegt die
Nachweisbarkeitsgrenze dieser Metho- 4
de. Nach Lehmann (1997)

5
Der datierbare Zeitausschnitt hängt von der tems ist der Tod eines Organismus, wenn also Stoff-
Halbwertszeit ab. Als besonders geeignet haben sich wechsel und Atmung zum Abschluss gekommen 6
folgende Systeme erwiesen: sind. Das 14 C zerfällt nun mit einer Halbwertszeit
von 5730 Jahren. Viele organische Ablagerungen, 7
Mutterelement Tochterelement Halbwertszeit einschließlich Skelettelemente, lassen sich so alters-
mäßig bestimmen. Auf der 14 C-Methode basieren
238
 U 206
Pb 4,5 Mrd. Jahre
wichtige Aussagen zur jüngeren Klimageschichte. 8
235
 U 207
Pb 704 Mio. Eine sehr genaue Altersbestimmung ist bis zum
Jahre Erreichen der Halbwertszeit möglich, eine weniger 9
40
 K 40
Ar 1,3 Mrd. Jahre exakte mit zunehmender Zeit. Ihre Grenze findet
die Methode bei etwa 60.000 Jahren (. Abb. 1.27).
14
 C 14
 N 5730 Jahre
Radiometrische Datierungen und paläontologi-
10
sche Untersuchungen werden durch verschiedene
Wichtig ist die Festlegung der Nullstellung der Verfahren ergänzt. Die Spaltspuren-Methode be- 11
radioaktiven Uhr. Die Altersbestimmung erfordert ruht darauf, dass radioaktiver Zerfall in Kristallen
die Kenntnis der Anfangsmenge der Mutter- oder Spuren hinterlassen kann. Deren Zahl nimmt im 12
der Tochtersubstanz. Meistens kann man davon Laufe der Zeit zu und ist mikroskopisch bestimmbar.
ausgehen, dass die Tochtersubstanz durch das zu Auf diese Weise kann ein Altersbereich zwischen
datierende Ereignis aus dem System entfernt wird 10.000 und 10 Mio. Jahren datiert werden. Die Pa- 13
– die Uhr also auf Null gestellt wird. Ein solches läomagnetik beruht darauf, dass sich das erdmag-
Ereignis ist beispielsweise die Erhitzung eines netische Feld im Laufe der Erdgeschichte mehrfach 14
Objektes, bei der das Tochterelement vollständig umgepolt hat. Eisenhaltige Mineralkörner, z. B. in
ausgetrieben wurde. So setzt man zum Beispiel die erstarrender Lava oder unter wenig gestörten Sedi-
Kalium-Argon-Datierung nach vulkanischen Vor- mentationsbedingungen am Grund von Gewässern,
15
gängen ein, die zur vollständigen Argon-Entgasung richten sich entsprechend dem erdmagnetischen
führten. Feld aus. Schließlich kann es plötzliche Mengen- 16
Für Altersbestimmungen deutlich unter zunahmen bestimmter Elemente (z. B. Iridium, s.
100.000 Jahren hat sich die 14 C-Methode (sprich: EXKURS 2.3 Abschn. 2.2.2) oder Verbindungen (z. B. 17
C14) besonders bewährt. Verwendet wird das ur- Kohlendioxid) geben, die auf großräumige, kurzfris-
sprünglich vorhandene Mutterelement (14 C), wel- tige Ereignisse (sog. events) zurückgehen.
ches in kleinen Mengen in der Erdatmosphäre 18
existiert und durch kosmische Strahlung immer Kontinuierliche Veränderungen
nachgebildet wird. Es wird durch Photosynthese in der Erdgeschichte 19
in Pflanzen eingebaut und ständig von Mensch Verfolgen wir von der heutigen Fauna und Flora
und Tier durch Atmung aufgenommen und ausge- aus die Erdzeitalter, so ergibt sich kein chaotischer
tauscht. Die Nullstellung des radiometrischen Sys- Wechsel der Formen, sondern eine klare Gesetzmä-
20
58 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

ßigkeit. Je älter Flora und Fauna sind, desto mehr aus, aber alle diese ausgestorbenen Familien gehö-
weichen sie von den heutigen Verhältnissen ab; von ren zu rezenten Ordnungen.
den ältesten Fossilschichten aus betrachtet nähern Im Mesozoikum, einem Zeitraum von über
sich die Lebewesen in stufenweiser Abänderung den 180  Mio. Jahren, starben viele Ordnungen und
heutigen Formen. Nehmen wir als Beispiel die Säu- Überordnungen aus, die den rezenten Formen fer-
getiere: Manche Arten des Pleistozän (Beginn vor ca. ner stehen, z. B. die Ichthyosaurier (. Abb. 2.61),
2,6 Mio. Jahren) gehören noch der heutigen Fauna Plesiosaurier (. Abb. 1.25b), Mosasaurier, Ptero-
an. Wir finden im noch jungen Pleistozän Mittel- saurier (. Abb. 1.25a) und Dinosaurier (. Abb. 2.55
europas Marder, Löwen, Hyänen, Rothirsche usw. bis 2.60).
Auch der Mensch als Homo sapiens ist gegen Ende Im Paläozoikum erloschen viele Ordnungen
des Pleistozän vorhanden. Viele dieser Arten sind und Klassen, die den rezenten Wirbeltieren noch
jedoch in Pleistozän und Jetztzeit nicht identisch; ferner stehen, z. B. die Fischgruppen der Acantho-
Menschen des mittleren Pleistozän werden wegen dii, Heterostraci, Anaspida und Placodermi. Das-
ihrer deutlichen Unterschiede zum Homo sapiens zu selbe Phänomen finden wir z. B. bei Echinodermen,
mehreren eigenen Arten, z. B. Homo neanderthalen- Mollusken und Pflanzen. Diese Korrelation zwi-
sis, Homo heidelbergensis und Homo erectus, gestellt schen der geologischen Zeit und einer stufenweisen
(s. Kap. 5). Im Tertiär (vor 2,6 bis 65 Mio. Jahren) Abänderung der Organismen kann nur evolutions-
sind die meisten rezenten Arten verschwunden, all- biologisch erklärt werden.
mählich verschwinden die rezenten Gattungen, d. h.
die zurückverfolgten Stammeslinien sind so abge- Umwandlungsreihen
wandelt, dass man sie in eigene Gattungen stellt. Zu Da die Evolution eine kontinuierliche Abänderung
Beginn des Tertiär sind nur noch wenige der heu- von Organismen darstellt, müssen heute isoliert ste-
tigen Familien nachweisbar. In der Kreide sind nur hende Formen mit Fossilien in einer zeitlichen Ab-
noch einzelne Ordnungen vorhanden, in der Trias folge schrittweise zu verbinden sein. Das gilt nicht
verschwinden die Säugetiere ganz, oder genauer ge- nur für Arten und ganze Gruppen des Systems,
sagt, gehen in ihrer Organisation in Formen über, sondern auch für Organsysteme. Beispiele hierfür
die man definitionsgemäß als Reptilien bezeichnet. gibt es in großer Anzahl. Ein Musterbeispiel ist der
Eine vergleichbare Situation finden wir in allen Pferdefuß: Vorder- und Hinterextremitäten haben
Gruppen, von denen reiche Fossilfunde vorliegen; bei rezenten Formen nur eine Zehe und einen Huf.
allerdings ist das Tempo der Abänderung verschie- Die fossilen Funde erbrachten drei- und vierzehige
den: Moderne Knochenfische (Teleostei) und Vögel Pferde, so dass im Alttertiär der Anschluss an die
„verschwinden“ im Jura in Übergangsformen zu an- fünfzehige Grundstruktur der Säugerextremität ge-
deren Gruppen. wonnen ist (. Abb. 1.26).
Fossile Faunen und Floren sind nicht nur durch Die so verschiedenen Zähne und Zahnformeln
Vorläufer heutiger Arten charakterisiert, sondern der plazentalen Säuger lassen sich alle auf eine
auch durch ausgestorbene Entwicklungslinien. Grundformel zurückführen: In jeder Ober- und Un-
Die in den letzten 2  Mio. Jahren ausgestorbenen terkieferhälfte befinden sich drei Schneidezähne, ein
Arten gehören fast ausnahmslos zu rezenten Gat- Eckzahn, vier Prämolaren und drei Molaren.
tungen und Familien. Mammut und Mastodon sind Ein Beispiel für Umwandlungen liefern die
Rüsseltiere, wollhaariges und Merksches Nashorn Kiefergelenkknochen der Säugetiere. Diese haben
sind Nashörner, die Riesengürteltiere Südamerikas ein sekundäres Kiefergelenk aus den Hautknochen
Gürteltiere. Im Tertiär finden wir schon viele aus- Squamosum und Dentale erworben, während alle
gestorbene Familien und eine Reihe aussterbender übrigen Landwirbeltiere ein primäres Kiefergelenk
Ordnungen. Von den Paarhufern (Artiodactyla) le- aus den Ersatzknochen Articulare und Quadra-
ben noch neun Familien in der Jetztzeit, im Tertiär tum besitzen. Diese beiden Ersatzknochen fehlen
starben sechzehn aus, von den Unpaarhufern (Pe- allerdings den Säugern nicht, sie sind ins Mit-
rissodactyla) leben heute mit Pferden, Nashörnern telohr gewandert und wurden dort zu Hammer
und Tapiren drei Familien, acht starben im Tertiär (Malleus) und Amboss (Incus). Fossile Formen
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 59

zeigen alle Zwischenstadien zwischen primärem (Ostrea irregularis) zu der eingerollten Schale des
und sekundärem Kiefergelenk, Ausdehnung der Gryphaea-Typs. 1
Hautknochen Squamosum und Dentale in die
Gelenkregion, bis sie sich am Gelenk beteiligen Fossile Übergangsformen 2
(. Abb. 1.34), so dass Formen mit beiden Kiefer- Die Existenz fossiler Übergangsformen wurde oft
gelenken nebeneinander entstehen, wie Diarth- bejaht, aber auch verneint. Dieser Gegensatz beruht
rognathus in der späten Trias, bis schließlich das auf verschiedenen Anforderungen an die Merkmale 3
primäre Kiefergelenk ins Mittelohr gelangt und nur einer Übergangsform. Die bisweilen erhobene For-
das sekundäre im Kieferbereich verbleibt. Die Säu- derung, sie müsste in allen Charakteren eine Mit- 4
ger sind übrigens auch ein Beispiel dafür, wie sich telstellung einnehmen, ist nicht erfüllbar, da die
eine ganze Gruppe über ausgestorbene Formen bis Umbildung der einzelnen Organe in unterschied-
zu ihrer Vereinigung mit ihrer Nachbargruppe, den lichem Tempo erfolgt und viele Lebewesen gleich-
5
Sauropsiden (Reptilien und Vögel), verfolgen lässt. zeitig ursprüngliche (= primitive, plesiomorphe)
Zahlreiche Gattungen verbinden die Organisation und abgeleitete (apomorphe) Merkmale aufweisen. 6
der Säuger über die Ictidosaurier, Theriodontier Übergangsformen werden also stets neben primi-
und Pelycosaurier mit der der primitiven Reptilien tiven Charakteren, die sie mit der älteren Gruppe 7
(Captorhinomorpha), die noch nahe der Grenze teilen, auch abgeleitete, d. h. fortschrittliche Organi-
zwischen Amphibien und Reptilien stehen und in sationszüge besitzen. Das gilt für jedes Lebewesen.
deren Nähe auch die Sauropsiden einmünden. Das Andere Autoren lehnen die Existenz von missing 8
ist kein Einzelfall, sondern die Norm bei Gruppen, links ab, weil man immer irgendwie spezialisierte
die fossil gut belegt sind. Gleiches gilt unter den Seitenzweige findet und nicht die zu fordernden 9
Säugern für Rüsseltiere, die Wale, die Nashörner unspezialisierten Ahnenformen. Dass diese Forde-
u. a., unter den Reptilien für die Krokodile, Dino- rung auf einer falschen Voraussetzung beruht, wird
saurier usw. später näher ausgeführt.
10
Die bisherigen Reihen haben entfernte Formen Wenn wir das fossile Material bewerten, müssen
über lange erdgeschichtliche Zeiträume verbunden. wir eher erstaunt sein, wie viele Übergangsformen 11
Ebenfalls von Interesse ist die Umwandlung von uns die Paläontologie schon gebracht hat. Das be-
Arten innerhalb kurzer Epochen. Entsprechende kannteste Beispiel ist Archaeopteryx, der Urvogel 12
Untersuchungen wurden zum Beispiel anhand aus dem Jura Solnhofens (. Abb. 1.28a). Sein Ske-
der Zähne von Säugetieren, der Schalen von Mu- lett trägt viele Merkmale fossiler Reptilien, speziell
schelkrebsen (Ostracoden) und Mollusken sowie der theropoden Dinosaurier, das Flügelskelett und 13
der Panzer von Trilobiten durchgeführt. Ein sehr zum Teil der Schädel nehmen eine Zwischenstellung
genau untersuchter Umwandlungsprozess ist die ein, die Federn sind Vogelmerkmale; s. aber auch 14
Entwicklung der Bären im Pleistozän einerseits EXKURS 2.13 Abschn. 2.3.2. Die Ichthyostegiden,
zum Höhlenbären und andererseits zum Braunbä- speziell Ichthyostega aus dem Devon Grönlands,
ren. Die schrittweise Umbildung der Molaren von sowie Acanthostega und die noch etwas ältere, bis
15
Rüsseltieren konnte nach Übergang in kalte Steppen über 2 m lange Gattung Tiktaalik aus Kanada sind
zum Mammut (Mammuthus primigenius) verfolgt Zwischenformen von Fischen und Amphibien 16
werden. Noch reicheres Material liefern Mollusken- (. Abb. 1.28b). Diese ältesten Landwirbeltiere ha-
schalen. Bekannt sind die gradweisen Umbildungen ben in der Schwanzflosse noch Flossenstrahlen wie 17
von Deckelschnecken (Paludina bzw. Tolutoma) in Fische. Der Schädel ist dem der fossilen Crossopte-
den Schichten eines pliozänen Sees in Slowenien. rygier (Fische) noch ganz ähnlich. Die Extremitä-
Die glatten Schalen aus den Tiefenschichten des ten besitzen aber bereits primitive Hände und Füße, 18
Sees (Paludina hoernesi) wandeln sich allmählich wie sie für Landwirbeltiere typisch sind. Dass die
in die mit Ornamenten versehenen Schalen von Säugetiere über eine Kette von Formen mit primi- 19
Paludina neumayri. Austernschalen zeigen, durch tiven Reptilien verbunden sind, wurde bereits er-
verschiedene Zonen verfolgt, eine Wandlung von wähnt. Auch innerhalb der Säugetiere gibt es viele
der schwach gewölbten Schale des Ostrea-Typs Reihen verbundener Formen; Rüsseltiere begin-
20
60 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.28 a, b  Fossile Übergangs-


formen. a Vergleich des Skeletts einer
Taube (links) mit dem von Archae­
opteryx. Einige homologe Strukturen,
die unterschiedlich ausgeprägt sind,
wurden schwarz gezeichnet. b Rekons-
truktion von Acanthostega (Lebensbild;
65 cm lang) aus dem Oberen Devon
Grönlands. Die Ichthyostegalia sind
die ältesten bekannten vierfüßigen
Landwirbeltiere und entsprechen in
vieler Hinsicht Formen, die zwischen
Crossopterygiern und ursprünglichen
Amphibien vermitteln. An Fische
erinnern unter anderem die Struktur
des Schädels und des Schwanzes; Am-
phibienmerkmale sind die Extremitäten
und die Ausbildung eines Beckengür-
tels, der Anschluss an die Wirbelsäule
gefunden hat.

nen mit Moeritherium, Pferde mit Hyracotherium am stärksten an das Wasserleben angepassten Säu-
(. Abb. 2.74), Wale mit Pakicetus. Das gleiche gilt getieren, den Walen, und ihren landlebenden Ah-
für viele Sauriergruppen. Unter den Wirbellosen nen. Wichtige Fossilfunde der Urwale (Archaeoceti)
nähern sich die recht verschiedenen Echinoder- stammen aus dem Eozän und dokumentieren eine
menklassen der Seesterne (Asteroidea) und der rasche Evolution in dieser Zeit. Etwa 50 Mio. Jahre
Schlangensterne (Ophiuroidea) im Paläozoikum alt sind die in eozänen Ablagerungen Pakistans und
stark. Die Schwertschwänze (Xiphosura) zeigen im Indiens gefundenen Pakicetidae. Sie waren fuchs-
Paläozoikum Annäherungen an Trilobiten. Nur für bis wolfsgroß, carnivor und lebten überwiegend am
die ganz großen Gruppen, die bereits im Kambrium Land (. Abb. 1.29). Die etwas jüngeren, ebenfalls
zu Beginn des Paläozoikums vorhanden sind, ken- eozänen Ambulocetidae erinnern habituell eher
nen wir rückwärts kaum Verbindungen, weil uns an Krokodile. Sie kamen vermutlich in Lagunen
aus präkambrischen Schichten nicht viele Fossilien des Tethys-Meeres vor und sind stärker abgeleitet
bekannt sind. Insgesamt erfüllt die Paläontologie als die Pakicetidae. Die Remingtonocetidae besa-
nicht nur die Forderungen der Evolutionsbiologie; ßen kurze, kräftige Extremitäten und zwischen den
die Existenz der vielen Fossilien und ihre zeitliche Digiti wahrscheinlich Schwimmhäute. Sie lebten
Abfolge sind ohne die Annahme einer Evolution gar an den Küsten Südostasiens. Auch Protocetidae
nicht zu verstehen. fand man in eozänen marinen Ablagerungen, z. B.
Eine beträchtliche Lücke wurde in der jüngeren in Ägypten. Aus ihnen gingen vermutlich die Ba-
Vergangenheit geschlossen: Diejenige zwischen den silosauridae und Dorudontidae hervor, die in den
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 61

.. Abb. 1.29 a–c  Wale aus dem Eozän.


a Pakicetus, b Kutchicetus, c Dorudon. Nach
Thewissen und Williams (2003)
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Flachmeeren des mittleren und späten Eozän ver- rus, Araneus, Oniscus und Scolopendra, also Läuse,
breitet waren. Ihre Vorderextremitäten hatten schon Milben, Spinnen, Asseln und Tausendfüßer. Solche 12
Paddelform, die hinteren waren erheblich rückge- Systeme sind oft sehr klar aufgebaut und praktisch
bildet (. Abb. 1.29). brauchbar, wenn es z. B. darum geht, Pflanzen
oder Tiere zu bestimmen oder einzuordnen. Aber 13
schon Linné erkannte, dass es eine andere Grup-
1.2.3 Vergleichende Anatomie pierung gibt, die auf einer in der Natur gegebe- 14
und Systematik, nen Übereinstimmung, also auf Genealogie bzw.
Artdefinitionen Verwandtschaft beruht. Ein System, welches diese
15
(Artkonzepte) Gruppierungen ordnet, nennt man natürliches Sys-
tem oder phylogenetisches System. Ein solches ist
Ein System ist die Gliederung einer Mannigfaltig- dem künstlichen in vieler Hinsicht überlegen (s. u.) 16
keit mit der Zielsetzung, eine Übersicht zu gewin- und spiegelt die Verwandtschaft der untersuchten
nen. Das beste System ist dasjenige, das die Man- Organismen wider. 17
nigfaltigkeit am besten beherrscht. In der Biologie Die vielen Diskrepanzen, die es zwischen einer
wurden zunächst die heute künstlich genannten künstlichen Klassifikation und dem natürlichen
Systeme errichtet. Linné errichtete z. B. ein System System gibt, beruhen darauf, dass ein praktisches 18
der Pflanzen, das auf der Zahl der Staubgefäße be- System getrennte Einzelmerkmale fordert, welche
ruhte. Bei der Klassifizierung der Gliedertiere war die Klassen, Ordnungen usw. völlig isolieren und 19
für Linné ein wesentlicher Punkt, ob sie Flügel be- möglichst in Zahlen ausdrückbar sind, und dass
saßen oder nicht. In die Gruppe der Flügellosen natürliche Systeme auf zahlreichen korreliert auf-
(Aptera) stellte er die Gattungen Pediculus, Aca- tretenden Merkmalen basieren. Diese Korrelation
20
62 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.30  Diagrammatischer Typus (= Grunddiagramm; Mitte) und Einzelformen monandrischer Orchideen. Außen sind
verschiedene Blüten europäischer Orchideen dargestellt
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 63

ist aber in der Natur selten vollständig, so dass in Häufig stellt sich das Problem, Struktur und Funk-
einzelnen Charakteren Ausnahmen existieren. Die tion zu trennen, nicht, weil die untersuchten Or- 1
durch eine ganze Anzahl von Merkmalen gekenn- gane bei nahe verwandten Arten meist identisch
zeichneten Einheiten sind „natürliche Einheiten“ bezüglich dieser beiden Komponenten sind. Anlass, 2
oder Typen. Der Begriff Typ ist in diesem Zusam- Strukturelemente und Funktionsteile begrifflich zu
menhang sachlich-konkret und bezeichnet nicht ein trennen, ergab sich erst, als ein Organ bei einer gro-
gedankliches Konstrukt der Phantasie. ßen Zahl von Arten betrachtet wurde. Dabei stellte 3
Wir wissen heute, dass das natürliche System sich zunächst heraus, dass identische Organe sehr
auf Verwandtschaft beruht. Der historische Weg zu unähnlich werden können; dann wurde entdeckt, 4
dieser Einsicht war lang. dass sie auch verschiedene Funktionen besitzen
Es ist schwer zu entscheiden, wann zum ersten können (Funktionswechsel).
Mal die Erkenntnis gewonnen wurde, dass es ein Identische, auf Verwandtschaft beruhende
5
objektives System, eben das natürliche, gibt. In man- Strukturelemente werden seit Richard Owen als
chen künstlichen Systemen des 18. und 19. Jahrhun- Homologien bezeichnet. Im Laufe der weiteren 6
derts kommen zwar natürliche Gruppen vor, wie Forschung stellte sich heraus, dass Homologien
die der Vögel oder Schmetterlingsblütler, aber den sehr oft korrelativ gebunden auftreten. Das be- 7
nötigen methodischen Unterbau konnte die rein deutet, wenn zwei Organismen einzelne homo-
klassifikatorische Systematik nicht liefern. loge Merkmale aufweisen, so sind im Allgemeinen
Während künstliche Systeme nur eine Neben- auch alle oder fast alle anderen Merkmale homo- 8
einanderstellung der einzelnen Gruppen kennen, log. Das Prinzip der Korrelation von Homologien
existieren in der Vorstellung von einer Stufenleiter beherrscht also die Gestaltung der Organismen. 9
höhere und niedere Lebewesen. Diese Forschungs- Diese Strukturteile treten nun nicht nur korreliert,
richtung gewann im 19. Jahrhundert Anschluss an sondern auch in gleichartiger Anordnung und Ver-
die klassifikatorische Systematik und entwickelte bindung auf. Aufgrund dieser Tatsachen entstand
10
ein Gabel- bzw. Stammbaumschema. Dieses beruht die Vorstellung des Typus oder Bauplans, da sich
darauf, dass der Gedanke der höheren und niederen nunmehr eine Vielzahl von Arten in ihren Organi- 11
Organisation und die Vorstellung der aufsteigenden sationen unter einem gemeinsamen Bild darstellen
Entfaltung in einer Darstellung zum Ausdruck ge- ließ. Die Aufstellung eines Typus erlaubte, auf die 12
bracht werden sollte. Existenz bestimmter Charaktere zu schließen. Goe-
Die vergleichend-anatomische Forschung (= thes Arbeit über den Zwischenkiefer ist ein Beispiel
Morphologie im Sinne Goethes) hat ihren Ansatz- hierfür. Aufgrund seiner Vorstellungen vom Typus 13
punkt bereits in der Betrachtung, die zur Abstrak- des Säugetierschädels, zu dem ein Zwischenkiefer
tion in der Lage ist und gleiche Dinge auch in nicht (Praemaxillare) mit Schneidezähnen gehört, ver- 14
identischem Zusammenhang erkennt. Jeder stellt an mutete er, dass auch dem Menschen dieser Kno-
Mensch und Säugetier und an gleich organisierten chen zukommt, und es gelang ihm auch, diesen
Tieren identische Teile fest (Augen, Ohren, Füße Nachweis zu führen.
15
usw.) und belegt sie mit identischen Namen. „Die Diese Einheit des Typus gestattet es einem
Ähnlichkeit der Tiere, besonders der vollkomme- Metzger, der bisher nur Hühner ausgenommen hat, 16
nen untereinander, ist in die Augen fallend und im sich sofort in der Anatomie einer Ente zurechtzu-
Allgemeinen auch stillschweigend von jedermann finden. Die griechischen Ärzte lernten die Anato- 17
anerkannt“ (Goethe). mie des Menschen durch Sektion von Schweinen,
Schon früh wurden zwei grundlegende Erkennt- und die berühmte Anatomie des Galenos, eines
18
-
nisse gewonnen: griechischen Arztes der römischen Kaiserzeit,
Ähnlichkeit bedeutet sehr oft, aber nicht auto- wurde nach Präparation von Affen geschrieben

- 19
matisch gleiche Funktion. und war bei Berücksichtigung der unterschiedli-
Der Vergleich erlaubt die Konzeption des chen Proportionen durchaus brauchbar. Diese Ge-
Typus. meinsamkeiten natürlicher Gruppen betreffen die
gesamte Organisation und sind außerordentlich
20
64 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.31 a, b  Die Extremitäten der


Wirbeltiere wurden vielfältig abgewan-
delt und erfüllten ganz verschiedene
Funktionen, z. B. als Flossen, Lauf- oder
Grabbeine sowie als Flügel. a Delphin,
b Anhanguera (Pterosaurier), Flügel-
spannweite 4,5 m. Nach Schäfer (1972),
Wellnhofer (1988)

zahlreich. Aus den Anforderungen der Umwelt und verwischt ist, kann es in den Embryonen noch an-
Lebensweise sind sie nicht erklärbar, jedoch aus der gelegt sein.
Evolution. Durch Abstammung von einem Ahnen Diagrammatische Typen geben zwar eine
haben sie von diesem die gemeinsamen Strukturen bildliche Darstellung des Bauplans natürlicher
erhalten und dann abgewandelt. Der einheitliche Gruppen, aber Evolutionsbiologen wollen mehr,
Bauplan natürlicher Gruppen lässt sich bildlich sie wollen die Umformungen kennen lernen, die
darstellen, indem jede Struktur durch ein Zeichen von der Ahnenform zu der heutigen Formenfülle
oder einen Buchstaben gekennzeichnet wird. Die geführt haben.
Botaniker stellen z. B. den Typus des Blütenbaus Vor einer weiteren Diskussion dieses Problems
einer Gruppe in einem Blütendiagramm dar, wo- muss darauf hingewiesen werden, dass auch bei
für . Abb. 1.30 ein Beispiel bietet. Tausende von nicht-verwandten Formen die gleiche Lebensweise zu
Orchideenarten lassen sich trotz ihrer äußerlich so einer gewissen Ähnlichkeit der Organismen führen
verschiedenen Blüten in einem einfachen Blüten- kann. Für die Lösung bestimmter biologischer Prob-
Diagramm darstellen. Ebenso kann für die vielen leme oder Tätigkeiten, z. B. Festheften, gibt es immer
Formen der Arme und Hände tetrapoder Wirbel- nur eine begrenzte Zahl technischer Möglichkeiten.
tiere (. Abb. 1.31) ein diagrammatischer Typus Daher wird man bei Organismen mit gleichen funk-
aufgestellt werden. Er beginnt mit dem Humerus tionellen Erfordernissen einige sich wiederholende
(Oberarmknochen), es folgen nebeneinander Ulna Konstruktionstypen finden. Diese ermöglichen es,
(Elle) und Radius (Speiche), dann die Handwur- bestimmte Arten zu einer Gruppe, also wieder einem
zelknochen, die Mittelhandknochen und die Fin- Typus, einem Lebensformtypus, zusammenzufassen
gerglieder. Wo dieses Muster am erwachsenen Tier (. Abb. 1.32). Wir kennen das z. B. von Pflanzen in
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 65

.. Abb. 1.32 a–e  Das Lückensystem


zwischen den Körnern mariner Sande 1
wird von winzigen Tieren mehrerer
Tierstämme besiedelt, die oft eine lang
gestreckte Körpergestalt aufweisen 2
und damit einen Lebensformtypus dar-
stellen (Konvergenz). a Tracheoraphis
(Ciliata), b Halammohydra (Cnidaria), 3
c Microphthalmus (Annelida), d Cylin-
dropsyllus (Copepoda), e Derocheilocaris
(Mystacocarida). Nach Higgins, Storch, 4
Welsch (1989)

5
6
7
8
9
Trockengebieten: Ihre Gestalt ist oft so ähnlich, dass analogen Veränderungen verursachen, sind noch un-
Kakteen, Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceen), genügend erforscht.
10
Stapeliaceen u. a. auf den ersten Blick oft verwech- Es hat sich aber gezeigt, dass viele molekularge-
selt werden; sie konvergieren auf eine ähnliche oder netische Entwicklungsmechanismen, z. B. die Ho- 11
einheitliche Gestalt (Konvergenz). Die Lebens- möobox, hoch konserviert sind und in im Prinzip
formtypen der Pflanzen hat besonders ausführlich gleicher Art und Weise auch bei voneinander weit 12
Alexander v. Humboldt beschrieben. Auch unterir- entfernten Gruppen vorkommen. Außerdem inter-
disch lebende Säugetiere wie Maulwurf, Goldmull, agieren Gene und ihre Regulatorproteine mit der
Blindmull und Nacktmull haben viele äußerliche Umwelt und es gibt ähnliche Gene, die auf ähnliche 13
Ähnlichkeiten und sind doch nicht nahe verwandt. Umwelteinflüsse reagieren. Ein einzelnes Genregu-
Bei genauerer Untersuchung zeigt sich auch immer, latorprotein kann die Bildung eines ganzen Organs 14
dass die Gemeinsamkeiten dieser Lebensformtypen, anregen, bei Drosophila, Maus und Mensch das
die auf die gleiche Lebensweise zurückzuführen sind, Auge. Bestimmte Signalwege stimmen das Wachs-
gering sind gegenüber den Übereinstimmungen in tum der Organe miteinander ab (HIPPOS).
15
Einheiten des natürlichen Systems. Das sei an den Den Lebensformtypen stehen die morpholo-
Möglichkeiten, zutreffende Voraussagen zu machen, gischen Typen gegenüber, deren Organisationszu- 16
verdeutlicht. Für eine sukkulente Pflanze kann man sammenhänge viel tief greifender sind und die auf
folgenden Bau voraussagen: Verdickung des Stam- Verwandtschaft und Homologien begründet sind. 17
mes oder Stängels unter Rückbildung der Blätter und Es stellte sich bald heraus, dass die morpholo-
Ausbildung von Dornen oder Stacheln, Verdickung gischen Typen nicht isoliert nebeneinander stehen,
und oft Rosettenanordnung der Blätter. Früchte und sondern geordnet werden können (Typenfolge). 18
Blüten zeigen dagegen kaum Gemeinsamkeiten. Nehmen wir den Typ der Gattung Eichhörnchen
Die Voraussagemöglichkeiten sind also auf wenige (Sciurus). Die Gattung enthält eine Reihe von Ar- 19
Organe beschränkt, die auf die besonderen Anfor- ten. Hier können wir über einen Knochen, etwa den
derungen der Lebensweise und des Lebensraumes Oberschenkelknochen oder den Zwischenkiefer, viel
reagieren. Die molekularen Mechanismen, die solche mehr aussagen als nur auf seine Existenz hinweisen.
20
66 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

Wir können die Form dieser Knochen bis in viele


Einzelheiten (am Femur [Oberschenkelknochen]
Kopf, Hals, Trochanter, spezielle Gelenkrollen u. a.)
- Das Kriterium der Lage ist am längsten
bekannt. Ein Vergleich der Lage von bestimm-
ten Strukturen ist auf verschiedenen Wegen
dem Typus der Gattung Sciurus zuschreiben, und möglich; in der Biologie ist davon nur einer
dieser Typus besitzt bis auf kleine Varianten (Fellfär- gangbar, nämlich der Vergleich von Lageähn-
bung) das Aussehen eines lebenden Wesens. Will man lichkeiten in einem Gefügesystem. Selbst in
einen solchen Typ der Familie Sciuridae bestimmen, komplizierten Gebilden lässt sich noch objek-
zu der auch Erdhörnchen, Ziesel, Murmeltier u. a. tiv eine Lageidentität ermitteln, auch wenn
gehören, so kann man einzelne Merkmale des Typus sie nicht geometrisch ähnlich sind, nämlich
der Gattung Sciurus auch diesem Typ zuschreiben, dann, wenn die Teilstrukturen in gleicher Zahl
während andere wie Kiefer, Kaumuskeln, Schwanz- und gleicher relativer Verknüpfung vorhanden
länge, Behaarung und Extremitätenproportionen un- sind. Mit Hilfe dieses Kriteriums lassen sich in
sicher werden. Bei umfassenderen Typen, etwa dem vielen Fällen homologe Strukturen erkennen.
der Nager (Rodentia), Placentalia, Mammalia, Am- Beispiele sind die Flügeladern vieler Insekten,
niota, Vertebrata usw., wird das „Bild“ dieses Typus die Schädelknochen von Wirbeltieren, die
immer ärmer, wenn wir uns auf die heutigen Formen Zahnhöcker vieler Säuger sowie Spross- und
beschränken. Wir können aber das erste Auftreten Blattdornen der Pflanzen. Solange die gegen-
von Organen festlegen, z. B. das der Milchdrüsen der seitigen Verbindungen der einzelnen Struk-
Säugetiere, das der echten Nagezähne der Rodentia turen gewahrt bleiben, können sie auch bei
usw. Es lässt sich also aus der Typenfolge das Nach- ungleicher Lage als homolog erkannt werden.
einander des Erscheinens von Organen ablesen. Bei Ausfall oder Hinzutreten eines Elementes des
Gruppen mit eng verwandten Arten lässt sich die Gefügesystems kann die Homologisierung
Ahnenform bis in viele Einzelheiten rekonstruieren, nach diesem Prinzip unsicher machen. Ein
für weiter zurückliegende Ahnenformen wird die Beispiel für solche Schwierigkeiten ist die
Rekonstruktion immer lückenhafter. Aber je mehr Beurteilung des am medialen Vorderrand der
fossiles Material gefunden wird, desto genauer wird Orbita der Säuger gelegenen Knochens. Bei
die Rekonstruktion der Ahnen. Reptilien befinden sich hier zwei Knochen:
Präfrontale und Lacrimale. Die Homologisie-
Homologie-Kriterien rung des einen Knochens der Säugetiere gilt
Im Folgenden sollen kurz die Kriterien aufgeführt auch heute noch als unsicher; er wird jedoch
werden, die bei der Ermittlung von Homologien an- generell Lacrimale genannt. Auch die gegen-
gewendet werden und die im vorhergehenden Text seitigen Verbindungen der einzelnen Elemente
bereits kurz erwähnt wurden. des Gefüges können sich verändern, wie die
Während in der Mitte des 19.  Jahrhunderts Verlagerungen von Blutgefäßen, Muskeln und

-
zahlreiche Forscher die methodischen Probleme Nerven bei Wirbeltieren zeigen.
bei der Homologisierung von Strukturen und Or- Kriterium der speziellen Qualität der Struktu-
ganen klarer erkannten, setzte am Ende des 19. und ren. Hier werden Gebilde für homolog erklärt,
im 20. Jahrhundert eine methodische Verwilderung die in spezifischen Sondercharakteren überein-
ein, die zu absurden Behauptungen führte. Beispiele stimmen, auch wenn sie nicht die gleiche Lage
sind die Ableitung der Wale von Ichthyosauriern einnehmen. Die Bedeutung dieses Prinzips ist
und die getrennte Zurückführung verschiedener in der Biologie sehr groß, denn dadurch lassen
Wirbeltiere auf verschiedene Flagellaten aufgrund sich auch Einzelorgane homologisieren; ein
bestimmter Spermienmerkmale. Beispiel sind Organe der Plathelminthen wie
Die Kriterien zur Ermittlung von Homologien Hoden und Ovarien, die aufgrund gleichar-
lassen sich nach Adolf Remane in drei Haupt- und tigen Baues und auch gleicher Funktion trotz
einige Hilfskriterien untergliedern. Die Hauptkri- ganz unterschiedlicher Lage homologisiert
terien: werden. In der Paläontologie kann sogar um-
gekehrt aus isolierten Teilen von Organismen
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 67

der Gesamtorganismus wieder aufgebaut wer- (Phyllopoden), z. B. Diaphanosoma, aber aus
den. Aber auch hier gibt es Bereiche, wo die der Verschmelzung von paarigen Seitenaugen 1
Anwendung dieses Kriteriums schwierig wird, hervorgeht, ist das der Copepoden, z. B. das
denn die Ausbildung von Übereinstimmungen von Cyclops, ein unpaares Nauplius-Auge. Das 2
in den Sondercharakteren kann gering sein, unpaare Auge der beiden Krebsgruppen ist also
wie ein Vergleich der Ausprägung von Kno- nicht homolog.
chen bei verschiedenen Wirbeltieren zeigt, z. B. 3
des Humerus von Crossopterygiern bis zum Gleich gelegene und gleich strukturierte Gebilde
Menschen. Unsicherheiten können auch beim werden auch dann nicht homologisiert, wenn 4
Beurteilen von Blütenblättern auftreten, zumal echte Zwischenformen fehlen. Ein Beispiel ist die
wenn sie ähnliche Form, Farbe, Größe und Knochenleiste auf dem Schädel von Säugetieren,
Funktion besitzen. Auch in der Molekularbio- an der die Schläfenmuskulatur entspringt (Crista
5
logie werden Proteine mit gleicher (oder sehr sagittalis). Sie ist z. B. bei Gorillas und Hyänen
ähnlicher) Aminosäurensequenz als homolog ausgebildet. Zwischen beiden Gattungen stehen 6
bezeichnet, ebenso wie DNA-Abschnitte bzw. so viele systematische Zwischenstufen ohne Crista
Gene mit gleicher (oder sehr ähnlicher) Nucle- sagittalis, dass dieses Gebilde nicht als homolog 7
-
otidsequenz. betrachtet wird.
Kriterium der Verknüpfung durch Zwischen- Ähnlichkeiten, die an homologen Organen
formen (Stetigkeitskriterium). Dieses Krite- unabhängig entstehen, nennt man Homoiologien. 8
rium besagt, dass extreme Ausbildungsformen Ein Beispiel ist die Atemhöhle von Pulmonaten
eines Organs durch Übergangs- oder Zwi- und Prosobranchiern. Diese Homoiologien sind in 9
schenformen verbunden sein können, die eine der Praxis im Allgemeinen leicht zu erkennen und
Identität der Extremformen erkennbar ma- von Homologien zu unterscheiden. Es handelt sich
chen. Solche Zwischenformen können durch meist um einfache Leisten, Knochenkämme, Sta-
10
den ontogenetischen Entwicklungsprozess chelbildungen oder Strukturen, die nur oberfläch-
(Beispiele vgl. Biogenetisches Gesetz) oder aber lich gleich aussehen. 11
durch Formenreihen ausgebildeter Strukturen Mit Hilfe der genannten Hauptkriterien lassen
geliefert werden. Letztere Möglichkeit kann zu sich in zahllosen Fällen Homologien ermitteln, be- 12
Vieldeutigkeiten Anlass geben, denn zwischen sonders bei kompliziert gebauten und ähnlichen Or-
einem Dreieck und einem Viereck können z. B. ganismen einer Gattung oder Familie. Wo größere
auf verschiedenen Wegen Übergangsformen Lücken auftreten, wird die Beurteilung unsicher, 13
konstruiert werden. Wünschenswert ist, dass z. B. beim Vergleich von Ringelwürmern und Wir-
sich die verwendeten Zwischenformen in ihrer beltieren; auch bei einfacher gebauten Organismen 14
gesamten Organisation intermediär verhal- wie Algen und Cnidariern sind Homologieermitt-
ten oder dass sich wenigstens die Organe der lungen schwierig. Hier können einige Hilfskriterien
15
-
verglichenen Reihe gleitend abändern. Von herangezogen werden:
Wichtigkeit ist auch der Grad der Dichte, mit Selbst einfache Gebilde können als homolog
dem die Zwischenformen aneinander schlie- erklärt werden, wenn sie bei einer großen Zahl 16
ßen. In manchen Fällen ist die Beurteilung von nächstähnlicher Arten auftreten. Ein Bei-
Zwischenformen sogar den zwei ersten Kri- spiel liefern die Querleisten der Molaren der 17
terien übergeordnet, nämlich dann, wenn die cynomorphen Primaten. Dieses Hilfskriterium
Organe zweier Organismen trotz gleicher Lage beruht auf einem einfachen Wahrschein-
und sehr ähnlicher Struktur eine unterschied- lichkeitsschluss: Gehäuftes Auftreten einer 18
liche Entstehung zeigen. Ein Beispiel liefern einfachen Struktur bei nächstähnlichen Arten
die Augen von Wasserflöhen (Phyllopoden) sowie deren Fehlen bei benachbarten Gruppen 19
und Hüpferlingen (Copepoden). Viele Formen lässt Parallelentwicklung unwahrscheinlich
besitzen bei diesen Gruppen ein unpaares erscheinen.
Scheitelauge. Während das von Cladoceren
20
68 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

- Die Wahrscheinlichkeit der Homologie


einfacher Gebilde wächst mit dem Vorhan-
densein weiterer Ähnlichkeiten von gleicher
logie nur für die Identifizierung von Strukturen
verschiedener Organismen (Individuen, Arten,
Gattungen usw.). Bei Streitfragen, ob Organe – z. B.
Verbreitung bei nächstähnlichen Arten. Hier die Mundwerkzeuge und Schreitbeine eines Krebses
muss beachtet werden, dass funktionell zu- – homonom seien, muss häufig auf das Kriterium
sammengehörige Merkmale, wie der Komplex der Zwischenformen zurückgegriffen werden.
Kaumuskulatur-Knochenleisten am Schädel Festzuhalten bleibt, dass Homologien auf ge-
der Säugetiere, nur als ein Merkmal gewertet meinsamem Erbgut eines gemeinsamen Ahnen

-
werden. beruhen.
Die Wahrscheinlichkeit der Homologie eines
Merkmales sinkt mit der Häufigkeit des Analogie, Parallelentwicklung,
Auftretens dieses Merkmals bei sicher nicht Konvergenz, Homoplasie
verwandten Arten. Dieses Hilfskriterium zeigt Auch der Begriff Analogie geht auf Richard Owen
z. B., dass Hämoglobin, das bei sicher nicht (1848) zurück. Er definiert ihn folgendermaßen:
nahe verwandten Gruppen wie Schnecken, „An analogue is a part or organ in one animal which
Chironomiden und Wirbeltieren auftritt, nicht has the same function as a part or organ in another
als Zeuge von Homologie und Verwandtschaft animal“. Diese Fassung des Begriffes Analogie ist
herangezogen werden darf, wenn es um groß- sehr weit und braucht gar nicht im Gegensatz zur
systematische Zusammenhänge geht. Leider Bedeutung der Homologie zu stehen; denn homo-
wurde in der Biologie versäumt, die zahllosen loge Organe haben ja oft die gleiche Funktion. Bei-
als homolog erkannten Strukturen konsequent spiele sind die Lungen von Spitzmaus und Giraffe
mit einheitlichen Namen zu belegen. oder die Flügel von Biene und Schmetterling. Da-
her wurde der Analogiebegriff bald eingeengt. Man
Ganz kurz sei hier auf das Problem der Beziehun- beschränkte ihn auf strukturelle Ähnlichkeiten, die
gen von ontogenetischer Entwicklung von Organen nur durch gleiche Funktion bedingt sind. Die noch
und Homologie eingegangen. Ursprünglich wurde heute gängige Definition der Analogie lautet: Analo-
gefordert, dass homologe Organe auch eine gleiche gien bzw. analoge Ähnlichkeiten sind Ähnlichkeiten,
Entwicklung haben müssten. Es hat sich jedoch he- die durch gleiche Anforderungen des Lebensraumes
rausgestellt, dass dieser Forderung nicht immer zu oder der Funktion unabhängig von phylogenetischer

-
Genüge geleistet werden kann: Verwandtschaft entstanden sind. Die Analogien be-
Für viele homologe Organe liefern unter- ruhen also auf konvergenter oder paralleler Evolu-

-
schiedliche Keimbezirke das Bildungsmaterial. tion (Analogie/Konvergenz; . Abb. 1.32). In diesem
Auch der Entwicklungsablauf, z. B. die Neu- Sinne gebrauchte Darwin den Analogiebegriff, der
ralrohrbildung bei Wirbeltieren, kann ver- von ihm und auch heute von vielen Wissenschaftlern
schieden sein, ohne dass davon die Homologie mit „Anpassungsähnlichkeit“ gleichgesetzt wird.

-
berührt zu werden braucht. Aus einer großen Die Analogie besitzt zwei Kennzeichen:
Fülle von Befunden ergibt sich also der Schluss, Sie weist immer eine Beziehung zur Funktion

-
dass ontogenetische Übereinstimmung nur und Lebensweise auf.
mit Vorsicht als Definition oder Kriterium der Sie steht immer im Gegensatz zur Homologie
Homologie eingesetzt werden darf. im Sinne eines Entweder – Oder.

Auch gleichartig gebaute Teile an ein und dem- Verbreitete Erscheinungen, die in den Bereich der
selben Organismus können identifiziert und „ho- Analogie gehören, sind die Schutzanpassungen.
mologisiert“ werden. Solche „homologen“ Gebilde Hierunter versteht man Anpassungen bei Tieren
sind z. B. die Blätter einer Pflanze, die Wirbel ei- hinsichtlich Organ- und Körperform, Farbmustern,
nes Wirbeltieres und die Haare eines Säugers. Seit Haltung und Verhaltensweisen, die ihre Träger vor
Bronn bezeichnet man diesen Typ der Homologie ungünstigen Einwirkungen durch andere Organis-
als Homonomie und gebraucht den Begriff Homo- men schützen.
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 69

Verbreitet sind Farbübereinstimmungen mit


der Umgebung (Schutzfärbung, Homochromie). 1
Beispiele stellen viele weiß gefärbte arktische Tiere,
grüne Laubbewohner und braune Wüsten- und 2
Steppentiere dar. Eine noch bessere Tarnung wird
erreicht, wenn durch Form und Farbe andere Ob-
jekte nachgeahmt werden (Mimese, . Abb. 1.33). 3
Unter Zoomimese versteht man eine Ähnlichkeit,
die sich auf ein anderes Tier bezieht, Phytomimese 4
liegt vor, wenn Pflanzenteile nachgeahmt werden,
Allomimese, wenn tote Gegenstände (Steine, Kot)
kopiert werden. Die Farbanpassungen werden viel-
5
fach in ihrer Wirksamkeit durch unauffällige Kör-
perhaltungen unterstützt. 6
Schutzanpassungen, die ein Abschrecken
des Angreifers bewirken sollen, sind die Droh-, 7
Schreck- und Warntrachten, die oft von Schreck-
lauten und Schreckstellungen begleitet werden.
Ein Sonderfall der Schutzanpassungen liegt in 8
der Mimikry vor. Hier wird ein gut geschütztes Tier,
z. B. eine wehrhafte Wespe oder eine Giftschlange, 9
das über eine Warntracht verfügt, von einem un-
geschützten Tier einer anderen Art so gut imitiert,
dass dieses von der Ähnlichkeit profitiert. Das Pro-
10
blem der Entstehung der Mimikry ist viel diskutiert,
aber bisher nicht gelöst worden. 11
Homologien und Analogien können in allen .. Abb. 1.33 a–d  Tarntrachten (Phytomimese). a Kallima
Lebensäußerungen von Organismen nachgewiesen (Blattschmetterling), b Rhampholeon (Reptil), c Monocirrhus
(Fisch), d Cycloptera (Heuschrecke). Alle Formen täuschen ein 12
werden. Beispiele aus Biochemie und Verhaltens- Blatt vor. Nach Grant (1960)
lehre werden in  Abschn. 1.2.5 und 1.2.6 gesondert
behandelt. einstimmungen als entfernter Verwandte. Dabei 13
In neuerer Zeit wird, insbesondere in der mo- kann es sein, dass zwei eng verwandte Formen, z. B.
lekularen Evolutionsforschung, der Begriff Homo- Pan und Homo, morphologisch recht verschieden 14
plasie verwendet, der aus der Kladistik stammt. Er aussehen, sogar u. U. verschiedener als einer der
bezeichnet primär ein Merkmal, dessen Auftreten Vergleichspartner mit anderen, weiter entfernten
im Kladogramm (s. Abschn. 4.1.2) nicht zu ande- Formen, z. B. Gorilla oder Pongo. Derlei Diskre-
15
ren Merkmalen passt. Zunehmend wird der Begriff panzen zwischen äußerem Erscheinungsbild und
Homoplasie ganz generell statt des Begriffs Analogie DNA-Übereinstimmung nennt man Divergenz. Di- 16
verwendet. vergenz ist besonders auffällig, wenn sich eine Form
besonders schnell und tief greifend umgestaltet wie 17
Artdefinitionen und Artkonzepte im Beispiel Homo. Was nach vorherrschender Auf-
Die Systematik soll den Grad der Verwandtschaft fassung wesentlich zählt, ist die Übereinstimmung
zwischen Organismen widerspiegeln. Verwandt- im Genom. Pan und Homo besitzen eine Über- 18
schaftliche Zusammenhänge lassen sich mit ver- einstimmung ihrer DNA-Sequenzen von 98,5 %,
schiedenen Methoden erkennen und bearbeiten, die Übereinstimmung zwischen Homo und Pongo 19
heute werden dazu auch Analysen von DNA und beträgt nur 95 %. In der Gesamt-DNA codieren
Proteinen herangezogen (s. Abschn. 4.1). Eng Ver- nur ca. 1 % für phänotypische Merkmale und die
wandte besitzen ein höheres Maß an DNA-Über- auffallenden morphologischen Merkmale machen
20
70 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

davon nur einen kleinen Teil aus. Die große Mehr- der Art und ihre Abgrenzung zu anderen Arten
zahl der Merkmale betrifft die zahllosen bioche- wesentlich schwieriger, insbesondere aus Sicht der
mischen Parameter. Besonders aussagekräftig sind Evolutionsbiologie; oft führt die Diskussion in phi-
DNA-Vergleiche bei nah verwandten Arten, z. B. bei losophische Bereiche (Groves 2001). Probleme treten
Laubsängern oder den Schnäpperverwandten. Bei bei jungen Arten auf, die sich nur wenig von einer
höheren systematischen Kategorien (Ordnungen, Stammart unterscheiden: Wie viele Unterschiede
Stämme) können DNA-Vergleiche ambivalente, muss man sehen, um eine distinkte Art anzuerken-
schwer deutbare Ergebnisse liefern. Zu weiteren nen? Einige Arten weisen eine hohe morphologische
Details des DNA-Vergleichs, einschließlich auftau- oder geographische Variabilität auf: Sind alle unter-
chender Probleme dabei, s. Abschn. 4.2.2. schiedlichen Varietäten schon Arten? Bereits Darwin
In Theorie und Praxis bleiben morphologische schrieb dazu 1859: „No one definition has yet satisfied
Kriterien aus vielerlei Gründen für die Systematik all naturalists; yet every naturalist knows vaguely what
unverzichtbar, z. B. bei der Erstellung von Artenlisten he means when he speaks of a species.“ (Bisher hat
und der Bewertung von Lebensräumen, beim Ver- noch keine Artdefinition alle Naturforscher über-
gleich fossiler und rezenter Formen und beim Ver- zeugt; jedoch weiß jeder Biologe ungefähr, was er
gleich hoher systematischer Einheiten. Es gibt außer meint, wenn er von einer Art spricht).
der Analyse eines Genoms und der DNA noch eine Heute gibt es eine Vielzahl von Artdefinitionen.
Menge weiterer Parameter, die ein Taxon, z. B. eine Manche Biologen messen allerdings der Diskussion
Art, auszeichnen, wie seine Anatomie, Geographie, über den Artbegriff nur relativ wenig Bedeutung bei
Ökologie, Demographie, seine evolutionäre Wandel- und sehen in Arten vor allem Ordnungseinheiten,
barkeit, die funktionellen Anpassungen usw. Meis- die für wissenschaftliche Diskussionen und den Na-
tens ergänzen sich Morphologie und DNA-Analysen turschutz nötig sind.
in den Händen erfahrener Systematiker gut. Aus dem Im Wesentlichen unterscheidet man zwischen
Gesagten wird deutlich, dass sich Klassifikationen morphologischen, biologischen, phylogenetischen
parallel zu Fortschritten in Analysetechniken und und ökologischen Artkonzepten.
generell in der Erkenntnis wandeln, also nicht stabil Bei der morphologischen = phänotypischen =
sind. Bei Änderungen muss aber stets das Gewicht phänetischen Artdefinition fasst man Individuen,
neuer Befunde sorgsam abgewogen werden. die sich ähnlich sehen, als Art zusammen. Das Maß
Was ist ein Taxon? Ein Taxon (Plural Taxa) ist für die Ähnlichkeit ist die Distanz. Wenn dieses Art-
eine Gruppe tatsächlich existierender Organis- konzept auch in der Praxis meistens funktioniert,
men, die auf jeder Stufe einer hierarchischen Klas- so ist es aus theoretisch evolutionärer Sicht z. T.
sifikation eine anerkannte formale Einheit bilden fragwürdig, zumal es keine Regeln gibt, wie man
(Simpson 1961). So ist z. B. die Art Cebus apella Zweifelsfälle behandelt.
(Haubenkapuziner) ein Taxon, ebenso die Gattung Die biologische Artdefinition (biological species
Cercocebus (Mangaben), die Familie Hylobatidae concept, BSC), das alte Wurzeln hat, wurde von Ernst
(Gibbons), die Ordnung Primates usw. Taxa sind Mayr, Theodor Dobzhansky und Julian Huxley ent-
die Basis der Taxonomie. wickelt. Es fasst Gruppen von natürlichen Popula-
In der Praxis kommt diagnostischen morpho- tionen als Art zusammen, wenn sie sich fortpflan-
logischen Merkmalen für die Artbeschreibung die zen und durch Isolationsmechanismen (die sich im
größte Bedeutung zu. Die Art ist die grundlegende Verhalten, in der Anatomie, in der Kompatibilität
Einheit der systematischen Biologie. Hierbei hat man der Gameten, in ökologischen und phänologischen
die interessante Beobachtung gemacht, dass Natur- Merkmalen zeigen können) reproduktiv von anderen
völker und Naturforscher sich häufig darüber einig Gruppen isoliert sind. Das biologische Artkonzept ist
sind, was unter einer Art zu verstehen ist. Phäno- mit den Vorstellungen der Populationsgenetik ver-
typische, also morphologische Merkmale stehen für einbar, und Arten stellen danach Genpools dar, in de-
die Definition einer Art allgemein im Vordergrund, nen Allelfrequenzen und Genotyphäufigkeiten durch
und in über 95 % der Fälle besteht kein Zweifel, was Genfluss und Gendrift variieren können. Arten, die
als Art anzusehen ist. Theoretisch ist die Definition sich morphologisch wenig oder gar nicht, wohl aber
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 71

reproduktiv unterscheiden, werden als Zwillings- tus einer Population machen, wenn man die Kriterien
arten bezeichnet; als Beispiele aus der heimischen streng anwendete. Ebenso schwierig oder unmöglich 1
Vogelfauna gelten Garten- und Waldbaumläufer, ist es, Organismen nach dem biologischen Artkon-
Fitis und Zilpzalp sowie Sumpf- und Weidenmeise. zept zu klassifizieren, die sich nicht sexuell fortpflan- 2
Manche Arten sind durch Hybridisierung entstan- zen, z. B. die meisten Prokaryoten, oder wenn sie nur
den, insbesondere bei Pflanzen, aber auch bei Tieren, als Weibchen existieren, z. B. wie viele Rädertiere.
z. B. bei Amphibien und südamerikanischen Affen. Kritiker des phylogenetischen Artkonzepts be- 3
Nach der phylogenetischen Artdefinition (phy- tonen, dass letztendlich jedes Individuum als eigene
logenetic species concept, PSC) gehören zu einer Art Art anzusehen wäre, wenn man mit ausreichend 4
die Angehörigen einer evolutionären Linie, die sich auflösenden Methoden (z. B. Mikrosatelliten-PCR)
von einem gemeinsamen Vorfahren ableitet und an Populationen herangeht. Hier wird jedoch über-
sich durch klar diagnostizierbare und relevante sehen, dass eine Monophylie nicht über abgelei-
5
Merkmale unterscheiden lässt. tete Einzelmerkmale (Autapomorphien) definiert
Ganz ähnlich ist die evolutionäre Artdefinition: wird; bei einer kladistischen Analyse werden aus- 6
eine Art ist eine einzelne Linie von Vorfahr-Nach- schließlich synapomorphe Merkmale berücksichtigt
kommen-Populationen, die ihre Identität erhält und (s. EXKURS 4.5 Abschn. 4.2.1). 7
ihre eigenen Evolutionstendenzen und ein eigenes Ein Merkmal (Charakter) ist jedes Kennzeichen
geschichtliches Schicksal aufweist (Simpson 1961, eines Organismus, z. B. ein anatomisches Charak-
Wägele 2005). Bei Bakterien spricht man von einer teristikum, ein Verhaltenskennzeichen oder ein 8
physiologischen Artdefinition, das auf biochemi- DNA-Basenpaar, solange es eine genetische Basis
schen Stoffwechselmerkmalen beruht. Eigene Pro- hat. Merkmale sind bei den einzelnen Organismen 9
bleme verursacht die Definition fossiler Arten. unterschiedlich ausgeprägt. Die jeweilige Kombi-
Betrachtet man alle Artdefinitionen (Artkon- nation wird Merkmalszustand (character state) ge-
zepte) – es gibt derer mindestens 10 – so stellt sich nannt. Die Merkmalszustände ändern sich im Laufe
10
letztlich die Frage, ob man eher das morphologische, der Evolution. Die Merkmale, die unverändert vom
das biologische oder das phylogenetische Artkonzept Ausgangszustand übernommen wurden, werden ple- 11
vorzieht. Kritiker des BSC weisen darauf hin, dass siomorph (primitiv, ursprünglich) genannt, die, die
im BSC auch paraphyletische oder nicht-historische sich geändert haben, heißen apomorph (abgeleitet). 12
Gruppen akzeptiert werden. Ein schwieriges Prob- Gemeinsame ursprüngliche Charaktere werden
lem für das biologische Artkonzept stellen außerdem symplesiomorph genannt; sie sind kein Hinweis auf
in verschiedenen Regionen lebende (allopatrische) eine engere Verwandtschaft. Gemeinsame abgelei- 13
Taxa dar, da man nicht entscheiden kann, ob sie sich tete Merkmale werden synapomorph genannt; sie
noch fortpflanzten, wenn sie in einem Gebiet (sym- zeigen – im sinnvollen Kontext – engere Verwandt- 14
patrisch) vorkämen. Wenn sich Arten lange Zeit al- schaft an. Zwei Taxa mit Synapomorphien zeigen
lopatrisch entwickeln konnten, bestehen häufig keine eine Verzweigung einer evolutionären Linie an und
Reproduktionsschranken, d. h. man könnte sie kreu- werden „Schwester“-Gruppen genannt. Homo, Go-
15
zen und fruchtbare Nachkommen erhalten. Nach rilla, Pongo, Pan und Hylobates weisen das abgelei-
dem biologischen Artkonzept müsste man diese tete Merkmal „Schwanzlosigkeit“ auf. Homo fehlt 16
Taxa streng genommen als eine Art ansehen. Von aber die typische Körperbehaarung, welche die Men-
dem nordamerikanischen Specht Colaptes auratus schenaffen kennzeichnet. Körperbehaarung ist ein 17
existieren z. B. zwei Taxa, z. T. Colaptes auratus und ursprüngliches Merkmal und kann nicht herangezo-
Colaptes cafer genannt, die sich morphologisch und gen werden, um zu zeigen, dass z. B. Pan und Gorilla
über mtDNA trennen lassen. Beide Taxa kreuzen sich enger miteinander verwandt sind als mit Homo. Das 18
aber und würden nach dem BSC deshalb als Unter- reduzierte Haarkleid am Körper des Menschen ist
arten klassifiziert werden, auch wenn sie bereits klar ein autapomorphes Merkmal und natürlich kein 19
unterschiedlichen genetischen Entwicklungslinien Hinweis auf irgendeine Verwandtschaftshypothese.
angehören. In der Praxis würde das BSC in manchen Die kladistische Analyse besteht also in der Auf-
Fällen keine oder falsche Aussagen über den Artsta- deckung von Synapomorphien. Der Merkmalszu-
20
72 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.34 a–h  Umformung des Kie-


fergelenks bei den Wirbeltieren. a Kopf
eines Säugerembryos mit primärem
Kiefergelenk. St: Steigbügel, A: Amboss,
H: Hammer (proximaler Anteil des
Mandibulare [=Meckelscher Knorpel
M]), T: Tympanicum, Sq: Squamosum,
D: Dentale. Das primäre Kiefergelenk
liegt zwischen Hammer und Amboss,
die bei erwachsenen Säugern Gehör-
knöchelchen bilden, das sekundäre
zwischen Dentale und Squamosum.
b–e Kieferapparate von Fischen,
primitiven Tetrapoden, säugerähnlichen
Reptilien und Säugern. Zuerst wird das
Kiefergelenk von Palatoquadratum
(Pa), welches dem Quadratum (Qu)
entspricht, und Mandibulare (Ma), das
proximal dem Articulare (Ar) entspricht,
gebildet, bei Säugern von Squamosum
(Sq) und Dentale (D). Bei den Säugern
bilden Quadratum und Articulare
Amboss (A) und Hammer (H); das dritte
Gehörknöchelchen, der Steigbügel (St),
das innerhalb der Wirbeltiere als erstes
schallleitende Funktion übernimmt,
entspricht dem Hyomandibulare
(Hb); Tr: Trommelfell. f–h Unterkiefer
in der Ansicht von innen (primitiver
Tetrapode, säugerähnliches Reptil, hoch
entwickeltes säugerähnliches Reptil).
Beachte die Vergrößerung des Dentale
(D, schwarz) und die Reduktion der
anderen Deckknochen; Ar: Articulare.
Nach Portmann (1950)

stand der zu vergleichenden Arten oder Gruppen in- als auch in out-group vorkommen, sind symple-
wird festgestellt, die Polarität von plesio- und apo- siomorph, Merkmale, die bei der out-group nicht
morphen Merkmalen wird dokumentiert. Dabei vorkommen, sind apomorph (autapomorph, wenn
können verschiedene Methoden eingesetzt werden: nur bei einem Mitglied der in-group vorhanden, sy-
Außengruppen(Out-group)-Vergleich, Ontogenie, napomorph, wenn bei mehreren vorhanden). Die
„In-group“-Commonalität, A-priori-Methoden und In-group-Mitglieder mit den meisten Synapomor-
Paläontologie. phien werden als besonders eng verwandt angese-
Am häufigsten wird der Außengruppen-Ver- hen, die, welche weniger Synapomorphien besitzen,
gleich durchgeführt. Dabei wird den Organismen sind weniger eng verwandt usw.
einer Gruppe, deren Verwandtschaftsverhältnisse Der Organismus, der die Außengruppe reprä-
analysiert werden sollen, der in-group, ein bekann- sentiert, muss vernünftig ausgewählt werden. Wer-
termaßen weiter entfernt verwandter Organismus den Meerkatzen analysiert, wäre der afrikanische
(die out-group), dessen Merkmalszustand auch be- Wildesel kein sinnvoller Außengruppenvertreter,
kannt ist, zur Seite gestellt. Merkmale, die sowohl in ein Gibbon dagegen schon. Manchmal sind zwei
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 73

oder drei Außengruppen sinnvoll. Das Ergebnis


des Vergleichs ist ein Kladogramm (s. Abschn. 4.2), 1
das zunächst wie ein Stammbaum aussieht, aber
keiner ist. Das Kladogramm stellt Schwestergrup- 2
penverhältnisse dar, deren verwandtschaftliche Be-
ziehungen dann auf der Basis der Evolutionstheorie
erörtert werden können. 3
Ein Problem bietet das verbreitete Phänomen
der Homoplasie (Merkmals-Inkongruenz, ein be- 4
stimmtes Merkmal ist nur scheinbar echt synapo-
morph). Homoplasie kann das Ergebnis von Kon-
vergenz, Parallelbildung und Entwicklungsumkehr
5
(reversal) sein. Mit dem Sparsamkeits(Parsimonie)-
Prinzip (s. Abschn. 4.1.2) kann man – besonders 6
.. Abb. 1.35  Kiemendarm und branchiogene Organe. Bei
effektiv mit Computer-Programmen – gegen das Säugetieren wird, wie bei allen Wirbeltieren, embryonal ein
Homoplasieproblem vorgehen (z. B. PAUP, PHYLIP, Kiemendarm angelegt, aus dem verschiedene Organe (= 7
MacClade; s. Abschn. 4.1). So können Zweiglängen branchiogene Organe) entstehen. Links: Derivate des Kiemen-
(Zahl der „Stufen“ = evolutionäre Veränderungs- darmes, rechts: früheres Stadium als links. 1–5: Kiementa-
schritte), Konsistenz, Index und Retentions-Index schen. Nach Storch, Welsch (1994) 8
berechnet werden. Mit diesem Vorgehen wird die
Frage beantwortet, ob mit den gewählten Merkma- Vielfach haben die Jugendstadien eine andere 9
len und der gewählten Methodik der tatsächliche Lebensweise als die Adulten und bewohnen einen
phylogenetische Ablauf oder zumindest ein Teil anderen Lebensraum – wie die Larven der meisten
davon gefunden wurde. Insekten, z. B. der Libellen, Schmetterlinge und vie-
10
Beim heute dominanten kladistischen Vorgehen ler Käfer, sowie die planktischen Larven vieler am
gibt es eine ganze Reihe von Problemen. Wichtig sind Boden des Meeres lebender Tiere. In diesem Falle 11
die Kriterien für Merkmalsauswahl, das Problem der besitzen die Larven Strukturen, die den Erwachse-
Homoplasie und die Klassifikation fossiler Formen. nen fehlen. Darüber hinaus findet man aber häufig 12
Ein praktisches Problem ist der Zwang, traditionelle, Umwegsentwicklungen von Organen, die nicht mit
vertraute Taxa (z. B. Reptilien) aufgeben zu müssen der Lebensweise erklärbar sind, wohl aber durch
(s. Abschn. 4.2) und eine Flut neuer Begriffe für mo- die Evolution. Wir erwähnten die merkwürdige 13
nophyletische Taxa und Rangstufen schaffen zu müs- Umbildung des Kiefergelenks im Vorfahrenbereich
sen. Kladisten neigen außerdem dazu, das Potenzial der Säugetiere. Ein primäres Kiefergelenk wird 14
an Informationen in Primitivgruppen oder einzig- hier durch ein sekundäres ersetzt. Dieser Vorgang
artig abgeleiteten Gruppen zu vernachlässigen. Vor- läuft auch in den Embryonen der Säugetiere ab
fahren werden vernachlässigt, manchmal wird sogar (. Abb. 1.34). Bei den Beutelratten ist im Säug-
15
bestritten, dass man sie erkennen kann. Kladistische lingsstadium sogar noch das primäre Kiefergelenk
Klassifikationen sind inhärent unstabil. in Aktion. 16
In den Embryonen werden vielfach auch Or-
gane angelegt und entwickelt, die vor Erreichen des 17
1.2.4 Entwicklungsbiologie erwachsenen Stadiums wieder abgebaut oder abge-
stoßen werden. Auch das ist zum Teil aus den Anfor-
Die Entwicklung der Lebewesen vom Ei bis zum derungen der Lebewesen verständlich. Ein solches 18
fertigen Organismus unterliegt ganz bestimmten embryonal funktionierendes Organ ist die Plazenta.
Gesetzmäßigkeiten. Dass Organe aus einfacheren Bei Larven haben pelagische Stadien oft spezielle 19
Vorstadien geformt werden, ist eine Selbstverständ- Schwebeorgane (Pluteus-Larve der Seeigel, Larven
lichkeit, aber sehr oft machen die Lebewesen Um- mariner Krebse usw.), wasserlebende Larven land-
wege der Entwicklung durch. bewohnender Imagines besitzen spezielle Atmungs-
20
74 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

organe (Eintagsfliegen, Libellen, Köcherfliegen u. a.). auf, aber in einer Anordnung, die ein hinreichendes
Auch hier gibt es aber Fälle embryonaler Organe, de- Funktionieren nicht gewährleistet: Eine kleine Linse
ren Vorhandensein nur aus der Evolution verständ- kann z. B. seitlich von der rückgebildeten Netzhaut
lich wird. Die Chorda dorsalis (Rückensaite) ist beim liegen und somit ihre Funktion nicht erfüllen.
Lanzettfischchen, bei Neunaugen und Copelaten ein Bei vielen Insekten sind Vorder- und Hinterflü-
Dauerorgan mit Stützfunktion, bei den meisten Wir- gel durch einen Haftapparat verbunden. Bei man-
beltieren wird sie aber nur embryonal angelegt und chen Wanzen, z. B. Arten der Gattung Nabis, sind
bildet das morphogene Protein sonic hedgehog, das die Hinterflügel rückgebildet. Die Vorderflügel tra-
die funktionsgerechte Ausbildung des über ihm lie- gen aber noch ihren Anteil des Haftapparates, also
genden Zentralnervensystems induziert. einen halben Apparat. Es gibt auch flugunfähige
Die Kiementaschen werden embryonal noch Insekten, deren Flügel noch erhalten sind, aber die
bei den Landwirbeltieren angelegt, entwickeln Flugmuskulatur ist reduziert, und es gibt Insekten
sich aber niemals zu Kiemen; sie sind wichtig für mit reduzierten Flügeln, aber erhaltener Flugmus-
die Ausbildung von Mittelohr, Tonsillen, Thymus kulatur. In solchen Fällen wird man schwer noch
und der inkretorischen Organe Nebenschilddrüse eine andere Funktion nachweisen können.
(Epithelkörperchen) und Ultimobranchialkörper Das gilt auch für den letzten Typ rudimentärer
(. Abb. 1.35). Auch gehen die Lungen von einer Organe, der durch mangelnde histologische Ausdif-
Kiementaschenanlage aus. ferenzierung gekennzeichnet ist. In der Entwicklung
Für manche embryonalen Organe aber ist eine wird embryonal zuerst die Form ausgebildet. In die-
spezielle Funktion unwahrscheinlich, z. B. für die sem Stadium sind die Gewebe und Zellen noch un-
embryonalen Zahnanlagen, die bei vielen Säugetie- differenziert. Wir erwähnten die unterentwickelten
ren vorübergehend in den Kiefern erscheinen (z. B. Sehzellen rudimentärer Augen. Erst in der letzten
bei Bartenwalen), bei den Erwachsenen jedoch feh- Phase, der Differenzierung der Gewebe, erreichen
len oder für die embryonalen Rückenmuskeln der die Zellen die Struktur, die für die Funktion des Or-
Schildkröten, die sich wieder auflösen. gans notwendig ist.
Eine ähnliche Situation wie bei den eben ge- Rudimentäre Organe können also embryonal
nannten Embryonalorganen findet sich bei rudi- noch eine Funktion erfüllen (Chorda dorsalis der
mentären Organen. Man hielt sie lange für funk- Vögel und Säugetiere), Organen entsprechen, die
tionslose Strukturen, deren Anwesenheit nur mit ihre Hauptfunktion eingestellt haben (Flügel der
funktionierenden Organen der Vorfahren zu be- Strauße), desorganisierte Apparate darstellen (Au-
gründen sei. Aber wann ist ein Organ funktionslos? gen unterirdisch lebender Säugetiere) und schließ-
Rudimentäre Organe haben oft noch eine Funk- lich der histologischen Ausdifferenzierung entbeh-
tion. Der Afrikanische Strauß hat, wie alle flugun- ren (Sinneszellen von Augen unterirdisch lebender
fähigen Vögel, noch rudimentäre Flügel, die unter Tiere).
bestimmten Bedingungen sogar noch – allerdings In der ersten Zeit der Evolutionsbiologie spiel-
erfolglos – Flugbewegungen ausführen. Sie dienen ten auch Atavismen eine große Rolle (Wiedersheim
als Balanceorgane und werden bei der Balz bewegt. 1908). Atavismen sind Rückschläge auf Merkmale
Sie sind also nicht total rudimentäre Organe, aber eines Ahnen, die als einzelne Varianten innerhalb
rudimentäre Flugorgane, also rudimentär in Bezug einer Art auftreten. Dreizehige Pferde, Wale mit
auf die eine Hauptfunktion. Hinterextremitäten, Menschen mit Vollbehaarung
Die isolierten Beckenknochen der Wale sind des Körpers, mit einem kurzen Schwanz, mit ei-
noch Ansatzstellen für Muskeln des Penis und der ner Kiemenspalte am Hals, Frauen mit überzähli-
Afterregion, aber ursprünglich waren sie vor allem gen Brustwarzen oder Vollbart (. Abb. 1.36) sind
Traggerüst für die Hinterextremitäten. Beispiele dafür. Die oben genannten Beispiele von
Noch weiter sind oft Systeme rückgebildet, die Flügelbewegungen bei flugunfähigen Tieren zeigen,
sich als desorganisierte Apparate erweisen, z. B. die dass es auch rudimentäre Verhaltensweisen gibt, die
Augen mancher unterirdisch lebender Wirbeltiere. zum Teil erst ausgelöst werden, wenn man den Tie-
Sie weisen zwar noch ihre wesentlichen Bestandteile ren ihre alten, jetzt aber abnormen, Umweltsituatio-
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 75

.. Abb. 1.36 a–d Atavis-
men. a Mann mit Vollbehaa-
rung des Gesichts, b Junge
1
mit Halsfistel, d. h. offener
Kiemenspalte, durch die ein 2
Schlauch geführt wurde,
c junge Frau mit zusätzli-
chen Brustwarzen, d Junge 3
mit Schwanz. Nach Storch,
Welsch (1994) und Wieders-
heim (1908) 4
5
6
7

nen bietet. Raben und Tauben, die sekundär Baum- Atavismen zeigen, dass Entwicklungsmecha- 8
brüter geworden sind, rollen noch ihre Eier ins Nest, nismen in der Evolution sehr konservativ sein
wenn man durch ein Stück Pappe eine Ebene um ihr können. Hierfür gibt auch die Epidermis der Wir- 9
Nest schafft. Haussperlinge bauen gelegentlich Ku- beltiere Beispiele: Transplantiert man die Epider-
gelnester wie Webervögel, mit denen sie verwandt mis einer Eidechse auf die Dermis einer Maus, so
sind. Wüstenchamäleons, die in buschloser Wüste bildet sie Schuppen aus, allerdings in dem Muster
10
leben, setzen sich in Terrarien sofort auf Büsche. Für der Mäusehaare. Das Signal der Dermis ist offenbar
den Menschen hat man eine Reihe von Verhaltens- so konservativ, dass es von der Reptilienepidermis 11
rudimenten registriert, z. B. das Sträuben der Haare erkannt wird.
(Gänsehaut). Dieses bewirkt bei Schimpansen noch Zahnschmelz von Wirbeltieren wird vom Mun- 12
eine Vergrößerung des Körpers, ist also Imponier- depithel durch die Induktion des Kiefermesenchyms
mittel. Beim Menschen verfehlt die Aufrichtung gebildet, das sich von der Neuralleiste herleitet. Ent-
der meist sehr spärlichen Behaarung allerdings ihre sprechendes Mundepithel vom Hühnchen kann auf 13
Wirkung in dieser Hinsicht. Viele Menschen ziehen Mäusekiefermesenchym noch Zähne entwickeln,
in prekären Lagen, oft schon bei Schilderung grau- ähnlich wie bei den Vorläufern der heutigen Vögel. 14
samer Situationen, Muskeln des hinteren Beckens Das Mundepithel antwortet also noch auf ein Signal,
zusammen – eine rudimentäre Verhaltensweise, das anscheinend in der Entwicklung der Vögel vor
die dem Schwanzeinziehen entspricht. Weitere ru- über 80 Mio. Jahren verloren ging.
15
dimentäre Verhaltensweisen beziehen sich auf die Man nimmt an, dass die Gene, die an diesen
Rangordnung beim Menschen (z. B. Sitzordnung an Vorgängen beteiligt sind, weitere Funktionen haben, 16
Tafeln, Passierenlassen durch Türen). die noch benötigt werden.
Atavismen können auf Mutationen beruhen 17
oder sind modifikatorische Entwicklungsanoma-
lien, die in einzelnen Fällen auch experimentell 1.2.5 Biochemie und Zellbiologie
induziert werden können. Bei Vögeln kann unter 18
bestimmten Versuchsbedingungen die Entwicklung Die Evolution lässt sich natürlich auch an Ände-
einer vollständigen Fibula erreicht werden, die wie- rungen auf molekularer Ebene nachweisen. In sehr 19
derum die Ausbildung von Metatarsalia zur Folge vielen Fällen kann man beobachten, dass wichtige
hat, so dass ein Muster entsteht, welches dem der Strukturelemente der Zelle, Molekültypen oder
Hinterextremität von Archaeopteryx entspricht. Biosynthesewege bei allen Organismen, von E. coli
20
76 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

bis zum Menschen, gleich oder sehr ähnlich sind. schranke verhindert, dass Ionen und Metabolite un-
Wären die einzelnen Organismengruppen unab- kontrolliert verschwinden oder eindringen. Bei den
hängig voneinander entstanden, so könnte man Eukaryoten finden wir im Zellinneren ein komplexes
eine solche Übereinstimmung kaum erklären. Geht System von Membranen, die vielseitige Reaktions-
man dagegen von der Evolution aus, so sind diese räume (Kompartimente) bilden, in denen Stoffwech-
Befunde nur plausibel. Die Strukturelemente der selwege ungestört voneinander ablaufen können.
Zelle, Molekültypen oder Biosynthesewege, die Auch dieses Prinzip ist universell bei allen Eukary-
sich in der frühen Evolution als brauchbar und sta- oten zu finden. Zum Aufbau der Biomembran wer-
bil erwiesen, wurden beibehalten und als Bausätze den in allen Organismen Phospholipide benutzt, die
auf späteren Entwicklungsstufen weiterverwendet nach demselben Strukturschema aufgebaut sind. Es
(s. Abschn. 3.4). handelt sich dabei um amphiphile Moleküle, die mit
einem lipophilen Strukturteil (meist zwei Fettsäu-
Aufbau der Makromoleküle reketten) ins Innere der Lipiddoppelmembran ori-
und der Biomembran entiert sind, während das Glycerolgrundgerüst mit
Betrachtet man die biochemischen Bausteine, aus den angehängten Phosphatgruppen (an die weitere
denen Proteine, Nucleinsäuren oder auch Biomem- Moleküle gekoppelt sein können) hydrophil ist und
branen aufgebaut sind, so finden wir nahezu identi- den äußeren Mantel der Biomembranen bildet. Wei-
sche Bausätze auf allen Organisationsstufen. terhin sind in den meisten Biomembranen Sterole
Alle Organismen benutzen 20  Aminosäuren (z. B. Cholesterol) eingelagert, die Fluidität und Sta-
zum Aufbau der Proteine (s. . Tab. 3.3), die als bilität der Biomembran unterstützen. Die Phospho-
universelle Werkzeuge in den Zellen dienen, an- lipide und Sterole bilden in einem wässrigen Milieu
gefangen von den Strukturproteinen, über Rezep- spontan Lipid-Bilayer aus, die durch kooperative
toren, Transporter bis hin zu den Enzymen und Wechselwirkungen zusammengehalten werden. Bei
regulatorischen Proteinen. Es ist bemerkenswert, den Biomembranen wird das Prinzip der Selbstorga-
dass nur die L-Formen der Aminosäuren als Pro- nisation deutlich, das man auch bei vielen anderen
teinbausteine universell genutzt werden, während Strukturelementen der Zelle beobachtet, z. B. beim
D-Aminosäuren nur in speziellen Proteinen, die vor Cytoskelett, bei der Ausbildung der Raumstruktur
dem Abbau durch Proteasen geschützt sein sollen der Proteine oder bei der Ausbildung der DNA-
(beispielsweise die Zellwände oder Peptidantibio- Doppelhelix (s. Abschn. 3.2).
tika in Bakterien), vorkommen. Die Universalität Die einheitliche Struktur der Grundbausteine
der L-Aminosäuren wird häufig als Argument da- der Proteine, Nucleinsäuren und Lipide hat zu
für genutzt, dass das Leben nur ein einziges Mal auf manchen Spekulationen Anlass gegeben. Weshalb
der Erde entstand. Die Art und Weise, wie in Ribo- werden nur bestimmte Aminosäuren, Nucleotide
somen Proteine synthetisiert werden, ist bei allen oder Fettsäuren verwendet? Eine überzeugende
Organismen grundsätzlich gleich (. Abb. 3.8); bei Hypothese besagt, dass diese Moleküle auf der
den Prokaryoten und Eukaryoten sind jedoch die Erde spontan in der reduzierenden „Ursuppe“
beteiligten Proteine und ribosomalen Ribonuclein- entstanden, in der einfache Kohlenwasserstoffe
säuren (s. Abschn. 3.2) unterschiedlich aufgebaut. und Stickstoffverbindungen, wie Blausäure, bereits
Der Aufbau der DNA (Desoxyribonucleinsäure; vorhanden waren. Gibt man solche einfachen Aus-
Einzelheiten s. Abschn. 3.2), die als Träger der Erb- gangssubstanzen in ein Reaktionsgefäß und lässt
substanz dient, sowie der zugehörigen Ribonuclein- sie miteinander reagieren (z. B. indem man starke
säuren (insbesondere mRNA, tRNA, rRNAs; s. Ab- elektrische Entladungen durchführt), so bilden
schn. 3.2 für eine ausführliche Darstellung) erfolgt sich spontan komplexe organische Moleküle, unter
bei allen Organismen nach demselben Grundprin- denen man Aminosäuren, Nucleotide und Zucker
zip, das offensichtlich nur einmal zu Beginn des nachweisen konnte. Diese Grundmoleküle wurden
Lebens entstand. dann weiter optimiert. Es bildeten sich die ersten
Alle Zellen werden von einer Lipiddoppelmem- Makromoleküle, vermutlich zunächst enzymatisch
bran (Biomembran) begrenzt, die als Permeations- aktive Ribonucleinsäuren, später die Proteine und
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 77

zuletzt die Desoxyribonucleinsäuren, deren Raum- aktionswege, insbesondere das Photosystem I und
strukturen über das Selbstorganisationsprinzip II sowie der Calvin-Zyklus (mit den zugehörigen 1
gesteuert wurde. Der Beginn der Evolution ist in Enzymen), wurden grundsätzlich bis zu den heuti-
vielen Fällen noch spekulativ. Einige Wissenschaft- gen Pflanzen beibehalten. 2
ler gehen in ihrer Spekulation sogar so weit, dass Die meisten Prokaryoten, Pilze und Tiere sind
sie behaupten, dass das Leben auf der Erde durch heterotrophe Organismen, die vorhandene or-
L-Aminosäuren und andere organische Moleküle ganische Materie (insbesondere Kohlenhydrate 3
„angeimpft“ und initiiert wurde, die aus anderen und Fettsäuren) abbauen und daraus NADH und
Galaxien stammen und durch Meteoriteneinschlag letztlich ATP gewinnen. Die katabolen Stoffwech- 4
zur Erde gelangten. selwege entstanden zuerst bei Bakterien. Wie wir
Da wir heute in der Lage sind, die Aminosäure- in Abschn. 3.2 ausführlicher darstellen, wurden
sequenzen der Proteine und die Nucleotidsequen- α-Proteobakterien von den frühen Eucyten aufge-
5
zen der Nucleinsäuren zu bestimmen (s. Abschn. 3.2 nommen, aus denen sich die Mitochondrien ent-
und 4.1), können wir uns unmittelbar davon über- wickelten. Dabei kam es auch zum Transfer der 6
zeugen, dass in der Evolution strukturelle Kom- wichtigen Energiestoffwechselwege, wie z. B. der At-
ponenten, wie Proteine und zugehörige Gene, mungskette, die in der Eucyte in den Mitochondrien 7
ursprünglich angelegt und von Evolutionsstufe zu lokalisiert ist. Die katabolen Stoffwechselwege, wie
Evolutionsstufe weitergegeben wurden. Im Verlauf Glykolyse, Citratzyklus, b-Oxidation der Fettsäuren
der frühen Evolution bis heute traten Mutationen und die Energieumwandlung in der Atmungskette 8
auf, indem einzelne Nucleotide oder Aminosäuren sind nahezu universell.
oder ganze Domänen ausgetauscht wurden (s. Ab- Ebenso universell sind bei Bakterien und Eu- 9
schn. 3.4 und 3.5). Die Analyse dieser Veränderun- karyoten die Stoffwechselwege, die zur Biosynthese
gen ist das zentrale Thema der molekularen Evolu- von Kohlenhydraten, den einzelnen Aminosäuren,
tionsforschung. Diese wird ausführlich in den Kap. 3 Fettsäuren und Steroiden führen. In vielen Fällen
10
und 4 abgehandelt. (aber natürlich nicht allen) sind die biochemischen
Erkenntnisse, die bei der Hefe oder E. coli gefunden 11
Organisation wurden, direkt auf die Biochemie einer menschli-
der Grundstoffwechselwege chen Zelle übertragbar. 12
Alle Zellen benötigen Energie, um Stoffwechsel- Die nachgewiesene Universalität der katabolen
reaktionen (z. B. Biosynthesen von Aminosäuren, und anabolen Stoffwechselwege liefert einen direk-
Zuckern, Fettsäuren, Nucleotiden, Hormonen und ten und weiteren Hinweis für die Richtigkeit der 13
Makromolekülen) durchzuführen, um Substanzen Evolutionstheorie.
gegen ein Konzentrationsgefälle durch Biomemb- 14
ranen zu transportieren, um mit anderen Zellen zu Sekundärstoffe
kommunizieren oder um sich zu teilen oder fort- Substanzen, die jede Zelle zum Leben benötigt, wer-
zubewegen. den als Primärstoffe den Sekundärstoffen gegen-
15
In der Evolution wurden früh Stoffwechselwege übergestellt, die nur in speziellen Zellen oder nur in
entwickelt, um Sonnenlicht in chemische Energie speziellen Organismen hergestellt werden. 16
umzuwandeln (Photosynthese) oder um vorhan- Zu den Sekundärstoffen im weitesten Sinne
dene organische Verbindungen abzubauen und da- zählen die mannigfaltigen Hormone und andere 17
raus chemische Energie, insbesondere in Form von Signalmoleküle, die insbesondere im tierischen
ATP, zu gewinnen. Die Photosynthese entstand früh Organismus eine wichtige funktionelle Rolle in der
in der Evolution bei phototrophen Bakterien und Kommunikation der Gewebe und Organe unterein- 18
Cyanobakterien. Im Verlauf der Eucytenevolution ander und in der Regulation von Entwicklungs- und
wurden Cyanobakterien aufgenommen, aus denen Wachstumsprozessen spielen. Auch auf dieser Stufe 19
sich die Chloroplasten entwickelten (Endosymbi- finden wir eine außerordentlich große Strukturkon-
ontenhypothese; s. EXKURS 3.1 Abschn. 3.2.7). Die servierung, d. h. einmal als funktionelle und wirk-
zugehörigen Moleküle (wie Chlorophyll) und Re- same Metabolite entwickelte Substanzen wurden in
20
78 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

späteren Evolutionsstufen beibehalten. Die meisten Aufbau der Zellen


Hormone und Signalsubstanzen, die wir im Men- Bis auf die Viren bestehen alle Lebensformen aus
schen vorfinden, kommen, wie ihre Rezeptormole- Zellen, die von einer semipermeablen Biomemb-
küle, in identischer oder ähnlicher Form bereits bei ran umgeben sind. Während Bakterienzellen nur
den frühen Wirbeltieren, häufig auch schon bei den wenig strukturiert sind, aber schon Ribosomen be-
Wirbellosen vor. sitzen (s. EXKURS 3.1 Abschn. 3.2.7), weisen Euka-
In vielen Bakterien, Pilzen, sessilen marinen Le- ryoten eine starke Kompartimentierung durch ein
bewesen und insbesondere in Pflanzen kann man kompliziertes Endomembransystem auf. Wichtige
eine außerordentliche Mannigfaltigkeit an organi- Kompartimente sind Zellkern, glattes und raues
schen Substanzen feststellen, deren Funktion man endoplasmatisches Reticulum, Golgi-Apparat,
lange Zeit nicht erkannt und wohl auch deshalb Mitochondrien, Chloroplasten (nur bei Pflanzen),
„Sekundärstoffe“ genannt hat. Inzwischen gibt es Peroxisomen, ferner Endo- und Lysosomen. Dazu
viele direkte und indirekte Hinweise, dass es sich kommen im Cytosol Ribosomen, Proteasomen,
bei den Sekundärstoffen um Substanzen handelt, Inflammasomen und insbesondere ein hochkom-
die für die Produzenten im ökologischen Kontext plexes Cytoskelett. Der Erwerb von Mitochondrien
wichtig sind. Viele Substanzen sind Abwehrstoffe und Chloroplasten wird in Abschn. 3.2 genauer ab-
gegenüber Fraßfeinden oder Mikroorganismen; gehandelt.
andere dienen der intra- und interspezifischen Erste einzellige Eucyten waren vermutlich pha-
Kommunikation. Die Struktur der Sekundärstoffe gocytierende Organismen (vergleichbar mit Amö-
ist nicht zufällig, sondern sie wurde durch Selek- ben und vielen Leukocyten).
tion im Verlauf der Evolution so abgeändert, dass Die Differenzierung der Eucyte ist dann auch
sie mit zellulären Zielstrukturen (DNA, Proteine, an die Entstehung der Vielzelligkeit gekoppelt, das
Rezeptoren, Enzyme, Biomembran) unmittelbar heißt, die Einzelzellen haben sich zu einem Ge-
interagieren kann. Man kann deshalb sogar von ei- bilde zusammengelagert, einem Vielzeller, der ein
nem evolutionären molecular modelling sprechen. ganz neues Entwicklungsniveau darstellt. In einem
Die Bedeutung der Sekundärstoffe für die Fitness solchen Vielzeller ist die Differenzierung in ver-
der sie produzierenden Organismen kann man schiedene Zellen mit verschiedenen Funktionen
auch daran ablesen, dass diese Merkmale, deren sehr sinnvoll und erhöht die Effektivität aller Leis-
Erhaltung energetisch äußerst aufwendig ist, in der tungen. Alle Funktionen (Schutz, Reproduktion,
Evolution beibehalten wurden. Wären Sekundär- Resorption, Sekretion, Motilität, Ultrafiltration,
stoffe ohne Funktion, so wären sie längst wegselek- Reizaufnahme, Erregungsbildung und -weiterlei-
tiert worden. Einige Sekundärstoffe trifft man nur tung, Phagocytose, Kontraktilität, Matrixproduk-
punktuell in verwandten Organismengruppen an. tion usw.) sind durch einen oder mehrere Zellty-
Auch dies kann ein weiterer wichtiger Hinweis für pen charakterisiert. Beim Menschen unterscheidet
eine gemeinsame Evolution der betreffenden Arten man derzeit ca. 220 Zelltypen. . Abb. 1.37 zeigt eine
sein. Eine ausführliche Diskussion der Evolution Auswahl verschiedener Zellen in unterschiedlichen
der Sekundärstoffe, insbesondere bei Pflanzen, fin- Organen. Sie liegen nicht beziehungslos nebenei-
det sich in den Kap. 3 und 4. nander, sondern bilden bei allen Tieren typische

.. Abb. 1.37 a–i  Lichtmikroskopische histologische Präparate verschiedener Zellen und Gewebe der Säugetiere. a Eizellen
(Sternchen) in Primordial- (oben und unten) bzw. Primärfollikeln (Mitte) im Ovar einer Frau. b–e Epithelgewebe. b Zotten im
Dünndarm eines Rhesusaffen, die von resorbierendem Epithel (Sternchen) bedeckt sind, L: Darmlumen. c Dünndarm einer
Katze mit schleim- und bicarbonatbildenden Brunnerschen Drüsen (Pfeile) im Bindegewebe (grün gefärbt) der Darmwand.
d Quergeschnittene Sammelrohre (Sternchen) in der Niere einer Katze. Die Wand der Sammelrohre besteht aus kubischem bis
prismatischem Epithel. e Colonkrypten eines Rhesusaffen mit blau gefärbten schleimbildenden Becherzellen. f Gelenkknorpel
(Sternchen) zwischen zwei Fingergliedern des Menschen. g Eosinophiler Granulocyt (Pfeil) und Erythrocyten (Sternchen) im Blut-
ausstrich eines Menschen. h Quergestreifte Skelettmuskulatur eines Rhesusaffen. i Purkinje-Zellen im Kleinhirn eines Hundes.
Diese großen Nervenzellen besitzen einen riesigen Dendritenbaum (Pfeile), der Impulse anderer Nervenzellen aufnimmt und
ihre Sekretionsprodukte
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 79

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80 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

.. Abb. 1.38 a–m  Ultrastruktur von Zellen: a–e Ectodermale Epithelzellen und ihre Sekretionsprodukte, f–m Spermien. a Cni-
de, b Receptor, c Epidermisborste, d Sensillum, e Magenfilter, f Aquaspermium (bei marinen Wirbellosen verbreitet). g–m abge-
leitete Spermien. g Nemertini, h Pentastomida, i Acari, j Araneae, k Pseudoscorpiones, l Uropygi, m Amblypygi. Zeichnungen
nach Afzelius (1971), Alberti (1980), Alberti u. Michalik (2004), Wingstrand (1972)
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 81

Gewebe, unter denen wir heute vier Hauptgewebe net Onychophora (. Abb. 1.38d) und Malacos-
unterscheiden: Epithelgewebe, Nervengewebe, traca (. Abb. 1.38e). Gleiches gilt für Spermien. 1
Binde- mit Stützgewebe und Muskelgewebe. Alle Bei vielen Tieren, deren Sperma und Eier ins freie
Zelltypen lassen sich diesen, bei fast allen vielzel- Wasser abgegeben werden, bestehen die Spermien 2
ligen Tieren (Metazoen) vorkommenden Geweben aus vorn gelegenem Acrosom, mehr oder minder
zuordnen. Das phylogenetisch älteste Gewebe ist kugeligem Zellkern, vier oder fünf Mitochondrien
das Epithelgewebe, das aus Zellschichten besteht, und einer Geißel (primitives Spermium, Aquasper- 3
die äußere und innere Oberflächen bedecken. Epi- mium, . Abb. 1.38f). Wenn das Spermium sich
thelzellen sind z. B. resorbierende und sekretorisch durch ein dichteres Medium als Wasser bewegen 4
aktive Zellen; sie können mit Kinocilien besetzt sein muss, um an die Eizelle zu kommen, etwa durch
und Wasserströme sowie Schleimbänder bewegen; die gallertige Hülle eines Eigeleges, ist der Zellkern
Epithelzellen können Schutzschichten (z. B. Cuticu- langgestreckt und der Mitochondrienabschnitt
5
lae) abscheiden; sie können Sinnesfunktion haben; verlängert (abgeleitete Spermien, . Abb. 1.38 g).
sie können Wasser und Ionen transportieren usw. Die abgeleiteten Spermien erfahren im Tierreich 6
Nervengewebe geht auf Epithelgewebe zurück und eine riesige Formenfülle, die sehr gut für phyloge-
hat letztlich die Aufgabe, die Körperfunktionen zu netische Interpretationen verwendet werden kann 7
koordinieren, Informationen aufzunehmen und zu (. Abb. 1.38 h–m).
verarbeiten. Im Nervengewebe sind beim Menschen Wenn man bei Pflanzen und insbesondere bei
auch alle höheren Funktionen bis hin zum Bewusst- Tieren auch eine vielfältige und zunehmende Spezia- 8
sein lokalisiert. Bindegewebe bildet eine zellfreie lisierung der Zelle in viele unterschiedliche Zelltypen
Matrix aus verschiedenen Makromolekülen (Kolla- vorfindet, so erfolgt jedoch der Grundaufbau grund- 9
gen, Proteoglykane, Glykoproteine), die Stützfunk- sätzlich nach einem einheitlichen Prinzip. Zellen ver-
tion haben und aufgrund ihrer Fähigkeit, Wasser mehren sich durch Teilung, die bei den Eukaryoten
zu binden, Diffusionsräume für den Stofftransport einheitlich mit Hilfe der Mechanismen der Mitose
10
schaffen. Spezielle Bindegewebe bilden Skelettma- bzw. Meiose (s. EXKURS 3.2 Abschn. 3.3.3) erfolgt.
terial wie Knorpel und Knochen. Muskelgewebe ist Die gemeinsamen Grundstrukturen bei Mikroorga- 11
in verschiedener Ausprägung für Bewegungen (Be- nismen und Eukaryoten sowie einheitliche Grund-
wegungsapparat, Herz, Blutgefäße, Darmperistaltik prozesse der Zellteilung bei Eukaryoten kann man 12
u. a.) zuständig. plausibel nur erklären, wenn man eine Evolution von
Mit dem vermehrten Einsatz von Elektronen- jeweils einfachen Zelltypen in der frühen Evolution
mikroskopen (EM) an Instituten der Biologie ist zu komplexeren Zelltypen in nachfolgenden Evolu- 13
eine vergleichende Ultrastrukturforschung entstan- tionsphasen annimmt. Die einheitliche Struktur aller
den, sozusagen eine vergleichende Anatomie auf Eucyten beruht also auf Verwandtschaft. 14
Zellebene, die in den letzten Jahrzehnten zu einer
systematischen Untersuchung aller Organismen-
gruppen geführt hat. Allein das Wissen über wir- 1.2.6 Verhaltensbiologie
15
bellose Tiere wurde unter der Herausgeberschaft
von Frederick Harrison in 17 Bänden „Microscopic Ebenso wie in der Evolution von Strukturen kann 16
Anatomy of Invertebrates“ niedergelegt. . Abb. 1.38 man Evolutionsreihen, Funktionswechsel usw.
zeigt am Beispiel von Integument und Spermien, im Verhalten feststellen. Schon Linnè nannte die 17
welche Vielfalt sich hier auftut. Viele Ultrastruk- Hühnervögel „Scharrvögel“, verwendete also ein
turmerkmale sind gruppen-, manchmal sogar Verhalten zur Namensgebung. Alle drei Gattungen
artspezifisch. Ein Bild eines Ausschnittes aus einer der großen Menschenaffen (Orang-Utan, Gorilla 18
Epithelzelle oder ihrer Sekretionsprodukte kann und Schimpanse) bauen in Bäumen Schlafnester
ausreichen, um einen Cnidarier (. Abb. 1.38a), aus zusammengelegten Zweigen. Alle Saturni- 19
einen Priapuliden (. Abb. 1.38b) oder einen den und Bombyciden (Seidenspinner) fertigen
Anneliden (. Abb. 1.38c) zu identifizieren; eine als Raupen Kokons für das Puppenstadium mit
Oberfläche bestimmter Ultrastruktur kennzeich- dem Sekret ihrer Spinndrüsen. Bei den Lerchen
20
82 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

führen die Männchen einen Singflug aus. Es gibt Geschlechtsöffnung des Weibchens mit diesem
also im Bereich des Verhaltens Homologien, deren Taster zuschreiben. Viel mehr verhaltensty-
Vorkommen sich auf Verwandtschaftsgruppen er- pische Merkmale können wir von Familien
streckt, die anderweitig erschlossen wurden. Tem- der Spinnen nennen, etwa für die Araneidae
brock hat sogar Homologiebereiche in den Lauten das bekannte Radnetz, wie es die Kreuzspinne
der Hunde (Canidae) aufgezeigt. Jeder Ornithologe baut. Aber der Verhaltenstypus einer Gruppe
wird solche in den Lauten der Meisen, Grasmücken bleibt wesentlich enger und spärlicher als der
u. a. entdecken. Die Männchen von räuberischen Bautypus. Zu bedenken ist aber auch, dass sich
Tanzfliegen (Empididae) bieten dem Weibchen als Verhalten oft nur langsam ändern kann, was
Hochzeitsgeschenk eine Beute dar. Andere Arten bei raschem Wandeln der Umwelt, zu „unan-
umhüllen die Beute mit einem Schaumgespinst, gepasstem“ Verhalten (mismatch) führen kann.
so dass die Gabe größer erscheint, und schließlich So sind vermutlich die Grundkomponenten
überbringen Männchen weiterer Arten als Hoch- des Verhaltens des Menschen im Pleistozän
zeitsgabe ein großes Gespinst, also nur die Verpa- entstanden, was in der modernen Industriege-

-
ckung ohne Inhalt. sellschaft Konflikte mit sich bringt.
Die Feststellung von Homologien und Ver- Die dritte Besonderheit der Evolution des
wandtschaft mit Hilfe des Verhaltens allein ist aber Verhaltens ist die Übernahme von Verhal-
schwieriger, als sie es aufgrund der Struktur oder tensweisen, sogar von anderen Arten. Sie be-

-
der Chemie ist. Das hat drei Gründe: ginnt mit der „Ansteckbarkeit“ der Handlung.
Parallelentwicklungen, Konvergenzen, Sie ist bei sozial lebenden Arten verbreitet
Analogien sind häufig. Viele Insektengrup- und kommt in der einfachsten Form in
pen bauen Kokons oder Gespinste für ihre dem Nachlaufen und Nachfliegen schon bei
Puppen mit einem Sekret der Spinndrüsen. Insekten vor (Prozessionsspinner, Heerwurm
Die sonderbare Art des Maulbrütens, bei dem [=Wandergesellschaften von Trauermücken-
die Eier bis zum Schlüpfen der Jungtiere in larven], Wanderheuschrecken) und führt bei
den Mund genommen werden, ist bei Fischen Fischschwärmen dazu, dass alle Mitglieder
mehrfach entstanden. Das „Verleiten“, d. h. das einer Gruppe jeweils dasselbe tun: Fressen,
Ablenken eines Feindes von den Jungvögeln Putzen, Ruhen. Bei höheren Wirbeltieren
durch ein Elterntier, das sich oft flügellahm (Vögel und Säugetiere) kann sich aber auf
stellt, ist offenbar bei bodenbrütenden Vögeln diesem Wege das neue Verhalten eines „Erfin-
mehrfach entstanden. Sogar bei einem Affen, ders“ rasch über Angehörige der gleichen Art
dem Husarenaffen Erythrocebus patas, versucht durch Tradition ausbreiten. Berühmt ist das
das Männchen, einen Feind von seiner Weib- Öffnen des Deckels abgestellter Milchflaschen
chengruppe weg auf sich zu lenken. Auch der durch Meisen, das sich von einem Zentrum
merkwürdige Brutparasitismus unseres Ku- in England ausbreitete. Genau verfolgt wurde
ckucks hat eine weitgehende Parallele bei dem die Entstehung und Ausbreitung neuer
Stärling Molothrus, dessen Jungvögel gleich- Verhaltensweisen auch bei den japanischen
falls die Eier und Jungvögel seines Wirtsvogels Makaken (Macaca fuscata). In einer Gruppe

-
aus dem Nest befördern. begann ein jüngeres Tier die Nahrung (Ba-
Die Notwendigkeit der Anpassung erfordert taten = Süßkartoffeln) zu waschen. Andere
oft eine schnelle Umgestaltung des Verhal- übernahmen das Verfahren, und so breitete es
tens. So können im allgemeinen Verhaltens- sich innerhalb der Gruppe aus. Nur alte Tiere,
grundtypen nur für kleinere Gruppen des besonders alte Männchen, lehnten die neue
Systems aufgestellt werden. Der Ordnung der Mode ab. In einer anderen Gruppe wurde
Webspinnen kann man allgemein die Beför- das Trennen von Sand und Körnern durch
derung der Spermien in Behältern am zweiten Werfen ins Wasser eine neue Verhaltensweise,
Gliedmaßenpaar (Taster) durch das Männ- und manche Sitten von Schimpansen, z. B.
chen und die Übertragung des Spermas in die das Fangen von Termiten mit Zweigen, die
1.2  •  Wissenschaften, die zum Fundament der Evolutionsbiologie beigetragen haben 83

in die Öffnung eines Termitenhügels gesteckt


wurden, so in einer Population in Tansania 1
(Goodall 1999), gehen ebenfalls auf Imita-
tion des „Entdeckers“ zurück. Ein solches 2
neues Verhalten wird natürlich nicht nur an
Altersgenossen, sondern auch an kommende
Generationen weitergegeben. Man hat diesen 3
Prozess als „neue Evolution“ bezeichnet.
Während sich die alte Evolution von einer 4
einzelnen Mutation nur langsam in der Gene-
rationsfolge ausbreiten kann, besonders durch
Selektion, kann die Ausbreitung neuer Moden
5
sehr schnell innerhalb einer Generation er-
folgen. Selbst komplizierte Verhaltensweisen 6
können sich so ausbreiten. Betrachtet man
solche durch Tradition und Nachahmung ent- 7
standenen komplexen Übereinstimmungen
auch als Homologien, so muss man zwischen
phylogenetischen und Traditions-Homolo- 8
gien unterscheiden. Beiden gemeinsam ist,
dass sie ihre Übereinstimmung historischen .. Abb. 1.39 a, b  a Kussbegrüßung zweier Schimpansen; 9
Zusammenhängen verdanken; die phyloge- Parteichef Chruschtschow, seinen Gastgeber durch Wangen-
netische Homologie beruht auf DNA mit kuss begrüßend. b Schimpansen-Weibchen, ein Männchen
ihren Erbinformationen, die traditionelle begrüßend; Staatschef de Gaulle, einem deutschen Polizisten 10
die Hand reichend. Nach Photos von Eibl-Eibesfeldt, Lawick-
auf Informationen, die von Individuum zu
Individuum, z. B. beim Menschen durch die
Goodall, UPI
11
Sprache, weitergegeben werden. Es ist sicher,
dass die neue Evolution über Weitergabe von In welchem Umfang das Verhalten des Menschen 12
Informationen in der Kulturgeschichte der durch mit anderen Säugetieren homologe (d. h.
Menschheit eine entscheidende Rolle gespielt angeborene) Komponenten festgelegt ist, lässt sich
hat. So entstanden Sitten, Moden, technische nicht in allen Fällen mit Sicherheit sagen. Zweifellos 13
Entwicklungen und schließlich das enorme besitzen Lernvermögen und Verhalten beim Men-
Gedächtnis der Art Mensch, das in Büchern schen – wie auch bei höheren Tierprimaten – eine 14
festgelegt ist und jeder Generation eigenes ungewöhnlich weite Reaktionsnorm, aber auch der
Schaffen auf der Basis der Erfahrungen und Mensch kommt nicht als unbeschriebenes Blatt zur
Entdeckungen der früheren Generationen Welt und das alte Erbe darf keineswegs unterschätzt
15
bietet. Einheiten sich rasch ausbreitender werden (. Abb. 1.39). Es liegt auch vielen Bereichen
Phänomene bei Sitten und Gebräuchen – oft der Psychologie zugrunde (Schwab 2010) und spielt 16
Modeerscheinungen – wurden – in Analo- im sozialen Leben, in gesellschaftlicher Hierarchie,
gie zu den Genen – Meme (Singular Mem) in Gestik und Mimik sowie bei territorialen Ausei- 17
genannt (Blackmore 2005). In der Gegenwart nandersetzungen eine wichtige und – bezogen auf
läuft die Weitergabe dieser Information nicht ein wünschenswertes harmonisches Sozialgefüge –
mehr allein über Nachahmung gesehener nicht immer positive Rolle. 18
Vorgänge, angefertigter Gegenstände oder Es gibt im Bereich der Tradition auch einen
Mitteilung von Mensch zu Mensch ab, son- Einbau von Verhaltensweisen fremder Arten. Das 19
dern über das in Büchern und jetzt auch in ist besonders deutlich im Gesang der Vögel. Es
Computerprogrammen festgelegte Gesamtge- kommt hier zum Einbau von Strophen und Lauten
dächtnis und über die Massenmedien. fremder Arten durch aktive Aufnahme (acception).
20
84 Kapitel 1  •  Evolutionsbiologie: Geschichte und Fundament

Der Gelbspötter (Hippolais icterina) kann z. B. den bei verschiedenen anderen Vögeln sind, überneh-
Schrei von Möwen und sogar das Quietschen von men sogar den ganzen Gesang ihrer Wirtsvögel, die
Rädern in seinen Gesang aufnehmen. Die Witwen ja auch ihre Pflegeeltern sind.
Afrikas, die, wie bei uns der Kuckuck, Brutparasiten

  EXKURS 1.5  

Kreationismus
Was vorangehend als Fundament der Evolutions- geschichte gar nicht um eine wissenschaftliche
biologie dargestellt wurde, wird nicht von allen Abhandlung über die Entstehung der Welt geht,
Menschen akzeptiert. Für Kreationisten beispiels- sondern um eine Allegorie, die dem Menschen an-
weise hat der Schöpfungsglaube, wie er in der Bi- bietet, sich auf einen Schöpfer zu beziehen, dem er
bel oder anderen heiligen Schriften niedergelegt seine Existenz verdankt.
ist, uneingeschränkt einen größeren Erklärungs- Die Lehre vom intelligent design ist eine Wei-
wert. terentwicklung des Kreationismus (Neo-Kreati-
Der Kreationismus entstand Anfang des onismus). Es werden jetzt Jahrmillionen für den
20. Jahrhunderts im Bestreben des nordamerika- Entwicklungsprozess freigegeben und das Wort
nischen religiösen Fundamentalismus, die Evolu- „Gott“ wird vermieden. Jedoch ist das Grundkon-
tionstheorie zu bekämpfen. Die Fundamentalisten zept das Gleiche wie beim Kreationismus und wie
forderten, die Aussagen der Bibel wörtlich zu neh- bei diesem hat sich der Schöpfungsplan mit dem
men, und behaupteten zum Beispiel, die Welt sei Auftreten des Menschen erfüllt. Der Mensch kann
vor 10.000 Jahren in 6 Tagen mit je 24 Stunden von nicht das Ergebnis eines evolutionären Prozes-
Gott geschaffen worden. Eine besondere Bedeu- ses sein, sondern muss von einem kongenialen
tung wiesen sie der Sintflut vor ca. 7000 Jahren zu, „intelligenten Designer“ geschaffen worden sein.
während der sich in einem Jahr alles gewandelt Wissenschaftlich haben solche Thesen keinerlei
haben soll und neue geologische Formationen Erklärungswert, sie können weder verifiziert noch
entstanden, Tiere ausstarben und in Form der Fos- falsifiziert werden. Es handelt sich um eine Flucht
silien spurenhaft erhalten blieben; es überlebten in eine mythische Welt, mit deren Hilfe versucht
die Tiere, die Noah im Auftrag Gottes mit auf seine wird, dem Leben einen Sinn zu verleihen. In der Tat
Arche nahm. Es wurde versucht, der wissenschaft- stehen hier Naturwissenschaften, in denen immer
lichen Evolutionstheorie ein religiös verankertes, Beweise geliefert werden müssen, und Mythologie,
aber wissenschaftlich übertünchtes Dogma gegen- in der gerade diese nicht vonnöten sind, nebenei-
überzustellen. Kennzeichnend sind von Anfang an nander. Beweisführung führt an Grenzen, Mytho-
Aggressivität und Kampfbereitschaft. Verkannt logie basiert auf Phantasie und Glauben, die fast
wird dabei, dass es bei der biblischen Schöpfungs- grenzenlos sind und beliebig erscheinen.

Verhalten darf auch nicht als homogener Block ähnliche Arten, die man lange Zeit nicht getrennt
angesehen werden und nicht nur durch eine Brille hatte, unterscheiden sich deutlich im Gesang, wie
gesehen werden; Verhaltensweisen der Nahrungs- Sumpfmeise (Poecile palustris) und Weidenmeise
aufnahme haben sich in anderem Kontext – auch (P. montanus), das Sommergoldhähnchen (Regulus
zeitlichem – entwickelt als z. B. solche des Sexual- ignicapillus), das Wintergoldhähnchen (R. regulus)
verhaltens. usw. Überhaupt sind es gerade die Balzhandlungen,
Bei einem speziellen Prozess der Evolution die sich recht schnell auseinander entwickeln und so
sind Verhaltensweisen sehr wichtig: bei der Ar- die Isolation von Arten fördern.
tentrennung (Speziation, s.  Abschn. 3.5.6). Ganz
Literatur 85

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88 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

|
Übersicht              |
Die Erde ist ungefähr 4,6 Mrd. Jahre alt und Zu den ältesten Lebensspuren auf der Erde
hat seitdem dauernd Veränderungen durch- zählen die Stromatolithen oder „Teppichsteine“.
gemacht. Schon in den ersten 500 Mio. Jahren Sie sind Lebensgemeinschaften von Prokaryo-
entstanden eine feste äußere Schale, die Litho- ten (blaugrünen Algen oder Cyanobakterien),
sphäre, und eine Gashülle, die Atmosphäre, die im flachen Wasser am Meeresboden Matten
welche vor etwa 4 Mrd. Jahren die 100 °C- bildeten, Schwebstoffe einfingen und Gesteins-
Grenze unterschritt. Mit der Abkühlung der körper aufbauten. Übereinander entstanden
zunächst heißen Erde wurden große Mengen im Laufe der Zeit viele Matten (oder Teppiche),
Wasser bei magmatischen Prozessen in Form die sich schließlich kuppel- oder tafelartig vom
von Wasserdampf freigesetzt, der dann kon- Meeresboden abhoben. Stromatolithen wurden
densierte, und es bildeten sich Urmeere. Heute in 3,5 Mrd. Jahre alten Gesteinen des Präkamb-
geht man davon aus, dass ein Teil des Wassers riums konserviert und können auch heute noch
zudem aus dem Weltraum stammt und mit in manchen flachen Meeresgebieten gefun-
dem anfänglich intensiven Meteoritenhagel auf den werden, z. B. in Westaustralien (Shark Bay,
die Erde gelangt ist. Vor etwa 2,3 Mrd. Jahren . Abb. 2.4b).
bildete sich auf der Erde zum ersten Mal Eis: Die Vergleicht man die 4,6 Mrd. Jahre lange Ge-
Kryosphäre war entstanden. schichte der Erde, also den gesamten geologi-
Die Erde ist konzentrisch-schalenförmig schen Zeitablauf, mit einem Kalenderjahr, dann
aufgebaut. Auf den Kern mit einem Radius von war es Mitte November, als das Phanerozoikum
etwa 3470 km folgt der 2850 km dicke Mantel, begann, jene Zeit, in der sich die vielzelligen
darüber die Kruste. Diese misst im kontinen- Organismen auf der Erde entfaltet haben. Das
talen Bereich 30–40 km (selten bis 80 km), im Phanerozoikum begann vor 542 Mio. Jahren
ozeanischen Bereich knapp 5–8 km. Die Kruste mit der ersten Periode des Paläozoikums, dem
bildet mit den obersten 70 km des Mantels die Kambrium, in dem zum ersten Mal in der Erdge-
Lithosphäre. Diese ist fest und starr. schichte uns vertraute Tierstämme in größerer
Die heutige Lithosphäre besteht aus acht Zahl auftraten. Die Zeit vor dem Kambrium
größeren und einer Vielzahl kleinerer, gegenei- wird Präkambrium genannt und war etwa
nander verschiebbarer Platten, die auf der zäh- siebenmal so lang wie das Phanerozoikum. Das
flüssigen, darunter liegenden Asthenosphäre Präkambrium wird gegliedert in Archaikum und
(einer Komponente des Mantels) schwimmen. Proterozoikum.
Aufsteigende Ströme (Konvektionsströme) im Die genannten Zahlen demonstrieren, wel-
magmatischen Untergrund werden als Motoren chen Schwierigkeiten Paläontologen bezüglich
der Platten- bzw. Kontinentverschiebung des Zeitablaufes gegenüberstehen, wenn sie die
angesehen. Die Geschwindigkeit der Plattenbe- Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte
wegungen reicht von wenigen Millimetern bis darstellen wollen. Dazu kommen noch die
über 10 cm pro Jahr. riesigen, geradezu unvorstellbaren Artenzahlen:
In den Meeren, so die heute vorherrschende Nach verbreiteter Ansicht sind derzeit etwa
Meinung, entstand das Leben vor knapp 1,5 Mio. rezente Tier- und 300 000 Pflanzenarten
4 Mrd. Jahren. Archaea (Archaebakterien) und beschrieben worden, und sie stellen weniger als
Eubakterien sind zwei besonders ursprüngliche 10 %, vielleicht sogar weniger als 1 % der Arten
Gruppen ( Abschn. 4.2). Einige unter ihnen be- dar, die bis heute insgesamt auf der Erde gelebt
trieben schon früh Photosynthese, produzierten haben. Es hat also bis zur Gegenwart vielleicht
Sauerstoff und veränderten die Atmosphäre, Hunderte Millionen von Tier- und Pflanzenarten
bis der atmosphärische Sauerstoff vor etwa gegeben (zuzüglich einer unbekannten Zahl von
350 Mio. Jahren den heutigen Wert erreichte. Prokaryoten). Wenn man dann bedenkt, dass
2.1  •  Präkambrium    89

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.. Abb. 2.1  Geologische Karte Deutschlands mit verschiedenen Leitfossilien unter Angabe der Perioden, aus denen man sie
kennt
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20
90 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

bisher „nur“ einige hunderttausend fossile Arten


beschrieben wurden, wird deutlich, wie schwie-
rig die Beurteilung der Entfaltung der Organis-
men ist. Zudem hat es in der Erdgeschichte viele
Organismengruppen gegeben, die heute nicht
mehr existieren und die zum Teil ohne bekannte
Nachkommen ausgestorben sind. . Abbil-
dung 2.1 zeigt davon eine kleine Auswahl, die in
Deutschland gefunden werden kann. . Abbil-
dung 2.2 stellt die wichtigsten Schlüsselereig-
nisse in der Evolution der Organismen dar.
Das Phanerozoikum ist in drei Erdzeit-
alter (Ären, Singular Ära) sehr verschiedener
Länge gegliedert. Diese Unterteilung basiert
im Wesentlichen auf der Existenz bestimmter
Organismen und wurde im 19. Jahrhundert
erstmals definiert.
Das Paläozoikum (Erdaltertum) gliedert
sich in die sechs Perioden Kambrium, Ordovi-
zium, Silur, Devon, Karbon und Perm, enthält
damit unter den Erdzeitaltern die meisten
Perioden und ist mit fast 300 Mio. Jahren mit
Abstand am längsten. Drei Massenaussterben
fallen in diese Zeit. Im frühen Paläozoikum gab
es nur im Wasser lebende Organismen, dann
eroberten Pflanzen und Tiere das Land, und
.. Abb. 2.2 a, b  Entfaltung des Lebens mit der Kennzeich-
später entstanden riesige Wälder mit einer
nung von zehn Zeitpunkten, zu denen jeweils eine besonders komplexen Fauna, so dass in den nicht marinen
wichtige Neuerung nachweisbar ist. a Darstellung der über Schichten des Karbon eine biostratigraphische
3,5 Mrd. Jahre, in denen es Leben auf der Erde gibt, b Dar- Gliederung nach Pflanzenfossilien möglich ist.
stellung des Phanerozoikums. 1 Ursprung des Lebens auf der
Die marinen Abfolgen werden hauptsächlich
Erde, 2 Eukaryoten, 3 Vielzelligkeit, 4 Hartstrukturen, 5 Räuber,
6 Riffe, 7 Besiedlung des Landes, 8 Bäume/Wald, 9 Flug,
mittels Ammonoideen, Conodonten, Trilobiten,
10 menschliches Bewusstsein. Die Buchstaben bezeichnen Brachiopoden und Foraminiferen untergliedert.
die Perioden in der Erdgeschichte. Nach Benton u. Harper Das Mesozoikum (Erdmittelalter) wird in
(2009; Bildrechte liegen bei Wiley) die Perioden Trias, Jura und Kreide aufgeteilt.
Mit 186 Mio. Jahren ist es deutlich kürzer als das
Paläozoikum. Es wird oft als Zeitalter der Saurier
angesehen. Zwei Massenaussterben fallen in
diese Zeit.
Das Känozoikum (Erdneuzeit) umfasst die
letzten 65 Mio. Jahre und gliedert sich in Tertiär
und Quartär. In diesem Zeitabschnitt erfolgt die
Entfaltung von Säugetieren, Vögeln, Teleosteern
und vielen Blütenpflanzen; die Anfänge dieser
Gruppen reichen allerdings ins Mesozoikum
zurück.
2.1  •  Präkambrium 91

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.. Abb. 2.3 a–e  Ediacara-Fauna. a Rekonstruktion einer Lebensgemeinschaft im Ediacarium nach konventioneller Sicht:
als eine von Cnidariern dominierte Fauna. Nach Stanley (1998). b–d Formen der Ediacara-Fauna Südaustraliens. b Spriggina, 12
c Rangea, d Parvancorina, e Tribrachidium. Nach Cloud (1989). f Vendobionten als Seitenzweig der Evolution: auf und im ober-
flächlichen Sediment liegend. Nach Seilacher (1995)
13
2.1 Präkambrium zentration in der Atmosphäre in Zusammenhang 14
gebracht.
Noch im jüngsten Präkambrium, in einer Zeit vor
900–542 Mio. Jahren, als große Teile der Erdober-
15
fläche wiederholt von Eismassen bedeckt waren 2.1.1 Ediacara-Fauna:
(„Schneeball Erde“), machten die vielgestaltigen präkambrische Vielzeller 16
Acritarchen eine Radiation im Ozean durch. Es
handelt sich um 10–50 µm messende, kugelige Als die letzte globale Vereisung zurückgegangen 17
Formen mit glatter oder skulpturierter Oberfläche war, entwickelte sich das Leben in bis dahin nicht
sowie komplizierten Zellwänden, die allem An- gekannter Weise: Schon vor 580 Mio. Jahren gab es
schein nach schon zu den Eukaryota zu rechnen eine offenbar weit verbreitete, spätpräkambrische, 18
sind. Auch im Paläozoikum waren sie die dominie- marine, vorwiegend bodenbewohnende vielzellige
rende Gruppe. Sie sind wichtige Leitfossilien, ihre Fauna, die nach den Ediacara Hills in Südaustra- 19
genaue systematische Zugehörigkeit ist noch offen. lien heute allgemein Ediacara-Fauna genannt wird
Sie waren photosynthetisierende Organismen, mit und mittlerweile von allen Kontinenten außer von
ihnen wird ein weiterer Anstieg der Sauerstoffkon- Antarktika bekannt ist. Das sind die ersten Großfos-
20
92 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

silien. . Abbildung 2.3 vermittelt einen Eindruck wohl dem Substrat auflagen, z. B. die bis 1 m lange,
der Ediacara-Fauna. aber nur 3 mm dicke Dickinsonia (. Abb. 2.3f). Die-
Die zum Teil vorzüglich erhaltenen Fossilien ser Lebensformtyp lässt an eine Ernährung über
von vielzelligen Tieren (Metazoa) dieser Fauna die Körperoberfläche oder über Symbionten den-
gliedert man in etwa 30 (nach manchen Autoren ken, die vielleicht photosynthetisch tätig waren. In
100) Gattungen, deren systematische Einordnung der Tat war das flache, lichtdurchflutete Wasser der
im Einzelfall jedoch nicht gesichert ist. Über die Hauptlebensraum der Ediacara-Fauna. Bemerkens-
Hälfte der Fossilien ähneln Cnidariern, meist Me- wert ist weiterhin, dass Skelettteile fehlen und dass
dusen oder Seefedern; ein Viertel erinnert in star- die Erhaltung vorzüglich ist.
kem Maße an Anneliden, eine kleine Minderheit Die Ediacara-Fauna verschwand weitgehend vor
wird zu den Arthropoden gestellt. Diese Sichtweise etwa 540 Mio. Jahren, also mit Beginn des Kamb-
wird auf . Abb. 2.3a wiedergegeben; ihr wird je- riums. Insgesamt hatte sie über 100 Mio. Jahre am
doch auch widersprochen. Es wird argumentiert, Boden der Meere vorgeherrscht.
dass die Elemente der Ediacara-Fauna mit dem
Ende des Präkambriums (im Ediacarium) zum
großen Teil ausgestorben sind, und dass sie einen 2.2 Paläozoikum (Erdaltertum)
Seitenzweig der Evolution darstellen (Vendobi-
onten; . Abb. 2.3f). Ediacara-Organismen finden Im Paläozoikum, einer Ära, die vor 542 Mio. Jah-
sich meist in sandigen Ablagerungen bewegter ren begann und vor 251 Mio. Jahren endete, waren
Flachmeerbereiche und lebten am oder im Mee- bald die meisten der auch heute noch existierenden
resboden. Tierstämme vorhanden. Im Kambrium und Or-
In dieser frühen Phase der Entfaltung der Or- dovizium existierten Tiere nur im Meer, Pflanzen
ganismen gibt es in der Tat erhebliche Interpretati- waren fast nur durch Algen vertreten, im Ordo-
onsschwierigkeiten. Das abgeflachte Tribrachidium vizium wuchsen am Rande der Meere die ersten
(. Abb. 2.3e) mit seiner Dreiersymmetrie ähnelt Gefäßpflanzen. Im Silur breiteten sie sich auf dem
keinem rezenten Organismus, bei der ebenfalls Festland aus, und Arthropoden wie Skorpione und
abgeflachten Parvancorina (. Abb. 2.3d) handelt Tausendfüßer folgten. Ende Silur kam die für Eu-
es sich eventuell um eine frühe Trilobitenlarve. ropa und Nordamerika wichtige kaledonische Ge-
Leichter ist die Einordnung der „medusoiden For- birgsbildung zum Abschluss. Der im Devon bei der
men“ wie Ediacaria, Cyclomedusa, Medusinites und Kollision von Laurentia und Baltica entstandene
Beltanella, die in der Tat heute lebenden Medusen Old-Red-Kontinent (. Abb. 2.28) war auf niedri-
ähnlich sind; auch ist die Zuordnung der „pteridi- gen Höhenlagen durch Pflanzen schon relativ dicht
noiden Formen“ (z. B. Pteridinium, Glaessnerina, besiedelt; hier gingen die Wirbeltiere an Land. Im
Rangea [. Abb. 2.3c] und Charnia) in das Umfeld Karbon erreichte die variscische Gebirgsbildung
der Seefedern nachvollziehbar, jedoch nicht allge- ihren Höhepunkt. Im Vorland des dabei entstande-
mein akzeptiert. Bei den „sprigginoiden Formen“, nen Gebirges und auf dessen Rumpf entwickelten
z. B. Spriggina (. Abb. 2.3b), gibt es jedoch schon sich Sümpfe mit baumhohen Bärlappgewächsen
wieder erheblichen Interpretationsspielraum: Sind (Siegel- und Schuppenbäumen), Schachtelhalmen
es wirklich Anneliden, die keine Borsten hatten und Farnen; es entstand die Grundlage vieler Stein-
(. Abb. 2.3b) oder lagen sie dem Substrat auf (In- kohlevorkommen. Auf dem Südkontinent Gond-
terpretation auf . Abb. 2.3f)? wana herrschte über Teile von Karbon und Perm
Auffällig ist, dass alle Ediacara-Formen eine im eine intensive Eiszeit, in Mitteleuropa wurden im
Verhältnis zum Körpervolumen sehr große Ober- späten Perm unter aridem Klima riesige Salzlager-
fläche besaßen und manche abgeplattet waren und stätten gebildet.
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 93

2.2.1 Kambrium fizierung beteiligt, da durch sie große Flachmeer-


bereiche mit photosynthetisierenden Organismen 1
entstanden? Änderte sich die Geochemie der Oze-
|
Übersicht              | ane tiefgreifend? Festzuhalten bleibt, dass alle oder 2
fast alle damals existierenden Organismen auf das
Reiches Leben im Meer. Fossilien sind vor- Meer beschränkt waren. . Abbildung 2.4a vermit-
wiegend tierischen Ursprungs. Verschiedene telt eine Vorstellung von der damaligen paläogeo- 3
Tiergruppen bilden Skelette aus, vielleicht als graphischen Situation. Der Meeresspiegel war im
Reaktion auf räuberische Organismen. Produk-
tion biogener Carbonate in größerem Maß-
Kambrium sehr hoch und blieb es auch über den 4
größten Teil des Ordoviziums. Für tierisches Leben
stab. In der fossilen Überlieferung dominieren im Süßwasser gibt es keine unumstrittenen fossilen
Trilobiten, Brachiopoden und Archaeocyathen Belege, der terrestrische Bereich war noch kaum be-
5
(Archaeocyathen-Kalke), aber es gibt z. B. auch siedelt. Wenn bisher fast nur von Tieren die Rede
schon Mollusken, Echinodermen und sogar war, bedeutet das lediglich, dass sie als Fossilbe- 6
Chordaten. Weit verbreitet: Burgess-Shale- lege vorliegen. Der freie Sauerstoff, den sie für die
Fauna mit besonders großem Anteil von Konst-
ruktionsformen, die noch im Kambrium wieder
Atmung brauchten, stammt zu über 99 % aus der 7
Photosynthese.
aussterben. Eine Besonderheit der Organismen, die sich im
frühen Kambrium (in den ersten 20 Mio. Jahren) 8
in verschiedenartiger Weise entfalteten, sind de-
Die erste Periode des Paläozoikums, das Kam­brium ren winzige Hartteile (small shelly fossils, ssf). Zum 9
(542–488  Mio. Jahre vor heute), wurde nach der größten Teil können wir diese keiner bestimm-
römischen Bezeichnung Cambria für Nordwales ten Tiergruppe zuordnen, einige sind uns jedoch
benannt, weil dort Schichten aus dieser Zeit beson- durchaus vertraut, da wir sie in ähnlicher Form
10
ders reichhaltig vertreten sind. Sie erreichen hier von heute lebenden Schwämmen und Weichtieren
eine Mächtigkeit von 400 m. Das Kambrium mar- kennen. Die ssf-Elemente sind im Unterkambrium 11
kiert den Beginn der Überlieferung von Fossilien Sibiriens (sog. Tommotium-Fauna) besonders in-
in großer Zahl und an vielen Fundorten auf der tensiv untersucht worden, aber auch z. B. aus China 12
Erde. In dieser Zeit kam es allem Anschein nach zu und Grönland bekannt. Ihr Name geht auf die Stadt
einer so raschen Entstehung verschiedener Kons­ Tommot (südlich von Jakutsk) zurück. Die Hartteile
truktionstypen von Tieren, dass man auch von der bestehen v. a. aus Carbonat und Phosphat. Da sie 13
kambrischen Explosion spricht. Jedoch ist auch etwa 10 Mio. Jahre vor den Trilobiten auftraten und
diese Entwicklung in geologischen Zeitmaßstäben es kaum Vergleichbares in der späteren Fauna gibt, 14
zu sehen; sie ist in Millionen von Jahren erfolgt. divergieren die Interpretationen verschiedener Pa-
Noch kann man diese rasche Entwicklung nicht läontologen erheblich.
mit Sicherheit erklären. Lag es an der vermehr- Auf die vergleichsweise kurze Zeitspanne des
15
ten Verfügbarkeit von molekularem Sauerstoff? Tommotiums folgte ein Zeitraum, in dem eine
Waren auf DNA-Ebene so viele Funktionsmodule große Zahl mariner Organismen entstand, die 16
(z. B. Bauplan-Gene) entwickelt, dass durch deren ebenfalls Hartteile ausbildeten. Dies wird als we-
verschiedene Kombinationen viele neue Formen sentlicher Fortschritt in der Evolution angesehen 17
entstehen konnten? Sind Transgressionen (also das und als Wehrhaftigkeit gegenüber Fressfeinden in-
Vorrücken der Ozeane in küstennahe Ebenen) zu terpretiert. Solche Hartteile dürften vielfach auch
Beginn des Kambriums wesentlich an der Diversi- eine Stütz- bzw. Skelettfunktion besessen haben. 18
19
20
94 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.4 a–c. a  Die paläogeographische Situation im Kambrium, basierend auf paläomagnetischen Untersuchungen. Orange:
die aus dem Meer ragenden Teile der Kontinente, türkis: Schelfgebiete. Laurentia (Ur-Nordamerika und Grönland) und Baltica
(Ur-Europa) sind durch den Iapetus-Ozean getrennte Kontinente. Ebenfalls isoliert liegen die Kontinente Sibirien, Kasachstan, Süd-
und Nordchina. Der Großkontinent Gondwana erstreckt sich auf der Südhemisphäre von polaren bis in äquatoriale Breiten. Die
geologische Entwicklung des Kambriums verlief relativ ruhig ohne stärkere tektonische oder vulkanische Aktivitäten. Nach Scote-
se u. Wertel (2006). b Stromatolithen an der Westküste von Australien, c Ausschnitt fossiler Stromatolithen (Oberkreide, Bolivien)

  EXKURS 2.1  

Carbonatmineralien: von Organismen hervorgebracht


und landschaftsgestaltend
Sehr oft bestehen Hartteile im Tierreich aus Carbo- prägnant formuliert: „Aller Kalk kommt vom Le-
natmineralien (z. B. Calciumcarbonat), und parallel bendigen“. Wichtigster Ort der Carbonatbildung
zu den Skelettstrukturen in Organismen entstan- sind die Meere. Die Verhältnisse liegen ähnlich wie
den in der Erdgeschichte auch Kalksteinschichten. beim schon erwähnten freien Sauerstoff: Die Orga-
Deren Genese begann in größerem Umfang vor nismen haben einen wesentlichen Teil der Welt, in
etwa 1 Mrd. Jahren; zunächst dominierte Calcium- der sie leben, selbst hervorgebracht.
Magnesium-Carbonat (Dolomit). Reine Kalksteine Bezüglich der Kalksteinfolgen beginnt es in
traten in nennenswertem Umfang erst mit dem Europa mit mächtigen schneeweißen Riffen im
Kambrium auf. Beispiele sind der Marmor vom Süd- Unterkambrium Spaniens. Daran sind Schwämme
rand des Fichtelgebirges, Kärntens und der Steier- und Archaeocyathen wesentlich beteiligt. Im Si-
mark. Diese Kalke, wie auch praktisch alle später lur Englands und der Ostseeinsel Gotland folgen
entstandenen, sind organismischer Herkunft, also Stromatoporen-Korallen-Riffe. In Deutschland
biogen. Das hat schon Linné im 18. Jahrhundert entstanden im Devon die Stromatoporen-Koral-

7
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 95

 EXKURS 2.1 (Fortsetzung) 
len-Riffe des Rheinischen Schiefergebirges (s. Ab- kreide, s. Abschn. 2.3.3) und in manchen Gebieten 1
schn. 2.2.4). im Tertiär.
Triassische Kalklager sind in Deutschland von Im Tertiär wurden die Mittelgebirge von Nor- 2
besonderer Bedeutung, weil sie als Zementroh- den nach Süden zerspalten; der Oberrheingraben
stoff abgebaut werden. Da ist zunächst der von brach ein und war zeitweise Teil eines Verbindungs-
Süd- bis Norddeutschland verbreitete Muschel- kanals zwischen Nordsee und Mittelmeer. In dieser
3
kalk (mittlere Trias) zu nennen, der Unmengen von sehr bewegten Zeit entwickelten wenige Muschel-
Mollusken- und Brachiopodenschalen sowie See- und Schneckenarten zahllose Individuen, welche 4
lilien enthält (s. Abschn. 2.3.1). In den nördlichen die Kalksedimente des Mainzer Beckens hinterlie-
Kalkalpen dominieren Korallen und Kalkalgen ßen (z. B. Hydrobienkalk, . Abb. 2.75b).
5
sowie Kalkschlamm, der wohl von Mikroorganis- Calciumcarbonat ist also ein Zeugnis der Ge-
men produziert wurde. Die Kalke der alpinen Trias schichte der Organismen und der Besonderheiten
sind zehnmal so mächtig wie die des mitteleuro- der Lebensräume. Heute nehmen biogene Carbo- 6
päischen Muschelkalkes. Weitere Höhepunkte natschlämme etwa 40 % der marinen Sedimente
der Kalkbildung gab es im Jura (Malm, s. Ab- ein, und poröse Riff-Carbonate enthalten 40 % der 7
schn. 2.3.2), in der Kreide (Plänerkalke, Schreib- Welterdölvorräte.

8
Burgess Shale, Chengjiang, Orsten- und einem langen Rüssel, zu den Krebsen. Heute 9
Fossilien, kambrische Explosion steht diese Gattung für einen der vielen „Versuche“
Einen besonders guten Einblick in eine spezielle in der Evolution, der wieder „aufgegeben“ wurde.
kambrische Tierwelt (. Abb. 2.5) liefern die Fossi- Diese neue Sichtweise geht insbesondere auf Harry
10
lien des Burgess Shale (shale = Schiefer) in den ka- B. Whittington zurück, der seit den 1970er Jahren
nadischen Rocky Mountains. Diese marine Fossilla- aufgrund vieler neuer Fundstücke zu der Annahme 11
gerstätte liegt heute am Burgess-Pass in fast 3000 m kam, dass die Fossilien des Burgess Shale ein „Expe-
Höhe und ist eine der berühmtesten Fundstätten rimentierfeld“ der Evolution widerspiegeln. Heute 12
der Erde. Die hier 1909 von dem amerikanischen führt u. a. Simon Conway Morris die Forschung der
Paläontologen Charles D. Walcott entdeckten mit- Fauna des Burgess Shale weiter.
telkambrischen Formen, etwa 505 Mio. Jahre alt, Unter den weichhäutigen Tieren dominieren die 13
waren weit verbreitet und enthalten eine Fülle von Priapuliden, eine heute nur noch mit etwa 20 Arten
Arthropoden, aber auch weichhäutige Tiere, wahr- existierende Reliktgruppe des marinen Benthos. Die 14
scheinlich bis hin zu den Chordaten. Zu ihrer Fos- fossile Gattung Ottoia (. Abb. 2.6a) weist eine große
silisation kam es unter sehr günstigen Umständen: Ähnlichkeit mit der noch „ein wenig“ (17 Mio. Jahre)
Das Milieu im bodennahen Wasser muss praktisch älteren Maotianshania aus der Chengjiang-Forma-
15
sauerstofffrei gewesen sein, Aasfresser und auch tion im Süden Chinas (s. u.) und dem rezenten Ha-
zersetzende Bakterien gab es nicht oder kaum, wei- licryptus auf (. Abb. 2.6b,c). Eine solche Konstanz 16
che Tierkörper zeichnen sich als Abdrücke oft bis in der äußeren Gestalt – über eine halbe Milliarde Jahre
Einzelheiten ab. Walcott barg bis 1917 über 60.000 konserviert – ist ein Extrem im Tierreich. 17
Fundstücke und unterschied im Burgess-Schiefer Andere Gruppen weisen dagegen kaum Ähn-
70 Gattungen und 130 Arten, die er rezenten Taxa lichkeiten mit heutigen Organismen auf, z. B. Wi-
zuordnete. Heute ist man der Ansicht, dass die Fos- waxia (. Abb. 2.5 g), die in die Verwandtschaft der 18
silien des Burgess Shale aus einer gigantischen Ra- Mollusken oder Anneliden gestellt wird.
diation, insbesondere der Arthropoden, stammen. Insbesondere die Fülle der Arthropoden der 19
Viele sind noch im Kambrium wieder ausgestorben. Burgess-Fauna zeigt, dass hier in der Evolution
So stellte Walcott Opabinia (. Abb. 2.5n), eine „experimentiert“ wurde: Zahlreiche Konstrukti-
segmentierte Form mit fünf großen Komplexaugen onstypen entstanden, die meisten verschwanden
20
96 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.5 a–s  Fauna des Burgess Shale. Rekonstruktion des Lebensraumes mit einer Fülle von Tieren. Im freien, bodennahen
Wasser: a Eldonia (Meduse), b Pikaia (vermutlich ein Chordat). Auf dem Meeresboden leben Schwämme (c Pirania, mit Brachio-
poden besetzt, d Vauxia, e Eiffelia, f Chancelloria), g Wiwaxia, h Hyolithes, Arthropoda (i Naroia, j Hallucigenia, k Canadaspis,
l Aysheaia) und Echinodermen (m Echmatocrinus) sowie Formen unbekannter Zuordnung (n Opabinia, o Dinomischus). Im
Substrat dominieren Priapuliden: p Ancalagon, q Ottoia, r Louisella) und Anneliden (s Burgessochaeta). Nach Conway-Morris u.
Whittington (1989)

wieder. Anomalocaris (. Abb. 2.7a) war mit über sie unter Sauerstoffabschluss fossilisieren konnten,
1 m Länge der größte Arthropode des Burgess Shale, bevor sie mit der Auffaltung der Rocky Mountains
allein seine vorderen Extremitäten erreichten 18 cm im Tertiär in luftige Höhen aufstiegen.
Länge. Allem Anschein nach handelte es sich um Die auf Schwämmen gefundene Aysheaia
einen Räuber. Sanctacaris (. Abb. 2.7b) wird in (. Abb. 2.5 l) stellen manche Autoren zu den Ony-
die Reihe der Chelicerata eingeordnet, Kottixerxes chophoren. Auch Polychaeta sind aus dem Burgess
(. Abb. 2.7c) war durch Doppelsegmente gekenn- Shale bekannt, z. B. Canadia und Burgessochaeta.
zeichnet. Der häufigste Arthropode war Marrella Hallucigenia (. Abb. 2.5j) weist ebenfalls metamere
(. Abb. 2.7d), von dem viele tausend Exemplare Strukturen auf. Ihre besonders langen Fortsätze
gefunden wurden; er lässt sich nicht mit Sicherheit wurden erst als Laufbeine, jetzt als Rückenanhänge
in das System einordnen. All diese Formen leb- interpretiert. Pikaia wird zu den Chordaten gestellt.
ten in sonnendurchflutetem, flachem Wasser auf Im Jahre 1984 entdeckte man die Chengjiang-
Schlamm- oder Sandbänken. Durch Schlammlawi- Fauna in Yunnan (China), die etwa 17 Mio. Jahre
nen oder auch vulkanische Ereignisse wurden sie älter ist als die vom Burgess-Pass. Sie steht dem
getötet und in tiefere Wasserlagen transportiert, wo Beginn des Kambriums näher, und ihre Weichteil­
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 97

1
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.. Abb. 2.6 a–c  Priapulida. a Ottoia prolifica; diese häufige Art aus dem Burgess Shale erreichte 20 cm Länge. Die Pfeile zeigen auf
das ausgestülpte Introvert, mit dem sich die Tiere im Substrat verankerten. b Der rezente Halicryptus higginsi von der Nordküste
9
Alaskas, der über 30 cm lang wird. c Introvert des rezenten Halicryptus spinulosus. d Introvert einer rezenten Priapulidenlarve
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.. Abb. 2.7 a–d  Arthro-
16
poden des Burgess Shale:
a Anomalocaris, b Sanctaca-
ris, c Kottixerxes, d Marrella
17

erhaltung ist vorzüglich. Bisher kennt man über gess-Fauna globale Verbreitung hatte, wenn auch 18
300 Arten, die zum Teil eine große Ähnlichkeit mit „nur“ im Kambrium.
der Burgess-Fauna haben und z. B. Einblicke in die Einen speziellen Einblick in die kambrische 19
frühe Evolution der Chordaten, vielleicht sogar der Entwicklung der Arthropoden liefern auch die
Vertebraten vermitteln. Weitere Entdeckungen, z. B. von dem Bonner Paläontologen Klaus J. Müller in
in Grönland, führten zu der Ansicht, dass die Bur- Schweden entdeckten Orsten-Fossilien. Es handelt
20
98 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

sich um winzige, meist 100 µm bis 2 mm lange For- ten bekannten Arthropoden, sind jedoch bereits der
men, die mittlerweile in verschiedenen Gebieten Entwicklungslinie zuzuordnen, zu der auch die Spin-
Europas, Nordamerikas, Ostasiens und Australi- nentiere gehören. Die meisten waren 3–10 cm lang,
ens nachgewiesen wurden. Sie sind bis in feinste die Extrema liegen bei 1 mm (Acanthopleurella) und
Details dreidimensional erhalten und durch eine 75 cm (Uralichas). Beide Gattungen lebten im Or-
Imprägnierung mit Phosphat gekennzeichnet. Ihr dovizium. Manche waren weichhäutig, die meisten
Lebensraum war der Weichboden von Flachmee- hatten jedoch ein hartes, mineralisiertes Exoskelett
ren. Am häufigsten findet man Phosphatocopina, mit Calciumcarbonat- und Calciumphosphatantei-
eine Gruppe kleiner Krebse, die ihre Blütezeit vor len. An den Kopf schließen sich ein Rumpf mit bis
etwa 500 Mio. Jahren hatte. Sie ähneln den Mu- zu 40 beintragenden Segmenten und ein Schwanzbe-
schelkrebsen. Außerdem wurden weitere Krebse reich an. Trilobita bedeutet Dreilapper und bezieht
nachgewiesen sowie Formen, die heutigen Tardi- sich auf die Gliederung in großen Kopfschild, viel-
graden, Pantopoden und sogar den parasitischen gliedrigen Rumpf und Schwanzschild. Außerdem
Pentastomiden ähneln. Neben der ausgezeichneten wird der Körper durch Längsfurchen dreigeteilt: in
Erhaltung von kleinsten Strukturen (Grannen von einen Mittelteil (die Spindel oder Rhachis) und die
weniger als 1 µm Durchmesser können im Raster- beiden Seitenteile (Pleurae). Mittlerweile kennt man
mikroskop dargestellt werden) ist der Nachweis auch Details ihrer inneren Anatomie. Wichtig ist die
mehrerer aufeinander folgender Larvenstadien eine Existenz von Mitteldarmdrüsen, wie sie auch bei
Besonderheit der Orsten-Fossilien. Spinnentieren vorkommen.
Die „kambrische Explosion“, auch Big Bang Ihre kennzeichnende Verbreitung führte zu
in der Evolution der Tiere genannt, wird als die einer detaillierten stratigraphischen Zonenglie-
rascheste und am stärksten differenzierende Ra- derung im Kambrium und zur Erstellung von
diation in der gesamten Geschichte der Tiere an- biogeographischen Trilobitenprovinzen. Da viele
gesehen. Diese hohe Geschwindigkeit erklärt man Arten nur in einer – geologisch gesehen – kurzen
teilweise mit der Entwicklung von Räubern, die Zeitspanne von 1 Mio. Jahre oder weniger lebten,
allem Anschein nach in der Ediacara-Fauna noch eignen sie sich vorzüglich als Leitfossilien. Trilobi-
fehlten. Durch sie ist offenbar ein starker Selekti- ten wurden durch wiederholte Aussterbeereignisse
onsdruck auf andere Organismen entstanden. Au- reduziert und machten anschließend neue adaptive
ßerdem waren die Meere noch „leer“. Fast alles, so Radiationen durch. Für Nordamerika ist erwiesen,
sieht man es heute, konnte sich entwickeln, denn dass die Radiationen jeweils einige Millionen Jahre
die Konkurrenz war gering. Später, in einer dichter dauerten, dass die Aussterbeereignisse jedoch
besetzten Welt – im Wasser wie am Land – war relativ plötzlich eintraten und sich nur über ein
dieses „Experiment“ nicht wiederholbar. Es hat paar Tausend Jahre erstreckten. Trilobiten waren
wohl nur etwa 10 Mio. Jahre gedauert, bis praktisch im Wesentlichen bodenlebende Formen, die wohl
alle Tierstämme, die auch heute noch existieren, von Kleinstorganismen lebten oder Sedimentfres-
entstanden waren, bis hin zu den Chordaten mit ser waren. Nur wenige Gattungen werden als Räu-
Pikaia (. Abb. 2.5b) u. a. ber angesehen. Die mit langen Stacheln versehene
Gattung Deiphon lebte wohl im Oberflächenwasser
Trilobita: dominierende Fossilien und nahm Plankton auf. Viele Trilobiten hinterlie-
im Kambrium ßen Spuren auf dem Boden, aber auch im Subst-
Unter den Fossilien des Kambrium stehen die zu den rat. Die Trilobiten hatten zum Teil gut entwickelte
Arthropoden gehörenden, ausschließlich marinen Komplexaugen, die aus vielen Ommatidien zusam-
Trilobiten aufgrund ihrer Arten- und Individuen- mengesetzt waren. Ihre Position am Kopf variiert:
zahl weit an der Spitze. Sie hatten in dieser Periode sie liegen zum Teil seitlich, zum Teil auf Höckern
der Erdgeschichte ihre Blütezeit. Über die Hälfte der der Oberseite oder an der Vorderseite des Kopfes.
kambrischen Fossilien entfallen auf diese Tiergruppe, Manche Tiefwasserformen waren blind. All das
die eine ganz oberflächliche Ähnlichkeit mit Asseln lässt auf eine sehr unterschiedliche Lebensweise
hat (. Abb. 2.8). Sie gehören zu den ursprünglichs- der Trilobiten schließen, von denen mittlerweile
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 99

.. Abb. 2.8 a–d  Trilobiten.
a–c Kambrische Formen in
Dorsalansicht. a Agnostus
1
(Kambrium), b Holmia, c El-
lipsocephalus, d Calymene 2
(Silur), einer der häufigsten
Trilobiten der schwedischen
Insel Gotland, den man 3
bisweilen eingerollt findet

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15.000 Arten beschrieben wurden. Am Ende des takel tragen. Auf den Tentakeln finden sich Wim- 8
Perm starben sie aus. perstraßen, mit deren Hilfe Nahrung herbeigestru-
In Deutschland findet man Trilobiten in kam- delt wird. Die Lophophore können zwei Drittel des 9
brischen Ablagerungen vor allem in Sachsen und Schaleninnenraumes einnehmen. Ihre Größe lässt
Bayern. Bekannte Fundorte liegen bei Görlitz (Un- sich mit der Wassertiefe ihres Lebensraumes kor-
terkambrium: u. a. Serrodiscus, Lusatiops), bei Leip- relieren: Im tieferen (nahrungsarmen) Wasser sind
10
zig (Unter- und Mittelkambrium: u. a. Paradoxides, die Lophophore im Allgemeinen größer als im fla-
Ellipsocephalus) und im Frankenwald (Mittelkamb- chen (nahrungsreichen) Wasser. Zu den Brachiopo- 11
rium: u. a. Paradoxides, Jincella). Einen besonderen den gehört Lingula, deren Schalenmorphologie sich
Höhepunkt stellt das Mittelkambrium Böhmens dar. ohne wesentliche Veränderungen bis heute erhalten 12
In der Mulde von Prag erreichen Schiefer aus die- hat (. Abb. 2.9a) und die damit eines der ältesten
ser Zeit eine Mächtigkeit von 400 m und enthalten „lebenden Fossilien“ darstellt (s. Abschn. 2.4.2).
wunderbar erhaltene Trilobiten. Nach ihrem ersten Alle Brachiopoden sind marin. Die meisten 13
Bearbeiter Joachim Barrande (1799 bis 1883) wird sind mit einem Stiel am harten Substrat befestigt,
die gesamte paläozoische Schichtenfolge dieser Ge- die Schalen der Mehrzahl der Arten enthalten Cal- 14
gend als Barrandium bezeichnet. ciumcarbonat; außerdem kann Calciumphosphat
vorkommen. Die Schalengröße reicht bis 35 cm
Brachiopoda: Nr. 2 der (Gigantoproductus).
15
kambrischen Fossilien Die Klassifizierung der Brachiopoden ist um-
Die Brachiopoden (Armfüßer) sind eine weitere do- stritten; traditionell ist die Gliederung nach dem 16
minierende Gruppe kambrischer Meere. Bezüglich Fehlen oder Vorhandensein eines Schalenschlosses
ihrer Artenzahl stehen sie nach den Trilobiten in in die Taxa Ecardines (Inarticulata) und Testicardi- 17
dieser Zeit an zweiter Stelle. Auf sie entfallen un- nes („Articulata“). Zu ersteren gehören die Lingu-
gefähr 30 % der bekannten Arten des Kambriums. lida (. Abb. 2.9a), die heute als langstielige Formen
Brachiopoden sind zweiklappige Suspensionsfresser in küstennahen Böden leben. Zu den Testicardines 18
(. Abb. 2.9), die später wohl zum großen Teil durch (. Abb. 2.9b,c) gehört die Mehrzahl der rezenten
die ihnen äußerlich ähnlichen Muscheln (Bivalvia), Gattungen. In der Paläontologie werden die Klassen 19
welche zu dieser Zeit schon existierten, ersetzt wur- Lingulata und Calcitata unterschieden.
den. Die Nahrungsaufnahme der Brachiopoden Die Brachiopoden hatten ihre maximale Entfal-
erfolgt über paarige Arme (Lophophore), die Ten- tung im Paläozoikum; mit dessen Ende nahm ihre
20
100 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.9 a–c  Brachiopoden. a Lin-


gula im Substrat, links in Dorsal‑, rechts
in Lateralansicht; b Acrospirifer (Devon,
China); c Magellania (Terebratulida),
oben Innenansicht der Dorsalschale mit
Armskelett, unten Vorderansicht mit
geöffneten Schalen

Vielfalt ab. 30.000 fossile Arten stehen 330 rezenten warmen Meeresgebieten, meist in einer Wassertiefe
gegenüber. von 10–50 m und auf Carbonatböden. Sie ernähr-
ten sich vermutlich mikrophag, pumpten Wasser
Archaeocyatha: Nr. 3 der durch ihre porösen Wände – der Zwischenraum
kambrischen Fossilien – Riffbildner zwischen den beiden „Bechern“ (= Intervallum)
Die Archaeocyatha (. Abb. 2.10), die dritthäufigste wurde von einem Kalkgerüst durchzogen – und
Tiergruppe kambrischer Meere, waren im frühen entließen es durch eine große Ausströmöffnung
Kambrium über große Teile der Erde verbreitet und nach oben. Ein anderer Gedankenansatz geht da-
dienen als wichtige Leitfossilien. Auf sie entfallen von aus, dass der Wasserdurchstrom rein physika-
etwa 5 % der bekannten Arten des Kambriums. lisch (d. h. ohne Cilien) erfolgte: durch die kleinen
Sie waren festsitzende, kegelförmige Organismen Poren der äußeren Becherwandung, das Interval-
– zwei ineinander stehenden, durchlöcherten Be- lum, die größeren Poren der inneren Becherwan-
chern ähnelnd (. Abb. 2.10a). Vermutlich gehörten dung, den Innenraum und die große zentrale Aus-
sie in die nähere Verwandtschaft der Schwämme, strömöffnung.
die zur Zeit der Archaeocyathen schon existierten. Archaeocyathen lebten meist solitär, einige
Einige haben im Kambrium zeitweise die ökolo- auch kolonial (. Abb. 2.10d). Die meisten waren
gische Nische eingenommen, welche später von relativ klein und hatten einen oberen Durchmes-
Schwämmen und Korallen besetzt wurde. Als ser von 1–2 cm sowie eine Höhe von 8–15 cm.
Riffbildner (oft gemeinsam mit Algen) und Zeu- Jedoch existierten auch größere Formen: 60 cm
gen eines milden Klimas lebten sie in flachen und Durchmesser erreichte die flache Gattung Okulit-
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 101

1
2
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11
.. Abb. 2.10 a–d  Archaeocyatha. An der Kante des Substrates Wachstumsformen in Beziehung zur Meerestiefe. a Außenwand
von Ajacicyathus, b Okulitchicyathus, gewellt-scheibenförmige Gestalt, c Paranacyathus, konisch-terminal abgeflachte Form,
d Archaeolynthus, verzweigte Form. Nach <[LW6]>Hill (1972), Vologdin (1962), Zhuravleva (1960) 12

chicyathus (. Abb. 2.10b), und 30 cm wird als ma- bescheidene Ausmaße. Sie waren bis 3 m dick und 13
ximale Höhe angegeben. Ihre weite geographische maßen zwischen 10 und 30 m im Durchmesser.
Verbreitung macht sie besonders wichtig für eine Da Archaeocyathen bisher in Schichten, die 14
interkontinentale Parallelisierung (chronostrati- unterhalb von 100 m Wassertiefe abgelagert wur-
graphische Korrelation) von Gesteinsschichten. den, nicht gefunden wurden, schließt man auf eine
Sie umgaben die Erde in einem breiten Gürtel. Im Symbiose mit photosynthetisierenden Organismen.
15
Raum des heutigen Europa – damals ein Flachmeer Aufgrund der weiten Verbreitung einzelner Archa-
– waren die Archaeocyathen im Südwesten (Spa- eocyathen nimmt man ein planktisches Larvensta- 16
nien bis Marokko, Sardinien, Südfrankreich) recht dium an. Nach der Blütezeit im älteren Kambrium
häufig. Auch im damals tropischen Sibirien sowie wurden sie immer spärlicher und starben bereits im 17
in Australien besiedelten sie den Meeresboden in Mittelkambrium aus. Über die Ursachen wissen wir
großer Fülle. In Deutschland findet man sie im nichts, aber ihre Nische wurde bald von Schwäm-
Gebiet von Leipzig und Doberlug. Von Sardinien men und Korallen eingenommen. 18
kennt man so schöne Archaeocyathen, dass man
die fossilführenden Gesteine zur Herstellung von Weitere Wirbellose 19
Kacheln abgebaut hat. der kambrischen Meere
Die Riffe, die von Archaeocyathen aufgebaut Auch Mollusca lebten in kambrischen Meeren,
wurden, hatten im Vergleich zu heutigen Riffen jedoch waren sie noch verhältnismäßig klein. Po-
20
102 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.11 a–c a Plectronoceras,
b Hyolith, c Conocardium (Rostrocon-
chia). Nach Amler (1986), Clarkson
(1998)

lyplacophoren sind bekannt, Monoplacophoren Die Fossilgeschichte der Echinodermen ist sehr
und Gastropoden sogar schon reich differenziert, wechselvoll mit Perioden der Entfaltung und des
Bivalvia noch selten, die ältesten Cephalopoden Niederganges. Schon im Kambrium entstanden
gruppieren sich um die oberkambrische Gattung von Echinodermen dominierte Kalke; am Ende des
Plectronoceras (. Abb. 2.11a). Spät im Kambrium Ordovizium gab es 19 Echinodermenklassen. Diese
entstanden die Nautiloideen; sie waren zunächst hohe Zahl reduziert sich dann bis zum Karbon ste-
noch sehr klein; die meisten maßen 2–6 cm. tig auf fünf bis sechs, eine Zahl, die auch heute noch
Umstritten ist die Zugehörigkeit der Hyolitha gültig ist. Die Zahl der Gattungen nimmt einen an-
(. Abb. 2.11b) zu den Mollusken. Sie entfalteten deren Verlauf, am Ende des Karbon sind ca. 400
sich im Kambrium, gingen danach stetig zurück Gattungen nachgewiesen, am Ende der Trias sind
und starben im Perm aus. Die Hyolithen trugen ein es nur noch 40; seither steigt die Zahl wieder stetig
kegelförmiges, dünnes Kalkgehäuse, dessen spitzer an, heute liegt sie bei mehr als 400.
Anfangsteil oft durch Querwände gekammert ist. Die frühen paläozoischen Echinodermen waren
Die Mündung konnte durch eine Klappe verschlos- oft asymmetrisch (. Abb. 2.12); sie lagen zum Teil
sen werden; manchmal waren am Vorderende seit- flach auf dem Boden und konnten sich mit Hilfe ei-
liche Fortsätze ausgebildet. Hyolithen lebten ben- nes schwanzähnlichen Fortsatzes langsam bewegen.
thisch und waren mehrheitlich Suspensionsfresser. Viele hatten möglicherweise Kiemenspalten und
Eine weitere ausgestorbene Tiergruppe sind auch Ambulakralrinnen. Sehr alte (Kambrium bis
die Rostroconchia (. Abb. 2.11c). Sie hatten eine Devon) und in ihrer Bedeutung umstrittene Formen
zweiklappige Schale – jedoch ohne Schloss und Li- sind die Homalozoa (Carpoidea; . Abb. 2.12a), die
gament – und lebten von Kambrium bis Perm, mit weder Anzeichen einer Radiär- noch einer Bilateral-
einem Maximum im Ordovizium. symmetrie erkennen lassen, sondern asymmetrisch
Die Echinodermata sind eine sehr alte marine waren. Vermutlich handelt es sich um eine Sam-
Tiergruppe mit zahlreichen ursprünglichen Merk- melgruppe ursprünglicher Taxa. Die birnen- oder
malen. Aufgrund ihres Hautpanzers liegen seit dem spindelförmigen Helicoplacoidea (. Abb. 2.12b)
Kambrium zahlreiche Fossilfunde vor, die erlauben, aus dem Unterkambrium waren wohl Echinoder-
ihre wechselvolle Geschichte zu rekonstruieren. men mit einer dreistrahligen Radiärsymmetrie, die
Entwicklungsgeschichte, vergleichende Anatomie möglicherweise der fünfstrahligen vorausging. Äl-
und auch Paläontologie haben die verwandtschaft- testes fünfstrahliges Echinoderm ist die kambrische
lichen Beziehungen zu den Hemichordaten und Camptostroma. Vom Kambrium bis zum Perm leb-
Chordaten aufgedeckt. Ob drei- bzw. fünfstrahlige ten die kleinen, kissen- oder pilzförmigen Edrioaste-
präkambrische Elemente aus der Ediacara-Fauna roidea (. Abb. 2.12c). Noch im Kambrium bildeten
Australiens (Tribrachidium, Arkarua) den Echino- sich zwei große Echinodermengruppen heraus, die
dermen angehören, ist umstritten, das kennzeich- gestielten, sessilen Pelmatozoa (. Abb. 2.12d,e) und
nende Hautskelett fehlt diesen Formen. die ungestielten, frei beweglichen Eleutherozoa.
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 103

1
2
3
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5
6
7
.. Abb. 2.12 a–h  Paläozoische Echinodermata. a Heckericystis (Carpoidea; Ordovizium), b Helicoplacus (Helicoplacoidea; Kam-
brium), c Cooperidiscus (Edrioasteroidea; Devon), d Cryptocrinites (Pelmatozoa; Ordovizium), e Cheirocrinus (Pelmatozoa; Silur) 8
Die Pelmatozoa erfuhren im Laufe der Erdge- jurassische Gattung Saccocoma (. Abb. 2.63a) aus 9
schichte wechselvolle Phasen der Entfaltung und den Plattenkalken Solnhofens lebte vermutlich pe-
des Niedergangs. Heute existieren nur noch rela- lagisch.
tiv wenige Formen, Seelilien – meist in der kon- Zu den Eleutherozoa gehören Asterozoa (See-
10
kurrenzarmen Tiefsee – und Haarsterne, die nach und Schlangensterne) sowie Echinozoa (Seeigel
einem festsitzenden Jugendstadium frei beweglich und Seegurken). Die seit dem Ordovizium über- 11
am Boden oder in Korallenriffen leben und sogar lieferten Seesterne bewahren viele ursprüngliche
schwimmen können. Merkmale, wie z. B. die offene Ambulakralrinne, 12
Die rein fossilen Gruppen, z. B. die Cystoidea und haben sich im Laufe ihrer Evolution wenig
werfen noch viele offene Fragen auf. Die Crinoidea verändert. Gut erhaltene Fundstücke stammen aus
(Seelilien) waren zeitweilig so häufig, dass die Glie- dem Devon der Hunsrückschiefer (Urasterella), in 13
der ihrer zerfallenen Stiele (Trochiten), Kelche und dem auch schon vielarmige Formen (Helianthaster,
Arme große Kalkbänke (Crinoidenkalke) aufbauen . Abb. 2.29d) gefunden wurden. Auch die Schlan- 14
konnten. Ganz überwiegend waren diese vielgestal- gensterne sind seit dem Ordovizium bekannt, von
tigen Tiere festsitzend und bildeten z. T. dichte Ra- ihnen liegen gut erhaltene Fundstücke (Furcaster,
sen. Die silurisch-devonische Gattung Scyphocrini- . Abb. 2.1) aus dem devonischen Hunsrückschie-
15
tes, die aus Europa, Afrika, Asien und Nordamerika fer vor. Die Schlangensterne sind die beweglichs-
bekannt ist, besaß am Ende ihres Stieles eine kuge- ten unter den heutigen Echinodermen. Auch die 16
lige Auftreibung, die als Schwebeorgan interpretiert Seeigel und Seegurken sind seit dem Ordovizium
wird. Seirocrinus, eine jurassische Seelilie aus der bekannt. Aulechinus aus dem Ordovizium ist der 17
Gruppe, der auch die rezenten Seelilien angehören, älteste bekannte Seeigel, dessen interradiäre Plat-
ist besonders schön in den Posidonienschiefern tenreihen noch recht unregelmäßig verlaufen. Die
Holzmadens erhalten (. Abb. 2.62a). Die Krone mit Lanzenseeigel (Cidaroidea) erscheinen im Devon 18
den langen Armen war ca. 80 cm hoch, die Stiele und sind die Grundgruppe aller modernen Seeigel;
erreichten eine Länge von bis zu 18 m. Sie waren einige Formen, z. B. Cidaris, haben bis heute über- 19
wahrscheinlich an im Meer treibenden Baumstäm- lebt. Die typischen modernen Seeigel sind seit der
men angeheftet. Die Haarsterne (Comatuliden) Trias bekannt. Die ältesten Seegurken besaßen noch
existieren erst seit dem Mesozoikum. Die häufige einen Hautpanzer (z. B. Palaeocucumaria).
20
104 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.13 a–d  Conodonta und Haikouella. a Conodonta sind fast nur durch winzige, vielgestaltige Hartgebilde bekannt,
die hier im rasterelektronenmikroskopischen Bild dargestellt sind. Die Länge der abgebildeten Teile liegt im Bereich eines
Millimeters, b ganzes Conodonten-Tier, c Rekonstruktion des Vorderendes, d Haikouella. Nach Aldridge u. Purnell (1996), Davis
u. Fuger (1998)

Erst ab1979 wurden vollständige Tiere in Südaf-


Conodonta rika (Ordovizium), in Wisconsin/USA (Silur) und
Die Conodonta oder Conodonten-Tiere (Co- in Schottland (Karbon) entdeckt, die uns eine recht
nodontophorida) sind marine Formen, wahr- gute Vorstellung ihrer Anatomie vermitteln, so dass
scheinlich frühe Chordaten, die vom Kambrium auch Rückschlüsse auf ihre Lebensweise möglich
bis zur Trias weit verbreitet vorkamen und der sind. Es waren bis 40 cm lange, schlanke, seitlich
Wissenschaft in Form von kleinen, spitzen, meist zusammengedrückte, fischähnliche Meerestiere,
0,2–2 mm langen, zähnchenartigen Hartgebilden deren Kopf große Augen und einen komplizier-
aus Calciumphosphat (Conodonten) schon seit ten Zahnapparat zur Nahrungsaufnahme besaß
Mitte des 19.  Jahrhunderts bekannt sind, ohne (. Abb. 2.13b,c). Ein Schädel mit typischen Kiefern
dass man sie irgendwo sicher einordnen konnte. und ein Hautskelett waren jedoch noch nicht aus-
Der Begriff „Conodonta“ ist doppeldeutig: Er wird gebildet. Die Zähne waren mit einzigartigen Stütz-
gleichermaßen für die Hartgebilde wie für die gan- strukturen aus Hartgewebe verbunden. Es wurden
zen Tiere benutzt. Die Formenvielfalt der Hartge- im Bereich dieses Gebissapparates insgesamt vier
bilde ist auffallend (. Abb. 2.13a), und für erdge- verschiedene Hartgewebe beschrieben: Knochen,
schichtliche Forschungen haben Conodonten eine verkalkter Knorpel, Dentin und Schmelz. Die
erhebliche Bedeutung als Leitfossilien. Die feinstra- Rumpfmuskulatur war wie bei Fischen und Bran-
tigraphische Gliederung des Paläozoikums basiert chiostoma segmentiert. Offensichtlich führten sie
heute weitgehend auf dem Auftreten verschiedener ein räuberisches, pelagisches Leben.
Conodonten.
Conodonten gehören in Devon und Karbon zu Ursprung der Chordaten
den häufigsten Fossilien. Paläontologen unterschei- Zu den Chordaten zählen heute die Cephalochor-
den bis über 3000 Formen. daten (Branchiostoma), die Urochordaten (mit den
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 105

Tunicaten) und die Cranioten (mit den Wirbeltie- Segmentierung auf eine Ringelung einer
ren). chitinigen Wohnröhre zurückgeführt. Es 1
Das paläontologische Bild vom Ursprung der ist wahrscheinlich, dass eine echte Chorda
Chordaten – und damit auch der Wirbeltiere – hat dorsalis vorlag und dass Augen vorhanden 2
sich in den letzten Jahren gewandelt, bleibt aber im- waren. Ein wohl geräumiger Pharynx ist
mer noch sehr umstritten. Aus kambrischen Ablage- wahrscheinlich von Kiemenbögen und
rungen wurden verschiedene Fossilformen beschrie- Kiemenöffnungen begrenzt, vielleicht lagen 3
ben, die als Chordaten und z. T. sogar als Vertebraten äußere Kiemen, wie vermutlich bei Pikaia,
gedeutet wurden, deren Zugehörigkeit zu einer die- vor. Ihre phylogenetische Stellung wurde 4
ser Gruppen aber bisher keinen Konsens gefunden z. T. als „fragliche Cranioten“ bis hin zu

-
hat. Den meisten dieser Formen ist gemeinsam, dass „primitive Chordaten“ bewertet.
sie offensichtlich eine metamere Rumpfmuskulatur Haikouichthys und Myllokunmingia besaßen
5
(Myomeren) besitzen, wie wir sie unter rezenten Kiemenbögen und Kiemenöffnungen, V-

-
Formen tatsächlich nur von Chordaten kennen. förmige Muskelsegmente, eine Chorda und 6
Conodonta: Die Conodonten wurden schon wohl sogar eine Schädelkapsel. Vielleicht
im Abschn. 2.2.1 dargestellt. Die ältesten Funde hatten sie neben einer dorsalen Flosse auch 7
stammen aus dem Kambrium; sie repräsentie- schon ventrale Flossen; da das Vorderende
ren vermutlich einen eigenen Entwicklungs- dieser Formen bisher nicht gut bekannt ist,
8
-
zweig der Chordaten. sind noch keine sicheren Aussagen über
Pikaia: Pikaia gracilens stammt aus den Augen und andere Kopfstrukturen möglich.
kambrischen Schiefern des Burgess-Passes, Möglicherweise sind einzelne anatomi- 9
über 100 Einzelfunde liegen vor. Sie war ca. sche Anklänge an Neunaugen vorhanden.
4 cm lang und seitlich abgeflacht, was für Vielen gilt Haikouichthys als derzeit ältester
eine schwimmende Lebensweise spricht. bekannter Craniot und sogar Vertebrat.
10
Der zweilappige Kopfbereich trägt vorn zwei
Tentakel und jederseits bis zu neun gefiederte Unumstrittene Wirbeltiere treten erst im Ordovi- 11
Anhänge, die an externe Kiemen erinnern; ob zium auf, und zwar in Form der fossilen Agnatha
Kiemenöffnungen vorlagen, ist unsicher. Die (Ostracodermen, s. Abschn. 2.2.3). 12
Muskulatur – vermutlich des ganzen Körpers
– ist segmentiert, große Exemplare haben ca.
100 Myomere. Ob eine Chorda dorsalis vorlag, 2.2.2 Ordovizium 13
ist umstritten, dorsal im Rumpf befindet sich
eine Struktur, die z. T. als Chorda, z. T. aber
|
Übersicht              | 14
auch als eine eigene Struktur (Dorsalorgan)
interpretiert wird. Möglicherweise steht Pikaia
15
-
Die Fossilien sind vorwiegend marinen Ur-
der Stammform der Chordaten nahe. sprungs. Es dominieren die freischwebenden
Metaspringgina: Diese kambrische Form ähnelt Graptolithen und die großen Orthoceren. Trilo-
entfernt Pikaia, möglicherweise gehörte sie zur 16

-
biten sind verbreitet, Conodonten sind wichtige
Stammgruppe der Agnatha. Leitfossilien. Anthozoen (Rugosa und Tabulata)
Weitere Fossilfunde, die mit den Chordaten sowie Stromatoporen ersetzen die kambrischen 17
und sogar den Cranioten bzw. Vertebraten in Archaeocyathen als Riffbildner. Das pflanzliche
Beziehung gesetzt werden, stammen aus dem Plankton entfaltet sich (Acritarchen). Massen-
18
-
Kambrium Südchinas. aussterben gegen Ende des Ordoviziums.
Umstritten sind die Yunnanozoa mit Yun-
nanozoon und Haikouella (. Abb. 2.13d). 19
Auch sie sind segmentiert; es wird mehr- Das Ordovizium (488–444  Mio. Jahre vor heute)
heitlich vermutet, dass die Segmente ist ein etwa 44 Mio. Jahre währender Zeitabschnitt
Myomeren entsprechen, vereinzelt wird die und wurde nach dem walisischen Keltenstamm der
20
106 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.14 a–h  Das Meer im Ordovizium. Im freien Wasser trieben a Graptolithenkolonien (z. B. Dictyonema) und b große
Cephalopoden (Orthoceras). Am Meeresboden lebten c Brachiopoden, d Crinoiden (Caleidocrinus), e Trilobiten (Cryptolithus),
f Cystoidea (Aristocystites) und diverse Korallen, z. B. g Halysites (Tabulata). Unbekannt ist die systematische Stellung der h Hyoli-
then (Elegantulites). Berühmte Fundstätte: Öland, Schweden. Nach Schäfer, Senckenberg-Museum (2000)

Ordovizier benannt. An der walisischen Küste sind Riffen kamen Korallenriffe vor, die von Rugosa und
ordovizische neben kambrischen und silurischen Tabulata aufgebaut werden. Diese Riffe markieren
Sedimenten zu finden. Alle drei Systeme lieferten eine weitere Epoche der Riffbildung: Archaeocya-
Baumaterial für das Kaledonische Gebirge. Das then als Riffbildner waren schon im Kambrium
Ordovizium ist vor allem durch das Vorkommen ausgestorben.
von Graptolithen (. Abb. 2.14a, 2.20), aber auch
durch die adaptive Radiation anderer Tiergruppen, Riffbildner im Paläozoikum
insbesondere der Weichtiere, gekennzeichnet. . Ab- Rugosa (. Abb. 2.16a–c) waren auf das Paläozo-
bildung 2.14 vermittelt einen Eindruck von der ikum beschränkte, in der Mehrzahl solitäre An-
Organismenwelt ordovizischer Meere. Die paläo- thozoa, die an der Riffbildung von Ordovizium bis
geographischen Verhältnisse waren ähnlich wie im Perm beteiligt waren. Ihr Kalkskelett ist zunächst
Kambrium, und die Verteilung von Land und Meer durch sechs so genannte Protosepten gekenn-
war ähnlich wie dort beschrieben (. Abb. 2.4). zeichnet, weitere Septen werden dann nur in vier
Gondwana lag auf der Südhalbkugel; Baltica, Lau- Fächern gebildet, weswegen die Gruppe auch Te-
rentia und Sibiria bewegten sich aufeinander zu. tracorallia genannt wird. Der Name Rugosa geht
Im Ordovizium waren alle Tierstämme der darauf zurück, dass die Außenwand des Korallen-
nachfolgenden geologischen Zeitabschnitte in den skeletts Runzeln (= Rugae) aufweist. Rugosa und
Meeren vorhanden. Trilobiten, Brachiopoden, Tabulata sind die ersten nennenswerten Riffbildner
Graptolithen und Conodonten waren verbreitete unter den Anthozoa. Infolge kurzfristiger, aber star-
Gruppen. Die Trilobiten waren oft größer als frü- ker Meeresspiegelanstiege im Oberdevon kommt
her, wiesen gegenüber denen des Kambriums eine es zum Massenabsterben von Riffen; Rugosa und
verstärkte Bestachelung auf, und viele konnten sich Tabulata waren dem Aussterben nahe: über 90 %
einrollen. Neben Bryozoen- und Stromatoporen- der im Flachwasser lebenden Rugosa verschwan-
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 107

den, Tiefwasserformen wurden etwa zur Hälfte ovalen Coralliten. Im Ordovizium und Silur war
ausgelöscht. Von dieser Katastrophe erholten sie sie sehr weit verbreitet. 1
sich nicht wieder; an der Wende zum Mesozoi- Stromatopora (Stromatoporoidea) sind ma-
kum verschwanden sie endgültig. Zaphrentis war rine, sessile und koloniale Organismen, die seit 2
im Flachmeer des Rheinlandes verbreitet; Calceola dem Kambrium bekannt sind. Bis zum mittleren
(. Abb. 2.16a–c; die Pantoffelkoralle) ist eine mit- Devon – als sie ihren Höhepunkt erreichten – wa-
teldevonische Leitform und z. B. in Eifel und Huns- ren sie in flachen, strömungsreichen Meeresgebie- 3
rück zu finden. Mit dreieckiger Grundfläche lag sie ten verbreitet und eng mit Algen und Korallen as-
auf dem Substrat und konnte sich mit einem halb- soziiert. Oberflächlich ähnelten sie Tabulaten. Ihre 4
kreisförmigen Deckel schließen. systematische Zuordnung ist unsicher: Sie werden
Tabulata sind auf das Paläozoikum beschränkte, heute von den meisten Autoren zu den Porifera,
stets koloniebildende Anthozoa. Die ersten Tabulata von anderen zu den Cnidaria gestellt. Typischer-
5
kennt man aus dem Kambrium; später, insbeson- weise haben die Stromatoporen ein Kalkskelett mit
dere in Silur und Devon, waren sie an der Riffbil- vertikalen und horizontalen Strukturelementen 6
dung beteiligt. Im Karbon waren sie stark rückläu- (. Abb. 2.17a) und bilden unregelmäßig geformte,
fig, im Perm starben sie aus. Die Kalkskelette der im Prinzip halbkugelige Blöcke, die 2 m Durch- 7
einzelnen Polypen (= Corallite) sind durch Quer- messer und 1 m Höhe erreichen konnten. Manche
böden (= Tabulae) gekennzeichnet (. Abb. 1.25d); Strukturelemente (Latilaminae, Laminae) werden
Sklerosepten, die für heutige Korallen so typisch als Hinweise auf Wachstumsperioden gewertet. 8
sind, hatten sie praktisch nicht. Stattdessen ragten Bei einigen Formen finden sich an der Oberflä-
Dornen in den Hohlraum der 0,5–5 mm breiten che sternförmig verzweigte Kanäle (Astrorhizae), 9
Coralliten (. Abb. 1.25c). Querböden wurden im- die als Ausfuhrgänge interpretiert werden. Die
mer dann eingezogen, wenn der Polyp ein wenig schwedische Ostsee-Insel Gotland ist durch eine
höher gewachsen war und sich dann aus dem un- besondere Fülle von silurischen Stromatoporen ge-
10
teren, älteren Stockwerk in das obere, neue begab. kennzeichnet, und in den devonischen Riffen des
Der Formenreichtum der Tabulata war groß; man Rheinlandes (s. Abschn. 2.2.4) spielten sie ebenfalls 11
unterscheidet über 300 Gattungen, wobei nicht ganz eine wichtige Rolle. Eine bekannte und gleichzeitig
sicher ist, in welchem Umfang einige diagnostisch besonders alte Gattung ist Pseudostylodictyon (aus 12
verwendete Merkmale erst nach dem Tod (= diage- den Staaten New York und Vermont in den USA).
netisch) eintraten. Tabulata besiedelten ausschließ- Stromatoporen geben uns noch manches Rätsel
lich Schelfbereiche und Kontinentalabhänge; z. B. auf. Nach verbreiteter Ansicht starben sie im De- 13
gab es rheinisch-ardennische Riffe (. Abb. 2.30). von fast aus, erlebten jedoch im Jura eine weitere
Wie heutige Riffkorallen lebten sie bevorzugt in Entfaltung und verschwanden Ende des Paläogens. 14
Äquatornähe. Sie sind zweifellos eine der erfolg- Einige Autoren halten sie für noch existent und
reichsten Tiergruppen des älteren Paläozoikums. verweisen auf die Ähnlichkeit mancher rezenter
Eine verbreitete und dominierende Gattung war Schwämme (Astrosclera, Calcifimbrospongia) mit
15
Favosites. Bekannt ist auch die „Kettenkoralle“ Ha- Stromatoporen.
lysites (. Abb. 2.16d) mit ihren zylindrischen bis 16
17
18
19
20
108 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

  EXKURS 2.2  

.. Abb. 2.15 a–d  Erhebliche Teile der Alpen sind ehemaliger Meeresgrund. a Oberstdorf (im Allgäu): wenige Kilometer
nördlich des Ortes findet man z. B. Nummuliten; b Zugspitze: in unmittelbarer Nähe der Gipfelstation findet man z. B.
fossile Meeresschnecken. Insets: Arietites (Ammonit) und Thecosmilia (Koralle); c, d Faltung von Sedimenten (Decken-
überschiebung) (c) und Profil nach anschließender Erosion (d)

Plattentektonik – Gebirgsbildung (Orogenese)


Nach der Theorie der Plattentektonik entstehen Ge- subduzierten Platte kleinere Krustenstücke (Mik-
birge im Sinne langgestreckter tektonisch defor- rokontinente, Terrane) im Kollisionsbereich an die
mierter Krustenbereiche durch konvergente Plat- kontinentale Kruste angegliedert werden.
tenbewegungen. Die Konvergenz von ozeanischer Ähnlich wie im Falle der Mikrokontinente
und kontinentaler Lithosphäre und auch die Kon- kommt es bei einer Kontinent-Kontinent-Kollision
vergenz zweier kontinentaler Lithosphärenplatten wegen der geringen Dichte der kontinentalen Li-
führt zur Ausbildung aktiver Kontinentalränder. thosphäre nicht zur Subduktion. Die Kruste dieser
Treffen eine ozeanische und eine kontinentale Platten schiebt sich zu einem Gebirge in- und über-
Platte aufeinander, so taucht die ozeanische wegen einander. Die Alpen (. Abb. 2.15) und der Himalaja
ihrer höheren Dichte unter der kontinentalen in die entstanden auf diese Weise.
Asthenosphäre ab (Subduktion). Als Folge dieser Im Verlauf der phanerozoischen Erdgeschichte
Plattenkonvergenz können mit der abtauchenden kam es naturgemäß mehrfach zu solchen Kollisio-
7
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 109

 EXKURS 2.2 (Fortsetzung) 
nen, die für die Evolution und Verteilung der Orga- die Folge einer Kollision von Nord- und Südkonti- 1
nismen von Bedeutung waren. nent. Dabei schob sich im Falle der Alpen die afrika-
Die kaledonische Gebirgsbildung erreichte nische Platte unter die eurasische. Das dazwischen 2
ihren Höhepunkt gegen Ende des Silur vor etwa liegende Meer, die Tethys, wurde geschlossen.
420  Mio. Jahren. Durch den Zusammenstoß der Während der Schub der Alpen anhielt, begannen
nordamerikanischen (Laurentia) mit der nordosteu- sich weiter nördlich die Vogesen und der Schwarz-
3
ropäischen Platte (Baltica) wurden Ablagerungen wald anzuheben. In einer der jüngeren Phasen der
des Iapetus-Ozeans (. Abb. 2.22) zum Kaledoni- Alpenbildung (im Miozän) wurden schließlich die 4
schen Gebirge (den Kaledoniden) aufgefaltet. Ca- Jurahöhen aufgeworfen. Damit war in Südwest-
ledonia ist der keltisch-römische Name für Schott- deutschland intensiver Vulkanismus verbunden,
5
land, und Teile dieses Gebirges sind von Schottland, z. B. im Bereich der Schwäbischen Alb (Kirchheim-
Wales, Irland, der Bretagne, Ostgrönland, Norwe- Uracher Vulkangebiet mit über 350 Schloten) und
gen, Spitzbergen sowie Neufundland und den im Oberrheingraben. 6
nördlichen Appalachen in den USA bekannt. Ein erheblicher Teil der in den Kalkalpen (und
Die variscische Gebirgsbildung hat praktisch in anderen Gebirgen) zu Tage tretenden Gesteine 7
die gesamte Erde umspannt und eine große zusam- geht auf die Aktivitäten von Organismen zurück
menhängende Landmasse, Pangaea, aus vielen Ein-
zelteilen zusammengefügt. Sie erreichte ihren Hö-
(. Abb. 2.15). Wer hält sich schon vor Augen, dass
im Karwendel- und im Wettersteingebirge, in den
8
hepunkt im Karbon, endete im Perm und verdrängte Salzburger Alpen, in den Dolomiten und anderswo
das Meer aus Mitteleuropa. Der Begriff „variscisch“ wesentliche Teile durch Algen (Dasycladales, Wir- 9
erinnert an den römischen Namen Curia Variscorum telalgen) aufgebaut wurden? Ihre heute noch le-
für die bayerische Stadt Hof und an das Vogtland (im benden nahen Verwandten kommen vor allem in 10
anschließenden Bundesland Sachsen), das ehema- den lichtdurchfluteten Küstengewässern der
lige Gebiet der germanischen Varisker. Dort waren Meere der Tropen und Subtropen vor. Man unter-
zum ersten Mal Belege für diese Gebirgsbildung scheidet etwa 40 rezente Arten und 170 fossile. 11
gefunden worden. In Europa erstrecken sich die Va- Unter den rezenten Formen ist wohl die Schirm­
risciden von Spanien über das französische Zentral- alge Acetabularia die bekannteste. Eine Besonder- 12
massiv bis in die Sudeten und zum polnischen Mit- heit der Dasycladales sind ihre Kalkausscheidun-
telgebirge. In Deutschland gehören beispielsweise
Rheinisches Schiefergebirge, Spessart, Bayerischer
gen, die einen massiven Panzer aufbauen können.
Sie erlebten ihre erste Blütezeit im späten Paläo-
13
Wald, Schwarzwald, Harz und Erzgebirge dazu. Am zoikum, nur etwa die Hälfte der Gattungen über-
Ostrand von Baltica entstand durch die Kollision mit lebte die Perm-Trias-Grenze. Eine zweite und dritte 14
mehreren Festlandmassen der Ural. Entfaltung erfolgte in der Trias (an deren Ende
Die bedeutendste Gebirgsbildung des Kä- wiederum viele ausstarben) und in der Kreide. Die 15
nozoikums ist die im ausgehenden Mesozoikum Kreide-Tertiär-Grenze überstanden sie weitge-
einsetzende und bis in das Känozoikum hinein hend unbeschadet; im frühen Alttertiär kam es
fortdauernde alpidische Gebirgsbildung. Der ent- sogar zu einer besonderen Entfaltung, im Oligo- 16
standene Gebirgsgürtel erstreckt sich von den Py- zän folgte dann ein Niedergang, von dem sie sich
renäen über die Alpen, die Karpaten und die Türkei bis heute nicht erholt haben. 17
hinweg bis zum Himalaja. Diese Vorgänge waren

18
19
20
110 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.16 a–d  Paläozo-
ische Korallen. a–c Calceola
(Rugosa), a Ansicht von
der Unterseite, b Ansicht
des Deckels, c Ansicht von
der Oberseite. Die Länge
des Fossils beträgt 3 cm.
d Halysites (Tabulata)

Weitere Meeresorganismen im gebaute, leicht gewölbte Scheidewände getrennt, ste-


Ordovizium hen jedoch über einen Gewebestrang (Siphunkel)
Schnecken, Muscheln und Kopffüßer sind weitere miteinander in Verbindung, der bis in die zuerst
wichtige Gruppen, die im Ordovizium arten- und gebildete Kammer (den Protoconch) zieht. Bei den
individuenreicher wurden. meisten Palcephalopoda liegt er zentral, bei Endo-
Unter den Cephalopoda (Kopffüßern) sind die ceras in randlicher (ventraler) Position. Über den
z. T. meterlangen Vertreter der Gattungen Orthoce- Siphunkel kommt es zum Stoffaustausch: Die jeweils
ras, Actinoceras und Endoceras zu nennen. In bis zu neueste Kammer wird zunächst mit Flüssigkeit ge-
9 m langen Kalkröhren lebten die Tiere im vorderen füllt, dann mit Gas. Die hintereinander liegenden
Röhrenbereich, während der hintere in gasgefüllte Gaskammern dienen dem Tier dann als hydrostati-
Kammern unterteilt war. Ob sich diese Riesenfor- sches Organ. In der Paläontologie wird der Siphun-
men im freien Wasser schwimmend bewegten oder kel „Sipho“ genannt.
am Meeresboden krochen, wissen wir nicht mit Si- Palcephalopoden besitzen ein relativ großes
cherheit. Alle erwähnten Gattungen gehören zu den Embryonalgehäuse (meist über 1 cm Durchmesser),
Palcephalopoda. was mit der Produktion von wenigen dotterreichen
Palcephalopoda (= Tetrabranchiata) umfassen Eiern in Zusammenhang gebracht wird. Palcepha-
die Nautiloida im weiteren Sinne, von denen sich bis lopoda gibt es seit dem Kambrium, im Ordovizium
heute noch Nautilus als „lebendes Fossil“ gehalten fand jedoch eine starke Entfaltung statt. Anfangs
hat (. Abb. 2.78f). Palcephalopoda besitzen gekam- waren ihre Gehäuse gerade (z. B. Orthoceras, Mi-
merte Gehäuse (. Abb. 2.18a–c). chelinoceras, . Abb. 2.18a); geologisch jüngere
Die zuletzt gebaute, nach außen offene Kam- Formen sind in wechselndem Maße (z. B. Lituites,
mer ist die Wohnkammer, alle davor entstandenen . Abb. 2.18b) oder völlig eingerollt (z. B. Germano-
Kammern (Phragmokon) sind zwar durch einfach nautilus, . Abb. 2.49; Nautilus, . Abb. 2.18c). Von
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 111

1
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.. Abb. 2.17 a, b  Stromatoporen. a Schematische Darstellung eines Ausschnittes. Mehrere horizontale Schichten (Laminae)
bilden eine Latilamina. Senkrecht dazu verlaufen dünne Pilae und dickere Astrorhiza-Kanäle. b Angeschliffener Stromatopore
aus dem Silur der schwedischen Insel Gotland, auf einer tabulaten Koralle festgewachsen
8
manchen Formen kennt man Massenvorkommen 9
(Orthoceren-Schlachtfelder; Michelinoceras in Ma-
rokko, Lituites-Kalk auf der schwedischen Ostsee-
Insel Öland).
10
Unsicher ist die Zuordnung der Tentaculita
(. Abb. 2.19) zu den Mollusken. Sie lebten vom 11
Ordovizium bis zum Devon. Ihre kleinen, spitzke-
gelförmigen Gehäuse bestehen aus Kalk; ihr An- 12
fangsteil ist meist durch Querwände gekammert,
ihre Oberfläche skulpturiert. Über die Lebensweise
der Tentaculita wissen wir wenig, viele lebten wohl 13
als Plankter. Ihre Gehäuse sind bisweilen in großer
Dichte zu finden (Tentaculitenschiefer). 14
Auch Echinodermata waren nicht selten
(. Abb. 2.14). Den Seeigeln fehlte noch der typische
starre Panzer. Auch See- und Schlangensterne sind
15
erstmalig im Ordovizium zu finden.
Auffällig ist, dass die meisten Tiergruppen des 16
Ordoviziums noch auf dem Boden oder im freien
Wasser lebten, jedoch kaum im Boden. Man nimmt 17
an, dass die Sedimente sauerstoffarm waren und nur
wenige Tiere anoxybiotisch leben konnten. Eine
Ausnahme stellen die sich im Ordovizium stark 18
entwickelnden Muscheln dar, die allerdings über .. Abb. 2.18 a–c  Palcephalopoda. a Michelinoceras vom
Siphone mit der Oberfläche in Verbindung stan- Orthoceras-Typ mit Siphunkel, b Lituites, c rezenter Nautilus 19
den. Sie traten nun in großer Formenfülle auf und
waren großräumig im Meer verbreitet. Ihre Stellung
im Ökosystem war durchaus schon der heutigen
20
112 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.19 Tentaculiten
und Brachiopoden (Spiriferi-
den) aus dem Devon der
Ukraine

vergleichbar. Besonders wichtige Leitfossilien des schwebenden Kolonien. Da sie sich relativ rasch in
Ordoviziums sind die articulaten Brachiopoden, die gut unterscheidbare Formen differenzierten, kann
Graptolithen und die Conodonten. man mit ihrer Hilfe eine vergleichsweise feine Un-
Während sich im älteren Ordovizium noch terteilung von Sedimentlagen vornehmen. Schon
häufig schlosslose Brachiopoda finden (z. B. Acro- Altersunterschiede von einigen hunderttausend
thele und Lingulella), werden später die articulaten, Jahren werden erkennbar, was für geologische
kalkschaligen, schlosstragenden Brachiopoden Zeiträume im Paläozoikum etwas Besonderes ist.
dominierend (Orthis, Dalmanella, Strophomena). Die schwimmenden Kolonien trieben anscheinend
Diese mit einer dorsalen (= Armklappe) und einer oberflächennah durch die Meere und wurden so
ventralen Schale (= Stielklappe) versehenen Suspen- weit verbreitet. Nach ihrem Tod sanken sie ab und
sionsfresser existieren noch heute. wurden stellenweise in großen Mengen fossilisiert.
Die Graptolitha (. Abb. 2.20) sind seit dem Graptolithen sind meist „kohlig“ erhalten, und ihre
Mittelkambrium bekannt. Für Ordovizium und Si- Abdrücke glänzen auf der Oberfläche dunkler, to-
lur stellen sie besonders wichtige Leitfossilien dar; niger Gesteine. Im Devon starben die pelagischen
sie waren allem Anschein nach den Pterobranchi- Graptolithen aus, im Karbon die sessilen.
ern nahestehende koloniale Strudler. Man nennt Das Klima entlang einem äquatorialen Gürtel
sie in ihrer fossilisierten Form auch Schriftsteine, führte zur Entfaltung zahlreicher neuer Wirbello-
weil sie auf Schiefergestein wie Schriftzeichen aus- sen-Gruppen, v. a. unter den Kalkschalern. Insge-
sehen (. Abb. 1.24f). Sie gehören zu den häufigsten samt ist die Fauna des Ordoviziums reicher als die
Fossilien des Ordoviziums. Ihr Aussehen erinnert des Kambriums. Paläontologen unterscheiden über
auch ein wenig an Laubsägeblätter. In jedem „Zahn“ 400 verschiedene Taxa von Familienrang, gegenüber
(= Theca) lebte ein Einzeltier mit einem Tentakel- etwa 150 im Kambrium.
kranz. In Deutschland findet man sie vom Silur Die Entwicklung der Pflanzen ist durch die
bis zum Devon vor allem in Sachsen, Thüringen, Entfaltung der Kalkalgen gekennzeichnet; das
im nördlichen Bayern, im Harz sowie im Rhei- Festland war noch weitgehend unbesiedelt. Kalk
nischen Schiefergebirge. Graptolithen-Kolonien bildende Grünalgen drangen bis ins Brackwas-
konnten stabförmig, spiralig oder verzweigt sein ser ein, im Plankton dominierten noch die Acri-
und über 1 m Länge erreichen. Die Entwicklung tarchen. Ordovizische Sedimentgesteine sind in
der Graptolithen begann mit festsitzenden Formen Mitteleuropa in größerem Umfang anzutreffen als
(. Abb. 2.20d), später erfolgte eine Radiation der kambrische und kommen von Nordrügen bis zum
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 113

1
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.. Abb. 2.20 a–d  Graptolithen. a–c Ausschnitte einer Kolonie, von verschiedenen Seiten betrachtet. Jede Kolonie wurde von
7
einem Tier in einer Anfangskammer (Sicula) begründet. Durch asexuelle Fortpflanzung kamen weitere Tiere hinzu, die in je einer
Theca lebten. d Rekonstruktion einer sessilen Kolonie, die mit einer Basalscheibe am Substrat festgeheftet war
8
Erzgebirge sowie im Schwarzwald (Baden-Baden, etwa 100 Familien mariner Organismen überlebten
Badenweiler-Lenzkirch-Zone) und in den Alpen die Ordovizium-Silur-Grenze nicht. Besonders be- 9
vor. troffen waren die tropischen Riffgemeinschaften mit
Das Ordovizium ging mit einem der größten Stromatoporen, Tabulaten und Bryozoen. Auch Tri-
Massenaussterben der Tiere des gesamten Phane- lobiten, Nautiloiden, Brachiopoden, Graptolithen,
10
rozoikums zu Ende. Es war der erste von mindes- Crinoiden und Conodonten wurden stark dezimiert.
tens fünf dramatischen Einbrüchen im Phanerozo- Als wesentliche Ursachen werden eine Abkühlung 11
ikum. In manchen Regionen starb über die Hälfte der Meere (spät-ordovizische Eiszeit; s. EXKURS 2.3)
der Brachiopoden- und Bryozoen-Gattungen aus, und eine spätere Erwärmung angesehen. 12
  EXKURS 2.3  
13
Massenaussterben
Man schätzt, dass im Laufe der Evolution über 90 % gefunden (. Abb. 2.21): im späten Ordovizium, im 14
– vielleicht über 99 % – aller einmal entstandenen Ar- späten Devon, am Ende des Perm, am Ende der Trias
ten wieder verschwunden sind. Ob es sich bei diesem
Aussterben um einen mehr oder weniger kontinuier-
und an der Kreide-Tertiär-Grenze.
Massenaussterben erfolgten im Allgemeinen
15
lichen Prozess handelt oder ob Zeiten gleichmäßigen, nicht „auf einen Schlag“, sondern haben sich über
langsamen Aussterbens von Katastrophen abgelöst eine gewisse Zeit erstreckt. Sie haben gemeinsam, 16
wurden, ist nicht in allen Fällen klar erwiesen. Die dass nach diesen Ereignissen freier Lebensraum ent-
Existenz einiger Episoden extremen Massenausster- standen war, der von anderen Organismen genutzt 17
bens gilt jedoch aufgrund geologischer, paläontolo- werden konnte. Besonders deutlich tritt uns das
gischer und biologischer Befunde als gesichert. nach der Katastrophe an der Kreide-Tertiär-Grenze
Abgesehen von der heutigen, in großem Maß- vor Augen: die Säugetiere übernahmen die Rolle 18
stab erfolgenden Ausrottung von Tier- und Pflan- der großen Reptilien. Die fünf Massenaussterben
zenarten durch den modernen Menschen (s. Ab- bedeuteten also nur Einschnitte im Lebensstrom; 19
schn. 5.9) haben im Phanerozoikum mindestens auf die Dezimierung erfolgte jeweils eine starke Di-
fünf Massenaussterben von globalem Umfang statt- versifizierung.
20
7
114 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.3 (Fortsetzung) 
.. Abb. 2.21  Aussterberaten mariner Organismen,
die aufgrund ihres Skeletts leicht fossilisieren. Die
Pfeile 1–5 zeigen die Massenaussterben im Phanero-
zoikum. Die Buchstaben bezeichnen Perioden in der
Erdgeschichte. Nach Sepkoski (2002)

Alle fünf Massenaussterben sind durch große gel-Tiefstand gegeben, jedoch kein Massenaus-
Verluste der im freien Wasser und am Boden leben- sterben. Gleiches gilt im Prinzip für die längste und
den Meerestiere gekennzeichnet. Der größte Ein- vermutlich auch kälteste Eiszeit, die Gondwana-Ver-
schnitt erfolgte Ende des Perm, als etwa 50 % der gletscherung (Karbon-Perm), die kaum von Ausster-
marinen Wirbellosen-Familien verschwanden und beereignissen begleitet war.
wohl über 80 % (nach manchen Autoren über 90 %) Kommt es zum Abschmelzen des Eisschildes,
aller Arten. Neuere Untersuchungen zeigten, dass steigt der Meeresspiegel und weite Landgebiete
es im Paläozoikum und im Mesozoikum außer den werden überflutet (Transgression des Meeres). Das
fünf Massenaussterben weitere Phasen des Aus- war im extremen Maße der Fall Ende des Erdal-
sterbens in großem Ausmaße gegeben hat. tertums und Ende des Erdmittelalters. Beide Ären
Über die vermuteten Ursachen wurde viel schlossen mit Massenaussterben ab.
nachgedacht und geschrieben; die Beweislage ist Das Massenaussterben Ende Ordovizium, wel-
allerdings keineswegs eindeutig, und allem An- ches bis zu drei Viertel aller Meeresorganismen er-
schein nach gibt es nicht nur eine Ursache für alle fasste, wird mit einer dramatischen Abkühlung in
Massenaussterben. Grundsätzlich kommen viele Verbindung gebracht, die sehr rasch eingesetzt hat.
verschiedene Faktoren in Frage, in erster Linie wohl Die große Landmasse Gondwana, zu der auch Afrika
Vulkanismus und Meteoriteneinschläge. Große gehörte, lag zu dieser Zeit auf der Südhemisphäre,
Bedeutung können auch Klimaschwankungen ha- weswegen dieses Eiszeitalter auch Sahara-Vereisung
ben. Vergletscherung und Bildung von Inlandeis genannt wird. Umfangreiche kontinentale Vereisung
in den Polarregionen haben zur Folge, dass der sorgte für einen weiteren Temperaturrückgang. Im
Meeresspiegel sinkt und dass Schelfgebiete tro- Zuge der Vereisung kam es äquatorwärts zu einer
ckenfallen (Regression des Meeres). Das bedeutet Konzentration vieler Organismen und schließlich
Zurückziehen oder Aussterben von marinen Flach- zum umfangreichen Aussterben. Einige Jahrhun-
wasserorganismen und Vorrücken von Landflora derttausende später folgte eine rasche Erwärmung,
und ‑fauna. Auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit, die eine zweite Episode des Aussterbens bedingte.
vor ca. 20.000 Jahren, lag der Meeresspiegel über Im späten Devon gab es mehrphasige Kli-
100 m unter dem heutigen. Wo heute vor Nordost- maschwankungen, verbunden mit eustatischen
Australien das Große Barriereriff mit seiner reichen Schwankungen des Meeresspiegels und auch
Organismenwelt als das größte Bauwerk des Käno- Meteoriteneinschlägen. Dann erfolgte eine wei-
zoikums steht, konnten sich damals australische tere Vereisung in Gondwana, dieses Mal mit dem
Ureinwohner trockenen Fußes fortbewegen und Schwerpunkt im heutigen Südamerika, welches
Beuteltiere jagen. Auch in der Mitte des Oligozän nahe dem Südpol lag. Wiederum waren es die
(vor etwa 30 Mio. Jahren) hat es einen Meeresspie- Meeresorganismen, vor allem die tropischen, die
7
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 115

 EXKURS 2.3 (Fortsetzung) 
beeinträchtigt wurden. 70 % wurden vernichtet. Die Ursachen für das Aussterben Ende der Trias 1
Riffgemeinschaften wurden dezimiert, und bis sind unklar. Erst wurde das Festland, dann das Meer
Ende des Paläozoikum erreichten sie nicht wieder heimgesucht. Die Labyrinthodontia verschwan- 2
die Bedeutung, die sie im Devon gehabt hatten. Be- den, die Therapsiden wurden abermals reduziert,
sonders eindrucksvolle Riffe aus dem Devon finden im Meer verschwanden Conodonten und mehrere
wir im Nordwesten von Westaustralien, wo sich ein Gruppen von Meeresreptilien (z. B. Placodontia und
3
Barriereriff entlang dem Canning Basin über eine Nothosauria).
Länge von mehr als 300 km erstreckt. Aber auch das Besonderes Aufsehen haben Veröffentlichun- 4
rheinisch-ardennische Gebiet und der Harz beher- gen erregt, die für die hohe Aussterberate an der
bergen Reste devonischer Riffe und demonstrieren Kreide-Tertiär-Grenze einen Meteoriten-Einschlag
5
den Umfang der Korallen-Stromatoporen-Riffe die- (oder mehrere) verantwortlich machen (Impakt-
ser Zeit sowie den Umfang des Massenaussterbens Hypothese, nach impact = Aufprall). Als Beleg
(. Abb. 2.30). werden hohe Iridiumwerte in einem begrenzten 6
Ende des Perm folgte das verheerendste Mas- Sedimentabschnitt dieser Zeit angegeben (Iridi-
senaussterben im gesamten Phanerozoikum. 80– umanomalie; Iridium ist in gewisser außerirdischer 7
90 % aller marinen Tierarten starben im Laufe von Materie in höherer Konzentration vorhanden als
etwa 1 Mio. Jahren aus. Tropische Formen waren
besonders betroffen. Fusulinen (. Abb. 2.46) und
in irdischen Gesteinen) und Veränderungen von
Quarzen an verschiedenen Orten der Erdoberflä-
8
Trilobiten verschwanden vollständig, Crinoiden che, die auf hohe Drucke zurückgeführt werden.
und Korallen entgingen dem Aussterben nur ganz Diese Vorstellung wurde zum ersten Mal 1980 von 9
knapp, am Land verschwanden etwa zwei Drittel Walter Alvarez publiziert und in der Folgezeit in
der Amphibien und Reptilien. Auch diese Katastro- vielen Veröffentlichungen diskutiert. Ein Jahrzehnt 10
phe wird mit einer Abkühlung in Verbindung ge- später entdeckte man nahe der Nordwestspitze der
bracht. Im späten Perm war fast die gesamte konti- Halbinsel Yucatan (Mexiko) den Riesenkrater Chic-
nentale Erdkruste zu einem Kontinent (Pangaea) xulub (Durchmesser 180 km) unter einer 400 m di- 11
vereinigt, der sich von Pol zu Pol erstreckte cken Kalkschicht. Er wurde auf ein Alter von etwa
(. Abb. 2.47). Beide Polarregionen waren vereist. 65 Mio. Jahren datiert. Über einen längeren Zeit- 12
Der Meeresspiegel war besonders niedrig, Flach- raum spielte auch Vulkanismus eine wichtige Rolle,
meergebiete wenig umfangreich. Ein erheblicher
Teil der Kontinentalschelfe war trockengefallen,
z. B. in Indien, welches Asien noch nicht erreicht
hatte (s. paläographische Karte im hinteren Um-
13
und möglicherweise ist es durch umfangreiche Oxi- schlag). Man geht derzeit davon aus, dass Impakt(e)
dationen in diesen Gebieten zum Abfall der Sauer- und Vulkanismus zu einer Verdunkelung und einer 14
stoffkonzentration in der Atmosphäre gekommen. Abkühlung führten. Einschränkend muss allerdings
Zudem lässt sich an der permotriassischen Schicht- gesagt werden, dass an der Kreide-Tertiär-Grenze 15
grenze ein deutlicher Anstieg des Kohlenstoffiso- nach heutigen Kenntnissen nicht alle Organismen-
tops der Atommasse 12 nachweisen, das aus Lebe- gruppen „auf einen Schlag“ ausgestorben sind. In
wesen oder deren Überresten kommen muss. Mit der Tat hatte ein umfangreicher Aussterbeprozess 16
vulkanischer Aktivität könnten Kohle- oder Ölvor- der Dinosaurier bereits mehrere Millionen Jahre vor
räte in Brand gesetzt worden sein. Auch umfangrei- Ende der Kreidezeit eingesetzt. Er beschleunigte 17
che Oxidation von Methanhydrat in den Meeren sich in Nordamerika, als sich Säugetiere rasch ent-
wird diskutiert. Seit dem Jahre 2004 wird zudem ein
Meteoriteneinschlag vor der Nordwestküste Aust-
wickelten und von Asien nach Nordamerika ein-
wanderten. Andere Organismen-Gruppen starben
18
raliens als Auslöser für dieses Massenaussterben in im Paleozän aus, wieder andere überstanden die
Erwägung gezogen. Kreide-Tertiär-Grenze unbeschadet. 19
20
116 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

2.2.3 Silur Kilometer Länge erreichen. Brachiopoden hatten


Ende Silur/Anfang Devon ihre Blütezeit, z. B. mit
Strophomenida, Rhynchonellida und Spiriferida.
|
Übersicht              | Dazu kamen auch Muscheln (die anscheinend Bra-
Die Mannigfaltigkeit der Organismen erreicht chiopoden zum Teil ersetzten) und Schnecken sowie
wieder das Niveau vor dem Aussterbeereignis Moostierchen und Seelilien. Das nördliche Europa
Ende Ordovizium. Korallen (Tabulata, Rugosa) lag im Bereich des Äquators; daran erinnert zum
und Stromatoporen bilden umfangreiche Riffe. Beispiel die Insel Gotland, deren Untergrund zum
Graptolithen nehmen in ihrer Bedeutung ab. großen Teil aus Riffkomplexen besteht. Die auffäl-
Wirbeltiere entfalten sich; es gibt viele Agnatha ligste Radiation betrifft die Graptolithen. Da die
und auch mit Kiefern versehene Fischgruppen einzelnen Arten meist nur eine kurze Lebensdauer
(Gnathostomata), z. B. Acanthodii, die das Erd- besaßen und weit verbreitet waren, eignen sie sich,
altertum nicht überleben. In Brackwasserzonen wie schon im Ordovizium, sehr gut als Leitfossilien
leben besonders große Arthropoden, die bis (wie auch die Conodonten). Die Trilobiten jedoch
2 m langen Eurypterida. Die ersten Pflanzen be- gehen weiter zurück.
siedeln das Land. Kaledonische Gebirgsbildung. Nach der ordovizischen Eiszeit, die eine globale
Regression der Meere bewirkt hatte, war der Beginn
des Silur durch eine Transgression markiert. In Silur
und Devon war der Meeresspiegel weltweit ziemlich
Das Silur, welches nach dem keltischen Volks- hoch. Es kam zu großräumiger Sedimentation unter
stamm der Silurer benannt wurde und einen Zeit- häufig sehr geringer Wasserbedeckung, doch fin-
raum von 28 Mio. Jahren umfasste, ist die kürzeste den sich beispielsweise im Devon des Rheinischen
Periode des Paläozoikums. Es währte von 444 bis Schiefergebirges auch ausgesprochene Tiefwasser-
416 Mio. Jahre vor heute. Aus dieser Zeit kennen sedimente. Eine einschneidende Neuerung im Silur
wir besonders viele Organismen aus Gesteinen im sowie im anschließenden Devon war die Eroberung
südlichen Schweden. Von hier wurden während des freien Wasserkörpers, des Pelagials, durch meh-
der letzten Eiszeit Geschiebe in den norddeutschen rere Tiergruppen. Bisher war im Wesentlichen die
Raum transportiert, wo sie heute, z. B. in Kiesgru- Bodenzone, das Benthal, besiedelt worden.
ben, zu finden sind, einschließlich der in ihnen er- Die gegen Ende des Silur erfolgende Haupt-
haltenen Fossilien (s. EXKURS 2.4, Abschn. 2.2.3). faltung der kaledonischen Gebirgsbildung führte
Südskandinavien, aber auch Südgrönland und das zum Entstehen ausgedehnter Festlandbereiche, die
Gebiet der Hudson Bay waren damals besonders zum Siedlungsraum für Skorpione, Spinnen, Tau-
warme Gebiete (zur paläogeographischen Situ- sendfüßer und vor allem für Gefäßpflanzen wur-
ation s. . Abb. 2.22). Zu jener Zeit entstanden in den. Zu den ersten Tieren, die im Silur das Land
Nordamerika und Sibirien durch Verdunstung von eroberten, gehören die Euthycarcinoidea. Sie ha-
Meerwasser umfangreiche Salzlager. Die häufigsten ben eine gewisse oberflächliche Ähnlichkeit mit
Gesteine sind Graptolithenschiefer, Brachiopoden- Schaben, liefen jedoch auf 11 Beinpaaren. Sie sind
mergel und Korallen- sowie Stromatoporenkalke. beispielsweise aus Australien bekannt, jüngere For-
Mehrere marine Gruppen, die sich im Ordovizium men auch aus Frankreich, und gelten als Vorläufer
entfaltet hatten und an dessen Ende fast ausstar- von Insekten. Unter den Arthropoden spielen nach
ben, entfalteten sich im Silur abermals. Auffallend wie vor Trilobiten eine wichtige Rolle, außerdem
waren Riffkomplexe mit einem reichen tierischen Ostracoda. Letztere bildeten lokal in Flachmeeren
Leben: sie waren reicher entwickelt und größer als Steinkomplexe, z. B. den Beyrichienkalk der Ostsee.
im Ordovizium (. Abb. 2.23). Hauptriffbildner wa- Die glattschalige Leperditia umfasst bis zu mehrere
ren Anthozoa, insbesondere Rugosa und Tabulata, Zentimeter lange Formen.
sowie Stromatoporen. Stromatoporen-Tabulaten- Wichtige Faunenelemente sind außerdem die
Riffe erhoben sich stellenweise etwa 10 m über den bis etwa 2 m langen Eurypterida (. Abb. 2.24);
umgebenden Meeresgrund und konnten mehrere viele besaßen große Scheren, mit denen sie ihre
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 117

1
2
3
4
5
6

.. Abb. 2.22  Die paläogeographische Situation im Silur: Baltica ist weiter nach Norden gedriftet und liegt jetzt in äquatorialen
7
Breiten. Im heutigen Skandinavien wachsen tropische Riffe. Es kommt zu einer Kollision von Laurentia und Baltica. Dabei ent-
steht das kaledonische Gebirge (die Kaledoniden), dessen Deckenbau in Skandinavien und den Appalachen erhalten geblieben 8
ist. Der Mikrokontinent Avalonia, von Gondwana abgetrennt, liegt südlich von Laurentia. Der Rheische Ozean trennt Gondwa-
na, Laurentia-Baltica, Sibirien und Kasachstan voneinander. Nach Scotese u. Wertel (2006)
9
10
11
12
13
14
15
16
.. Abb. 2.23 a–d  Das Meer im Silur. Im freien Wasser lebten a Graptolithen (z. B. Monograptus und Linograptus), b diverse
ursprüngliche Fische und c Cephalopoden. Am Boden wuchsen Seelilien (z. B. d Laubeocrinus), verschiedene Korallen z. B. Halysi-
17
tes, Favosites und Entelophyllum. Berühmte Fundstelle: Gotland, Schweden. Nach Schäfer, Senckenberg-Museum (2000)
18
Beute greifen konnten. Sie erschienen im Ordovi- ursprünglich marine Organismen; gegen Ende des
zium, existierten bis ins Devon und trugen vermut- Silur lebten sie jedoch bevorzugt im Süßwasser. 19
lich zur Ausrottung nicht gepanzerter Lebewesen Nautiloida differenzierten sich und umfassten
bei. In Silur und Devon erreichten sie ihre größte außer mehrere Meter langen gestreckten Formen
ökologische Bedeutung. Die Eurypterida waren („Orthoceren“) Gattungen mit gekrümmter Schale
20
118 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

wahrscheinlich in das Substrat ein, z. B. die Gattun-


gen Hemicyclaspis, Thestes und Didymaspis. Andere
lebten freischwimmend, z. B. Pteraspis und Rhyn-
cholepis. Die Agnathen des Silurs sind zum Teil vor-
züglich erhalten, so dass wir aufgrund von Serien-
schliffen sehr detaillierte Kenntnisse über ihren Bau
haben. Ihre Augen waren z. T. nach dorsal gerückt.
Wie die Eurypteriden waren sie zunächst marin,
dann limnisch. Die Agnatha sind anscheinend eine
Basisgruppe nicht näher miteinander verwandter
Formen.
Interessant ist, dass Knochengewebe möglicher-
weise bei frühen „Fischen“ im Innenskelett konver-
gent entstand. Außer bei Ostracodermen tritt Kno-
chengewebe auch bei Placodermen, Acanthodii und
bei Actinopterygiern auf. Der Ossifikationsprozess
selber kann auf verschiedene Weise erfolgen; en-
chondrale Verknöcherung ist bisher von Actinopte-
rygiern, fossilen Crossopterygiern (Eusthenopteron)
und Tetrapoden bekannt.

-
.. Abb. 2.24  Eurypterida („Seeskorpione“): Dorsal- (links)
Zu den fossilen Agnathen zählen:
und Ventralansicht (rechts) von Moselopterus (Devon, bei Heterostraci: In die Nähe der Schleimaale
Alken an der Mosel gefunden). Nach Störmer (1974) gestellt, weil sie, wie die moderne Myxine,
nur eine Kiemenöffnung haben. Da aber
(Cyrtoceras) und völlig eingerollte wie den rezenten moderne Schleimaale der Gattung Eptatre-
Nautilus. tus viele Kiemenöffnungen besitzen, ist die
Die rein fossile Echinodermengruppe der Cys- Situation von Myxine abgeleitet und kann
toidea ging zurück und wurde z. T. von den Crino- nicht als Argument für die Verwandtschaft
idea abgelöst. Diese erreichten eine bis ins Perm zwischen Schleimaalen und Heterostraci
andauernde Artenmannigfaltigkeit. Ihre Stielglie- herangezogen werden, zumal sich jetzt
der waren regionenweise gesteinsbildend. An der gezeigt hat, dass die mit den Heterostraci
Wende von Silur zu Devon lebten in einer geolo- verwandten Arandaspida mehrere Kiemen-
gisch kurzen Zeitspanne die Scyphocrinoidea. Diese öffnungen besaßen. Heterostraci besaßen
langstieligen Seelilien hatten ihr Wurzelveranke- feste knöcherne Kopfschilde (makromeres
rungssystem zur Wurzelkugel umgestaltet, die als Hautskelett) und Einzelschuppen am Körper
Schwimmboje diente. Damit hängt wohl ihre weite (mikromeres Hautskelett) sowie i. A. eine
Verbreitung zusammen. symmetrische Schwanzflosse. Sie lebten vom
unteren Silur bis zum oberen Devon Nord-
Agnatha amerikas, Europas und Nordasiens. Errivaspis
Die Agnatha (. Abb. 2.25) sind die ältesten un- (. Abb. 2.25a), Torpedaspis (. Abb. 2.25b).
umstrittenen Wirbeltiere, sie waren im Allgemei- Im Hunsrückschiefer kommt Drepanaspis ge-
nen kleine Tiere, ihnen fehlten Kiefer; Knochen- muendensis vor (s. EXKURS 2.5 Abschn. 2.2.4,

-
gewebe war im Endoskelett auf die Schädelregion . Abb. 2.25c).
beschränkt, wobei vielleicht verkalkter Knorpel Arandaspida: Hierher gehören Arandaspis aus
die Vorstufe des Knochengewebes war. Sie trugen dem unteren Ordovizium Australiens und die
einen Hautknochenpanzer (worauf der alte Begriff sehr ähnliche Sacabambaspis (. Abb. 2.25d)
Ostracodermi = Ostracodermata hinweist). Viele aus dem oberen Ordovizium Boliviens. Auch
Agnatha lebten am Meeresboden oder gruben sich sie besitzen einen festen knöchernen Kopf-
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 119

.. Abb. 2.25 a–g  Fos-
sile Agnatha. a Errivaspis
(Heterostraci), Devon,
1
Europa; b Torpedaspis (He-
terostraci), Devon, Kanada; 2
c Drepanaspis gemuendensis
(Heterostraci), Devon,
Hunsrück; d Sacabambaspis 3
(Arandaspida), Ordovizium,
Bolivien; e Ateleaspis (Ce-
phalaspida = Osteostraci), 4
Silur, Schottland; f Loga-
nellia (Thelodonti), Silur,
Schottland; g Rhyncholepis 5
(Anaspida), Silur, Norwegen

6
7
8
9
10
schild und einen von länglichen Einzelplatten Details der Nasenanatomie ähneln denen der 11
bedeckten Körper. Schwanzflosse symmet- Schleimaale. Unteres Silur bis oberes Devon,

- 12
risch. Das gut erhaltene Material von Saca- Funde aus China und Vietnam.
bambaspis zeigt, dass dieses Tier als einziges Thelodonti: Meist flache, mit kleinen Schup-
Wirbeltier paarige Pineal- und Parapinealor- pen bedeckte Formen, oder auch seitlich
gane besaß, die vermutlich Lichtsinnesorgane komprimierte Arten mit z. T. symmetrischen 13

-
darstellten. Schwanzflossen wie die frühen Heterostraci.
Astraspida: Kleine, den Heterostraci ähnliche Teilweise schräg aufsteigende Reihe von Kie- 14
Formen aus dem Ordovizium. Heterostraci, menöffnungen, wie bei Neunaugen und Anas-
Arandaspida und Astraspida bilden eine pida. Bei den Funden aus dem Silur Kanadas
Verwandtschaftsgruppe, die Heterostraci im war offensichtlich ein Magen vorhanden,
15

-
weiteren Sinne. der den rezenten Agnathen fehlt. Loganellia

-
Cephalaspida (= Osteostraci): Diese For- (. Abb. 2.25f). Silur, Devon. 16
men weisen einige Übereinstimmungen mit Pituriaspida: Mit Kopfschild, ähneln äußerlich
Neunaugen, aber auch mit Placodermen auf. den Galeaspida und Cephalaspida, mittleres 17
-
Der Schwanz war heterozerk, eine Besonder- Devon Australiens.
heit sind zwei Brustflossen. In den großen Anaspida: Kleine, noch wenig bekannte, spin-
Kopfschild waren Felder mit sensorischen delförmige Fische. Unteres Silur bis oberes De- 18
Strukturen eingebaut, die mit dem Innenohr in von Nordamerikas, Europas und Chinas. Kein

- 19
Verbindung standen. Ateleaspis (. Abb. 2.25e). Kopfschild, einige anatomische Ähnlichkeiten
Galeaspida: Ähneln den Cephalaspida, besa- mit Neunaugen und Cephalaspida. Einige
ßen aber keine Brustflossen. Zum Teil bizarre Formen (Pharyngolepis) mit langer paariger
Gestalt der Kopfschilde (Sanchaspis), viele Bauchflosse. Rhyncholepis (. Abb. 2.25g).
20
120 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

Neben Agnatha traten die ersten Gnathostomata


auf, die 10–20 cm langen Acanthodii, aber auch viel
größere Formen. Die Acanthodii trugen zahlreiche
paarige Flossen mit spitzen Dornen. Kiefer, paarige
Flossen und Schuppen erinnern schon an moderne
Fische. Am Ende des Silur tauchten auch erste Pla-
codermen (Panzerfische) auf. Sie sind ebenso wie
die Acanthodier gnathostome Wirbeltiere.

Pflanzen ragen in die Luft


Das Leben außerhalb des Wassers war im Silur noch
spärlich entwickelt. Es erschienen die ersten Gefäß-
pflanzen auf dem Land, die Psilophytales mit den
Rhyniales. Sie waren zunächst auf Sumpfgebiete be-
schränkt und überzogen das Festland mit einer im-
mer größer werdenden Vielfalt. Psilophytales bedeu-
tet „Nacktpflanzen“: Ihre Sprosse besaßen noch keine
.. Abb. 2.26  Cooksonia bohemica (Silur, Böhmen) mit
Blätter, echte Wurzeln fehlten ihnen auch noch. Ihre Graptolithen (Pfeile). Das abgebildete Stück ist der bisher
Sporangien befanden sich in endständiger Position. vollständigste Fund dieser Gattung frühester Gefäßpflanzen.
Die erste mit Leitbündeln und Spaltöffnun- Nach Schweitzer (1990)
gen ausgestattete Landpflanze war Cooksonia
(. Abb. 2.26), die zu den Psilophytales gestellt Zellen. Entwicklung der Zygote zu einem Embryo
wird; sie ist z. B. aus dem Silur der Britischen Inseln im Schutze der Mutterpflanze, Sporen mit Sporo-
und Böhmens bekannt und hat ein Alter von etwa polleninwand, Reduktion der haploiden Gameto-
420 Mio. Jahren. Noch älter sind Sporenreste, die phyten, heteromorpher Generationswechsel, dip-
man allerdings keiner bestimmten Pflanze zuord- loide Sporophytengeneration mit Kormusbauplan
nen kann. (Achse, Wurzel, Blatt). Die Besiedlung des Landes
Das Landleben der Pflanzen brachte erhebliche durch Pflanzen hatte enorme Konsequenzen für die
evolutionäre Neuerungen mit sich: Epidermis mit gesamte Erde. Die Zusammensetzung der Atmo-
Spaltöffnungen (Stomata) zum Gasaustausch und sphäre wurde verändert, damit auch Wetter und
mit Cuticula (als Verdunstungsschutz), Wurzeln Klima; es kam zur Bodenbildung und schließlich
zur Verankerung, Stoffaufnahme und zum Trans- zu einer grundsätzlichen Änderung biogeochemi-
port, Leitgewebe mit Xylem aus Tracheiden zum scher Zyklen.
Wasser- und Ionentransport sowie Phloem zum Am Ende des Silur erschienen bärlappähnliche
Transport organischer Stoffe, verschiedene Mecha- Gefäßsporenpflanzen, und mit der terrestrischen
nismen, um die Biegungsstabilität des Pflanzenkör- Vegetation entstanden Lebensraum und Nahrungs-
pers zu erhöhen (Lignin, Sklerenchym), Umhüllung quelle für viele Tiere, z. B. Skorpione, Spinnen und
der Gametangien (Archegonien und Antheridien) Tausendfüßer, alles Formen mit Chitincuticula.
und der Meiosporangien mit einem Mantel steriler
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 121

  EXKURS 2.4  

Eiszeitliche Geschiebe – Fenster in die Vergangenheit der


1
nordischen Länder
2
Pleistozäne Eismassen haben im Verlauf von meh- haben) letztlich zur Glazialtheorie, welcher der
reren Vorstößen bis vor über 10.000 Jahren riesige schwedische Geowissenschaftler Otto Torell 1875
Mengen von Gesteinen von ihrer ursprünglichen zum endgültigen Durchbruch verhalf. Er hatte in 3
Lagerstätte im Norden, zum Beispiel in Skandina- Rüdersdorf bei Berlin Gletscherschrammen im an-
vien, dem Baltikum oder dem Ostseegrund, nach stehenden Muschelkalk gefunden, die auf harte 4
Süden transportiert und hier nach dem Abschmel- Findlinge zurückgingen.
zen wieder abgelagert. Solche Geschiebe bie-
ten auf kleinstem Raum Gesteine (und Fossilien)
Mittlerweile ist die Geschiebeforschung Be-
standteil vieler geowissenschaftlicher Diszipli-
5
unterschiedlichen Alters. Die Oberfläche Nord- nen. Größte Bedeutung hat sie für die nordische
deutschlands und der Nachbarstaaten Nieder- Geologie. Durch die starke Erosionskraft des Eises 6
lande, Dänemark und Polen wird zu großen Teilen können wesentliche Teile der Erdgeschichte des
von quartären Ablagerungen gebildet. Zwar hat Ostseeraumes nur noch aus Geschieben ermittelt 7
das pleistozäne Eis mit seiner Schuttdecke den werden. Zeugnisse der ehemaligen Bedeckung
vorquartären Untergrund der genannten Gebiete blieben lediglich dort erhalten, wo sie vor Erosion
unserem unmittelbaren Zugriff entzogen, aber geschützt waren, entweder durch vulkanische De- 8
andererseits Fossilien aus verschiedenen Erdzeit- cken (z. B. Kinnekulle), durch Einsenkung infolge
altern herantransportiert. Man findet sie an oder eines Meteoriteneinschlags (z. B. Siljan-Ring) oder 9
vor Steilufern der Ostsee, in Kiesgruben, an Baustel- durch tektonische Einsenkung (Oslograben). Das
len, auf Äckern und bei der Gartenarbeit. Wenn das
Herkunftsgebiet der in Mitteleuropa gefundenen
im Oslograben anstehende, jedoch geringmäch-
tige Karbon wurde z. B. erst nach entsprechenden
10
Geschiebe nördlich der Ostsee liegt, spricht man fossilführenden Geschiebefunden entdeckt.
von Ferngeschieben; bei weniger weit im Norden Zur Bestimmung von Alter und Herkunft sedi- 11
gelegener Herkunft von Nahgeschieben. Lokalge- mentärer Geschiebe werden häufig Mikrofossilien
schiebe stammen von eng begrenzten Aufragun- herangezogen. Dadurch können auch kleine Ge- 12
gen des Untergrundes in unmittelbarer Umgebung schiebemengen genau datiert werden.
des Fundortes. Für die Flachlandsgeologie spielen Lokalge-
Geschiebe fanden schon in prähistorischer Zeit schiebe eine bedeutende Rolle, da der Untergrund 13
Verwendung, zum Beispiel beim Bau von Hünen- von pleistozänen Ablagerungen völlig bedeckt ist.
gräbern, die aus Findlingen (Großgeschieben) er- Ein bekanntes Lokalgeschiebe ist der Sternberger 14
richtet wurden. Im Mittelalter schrieb man Geschie- Kuchen (. Abb. 2.27a) aus dem Oligozän Meck-
ben vielerorts magische Kräfte zu. Feuersteine mit
einem Loch wurden als „Hühnergötter“ benutzt,
lenburgs, aus dem mehr als 500 verschiedene Ar-
ten beschrieben wurden. Das Holsteiner Gestein
15
um die Legeleistung von Hennen zu fördern. (. Abb. 2.27d) aus dem Miozän enthält über 200
Die wissenschaftliche Periode der Geschie- Mollusken-Arten und wurde früher im Raum um 16
beforschung begann im 17. Jahrhundert mit der Plön als Grabschmuck verwandt.
Frage nach Herkunft und Transport des Orthoce- Aus dem Paläozoikum finden sich insbeson- 17
renkalkes (s. u.), der häufig an der Ostseeküste zu dere kambrische, ordovizische und silurische Fos-
finden ist. Seine Nutzung als Baumaterial mittels silien. Die Kalkgeschiebe aus Ordovizium und Silur
schwedischer Importe führte über die Theorie der sind im Allgemeinen fossilreich. Zu den ältesten
18
Rollsteinflut (Überflutungen sollten nordisches Vertretern gehören die Wohnbauten sedentärer
Gestein nach Norddeutschland transportiert ha- Polychaeten (Scolithos und Diplocraterion), die in 19
ben) und die Drifttheorie (Eisberge sollten nordi- unterkambrischen Sandsteinen häufig vorkom-
sches Gestein nach Norddeutschland transportiert men.
20
7
122 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.4 (Fortsetzung) 

.. Abb. 2.27 a–d  Norddeutsche Geschiebe. a Sternberger Gestein, als „Mecklenburger“ angeordnet; b Xenusion


auerswaldae, Dorsal- und Lateralansicht; c Liaskugel mit Ammoniten (Eleganticeras); d Holsteiner Gestein. Photos; a–c: I.
Hinz-Schallreuter

Am spektakulärsten ist das kambrische Fossil oder keulenförmiger Gestalt, die in Ordovizium
Xenusion auerswaldae, beim Umgraben eines Gar- und Silur des Ostseegebietes entdeckt wurden
tens in der Prignitz (zwischen Schwerin und Berlin) und in dieser Zeit in Europa besonders häufig wa-
gefunden und von einigen Autoren als frühes Ony- ren.
chophor interpretiert (. Abb. 2.27b). Am häufigs- Wegen ihres Umfanges hat man Kalkgeschiebe
ten findet man Trilobiten (z. B. Paradoxides) und mancherorts (z. B. in der Lausitz und Uckermark) zur
auch die meistens zu ihnen gestellten Agnostida Gewinnung von Mörtelkalk gebrannt, und Fossili-
(. Abb. 2.8a). Seltener ist der Volborthellen-Sand- ensammler haben sich nahe den Brennöfen auf die
stein. Volborthella ist ein Fossil des Unterkambri- Suche nach frühen Lebensspuren gemacht.
ums und wurde lange als ein früher Cephalopode Hauptvertreter der ordovizischen Geschiebe ist
angesehen. In grauen Sandsteinen findet man der Orthocerenkalk, der vielerorts zu Grabsteinen
bisweilen Hyolithen (. Abb. 2.11b), deren syste- und Fußbodenbelägen verarbeitet wurde. Man fin-
matische Einordnung nicht sicher ist. Die häufigen det ihn in dieser verbreiteten Form in Hafenstädten
Chitinozoa kann man bisher gar nicht einordnen. der Ostsee, aber auch in den Niederlanden als ro-
Es handelt sich um merkmalsarme, radiärsymmet- ten Gehwegbelag. Ceratopyge-Kalk enthält die auch
rische Mikrofossilien (bis 1,5 mm) von flaschen- im Ordovizium häufigen Trilobiten Ceratopyge und
7
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 123

 EXKURS 2.4 (Fortsetzung) 
Pliomera; er ist oft besonders bunt gefärbt. Verbrei- die daher vielfach zeitlich nicht eingeordnet wer- 1
tet sind in Geschieben aus dem Ordovizium auch den können. Große Gebiete waren auch landfest,
Graptolithen und Conodonten. so dass in dieser Region keine marine Sedimenta- 2
Silurische Gesteine erreichen in Schonen (Süd- tion stattfand. Aus dem unteren Jura sind die so
schweden) 1000 m Mächtigkeit und auf Gotland genannten Liaskugeln mit dem in aragonitischer
über 600 m. Verbunden mit der außerordentlichen Perlmuttschicht erhaltenen Ammoniten (Eleganti-
3
Zunahme der riffbildenden Tabulata findet man ceras elegantulum, . Abb. 2.27c) berühmt. Aus Li-
diese Korallen in Geschieben, dazu auch Graptoli- askugeln stammen auch zahlreiche Insektenfunde 4
thengestein und Fische (Agnatha und Acanthodii). sowie Saurierknochen (z. B. des Ornithischiers
Ein besonders häufiges Silurgeschiebe ist der Bey-
richienkalk (Beyrichia: 2–8 mm langer Ostracode)
Emausaurus, benannt nach der Ernst-Moritz-Arndt-
Universität [EMAU] in Greifswald). Hervorzuheben
5
mit Trilobiten, Brachiopoden, Tentaculiten und vie- sind auch die fossilreichen Mitteljura- oder Dog-
len anderen, wobei die Beyrichien auch gesteins- gergeschiebe (Kellowaygeschiebe), die zahlreiche 6
bildend auftreten können. Mollusken, z. T. mit Schalenerhaltung und origina-
Aus dem Zeitraum Devon bis Trias sind ver- ler Farbstreifung, enthalten. Auch in Kreidegeschie- 7
gleichsweise wenig Geschiebe bekannt. Ein Grund ben findet man zahlreiche Fossilien (vgl. Rügen,
liegt in der Fossilarmut der betreffenden Gesteine, EXKURS 2.15 Abschn. 2.3.3).
8
9
2.2.4 Devon
Das Devon (416–359 Mio. Jahre vor heute) erhielt
10
seinen Namen nach der südenglischen Grafschaft
|
Übersicht              | Devonshire, wo Gesteinsabfolgen aus dieser Zeit 11
Reich in Mitteleuropa repräsentiert: Dachschie- ausgebildet sind. Allerdings gibt es andernorts devo-
fer im Hunsrück, Riffe im Rheinland und im nische Gesteine mit sehr viel besser erhaltenen Fos- 12
Harz, Kalke in Sachsen und Thüringen. Rasche silien, z. B. auch in den deutschen Mittelgebirgen.
Entfaltung der Gnathostomata. Fische domi- Sie wurden abgelagert, bevor hier im Karbon das
nieren in Meer und Süßwasser und bringen variscische Gebirge (s. EXKURS 2.2 Abschn. 2.2.2) 13
Riesenformen hervor. Neben den meist lang- entstand.
gestreckten Cephalopoden (Nautiloida) gibt es Das Devon war das Zeitalter des großen Nord- 14
jetzt auch zunehmend Formen mit aufgerolltem kontinentes (Old-Red-Kontinent, . Abb. 2.28), an
dessen Südrand bis 5000 m mächtige Sediment-
Gehäuse (Nautiloida und Ammonoida). Der
schichten entstanden. Aus dieser Zeit stammt der
15
Meeresboden wird weiterhin von Rugosa und
Tabulata besiedelt. Auf dem Land entstehen Hunsrückschiefer, der in einer Meeresbucht mit
komplexe Lebensgemeinschaften aus Pflanzen sauerstoffarmem Tiefenwasser entstand. Umfang- 16
(Psilophyten, Bärlappen, Farnen und Schach- reiche Riffe, z. B. im Rheinischen Schiefergebirge
telhalmen) und Tieren. Insekten treten in Er- (s. EXKURS 2.6), sind ein Hinweis auf relativ hohe 17
scheinung. Die ersten Wirbeltiere besiedeln das Temperaturen. Viele Formen wärmeliebender ma-
riner Flachwasserorganismen hatten eine besonders
Land: es entstehen die Tetrapoden. Ende Devon:
Faunenschnitt. weite Verbreitung. 18
19
20
124 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.28  Die paläogeographische Situation im Devon: Avalonia – von Gondwana stammend – hat sich an Laurentia-Bal-
tica angeschlossen (Akkretion). Es ist der Old-Red-Kontinent entstanden. Außer ihm liegen Sibirien, Kasachstan und Nordchina
auf der Nordhalbkugel. Der Rheische Ozean trennt die Nordkontinente von Gondwana. Nach Scotese u. Wertel (2006)

  EXKURS 2.5  

Hunsrückschiefermeer: Einblicke in die marine Lebenswelt vor fast


400 Mio. Jahren
Im Devon war die Erde in der Verteilung der Konti- (. Abb. 2.29), nach denen zahlreiche Formen be-
nente und Ozeane völlig verschieden von dem uns nannt wurden (z. B. Gemuendina und Bundenba-
vertrauten Bild des heutigen Globus (. Abb. 2.28). chia).
Da eine zusammenhängende Pflanzendecke auf Im Rahmen der Gewinnung und Verarbeitung
den Kontinenten bis ins späte Devon noch nicht dieses Schiefers wurden schon im 19. Jahrhundert
existierte, bewirkten Wind und Niederschlag eine Fossilien gefunden. Inzwischen hat sich der Huns-
intensive Abtragung, so auch von dem im Nor- rückschiefer als eine erdgeschichtliche Schatz-
den des heutigen Rheinischen Schiefergebirges kammer erwiesen, aus der man etwa 400 fossile
liegenden Old-Red-Kontinent. Vorgelagert war Organismenarten kennt. Der Schlüssel zu dieser
ein Schelfmeer, das nach Süden in einen tieferen Schatzkammer liegt im Pyrit (FeS2) und im Rönt-
Meeresraum überging und in das Flüsse im Verlauf gengerät. Der Pyrit verdankt seine Bildung dem
von 25 Mio. Jahren Abtragungsschutt, Sand und Schwefel in tierischen Geweben und Eisenionen
Schlick transportierten. aus dem anoxischen Sediment, das von anaero-
Daraus wurde unter anderem der Hunsrück- ben Bakterien besiedelt wurde. Da der Pyrit ein
schiefer, der schon zur Römerzeit abgebaut wurde hohes Absorptionsvermögen für Röntgenstrahlen
und der heute aus dem Hunsrück und seiner Um- hat, lassen sich die Fossilien im Röntgengerät oft
gebung als Dachschiefer und Fassadenverkleidung bis in feine Details darstellen. In Parapodien von
nicht wegzudenken ist. Auch zur Herstellung von Polychaeten sieht man Muskelzüge, an Seester-
Schiefertafeln fand das Material Verwendung. In nen erkennt man Ambulakralfüßchen, Trilobiten
besonders typischer Ausbildung und mit vielen zeigen Mitteldarmdrüsen und den Verlauf der
Fossilien findet man den Hunsrückschiefer in einem Nervenbahnen, die Komplexaugen und Gehirn
Gebiet um die Orte Gemünden und Bundenbach verbinden.

7
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 125

 EXKURS 2.5 (Fortsetzung) 
Zu den Trilobiten zählt auch das häufigste Fos- einen S‑förmigen „Wurm“ (Hicetes) umschlossen, 1
sil des Hunsrückschiefers, Chotecops ferdinandi. Als der vielleicht ein Parasit war. Die Fischfauna um-
besonders auffällige Vertreter der Arthropoden fasste Agnatha (kieferlose Wirbeltiere, s.  Ab- 2
sind außerdem der bizarre „Scheinstern“ Mimetas- schn. 2.2.3), zum Beispiel Drepanaspis gemuenden-
ter (. Abb. 2.29a), der mit Marrella (. Abb. 2.7d) sis (. Abb. 2.25), der zu den Heterostraci zählt. Die
verwandt ist, und der Krebs Nahecaris zu nennen. Art wurde nach der Ortschaft Gemünden genannt,
3
Aus dem Bereich der frühen Chelicerata lebte im ebenso wie die Gattung Gemuendina
Hunsrückschiefermeer der Pfeilschwanz Weinber- (. Abb. 2.34g), ein rochenartig abgeflachter Pla- 4
gina (. Abb. 2.29c). Als früher Pantopode wird coderme, also ein Fisch, der zu den Gnathostomata
Palaeoisopus (. Abb. 2.29b) angesehen. Beson- (s. Abschn. 2.2.4) zählt. Auch Lungenfische (Dip-
5
ders bemerkenswert sind die vielen Echinoder- norhynchus) hat man gefunden. Sie sind ursprüng-
men, z. B. die ausgezeichnet erhaltenen verschie- lich Bewohner des Süßwassers – wo sie auch heute
denartigen Seelilien (Hapalocrinus, Taxocrinus), von noch vorkommen –, aber im Devon drangen sie 6
den bislang etwa 70 Arten aus dem Hunsrückschie- auch in Meere ein.
fer bekannt sind, See- und Schlangensterne (Heli- Die Zeugnisse der Pflanzenwelt sind dagegen 7
anthaster (. Abb. 2.29d), Furcaster (. Abb. 2.1) bescheiden. Aus dem Meer kennt man z. B. Grün-
sowie Holothurien (Palaeocucumaria). Verbreitet
waren Brachiopoden und Muscheln, aber auch Co-
algen (Receptaculites). Dazu kommen eingespülte
Teile von Psilophyten (Psilophyton, Taeniocrada)
8
nularien, Goniatiten und Tentaculiten. Die Korallen- und Bärlappgewächsen. Nach wie vor ein Rätsel
gattungen Zaphrentis (Rugosa) und das koloniale stellt Prototaxites dar. Es handelt sich um einen 9
Pleurodictyum (Tabulata) waren häufige Bewohner mehrere Meter hohen Organismus, der zwischen
des devonischen Flachmeeres im Rheinland. Letz- Psilophyten lebte. Derzeit interpretiert man ihn als 10
tere bildeten polsterförmige Kolonien, die häufig Pilz oder Flechte.

11
12
13
14
15
16
17
18
19
.. Abb. 2.29 a–c  Die Karte zeigt die heutige Verbreitung des Dachschiefers im Rheinischen Schiefergebirge. a Mimet­
aster, b Palaeoisopus, c Weinbergina, d Helianthaster
20
126 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

  EXKURS 2.6  

Devonische Riffe in der Eifel


Riffe sind im Devon des Rheinischen Schiefergebir- rolstein sind Reste eines großen Stromatoporenriffs
ges verbreitet (. Abb. 2.30). Ihre maximale Entwick- aus dem Mitteldevon. Stromatoporen erlebten ih-
lung hatten sie im Mitteldevon, und sie reichten bis ren Höhepunkt im Devon. Sie konnten im Riffkern
ins Oberdevon. Besonders gut bekannte und sehr große Blöcke bilden, existierten jedoch auch als
umfangreiche Riffkomplexe kennen wir linksrhei- inkrustierende Kolonien, die als Sedimentfestiger
nisch aus der Eifel (bei Prüm, Gerolstein, Hillesheim, dienten. Bekannte Gattungen waren Stromatopora
Dollendorf, Blankenheim und Sötenich). Rechts- und Actinostroma.
rheinisch verläuft ein Riffgürtel entlang der Ruhr Die Korallengruppen der Rugosa und Tabulata
(Wülfrath, Dornap, Hagen, Warstein, Brilon). Riffe waren weitere Bestandteile der mitteldevonischen
findet man auch etwas weiter südlich von Bergisch- Riffe der Eifel. Die Rugosa haben große Einzelko-
Gladbach sowie von Attendorn und schließlich im rallen hervorgebracht, z. B. Dohmophyllum mit ei-
Lahngebiet. Die Riffe entlang der Lahn sind auf nem Durchmesser um 10 cm, aber auch koloniale
erloschenen Vulkanen herangewachsen. Den Dom Formen, z. B. Disphyllum (. Abb. 2.1). Auch die Pan-
der Stadt Limburg an der Lahn hat man auf einem toffelkoralle (Calceola sandalina, . Abb. 2.16a–c)
devonischen Riffkalk errichtet. Aus diesem Gestein, ist von Gerolstein bekannt und wurde sogar auf
dem ansprechenden Lahnmarmor, ist auch der Brü- Äckern gesammelt. Die Tabulata sind am Riffaufbau
ckenheilige auf der alten Brücke geschlagen. mit einer Reihe kolonialer Formen verbreitet, z. B.
Unter den Riffbauern der Eifel, die besonders Favosites, Heliolites und Pleurodictyum.
schön im Naturkunde-Museum, 54568 Gerolstein, Weitere dominierende Gruppen auf dem Riff
Eifel dargestellt sind, spielten die Stromatoporen oder in dessen unmittelbarer Umgebung sind Mol-
eine besondere Rolle. Die Dolomitfelsen von Ge- lusken mit Schnecken (unter anderem den auch

.. Abb. 2.30 Ver-
breitung devo-
nischer Riffe im
Rheinischen Schie-
fergebirge. Die
Raster bezeichnen
Rifftypen: 1: isolierte
Riffe (häufig Atolle)
auf einer ausge-
dehnten Carbonat-
plattform, 2: Riffe
am äußeren Schelf­
rand (= Diagonale),
3: weiträumige
Carbonatplattform
im Schelfbereich, 4:
Riffe auf untersee-
ischen Vulkanen.
Nach Krebs (1974)
7
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 127

 EXKURS 2.6 (Fortsetzung) 
heute noch existierenden Gattungen Turbo und Auch Fische sind aus devonischen Riffen über- 1
Pleurotomaria sowie Bellerophon), Muscheln und liefert. Eine besonders reiche marine Wirbeltier-
Kopffüßern. Unter den letzteren sind die großen fauna ist aus dem Gebiet bei Bergisch-Gladbach 2
Exemplare von Cyrtoceras hervorzuheben. (nahe Köln) bekannt. Sie enthält z. B. Acanthodii
Trilobiten waren verbreitete vagile Tiere, u. a. (Protogonacanthus), Crossopterygii (Ctenurella,
Harpes (. Abb. 2.1) und Otarion. Unter den sessilen Nesides) und Actinopterygii. Nesides steht der re-
3
Formen sind die reichen Brachiopoden- und Crino- zenten Gattung Latimeria recht nahe.
idenbestände zu nennen. 4
5
6
7
8
.. Abb. 2.31 a–c  Ammonoidea.
a Median aufgeschnittener Ammonit.
b Kammerscheidewand (Septum),
9
c Steinkern: solche Kammerausfüllun-
gen sind z. B. von Helgoland als „Katzen-
pfötchen“ bekannt. Sie stammen von
10
dem Kreide-Ammoniten Ancyloceras.
Nach Ward (1989) 11
Die Wirbellosenfauna des Devon ähnelt der im von verwendet. An Land erschienen apterygote In- 12
Silur. Korallen (Rugosa, Tabulata) nahmen weite sekten (Collembola).
Areale der Flachmeere ein. Die großen Nautiloida
aus Ordovizium und Silur waren zwar ausgestorben; Ammonoida (= Ammonoidea) 13
dafür gab es jetzt kleinere Formen, deren Schale Die Ammonoida sind eine etwa 12.000 Arten um-
meist zu einer Spirale aufgerollt war, der rezenten fassende Gruppe fossiler Cephalopoden, meist 14
Gattung Nautilus (. Abb. 2.78f) vergleichbar. Aus mit einer spiraligen Schale (oft Gehäuse genannt;
den kleinen Bactriten (s. Abschn. 2.2.4) entstanden . Abb. 2.31). Über 350 Mio. Jahre waren sie domi-
später die Ammonoideen, die die Flachmeere bis nierende Formen der Meere. Sie sind seit dem frü-
15
zum Ende des Mesozoikums mit einer unglaub- hen Devon überliefert und starben Ende der Kreide
lichen Formenfülle besiedelten. In diesem langen aus. In dieser langen Zeit haben sie eine sehr wech- 16
Zeitraum von 300 Mio. Jahren liefern sie der Wis- selhafte Geschichte durchgemacht (. Abb. 2.32).
senschaft besonders wichtige Leitfossilien. Viele sind Nicht immer sind sie ganz leicht gegen die Nautilo- 17
zudem ästhetisch so ansprechend, dass man sie als ida abzugrenzen. Abgesehen von der äußeren Form
Ausstellungsstücke schätzt und vielfach zu Schmuck (die meisten Ammonoida haben spiralige Schalen,
verarbeitet hat. Unter den Nautiloideen überwogen nur wenige unregelmäßige oder nicht eingerollte; 18
teilweise oder völlig eingerollte Arten. Die Trilobi- viele Nautiloida haben gestreckte Schalen) sind fol-

- 19
ten kamen in vielen Arten vor und waren oftmals gende Unterschiede wichtig:
bestachelt und mit Skleroproteinwülsten versehen, Der Siphunkel (Sipho) ist bei den Ammono-
manche konnten sich einrollen. Ostracoden waren ida meist dünn und liegt am Außenrand der
verbreitet und werden als Leitfossilien im Oberde- Schale (. Abb. 2.31a); bei den Nautiloida ist
20
128 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.32 Verteilung
der Ammonoida in der Zeit.
Die Anzahl der Gattungen
ist mit dem Meereswasser-
spiegel korrelierbar: War
dieser hoch, gab es auch
viele Gattungen. In Zeiten
extremer Transgression gab
es Heteromorphe. Beachte
die großen Aussterbeereig-
nisse Ende des Devon, Ende
des Karbon, im Perm, Ende
der Trias und Ende des Jura,
die jeweils mit sinkendem
Meereswasserspiegel zu-
sammenfallen. Nach Wied-
mann u. Kullmann (1996)

er umfangreich, oft mit Kalkeinlagerungen Unter den Ammonoida sind die Ammoniten aus
versehen, seine Lage in der Schale variiert, ist Jura- und Kreidezeit die bekanntesten Formen und

-
jedoch meist zentrisch. haben Menschen schon sehr früh beeindruckt. Sie
Die Kammerscheidewände (Septen) der Am- gehören zweifellos zu den auffälligsten und schöns-
monoida (. Abb. 2.31b) sind, abgesehen von ten Fossilien und fanden schon früh Eingang in die
den ältesten, gerade oder zur Wohnkammer Sagenwelt. Benannt wurden sie nach dem altägypti-
hin gewölbt (opisthocöl), bei den Nautiloida schen Gott Ammon (Amun), dem der Widder heilig
sind sie dagegen zur Anfangskammer gewölbt war, an dessen Hörner die Ammoniten („Ammons-

-
(procöl). hörner“) erinnern.
Die Lobenlinien, das sind die Verwachsungs- Im Vordergrund des wissenschaftlichen Inter-
linien der Kammerscheidewände mit der esses stehen die Ammonoideen wegen ihres hohen
Innenseite der Schalenwand, sind bei den Am- Wertes als Leitfossilien. Sie liefern das Grundgerüst
monoida, vor allem in ihrer späten Entwick- für die zeitliche Untergliederung von Trias, Jura und
lungsphase, kompliziert (. Abb. 2.31), bei den Kreide und sind die „Ziffern auf der Uhr“ dieses
Nautiloida im Allgemeinen geschwungen oder Zeitabschnittes der Erdgeschichte. In der Kreide,
gerade (. Abb. 2.18). Die Lobenlinien sind also kurz vor ihrem Aussterben, brachten sie Rie-
nur dann sichtbar, wenn die Gehäusewand senformen, z. B. Parapuzosia (Durchmesser des
(Schale) fehlt und nur noch der Steinkern des größten Fundstückes 1,8 m; ursprünglicher Durch-
Ammoniten erhalten ist. Tatsächlich ist das messer 2,5 m) und so genannte heteromorphe For-
häufig der Fall (. Abb. 2.31c). men (. Abb. 2.32, 2.33) hervor, deren Windungen
nicht mehr planspiralig angelegt sind.
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 129

.. Abb. 2.33 a–c  Heteromorphe
Ammoniten. a Nipponites, b Nostoceras,
c Didymoceras. Nach Ward (1989)
1
2
3
4
5
6
Die Ausgangsgruppe der Ammonoida sind wohl Ordnungen: Prolecanitida und Ceratitida. Zu 7
die kleinen, paläozoischen Bactritida (. Abb. 2.32), letzteren zählen die meisten Trias-Ammonoi-

-
die äußerlich den Orthoceraten (. Abb. 2.18a) äh- den (. Abb. 2.49).
neln, aber einen dünnen, marginalen Siphunkel Die Neo-Ammonoida (= „Ammoniten“) 8
besaßen. Ihre Schale war gerade (Bactrites) oder schließlich sind auf Jura und Kreide be-
schwach gebogen (Cyrtobactrites). Von ihnen sind schränkt. Auf sie entfallen vier Ordnungen: 9
wohl auch die Coleoida abzuleiten. Bactritida exis- Lytoceratida, Ammonitida, Ancyloceratida
tierten von Devon bis Perm. und Phylloceratida, . Abb. 2.32). Zu den An-
Die Systematik der Ammonoida ist kompliziert, cyloceratida gehören die „Kreide-Heteromor-
10
auch noch nicht generell akzeptiert, lässt sich aber phen“ mit ihren stark abgewandelten Schalen

-
folgendermaßen vereinfachen: (. Abb. 2.32, 2.33). Baculites ist stabförmig, 11
Die Palaeo-Ammonoida (= „Goniatiten“ im Turrilites (. Abb. 2.32) ist wie eine Schnecke
weiteren Sinne) sind auf das Paläozoikum (z. B. Turritella) schraubig gewunden, Crio- 12
(Devon-Perm) beschränkt. Im Perm folgte ein ceratites stellt eine lose Spirale dar (ähnlich
sehr starker Rückgang, in dessen Verlauf diese sieht die jurassische Gattung Spiroceras
Gruppe ausstarb. Palaeo-Ammonoida werden (. Abb. 2.32) aus). 13
in drei Ordnungen gegliedert: Die devonischen
Anarcestida (. Abb. 2.32) gelten als Ausgangs- Ammonoida sind die mit am intensivsten un- 14
formen aller späteren Ammonoida. Sie haben tersuchten Fossilien, und an ihnen lässt sich die
nur eine geringe Anzahl von Loben; die Loben- Schwierigkeit paläontologischer Forschung ein-
linien sind einfach. Die Clymenida hatten ihre schließlich der Irrwege aufzeigen.
15
Blütezeit im späten Devon. Von ihnen gibt es in Erst spät erkannte man ihren Geschlechtsdimor-
Europa und Nordafrika besonders viele Arten. phismus (Weibchen sind oft viel größer als Männ- 16
Die Goniatitida (. Abb. 2.32) sind vorwiegend chen), ebenfalls sehr spät wurde die erste Radula
jungpaläozoisch verbreitet. Ihre Lobenlinien entdeckt (mit sieben Zähnen pro Reihe), die belegt, 17
-
sind einfach und gewinkelt (gonion = Winkel). dass Ammonoida und Coleoida relativ eng mitei-
Die Meso-Ammonoida (= „Ceratiten“) sind nander verwandt sind. Lange währte der Streit um
seit dem späten Perm bekannt und existieren Aptychen und Anaptychen. Erstere sind zweiklap- 18
zum Teil bis zum Ende der Trias. Sie erlebten pige Calcitstrukturen, die eine gewisse Ähnlichkeit
in der Trias eine starke Entfaltung, nachdem mit Muscheln haben, letztere waren ursprünglich 19
das Überleben der Ammonoida Ende Perm am wohl chitinig und sehen aus wie auseinanderge-
seidenen Faden gehangen hatte (. Abb. 2.32). klappte Muscheln. Heute ist man der Ansicht, dass
Zu den Meso-Ammonoida zählt man zwei es sich um Kieferteile von Ammonoida handelt.
20
130 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

Die meisten Ammonoida lebten in Bodennähe, Gattung Gemuendina (. Abb. 2.34g). Die Placoder-
bevorzugt im Schelfbereich. Die Fortbewegung er- men starben noch im Devon aus.
folgte wohl langsam, manche können kriechende Auch die Acanthodii (. Abb. 2.34c), die schon
Bodenbewohner gewesen sein. Ihre wenig scharfen im Silur erschienen, waren freischwimmende gna-
Kieferapparate lassen vermuten, dass sie ihre Nah- thostome Fische. Sie waren im Devon verbreitet und
rung eher einsammelten als erjagten. Ammonoida starben im Perm aus. Kopf und Körper dieser meist
wurden wohl mehrere Jahre alt (wie auch Nautilus, kleinen Fische waren oft mit Knochenplatten und
aber im Gegensatz zu den rezenten Coleoida, die oft Schuppen bedeckt, bisweilen war das Hautskelett
in einem Jahr heranreifen). stark rückgebildet. Zähne sind vorhanden. Die Flos-
Sie selbst wurden Opfer von Mosasauriern, Ple- sen werden von starken Stacheln an ihrem Vorder-
sio- und Ichthyosauriern, von Schildkröten, Fischen rand gestützt. Neben den paarigen Flossen kommen
und von größeren Individuen ihresgleichen. seitlich am Körper bis zu sechs Paar Dornen (oder
Flossen?) vor, daher auch der deutsche Name „Sta-
Gnathostomata und Landgang chelhaie“. Eine verbreitete Gattung war Acanthodes,
der Wirbeltiere z. B. mit A. bronni in der Pfalz und im Saargebiet.
Im Devon entfalteten sich die kiefertragenden Eine nur 8 cm lange Kleinform war Climatius.
Wirbeltiere, die Gnathostomata, geradezu explosiv. Haie (Chondrichthyes) gehörten ebenfalls
Sie besitzen einen Kieferapparat, der sich aus dem zu den verbreiteten Fischen der devonischen
vorderen Kiemenbogensystem der Kieferlosen, der Meere, z. B. Cladoselache und Ctenacanthus
Agnatha, entwickelt hat. Dieser Neuerwerb erwies (. Abb. 2.34d).
sich rasch als erfolgsbringendes Instrumentarium, Im Devon traten die ersten Knochenfische
das den Gnathostomen eine dominierende Stel- (Osteichthyes) auf, denen die Actinopterygii
lung in den devonischen Meeren verlieh und das (Strahlenflosser, . Abb. 2.34e), die Crossoptery-
ein bemerkenswertes evolutives Potenzial zur Wei- gii (Quastenflosser, . Abb. 2.34a) und die Dipnoi
ter- und Höherentwicklung in sich barg. Die Agna­ (Lungenfische, . Abb. 2.34f) angehören. Das Devon
then verschwanden weitgehend und sind heute war die Zeit der größten Verbreitung der Lungen-
nur noch mit wenigen Formen, den Myxinoidea fische, von denen heute nur noch drei Gattungen
(Schleimaalen) und Petromyzonta (Neunaugen) leben (Neoceratodus [. Abb. 2.79a], Lepidosiren,
vertreten. Protopterus), und der Quastenflosser, von denen nur
Zu den devonischen Gnathostomata gehören noch eine Gattung (Latimeria; . Abb. 2.79b) exis-
die Placodermi (Panzerfische; . Abb. 2.34b), zu de- tiert. Die Strahlenflosser waren noch relativ spärlich
nen die bis zu 10 m lange Riesenform Dunkleosteus vertreten; sie entfalteten sich erst im Meso- und im
(= Dinichthys) zählt. Die Placodermi sind die klas- Känozoikum zur dominierenden Fischgruppe. Zu
sischen Leitfossilien für den Old-Red-Kontinent. Sie ihnen gehören heute über 90 % der Fische, die alle
standen am Gipfel der marinen Nahrungspyramide. Weltmeere und Süßgewässer besiedeln.
Diese gepanzerten, kiefertragenden Fische waren Die Crossopterygii waren Doppelatmer: Kie-
lange die vorherrschenden Wirbeltiere und erleb- men und Lungen-Schwimmblasen-Organ dienten
ten im Devon ihre Blütezeit. Sie lebten zunächst im dem Gasaustausch. Letzteres entstand vielleicht
Süßwasser, später drangen sie auch in die Meere ein, schon am Beginn der Gnathostomata und wird
so wie die schon erwähnte Gattung Dunkleosteus. bei den Tetrapoden das zentrale Atmungsorgan.
Ihre vordere Körperhälfte wurde von einem Kno- Innerhalb der Crossopterygii unterscheidet man
chenpanzer geschützt. Den Placodermen fehlten zwei Gruppen: Rhipidistia und Actinistia (Coela-
echte Zähne, stattdessen waren an den Kieferrän- canthini).
dern Knochenzacken ausgebildet. Generell waren Die Rhipidistia waren vom Devon bis zum Perm
zwei Paar Extremitäten ausgebildet, das vordere im Süßwasser verbreitet. Sie werden im Allgemeinen
wurde bei einigen von Hautknochen umhüllt (An- als Ahnen der Tetrapoden angesehen. In ihren Vor-
tiarchi), das hintere war bisweilen reduziert. Zu den derflossen lassen sich, wie oben erwähnt, schon die
Placodermi zählt auch die rochenartig abgeplattete typischen Knochen der Tetrapodenextremität iden-
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 131

.. Abb. 2.34 a–h  Gna-
thostome Fische aus
dem Devon. a Osteo-
1
lepis (Crossopterygii),
b Coccosteus (Placodermi), 2
c Diplacanthus (Acanthodii),
d Ctenacanthus (Chond-
richthyes), e Cheirolepis 3
(Actinopterygii), f Dipterus
(Dipnoi), g Gemuendina
(Placodermi), h Pteroich- 4
thyodes (Placodermi)

5
6
7
8
9
10
tifizieren, und ihre Zähne sind so aufgebaut wie die Vorderextremitäten (mit Ober- und Unterarm sowie
der ältesten Amphibien. Außerdem sind beiderseits Handgelenk), Lungen, einige Schädelmerkmale und 11
drei Nasenöffnungen ausgebildet: der vordere Ein- ein Hals weisen auf Amphibien hin.
gang in die Nasenhöhle, der Tränen-Nasen-Gang Die Actinistia erschienen im Devon und exis- 12
und die Choanen, also die Verbindung von Nasen- tieren bis heute in zwei Arten: Latimeria chalumnae
zur Mundhöhle. Eusthenopteron ist eine besonders (. Abb. 2.79b, 2.80) wurde 1938 vor der südafrika-
bekannte Form der Rhipidistia. Die histologische nischen Ostküste entdeckt und L. menadoensis 1997 13
Analyse langer Extremitätenknochen von Eustheno- vor der Nordküste von Sulawesi (Celebes).
pteron im Jahre 2012 zeigte, dass die Knochen mit- Die Actinistia waren im Devon zunächst Süß- 14
tels enchondraler und periostaler Ossifikation wuch- wasserbewohner und wanderten dann ins Meer ein.
sen und dass zwischen ihnen echte diarthrotische Ihre Lunge wurde zur Schwimmblase, die bei La-
Gelenke ausgebildet waren. Dies wird als Anpassung timeria eine große Fettmasse darstellt. Das Gehirn
15
an terrestrische Fortbewegung angesehen, die mit wurde sehr klein und nimmt bei Latimeria nur 1/100
starker mechanischer Belastung einhergeht. des Volumens der Schädelhöhle ein, die ansonsten 16
Im Jahre 2006 erregte die Entdeckung eines wei- von einem lockeren Fettgewebe ausgefüllt wird.
teren Fossils Aufsehen. Von der kanadischen Elles- Im Devon wurde der Landgang der Wirbel- 17
mere-Insel beschrieb man eine Form, die zeitlich und tiere vollzogen. Im späten Devon entstanden die
morphologisch zwischen Eusthenopteron, Ichthyo- labyrinthodonten Amphibien: die Ichthyostegida
stega und Acanthostega (s. u.) vermittelt: Tiktaalik. (Dachschädler, . Abb. 1.29b), die 1931 in Fossilla- 18
Ellesmere Island lag im Devon äquatornah und war gerstätten Grönlands entdeckt wurden. Grönland
ein Teil von Laurentia (. Abb. 2.28), und Tiktaalik lag damals äquatornah, und Ichthyostega ist aus 19
gehörte zu den ersten Wirbeltieren, die – vom Süß- heutiger Sicht ein Organismus, der wasserlebende
wasser ausgehend – ihren Fuß auf das Land setzten. Fische und landlebende Tetrapoden verbindet,
Schuppen, Kiemen und Flossen erinnern an Fische, also ein connecting link: mit Fischschwanz und
20
132 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

Laufextremitäten, deren Skelett im Wesentlichen Eine etwas jüngere Flora als die von Rhynie
dem „standardisierten“ System entspricht, welches ist vom Kirberg bei Wuppertal bekannt. Hier fand
selbst unsere Arme und Hände sowie Beine und man neben Psilophyten auch Farne, z. B. Aneuro-
Füße noch heute kennzeichnet. Allerdings waren phyton, einen mehrere Meter hohen Baum mit fein
die Extremitäten noch nicht pentadactyl. Acantho- gegliederten Seitensprossen, die Farnwedeln ähneln,
stega (. Abb. 1.29b) hatte z. B. acht Finger an jeder jedoch in alle Richtungen verzweigt sind („Raum-
Hand. blätter“) und Asteroxylon, eine Übergangsform von
Psilophytatae und Lycopodiatae (Bärlappgewäch-
Pflanzen erobern das Land sen). Asteroxylon war die häufigste Pflanze dieser
Auch die großflächige Eroberung des Landes Gemeinschaft und ist eine der ältesten Landpflan-
durch Pflanzen mit Stützgewebe, Wurzeln, Lei- zen Deutschlands. Sie wurzelte im flachen Wasser,
tungssystemen, Verdunstungsschutz sowie Spalt- z. B. bei Wuppertal-Elberfeld (A. elberfeldense).
öffnungen (s. Abschn. 4.2.2) fällt in das Devon Ihre Sprosse wurden bis 1 m hoch. Sie tragen in den
(. Abb. 2.35). Zwar gab es schon im Silur primi- bodennahen Abschnitten kleine schuppenförmige
tive Landpflanzen, aber erst im Devon breiteten Auswüchse (Blattschuppen) ohne Blattadern; an
diese sich richtig aus. Ursprüngliche Landpflan- den kahlen Enden befanden sich die Sporangien.
zen sind die Psilophytatae, Nacktpflanzen, Nackt- Der Name Asteroxylon (= Sternholz) weist auf die
oder Urfarne genannt, da sie in ihrer primitivsten im Querschnitt sternförmige Anordnung der Leit-
Form noch keine Blätter hatten. Sie besiedelten bündel hin. Für Asteroxylon wurde eine Pilzsymbi-
feuchte Standorte. Die bekannteste Form war Rhy- ose nachgewiesen: In der Rindenschicht des Rhi-
nia (. Abb. 2.36a). Man benannte sie nach dem zoms lebte Palaeomyces asteroxyli.
Ort Rhynie bei Aberdeen in Schottland. Es han- Weitere Lycopodiatae waren Drepanophycus
delt sich um eine bis 30 cm hohe, blattlose Pflanze, (bisweilen als Mitteleuropas älteste echte Land-
deren gegabelte aufrechte Stängel aus einem krie- pflanze angesehen), Protolepidodendron (beide
chenden Spross entspringen und am Ende Spor- z. B. aus dem Wahnbachtal bei Bonn bekannt), und
angien tragen. Verkieselte Pflanzen blieben so gut Duisbergia (. Abb. 2.36c). Letztere ist in ihrer Stel-
erhalten, dass wir außer ihrer Gestalt auch den lung umstritten.
Aufbau ihrer Gewebe kennen. Ausgangsformen der Equisetatae (Schachtel-
Die Psilophytatae waren im Unterdevon teil- halme) sind Protohyenia und Hyenia. Sie besaßen
weise noch submers (lebten also im Wasser); nur lange Rhizome, ihre Beblätterung war stockwerkar-
ihre Sporangien ragten über die Wasseroberfläche tig in Quirlen, und sie wurden mehrere Dezimeter
hinaus. Spaltöffnungen und Cuticula waren nur im hoch.
oberen Bereich der Pflanzen entwickelt. Während sich die bisher erwähnten „Landpflan-
Bekannte Gattungen dieser ursprünglichen zen“ zwar in die Luft erhoben, aber vermutlich noch
Gruppe waren Stockmansella (Taeniocrada, im Grund des flachen Wassers wurzelten, besiedel-
. Abb. 2.35d) und Zosterophyllum (. Abb. 2.35a). ten andere schon das trockene Land, so die bis 20 m
Erstere umfasste Wasser- und Landpflanzen, letz- hohe Progymnosperme Archaeopteris mit dem wohl
tere bildete in Verlandungszonen ausgedehnte Be- ersten Holzstamm in der Evolution und mehrere
stände. Taeniocrada ist eine der häufigsten Pflan- Meter langen, farnartigen Wedeln (Megaphyllen).
zen im Unterdevon des Rheinlandes und kann hier Die Holzanatomie weist schon auf Nacktsamer hin.
verhältnismäßig leicht als Fossil gefunden werden. Der Stammdurchmesser erreichte 1,5 m. Man kennt
Sie bildete sogar kleine Kohleflöze. Die Gattung Sa- die Gattung seit dem Oberdevon und sieht in ihr ein
wdonia (. Abb. 2.36b) spielt eine besondere Rolle missing link. Die bedeutendsten Funde stammen aus
für die Ableitung der Bärlappe; sie ist aus der Eifel Marokko.
bekannt. Schon im Oberdevon starben die Psilo- Heute ausgestorbene, baumförmige Schachtel-
phytatae aus. Ihnen folgten Lycopodiatae, Filicatae, halme, Bärlappe, Farne sowie frühe Nacktsamer
Equisetatae und den Nacktsamern nahestehende (Progymnospermae und Pteridospermae) haben im
Formen („Progymnospermae“). Devon schon mächtige Wälder gebildet, so z. B. auf
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 133

.. Abb. 2.35 a–d  Lebens-
bild der Wahnbachflora im
Unterdevon; Küstenzone an
1
der Südküste des Old-Red-
Kontinents. a Zosterophyl- 2
lum, b Drepanophycus
(Charakterpflanze des
rheinischen Unterdevons), 3
c Sawdonia (Psilophyton),
d Stockmansella (Taenio-
crada): diese Form bildete 4
im Gegensatz zu anderen
Taeniocrada-Arten schilfarti-
ge Bestände. Nach Schweit- 5
zer (1994). Eine ähnliche
Flora wurde aus dem Devon
Australiens beschrieben 6
(Baragwanathia-Flora)

7
8
9
10
.. Abb. 2.36 a–c  Devo-
nische Pflanzen: a Rhynia 11
minor aus verkieseltem Torf
(Schottland), b Sawdonia
spinosissima aus der Eifel, 12
c Duisbergia mirabilis, bis

13
3 m hoher Baum aus dem
Rheinland. Nach Schweitzer
(1990)

14
15
16
17
18
19
20
134 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

der Bäreninsel (nördlich von Norwegen, zwischen 2.2.5 Karbon


Nordkap und Spitzbergen). Aus diesen ersten Wäl-
dern in der Erdgeschichte entstand sogar Kohle. In
weniger als 100 Mio. Jahren seit der Erstbesiedlung
|
Übersicht              |
der Kontinente durch Pflanzen waren ausgedehnte Wälder nehmen große Gebiete des Festlandes
Wälder mit allen Anpassungen der Landpflanzen der Nordhemisphäre ein und beeinflussen das
entstanden – lediglich Blüten fehlten noch. Klima erheblich. Sie werden später zu umfang-
Im Oberdevon gab es dann schon verschiedene reichen Steinkohlelagern, z. B. im Ruhr- und
Bäume, auch in Mitteleuropa, z. B. das bis 8 m hohe Saargebiet. In ihnen dominieren Riesenformen
Bärlappgewächs Cylostigma im Harz. Das bis dahin von Bärlappgewächsen, Farnen und Schach-
karge Land wurde grün. Farne, Schachtelhalm- und telhalmgewächse. Die Sumpfwälder enthalten
Bärlappgewächse machten einen wesentlichen Teil eine Vielzahl neu entstandener Tiergruppen,
der Vegetation aus. Aus dem Oberdevon kennt man zum Beispiel geflügelte Insekten, Lungenschne-
auch die erste Pflanze mit Samen (Moresnetia). Die cken und Amphibien. Im Meeresplankton ver-
Pflanzen waren Wegbereiter für andere Organis- schwinden die Acritarchen, die vom Kambrium
men, die jetzt – aus dem Wasser kommend – ei- bis zum Devon so umfangreich vertreten waren;
nen neuen Lebensraum samt Nahrungsgrundlage Trilobiten gehen zurück und Graptolithen ster-
vorfanden. Das gilt insbesondere für die Arthropo- ben aus; Ammonoida, speziell Goniatiten, brei-
den, heute mit über 1 Mio. beschriebener Arten die ten sich aus; unter den Cephalopoden kommen
artenreichste Tiergruppe. Wir müssen annehmen, die Coleoidea hinzu. Foraminiferen bringen sehr
dass diese ersten terrestrischen Arthropoden auch große Formen hervor. Variscische Gebirgsbil-
von pflanzlicher Biomasse lebten, aber wir wissen dung; Vereisung auf dem Südkontinent.
darüber nur wenig (s. Abschn. 4.3.3). Die bisher
bekannten Fossilien waren vielfach Räuber, lebten
also von anderen Tieren, z. B. Skorpione, Spinnen
und manche Tausendfüßer. Das Karbon, welches etwa 60 Mio. Jahre dauerte
Kurz vor Ende des Devon raffte ein Massenaus- (359–299 Mio. Jahre vor heute), erhielt seinen Na-
sterben viele der aquatischen Organismengruppen men nach dem lateinischen Wort carbo für Kohle,
hinweg. Es war eines der verheerendsten Ereignisse die im späten Karbon (international Pennsylva-
des Phanerozoikums. Im marinen Bereich wurden nium genannt) in großen Mengen entstand; das
vor allem die Brachiopoden getroffen: Über 80 % al- Unterkarbon (international: Mississippium) be-
ler Gattungen verschwanden. Fast ebenso hart traf es steht dagegen in manchen Gebieten vorwiegend
die Ammonoiden. Die im Wesentlichen aus Tabulata aus Kalksteinen, die in flachen Meeresteilen ge-
und Stromatoporen aufgebauten Riffgemeinschaf- bildet wurden. Irland sei als Beispiel genannt; ein
ten scheinen in dieser Zeit fast völlig ausgelöscht Großteil seiner Oberfläche besteht aus Kalk aus
worden zu sein, etwa 100 Mio. Jahre nach ihrer Ent- dem Karbon. Das Karbon ist die Zeit der tropischen
stehung. Im Pelagial wurden die Acritarchen, die Steinkohlenwälder (. Abb. 2.37, 2.38). Seine un-
einzige Gruppe des Phytoplanktons, die noch über tere Grenze ist durch eine rasche Veränderung der
weite Strecken des Devon umfangreich fossil erhal- Pflanzenwelt gekennzeichnet. Das Klima war auf
ten blieb, und die Placodermen, die dominierenden der Nordhemisphäre tropisch-feucht, und Mittel-
Räuber devonischer Meere, dezimiert. Die fischar- europa und Nordamerika lagen in der Nähe des
tigen Tiere traf es besonders: Unter den Agnathen Äquators. Zur paläogeographischen Situation siehe
starben Anaspida, Heterostraci sowie Thelodonti . Abb. 2.37a. Das Pflanzenwachstum erreichte be-
aus. Generell waren tropische Formen stärker be- sondere Ausmaße, und anschließend kam es zu
troffen als polare, weswegen man eine Abkühlung als riesigen Ablagerungen von organischem Material,
Ursache des Massenaussterbens annimmt. aus dem die mächtigsten Steinkohlelager der Erde
entstanden. Auf der Südhalbkugel war es dagegen
überwiegend kühl-gemäßigt. Antarktis, Australien,
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 135

.. Abb. 2.37 a, b  a Die pa-


läogeographische Situation
im Karbon: Bei der Kollision
1
des Old-Red-Kontinents mit
Gondwana entsteht das 2
variscische Gebirge (Varisci-
den). Sibirien und Kasachs-
tan bilden einen Kontinent. 3
Gegen Ende des Karbon
kommt es zur Abkühlung
und zu Vereisungen. b Ent- 4
faltung von Pteridophyten
und Angiospermen. Nach
Scotese u. Wertel (2006), 5
Kenrick u. Davis (2005)

6
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9
10
11
12

Afrika, Arabien, Südamerika und Indien bildeten (die Varisciden, . Abb. 2.37a) erstreckte sich von 13
den großen Südkontinent Gondwana, auf dem auch Amerika über Nordafrika, Spanien und das franzö-
der von einem dicken Eispanzer bedeckte Südpol sische Zentralmassiv bis zu den Sudeten und dem 14
lag. In der Tat fällt in das Karbon die längste und polnischen Mittelgebirge. Zu ihm gehören unter
wohl auch kälteste Eiszeit im Phanerozoikum. Die anderem das Rheinische Schiefergebirge, Harz,
Flora Gondwanas wird zu dieser Zeit nach einer Spessart, Schwarzwald sowie Erzgebirge. Die va-
15
häufigen Pflanze Glossopteris-Flora genannt. Glos- riscische Gebirgsbildung endete im Perm und war
sopteris war ein Farnsamer (Pteridospermae). Er in der Schlussphase von starkem Vulkanismus be- 16
hatte einfache, zungenförmige Blätter, deren Mit- gleitet. Einhergehend mit der Orogenese entstan-
telrippe an der Basis in einen kurzen Stiel übergeht den vor und auf dem Gebirge Senkungsräume mit 17
(. Abb. 2.39). Die große Diversität der Gruppe riesigen sumpfigen Küstenebenen, den größten,
offenbart sich insbesondere in ihren vielgestalti- die es im Erdaltertum in Europa gab. Insgesamt
gen Fruktifikationen. Sie dominierte im Perm und waren die Veränderungen, die sich auf dem Fest- 18
existierte noch in der Trias. land ereigneten, weitaus tiefgreifender als im Meer.
Tektonogenetisch ist das Karbon durch die Weite Gebiete lagen etwa auf der Höhe des Mee- 19
in mehreren Impulsmaxima verlaufende varis- resspiegels, der jedoch schwankte, so dass riesige
cische Gebirgsbildung gekennzeichnet (s. EX- Waldgebiete wiederholt überschwemmt wurden
KURS 2.2 Abschn. 2.2.2). Das variscische Gebirge und abstarben, aber später wieder ersetzt wur-
20
136 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.38 a, b  a Karbonwald mit Baumfarnen, Schuppenbäumen, Siegelbäumen und Schachtelhalmen in den Augen eines
Künstlers (Werner Weissbrodt). Auf dem Stamm eines Schuppenbaumes die Libelle Meganeura, direkt dahinter der Tausendfü-
ßer Arthropleura, am und im Wasser der Lurch Sclerocephalus. b Fördergerüst im Steinkohleabbau (Bochum)

den. Die Meeresspiegelschwankungen gehen auf ein massiges Rostrum („Donnerkeil“) beschwert
Vereisungsphasen auf der Südhemisphäre zurück, (. Abb. 2.40a). Nach Einzelfunden zu urteilen,
möglicherweise zum Teil auch auf tektonische waren seitliche Flossen und zehn Arme mit Haken
Vorgänge. Auf diese Weise entstanden letztlich die (. Abb. 2.40b) ausgebildet.
zahlreichen Steinkohleflöze. Donnerkeile, die Rostren der Belemnida, haben
eine gewisse Ähnlichkeit mit Geschossen, und in
Die Tierwelt im Karbon früheren Jahrhunderten hat man Massenvorkom-
Die karbonische Meeresfauna entsprach einer ver- men von Belemniten vor allem im Jura als Über-
armten devonischen. Die Korallen (Tabulata und reste früherer Schlachtfelder interpretiert (belem-
Rugosa) zeigten einen deutlichen Rückgang, seit non = Wurfspeer). Dieser Begriff ist bis heute im
dem Niedergang der Tabulaten-Stromatoporen- Gebrauch; . Abb. 2.40c zeigt einen Ausschnitt aus
Riffe im Devon blieben Riffe im jüngeren Paläozo- einem Belemniten-Schlachtfeld.
ikum von untergeordneter Bedeutung und spielten Im Benthos entwickelten sich die Crinoiden zu
keine größere ökologische Rolle mehr. Die Trilobi- großer Mannigfaltigkeit. In vielen Meeren bildeten
ten waren dem Aussterben nahe, Graptolithen und sie geradezu Rasen. Auf sie, Foraminiferen und
Placodermen verschwanden vollständig. Forami- Bryozoen gehen viele unterkarbonische Kalksteine
niferen und Ammonoiden (Goniatiten!) dagegen (Kohlenkalk) zurück. Fusulinen, bis 10 cm lange,
zeigten eine deutliche Entfaltung. Innerhalb der spindelförmige Foraminiferen, machten im späten
Cephalopoden entstand eine neue und erfolgreiche Karbon und im Perm eine adaptive Radiation durch:
Gruppe: die Belemnoida. Ihre nach innen verlagerte Aus permischen Gesteinen wurden etwa 5000 Ar-
Schale war relativ groß. An das dorsale Proostra- ten beschrieben. Für Oberkarbon und Perm stellen
cum schloss sich ein Teil mit Gaskammern und sie wichtige Leitfossilien dar. Bryozoen bildeten
Septen an (Phragmoconus); die Spitze war durch Riffe, so die netzförmige Fenestella und die schrau-
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 137

1
2
3
4
5
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7
8
9
.. Abb. 2.39 a–d  Glossopteris. a 4 m hoher Baum aus dem Perm Australiens, b–d verschiedene Fruktifikationen. Die Fortpflan- 10
zungsorgane stehen auf modifizierten Blättern: b aus Australien, c aus Indien, d aus Afrika. Nach White (1998)

11
bige Gattung Archimedes. Brachiopoden brachten Die geflügelten Insekten (Pterygota) waren die
Riesenformen (Gigantoproductus) hervor. Unter ersten Tiere, die sich in den Luftraum erhoben. Das 12
den Muscheln ist Posidonia becheri eine bekannte war vor mehr als 300 Mio. Jahren, und heute stellen
Leitform, die man im Rheinischen Schiefergebirge sie etwa zwei Drittel aller rezenten Tierarten. Etwa
finden kann. Die stark gepanzerten gnathostomen 100 Mio. Jahre nach den Pterygota – in der späten 13
Fische wurden durch beweglichere Formen ersetzt. Trias – folgten unter den Reptilien die Flugsaurier
Auf dem Festland entwickelten sich zahlrei- (Pterosauria; s. Abschn. 2.3.1). Diese nahmen den 14
che Insekten und Spinnentiere in einer reichhalti- Luftraum im Bereich der Meere ein, während die
gen Vegetation. Damit verbunden entstanden die Insekten in terrestrischen Lebensräumen domi-
ersten Landschnecken, die von Pflanzensubstanz nierten, spielten über 150 Mio. Jahre eine wichtige
15
lebten. Die Insekten, die seit dem Devon bekannt Rolle und starben Ende des Erdmittelalters aus.
sind, nahmen wichtige ökologische Rollen ein und Etwa 70 Mio. Jahre nach den ersten Flugsauriern 16
eroberten den Luftraum, zum Beispiel die Urflügler – in der Kreide – erlebten die Vögel (Aves) ihren
(Palaeodictyoptera) mit ihren seitlich abstehenden, Aufschwung (s. EXKURS 2.13 Abschn. 2.3.2). Mit 17
starren Flügeln. Im Karbon lebten die vermutlich fast 10.000 rezenten Arten haben sie den ganzen
größten Insekten aller Zeiten, Libellen der Gattung Globus besiedelt. Sie wurzeln in der vielgestaltigen
Meganeura aus Frankreich mit einer Flügelspann- Gruppe der Dinosaurier (Theropoden). Schließ- 18
weite von 75 cm. Auch Ephemeroptera, Orthoptera lich sind die Fledermäuse (Chiroptera) zu nennen,
und Blattodea sind im Karbon nachgewiesen, so die fast 100 Mio. Jahre nach den Vögeln – also im 19
dass man von einer reichen Insektenfauna ausgehen Tertiär – in die Lüfte aufstiegen, allerdings in einer
darf, allerdings war die Puppe noch nicht „erfun- anderen Zeitnische als die Vögel. Interessanterweise
den“, holometabole Insekten fehlten noch. sind die ersten Eroberer der Lüfte, die Insekten,
20
138 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.40 a–c  Belemnoida. a Lage des Innenskeletts im Tier, dessen Gestalt und Armzahl nicht mit Sicherheit angegeben
werden können. b Haken der Arme von Acanthoteuthis (Jura, Solnhofen). c Ausschnitt aus einem jurassischen Belemniten-
Schlachtfeld. Nach Müller (1994)

weitverbreitete Nahrungsobjekte von Vögeln und menhängen, die in ausgedehnten Senken und um
Fledermäusen. Seen umfangreiche Wälder bildete. Karbon, Perm
Fliegen bedeutet Verbesserung der Beweglich- und Trias markieren die Blütezeit der Amphibien.
keit und erhöhte Geschwindigkeit, Fliegen erfordert In Steinkohlensümpfen lebten u. a. die Ichthyoste-
Verarbeitung von Reizen in kürzester Zeit, weswe- galia (Stegocephalia, Panzerlurche), die ihre wis-
gen bei fliegenden Tieren besondere Sinnesleistun- senschaftlichen Namen nach ihrer Verwandtschaft
gen erreicht werden. mit Fischen bzw. dem geschlossenen Schädeldach
Unter den Hundertfüßern erreichte Arthopleura erhielten. Sie wurden bis 5 m lang.
(. Abb. 2.41b) eine Länge von über 2 m. Vermutlich Die ältesten Reptilien kennen wir aus dem Kar-
lebte diese Form von abgestorbener Pflanzensubs- bon. Ihre Unterschiede zu den Amphibien sind
tanz; sie ist z. B. aus dem Saarland, aus Nordrhein- noch gering und betreffen z. B. verschiedene Schä-
Westfalen und Thüringen bekannt. Auch Spinnen- delmerkmale wie Gaumendach und Innenohr.
tiere entwickelten im Karbon eine erhebliche Vielfalt In dieser Zeit muss auch die besondere Emb-
und ungewöhnliche Ausmaße. Beispiele sind die ryonalentwicklung der Amnioten entstanden sein,
Arachnidenordnungen Trigonotarbida und Phalan- also die Entwicklung des Embryos in der flüssig-
giotarbida mit zahlreichen, weit verbreiteten Arten. keitsgefüllten Amnionhöhle („ancestraler Teich“),
Der Eurypteride Megarachne aus Argentinien, zu- die wiederum in einer wenig durchlässigen Eischale
nächst als Spinnentier interpretiert, maß 34 cm Kör- entsteht. Zu den Amnioten zählen alle Wirbeltiere
perlänge, die Spannweite der Laufbeine lag bei 50 cm. oberhalb der Amphibien, also Reptilien, Vögel und
Unter den Wirbeltieren dominierten in terres- Säugetiere, in deren ontogenetischer Entwicklung
trischen Habitaten zunächst die Amphibien, später ein wasserlebendes Larvenstadium, das ja für die
die Reptilien. Die starke Entwicklung der Amphi- Amphibien typisch ist, fehlt. Hinsichtlich ihrer Le-
bien dürfte eng mit der reichen Vegetation zusam- bensweise werden sie vom Wasser relativ unabhän-
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 139

sie deckte über ein Viertel der von der Mensch-


heit genutzten Primärenergie. Kohle ist zudem 1
Grundlage für etwa ein Drittel der Elektrizitätser-
zeugung weltweit und wichtig für die Eisen- und 2
Stahlindustrie.
Wenn der Steinkohlenwald auch ein Tropen-
wald war, so darf er doch nicht mit heutigen Tro- 3
penwäldern verglichen werden: Blüten und Blüten
besuchende Insekten fehlten noch, ebenso wie 4
Früchte und Früchte fressende Vögel. Es dominier-
ten vielmehr Gefäßsporenpflanzen wie Riesenbär-
lappe, Riesenschachtelhalme und Baumfarne. Diese
5
Gruppen erreichten im Karbon und dem folgenden
Unterperm ihre größte Entfaltung. Die Vegetation 6
.. Abb. 2.41 a, b  Karbonische Arthropoden. a Namurotypus bestand in den Kohlebildungsräumen aus einer
(ursprüngliche Libelle, Flügelspannweite 32 cm), b Arthropleu- verhältnismäßig kleinen Zahl von Gattungen, z. B. 7
ra. Nach Brauckmann u. Zessin (1989), Hünicken (1980) Lepidodendron (Schuppenbaum, . Abb. 2.42a) und
Sigillaria (Siegelbaum, . Abb. 2.42b,c), beides Bär-
gig, was ihnen neue terrestrische Entfaltungsräume lappgewächse. Einige Lepidodendron-Arten erreich- 8
erschließt. ten eine Höhe von ca. 40 m bei einem Stammdurch-
messer bis zu 5 m an der Basis und sind damit neben 9
Der Steinkohlenwald Sigillarien, die bis 20 m hoch wurden, die höchsten
Die so auffällige und üppige karbonische Landflora Bärlappgewächse aller Zeiten.
der Nordhemisphäre führte zu zwei Kategorien von Lepidodendron erhielt seinen Namen wegen der
10
Kohlevorkommen: den paralischen (an den frü- schuppenartigen Muster der rhombischen bis an-
heren Küsten entstanden, z. B. Schlesien, Ruhrge- nähernd quadratischen Blattpolster (. Abb. 2.42a). 11
biet, Nordfrankreich, Belgien, England, Wales und Die Blattpolster lagen in Schrauben von der
Schottland) und den limnischen in Gebirgsbecken Stammbasis bis zur weit ausladenden Baumkrone, 12
(z. B. Saarland, Sachsen). Steinkohle entsteht, wenn die durch zahlreiche Gabelteilungen ihrer Äste ge-
umfangreiche Pflanzensubstanz luftdicht durch kennzeichnet war (dichotome Verzweigung). Die
Schlamm oder Wasser bedeckt wird, so dass sie sich immergrünen Blätter waren lanzettförmig. Sie wa- 13
nicht zersetzt. Des Weiteren sind hoher Druck und ren 1–50 cm lang; die Spaltöffnungen waren in zwei
hohe Temperaturen nötig, um Wasser, Kohlendi- Längsrillen an der Blattunterseite angeordnet (xe- 14
oxid und Methan aus den Holz- und Blattresten zu romorphes Merkmal). Die Zapfen erreichten 75 cm
entfernen (Inkohlung). Über Torf und Braunkohle Länge. Eine weitere Besonderheit war die umfang-
entsteht schließlich Steinkohle in etliche Meter di- reiche Rinde, die einen relativ dünnen und wei-
15
cken Kohleflözen. Diese können in eine bis über chen Holzkern umfasste. Lepidodendren stürzten
5000 m mächtige, sandige, tonige oder konglome- anscheinend leicht ein. Sie nahmen wohl einen Teil 16
ratische Sedimentabfolge eingeschaltet sein. Im uk- ihres Wassers über die Blattpolster auf. Diese bilde-
rainischen Donezbecken erreicht die Karbonfolge ten ein Rinnensystem, das herablaufendes Wasser 17
10.000 m Mächtigkeit; darin liegen bis zu 300 Flöze. der Ligula (Blatthäutchen) zuführte, von der ein
Die Sumpfwälder und Moore, auf die die karbon- Leitbündel ins Stamminnere zieht.
zeitliche Steinkohle zurückgeht, verschwanden in Sigillaria besaß eine ein- bis zweifach dichotom 18
Europa im folgenden Perm, als das Klima trockener verzweigte Krone. Ihre siegelförmigen Blattnarben
wurde. standen in Längszeilen. Die Blätter waren lang und 19
Seit der industriellen Revolution wird Kohle bildeten am Stammgipfel bzw. am Ende der dicho-
in großem Umfang abgebaut. Um das Jahr 2000 tomen Verzweigungen einen Schopf. Unter den
lag die Weltjahresproduktion bei 3,7 Mrd. Tonnen; Blättern hingen Sporenzapfen. Wie Lepidodendron
20
140 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.42 a–c  Bärlapp-
gewächse des Steinkohlen-
waldes. a Lepidodendron
(Schuppenbaum) mit
Blattpolster (links) und
Stammausschnitt (rechts),
b, c Sigillaria (Siegelbaum),
c Exemplar mit Sporophyll­
zapfen. Nach Christner u.
Kühner (1989)

hatte Sigillaria weit ausladende, flach ausstreichende Die Cordaiten (. Abb. 2.43e) (nach dem Prager
Rhizome. Sigillarien traten im Oberkarbon auf und Botaniker August Joseph Corda [1809 bis 1849] be-
starben im Perm aus. nannt) erreichten bis zu 30 m Höhe, trugen bis 1 m
Weitere Formen waren die baumförmigen lange Blätter und werden daher auch als Bandblatt-
Schachtelhalme mit massiven Rhizomen, die Cala- bäume bezeichnet. In Waldmooren kamen sie als
mitales (. Abb. 2.43a–c). Besonders im Unterperm kleine Stelzwurzelbäume oder kriechendes Busch-
haben sie als Kohlebildner große Bedeutung. Im Ge- werk vor.
gensatz zu den heutigen Schachtelhalmen besaßen Die Farnsamer (Pteridospermae) erreichten
sie einen mächtigen, holzigen Stamm, der anfangs nicht die Höhe der größten Cordaiten. Zu ihnen
mit Mark gefüllt war. Die bis zu 10 cm langen, in gehören beispielsweise Medullosa (. Abb. 2.43d)
Quirlen angeordneten Blätter sind auch unter dem und Glossopteris (. Abb. 2.39). Beide Gruppen er-
Namen Annularia bekannt. Zwischen den Blatt- reichten das Erdmittelalter, meisterten also die ein-
quirlen standen die Sporen erzeugenden Zapfen. schneidende Perm-Trias-Grenze.
Die Calamiten bildeten im Steinkohlenwald auf Die riesigen Steinkohlenwälder haben einer-
sumpfigem Untergrund die mittlere Baumschicht. seits große Mengen von Kohlenstoff festgelegt (und
Manche erreichten jedoch 30 m Höhe. Calamiten damit die CO2-Konzentration der Atmosphäre he-
heißen auch Röhrenbäume, weil ihr in Knoten (No- rabgesetzt), andererseits zur Bodenbildung beige-
dien) und Internodien gegliederter Stamm im Alter tragen. Sie haben die Atmosphäre damit ganz we-
einen großen Markhohlraum aufwies. sentlich beeinflusst; das obersilurisch-devonische
Sphenophyllum (Keilblatt), ein krautiges Schach- Treibhausklima wandelte sich im Laufe des Karbon
telhalmgewächs, bildete teilweise dichte, niedrige, in ein Eishausklima um.
oft monotypische Bestände im Uferbereich. Manche In den Wäldern gab es eine reiche Fauna mit
Formen waren auch Spreizklimmer oder Lianen. Tausendfüßern, Insekten, Spinnentieren, Stegoce-
Neben den genannten Gefäßsporenpflanzen phalen und Reptilien, die noch an Panzerlurche
(Pteridophyta), die einen wesentlichen Teil der Stein- erinnern (Cotylosaurier).
kohle ausmachen, gab es im Karbon Samenpflanzen.
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 141

1
2
3
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10

.. Abb. 2.43 a–e  Karbonische Vegetation. a–c Schachtelhalme des Steinkohlenwaldes. a Stylocalamites, b Calamitina, c Teil 11
des Stammes. Nach Christner u. Kühner (1989; Bildrechte liegen bei Attempto). d Farnsamer (Pteridospermae; Medullosa),
e Cordaiten (Cordaixolon). Nach Stewart u. Delevoryas (1956), Rothwell und Warner (1984)
12
2.2.6 Perm Das Perm (299–251 Mio. Jahre vor heute) erhielt
seinen Namen nach dem russischen Gouvernement 13
Perm. Schon im 17. Jahrhundert war in Deutsch-
|
Übersicht              | land für altersgleiche Schichten der Begriff Dyas 14
Die holometabolen Insektengruppen der (Zweiheit) eingeführt worden, weil die Gesteins-
beschaffenheit in zwei Kategorien zerfällt: die fast
Käfer, Hautflügler und Schmetterlinge sowie
ausnahmslos festländischen Ablagerungen des Rot-
15
die Sauropsiden entfalten sich. Sie legen ihre
dotterreichen Eier am Land ab und erreichen liegend (Unterperm) und die überwiegend marinen
eine von Gewässern weitgehend unabhängige des Zechstein (Oberperm). 16
Lebensweise. Nadelhölzer werden häufiger; Das Rotliegend besteht vor allem aus roten
Samenpflanzen setzen sich gegenüber den Sand- und Schluffsteinen sowie Konglomeraten, 17
Sporenpflanzen durch. In Rheinland-Pfalz und den Abtragungsprodukten des im Karbon ent-
standenen variscischen Gebirges. Einen breiten
Sachsen wird uns heute ein Einblick in Süßge-
Anteil nehmen vulkanische Ablagerungen (Laven, 18
wässer und Wälder des Perm ermöglicht. Entste-
hen umfangreicher Salzlager. Das Perm endet Tuffe) ein. Die darüber folgenden Sedimente des
mit dem gewaltigsten Massenaussterben der Zechsteins entstanden im Meer, welches über die 19
Erdgeschichte; zu den Opfern zählen Goniatiten, eingeebneten Gebirge hin weite Teile im Norden
und Nordosten Mitteleuropas überschwemmte.
Trilobiten, Eurypteriden, Rugosa und Tabulata.
Im damals vorherrschenden Wüstenklima kam es
20
142 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

im Nordeuropäischen Becken zur wiederholten abgeschnürten Meeresbecken ohne großen Wasser-


Eindampfung in größtem Ausmaß, und es entstan- austausch bildeten sich Faulschlammsedimente, die
den mächtige Gips‑, Stein- und Kalisalzlager. Das später zu dem wirtschaftlich genutzten Kupferschie-
Nordeuropäische Becken reichte im Westen bis fer wurden. Gegen Ende des Perm zog sich das Meer
England, im Osten bis Weißrussland, im Süden bis zurück, die Festländer wurden ausgedehnter denn
Heidelberg und im Norden bis weit in die Nordsee je. Zum einzigen Mal im Phanerozoikum formier-
hinein. In seinem Inneren (Niedersachsen, Meck- ten sich die Kontinente zu einem zusammenhän-
lenburg) sind die zyklisch entstandenen Salzlager genden Superkontinent (Pangaea), der von einem
bis 7000 m mächtig. Man schätzt, dass sie im Ver- Meer umgeben war, welches Panthalassa genannt
lauf von etwa 20.000 Jahren entstanden sind, also wird (. Abb. 2.47). Pangaea war durch das Zusam-
1 m Salz in 20 Jahren hinzukam. Diesen Ereignissen mendriften von Laurasia (Nordamerika, Europa,
ist zu verdanken, dass Deutschland heute eines der Sibiria) und Gondwana (Südamerika, Afrika, In-
Länder mit den größten Salzvorkommen ist. Die dien, Australien sowie Antarktika) entstanden und
Abraumhalden der Salzgewinnung türmen sich teilte sich in der Trias wieder. Zwischen Laurasia
z. B. nahe Hannover über 150 m hoch auf („Mt. und Gondwana entstand die Paläotethys zunächst
Kalimandscharo“) und sind auf einer Bergtour bei als Meeresgolf im Osten des Großkontinents, dann
Heringen zu „besteigen“ („Monte Kali“, 220 m). In das Tethys-Meer.

  EXKURS 2.7  

Vor 290 Mio. Jahren: Haie und Lungenfische in der Pfalz


Teile des heutigen Pfälzer Berglandes, am Südrand von Kaiserslautern, haben eine Fülle von Fossilien
des Rheinischen Schiefergebirges gelegen, wa- aus den Ablagerungen dieses permischen Sees zu-
ren vor 290 Mio. Jahren, im Rotliegend, Teil einer tage gefördert. In ihm lebten viele Fische, darunter
großräumigen, flachen Senkungszone, die in den Acanthodii, Haie (. Abb. 2.44) und Lungenfische.
folgenden 30 Mio. Jahren Verwitterungsschutt in Der Acanthodier Acanthodes bronni wurde
einer Mächtigkeit von über 3000 m aufnahm: Im dem Heidelberger Zoologen und Paläontologen
Norden liegt die Grenze ungefähr an der Nahe, im H.G. Bronn (1800 bis 1862) gewidmet, der 1860
Süden im Bereich der Autobahn Mannheim-Saar- Darwins Hauptwerk ins Deutsche übersetzt hatte.
brücken. Das Klima war in dieser Zeit tropisch-sub- Die Acanthodii sind seit dem Silur bekannt, lebten
tropisch (Mitteleuropa lag auf 10–20° nördlicher zuerst im Meer, drangen im Karbon ins Süßwasser
Breite), und an einer tiefen Stelle der genannten ein und starben weltweit im Unterperm (dem Rot-
Senkungszone, der Saar-Nahe-Senke, lag damals liegend) aus.
der größte See Mitteleuropas, der Rümmelbach- Die Lungenfische – heute auf relativ kleine Are-
Humberg-See. West- bzw. Ostufer lagen nahe dem ale in Australien, Afrika und Südamerika beschränkt
heutigen Lebach (Saarland) bzw. Bad Kreuznach – werden durch die seltene Art Conchopoma gadi-
(Rheinland-Pfalz). Mit wenigstens 3500 km2 Ge- forme repräsentiert. Sie waren überwiegend Süß-
samtausdehnung war dieser Süßwassersee über wasserformen.
sechsmal so groß wie der Bodensee mit seinen Haie, deren Zähne in Karbon und Perm bio­
536 km2. Seine Umgebung wurde von Flüssen stratigraphisch wichtig sind, sind in vorzüglicher
durchzogen und beherbergte kleinere stehende Erhaltung mit vollständigem Skelett, Abbildung
Gewässer. von Weichteilen und z. T. mit Mageninhalt mit
Arbeiten der letzten Jahrzehnte, im Wesent- mehreren Gattungen aus dem Rümmelbach-
lichen durchgeführt vom Pfalzmuseum für Na- Humberg-See bekannt: Lebachacanthus wurde bis
turkunde in Bad Dürkheim und heute z. B. zu über 3 m lang. Xenacanthus erreichte 1,5 m, Trio-
besichtigen im GEOSKOP (Urweltmuseum Burg dus 70 cm. Alle gehören zu der Ordnung Xenacan-
Lichtenberg, 66871 Thallichtenberg) nordwestlich thodi, die durch einen auffälligen Nackenstachel
7
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 143

 EXKURS 2.7 (Fortsetzung) 
.. Abb. 2.44 a, 1
b  Haie aus dem
Perm (Rotliegend)
der Pfalz. a Xen­ 2
acanthus: Rekons-
truktion, b Skelett
von Lebachacanthus
3
colosseus. Photo
Heidtke (1993)
4
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6
7
8
9

gekennzeichnet ist, der bei Xenacanthus und Trio- von Fischen. Von Sclerocephalus kennt man sogar
10
dus am Hinterhaupt und bei Lebachacanthus ober- Larven- und Jugendstadien.
halb des Schultergürtels entspringt (. Abb. 2.44a). An Wirbellosen hat man Malacostraca (Uronec- 11
Diese altertümliche Gruppe lebte vom Devon bis tes), Ostracoda (Carbonita) und sogar Medusen
zur Trias; im Karbon und frühem Perm wurde der (Medusina) gefunden. Vom Land wurden z. B. Scha- 12
Höhepunkt der Entwicklung erreicht. Die älteste ben (Blattinopsis, Phylloblatta) eingetragen. Das in-
Form ist aus dem Devon Antarktikas bekannt. Von teressanteste Insekt ist Eugereon boeckingi aus der
den Haien der Pfalz kennt man auch Koprolithen, ausgestorbenen Ordnung der Palaeodictyoptera.
13
an denen sich sogar die Spiralfalte des Darmes Es hatte eine Flügelspannweite von 20 cm bei einer
abzeichnet. Körperlänge von 7–8 cm. 14
Aus der Gruppe der Knochenfische wurden Die Vegetation der unmittelbaren Umgebung
Palaeoniscida gefunden, darunter Paramblypterus.
Ihre Schwanzflosse war heterozerk, ihre rhombi-
des Rümmelbach-Humberg-Sees unterlag im frü-
hen Perm vor 275–270 Mio. Jahren einer tiefgrei-
15
schen Schuppen trugen einen dicken Ganoinbe- fenden Veränderung. Auch in der Saar-Nahe-Senke
lag („Schmelzschupper“). Sie sind mit den Stören starben damals die Siegelbäume (Sigillaria), Riesen- 16
verwandt. Schachtelhalme (Calamites) sowie die meisten
Auch Amphibien waren in dem größten permi- Baumfarne (Psaroniales) und Cordaiten aus. Viele 17
schen See des heutigen Mitteleuropas nicht selten: Stücke wurden als Fossilien aus dem Seegebiet
Im Raum um Kaiserslautern fand man verschie- geborgen und legen heute Zeugnis ab aus der
dene Stegocephalia, z. B. den bis zu 1,5 m langen, subtropisch-tropischen Zeit im ausgehenden Pa-
18
besonders weit verbreiteten Dachschädellurch Sc- läozoikum.
lerocephalus sowie Archegosaurus, der wegen sei- Am Ende des frühen Rotliegend war die Saar- 19
nes breiten Schwanzes als ein guter Schwimmer Nahe-Senke fast vollständig mit Sedimenten auf-
interpretiert wird. Er ernährte sich vorwiegend gefüllt. Erdbeben und Vulkanismus bewirkten das
20
7
144 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.7 (Fortsetzung) 
Aufsteigen von Magma. Damit wird in Verbindung Schleusingen in Thüringen. Das Rotliegend ist be-
gebracht, dass viele Fossilien eine weiße Farbe er- sonders kennzeichnend für den Thüringer Wald,
hielten („der weiße Hai der Pfalz“). dessen Oberfläche zu etwa 80 % aus Rotliegend-
Interessante Einblicke in das Rotliegend vermit- steinen besteht. Zwar waren die Rotliegendseen in
teln das Paläontologische Museum, Marktplatz 1, Thüringen vergleichsweise klein, aber der Nach-
55283 Nierstein und das Naturhistorische Mu- weis eines kleinen Haies (Bohemiacanthus) gelang
seum Schloss Bertholdsburg, Burgstraße 6, 98553 auch hier.

Die Tierwelt im Perm den Palaeoniscoidea. Ihre rhombischen Schup-


Im Tethys-Meer lebten unter anderem die schon aus pen tragen einen dicken Ganoinbelag. Aus dieser
dem Karbon bekannten großwüchsigen Fusulinen Gruppe haben sich bis heute die Flösselhechte
(Foraminifera, . Abb. 2.46b), die einen raschen (Polypterini, Afrika) sowie die Störe und Löffel-
Formwandel durchmachten. störe (Acipenserini, Europa, Asien, Nordamerika)
Tiefgreifende Veränderungen sind bei den Ko- erhalten. Zu den permischen Chondrosteern zählt
rallen zu beobachten: Die Tabulata waren weiter z. B. der bis zu 40 cm lange „Kupferschieferhering“
rückläufig und starben Ende des Perm aus. Die Palaeoniscum, der wohl weltweit in Brackwasserge-
Rugosa verschwanden ebenfalls und wurden durch bieten vorkam. Auch Haie, z. B. die rochenähnliche
Scleractinia ersetzt. Janassa bituminosa, und die Xenacanthi, Acantho-
Die Bryozoa erlangten im Perm als Bewohner dii und Dipnoi waren verbreitet. Die Entwicklung
von Riffen und mancherorts auch als Riffbildner der Amphibien war rückläufig. Archegosaurus und
eine besondere Bedeutung (englische Nordseeküste Branchiosaurus sind verbreitete Gattungen.
und bei Pößneck und Saalfeld in Thüringen). Be- Im Perm ist eine erste Entfaltung der Reptilien
kannte Formen sind Fenestella, Acanthocladia und zu beobachten. An ihrer Basis stehen die Cotylo-
Thamniscus. sauria (Stammreptilien) mit einem geschlossenen
Letztmalig erlebten die Brachiopoden eine Schädeldach. Sie sind seit dem Karbon bekannt
reiche Entfaltung mit manchen Spezialisierungen, und starben Ende der Trias aus. Zu ihnen gehören
ehe sie im Mesozoikum zunehmend von Muscheln die Captorhinomorpha, aus denen vermutlich alle
ersetzt wurden. Sie brachten unter vielen anderen höheren Reptilien hervorgingen. Captorhinus und
Formen die korallenartigen Richthofenien und Ar- Limnoscelis sind bekannte Gattungen. Generell ver-
ten mit langen Stacheln hervor (Productiden). drängten die Reptilien die Amphibien. Sie erwiesen
Unter den Mollusca ist Bellerophon (vermutlich sich als besser angepasst an trockene Lebensräume.
eine Zwischenform von Monoplacophoren und Die Embryonalentwicklung in Ei-Hüllen (mit Dot-
Gastropoden) eine dominierende Gattung; in den tersack, Amnion, Chorionhöhle mit Wandung aus
oberpermischen Bellerophon-Kalken der Karni- Choriongewebe [bei Vögeln = Serosa] und Allantois)
schen Alpen wurden sie gesteinsbildend, außerdem sowie die Epidermis mit Stratum corneum sind zwei
in der Kasan-Stufe Russlands und in Indien. Merkmale, die ihnen das Überleben in Nadelwäldern
Außer den Ammonoiden erlebten auch die und sogar in Wüsten ermöglichten. Der Süden der
Echinodermen noch einmal eine Blüte. USA (Texas, Neu-Mexiko), Südafrika und Russland
In den Tropen entfalten sich die erfolgreichsten westlich vom Ural haben besonders reiche Funde
Insekten in der Geschichte der Organismen: Kä- früher Reptilien hervorgebracht. Der carnivore Pely-
fer (Coleoptera), Hautflügler (Hymenoptera) und cosaurier Dimetrodon („Texasdrache“), mittlerweile
Schmetterlinge (Lepidoptera), alles Formen mit ei- auch in Thüringen (nahe Gotha) gefunden, gehört
ner Puppenruhe (Holometabola). zu den größten Formen dieser Zeit. Er besaß einen
Die Fischfauna des Perm ist von der des Kar- hohen Rückenkamm, der mit Thermoregulation in
bons deutlich verschieden. Jetzt dominieren die Verbindung gebracht wird. Ähnlich sah der pflan-
Actinopterygii, insbesondere die Chondrostei mit zenfressende Edaphosaurus aus, der in Nordamerika
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 145

und Europa nachgewiesen wurde. Eine mitteleuro- und Farnsamer waren auf die unmittelbare Nähe von
päische Besonderheit unter den Reptilien ist Coelu- stehenden oder fließenden Gewässern beschränkt, 1
rosauravus aus dem oberen Perm Thüringens. Das z. B. der Baumfarn Psaronius (. Abb. 2.45), der
15 cm lange, eidechsenartige Tier gilt als das erste Farnsamer Medullosa (. Abb. 2.43d), und Autunia, 2
Reptil mit Flugvermögen (Gleitflug). eine auch aus Rheinland-Pfalz bekannte Form. Au-
tunia conferta gilt als Leitform für das Rotliegend
Die Pflanzenwelt im Perm Europas. Baumfarne (Marattiales) wurden bis 15 m 3
Im Perm lässt sich wegen ausgeprägter Klimagradi- hoch; ihre Wedel konnten 3 m Länge erreichen. Die
enten eine deutliche Differenzierung der Vegetation Grenze zwischen Rotliegend und Zechstein markiert 4
in Florenprovinzen vornehmen. Die Klimagradien- das Ende der Vorherrschaft der Gefäßsporenpflan-
ten hingen mit mehreren Gebirgsketten zusammen, zen und den Beginn der Dominanz der Nacktsamer.
die z. B. mit dem Zusammentreffen von Gondwana Der Rückgang der Gefäßsporenpflanzen wird nicht
5
und dem Old-Red-Kontinent entstanden waren. nur mit dem zunehmend trockenen kontinentalen
Unter den Florenprovinzen unterscheidet man im Klima, sondern auch mit einer Abkühlung der Erde 6
oberen Perm eine südliche Glossopteris-Flora, eine in Verbindung gebracht. Die Bärlappgewächse star-
Sibirische Angara-Flora und eine Cathaysia-Flora in ben Ende des Rotliegend fast völlig aus, auch die 7
den Tropen Südostasiens. Auf der Südhemisphäre Cordaiten, die zeitweise im Rotliegend noch Wald-
wurden großblättrige Formen wie Glossopteris und bestände gebildet hatten (sowie letztlich Kohle),
Gangamopteris zu Kohle (Permkohle Australiens verschwanden. Schachtelhalmgewächse waren mit 8
und Antarktikas, wo die größten Kohlevorkommen bis 15 m hohen Formen vertreten; Calamitina, Sty-
der Erde vermutet werden). Im Laufe des Perm localamites, Eucalamites und die krautigen Spheno- 9
wurde das Klima generell trockener und es erfolgten phyllales waren häufig.
dann deutliche Veränderungen: Im Norden wurde In der sehr trockenen und warmen Zechstein-
der mittelgroße Nadelbaum Walchia zu einer domi- zeit dominierten die verhältnismäßig gut an Tro-
10
nierenden Form, im Süden entwickelte sich Dicro- ckenheit angepassten Coniferen. Erstmals erschie-
idium, eine Gymnosperme mit Gabelwedeln. Wal- nen zudem Ginkgogewächse. 11
chia ähnelte mit ihrer Wuchsform und ihren kurzen, Der vielleicht berühmteste mitteleuropäische
dichtstehenden Nadeln der bekannten Zimmer- permische Wald ist als „Versteinerter Wald“ in 12
tanne. Das Aussterben von Organismen war geo- Chemnitz zu besichtigen (. Abb. 2.45). Dabei han-
logisch gesehen kein plötzliches Ereignis, sondern delt es sich um Reste von Cordaiten und Conife-
erfolgte in Etappen. Die Wälder waren artenärmer ren, die im frühen Perm in Waldmooren vorkamen. 13
als die des Karbons; in größerer Entfernung vom Cordaiten hatten im frühen Perm einen großen An-
Wasser war die Vegetation relativ spärlich. Farne teil an der Vegetation. 14
  EXKURS 2.8   15
Der Versteinerte Wald von Chemnitz
Einen der besten Einblicke in den Wald des Rot- entwickelten sich im Perm zu wichtigen Florenele- 16
liegend vermitteln uns die Funde im Raum Chem- menten. Der Versteinerte Wald von Chemnitz spie-
nitz in Sachsen, die im Museum für Naturkunde, gelt diese Umbruchphase in der Florenentwicklung 17
Moritzstraße 20, 09111 Chemnitz ausgestellt wider, in der die alte, feuchtigkeitsliebende Vege-
sind. Mit dem Rotliegend ging die Zeit der großen
Schachtelhalme, Bärlappe und Farne, die im Kar-
tation verschwindet und die neue, an zunehmende
Trockenheit angepasste Flora zunimmt, die zum Teil
18
bon ihren Höhepunkt erreicht hatten, in Europa zu Sukkulenz aufweist (z. B. der Riesenschachtelhalm
Ende. Jetzt traten Samenpflanzen auf, zunächst die Calamites gigas und der Farn Psaronius), über ein 19
zu den Nacktsamern gehörenden Pteridospermae tiefreichendes Wurzelsystem verfügt und resistente
(Farnsamer), Cordaitinae und Coniferae. Letztere Samen entwickelt (Cordaiten, Coniferen). 20
7
146 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.8 (Fortsetzung) 
Chemnitz liegt in einem Becken, das in Karbon an Mineralienkabinette und Schleifereien in Dres-
und Rotliegend allmählich einsank und mit Abtra- den. Am bekanntesten wurden die Stämme des
gungsschutt und Resten der Vegetation der umlie- Baumfarnes Psaronius (auch als Starstein bekannt,
genden Gebirge aufgefüllt wurde. Seit über . Abb. 2.45).
250  Jahren findet man hier versteinertes Holz. Heute unterscheidet man über 80 fossile Pflan-
Seine organische Substanz wurde zu über 99 % zenarten aus dieser Region aus einer Zeit von vor
durch Kieselsäure bzw. Fluorit ersetzt. Die meisten über 250 Mio. Jahren. Sie gehören überwiegend zu
Kieselholz-Vorkommen stehen in Zusammenhang Schachtelhalmen, Farnen, Farnsamern, Cordaiten
mit gewaltigen Vulkaneruptionen. Die vulkani- und Coniferen.
schen Auswurfmassen (Aschen, Tuffe) haben die Die Mehrzahl der Kieselhölzer wird zu der Sam-
Kieselsäure zur Versteinerung der Hölzer geliefert. melgattung Dadoxylon gezählt. Ihr Holz ähnelt dem
Wegen seiner prächtigen Farben (im Falle von heutiger Araucarien. Der längste Stamm war über
Rottönen durch Eisenoxid bedingt) und seiner gu- 26 m lang, als maximaler Durchmesser werden 3 m
ten Polierbarkeit wurde das versteinerte Holz von angegeben.
Chemnitz schon im 18. Jahrhundert zu Schmuck- Der Baumfarn Psaronius besaß einen nach un-
steinen verarbeitet. In Wagenladungen ging es ten schlanker werdenden Stamm, der von einem

.. Abb. 2.45 a, b. a  Der Versteinerte Wald von Chemnitz. Verkieselte Stämme im Kultur- und Bildungszentrum TIETZ.
b Arthropitys. Insets: Rekonstruktion von Psaronius (rechts oben) und Ausschnitt aus dem Luftwurzelmantel des ver-
kieselten Baumfarnes (rechts unten). Jede Luftwurzel stellt einen kleinen Achat dar. Photos Rößler (2011), Museum für
Naturkunde Chemnitz
7
2.2  •  Paläozoikum (Erdaltertum) 147

 EXKURS 2.8 (Fortsetzung) 
Wurzelmantel umhüllt wurde, welcher nach unten ein wenig kleiner blieb Medullosa (. Abb. 2.45a), 1
an Breite zunahm und so zur Festigkeit beitrug. Auf wegen ihrer Wuchsform und Beblätterung zu-
Querschnitten sieht man außer dem Wurzelmantel nächst als Farn angesehen, später aber als Samen- 2
bandförmige Leitbündel. Psaronien wurden bis zu pflanze erkannt.
15 m hoch.
Baumförmige Schachtelhalme (Arthropitys,
Außerdem gab es in Karbon und Perm eine
Vielfalt weiterer Lebensformen unter Farnen und
3
Calamitea) erreichten über 5 m Höhe. Sie wuchsen Farnsamern, z. B. Lianen und Epiphyten (z. B. Anky-
vorwiegend in feuchten Regionen. Vermutlich noch ropteris, Tubicaulis und Callistophyton). 4

Massenaussterben im Perm 5
Am Ende des Perm kam es zu der dramatischsten
Katastrophe in der Geschichte der vielzelligen Or- 6
ganismen. Innerhalb von weniger als 1 Mio. Jahre
sank der Meeresspiegel stark ab, und umfangreiche 7
Flachmeer-Lebensräume fielen trocken. Extreme
Klimaschwankungen, durch Vulkanausbrüche, ins-
besondere der sibirischen Trappbasalte, bewirkt, 8
und der Anstieg des Kohlendioxid- und mögli-
cherweise auch Methangehaltes in der Atmosphäre 9
förderten den Treibhauseffekt. Wenig später stieg
der Meeresspiegel wieder an, und umfangreiche,
gerade neu entstandene Lebensräume wurden
10
überflutet. Über 90 % aller Meerestiere fielen die-
sen Ereignissen zum Opfer. Es war die erste große 11
Katastrophe nach der Eroberung des Landes durch
Wirbeltiere, und auch diese sowie andere terrest- 12
rische Formen waren stark betroffen. Die Zeit der
Calamiten und baumförmigen Bärlappgewächse
ging zu Ende. 13
Viele Charakterformen des Paläozoikums, z. B.
Trilobiten und Goniatiten starben aus. In der mari- 14
nen Fauna verschwanden des Weiteren die spindel-
förmigen Fusulinen (Foraminifera, . Abb. 2.46b),
außerdem die Alt-Korallen (Rugosa) und wohl die
15
Stromatoporen. Stark reduziert wurden die Bryo-
zoen, die sich jedoch später, insbesondere in der 16
Kreide, zu einer riesigen Formenfülle entwickelten.
17
.. Abb. 2.46 a,b   a Ende des Paläozoikums gab es einen dra- 18
matischen Rückgang des einzelligen Meeresplanktons und
damit der Produktion der Ozeane. Aus Hansch (2003, modifi-
ziert, Bildrechte liegen beim Städtischen Museum Heilbronn), 19
modifiziert. b Fossile Fusulinen aus den Höhen der Karnischen
Alpen: Benthische (= bodenlebende) Einzeller, die ihre Blüte
im Perm hatten und dann drastische Einbußen erlitten 20
148 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

Unter den Brachiopoden verschwanden die ko- Meer bzw. die Paläotethys, in einen Nord- und einen
rallenartig wachsenden, sehr dickschaligen Richt- Südkontinent geteilt. Im Jura war dieser Vorgang
hofenien und die mit langen Stacheln versehenen abgeschlossen, und aus Pangaea waren Laurasia
Productiden. Von den Ammonoiden überlebten nur und Gondwana geworden. Im weiteren Verlauf des
wenige. Gigantostracen verschwanden, Crinoiden Mesozoikums kam es zum Zerfall in mehrere Teile,
erlitten starke Verluste, weniger dagegen Muscheln und durch tektonische Vorgänge entstanden seit
und Schnecken (unter denen jedoch die Bellero- der Kreide große Gebirgsketten, z. B. am Westrand
phontaea ausstarben). Nord- und Südamerikas.
In terrestrischen Lebensräumen erloschen die Nach dem letzten Massenaussterben im Perm
Palaeodictyoptera und ursprüngliche Orthoptera, waren marine und terrestrische Lebensräume er-
Blattodea und Odonata. heblich verarmt. Viele Tiergruppen erholten sich
von dieser Katastrophe nur langsam, und die Viel-
falt des späten Perm wurde erst in der mittleren
2.3 Mesozoikum Trias wieder erreicht. Komplexe Riffe bildeten sich
(Erdmittelalter) ca. 10 Mio. Jahre nach dem permischen Massenaus-
sterben. Auch die Mollusken breiteten sich erneut
Auf das Perm, die letzte Periode des Paläozoikums, aus (insbesondere die Ammonoideen erlebten eine
folgte ein neuer Abschnitt der Erdgeschichte, das Blüte) und entwickelten eine viel größere Vielfalt als
Mesozoikum, das von 251 bis 65 Mio. Jahren vor im Paläozoikum. Der Erfolg der Mollusken dauert
heute dauerte. Es gliedert sich in Trias, Jura und bis heute an, und nach den Arthropoden sind die
Kreide. Die Bezeichnung Trias geht auf die Drei- Weichtiere mit über 100.000 Arten die zweitgrößte
teilung der Gesteine dieser Periode in Mitteleuropa Gruppe der rezenten Fauna. Der Schwerpunkt ihrer
zurück, nämlich Buntsandstein, Muschelkalk und Entfaltung liegt nach wie vor im Meer, am arten-
Keuper. Für die zweite Periode waren die Jurage- reichsten sind die Schnecken.
birge in der Schweiz und in Frankreich namenge- Im terrestrischen Bereich machten die Repti-
bend (Jura bedeutet in keltischer Sprache das Wald- lien eine einzigartige Entwicklung durch. Insbe-
gebirge), und nach der Schreibkreide, wie sie z. B. sondere die Formenvielfalt der Dinosaurier und
auf der Ostseeinsel Rügen zu Tage tritt, wurde die mariner Reptiliengruppen sowie die Größe vieler
dritte Periode benannt. Formen faszinieren heute viele Menschen. Im Ge-
Zu Beginn des Mesozoikums waren alle größe- gensatz zu den Reptilien blieben die Säugetiere des
ren Landmassen noch im Superkontinent Pangaea Mesozoikums unauffällig. In das Erdmittelalter
vereint, der das warme Klima dieser Zeit prägte. fällt auch die Entstehung der Angiospermen, die
Man ist der Ansicht, dass global ein ausgeprägtes Gymnospermen waren allerdings noch dominie-
Monsunklima herrschte, etwa wie heute in Süd- rend.
asien. Es war durch den starken Gegensatz zwischen
extrem trockener und extrem niederschlagsreicher
Jahreszeit gekennzeichnet („Megamonsun“), was
auch durch Sedimente und Fossilien belegt wird.
Pangaea grenzte an den Großozean Panthalassa
(. Abb. 2.47) und hatte eine solche Ausdehnung,
dass sein Großteil weit entfernt vom Meer lag und
niederschlagsarm (arid) war. Als riesiger, schät-
zungsweise 14.000 km langer Fluss erstreckte sich
der Ur-Amazonas vom Ennedigebirge bis zur
Panthalassa (. Abb. 1.22); er floss also von Afrika
nach Südamerika und mündete in den heutigen Pa-
zifik. Im Laufe der Zeit wurde dieser Superkontinent
durch eine eindringende „Meeresbucht“, das Tethys-
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 149

1
2
3
4
5
6

.. Abb. 2.47  Die paläogeographische Situation an der Perm-Trias-Grenze: Durch die Akkretion von Sibirien, Kasachstan (Ent- 7
stehung des Ural) und Nordchina entsteht der Superkontinent Pangaea. Am Nordostrand von Gondwana lösen sich Mikrokonti-
nente (Türkei-Iran,Tibet = Kimmerische Terranes) und wandern über die Tethys nach Norden. Nach Scotese u. Wertel (2006)
8
2.3.1 Trias driftenden Riesenkontinent Pangaea in den späte-
ren Nordkontinent Laurasia und den Südkontinent 9
Gondwana. Ein Teil der Tethys-Sedimente wurde
|
Übersicht              | später als riesige Gebirgskette von den Pyrenäen
über die Alpen, die Karpaten, den Kaukasus bis
10
Nach dem großen Aussterben am Ende des Pa-
läozoikums insbesondere Entwicklungsschübe zum Himalaja aufgefaltet; deshalb sind diese Hoch-
bei Korallen und Landwirbeltieren. Riffbildung gebirge so fossilienreich. In der Trias herrschte ein 11
wird von Scleractinia übernommen, die bis warmes Klima.
heute wesentlich am Aufbau von Korallenriffen In Mitteleuropa begann dieser Zeitabschnitt 12
beteiligt sind. Es erscheinen die Säuger. Repti- mit der Ablagerung des vor allem aus rötlichen
Sand-Ton-Steinen (. Abb. 2.48) und Tonsteinen
lien entwickeln sich zu beherrschenden Formen
im Meer, auf dem Land und in den Lüften. Im bestehenden Buntsandsteins (251–240 Mio. Jahre); 13
Meer spielen Crinoidea, Brachiopoden, Gastro- ihm folgte der marine Muschelkalk (240–232 Mio.
poden und vor allem Bivalvia eine bedeutende Jahre) mit Steinsalz, grauen Kalk- und Tonsteinen, 14
Rolle. Unter den Ammonoida sind die Ceratiten dann der Keuper (232–200 Mio. Jahre), dessen Ge-
steine meist tonig, aber auch sandig sind (Keuper
wichtige Leitfossilien. Fossilien im südwest-
von fränkisch „Kipper, Keiper“ für zerfallendes
15
deutschen Raum vermitteln uns einen Einblick
in die marine Organismenwelt dieser Zeit. Die Gestein). Buntsandstein und Keuper sind meist
Pflanzenwelt wird von Nadelbäumen, Ginkgo- arm an Fossilien, sie sind überwiegend festländi- 16
gewächsen und Farnen dominiert. Es entsteht sche Bildungen. Beim Muschelkalk handelt es sich
die erste Zwitterblüte (bei den Bennettitales). um Meeresablagerungen. Große Entwicklungs- 17
Die Trias endet mit einem Massenaussterben. schritte erfolgten bei verschiedenen Reptilien, z. B.
Krokodilen, Dinosauriern und Flugsauriern. Die
Dinosaurier waren so auffällige Tiere, dass das Me- 18
sozoikum auch als „ihr“ Zeitalter angesehen wird,
In der Trias (251–200 Mio. Jahre vor heute) teilte das zumindest aber als das der Reptilien. Einen guten 19
Tethys-Meer – zunächst nur ein Golf und benannt Einblick in die mesozoische Organismenwelt, spe-
nach der Schwester und Gattin des griechischen ziell die des Muschelkalks, kann man sich an ver-
Meeresgottes Okeanos – langsam den nach Norden schiedenen Stellen in Mitteleuropa verschaffen.
20
150 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.48 a–c a Landschaft der Buntsandsteinzeit mit Pleuromeia (im Vordergrund) und Voltzia (weiter hinten) in den
Augen eines Künstlers (Werner Weissbrodt). In der Senke liegen mehrere große Lurche (Mastodonsaurus). b Roter Buntsandstein
prägt heute z. B. Heidelberg mit seinem Schloss und baut wesentliche Teile der Nordseeinsel Helgoland auf (c) (Photo: K. Anger)

Der Muschelkalk findet schon lange als Werkstein km2 werden in Deutschland von den grauen Kalk-
Verwendung und prägt Kulturlandschaften und steinen des Muschelkalkes geprägt, d. h. hier tritt
bekannte Gebäude, z. B. Orte in Franken, Staufer- er unmittelbar zutage. Die Bedeutung als Baustein
burgen an Neckar, Jagst und Kocher, den Dom zu trifft auch für den Buntsandstein und die Keuper-
Naumburg (. Abb. 2.49), den Stuttgarter Haupt- sandsteine zu, die jeweils ganze historische Bau-
bahnhof und das Berliner Olympiastadion. 25.000 landschaften prägen.

  EXKURS 2.9  

Mitteleuropa zu Beginn des Mesozoikums:


Meerestiere im Germanischen Becken
Das heutige Mitteleuropa wurde in der Trias von ei- ausfüllte. Das Muschelkalkmuseum Hagdorn,
nem großen Senkungsgebiet eingenommen, dem Schlossstraße 11, 74653 Ingelfingen (nahe Heil-
Germanischen Becken. Die Sedimente, die dieses bronn) vermittelt einen hervorragenden Einblick
Becken auffüllten, lassen eine deutliche Dreigliede- in die Organismenwelt Mitteleuropas vor 235 Mio.
rung erkennen, die den Salinendirektor von Fried- Jahren.
richshall, Friedrich von Alberti 1834 veranlasste, die Die wohl auffälligsten Muschelkalkfossilien
Schichtenfolge aus Buntsandstein, Muschelkalk und sind die Ceratiten (. Abb. 2.49c). Sie bewohnten
Keuper als Trias zu bezeichnen. Heute findet dieser mit vielen Gattungen die Meere der Trias, doch
Begriff allgemein Verwendung, wenn auch die Glie- wurden von ihnen im Muschelkalkmeer nur wenige
derung anderenorts nicht in der Weise hervortritt heimisch. Muscheln gehörten nach der starken De-
wie im süddeutschen Raum. zimierung der Brachiopoden Ende des Perm zu den
Eine besonders reichhaltige Fossilfauna ist aus großen „Gewinnern“ und besetzten viele Lebens-
dem subtropischen Muschelkalkmeer erhalten, das räume. Sie drangen in Meeresböden ein (Glottidia)
als Randmeer der Tethys das Germanische Becken oder bauten bisweilen zusammen mit Seelilien
7
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 151

 EXKURS 2.9 (Fortsetzung) 
1
2
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6
7
8
.. Abb. 2.49 a–c a Ansicht des Muschelkalkmeeres in den Augen eines Künstlers (Werner Weissbrodt). Direkt über
dem von Muschelbänken und Seelilien dominierten Meeresboden Pflasterzahnechsen (Placodontia), weiter oben
9
Cephalopoden (Germanonautilus), dazwischen Ganoidfische und Haie. b Naumburger Dom, c Steinkern von Ceratites,
einem im Muschelkalkmeer häufigen Ammonoideen 10
Riffe. Wesentlich daran beteiligt war die etwa Euro- gen angereichert wurden (bonebeds). Über große
große Placunopsis ostracina (. Abb. 2.50), die mit Flächen erstreckt sich das Muschelkalk-Keuper- 11
ihrer rechten Klappe an der Unterlage festwuchs Grenz-bonebed vom Hochrhein bis ins Thüringer
und meterhohe Riffe bildete. Die großwüchsige Becken. Bei Crailsheim (Baden-Württemberg) und 12
Schnecke Undularia gehört zu den häufigen Be- Rothenburg ob der Tauber (Bayern) ist es beson-
standteilen der „Muschelkalkpflaster“, die im Mu-
schelkalkmeer nach Stürmen abgelagert wurden
ders fossilreich.
Die ökologischen Nischen der heutigen Rob-
13
(Sturmablagerungen = Tempestite). Die Stielglie- ben und Wale wurden im Muschelkalkmeer von
der der Seelilien waren schon lange als Trochiten Reptilien eingenommen. Die räuberischen Notho- 14
bekannt (Bonifatius-Pfennige, Sonnenrädchen, He- saurier (. Abb. 2.52a) und die schalenknackenden
xengeld, . Abb. 1.23a). Der zehnarmige Encrinus Placodontier (. Abb. 2.52b) konnten sich noch am 15
liliiformis (. Abb. 2.51) ist eine besonders bekannte Land bewegen und legten hier wohl auch ihre Eier
Form; man findet ihn unter anderem im Jagsttal ab, die viviparen Ichthyosaurier (s. Abschn. 2.3.1)
bei Crailsheim und auf dem Höhenzug des Elm bei waren dagegen reine Wassertiere. 16
Braunschweig. Dort bilden Trochitenkalke meterdi- Nothosaurier ernährten sich von Cephalopo-
cke Lagen, die auch als Baustein Verwendung fan- den und Fischen. Nothosaurus giganteus war die 17
den. Freyburg an der Unstrut ist klassischer Fund- größte Art, sie erreichte 5 m Länge.
ort der zwanzigarmigen Art Carnallicrinus carnalli
(. Abb. 2.51).
Die etwa 1,5 m langen Placodontia (Pflaster-
zahnechsen) sind vorwiegend aus Mitteleuropa
18
Auch Fische lebten im Muschelkalkmeer. Es do- bekannte Formen mit meißelförmigen Greifzäh-
minierten die Actinopterygii. Die meisten muss nen und flachen, schwarzen oder dunkelbraunen 19
man allerdings aus Einzelknochen, Zähnen und Quetschzähnen zum Zerdrücken der Nahrung (z. B.
Schuppen rekonstruieren, die oft in großen Men- Mollusken). Sie sind eine nur aus der Trias bekannte 20
7
152 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.9 (Fortsetzung) 

.. Abb. 2.50 a–f  Benthos-Lebensgemeinschaft des Muschelkalkmeeres. Besonders auffallende Formen sind verschie-


dene Muscheln, z. B. a die austernartige Gattung Enantiostreon und Miesmuscheln (b Promysidiella, c Myalina) und
Seelilien (d Encrinus liliiformis). Wichtige Faunenelemente sind auch Brachiopoden (e Coenothyris) und die bisweilen
riffbildende Muschel Placunopsis (f). Nach Hagdorn u. Simon (1988)

Gruppe; alle Funde stammen aus den Randgebie- Blick an Schildkröten. Henodus lebte wohl in Tüm-
ten des Tethys-Meeres. Placodus gigas ist in Mit- peln oder Fließgewässern.
teleuropa die häufigste Art. Zur Nahrungssuche Ein besonders merkwürdiges Reptil ist der Gi-
suchte Placodus wohl die küstennahen Muschel- raffenhalssaurier (Tanystropheus, . Abb. 2.52c), der
bänke auf, wo er Muscheln und andere Tiere mit 6 m Länge erreichte, wovon über die Hälfte auf den
Hartteilen erbeutete. Eine andere Gattung (Heno- Hals entfiel. Er wurde z. B. bei Berlin (Rüdersdorf ),
dus) wurde im Keuper von Tübingen gefunden. Bayreuth, Jena und in den Tessiner Kalkalpen ge-
Sie erinnert durch ihren breiten Rückenschild (und funden.
einen entsprechenden Bauchschild) auf den ersten

7
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 153

 EXKURS 2.9 (Fortsetzung) 

.. Abb. 2.51  Crinoidea (Seelilien). Encrinus liliifor- 1


mis, Stiel und Krone in Seitenansicht. Carnallicrinus
carnalli, Krone mit ausgebreiteten Armen, ohne Stiel.
Diese Stachelhäuter wurden als „Blumen aus dem 2
Steinbruch“ schon früh geschätzt und gehandelt.

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.. Abb. 2.52 a–c a Nothosaurier (Nothosaurus), 4–5 m lang, b Placodontier (Cyamodus), 1,5 m lang, daneben Oberkie-
fer mit Pflasterzähnen, c Tanystropheus, 6 m lang. Nach Scheffold in Brinkmann (1994)
19
20
154 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

Die modernen riffbildenden Korallen, die Scler- (. Abb. 2.49) so häufig, dass man sie heute in vie-
actinia (Madreporaria), entwickelten sich in vielfäl- len Steinbrüchen und auf Äckern, z. B. bei Braun-
tiger Weise. Diese Gruppe umfasst einige solitäre schweig und im Thüringer Becken, findet.
und viele koloniebildende Gattungen. Heute bauen Auch Seeigel entfalteten sich in starkem Maße
sie eines der reichsten Ökosysteme unserer Erde auf. in benthischen Lebensräumen des Muschelkalk-
Die frühen Scleractinia lebten in vergleichsweise meeres. Generell war die Stachelhäuterfauna jedoch
tiefem Wasser. Im Gegensatz zur Mehrzahl der re- verarmt. Eine verbreitete Gruppe von Seelilien sind
zenten, vorwiegend im Flachwasser vorkommen- die Encrinidae (. Abb. 2.51).
den, riffbildenden (= hermatypen) Korallen haben Wegen des großen Erfolges der Scleractinia, der
sie also wohl nicht mit photosynthetisierenden Ein- Muscheln, Schnecken und Seeigel glich das benthi-
zellern in Symbiose gelebt. Diese extrem wichtige sche Leben des frühen Mesozoikums den heutigen
symbiotische Beziehung ist erst später in der Trias Verhältnissen mehr als den paläozoischen. Noch
oder im Jura entstanden, als die Scleractinia große fehlten allerdings die vielen modernen Arthropo-
Riffe aufzubauen begannen. Das größte rezente Riff den. In der Mitteltrias sind jedoch bereits einige
ist das Große Barriereriff vor der Nordostküste Aus- Decapoda-Gruppen belegt, z. B. die „Ur-Languste“
traliens. Es erstreckt sich über eine Länge von etwa Pemphix.
2300 km bei einer maximalen Breite von 300 km. Im Pelagial entfalteten sich die Dinoflagellaten,
Ein weiteres Merkmal mesozoischer und moderner die bis heute wichtige Bestandteile mariner Nah-
Riffe ist ihre enge Assoziation mit Kalkalgen. Diese rungsnetze darstellen.
versehen die abgestorbenen Riffteile mit einer festen Ähnlich wichtig für die stratigraphische Korre-
Kruste und schützen sie vor Zerstörung. lation triassischer Gesteine wie die Ammoniten sind
Schnecken und Muscheln, die vom permischen die Conodonten.
Massenaussterben weniger stark betroffen waren als Unter den Fischen dominierten die Actino­
viele andere Gruppen, wurden schon in der unteren pterygii, z. B. die Chondrostei mit Gyrolepis im Mu-
Trias und besonders in der folgenden Zeit zu domi- schelkalk. Auch die Haie traten deutlicher hervor
nierenden marinen Organismen. Muscheln mach- (Acrodus, Hybodus), einige waren Molluskenfresser.
ten eine geradezu explosive Entfaltung durch. Sie Die am besten erhaltene und individuenreichste
übertrafen jetzt die Brachiopoden an Formenfülle. Fischfauna des mitteleuropäischen Buntsandsteins
Eine wichtige Gruppe sind die Trigonioida, von de- ist von Durlach bei Karlsruhe und gleichaltrigen
nen einzelne Formen noch heute leben. In der Al- Schichten in den Vogesen bekannt.
pinen Trias und im Germanischen Muschelkalk wa- Unter den Amphibien gab es sehr große For-
ren sie verbreitet und formenreich. Stratigraphisch men, z. B. den bis 5 m langen Labyrinthodontier
wichtig sind die Myophorien. Gesteinsbildend in Mastodonsaurus („Zitzenzahnsaurier“, so genannt
der Alpinen Trias wurden die dickschaligen, bis zu wegen seiner eigenartig geformten Zähne), dessen
20 cm langen Megalodontidae, die im Tethys-Meer Kopf über 1 m Länge erreichte. Der bislang längste
verbreitet waren. Unterkiefer (1,4 m) wurde bei Kupferzell im Ho-
Die Ammonoida erholten sich besonders rasch henloher Land (Baden-Württemberg) in einem
vom starken Rückgang am Ende des Perm. Man „Sauriermassengrab“ gefunden. Weitere Exemplare
nimmt an, dass nur zwei Gattungen die permische kennt man beispielsweise aus Thüringen (Bedheim,
Katastrophe überlebt hatten, und in der frühen Hildburghausen). Mastodonsaurus war vermutlich
Trias gab es bald mehr als 100 Gattungen. Einige ein träger Wasserbewohner, der nur gelegentlich an
lebten nur vergleichsweise kurz, manchmal weni- Land ging. Reste ähnlicher Labyrinthodontier wur-
ger als 1 Mio. Jahre. Das machte sie zu wertvollen den auch im Buntsandstein nachgewiesen. Aus dem
Leitfossilien. Die adaptive Radiation der Ammono- Buntsandstein sind weiterhin Capitosaurus und
idea ging wohl von Ophiceras, einem Nachfahren Trematosaurus zu nennen. Einen Panzerlurchschä-
von Xenodiscus, aus. In unglaublicher Formenfülle del kennen wir sogar aus dem Buntsandstein der
bevölkerten diese „Ceratiten“ die Meere. Im germa- Nordseeinsel Helgoland. Bis 5 m lang wurde Koola-
nischen Muschelkalkmeer war die Gattung Ceratites suchus, den man in der Unterkreide Südaustraliens
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 155

gefunden hat. Zu Beginn der Trias traten die ersten nen es Fleisch- und Pflanzenfresser gab. Jüngere
Froschlurche auf. Triadobatrachus aus triassischen Formen des späten Perm und der Trias waren die 1
Ablagerungen Madagaskars wird als besonders ur- Therapsida, deren eine Untergruppe, die carnivo-
sprüngliche Form aus der Fossilgeschichte der An­ ren Theriodontia, sich insgesamt zunehmend dem 2
uren angesehen. Säugetierniveau annäherte.
Auf die außerordentliche Entwicklung der Rep- Säugetiere sind morphologisch-paläontologisch
tilien war schon oben hingewiesen worden. Zu durch die Entstehung folgender Merkmale gekenn- 3

-
Beginn der Trias erschienen die Thecodontia, i. A. zeichnet:
kleine Formen mit grubenförmigen Vertiefungen sekundäres Kiefergelenk (zwischen Dentale 4

--
(Alveolen) in den Kiefern, in denen die Zahnwur- und Squamosum)
zeln steckten. Diese Tiere waren bald weltweit ver- drei Gehörknöchelchen
5
--
breitet. Sie sind die Grundgruppe der Archosauria, einheitlicher Unterkiefer
der beherrschenden Reptilien des Mesozoikums; heterodontes Gebiss

-
hierher gehören u. a. auch die Dinosaurier (s. Ab- differenzierte Wirbelsäule 6
schn. 2.3.1). zwei Hinterhauptskondylen
In der Trias gab es zahlreiche Meeresreptilien, 7
z. B. die schon erwähnten Placodontia und Notho- Die Extremitäten legen sich dem Körper seitlich an
sauria. Beide Gruppen überlebten die Trias nicht. und stehen nicht wie bei Reptilien seitlich von ihm
Aus den Nothosauriern jedoch gingen die ab. Paläontologisch nicht oder nur selten nachweis- 8
Plesiosaurier (. Abb. 1.25b) hervor, die in me- bar sind Säugetiermerkmale wie Homoiothermie,
sozoischen Meeren später eine bedeutende Rolle Haarkleid, Viviparie und Milchdrüsen. Ursprüng- 9
einnahmen. Ihre frühesten Vertreter sind die in liche Säuger legen noch Eier (Monotremen).
der Mitteltrias Europas und Amerikas belegten Innerhalb der Theriodontia sind vermutlich
Pistosaurier. Plesiosaurier waren Fischfresser und die triassischen Cynodontia die Ursprungsgruppe
10
erreichten eine Länge von über 15 m. Für Liopleu- der Säugetiere. Aus der Trias sind echte Zwischen-
rodon wird eine Schädellänge von bis zu 3 m ange- formen zwischen Reptilien und Säugern gefunden 11
geben. Ihre Extremitäten waren Paddel. worden, z. B. in Südafrika Diarthrognathus.
Äußerlich fisch- oder delphinartig waren die Die ersten Säugetiere stammen aus der Oberen 12
Ichthyosaurier (. Abb. 2.61) oder Fischechsen, die Trias und sind somit älter als Vögel und Teleos-
ebenfalls zuerst in der Trias erschienen. Ichthyosau- teer. Während des Mesozoikums blieben sie eine
rier lebten im offenen Ozean, waren schnelle, räube- Gruppe vorwiegend kleiner Tiere, die im Schatten 13
rische Schwimmer mit großen Augen und brachten der großen mesozoischen Saurier standen. Ihre
lebende Junge zur Welt. Ihre Schwanzflosse erfuhr Vielfalt war im Mesozoikum jedoch wesentlich 14
auffallende Umformungen (. Abb. 2.61). Sie er- größer als noch vor kurzer Zeit angenommen. Sie
reichten eine Länge von über 20 m. umfasste ganz unterschiedliche Gruppen wie z. B.
Die letzte wichtige marine Reptiliengruppe der die nagerähnlichen Multituberculata und sogar an
15
Trias – und des späteren Mesozoikums – waren die eine subterrane Lebensweise angepasste Gruppen.
Krokodile. Noch in der Trias entwickelten sie sich Die Stammlinie zu den modernen Säugetieren 16
zunächst zu Landtieren. ist ab dem späten Jura zu verfolgen. Diese Tiere
besaßen Molaren mit dreiecksartig angeordneten 17
Theropsida (säugetierähnliche Haupthöckern und entsprechen am ehesten dem
Reptilien), Mammalia (Säugetiere) Typus eines generalisierten Insektenfressers. Über
Die Synapsida (= Theromorpha) sind eine alte Rep- Gruppen, die taxonomisch Trechnotheria, Clado- 18
tiliengruppe, die seit dem Karbon zu verfolgen ist theria und Zatheria genannt werden, wird in der
und aus der Basisgruppe der Reptilien hervorgeht. frühen Kreidezeit die Gruppe der Tribosphenida 19
Aus ihnen sind am Ende der Trias die Säugetiere erreicht, die einen Molarentyp besaßen, der schon
entstanden. Alte, z. T. recht große Formen in Kar- dem der späteren Säugetiere vergleichbar ist. In
bon und Perm waren die Pelycosauria, unter de- diesen Tribosphenida wurzeln die Theria mit den
20
156 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

Australiens (zählte damals noch zu Gondwana)


lassen sich den Monotremen zuordnen, Monotre-
matum stammt aus dem Paleozän Patagoniens. Von
den Monotremen überleben bis heute die Schnabel-
tiere und Ameisenigel in Australien und Neuguinea.
Nur die Schnabeltiere besitzen noch Zähne, die aber
schon bei Jungtieren ausfallen.
Die Beuteltiere sind heute auf Amerika (primär
Südamerika), die östliche indonesische Inselwelt,
Neu-Guinea und Australien beschränkt. Das älteste
bekannte Beuteltierfossil (Sinodelphys) stammt aus
der Kreide Chinas und ist etwa 125 Mio. Jahre alt.
Zunächst besiedelten die Beuteltiere nur die Nord-
hemisphäre. Vor etwa 100 Mio. Jahren erreichten sie
Nordamerika. Im Paläogen starben sie in Eurasien
aus. In Amerika erfolgte die Ausbreitung gen Sü-
den bis Antarktika und von dort vor etwa 50 Mio.
Jahren – als es auch bei uns noch Beuteltiere gab (s.
EXKURS 2.15 Abschn. 2.4.1) – nach Australien. Auf
diesem späteren Inselkontinent machten sie dann
eine adaptive Radiation durch.
Die Placentalia sind seit dem späten Jura be-
kannt (Juramaia aus China) und erlebten in der
Kreide, vor etwa 90 Mio. Jahren, eine rasche Radi-
ation. Diese wird mit einem erheblichen Tempera-
turanstieg und der Fragmentation von Laurasia und
Gondwana in Verbindung gebracht. Die Befunde
aus Paläontologie, vergleichender Anatomie und
Molekularbiologie ergeben bis heute allerdings kein
ganz klares Bild der Verwandtschaftsverhältnisse
der Placentaliaordnungen, weswegen auch Hybri-
disierung und damit eine reticulate Evolution disku-
tiert werden (s. EXKURS 3.1 Abschn. 3.2.7).

Pterosauria (Flugsaurier)
Die Flugsaurier (. Abb. 2.53) beherrschten den
.. Abb. 2.53 a–g  Flugsaurier. a–c Rekonstruktion von
Köpfen. a Eudimorphodon, b Dorygnathus, c Anhanguera,
Luftraum von der späten Trias (Eudimorphodon)
d–g Flugbilder im Vergleich zur Größe eines Menschen, bis zur Kreide-Tertiär-Grenze, also über eine Zeit-
d Eudimorphodon, e Rhamphorhynchus, f Quetzalcoatlus (Flü- spanne von über 150 Mio. Jahren. Die Funde stam-
gelspannweite 12 m), g Pterodactylus. Nach Wellnhofer (1991) men fast alle aus marinen Ablagerungen, so dass
gefolgert werden kann, dass sie wohl vor allem
heutigen Beuteltieren (Metatheria = Marsupialia) fliegende Bewohner der Küsten und des offenen
und den Placentalia (=Eutheria). Meeres waren. Die Pterosauria hatten ein leicht
Die Monotremata (=Prototheria) sind heute nur gebautes Skelett und einen typischen Archosau-
noch isolierte kleine Säugetiergruppe mit vielen al- rierschädel, der die Tendenz zum Verschmelzen
tertümlichen morphologischen Merkmalen. Ver- der Knochennähte zeigte. Die Verschiedenheit ih-
mutlich gehen sie auch von den Tribosphenida aus. rer Gebisse spricht für unterschiedliche Nahrung
Steropodon und Teinolophos aus der frühen Kreide und Ernährungsweisen. Die frühesten Formen wie
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 157

Eudimorphodon (. Abb. 2.53a) hatten vielspitzige Das Gehirn der Flugsaurier war relativ groß. Die
Zähne. Daraus entwickelten sich einheitlich gestal- Riechanteile sind klein, während die optischen und 1
tete, einspitzige Zähne, die bisweilen nach vorne bewegungskoordinatorischen Anteile groß sind.
gerichtet waren (Dorygnathus, . Abb. 2.54b). Bei Wahrscheinlich waren die Flugsaurier hoch ak- 2
zahlreichen Flugsauriern sind die Zähne auf den tive und warmblütige Lebewesen, die vollständig
vorderen Schnabelbereich konzentriert (Gallodac- getrennte Herzhälften und ein effizientes Atmungs-
tylus, Ornithocheirus, Anhanguera, Tropeognathus; system besaßen. Dafür spricht auch der Nachweis 3
. Abb. 2.53c). Pteranodon, Tapejara und Quetzal- von 2–3 mm langen, haarähnlichen Strukturen, die
coatlus sind zahnlos. Bei Pterodaustro und Cte- bei einigen Flugsaurierfossilien überliefert sind. 4
nochasma bilden dagegen mehrere hundert dünne, In systematischer Hinsicht werden zwei Haupt-

-
dicht stehende Zähne ein Reusengebiss, das an die gruppen unterschieden:
Barten von Walen erinnert. Die meisten Flugsaurier Rhamphorhynchoidea (Langschwanzflugsau-
5
ernährten sich wahrscheinlich von Meerestieren. Im rier, . Abb. 2.53d,e): Späte Trias, Jura; Flügel-
Fossil überlieferte Fischreste wurden bei Eudimor- spannweite 0,3–1,75 m, langer Schwanz, meist 6
phodon und Pterodactylus nachgewiesen. zahlreiche Zähne, Hinterhauptsloch weist nach
Der Rumpf der Flugsaurier war im Verhältnis zu caudal, Flugfinger macht etwa zwei Drittel der 7
-
den Flügeln klein und kompakt. Das breite Sternum, Flügellänge aus.
das an seinem Vorderende einen Fortsatz (Cristo- Pterodactyloidea (Kurzschwanzflugsaurier,
spina) aufwies, bot eine große Ansatzfläche für die . Abb. 2.53f,g): Später Jura, Kreide; Flü- 8
Flugmuskulatur. Der Schultergürtel bestand aus gelspannweite 0,3–12 m, kurzer Schwanz,
Scapula und Coracoid. Diese waren nahtlos mitei- unterschiedliche Gebisstypen, auch zahnlose 9
nander verwachsen. Bei späten Formen wie Pteran- Formen, Hinterhauptsloch weist nach caudo-
odon bilden die beiden Schultergürtelhälften einen ventral, Flugfinger macht etwa die Hälfte der
geschlossenen Ring, der mit den Dornfortsätzen der Flügellänge aus.
10
Rumpfwirbelsäule in fester Verbindung steht. Dies ist
von keiner anderen Wirbeltiergruppe bekannt. Die Dinosaurier 11
Hälfte bis etwa zwei Drittel der Länge des luftgefüll- Keine andere Gruppe ausgestorbener Tiere hat so
ten Armskeletts macht der extrem verlängerte vierte viel Interesse in weiten Kreisen der Bevölkerung 12
Finger (Flugfinger) aus. An ihm ist die Flughaut auf- hervorgerufen wie die Dinosaurier. Heute gibt es
gespannt, die sich entlang der Körperflanken bis zum eine Reihe von Museen mit sehr guten Ausstel-
Knie erstreckt. Die anderen drei Finger sind klein und lungen (. Abb. 2.54a, Senckenberg-Museum in 13
weisen Krallen auf. Der fünfte Finger fehlt. Zwischen Frankfurt/Main) und Sauriertrittfährten, Ausgra-
den relativ schwachen Beinen spannt sich ebenfalls bungsstätten (. Abb. 2.54b), die für die Öffentlich- 14
eine Flughaut (Uropatagium), die zur Steuerung ge- keit zugänglich sind, und auch Freilichtmuseen, in
nutzt wurde. Bei den kurzschwänzigen Formen ist denen Modelle von Dinosauriern zu bewundern
der Schwanz völlig in die Flughaut integriert, bei den sind, z. B. in Münchehagen (bei Hannover) und in
15
langschwänzigen ragt er weit über sie hinaus und Kleinwelka (Bautzen, . Abb. 2.54c).
trägt an seinem Ende ein vertikal stehendes Hautse- Die Dinosaurier umfassen eine Fülle landle- 16
gel. Die riesigen Flugsaurier der Oberkreide waren bender mesozoischer Reptilien (. Abb. 2.55, 2.56),
vermutlich Segelflieger. Es ist anzunehmen, dass die die z. T. sehr groß wurden und das dominierende 17
kleinen Arten aktiv fliegen konnten (Ruderflug) und Element der damaligen terrestrischen Fauna wa-
entsprechend wendig waren. Am Boden bewegten ren. Diese vielseitigen und anpassungsfähigen
sich die Flugsaurier auf allen Vieren (quadruped) Reptilien entstanden vor ca. 230 Mio. Jahren und 18
fort, wobei der Flugfinger zum Körper hin einge- starben vor ca. 65 Mio. Jahren aus. Sie existierten
klappt wurde (. Abb. 1.31b). Fossilisierte Flugsau- also ungefähr 165 Mio. Jahre. Über 600 Arten sind 19
rierfährten belegen diese Fortbewegungsweise. Die bisher bekannt geworden, für die man mehr als
großen Flugsaurier landeten wie heutige Albatrosse 500 Gattungen aufgestellt hat. Sie entwickelten sich
wahrscheinlich nur selten, etwa zum Brüten. nach ihrem ersten Auftreten – die ältesten Funde
20
158 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.54 a–c  Dinosaurier im Museum, am Fundort, auf Briefmarken und im Freiluftpark. a Senckenberg Museum (Frank-
furt/Main), b Fundstätte im Dinosaurier-Nationalmonument (USA), c Saurierpark Kleinwelka. Photo B. Herkner

stammen aus NW-Argentinien – außerordentlich ihre Beinstellung. Während Echsen mit seitlich ab-
schnell in verschiedene Richtungen. Dinosaurier gespreizten Extremitäten laufen, werden die Beine
unterscheiden sich von anderen Reptilien u. a. durch der Dinosaurier wie bei Vögeln und Säugetieren
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 159

.. Abb. 2.55 a–c a Phy-
logenetische Beziehun-
gen der Dinosaurier,
1
b Saurischia-Becken,
c Ornithischia-Becken. Der 2
Aufbau der Gelenkgrube für
den Oberschenkelknochen
ist noch unbekannt 3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
unter dem Körper in einer senkrechten Ebene vor Nach der Form ihres Beckens werden die Dino-
und zurück bewegt (parasagittale Beinstellung). saurier in zwei Hauptgruppen unterteilt, die Sauris- 13
Dies wird als wichtige Voraussetzung für schnelles chia (Echsenbecken-Dinosaurier) und die Ornithi-
und vor allem ausdauerndes Laufen über große Dis- schia (Vogelbecken-Dinosaurier) (. Abb. 2.55a). 14
tanzen betrachtet. Es gilt inzwischen als sicher, dass Diese Bezeichnungen sorgen häufig für Verwirrung,
zumindest bestimmte Vertreter aus der Gruppe der da das Vogelbecken, anders als der Name vermu-
Theropoden, die evolutionär zu den Vögeln über- ten lässt, tatsächlich mehr Ähnlichkeit mit dem
15
leiten, warmblütig (endotherm) waren. Fossilfunde der Saurischia zeigt als mit dem der Vogelbecken-
von Federn bzw. federähnlichen Strukturen bei Dinosaurier. Jede Beckenhälfte besteht aus drei Ele- 16
Sinosauropteryx, Caudipteryx, Sinornithosaurus, menten, Ilium, Ischium und Pubis (. Abb. 2.55b,c).
Cryptovolans, Microraptor und anderen deuten in Alle drei Knochen haben Anteil an der Hüftgelenk- 17
dieselbe Richtung. Einige Merkmale am Skelett wei- pfanne (Acetabulum). Von dort aus weisen sie in
sen darauf hin, dass zumindest die Vertreter aus die- drei Richtungen. Das Ilium, das die Verbindung zur
ser Gruppe über ein Lungen-Luftsack-System wie Wirbelsäule herstellt, weist nach oben, das Ischium 18
heutige Vögel verfügten, mit dem eine entsprechend schräg nach hinten und das Pubis schräg nach
hohe Respirations- und Ventilationsleistung sowie vorn. Dies ist auch bei der Mehrzahl der Saurischia 19
eine Unterstützung der Thermoregulation verbun- der Fall. Bei Vögeln weist das Pubis dagegen nicht
den war. Bei manchen Formen zogen die Luftsäcke schräg nach vorn, sondern wie das Ischium schräg
bis in Wirbel und Rippen. nach hinten und liegt diesem unmittelbar an. Bei
20
160 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

nach zwei Jahrzehnten erreicht wurde. Dem Riesen-


wuchs war wohl auch förderlich, dass die Pflanzen-
nahrung (es handelte sich um Farne, Schachtelhalme
und Nadelbäume) nicht gekaut, sondern sogleich ge-
schluckt wurde, um dann in einem umfangreichen
Verdauungstrakt aufgearbeitet zu werden. Mit ihrem
langen Hals konnten die Riesensauropoden zudem
von der Krautschicht bis zu Baumspitzen alles errei-
chen, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
Manche Dinosaurier besaßen offensichtlich ein
hochentwickeltes Sozialleben. Dies wird vor allem
für Dinosaurier der Kreidezeit vermutet. Dazu ge-
hört auch z. B. koloniales Brutverhalten und Be-
treuung der aus den Eiern geschlüpften Jungtiere
.. Abb. 2.56  Eigelege von Oviraptor aus der Mongolei.
(Maiasaura). Bei anderen Formen verließen die
Original Senckenberg, Frankfurt/Main
Jungen vermutlich sofort nach dem Schlüpfen das
Nest und wurden nicht betreut. Man geht heute
denjenigen Vertretern der Saurischia, die in enger davon aus, dass alle Dinosaurier eierlegend waren
verwandtschaftlicher Beziehung zu den Vögeln ste- (. Abb. 2.56).
hen, ist dies in gleicher Weise der Fall. Sowohl bei Insbesondere aus der Mongolei, Argentinien
Vögeln als auch bei den Saurischia stehen die Ilia und aus Südfrankreich kennt man fossile Dinosau-
senkrecht und die Muskelansatzflächen der Extre- riergelege. In manchen Fällen steht die Artzugehö-
mitäten weisen nach außen. Bei den Ornithischia rigkeit der Eier fest. So hatte der Theropode Ovi-
stehen die Ilia dagegen eher waagerecht und die raptor aus der Mongolei knapp 20 cm lange Eier,
Muskelansatzflächen weisen nach unten. In dieser die zu etwa 20 Stück in Nester abgelegt wurden. In
biomechanisch bedeutenden Hinsicht ist das Be- Argentinien entdeckte man auf kleinem Raum so
cken der Ornithischia, der so genannten Vogelbe- viele Gelege, dass Brüten in Kolonien möglich er-
cken-Dinosaurier, völlig anders konstruiert als das scheint. Man fand zudem Skelette von Embryonen
der Vögel. Die einzige Gemeinsamkeit des Beckens in Dinosauriereiern. Die Sauriereier der Provence
der Ornithischia mit dem der Vögel besteht in dem (Aix-en-Provence, Montpellier) sind nicht mit Si-
bei diesen ausnahmslos schräg nach hinten weisen- cherheit zuzuordnen; vermutlich gehören sie zu
den Pubis. Hypselosaurus.
Ein besonderes Kennzeichen vieler Dinosaurier Lange basierten unsere Kenntnisse über Dino-
ist ihr Riesenwuchs (Gigantismus). Zu ihnen gehö- saurier überwiegend auf Funden von der Nordhe-
ren die schwersten Landtiere aller Zeiten. Allerdings misphäre. Speziell durch Funde aus Argentinien
werden die Angaben zu ihrer Körpermasse in neu- wurde dieses Bild seit den 1990ern stark erweitert.
erer Zeit nach unten korrigiert. Moderne Analyse- In diesem Land sind mittlerweile Formen aus al-
techniken haben gezeigt, dass ihr Knochenskelett len drei Epochen des Mesozoikums gefunden wor-
– abgesehen von den massiven Beinknochen – be- den. Derzeit sind die ältesten und auch die größten
sonders leicht gebaut waren. Die Halswirbel erin- Dinosaurier von hier bekannt. Lagosuchus gilt als
nern in ihrer Architektur geradezu an Styropor. potenzieller Vorläufer der Dinosaurier, Eoraptor
Für den Giganten Brachiosaurus werden derzeit und Panphagus stehen an der Basis. Sie lebten in
38 t Körpermasse für möglich gehalten (statt früher der Trias, als der Riesenkontinent Pangaea noch
75 t), was eine Laufgeschwindigkeit von 20 km/h existierte. Nach seiner Trennung in Laurasia und
ermöglicht haben könnte. Gondwana kam es auf dem Nordkontinent zur
Derzeitige Schätzungen gehen davon aus, dass Entfaltung der Ornithischia (s. EXKURS  2.10),
bei Großformen ein jährlicher Massenzuwachs von z. B. der Pflanzen fressenden Stegosaurier, Anky-
bis zu 2 t möglich war und dass die Geschlechtsreife losaurier und Ceratopsier, die auf dem Südkonti-
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 161

nent fehlen. Hier wurden die Sauropoden (s. EX- breite von 1,30 m. Diese wird von Puertasaurus
KURS 2.10) zu den vorherrschenden Herbivoren. mit fast 1,70 m noch übertroffen. Die größten 1
Argentinosaurus, im GONDWANA – Das Praehisto- Raubsaurier aus Argentiniens (Gigantosaurus und
rium, Alexander-von-Humboldt-Str. 8–10, 66578 Mapusaurus) erreichten eine Schädellänge von 2 m 2
Schiffweiler (Saarland) als Modell zu besichtigen, und übertrafen damit den nordhemisphärischen
erreichte fast 40 m Länge bei einer Wirbelkörper- Tyrannosaurus rex.
3
  EXKURS 2.10   4
Systematik der Dinosaurier
Saurischia tor von der Fränkischen Alb (s. EXKURS  2.12 Ab-
5
Der Bau des Beckens begünstigte die Entwicklung schn. 2.3.2).
großer Muskeln für die Bewegung der Beine, die 2.1 Carnosauria: Selten kleine, bis 1,5 m (Ite- 6
meist viel größer waren als die Arme. Die ältesten mirus) messende, meist große, bis 14 m (Giganoto-
bekannten Formen waren biped und carnivor, je-
doch entstanden später neben großen bipeden
saurus) lange Fleischfresser mit mächtigem Gebiss.
Jura und Kreide. Allosauridae, Sinraptoridae, Car-
7
Formen auch große quadrupede. Die Saurischia charodontosauridae, Itemiridae, Dryptosauridae.
lassen sich in die überwiegend quadrupeden 2.2 Coelurosauria: Gruppe, die ursprünglich 8
Sauropodomorpha und die bipeden Theropoda nur kleine, leicht gebaute Theropoden mit hohlen
gliedern. Zu den ursprünglichsten Theropoden
zählen Eoraptor (Obertrias, Argentinien, 1 m) und
Knochen umfasste, inzwischen aber auch die rie- 9
sigen Tyrannosauriden enthält. Zusammengefasst
die Herrerasauria, die ursprüngliche und abgelei- werden hier alle Tetanurae, die näher mit den Vö-
tete Merkmale aufweisen (Herrerasaurus, Obertrias, geln als mit den Carnosauriern verwandt sind. Jura
10
Südamerika, 3–4 m). und Kreide. Ornithomimosauria + Maniraptora.
a. Theropoda: Generell biped, nahezu aus- • Ornithomimosauria: Straußenähnlich wir- 11
schließlich carnivor, Obertrias bis Oberkreide. Eo- kend, bis zu 6 m lang (Gallimimus). Kiefer zahn-
raptor + Herrerasauria + Ceratosauria + Tetanurae
1. Ceratosauria: Umstrittene Einheit. Obertrias
los. Leicht gebaute Tiere mit langen Hälsen. Das
Schambein (Os pubis) weist schräg nach vorne.
12
bis Oberkreide. Frühe Formen (Coelophysoidea, Vermutlich omnivor. Ornithomimidae, Garudimi-
Obertrias bis Unterjura) relativ klein, 90 cm (z. B. Po- midae, Harpymimidae. 13
dokesaurus), bis maximal 6 m (Dilophosaurus). Späte • Maniraptora: Kleine, nur 70 cm lange (Mi-
Formen (Abelisauridae) bis 9 m (z. B. Carnosaurus). croraptor, China) bis mittelgroße, seltener große 14
Vier Finger. Älteste Vertreter Coelophysis (Obertrias, bis 13 m messende (Tyrannosaurus (. Abb. 2.57a),
Nordamerika) und Liliensternus (Obertrias, Europa). Therizinosaurus) Dinosaurier. Kennzeichnend sind
Coelophysis ist durch mehr als 100 zum Teil vollstän- der halbmondförmige Handwurzelknochen und
15
dige Skelette dokumentiert. Ansonsten vergleichs- die meist verlängerten Finger. Therizinosaurus war
weise schlecht überlieferte Gruppe. wahrscheinlich ein Pflanzenfresser. Mit seinen si- 16
2. Tetanurae: Systematische Einheit, die sowohl chelförmigen, 60 cm langen Krallen zog er vermut-
die Vögel als auch all die Theropoden umfasst, die
näher mit den Vögeln als mit den Ceratosauriern
lich Äste nach unten, um an die Blätter zu gelan-
17
gen. Zahlreiche Funde von Fossilien mit
verwandt sind. Tendenz zur Pneumatisierung des federähnlichen Strukturen weisen darauf hin, dass
Schädels, höchstens drei Finger, reduzierte Fibula, die Mitglieder der gesamten Gruppe zumindest 18
Schwanz durch verknöcherte Sehnen versteift, Un- teilweise oder wenigstens im juvenilen Stadium
terjura bis Oberkreide (ohne Vögel). Carnosauria + befiedert waren. Bei Dilong, dem etwa 1,6 m gro- 19
Coelurosauria (Ornithomimosauria + Maniraptora). ßen, ältesten Tyrannosauriden aus der Unter-
Hierher gehört auch der bis 80 cm lange Juravena- kreide, sind schon federähnliche Strukturen nach-
20
7
162 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.10 (Fortsetzung) 

.. Abb. 2.57 a–c a Tyrannosaurus: neben einer neueren Rekonstruktion eine ältere (eingekreist), b Deinonychus, c Ca-
marasaurus

gewiesen. Bei den zu den Vögeln überleitenden Staaten der USA hat als (aufgerichtet) 6 m hoher
Formen wie den Dromaeosauriden (Velociraptor, und bis 13 m langer Raubsaurier besondere Be-
Deinonychus; . Abb. 2.57b) sind die Femora kurz rühmtheit erlangt. Seine bis 18 cm langen (bana-
und das Os pubis steht schräg nach hinten. Die nengroßen) Zähne hat er wohl in seine Saurierop-
Dromaeosauriden besaßen an der 1. Zehe eine si- fer geschlagen, die er mit den Hinterextremitäten
chelartige Kralle, die extrem nach hinten geklappt gepackt hatte. Die Vorderextremitäten sind sehr
werden konnte. Mitteljura bis Oberkreide. Tyranno- klein und tragen nur zwei Finger. Mit ihnen konn-
sauridae, Dromaeosauridae, Troodontidae, Caeno- ten die Tiere wohl nicht den Mund erreichen. Mitt-
gnathidae, Oviraptoridae, Ingeniidae, Compsogna- lerweile kennt man die Bissspuren von Tyranno-
thidae, Therizinosauridae, Scanso­riop­terygidae, saurus in fossilen Knochen und wohl auch seine
Avialae (Archaeopterygidae, Aves). Tyrannosaurus Faeces. Ein 44 cm langer Koprolith aus der Kreide
rex (. Abb. 2.57a) aus der Kreide verschiedener des kanadischen Saskatchewan, welches an Mon-
7
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 163

 EXKURS 2.10 (Fortsetzung) 
1
2
3
4
5
6
7
.. Abb. 2.58  Plateosaurus-Skelett in Fundlage und Rekonstruktion. Nach v. Huene (1928), Scheffold (2001)
8
tana grenzt, der zum erheblichen Teil Knochen- bei den kleineren Formen von einer Neigung zur
fragmente enthielt, wird diesem Raubsaurier zu- Bipedie ausgegangen wird. 9
geordnet. Noch ist die Diskussion nicht Plateosaurus (. Abb. 2.58) war in der späten
abgeschlossen, ob Tyrannosaurus rex wirklich ein Trias (Keuper) Europas verbreitet. Der erste Fund 10
Jäger oder ob er ein Aasfresser war, ob er sich eher stammt von Heroldsberg bei Nürnberg; heute sind
rasch oder langsam bewegt hat. Trossingen (im südlichen Baden-Württemberg)
b. Sauropodomorpha: Im Gegensatz zu den und Halberstadt (nordöstlich vom Harz) und Frick 11
Theropoden waren die Vertreter der Sauropodomor- (Schweiz) mit Skelettresten von über 120 Tieren
pha (Trias bis Kreide) quadruped und generell Pflan- die ergiebigsten Fundstellen. Plateosaurus war im 12
zenfresser. Kennzeichnend für diese Gruppe sind der Keuper wohl eines der häufigsten großen Land-
lange Hals und der lange Schwanz, der im Vergleich
zum tonnenförmigen Körper kleine Schädel sowie
tiere und der dominierende Pflanzenfresser; allein
aus Deutschland kennt man seine Reste von etwa
13
die bei den späten Formen häufig enorme Körper- 30 Fundstellen, dazu kommen weitere z. B. in der
größe (bis 40 m). Schweiz und in Frankreich. 14
1. Prosauropoda: Die ältesten Vertreter der Plateosaurus hatte kräftige Hinter- und schwä-
Sauropodomorpha werden als Prosauropoda chere Vorderextremitäten und konnte sich vermut- 15
(Obertrias bis Unterjura) zusammengefasst. Es lich auf allen Vieren sowie biped fortbewegen. Der
waren die ersten pflanzenfressenden Dinosaurier. größte Teil seiner Länge von maximal 10 m entfiel
Zu dieser Gruppe gehören Formen unterschiedli- auf Hals und Schwanz, der Kopf war relativ klein. 16
cher Größe wie Thecodontosaurus (2,6 m, England) Wegen der Häufigkeit der Fossilfunde an manchen
und Plateosaurus (10 m, Europa). Bei den nur 20 cm Orten glaubt man, dass sich Plateosaurus-Herden 17
großen Individuen von Mussaurus (Patagonien) ähnlich verhalten haben wie Großsäugerherden in
handelt es sich um Funde von frisch geschlüpften
Jungtieren. Kennzeichnend für die Prosauropoden
der heutigen Savanne Afrikas. Ihr mächtiges
Rumpfvolumen deutet zudem auf große Verdau-
18
ist eine große, gekrümmte Daumenkralle. Hals- ungsorgane und Pflanzennahrung hin.
und Schwanz sind im Verhältnis zum Körper nicht Plateosaurus-Skelette sind in mehreren Museen 19
so lang wie bei den Sauropoden. Die Vorderbeine Deutschlands zu besichtigen, z. B. in Halberstadt
sind deutlich kürzer als die Hinterbeine, so dass und Trossingen, Göttingen, Stuttgart, Tübingen, 20
7
164 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.10 (Fortsetzung) 
Frankfurt und Berlin und werden bisweilen mit Lo- 22,5 m lang, Gewicht ca. 40 Tonnen; ein montiertes
kalnamen belegt (Halberstädter Saurier, Schwäbi- Skelett befindet sich im Naturkundemuseum in
scher und Fränkischer Lindwurm). Berlin, als Modell auf . Abb. 2.54c links zu sehen).
2. Sauropoda: weltweit, Trias und Kreide. Qua- Aus Prioritätsgründen wurde Brachiosaurus in Gi-
drupede, z. T. riesige Pflanzenfresser von bis zu 40 m raffatiton umbenannt.
Länge und 80 t Gewicht (Seismosaurus, Argentino- 2.2 Diplodocidae (Mitteljura bis Oberkreide):
saurus). Zu ihnen zählen die größten landlebenden Gruppe leicht gebauter Tiere mit im Vergleich zum
Tiere, die je auf der Erde gelebt haben. Die ältesten Rumpf extrem langen Hälsen und Schwänzen.
Vertreter wie Antetonitrus (Obertrias) und die Vul- Waagrechte Halshaltung. Körperlängen von 30–
canodontidae (Unter- bis Mitteljura) unterscheiden 40 m Länge sind keine Seltenheit (Seismosaurus,
sich in ihrer Größe und ihren Proportionen nicht Supersaurus, Amphicoelias). Nach hinten verlagerte
wesentlich von den Prosauropoden. Die Vorderex- Nasenöffnungen, die früher als Beleg für eine aqua-
tremitäten sind jedoch bereits deutlich länger, so tische Lebensweise galten. Rückenlinie mit Hornsta-
dass das Längenverhältnis zwischen Vorder- und cheln. Diplodocus (Oberjura, Nordamerika, 27 m, 12
Hinterbeinen ausgewogener erscheint. Bei den Tonnen, ein Originalskelett steht im Senckenberg-
späteren Formen können die Hälse und Schwänze Museum in Frankfurt (. Abb. 2.54a), ein Modell ist
enorme Längen erreichen. Bei Seismosaurus misst auf . Abb. 2.54c rechts abgebildet). Apatosaurus
allein der Schwanz 26 m. Die Wirbelkörper waren (Oberjura, Nordamerika, 21 m, gedrungener als Di-
insbesondere bei den Diplodociden mit Hohlräu- plodocus). Supersaurus wurde etwa doppelt so lang,
men versehen, die beim lebenden Tier vermutlich seine Halslänge wird auf etwa 13 m geschätzt.
mit Luft gefüllt waren. Diese Leichtbauweise er- 2.3 Camarasauridae (Oberjura bis Unterkreide):
möglichte wohl erst die enorme Verlängerung der relativ kurzhalsige, gedrungene Formen mit kur-
Hälse. Zudem besaßen sie Halsrippen, die als dünne zem, hohem Schädel und spatelförmigen Zähnen.
Stäbe in Längsrichtung an der Unterseite des Halses Camarasaurus (Oberjura, Nordamerika, Europa,
zur Stabilisierung beitrugen. Mit den langen Hälsen 18 m, . Abb. 2.57c). In diesen Verwandtschaftskreis
konnten die Sauropoden die Blätter bzw. Nadeln wird auch Europasaurus gestellt, eine bis 8 m lange,
an den hohen Zweigen der damals verbreiteten „verzwergte“ Inselform vom südlichen Rand des
Coniferen, Farnen, Cycadeen und Ginkgobäumen Niedersächsischen Beckens aus dem späten Jura,
erreichen. Diese wurden mit den Frontzähnen ab- die am Harzrand (Goslar) entdeckt wurde.
gerupft und unzerkaut verschlungen. Die Art der 2.4 Titanosauridae (Oberjura bis Oberkreide):
Bezahnung erlaubte kein Zerkleinern der Pflanzen- formenreiche Gruppe mit Verbreitungsschwer-
teile. Selbst die größten Sauropoden mussten einst punkt in der Oberkreide. Charakteristische Hautver-
aus einem Ei schlüpfen, das wohl nicht wesentlich knöcherungen (Osteoderme) und Schwanzwirbel.
mehr als 30 cm lang war. Unumstritten ist, dass es Überwiegend auf den damaligen Südkontinenten
sich bei den Sauropoden um Herdentiere handelte. verbreitet. Saltasaurus (Oberkreide, Südamerika,
Dies ist durch sehr viele überlieferte Fährten von 12 m). Paralititan (Oberkreide, Afrika, 30 m, größter
Tieren unterschiedlicher Altersstadien nachgewie- Titanosaurier).
sen. Die ältesten, vergleichsweise kleinen und rela- 2.5 Euhelopodidae (Oberjura bis Unterkreide):
tiv kurzhalsigen Vertreter der Sauropoden zählen chinesische Sauropodenfamilie mit sehr langen
zu den Vulcanodonsauridae (Unter- bis Mitteljura) Hälsen. Mamenchisaurus (Oberjura, Asien, 25 m).
und Cetiosauridae (Unterjura bis Unterkreide). Zur- 2.6 Andesauridae (Unter- bis Oberkreide):
zeit werden etwa zehn Familien unterschieden. Schlecht dokumentierte, artenarme südamerika-
2.1 Brachiosauridae (Mitteljura bis Ober- nische Gruppe, zu denen einer der größten Dino-
kreide): senkrecht aufgerichteter Hals, verlängerte saurier, Argentinosaurus, zählt. Argentinosaurus (Un-
Vorderbeine und schräg nach hinten abfallender ter- bis Oberkreide, Südamerika, 40 m, Rumpfwirbel
Rücken. Brachiosaurus (Oberjura, 12  m hoch, 1,35 m breit und 1,65 m hoch, Femurlänge 2,5 m).
7
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 165

 EXKURS 2.10 (Fortsetzung) 

Ornithischia saurier und Ankylosaurier mit bis zu 10 m großen 1


Die Ornithischia (Trias bis Kreide) sind bi- und quad- Formen. Die Ankylosaurier verdrängten die Stego-
rupede, ausschließlich herbivore Dinosaurier. Beim saurier in der Kreidezeit. Stegosauria + Ankylosauria. 2
Becken weist das Pubis schräg nach hinten und liegt 1.1 Stegosauria: Mitteljura bis Unterkreide.
dem Ischium an (. Abb. 2.55c). Die Vorderbeine Zwei Reihen Rückenplatten bzw. Stacheln und min-
sind immer deutlich kürzer als die Hinterbeine. destens zwei paar Schwanzstacheln. Kleiner Schä-
3
Abgesehen von zahlreichen Vertretern der Cerat- del, schmal und langgestreckt. Hornschnabel und
opsia (Triceratops, Styracosaurus) liegt der Körper- kleine Backenzähne. Älteste Form Hyangasaurus 4
schwerpunkt nahe am Becken. Hierdurch besteht (Mitteljura, China, 4,5 m), dann Ausbreitung nach
generell eine Neigung zur Bipedie. Beiderseits der
Wirbelsäule verlaufen verknöcherte Sehnen, die
Europa, Nordamerika, Indien und Afrika, größte
Verbreitung im Oberjura. Tuojiangosaurus (Ober-
5
an den Fossilien oft gut erkennbar sind. Die für Ar- jura, China, 7 m; . Abb. 2.59a), Stegosaurus (Ober-
chosaurier typische Schädelöffnung vor dem Auge jura, USA, 9 m; . Abb. 2.54). 6
(Präorbitalfenster) ist meist reduziert oder geschlos- 1.2 Ankylosauria: Mitteljura bis Oberkreide.
sen. Die Bezahnung besteht aus speerblattförmigen Hauptverbreitung in der Kreide. Dies steht im Zu- 7
Zähnen. In einigen Gruppen der Ornithischia haben sammenhang mit dem Niedergang der Stegosau-
sich komplexe Gebisse mit z. T. selbstschärfenden rier. Kleine Schläfenfenster, kein Antorbitalfenster,
Zähnen entwickelt, die sich hervorragend zum einfach gebaute Zähne mit langen Wurzeln. Stärker
8
Zerschneiden oder Zerraspeln von harter Pflan- gepanzert als Stegosaurier, zahlreiche in Reihen an-
zennahrung eignen. Meist sind keine oder nur we- geordnete Hautverknöcherungen (Osteoderme), 9
nige Frontzähne vorhanden. Stattdessen sind die einige auch mit Bauchpanzer, sogar gepanzerte
Kieferenden mit einem Hornschnabel versehen. Augenlider, extrem große und breite Rümpfe.
10
Die ältesten Ornithischia wurden in Argentinien • Nodosauridae: schmaler Schädel, Zähne et-
(Pisanosaurus) und in den USA (Technosaurus) ge- was größer als bei Ankylosauriden, abgesehen von
funden. Diese werden systematisch zusammen mit Sauropelta immer mit sekundärem Gaumen, keine 11
der sehr ursprünglichen Gruppe der Lesothosauria Schwanzkeule, Stacheln an den Körperseiten. No-
(Obertrias bis Unterjura) dem Rest der Ornithischia, dosaurus (Kreide, USA, 4–6 m). 12
den Genasauria, gegenübergestellt. Lesothosaurus • Polacanthidae: ähnlich Nodosauridae, aber
(Unterjura, Lesotho, 1 m, leicht gebautes Tier mit
kurzen Armen und langen Hinterbeinen, biped;
mit charakteristischer Panzerplatte über dem
Becken. Polacanthus (Unterkreide, England, 4 m;
13
. Abb. 2.54). Ornithischia = Pisanosaurus + Techno- . Abb. 2.59b).
saurus + Lesothosauria + Genasauria. • Ankylosauridae: kurzer breiter Schädel etwa 14
a Genasauria: Unterjura bis Oberkreide. In der so lang wie breit, am Hinterhaupt kleine Hörner,
Gruppe der Genasauria werden die Thyreophora Antorbital- und Supratemporalfenster geschlossen, 15
(Scelidosauridae + Stegosauria + Ankylosauria) und Schwanzkeule. Pinacosaurus (Oberkreide, China,
die Cerapoda (Ornithopoda + Marginocephalia) zu- Mongolei, 5–5,5 m).
sammengefasst. 2. Cerapoda: Obertrias bis Oberkreide. Syste- 16
1. Thyreophora: Unterjura bis Oberkreide. Viel- matische Einheit, in der die Ornithopoda und die
fältige Gruppe quadrupeder Pflanzenfresser mit cha- Marginocephalia (Pachycephalosauria + Ceratop- 17
rakteristischen Hautverknöcherungen in Form von sia) zusammengefasst werden. In dieser Gruppe
Höckern, Platten oder Stacheln. Unspezialisiertes
Gebiss aus kleinen Backenzähnen. Kein Antorbital-
haben sich spezialisierte Gebisse und differenzierte
Verhaltensweisen wie Brutpflege entwickelt.
18
fenster. Die Formen des Unterjura sind noch relativ 2.1 Ornithopoda: Obertrias bis Oberkreide.
klein: 1–4 m (Scelidosauridae) und weisen vergleichs- Artenreichste und vielfältigste Gruppe der Or- 19
weise lange Vorderbeine auf. Scelidosaurus (Unter- nithischia, die in der Kreide, insbesondere in der
jura, England, USA, Tibet). Darauf folgen die Stego- späten Kreide ihr Maximum erreicht. Kleine, um 1 m 20
7
166 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.10 (Fortsetzung) 
.. Abb. 2.59 a, b  a Tuojiango-
saurus, b Polacanthus

lange (Heterodontosaurus), bis große, an die 15 m • Hadrosauridae (Kreide): Vielfältigste und ar-
(Lambeosaurus) messende Formen. Kennzeichnend tenreichste Gruppe der Ornithischia mit Maximum
ist ein ausgeprägter Hornschnabel. Die Mehrzahl in der Oberkreide. Sehr variable Kopfform, Scheitel-
der Ornithopoden konnte sich quadruped und leisten, Hornbildungen u. ä. Diese enthielten Nasen-
biped fortbewegen. Einige Gruppen wie die He- nebenhöhlen und dienten möglicherweise als Reso-
terodontosauridae, die Hypsilophodontidae und nanzkörper bei der Lauterzeugung. Breiter zahnloser
die Dryosauridae waren wahrscheinlich rein biped. Schnabel, dicht stehende selbstschärfende Backen-
Heterodontosaurus (Unterjura, Südafrika, 1 m, eck- zähne in Zahnbatterien angeordnet. Der Unterkiefer
zahnähnliche Zähne in Ober- und Unterkiefer). bewegt sich beim Kieferschluss leicht nach innen,
• Camptosauridae (Oberjura bis Unterkreide): der Oberkiefer nach außen, wodurch die Nahrung
Langer, flacher Schädel, dicht stehende Zähne, zermahlen wird. Lambeosaurus (Oberkreide, USA,
vierzehige Füße mit hufähnlichen Krallen. Campto- bis 15 m). Parasaurolophus (Oberkreide, USA, 10 m;
saurus (Oberjura bis Unterkreide, England, Portugal, . Abb. 2.60b). Maiasaura (Oberkreide, USA, 9 m,
USA, 3,5–7 m). über 200 Skelette vom Embryo bis zum Adulttier,
• Iguanodontidae (Kreide): Weit verbreitete, Eier und Nester, Nachweis von Brutpflege).
artenreiche Gruppe mit Maximum in der Unter- 2.2 Marginocephalia (Kreide): Systematische
kreide. Langer Schädel, zahnloser Schnabel, dreize- Einheit, in der Pachycephalosauria und Ceratopsia
hige Füße mit hufähnlichen Krallen, fünffingrige zusammengefasst werden. Kopf mit Knochenkamm
Hand, vermutlich Herdentiere. Iguanodon (Kreide, oder Nackenschild am Hinterhaupt. Hornschnabel.
Europa/Nordamerika, 6–10 m; . Abb. 2.60a). Backenzähne bilden eine Schneidekante.

7
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 167

 EXKURS 2.10 (Fortsetzung) 
.. Abb. 2.60 a–c  a 1
Iguanodon, b Pa-
rasaurolophus, c
Triceratops 2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
• Pachycephalosauria (Oberkreide): Kleine bis Hinterhaupt, der meist als Nackenschild ausgebil-
mittelgroße Tiere (60 cm bis 5 m). Außerordentlich det ist, auszeichnet. Schädel mit spitzen Wangen-
16
dicke domartig gewölbte Schädeldecke (bis 25 cm knochen und häufig mit charakteristischen Hör-
dick), Schädeldach stark vaskularisiert, kleine nern. Ausgeprägter Schnabel. Die kleinen, 17
blattförmige Zähne, viele verknöcherte Sehnen im nackenschildlosen Formen, wie Psittacosaurus (Un-
Schwanzbereich. Kurze Arme, lange Beine, biped.
Stegoceras (Oberkreide, Kanada, USA, 2,4 m). Pachy-
terkreide, China, Mongolei, 2 m), neigen zur Bipe-
die. Die mit einem Nackenschild ausgestatteten
18
cephalosaurus (Oberkreide, USA, 5 m). Neoceratopsia sind generell quadruped. Protocera-
• Ceratopsia (Kreide): artenreiche, überwie- tops (Oberkreide, China, Mongolei, bis 1,80 m, horn- 19
gend quadrupede Gruppe, mit Maximum in Ober- los). Triceratops (Oberkreide, Kanada, USA, 9 m, drei
kreide, die sich durch einen Knochenkamm am bis zu 1 m lange Hörner; . Abb. 2.60c). 20
168 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.61 a–c  Ichthyosaurier. a Mi-


xosaurus, b Stenopterygius, c Skelett der
Vorderextremität von Stenopterygius

Das recht plötzliche Aussterben der Dinosaurier Augen waren ungewöhnlich groß und mit einem
war und ist Anlass zu vielfältigen Spekulationen und Skleralring versehen. Man kennt Ichthyosaurier
lässt noch viele Fragen offen. Nach verbreiteter An- seit der Trias, ausgestorben sind sie in der Kreide,
sicht hängt das Aussterben mit dem Aufschlag eines lange vor der Kreide-Tertiär-Grenze. Die weltweit
gewaltigen Meteoriten zusammen, der vor 65 Mio. beste Fundstelle von hervorragend erhaltenen ju-
Jahren im Gebiet der Halbinsel Yukatan niederging rassischen Ichthyosauriern ist der Posidonienschie-
(s. EXKURS 2.3 Abschn. 2.2.2). Der Einschlag führte fer Holzmadens (Unterjura, 180 Mio. Jahre alt; s.
zur Verdunklung durch Staub in der Atmosphäre EXKURS 2.11 Abschn. 2.3.2). Ichthyosaurier waren
und damit zur Abkühlung der Erdoberfläche, was Räuber. Ihr Gebiss enthielt viele Zähne vom laby-
die Lebensbedingungen der Dinosaurier entschei- rinthodonten Typ. Ihre Extremitäten waren hoch-
dend verschlechterte. Es war jedoch ein langsames gradig abgewandelt: Ihre Knochenelemente waren
Aussterben, das eventuell mit einer ganzen Serie plattenförmig und die Anzahl der Fingerknochen
von Asteroideneinschlägen, die sich unter Umstän- stark vermehrt. Eine Verbreiterung der Flossen
den über 1–2 Mio. Jahre hinzog, in Beziehung stand. wurde teilweise durch Aufspaltung und Neubil-
Vielleicht hängt das Aussterben auch mit starkem dung von Fingern erreicht (Hyperdactylie). Der
Vulkanismus am Ende der Kreide zusammen. Koh- kreidezeitliche Platypterygius hatte bis zu elf Finger.
lendioxid reicherte sich an, saurer Regen trat auf Das Becken der Ichthyosaurier war zu stabförmi-
und die Ozonschicht wurde zerstört. gen Knochen reduziert und die Hinterextremitäten
waren bei den Formen, die nach der Trias lebten,
Ichthyosauria (Fischsaurier) relativ klein.
Die Ichthyosaurier waren große, mesozoische Rep- Ichthyosaurier lebten anscheinend ähnlich
tilien mit vielen Anpassungen an das Wasserleben wie Delphine. Sie ernährten sich insbesondere
(. Abb. 2.61), z. B. stromlinienförmiger Gestalt, von Fischen und Cephalopoden (Stenopterygius
Umwandlung der Extremitäten zu Flossen, häutiger [. Abb. 2.61b, 2.62c]).
Rückenflosse und hypozerker Schwanzflosse. Ihre
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 169

Ichthyosaurier waren vivipar, und wiederum Verdunstungsschutz trugen sie Haare, ähnlich wie re-
zeigen die Fossilien von Holzmaden besonders zente Trockenfarne. Anomopteris mit etwa 1 m langen 1
eindrucksvolle Beispiele (. Abb. 2.62c): Man fand Wedeln ist ein Leitfossil des Buntsandsteins. Die häu-
trächtige Weibchen mit bis zu elf Feten. figsten und artenreichsten Fossilien des Buntsand- 2
Der Riese unter den Ichthyosauriern war der steins sind die Coniferen. Leitfossil ist Voltzia, die der
jurassische Leptopterygius. Er erreichte 10 m, viel- Fichte ähnlich war. In der Pfalz und in den Vogesen
leicht sogar, wenn man von einzelnen Wirbeln erinnert der Voltziensandstein an diesen Nadelbaum. 3
extrapoliert, 15 m Länge. Der größte Schädel von Seine Kurztriebe waren zweiseitig benadelt; allerdings
Leptopterygius, der je in Europa gefunden wurde, gab es zwei Nadeltypen (Heterophyllie): 2–6 cm lange 4
hat eine Länge von über 2 m und ist im Kloster Banz und unter 0,5–1 cm lange. Männliche und weibliche
(nahe Bamberg) ausgestellt. Während jurassische Blüten standen in getrennten Zapfen.
und kreidezeitliche Ichthyosaurier relativ einheit- Die Keuperflora war üppiger und abwechslungs-
5
lich gebaut waren, gab es in der Trias ganz verschie- reicher als die Flora des Buntsandsteins. Das Klima
dene und recht ursprüngliche Formen. Grippia (von war insgesamt humider. Wie auch das marine Ben- 6
Spitzbergen) hatte noch eine kurze Schnauze, Mixo- thos zeigten die terrestrischen Landschaften mehr
saurus (aus dem Tessin) fünffingrige Vorderflossen Ähnlichkeit mit heutigen als mit paläozoischen 7
und verlängerte Unterarmknochen; der Beckengür- Verhältnissen. Das liegt im Wesentlichen an den
tel bestand noch aus sechs Knochen; eine vertikale Nadelhölzern, die den Gesamtcharakter der Flora
Schwanzflosse war noch kaum ausgebildet. prägten. Im Keuper kündigt sich die bis zur frü- 8
hen Kreide dauernde Blütezeit der Cycadeen an.
Die Pflanzenwelt der Trias Die Fossilfunde entsprechen im vegetativen Bau 9
Am Land scheint das Massenaussterben Ende des oft schon rezenten Cycadeen-Gattungen. Auch die
Perm die Pflanzen wesentlich weniger in Mitlei- Ginkgo-Gewächse, deren Blätter schon aus dem
denschaft gezogen zu haben als die Tiere. Die spät- frühen Perm bekannt sind, spielten in der Trias eine
10
paläozoischen Floren hatten schon lange vor Ende wichtige Rolle.
des Perm Veränderungen durchgemacht. Im Perm Weitere wichtige Pflanzen dieser Zeit sind die 11
hatten sich die Gymnospermen durchgesetzt; ihre Bennettitales. Sie existierten von der späten Trias bis
mannigfaltigsten Gruppen waren die Cycadophy- zur frühen Kreide. Durch ihre Blattwedel ähnelten 12
tina (Palmfarne), Coniferen und Ginkgogewächse. sie äußerlich den Cycadeen. Ihr Blütenbau wich je-
Sie dominierten auch in den Wäldern des Mesozo- doch grundlegend ab: Sie besaßen als erste Pflanzen
ikums. der Erdgeschichte Zwitterblüten mit Perianth und 13
Die Landflora des Buntsandsteins war an das wurden vermutlich von Käfern (Rüsslern) bestäubt.
damals vorherrschende Wüstenklima mit kurzzei- Bennettitales waren außerordentlich vielgestaltig. 14
tigen Niederschlagsperioden angepasst. Die Vegeta- Cycadeoidea (. Abb. 2.68a) hatte einen knolligen,
tion war arm, der Bewuchs locker. In den trockenen, niedrigen Stamm, Williamsonia (. Abb. 2.68b) war
bodensatzreichen Ablagerungsgebieten herrschten palmenartig und erreichte mehrere Meter Höhe,
15
Coniferen vor. Wielandiella und Williamsoniella waren kleine, di-
Auffälligste Buntsandsteinpflanze war die sukku- chotom verzweigte Sträucher. 16
lentenartige, bis 2 m hohe Pleuromeia (. Abb. 2.48),
die zu den Isoetales gehört. Ihr verdickter Stamm Massenaussterben Ende der Trias 17
diente als Wasserspeicher, die Achse endete mit ei- Am Ende der Trias, vor etwa 200 Mio. Jahren, fand
nem großen Zapfen an der Stammspitze. Wie bei das vierte Massenaussterben des Phanerozoikums
dem verwandten Siegelbaum war der Stamm dicht statt. Es handelte sich um einen der größten Einbrü- 18
mit Narben abgefallener Blätter besetzt; Blätter stan- che aller Zeiten; Meer und Festland waren gleicher-
den nur im oberen Bereich. Schachtelhalme (Equis- maßen betroffen, allerdings wohl nicht genau zur 19
etites, Schizoneura) erreichten in der Trias 6 m Höhe. selben Zeit. Im Meer wurden etwa 20 % aller Tierfa-
Farne existierten als überwiegend an Trockenheit milien ausgelöscht. Die großen Gruppen der Cono-
angepasste kleine Formen mit kurzem Stamm. Als donta, Placodontia und Nothosauria sowie fast alle
20
170 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

Ammonoidea starben aus. Im terrestrischen Bereich welches großenteils in den Tropen lag, nahmen Ko-
verschwanden die meisten säugetierähnlichen Rep- rallenriffe große Flächen ein. Jurazeitliche Meeres-
tilien und die großen Amphibien (Labyrinthodon- böden sind die ältesten, die man in heutigen Meeren
tia). Über die Ursachen dieses Massenaussterbens erbohrt hat. Vereinzelt gibt es auch Reste von trias-
wissen wir wenig. sischem Ozeanboden. Auf dem Festland wurden die
Dinosaurier die bestimmenden Formen. Die ersten
Vögel entstanden.
2.3.2 Jura Die Schichtenfolge des Jura wird in Süddeutsch-
land in drei Abteilungen untergliedert, den Schwar-
zen, Braunen und Weißen Jura. Der Schwarze Jura
|
Übersicht              | (Unterer Jura oder Lias) Süddeutschlands ist wegen
Im Meer entfalten sich Ammoniten und Belem- seiner hervorragend erhaltenen Wirbeltierfossi-
niten, Fische (Teleostei) und Meeresreptilien, lien in dunklen Tonsteinen berühmt geworden
auf dem Land die Dinosaurier, der Luftraum (. Abb. 2.62). Der Braune Jura (Mittlerer Jura oder
wird von Pterosauriern dominiert. Die ersten Dogger) bildet im Untergrund der Nordsee sandige
Vögel erscheinen. In der Pflanzenwelt sind Speichergesteine für Öl und Gas. Der Weiße Jura
Cycadales verbreitet, außerdem Filicales und (Oberer Jura oder Malm) ist besonders bekannt
Ginkgo-Gewächse sowie Bennettitales. Die geworden durch die hell gefärbten Plattenkalke im
ersten Angiospermen treten auf. In Mitteleu- süddeutschen Raum, z. B. die Solnhofener Platten-
ropa bieten Fränkische und Schwäbische Alb kalke (s. EXKURS 2.12). Es handelt sich um sehr fein-
sowie das Jura-Gebirge in Frankreich und in der körnigen Kalkstein. Besonders bekannte Fossilien
Schweiz Einblick in die marine Organismenwelt sind der „Urvogel“ Archaeopteryx (. Abb. 1.28a)
dieser Zeit. und der Pfeilschwanz Mesolimulus (. Abb. 2.1), zu
den häufigsten Fossilien gehören Ammoniten und
Belemniten. Juragesteine sind an vielen Stellen Mit-
tel- und Westeuropas reich an Fossilien. In Deutsch-
Im Jura (200–146 Mio. Jahre vor heute) rückte das land sind Schwäbische und Fränkische Alb großen-
Meer weltweit vor: Große Teile des Festlandes wur- teils aus Juragesteinen aufgebaut und klassisches
den überflutet, darunter auch weite Teile Mitteleu- Gebiet der Juraforschung. Der durch überwiegend
ropas, und die Flachwasserablagerungen aus dieser helle Kalke charakterisierte Gebirgszug zieht in wei-
Zeit sind umfangreich. In Europa herrschten relativ tem Bogen bis in die Schweiz und nach Frankreich.
hohe Temperaturen; der Temperaturgradient vom In Norddeutschland werden Höhenzüge des Weser-
Äquator zu den Polen war relativ gering, das Klima und Leineberglandes aus marinen Sedimenten des
also recht ausgeglichen. Eine wärmeliebende Vege- Jura gebildet.
tation erstreckte sich bis ungefähr 60° nördlicher In Deutschland gibt es zwei weltberühmte Fos-
und südlicher Breite. Es dominierten die Gymno- silfundstätten aus dem Jura: Holzmaden (Oberer
spermen. In den Meeren erreichten die Ammoniten Lias, Schwäbische Alb) und Solnhofen (Oberer
den Höhepunkt ihrer Entwicklung. Im Tethys-Meer, Malm, Fränkische Alb). Die Fauna des Jura

  EXKURS 2.11  

Die Schwäbische Alb: vor 150 Mio. Jahren der Boden des Jurameeres
Ein Vorstoß des Meeres von England bis Nordita- unterscheidet heute drei große Meeresbecken: das
lien über das absinkende Laurasia führte zu einer Pariser, das Norddeutsche und das Süddeutsche
Verbindung von Nord- und Tethys-Meer, die sich Becken. In diesen entstanden vor 180–130 Mio. Jah-
zum Jurameer ausweitete. Große Gebiete Europas ren mächtige Ablagerungen, die uns einen Einblick
wurden für über 50 Mio. Jahre überflutet, und man in eine marine Tropenfauna geben.
7
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 171

 EXKURS 2.11 (Fortsetzung) 
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17
18
.. Abb. 2.62 a–d  Schwarzer Jura: Fossilien von der Schwäbischen Alb (Holzmaden, a–c) und aus Oberfranken (d).
a Seirocrinus, b Steneosaurus (Krokodil), c Stenopterygius (Ichthyosaurier), d Dactylioceras (Ammonit). Photos P. Havlik 19
20
7
172 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

  EXKURS 2.11 (Fortsetzung) 
 EXKURS 2.11 
Der Weiße Jura, der auf der Schwäbischen Alb von Cephalopoden. Er erreichte über 10 m Länge.
eine Mächtigkeit von 450 m erreicht, ist durch Eurhinosaurus maß 7 m, seine schmalen Flossen er-
Schwammriffe charakterisiert. Der Braune Jura er- reichten 1 m Länge. Sein Oberkiefer war doppelt so
reicht 240 m Dicke, er ist heute der Untergrund der lang wie der Unterkiefer, aber vollständig bezahnt.
Obstbaumwiesen und Hügel am Fuß der Alb. Im Des Weiteren lebten im Jurameer Plesiosaurier,
Albvorland steht der 110 m dicke Schwarze Jura an. deren Lebensweise der von Meeresschildkröten äh-
In ihm fand man im Bereich des Posidonienschie- nelte. Mit ihren paddelförmigen Extremitäten be-
fers (Posidonia [. Abb. 2.1] = Bezeichnung für die wegten sich diese langhalsigen Tiere langsam fort.
zwei heute meist getrennten Muschelgattungen Ihre Eier legten sie an Land ab.
Bositra und Steinmannia) besonders gut erhaltene Die Steneosaurier sind Meereskrokodile. Sie er-
Wirbeltierfossilien. reichten 7 m Körperlänge und lebten räuberisch.
Während die Albhochfläche zunächst bis zum Aus dem Bereich der Schwäbischen Alb kennt man
Rheinischen Schiefergebirge reichte, wurde sie die drei Gattungen Steneosaurus (. Abb. 2.62b),
durch Erosion seit dem Trockenfallen Ende des Pelagosaurus und Platysuchus. Wie rezente Kroko-
Jura bis südlich von Stuttgart rückverlegt. dile besaßen sie Magensteine, die vielleicht der
In der anschließenden Kreidezeit und im Ter- Zerkleinerung von Nahrung oder auch als Ballast
tiär wurde der Meeresboden bis zu etwa 1000 m dienten.
über den Meeresspiegel emporgehoben und bil- Die fossilen Fische dieser Zeit zeigen eine
det heute in Süddeutschland insbesondere die Momentaufnahme des Wandels von eher trägen
Fränkische und Schwäbische Alb und deren weite Schmelzschuppenfischen wie Lepidotus oder Pty-
Vorebene. cholepis mit ihrem knöchernen Panzer zu gewand-
Als häufigste Meeressaurier lebten im Jurameer ten Raubfischen. Der etwa 9 cm lange Leptolepides
die Fischechsen oder Fischsaurier (Ichthyosauria), sprattiformis (. Abb. 2.63c) wirkt sprottenähnlich
die in die drei Gattungen Stenopterygius und hat bereits eine verknöcherte Wirbelsäule.
(. Abb. 2.62c), Leptopterygius und Eurhinosaurus Störe waren mit ca. 3 m die größten Fische des
eingeordnet wurden. Sie brachten vollentwickelte Meeres; als echte Knorpelfische mit bis zu 2,60 m
Junge im Wasser zur Welt. Verschiedene Museen, Länge sind Haie (Hybodus) erwähnenswert. Auch
z. B. das Urwelt-Museum Hauff, 73271 Holzmaden Quastenflosser (Holophagus, syn. Trachymetopon)
und das Fossilienmuseum im Werkforum, 72359 gab es im Jurameer.
Dotternhausen (nahe Tübingen) zeigen wunder- Unter den Wirbellosen sind die riesigen Seeli-
bare Stücke aus dem Jurameer (v. a. Schwarzer lienkolonien auf Treibhölzern hervorzuheben, die
Jura), u. a. auch Skelette von trächtigen Ichthyosau- wohl die eindrucksvollsten und umfangreichsten
riern. Die Erhaltung ist so vorzüglich, dass man bis- der Erde sind. Die größte in Holzmaden ausge-
weilen sogar Haut und Muskulatur erkennen kann. stellte Ansammlung der Seeliliengattung Seiro-
Die ungewöhnliche Häufigkeit von trächtigen crinus (. Abb. 2.62a) ist 18 m lang und 6 m hoch,
Stenopterygius-Weibchen im Raum Holzmaden hat wobei die Länge der Einzeltiere etwa 2 m betrug.
die Vermutung aufkommen lassen, dass diese Holzmaden ist auch berühmt wegen der häufig hier
Fischsaurier Wanderungen durchführten, ähnlich zu findenden Ammoniten und Belemniten. Die Am-
wie es von modernen Walen bekannt ist, um ihre moniten erreichten einen Durchmesser von 80 cm
Jungen hier zu gebären. Man hat Muttertiere mit (Phylloceras) und traten auch mit kleineren Gattun-
maximal elf Feten gefunden. gen wie Dactylioceras (. Abb. 2.62d) und Hildoceras
Viel seltener fand man Leptopterygius und Eur- auf. Die Belemniten ähnelten in Körperbau und Le-
hinosaurus. Leptopterygius lebte wohl vorwiegend bensweise den Kalmaren
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 173

  EXKURS 2.12  

Solnhofen (Fränkische Alb): Archaeopteryx und andere


1
weltberühmte Fossilien
2
Neben Holzmaden, wo die Fundschichten kann man landauf, landab in öffentlichen Ge-
schwarze Tonsteine sind, ist Solnhofen im Alt- bäuden und Privathäusern sehen. Schon in der
mühltal und seine weitere Umgebung mit dem Römerzeit hat man die Jurakalksteine genutzt. 3
Weißen Jura eine Fundstelle von besonderer Be- Unter den berühmten Gebäuden, für deren Bau
deutung. Die Steinbrüche der Fränkischen Alb, man sie verwendete, ist die Hagia Sophia in Istan- 4
z. B. bei Treuchtlingen („Treuchtlinger Marmor“) bul zu nennen. Später setzte man die Solnhofener
dienen in erster Linie wirtschaftlichen Zwecken,
denn die hellen Kalksteine eignen sich hervorra-
Plattenkalke auch zur Lithographie (Steindruck)
ein. Im Fossilien und Steindruck Museum (vor-
5
gend zur Herstellung von Platten für Fußböden mals Maxberg-Museum), Sonnenstraße 4, 91710
und Wandverkleidungen. Die häufigen Anschnitte Gunzenhausen wird dieser Wirtschaftszweig be- 6
der zigarrenförmigen, braun-schwarzen Belemni- sonders anschaulich dargestellt. Solnhofen wurde
ten und die gekammerten Ammoniten-Gehäuse zu einer weltberühmten Fossilienfundstätte, einer 7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
.. Abb. 2.63 a–d  Fundstücke aus dem Weißjura. a Saccocoma, b Dendriten, c Leptolepides, d Mecochirus (c, d: Photos N.
Becker)
20
7
174 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.12 (Fortsetzung) 
sog. Fossillagerstätte, wobei der „Urvogel“ Archae- Nusplinger Plattenkalk auf der Schwäbischen Alb
opteryx (. Abb. 1.28a) wohl der bekannteste Fund eine Feder gefunden, die deutlich älter ist als die
ist, aber dazu kommen viele weitere fossile Arten, Archaeopteryx-Funde (Schweigert et al. 2010).
die zum Teil wunderbar erhalten sind. Wer die Museen in Eichstätt, Solnhofen, Gun-
Schon 1860 hatte man in einem Solnhofe- zenhausen und weiteren Orten in der Umgebung
ner Steinbruch den Abdruck einer Feder gefun- betritt, ist überwältigt von der Fülle der Fossilien
den. Der Frankfurter Paläontologe Hermann von und der Qualität ihres Erhaltungszustandes: selbst
Meyer gab dem Tier, von dem sie stammte, 1861 gallertige Medusen, Holothurien, Muskelstränge
den noch heute gültigen Namen Archaeopteryx von Fischen oder die Flughaut von Pterosauriern
lithographica. Ebenfalls 1861 entdeckte man ein sind noch zu identifizieren. Insgesamt kennt man
fast vollständiges Skelett, welches Reptilien- und über 700 Organismenarten aus den Solnhofener
Vogelmerkmale aufwies und kurz nach dem Er- Plattenkalken. Zur Zeit ihrer Entstehung lag im Be-
scheinen von Darwins Hauptwerk für Diskussionen reich der Fränkischen Alb ein Lagunengebiet, wel-
sorgte. Es wurde 1862 für 700 Pfund Sterling an das ches zum Tethys-Meer gehörte. Den Lagunengrund
Britische Museum in London verkauft („Londoner bildeten Schwammriffe, zwischen denen sich Sedi-
Exemplar“). Ein weiterer und der bisher schönste ment absetzte, und zwar lagenweise aus Kalk und
Archaeopteryx-Fund erfolgte 1876. Mit Hilfe des aus Ton oder Mischungen aus beiden.
Industriellen Werner von Siemens ging er an Preu- Der Solnhofener Plattenkalk enthält neben vie-
ßen („Berliner Exemplar“). 1956 fand man das len Meeresorganismen terrestrische Formen, z. B.
später „Maxberg-Exemplar“ genannte, teilweise Insekten. Unter den fast 200 beschriebenen Arten
zerfallene Exemplar. Es war zunächst im Museum sei nur der Netzflügler Kalligramma mit einer Flü-
auf dem Maxberg auf der Jurahöhe über dem gelspannweite von 19 cm erwähnt. Mit der rezen-
Altmühltal bei Solnhofen ausgestellt, ging aber ten Brückenechse ist Homoeosaurus besonders
an seinen Finder zurück und gilt seit dessen Tod nahe verwandt. Im Jahre 2006 wurde zudem aus
1991 als verschollen. 1970 entdeckte der amerika- den Plattenkalken von Schamhaupten der bisher
nische Paläontologe John H. Ostrom ein weiteres besterhaltene Raubdinosaurier Europas beschrie-
Archaeopteryx-Exemplar in einer alten Sammlung ben: Juravenator.
in Haarlem (Niederlande; „Haarlemer Exemplar“), Unter den marinen Organismen seien außer
das schon 1855 im Altmühltal geborgen worden Belemniten und Ammoniten der besonders häu-
war. 1973 wurde das fünfte Exemplar beschrie- fige Haarstern Saccocoma (. Abb. 2.63a), der ver-
ben, welches im Jura-Museum, Willibaldsburg, breitete Fisch Leptolepides (. Abb. 2.63c) und die
Burgstraße 19, 85072 Eichstätt ausgestellt ist. bis in Einzelheiten erhaltene Meduse Rhizostomites
1987 fand sich in der Fossiliensammlung des Alt- genannt. Speziell Saccocoma bedeckt oft in riesi-
bürgermeisters Friedrich Müller von Solnhofen Ar- ger Zahl Schichtflächen. Man kann sie regelmäßig
chaeopteryx Nr. 6, heute im Museum Solnhofen, in Treppenhäusern und Wohnungen sehen, die
Bahnhofstraße 8, 91807 Solnhofen zu besichtigen mit Solnhofener Platten ausgekleidet sind. Häufig
(„Solnhofener Exemplar“). 1992 kam ein weiterer sind auch Krebse, z. B. Aeger, Eryon und Mecochirus
Fund dazu, der in München liegt und auch als ei- (. Abb. 2.63d).
gene Art (A. bavarica) gilt. Mittlerweile sind drei Sehr oft findet man Dendriten, die zur opti-
weitere Exemplare bekannt geworden. Nr. 10 ist schen Attraktivität der Solnhofener Platten beitra-
besonders gut erhalten; anatomische Merkmale gen (. Abb. 2.63b). Aufgrund ihrer filigranen Ver-
an Schädel und Fuß weisen auf enge Beziehun- ästelungen werden sie oft als Algen interpretiert,
gen zu Dromaeosauriern hin. Es wurde in die USA es handelt sich aber um mineralische Gebilde, die
verkauft. 2011 stellte man Nr. 11 der Öffentlich- aus schwarzen Mangan- und braunen Eisenverbin-
keit vor, ohne über Fundort, ‑datum und Finder dungen bestehen, die erst in der Kreide oder im
zu informieren. Interessanterweise wurde 2010 im Tertiär entstanden.
7
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 175

 EXKURS 2.12 (Fortsetzung) 
Dem Besucher fällt in den zahlreichen Steinbrü- An den steilen Hängen des Altmühltals fallen 1
chen mit ihren ausgedehnten Halden die plattige immer wieder weiße Kalkfelsen mit massigen Ge-
Ausbildung der Schichten auf. Ihnen verdanken steinen auf, z. B. die „Zwölf Apostel“ bei Solnhofen: 2
sie den Namen Solnhofener Plattenkalke statt der Sie stammen teilweise von Schwammriffen. Zwi-
älteren Bezeichnung „Schiefer“, da es hier keine schen den Riffen lagerte sich der feine Kalkschlamm
eigentliche Schieferung durch Metamorphose der Flinze mit den zwischengeschalteten tonigen
3
gibt. Sie bestehen bis zu 95 % aus Kalklagen und Fäulen in vielfachem Wechsel ab.
zudem aus weichen, dünnen („faulen“) Zwischen- Die riffbildenden Korallen weisen auf tropi- 4
lagen aus tonigerem Material. Man unterscheidet sches Klima im süddeutschen Jurameer hin. Kurz
dementsprechend Flinz und Fäule, die regelmäßig vor dem Ende des Jura zog sich das Meer aus dem
5
miteinander abwechseln. Die rund 40 m mächtigen Bereich der Frankenalb zurück.
Schichten enthalten etwa 250 Flinzlagen.
6
Im Jurameer machten die Schwämme eine rasche die im Jura ihre Blütezeit fortsetzten. Sie sind die 7
Entfaltung durch, deren Höhepunkt in der Kreide wichtigsten Leitfossilien und Grundlage für die bios-
erreicht wurde. Kieselschwämme, v. a. Lithistiden, tratigraphische Gliederung des Jura. In manchen
bauten im Malm Süddeutschlands umfangreiche Gebieten ist es zu massenhafter Anreicherung von 8
Riffe auf (Schwammstotzen, Altmühltal), und ein Ammoniten in marinen Kalksteinen gekommen.
wesentlicher Teil der Weißjurakalke besteht aus Solche Steine wurden zu hoch geschätzten Deko- 9
Schwammriffen. rationsstücken in der Bauindustrie, z. B. Altdorfer
Korallenriffe, vorwiegend von Scleractiniern Marmor (Altdorf, Franken) und Ammonitenkalk
hervorgebracht, waren dominierend am Aufbau von (Schwäbisch-fränkischer Jura). Ammoniten lebten
10
Lebensgemeinschaften im küstennahen Bereich des vorwiegend in Bodennähe; sie waren wohl langsame
Tethys-Meeres beteiligt. Auf der Schwäbischen Alb Schwimmer, die sich von Kleinorganismen ernähr- 11
hat man diverse Riffe gefunden, z. B. bei Gerstetten ten.
und Nattheim. Auch die Belemnoidea entwickelten sich zu 12
An der Wende von Trias und Jura gab es bei einer vielfältigen Gruppe. Die Doggerbelemniten
Mollusken starke Veränderungen. Die Schnecke, waren besonders große Formen; ihre Rostren er-
Pleurotomaria, noch heute als lebendes Fossil erhal- reichten 1,5 m Länge (Megateuthis giganteus); die 13
ten (s. Abschn. 2.4.2), brachte eine große Artenfülle Tiere wurden insgesamt bis 3 m lang. Belemnoidea
hervor. Leitformen waren die dickschaligen Neri- gehören innerhalb der Cephalopoden zu den fossil 14
noidea. In Nordwestdeutschland entstanden die ansonsten kaum belegten Coleoida (Dibranchiata),
Nerineen- und Natica-Kalke, auf der Fränkischen wohin auch Kalmare und Kraken gehören. Wie
Alb Nerineen- und Diceras-Kalke. bei diesen fehlt die äußere Schale; es ist ein In-
15
Unter den Muscheln sind die Pterioida be- nenskelett ausgebildet, das aus drei Teilen besteht
sonders weit verbreitet. Pteria und Posidonia (. Abb. 2.40a). 16
(. Abb. 2.1) waren gesteinsbildend (Posidonien- Man kennt weit über 1000 Arten dieser in Jura
kalke der Schwäbischen Alb). Steinmannia (Posido- und Kreide so weit verbreiteten Belemnoiden. Sie 17
nia) bronni war namengebend für den Lias epsilon waren rasche Schwimmer der offenen Meere, hat-
in Holzmaden (Posidonienschiefer). ten wohl zehn Arme, die mit Haken (Onychiten)
In den Südalpen ist Bositra buchi (Posidonia al- bewaffnet waren, und besaßen Tintenbeutel. 18
pina) Leitform des oberen Dogger. Mit den heutigen Die Rostren der Belemnoidea haben sich als
Austern ist Gryphaea (. Abb. 2.1) verwandt, die im ideal für die Analyse von Paläotemperaturen erwie- 19
Lias Muschelbänke bildete. sen, da sie das ursprüngliche Verhältnis verschiede-
Die ausgeprägtesten Veränderungen betreffen ner Sauerstoffisotope beibehielten.
die Cephalopoden, insbesondere die Ammoniten,
20
176 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

Rostren kann man heute als Einzelstücke fin- Unter den Reptilien waren die Ichthyosaurier
den oder in größeren Ansammlungen (Belem- im Jurameer verbreitet. Sie stellen ein klassisches
niten-Schlachtfelder, . Abb. 2.40c), in denen die Beispiel für Konvergenz mit den später entstande-
Einzelstücke oft „eingeregelt“ liegen, was sich mit nen Thunfischen (Teleostei) und Delphinen (Mam-
Wasserströmungen erklären lässt. Anschliffe von malia) dar.
Belemniten sind vielfach in Fensterbänken oder Gegenüber den Ichthyosauriern wirkten die bis
Fußbodenplatten zu beobachten, die aus Weißjura- 12 m langen Plesiosaurier plump. Schlangenartiger
kalken („Treuchtlinger Marmor“) bestehen. Mit Hals, kurzer Rumpf und Schwanz kennzeichnen
dem Ende der Kreide verschwand die Gruppe. ihren Körper (. Abb. 1.25b). Der Antrieb erfolgte
Innerhalb der Echinodermen erfolgten eben- durch die zu Paddeln umgeformten Extremitäten. Da
falls markante Veränderungen. Die Crinoidea ihre Unterseite von kräftigen Bauchrippen gestützt
bringen Riesenformen hervor, ihre Arme sind oft wurde, nimmt man an, dass sie sich auch ans Land
stark verzweigt. Seirocrinus subangularis aus dem begeben konnten. Vermutlich haben sie dort, wie es
Schwarzjura (. Abb. 2.62a) erreichte einen Kro- heute Meeresschildkröten tun, ihre Eier abgelegt.
nendurchmesser von 1 m und eine Stiellänge von Nicht selten waren im Jurameer auch Krokodile,
über 20 m. Manche siedelten auf Treibholzstämmen die sich Hunderte von Kilometern in den Ozean be-
und sind mit diesen als Fossilien erhalten. Beson- gaben.
ders häufig ist im Malm der Solnhofener Platten- Auch auf dem festen Land entwickelten sich die
kalke der Haarstern Saccocoma (. Abb. 2.63a). Die Reptilien weiterhin in großer Fülle. Die Sauromor-
Seeigel vollführten den Übergang von den radiär- pha umfassen Dinosaurier, Flugsaurier, Krokodile,
pentameren Regularia zu den bilateral-pentameren Eidechsen, Schlangen sowie Vögel. Die Theromor-
Irregularia; als neuer Lebensraum wurden von den pha (säugetierähnliche Reptilien) hatten ihre Blüte-
Seeigeln Weichboden und Sandgründe erschlossen. zeit schon hinter sich, im Jura lebten nur noch ihre
Auch die sonstige marine Wirbellosenfauna war im Nachkommen, die Säugetiere.
Jurameer reich entwickelt. Zu den Dinosauriern gehören die größten Land-
Im Jura treten erstmals Teleostei auf (Leptolepi- wirbeltiere, die es jemals auf der Erde gegeben hat.
dae, Pholidophoridae; . Abb. 2.63c). Die Selachier Ihre Entwicklung hatte in der Trias begonnen (s. Ab-
ähneln noch denen der Trias; Hybodus hauffianus schn. 2.3.1).
wurde fast 2 m lang. Im Magen eines Haies dieser Schließlich sind unter den Reptilien des Jura die
Art fand man Rostren von etwa 250 Belemniten, was Brückenechsen zu nennen: Allein im Gebiet von
zwei Schlüsse nahe legt: Hybodus jagte pelagische Solnhofen hat man sechs Gattungen nachgewiesen,
Tiere und dieses Exemplar ist wohl an der Menge u. a. Homoeosaurus und Pleurosaurus. Während
der spitzen Rostren zugrunde gegangen. Besonders erstere insbesondere kleine Formen umfassten (un-
schöne Haifunde hat man im Nusplinger Plattenkalk ter 10 cm), erreichten letztere 1,5 m Gesamtlänge.
auf der Schwäbischen Alb gemacht, z. B. den Meeren- Heute sind diese lebenden Fossilien auf kleine Are-
gel Squatina. Mit Latimeria nahe verwandt ist Trachy- ale in Neuseeland beschränkt (s. Abschn. 2.4.2).
metopon, ein bis 1,7 m langer Crossopterygier. Auch Im ausgehenden Jura finden sich die ersten Vögel.
Störartige brachten besonders große Formen hervor,
z. B. den bis 3 m langen Chondrosteus hindenburgi.
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 177

  EXKURS 2.13  
1
Evolution der Vögel
Gerald Mayr (Frankfurt/Main)
2
Vögel stammen von Dinosauriern aus der Gruppe Die genaue phylogenetische Stellung von Ar-
der Theropoden ab und meist werden die Deinony- chaeopteryx wurde daher in jüngster Zeit kontro- 3
chosaurier (Dromaeosauridae und Troodontidae) vers diskutiert. Dabei geht es im Wesentlichen um
als ihre nächsten Verwandte betrachtet. Der älteste die Frage, ob das Taxon direkt auf der Ahnenlinie
Stammgruppenvertreter ist der gut elsterngroße der Vögel liegt, zu den morphologisch sehr ähnli-
4
Archaeopteryx, dessen fossile Reste in den Platten- chen Deinonychosauriern gehört, oder ob Deino-
kalken des Oberen Jura (vor etwa 150 Mio. Jahre) nychosaurier gar sekundär flugunfähige Stamm- 5
der südlichen Frankenalb um Solnhofen gefunden gruppenvertreter der Vögel sind. Der Ausgang
wurden. Das zuerst beschriebene Fossil ist eine
isolierte Feder, deren Struktur der einer modernen
dieser Diskussion hängt neben der Bewertung der
Verwandtschaftsbeziehungen einiger neuer Funde
6
Vogelfeder gleicht; inzwischen sind elf Skelettfunde aus China (Xiaotingia, Anchiornis) auch von der je-
bekannt, die vermutlich zu mehreren Arten gehören weils verwendeten Definition des Taxons „Aves“ ab. 7
(zur Fundgeschichte s. EXKURS 2.12 Abschn. 2.3.2). Unabhängig davon stellt Archaeopteryx aber nach
Im Unterschied zu heutigen Vögeln hatte Ar- wie vor eines der überzeugendsten Übergangs- 8
chaeopteryx kein verknöchertes Brustbein. Andere formen zwischen zwei sehr verschiedenen Wirbel-
Primitivmerkmale dieses entwicklungsgeschicht- tiergruppen dar (mesozoischen Theropoden und
lich sehr ursprünglichen Vogels sind das Vorhan- rezenten Vögeln), und der Bauplan des Urvogels
9
densein von Zähnen im Ober- und Unterkiefer, nur war vermutlich dem der Stammart der Aves sehr
fünf bis sechs Sakralwirbel, ein langer, zweizeilig ähnlich. 10
befiederter Schwanz, Gastralia („Bauchrippen“), Seit den 1990er Jahren wurden vor allem in
eine Symphyse im Beckengürtel und drei frei be-
wegliche Finger mit Krallen.
kreidezeitlichen Ablagerungen in China, Spanien,
Argentinien und den USA zahlreiche weitere me-
11
Als Übergangsform zwischen zwei höheren sozoische Vögel entdeckt. Besonders in der Unter-
Tiergruppen (missing link) spielte Archaeopteryx kreide (vor 120 Mio. Jahren) der Jehol-Formation in 12
schon sehr früh eine wichtige Rolle in der Evolu- Nordchina war die Diversität ursprünglicher Vogel-
tionstheorie und lange Zeit galt der „Urvogel“ als taxa sehr hoch. Jeholornis und Protarchaeopteryx 13
ein Taxon, welches ein Mosaik von „Reptilien“- und entsprachen in ihrem Bauplan noch weitgehend
Vogelmerkmalen aufweist. Mit einem zunehmend Archaeopteryx. Sapeornis dagegen hatte schon eine
umfangreicheren Fossilbericht aus der Frühzeit der reduzierte Schwanzwirbelsäule sowie Bezahnung
14
Vogelevolution ist inzwischen allerdings jedes der und auch der dritte Finger des Flügelskelettes war
„Vogelmerkmale“ von anderen theropoden Dino- deutlich verkleinert. Confuciusornis sanctus, der mit 15
sauriern bekannt. So wurden etwa Federn bei zahl- mehreren Hundert bekannten Exemplaren einer
reichen Deinonychosauriern und anderen Thero- der häufigsten fossilen Vögel überhaupt ist, besaß
16
poden aus der Unterkreide Chinas nachgewiesen ebenfalls schon zu einem Pygostyl verwachsene
und auch zum Gabelbein (Furcula) verwachsene Schwanzwirbel und einen zahnlosen Schnabel,
Schlüsselbeine kennt man von vielen theropoden wies dagegen aber noch einen ursprünglichen, 17
Dinosauriern. Wie ferner am zehnten Exemplar zu diapsiden Schläfenbau auf.
erkennen ist, war die Hinterzehe von Archaeopteryx Die meisten Vögel aus der Unterkreide Chinas 18
nicht wie bei heutigen Vögeln nach hinten gerich- und anderer kreidezeitlicher Fundstellen zählen zu
tet, sondern seitlich abgespreizt. Die zweite Zehe
des Urvogels konnte wie die namensgebende „Kil-
den durch einen besonderen Bau von Coracoid und
Scapula gekennzeichneten Enantiornithes („Ge-
19
lerkralle“ der Deinonychosaurier weit nach oben genvögel“; z. B. Sinornis, Iberomesornis). Diese Vö-
gespreizt werden. gel sind von Fundstellen aus allen Kontinenten mit 20
7
178 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.13 (Fortsetzung) 
Ausnahme der Antarktis bekannt und umfassten nicht zu den Vögeln zählenden Dinosauriergruppen
zahlreiche verschiedene Ökotypen, von fischfres- verantwortlich gemacht wird.
senden, langschnäbligen Arten bis zu körnerfres- Wann genau die letzte gemeinsame Stammart
senden mit einem kurzen Schnabel. der Neornithes, d. h. der modernen Vögel, lebte ist
Neben den genannten ursprünglichen Formen umstritten. Die ältesten Funde neornithiner Vögel
treten in der Jehol-Formation bereits Stammgrup- stammen aus der Oberkreide, aber die fragmenta-
penvertreter der Ornithurae auf, d. h. des Taxons, rische Erhaltung aller bekannten Reste lässt meist
welches die modernen Vögel beinhaltet. Unter an- keine sichere phylogenetische Einordnung zu. Ab-
derem sind diese Vögel durch einen abgeleiteten gesehen von mutmaßlichen Stammgruppenvertre-
Bau des Pygostyls gekennzeichnet, der eine bes- tern der Galliformes (Hühnervögel), Anseriformes
sere Steuerung der Schwanzfedern gewährleistet. (Gänsevögel) und Gaviiformes (Seetaucher) sind
Während Confuciusornis und die Enantiornithes nur keine Funde bekannt, welche sich überzeugend
zwei sehr stark verlängerte Schwanzfedern hatten, modernen Vogelgruppen zuordnen lassen. Aus dem
ist für die Ornithurae ein fächerförmiger Schwanz Paleozän allerdings kennt man schon zweifelsfrei
charakteristisch, mit dem der Flug effektiver kont- identifizierte Stammgruppenvertreter von phyloge-
rolliert werden kann. netisch weit getrennten und morphologisch sehr
Die Fossilfunde zeigen, dass die Verteilung unterschiedlichen Gruppen, wie etwa Pinguinen
vieler Merkmale im Stammbaum der Vögel durch und Eulen. Die Aufspaltung der Kronengruppen-
Parallelentwicklungen geprägt ist. Die Reduktion Neornithes fand daher mit hoher Wahrscheinlich-
der Zähne etwa fand unabhängig in mehreren Li- keit schon in der späten Kreidezeit statt, d. h. vor
nien mesozoischer Vögel statt (Confuciusornithi- dem Aussterbeereignis, das zum Verschwinden
dae, Enantiornithes, Ornithurae) und ist im Zusam- der basalen Vogellinien führte. Aus molekularge-
menhang mit der Entstehung des Hornschnabels netischen Analysen abgeleitete Datierungen einer
und des Muskelmagens zu sehen. Während in den Aufspaltung der Neornithes in der frühen Kreidezeit
Enantiornithes die Reduktion der Zähne von cau- sind durch den Fossilbericht dagegen nicht belegt.
dal beginnt, fing der Verlust der Zähne bei den Entgegen weit verbreiteter Ansicht sind käno-
Ornithurae an der Schnabelspitze an. Innerhalb zoische Fossilfunde von Vögeln keineswegs selten
der Ornithurae finden sich Zähne noch in nah und tragen wesentlich zu einem Verständnis der
mit modernen Vögeln verwandten Formen aus Evolution dieser Tiergruppe bei. Insbesondere der
der Oberkreide, wie Ichthyornis und Hesperornis. Fossilbericht Europas und Nordamerikas ist recht
Letzterer, ein tauchender Meeresvogel, hatte das umfangreich, während unsere Kenntnis der känozo-
Flugvermögen sekundär wieder verloren. Sekun- ischen Vogelwelt der Südhalbkugel erst durch
däre Flugunfähigkeit kennt man auch von anderen Funde der letzten Jahre vertieft wurde. Allein aus
mesozoischen Vögeln, wie etwa Patagopteryx aus dem unteren Eozän der Grube Messel bei Darm-
der oberen Kreide Argentiniens. stadt (s. EXKURS 2.15 Abschn. 2.4.1) wurden bisher
Noch in der obersten Kreide herrschte eine hohe mehr als 50 verschiedene Vogelarten beschrieben,
Diversität an verschiedenen Vogellinien außerhalb der die einen Einblick in die Vogelwelt Deutschlands vor
Kronengruppe (Enantiornithes, Ichthyornithidae, Hes- 47 Mio. Jahren geben. Auch an zahlreichen anderen
perornithidae). Aus känozoischen Fundstellen wurden Fundstellen sind Vögel keineswegs seltener als an-
dagegen, mit der möglichen Ausnahme eines Restes dere Wirbeltiergruppen.
aus dem Paleozän Chinas (Qinornis), nur Vertreter der Diese Funde geben nicht nur Aufschluss über
Kronengruppe (Neornithes) nachgewiesen. Die die Evolution einzelner Vogelgruppen, sondern
Gründe für das Verschwinden nicht-neornithiner Vögel sind oft auch von großem biogeographischem In-
an der Kreide-Paläogen-Grenze sind unbekannt, aber teresse, indem sie belegen, dass die frühere geo-
oft wird ein Zusammenhang mit dem Meteoritenein- graphische Verbreitung zahlreicher Vogelgruppen
schlag angenommen, der auch für das Aussterben der sehr verschieden von der heutigen war. Lange
7
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 179

 EXKURS 2.13 (Fortsetzung) 
1
2
3
4
5
.. Abb. 2.64  Der fast einen halben Meter lange Schädel des 2010 beschriebenen Pseudozahnvogels Pelagornis chi-
lensis aus der miozänen Bahía Inglesa Formation in Chile. Mit einer Flügelspannweite von etwa 5,5 m war dies eine der
größten bekannten Arten der Pelagornithidae. Photo: S. Tränkner 6
bekannt ist zum Beispiel, dass im Miozän Mittel- Verwandten dieser Vögel leben heute allerdings 7
europas Arten vorkamen, deren nächste heute entweder in der Neotropis oder in Madagaskar,
lebenden Verwandten auf die tropischen und sub- d. h. in Gebieten, die während des Känozoikums
tropischen Gebiete beschränkt sind. Weit verbrei- weitestgehend isoliert waren. Dies lässt vermuten, 8
tet waren etwa Papageien, Trogons, Bartvögel und dass biotische Faktoren eine Rolle bei ihrem Ausster-
Mausvögel, wobei es sich bei den paläogenen, d. h. ben spielte, und zumindest in Europa verschwan- 9
vor-miozänen, Formen immer um Stammgruppen- den diese südhemisphärischen Exoten vor oder kurz
vertreter handelt. Diese Vogelgruppen beinhalten
vorwiegend frugivore oder insectivore Arten mit
nach dem als Grande Coupure bekannten Faunen-
wechsel an der Eozän-Oligozän-Grenze, der auf eine
10
geringen Ausbreitungsmöglichkeiten. Ihr Ver- Immigration von neuen Säugetieren aus Asien nach
schwinden von den nördlichen Breitengraden lässt Schließen der Turgai-Meeresstraße zurückgeht. 11
sich recht zwanglos mit der globalen klimatischen Das Känozoikum wird oft als das „Zeitalter der
Abkühlung während des Känozoikums erklären, Säugetiere“ bezeichnet, kann aber mit dem glei- 12
insbesondere dem Entstehen einer klimatischen chen Recht auch als das „Zeitalter der Vögel“ be-
Saisonalität mit kalten nordhemisphärischen Win- zeichnet werden, da die Evolution beider Gruppen
tern, welche diesen Vögeln kaum Nahrung bieten. große Parallelen in Hinblick auf den zeitlichen Ur- 13
Bemerkenswert ist allerdings, dass es im frü- sprung und die Radiation der Kronengruppe zeigt.
hen Känozoikum noch weitere südhemisphärische Stammgruppenvertreter vieler höherrangiger 14
Vogelgruppen auf der Nordhalbkugel gab, deren rezenter Vogeltaxa sind bereits aus dem unteren
Aussterben nicht so einfach durch klimatische Er-
eignisse begründet werden kann. So sind aus dem
Eozän (vor etwa 50 Mio. Jahren) bekannt. Bemer-
kenswert ist allerdings, dass es bis zum Oligozän auf
15
Eozän Europas Stammgruppenvertreter der neu- der Nordhalbkugel noch keine Sperlingsvögel gab,
weltlichen Kolibris und Seriemas bekannt, sowie die heute mit mehr als 5000 Arten die zahlenmäßig 16
von Tagschläfern (einer neotropischen Gruppe der dominierende Vogelgruppe darstellen. Die ökolo-
Schwalmvögel), Todis (einer heute nur auf den An- gischen Nischen für kleine Baumvögel wurden im 17
tillen vorkommenden Gruppe der Rackenvögel) und frühen Paläogen daher von Stammgruppenvertre-
dem heute mit einer einzigen Art auf Madagaskar tern anderer Vogeltaxa besetzt, wie etwa Hopfen,
und den Komoren vorkommenden Kurol. Wäre das Trogons, Papageien und Rackenartigen. 18
Verschwinden dieser Vögel nur der känozoischen Im Känozoikum gab es auch zahlreiche ausge-
Klimaveränderung geschuldet, würde man wie bei storbene Vogelgruppen, deren morphologische 19
den oben genannten Gruppen ein Vorkommen in Anpassungen kein Pendant in der heutigen Vogel-
den Tropen der Alten Welt erwarten. Die nächsten welt haben. Ein bemerkenswertes Beispiel sind die
20
7
180 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.13 (Fortsetzung) 
Pseudozahnvögel (Pelagornithidae), die über einen Neben der zahlreichen unabhängigen Entste-
Zeitraum von mehr als 50 Mio. Jahren, vom Paleo- hung flugunfähiger Formen haben Inselfaunen
zän zum Pliozän, lebten, und deren Knochen auf auch eine Reihe von Arten mit extremen morpho-
allen Kontinenten gefunden werden. Kennzeich- logischen Anpassungen hervorgebracht. Unter den
nendes Merkmal dieser marinen Vögel sind zahlrei- im Holozän zusammen mit zahlreichen anderen en-
che, regelmäßig angeordnete Fortsätze der Kiefer- demischen Vogelarten ausgerotteten Enten Hawaiis
ränder, welche sich von echten Zähnen hatten einige der flugunfähigen Moa-Nalos einen
mesozoischer Vögel dadurch unterscheiden, dass sehr kurzen Schnabel, der an den der Schildkröten
sie direkte Auswüchse des Knochens sind, d. h. nicht erinnert, während ein anderes Taxon, Talpanas,
in Alveolen sitzen und keinen Zahnschmelz besit- offensichtlich nahezu blind war und ein entfernt
zen (. Abb. 2.64). Diese recht fragil wirkenden maulwurfartiges (daher der Name) Cranium hatte.
Strukturen dienten vermutlich zum Fang weicher Die extrem abgewandelten Flügelknochen des im
Meerestiere (z. B. Tintenfische), welche die Pseu- Pleistozän ausgestorbenen jamaikanischen Ibisses
dozahnvögel im Flug durch Abfischen der oberen Xenicibis wurden als Waffe beim intraspezifischen
Wasserschicht erbeuteten. Selbst die kleinsten Ar- Revierkampf benutzt. Wahrscheinlich spielt der
ten der Pseudozahnvögel erreichten schon die Gründereffekt, d. h. eine geringe genetische Varia-
Größe heutiger Albatrosse, während die Flügel- bilität der Ausgangspopulationen, eine Rolle in der
spannweite der größten 5–6 m betrug (zum Ver- raschen Manifestation außergewöhnlicher Spezi-
gleich: die Flügelspannweite rezenter Albatrosse alanpassungen in den Avifaunen isolierter Inseln.
beträgt höchstens 3,5 m). Die riesigen Arten (Pela- Zur Zeit des Eozäns war auch Europa von ande-
gornis) gehören neben Vertretern der südamerika- ren Kontinenten isoliert, und die damals lebenden
nischen, mit den Neuweltgeiern verwandten, Te- carnivoren Säugetiere erreichten kaum die Größe
ratornithidae (Argentavis) zu den größten eines Fuchses. Daher finden sich im Fossilbericht
flugfähigen Vögeln. Warum Pseudozahnvögel aus- einige flugunfähige Formen, wie etwa die Gastor-
gestorben sind, ist unbekannt, könnte aber mit ei- nithidae, ausgestorbene Verwandte der Gänsevögel,
ner Veränderung der Meeresströmung nach Bildung die sich trotz des riesigen Schnabels vermutlich von
der mittelamerikanischen Landbrücke im Pliozän Blättern ernährten. Ein südhemisphärisches Pendant
zusammenhängen oder auf einen vermehrten Prä- der Gastornithidae sind die „Donnervögel“ (Dromor-
datorendruck an den Brutplätzen zurückgehen. nithidae) Australiens, von denen inzwischen zahlrei-
Vor allem auf abgelegenen Inseln ohne Raub- che Reste aus oligozänen bis pleistozänen Ablage-
säugetiere erreichten auch zahlreiche flugunfähige rungen bekannt sind. Felsmalereien legen nahe,
Vogelgruppen eine beträchtliche Körpergröße. All- dass diese Vögel noch lebten, als Australien schon
gemein bekannt sind die Straußenvögel Neusee- von Menschen besiedelt war. Sylviornis, ein mit den
lands (Moas) und Madagaskars (Elefantenvögel) so- heutigen Großfußhühnern verwandter großer flug-
wie die Dronte und der Solitär, große Taubenvögel, unfähiger Vogel Neukaledoniens, war den Urein-
welche bis ins 17. Jahrhundert auf Mauritius bzw. wohnern ebenfalls bekannt. Es wird angenommen,
dem benachbarten Rodriguez lebten. Die Flugun- dass in Neukaledonien heute noch zu findende Erd-
fähigkeit dieser Vögel wurde durch einen fehlen- hügel auf den Nestbau der Sylviornithidae zurück-
den Prädatorendruck in einer isolierten Umgebung gehen. Im während fast des gesamten Känozoikums
ohne größere Carnivoren ermöglicht. Zusammen isolierten Südamerika entwickelten sich die flugun-
mit einer Vielzahl weniger spektakulärer Arten auf fähigen, carnivoren Phorusrhacidae zu einer der
den Maskarenen, Neuseeland und zahlreichen In- dominierenden Vogelgruppen. Diese „Terrorvögel“
seln der Karibik sowie der Südsee wurden diese existierten vom Paleozän bis in das Pleistozän, und
Tiere von den ersten menschlichen Besiedlern oder zumindest eine Art wanderte nach Schließung der
den von ihnen mitgebrachten Säugetieren (z. B. Rat- mittelamerikanischen Landverbindung in Nordame-
tus exulans) ausgerottet. rika ein.
7
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 181

 EXKURS 2.13 (Fortsetzung) 
Auch Pinguine verloren ihre Flugfähigkeit wohl Die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der 1
in Zeiten verringerten Prädatorendruckes an der Neoaves werden dagegen noch kontrovers disku-
Kreide-Paläogen-Grenze. Die ältesten Fossilfunde tiert. So wird inzwischen angenommen, dass der 2
(Waimanu, Crossvallia) datieren aus dem frühen meist zu den Storchenvögeln („Ciconiiformes“)
Paleozän, und Pinguine besiedelten die Antarktis gestellte Schuhschnabel (Balaeniceps rex) näher
lange bevor deren Vereisung im Oligozän einsetzte. mit den Pelikanen (Pelecanidae) verwandt ist, mit
3
Viele paläogene Arten fallen durch ihre enorme denen er unter anderem eine abgeleitete Eischa-
Größe und den langen, speerartigen Schnabel auf lenstruktur teilt. Gut begründet ist darüber hinaus 4
(Anthropornis, Icadyptes), und besonders aus Neu- eine Schwestergruppenbeziehung zwischen den
seeland, der Antarktis und Südamerika sind zahlrei- früher ebenfalls zu den Storchenvögeln gestellten
5
che fossile Arten bekannt. Während des Eozäns und Flamingos (Phoenicopteridae) und den morpholo-
Oligozäns lebte auch im Nordpazifik eine ausge- gisch sehr verschiedenen Lappentauchern (Podici-
storbene Gruppe pinguinartiger Vögel, die Plotop- pedidae). Neben anderen abgeleiteten Merkmalen 6
teridae, deren Verwandtschaftsbeziehungen noch besitzen beide Gruppen elf Handschwingen und
nicht abschließend geklärt sind. werden von einem nur ihnen eigenen Cestoden- 7
Die Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der Taxon (Amabiliidae) parasitiert. Darüber hinaus
Neornithes sind bislang nur in ihren Grundzügen
verstanden und Gegenstand vieler aktueller For-
gibt es fossile Stammgruppenvertreter der Fla-
mingos (Palaelodidae), deren Beine denen von
8
schungsprojekte. Moderne phylogenetische Analy- Lappentauchern ähneln und nahe legen, dass die
sen morphologischer und molekularer Daten stüt- Stammart der Flamingos kein Schreitvogel war, 9
zen die schon seit langem angenommene sondern schwimmend oder tauchend im Wasser
Unterteilung der Neornithes in Palaeognathae nach Nahrung suchte. 10
(Steißhühner, Kiwis, Nandus, Emu, Kasuare und Die in den 1980er Jahren für Aufsehen sor-
Strauß) und Neognathae (alle übrigen). Innerhalb gende Hypothese, dass Neuweltgeier (zu denen
der palaeognathen Vögel sind die flugunfähigen z. B. der Kondor zählt) das Schwestertaxon der 11
„Ratiten“ allerdings nicht monophyletisch und es ist Störche sind, konnte durch Analysen von Gense-
fraglich, ob die heutige Verbreitung dieser Vögel auf quenzen nicht bestätigt werden. Letztere stützen 12
der Südhalbkugel ein Beispiel einer vikarianten Ver- eine Schwestergruppenbeziehung zwischen Neu-
breitung aufgrund des Auseinanderbrechens des
südlichen Superkontinentes Gondwana ist. Ratiten-
weltgeiern und einem Taxon, das aus dem Sekretär
(Sagittarius serpentarius) und habichtartigen Tag-
13
artige palaeognathe Vögel kamen auch im Eozän greifvögeln (Accipitridae) besteht.
Europas vor (Palaeotis, Remiornis), was gegen einen Nicht monophyletisch sind auch die Schwalm- 14
Ursprung der Gruppe auf Gondwana spricht. vögel („Caprimulgiformes“), da die in Australien und
Konsens besteht inzwischen auch darin, dass Neuguinea heimischen Höhlenschwalme (Aegothe- 15
die Galloanseres (Hühner- und Entenvögel) die lidae) das Schwestertaxon von Kolibris (Trochilidae)
Schwestergruppe aller übrigen Neognathae sind. und Seglern (Apodidae) sind. Sowohl die Verwandt-
Letztere werden als Neoaves zusammengefasst und schaftsbeziehungen als auch der Fossilnachweis 16
sind unter anderem durch den Verlust des Phallus legen nahe, dass Kolibris von einem Vorfahren ab-
charakterisiert, der bei paläognathen Vögeln und stammen, der Insekten in der Luft fing. Fossilfunde 17
Entenvögeln noch gut entwickelt ist. Galloanseres zeigen zudem, dass ein Teil der Kolibrievolution in
haben einen reichhaltigen Fossilbericht, von dem
hier nur die eozänen Presbyornithidae erwähnt
der Alten Welt stattfand, wo diese Vögel heute nicht
mehr vorkommen. Bemerkenswert ist zudem, dass
18
werden sollen, die durch die Kombination eines alle Schwalmvögel dämmerungs- oder nachtaktiv
langbeinigen, stelzenläuferartigen Körpers mit ei- sind, was entweder auf eine zumindest dämme- 19
nem typischen Gänseschnabel ein ungewöhnliches rungsaktive Stammart von Seglern und Kolibris
Merkmalsmosaik aufweisen. hinweist, oder auf ein mehrmaliges unabhängiges 20
7
182 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.13 (Fortsetzung) 
Entstehen von Dämmerungs- bzw. Nachtaktivität vor dem charakteristischen Papageienschnabel ent-
innerhalb der „Caprimulgiformes“. standen ist.
Neueste molekulargenetische Untersuchungen, Molekulargenetische Studien lieferten ebenfalls
sowohl anhand von Sequenzdaten als auch mittels zahlreiche neue Erkenntnisse bezüglich der Ver-
Retroposon-Analysen, stützen ein Monophylum, wel- wandtschaftsbeziehungen innerhalb der Sperlings-
ches Falken, Papageien und Sperlingsvögel umfasst. vögel, zu denen mehr als die Hälfte aller rezenten
Diese Hypothese ist auch bemerkenswert in Hinblick Vogelarten gehören. So wurde etwa nachgewiesen,
auf einige fossile Taxa, welche Falken- und Papagei- dass die neuseeländischen Maorischlüpfer (Acan-
enmerkmale kombinieren (Messelasturidae), sowie thisittidae) das Schwestertaxon aller übrigen Sper-
der Tatsache, dass das Schwestertaxon der Sperlings- lingsvögeln sind, welche in Schreivögel (Suboscines)
vögel einen zygodactylen Fuß besaß (Zygodactyli- und Singvögel (Oscines) unterteilt werden. Die basal
dae). Bei diesem, auch als Klammerfuß bezeichneten abzweigenden Taxa der letzteren leben in Australien
Fußbau, der heute nur bei Papageien, Kuckucken und und man nimmt deshalb an, dass Singvögel ihren
Spechtvögeln zu finden ist, ist die vierte Zehe perma- Ursprung auf der australischen Kontinentalplatte
nent nach hinten gerichtet. Papageien selbst haben hatten. Die ältesten Fossilien von Sperlingsvögeln
einen vergleichsweise umfangreichen paläogenen stammen aus dem Eozän Australiens und dem frü-
Fossilnachweis, der zahlreiche ursprüngliche Stamm- hen Oligozän Europas, während Passeriformes nicht
gruppenvertreter einschließt. Diese Funde zeigen, vor dem Miozän in der Neuen Welt und in Afrika
dass in der Evolution der Papageien der Klammerfuß nachgewiesen wurden.

2.3.3 Kreide Die 80 Mio. Jahre währende Kreide (146–65 Mio.


Jahre vor heute) ist durch umwälzende Veränderun-
|
Übersicht              | gen gekennzeichnet. Der Südkontinent Gondwana
zerfiel in Antarktika-Australien, Südamerika, Afrika
Letzter Abschnitt des Mesozoikums, der 80 Mio. und Indien; die Kontinente bewegten sich in Rich-
Jahre währte und viele Veränderungen mit sich tung auf ihre heutige Position. Im Nordkontinent
brachte. Rudisten (Muscheln) sind wichtige Laurasia lagen Nordamerika und Eurasien zunächst
Riffbildner; kalkhaltige Einzeller (Coccolithopho- noch nahe zusammen. Das Meer überschwemmt bei
riden) besiedeln in großen Mengen die Meere; den ausgedehntesten Überflutungen der jüngeren
ihre Schalen sind als umfangreiche Sedimente Erdgeschichte selbst alte Hochflächen, u. a. auch den
(Schreibkreide) erhalten. Teleostei sind die nordwesteuropäischen Raum und lagerte zunächst
dominierenden Fische. Mehrere Tiergruppen, tonige, dann stärker kalkige Schichten ab, auf die in
z. B. Ammoniten, Inoceramen, Pterosaurier und der Oberkreide die weiße Schreibkreide folgt. Auf
Raubdinosaurier, bringen Riesenformen hervor. den Kontinenten traten die Bedecktsamer (Angio-
Wendepunkt in der Florengeschichte: Angio- spermen) an die Seite der Nacktsamer (Gymnosper-
spermen dominieren. Die Kreide endet mit einer men). Viele heute noch vorhandene Wirbeltiergrup-
der größten Katastrophen in der Geschichte der pen entfalteten sich in dieser Zeit, z. B. Schlangen,
Organismen. Rudisten, Ammoniten, Belemniten, Schildkröten, Eidechsen und Krokodile. Nach wie
Dinosaurier und zahlreiche andere Reptiliengrup- vor dominierten jedoch die Dinosaurier. Gegen Ende
pen sterben aus. Schreibkreidekliffs in Deutsch- der Kreide starben Inoceramen, Rudisten, Ammoni-
land und Dänemark, Frankreich und England sind ten, Dinosaurier, Flugsaurier sowie diverse Meeres-
Zeugen aus der Zeit des Kreidemeeres. reptilien (z. B. Plesiosaurier und Mosasaurier) und
bezahnte Vögel aus. Die Kreide-Tertiär-Grenze vor
65 Mio. Jahren markiert das fünfte und letzte Mas-
senaussterben vor dem Entstehen des Menschen.
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 183

  EXKURS 2.14  
1
Die Schreibkreide von Rügen: Reste spätmesozoischen Lebens
Die bis 120 m aus der Ostsee ragenden weißen schalen, die zwar nur etwa 1 % ausmachen, aber
Steilufer der Insel Rügen gehen auf marine Se- auf über 250 Arten zurückgehen. Auch Ostracoden 2
dimente der Oberkreide zurück und sind etwa (Muschelkrebse) kommen vor. Gemeinsam ist den
68–70  Mio. Jahre alt. Die Schreibkreide hat sich erwähnten Kreidebestandteilen, dass sie aus Cal- 3
am Grund eines Schelfmeeres gebildet, dessen ciumcarbonat bestehen, welches insgesamt etwa
Nordküste in Südschweden und dessen Südküste
im Bereich des Harzes lag. Im Westen stand dieser
98 % der Schreibkreide ausmacht.
Oft findet man in der Schreibkreide Rügens
4
umfangreiche Sedimentationsraum mit dem Krei- auch Feuersteine. Sie bestehen vorwiegend aus
demeer Englands und Frankreichs, im Osten mit Siliciumdioxid und verdanken ihre Existenz einer 5
dem Kreidemeer Russlands in Verbindung. Man aus dem Sediment aufsteigenden Porenwasser-
schätzt, dass in einem Jahrtausend einige Zenti- strömung; der Hauptteil des SiO2 dürfte wohl 6
meter Sediment entstanden. von Diatomeen und Radiolarien stammen; auch
Eine besondere Bedeutung besaßen im Schwämme waren beteiligt. Der leicht zu iden-
Kreidemeer die planktischen Coccolithopho- tifizierende Feuerstein wurde mit den Eismassen 7
rida (. Abb. 2.65). Etwa drei Viertel der Rügener der letzten Eiszeiten weit nach Süden verfrachtet
Schreibkreide bestehen aus ihren winzigen, nur und diente Homo sapiens bis ins Neolithikum als 8
wenige Mikrometer messenden Schalenschup- Ausgangsmaterial für Werkzeuge und Waffen. Die
pen, den Coccolithen. Coccolithophoriden sind bis
25 µm kleine, einzellige, photosynthetisierende
Verbindungslinie der südlichsten Fundpunkte (die
Feuersteinlinie) verläuft am Fuße der Mittelgebirge
9
Organismen. Einen weiteren wichtigen Anteil der und gilt als Kriterium der maximalen Ausdehnung
Schreibkreide stellen Bryozoenbruchstücke; al- der pleistozänen Vergletscherung. 10
lerdings liegt ihr Anteil deutlich unter 10 %. Die Damit offenbaren sich die Steilküsten Rügens,
drittwichtigste Komponente sind Foraminiferen- naher dänischer Inseln (Mön), Dovers (in Südeng- 11
12
13
14
15
16
17
18
19
.. Abb. 2.65  Kreideküste Rügens, zu einem erheblichen Teil aus den Schalenplatten (Coccolithen) einzelliger Algen
(Coccolithophorida, Inset) aufgebaut. Photo Rolf Reinicke
20
7
184 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.14 (Fortsetzung) 

.. Abb. 2.66 a–e  Kreidefossilien, die man am


Ostseestrand finden kann: a Porosphaera, b Cre-
tirhynchia, c Belemnella (Belemnit, „Donnerkeil“),
d Isselicrinus, e Pycnodonte. Nach Nestler (1995)

land) und der gegenüberliegenden Normandie Rügen alle nur einer Gattung angehören: Belem-
(Frankreich) als organismischen Ursprungs. Bis nella (. Abb. 2.66c). Die bekannteste Muschel ist
heute enthalten sie darüber hinaus weitere Fos- die Auster Pycnodonte (. Abb. 2.66e).
silien und haben schon viele in das umliegende Ebenfalls auffällige und schöne Fossilien
Meer und an dessen Küsten entlassen, weswegen Rügens sind Seelilien und Seeigel. Von erste-
ein aufmerksamer Gang entlang der Ostsee- oder ren werden fast nur die scheibenförmigen, fünf-
Nordseeküste eine Fülle von Fossilien zutage för- strahligen Stielglieder oder Stielbruchstücke,
dern kann. Folgend seien einige besonders auffäl- z. B. von Isselicrinus und Nielssenicrinus, gefunden
lige genannt: (. Abb. 2.66d). Der Durchmesser der Stielglie-
Nicht selten kann man Schwämme finden. Alle der beträgt einige Millimeter; die Elemente sind
heutigen Gruppen (Calcarea, Hexactinellida und also gut mit bloßem Auge zu finden. Kreidesee-
Demospongiae) sind vertreten. Besonders auffäl- igel findet man in unterschiedlicher Erhaltung,
lig ist der kugelförmige Kalkschwamm Porosphaera oft die kompletten Panzer, besonders häufig
globularis. Oft findet man die weißen Kugeln mit die Irregularia Galerites vulgaris und Echinocorys
ihrer porösen Oberfläche am Ostseestrand, vielfach ovata.
von Fremdorganismen angebohrt oder durchlö- Eine Vorstellung vom Reichtum der Kreidefos-
chert (. Abb. 2.66a). Schon im Paläolithikum hat silien kann man im Deutschen Meeresmuseum in
man sie für die Herstellung von „Perlenketten“ ver- der historischen Altstadt von Stralsund gewinnen.

-
wendet. Um Missverständnisse zu vermeiden:
Bryozoen sind in der Schreibkreide Rügens Heute stellt man die aus der Mode kommende
mit über 270 Arten vertreten. Die mit ihnen ver- Schultafelkreide aus gemahlenem Gips her;

-
wandten Brachiopoden sind ebenfalls auf Rügen dieser ist weicher und schont die Tafeln.
und anderswo am Strand der südlichen Ostsee zu Ebenfalls in der Kreide entstanden auch an-
finden (z. B. Cretirhynchia, . Abb. 2.66b). Allein von dere Sedimente, insbesondere entlang dem
Rügen kennt man über 30 Arten, darunter Lingula Nordrand der Mittelgebirge und in Süd- und
cretacea. Kalkschalige Brachiopoden findet man Südostdeutschland (. Abb. 2.1), z. B. die Sand-
fast immer doppelklappig. steinfelsen der Sächsischen Schweiz. Im Elb-
Unter den Mollusken sind die Belemnitida be- sandsteingebirge gab es zeitweise bis zu 600
sonders leicht zu finden. Belemnitenrostren sind Steinbrüche, aus denen viele Bauten der Dres-
allbekannte Fossilien, die interessanterweise auf dener Barockzeit entstanden.
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 185

Organismenwelt der Kreide Die Bivalvia erreichten in Form der weit ver-
Im Plankton der Ozeane machten die Kieselalgen breiteten Inoceramen eine besondere Mannigfaltig- 1
(Diatomeen) eine Radiation durch. Sie haben wohl keit. Die Inoceramen sind Muscheln, die über 1 m
mit den Dinoflagellaten einen wesentlichen Teil lang wurden. Sie stellen wichtige Leitfossilien in der 2
zur Primärproduktion und zur Bildung von Tief- Kreide dar (. Abb. 2.1).
seesedimenten der Ozeane beigetragen. Auch die In flachen, warmen Meeresgebieten dominier-
planktischen Foraminiferen – Globigerinida – so- ten die bis zu 1 m hohen Rudisten, die zum Teil 3
wie die Radiolarien entwickelten sich stark; ihre aus umfangreiche Riffe bildeten. Sie entstanden im
Calciumcarbonat bestehenden Gehäuse haben auch Jura und besiedelten die tropischen und subtropi- 4
heute noch wesentlichen Anteil an der Sedimentbil- schen Flachmeere etwa 70 Mio. Jahre, bevor sie etwa
dung warmer Meere. 100.000  Jahre vor der Kreide-Tertiär-Grenze aus-
Speziell während der späten Kreide spielte starben. Rudisten bevorzugten jene Schelfbereiche,
5
auch das kalkige Nannoplankton eine wichtige in denen starke Wasserbewegung vorherrschte. Trotz
Rolle. Die Platten, mit denen die Zellen der nan- ihrer robusten Schalen wurden sie oft zerstört, wes- 6
noplanktischen Coccolithophorida gepanzert wa- wegen man heute vorwiegend Trümmerkalke findet
ren, sammelten sich zu mächtigen Sedimenten (lat. rudus = Schutt). An manchen Stellen entstanden 7
(Schreibkreide, . Abb. 2.65). Solche Ablagerun- bis über 1000 m dicke Schichten! Für die Ausbreitung
gen kennen wir, wie schon gesagt, beispielsweise der Rudisten wirkte sicher die Überflutung großer
von den Ostseeinseln Rügen und Mön. In großer Bereiche der Kontinente begünstigend. Rudisten 8
Gleichförmigkeit erstreckt sich die Schreibkreide hatten zwei sehr unterschiedliche Schalen. Die eine
von Südengland bis zur Krim. In manchen Gebie- war kegel‑, die andere deckelförmig (. Abb. 2.67a). 9
ten sind auch Schwämme und Bryozoen an ihrem Flachwasserriffe der späten Kreide wurden im We-
Aufbau beteiligt (Maastrichter Kreide). Unter den sentlichen von ihnen aufgebaut. Heute findet man
Lithistida sind die propellerförmige Verruculina, die fossile Rudistenriffe in Südeuropa, Nordafrika,
10
birnenförmige Siphonia und unter den Hexactinelli- Arabien, Indonesien, im Iran, auf den Philippinen,
den die trichterförmige Gattung Ventriculites sowie in China und in der Karibik, also entlang der alten 11
das schirmförmige Coeloptychium (. Abb. 2.1) er- Tethys-Küste. Auf der arabischen Halbinsel sind
wähnenswert. Rudistenkalke wichtige Speichergesteine für Erdöl. 12
Korallen sind als Riffbildner in der Kreide nur . Abb. 2.67 zeigt die Umgestaltung der bilateralsym-
von untergeordneter Bedeutung; Korallenkalke aus metrischen Formen (Diceras) in die merkwürdigen
dieser Zeit gibt es z. B. in den südfranzösischen Gattungen Titanosarcolites und Vaccinites. Unglaub- 13
Alpen (Urgon-Facies). Außer Korallen waren hier lich war die Kalkproduktion: Ein Weichkörper von
auch Bryozoen und vor allem Rudisten an der Riff- 5–10 cm3 (entspricht einer heutigen Auster) konnte 14
bildung beteiligt. in einem Jahrzehnt mehrere Kilogramm Kalk produ-
Im Benthos der Meere gehen die Brachiopoden zieren. Der relativ kleine Weichkörper bewohnte in
weiter zurück (heute existieren von ihnen nur noch den hohen, kegelförmigen Gehäusen nur die oberste
15
etwa 330 Arten – gegenüber 30.000, die fossil be- Etage; alle darunter liegenden ehemaligen Wohnbe-
kannt wurden); ähnliches gilt für die gestielten Cri- reiche wurden durch Kalkböden verschlossen. 16
noidea. Brachiopoden lebten allerdings in manchen Unter den Cephalopoden brachten die Ammo-
küstennahen Gebieten in großer Dichte, so die In- niten Riesenformen hervor. Die größte je gefundene 17
articulaten mit der kalkschaligen, festgewachsenen Form stammt aus einem Steinbruch bei Seppenrade
Gattung Isocrania, im Volksmund als „Totenkopf- (Münsterland, Nordrhein-Westfalen): sie erreicht
muschel“ oder „Totenköpfchen“ bezeichnet, weil einen Durchmesser von über 2 m und eine Dicke 18
die Muskelinsertionsstellen und das Armgerüst eine von 40 cm. Gegen Ende der Kreide erlebten die Am-
Ähnlichkeit mit einem Schädel suggerieren. moniten ihren stammesgeschichtlichen Niedergang, 19
Unter den Gastropoden, speziell den Neogas- die Belemniten dagegen erlangten in der Kreide eine
tropoden, entstanden viele moderne Familien mit größere Bedeutung als sie im Jura hatten. Zum Teil
carnivoren Formen. sind sie in riesigen Mengen fossiliert.
20
186 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.67 a–e  Rudista.
a Aufbau eines Rudisten.
Die Muschel ist mit der
rechten, kegelförmigen
Schale am Substrat festge-
wachsen; die linke Schale ist
als Deckel entwickelt. Der
relativ kleine Weichkörper
lebte im jeweils oberen
Gehäusebereich. Höhe bis
1,5 m. b Diceras: beide Scha-
len sind noch relativ ähn-
lich; ursprünglicher Rudist.
c Titanosarcolites: jede Scha-
le dieser liegenden Form bis
1 m lang. d Vaccinites: diese
Gattung hat Riffkörper bis
1,8 m Höhe aufgebaut.
e Vaccinites vesiculosus am
Fundort (Kreide, Oman).
Nach Schumann u. Steuber
(1997)

Unter den Decapoda entfalteten sich die Bra- Insgesamt zeigt die Tierwelt der Meere der Krei-
chyura, deren Ursprung im Jura liegt. dezeit gegenüber der des Jura keine grundsätzlichen
Auch Echinodermen sind aus der Kreide reich- Unterschiede. Auch die marinen Reptilien bleiben
lich überliefert. Irreguläre Seeigel sind in der Kreide ähnlich. Die Schildkröten entwickeln bis 2 m lange
häufig und sogar als Leitfossilien einsetzbar. Regu- Formen, deren knöcherner Panzer zu einem Rah-
läre Seeigel wie Stereocidaris, Salenia und Phymo- menwerk zurückgebildet wurde.
soma sind als schöne, aber seltene Formen im nord- Gegen Ende der Kreidezeit drangen die rein
deutschen Tiefland zu finden. kreidezeitlichen (= kretazischen) Mosasaurier
In der Fischfauna der Kreide werden die Te- (Maas-Saurier; nach dem Fluss Maas benannt) in
leosteer mit ihren dachziegelartig angeordneten, die Meere ein. Der erste Schädel eines Mosasau-
dünnen und elastischen Schuppen die artenmäßig riers wurde Ende des 18. Jahrhunderts bei Maas-
absolut vorherrschende Gruppe. tricht (Niederlande) gefunden. Als französische
Truppen 1795 Maastricht belagerten, gab Napo-
2.3  •  Mesozoikum (Erdmittelalter) 187

.. Abb. 2.68 a, b  Kreidezeitliche
Bennettitales. a Cycadeoidea, b Wil-
liamsonia
1
2
3
4
5
6
7
leon den Befehl, diesen Schädel zu erbeuten. 600 eine Spannweite von 9 m auf. Daneben gab es eine
Flaschen Wein waren als Prämie ausgesetzt! Der Fülle kleinerer Formen. Die Pterosaurier besaßen 8
Schädel wurde gefunden, geraubt und zu Cuvier als einzige Wirbeltiere eine feste Verbindung des
nach Paris gebracht. Schultergürtels mit der Brustwirbelsäule und waren 9
Mosasaurier waren lang gestreckte, carnivore wahrscheinlich wie die Säugetiere und Vögel homo-
Reptilien. Ihre Länge reichte von 2 m (Clidastes) bis iotherm. In der Kreide entwickelten sich schließlich
17 m (Mosasaurus). Mosasaurier haben sich ver- Schlangen und Eidechsen.
10
gleichsweise schnell in den Weltmeeren ausgebrei- In der Kreide liegt ein entscheidender Wende-
tet. In ihrer relativ kurzen Geschichte von 25 Mio. punkt in der Florengeschichte: Mit der rapiden 11
Jahren brachten sie ganz verschiedene Lebensfor- Ausbreitung der Angiospermen innerhalb von etwa
men hervor, u. a. Muschelknacker (Globidens) und 10 Mio. Jahren ab der Grenze Unterkreide-Ober- 12
Räuber, die von ihresgleichen, Fischen und Vögeln kreide begann vor etwa 120  Mio. Jahren das von
(Hesperornis) lebten (Tylosaurus u. a.). diesen dominierte Neo- oder Känophytikum. Von
Auf dem Festland entwickelten die Saurischia der mittleren Kreidezeit an überflügelten die Angio- 13
mit den großen Raubdinosauriern und den riesigen spermen die viel älteren Gymnospermen. Die Ben-
Pflanzenfressern neue Gattungen (s. Abschn. 2.3.1). nettitales (. Abb. 2.68), die mit den Angiospermen 14
Die Ornithischia brachten eine Reihe neuer Formen in Verbindung gebracht werden, starben aus. Angio-
hervor, z. B. die bekannte Gattung Iguanodon. Diese spermen sind „Bedecktsamer“, d. h. ihre Samenan-
bis 7 m großen Pflanzenfresser lebten auch in Eu- lagen werden von einem Fruchtknoten umhüllt und
15
ropa. Bei Bernissart in Belgien stürzte eine ganze liegen nicht mehr frei wie bei den Gymnospermen
Herde in eine Felsspalte und wurde fossil erhalten. („Nacktsamern“). Ihre Blüten sind bunt und locken 16
Im Naturkundemuseum in Brüssel hat man ihre Bestäuber an, die an ihrem Vermehrungsprozess
Skelette aufgestellt und so ein Bild der Kreidezeit in beteiligt sind. Es begann eine enge Koevolution mit 17
Europa entworfen. Besonders bekannte Formen sind Insekten, insbesondere Schmetterlingen und Haut-
auch Triceratops (. Abb. 2.60c) mit langen Hörnern flüglern (s. Abschn. 4.3.3). Ginkgogewächse starben
und Ankylosaurus mit seiner starken Panzerung. in der Kreide bis auf geringe Reste aus; auch die in 18
Die Flugsaurier brachten in der späten Kreide der Unterkreide noch stark vertretenen Voltziales
die größten Formen ihrer Geschichte hervor: Quet- gingen zurück. Die Pinales machten etwa parallel 19
zalcoatlus (. Abb. 2.53f) erreichte 15 m Spann- zu den Angiospermen eine rasche Evolution durch,
weite und war das größte fliegende Tier, welches wurden aber dann im Tertiär endgültig von den An-
uns bekannt ist. Pteranodon (. Abb. 1.25a) wies giospermen in Randsituationen gedrängt.
20
188 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

Mit dem Ende der Kreidezeit setzte ein weltwei- tertius) und das Quartär (lat. quartus) die vierte
ter Rückzug der Meere aus den vorher überfluteten Abteilung darstellten. Derzeit wird die Gliederung
Flachmeergebieten ein, der dem am Ende des Perm des Känozoikums in Paläogen, Neogen (s. u.) und
vergleichbar ist und vom Aussterben vieler Orga- Quartär bevorzugt. Das Känozoikum ist durch be-
nismengruppen begleitet ist. In der Tat war dieser deutende geologische Ereignisse gekennzeichnet,
Rückzug des Meeres stärker denn je, und im Großen die letztlich die heutigen Bedingungen geschaffen
und Ganzen waren in dieser Zeit die jetzigen Um- haben. Das Öffnen der Drakepassage zwischen
risslinien der Kontinente erreicht. Mit dem Ende Südamerika und der Antarktis führte Ende des
der Kreide verschwanden mehrere Organismen- Eozän zur Bildung der zirkumantarktischen Strö-
gruppen oder wurden doch drastisch reduziert. mung. Damit erfolgte eine thermische Isolation der
Unter den Schwämmen hatten in der Kreide die südpolaren Region. Die alpidische Gebirgsbildung
massiven, zum Teil gesteinsbildenden Lithistida (De- (s. EXKURS 2.2 Abschn. 2.2.2) ist ein weiteres wich-
mospongiae) und die Hexactinellida eine besondere tiges Ereignis der Erdneuzeit, und die Ausbildung
Blüte erlebt; jetzt ging ihre Zahl stark zurück, heute der mittelamerikanischen Brücke veränderte das
leben diese Schwämme bevorzugt in großen Meeres- ozeanische Strömungsmuster. Der Golfstrom ent-
tiefen. Auch die Kalkschwämme (Calcarea) verloren stand.
Ende der Kreide den Großteil ihrer Formen. Europa war relativ lange (bis zum Eozän) über
Die Bryozoen, die in der Kreide ihre größte For- Spitzbergen und Grönland mit Nordamerika durch
menfülle erreicht hatten, verloren etwa die Hälfte eine Landbrücke verbunden, und durch den An-
ihrer Gattungen. schluss Europas an Asien und Afrika erfolgte ein
beträchtlicher Austausch von Organismen.
Massenaussterben an der Kreide-
Tertiär-Grenze
Wie schon im EXKURS 2.3 im Abschn. 2.2.2 darge- 2.4.1 Tertiär
stellt, hatte nach verbreiteter Ansicht der Einschlag
eines Asteroiden (oder mehrerer Asteroidentrüm-
mer) vor etwa 65 Mio. Jahren Konsequenzen für
|
Übersicht              |
die Organismen. Die Atmosphäre wurde vermut- Säugetiere, Vögel und Blütenpflanzen entfalten
lich schockartig aufgeheizt, Seebeben zerstörten sich und kennzeichnen das Bild der Erde bis
küstennahe Lebensräume, gewaltige Staubmengen heute. Die Kontinente nehmen die heutige Po-
wurden in die Atmosphäre geschleudert. Es kam zu sition ein, wodurch sich die Meeresströmungen
mehrjähriger Verdunkelung und zur Abkühlung. ändern. Antarktika wird isoliert und von einem
Das Aussterben hatte aber vermutlich noch weitere Eisschild bedeckt. Es kommt zu erheblichen
Ursachen. Meeresspiegelschwankungen. Knochenfische,
speziell Teleosteer, dominieren in marinen und
limnischen Lebensräumen. Insekten entfalten
2.4 Känozoikum (Erdneuzeit) sich weiter.

Das Känozoikum ist mit 65 Mio. Jahren das kür-


zeste der drei Erdzeitalter des Phanerozoikums.
An seinem Beginn steht das Aufblühen zahlreicher Das Tertiär (65–2,6 Mio. Jahre vor heute) ist über
Organismengruppen, welche die Lebensräume ein- lange Phasen durch Artenvielfalt in tropischem oder
nahmen, die nach dem großen Einschnitt an der auch warm-gemäßigtem Klima gekennzeichnet. Im
Kreide-Tertiär-Grenze (K‑T-Grenze) ausgestor- marinen Benthos entwickelten Foraminiferen Rie-
ben waren. Das Känozoikum wird in Tertiär und senformen (Nummuliten, . Abb. 2.69).
Quartär gegliedert. Diese Bezeichnungen gehen auf Das Tertiär wird weitgehend nach dem pro-
eine heute nicht mehr übliche Einteilung der Erd- zentualen Anteil der heute noch lebenden Mol-
geschichte zurück, in der das Tertiär die dritte (lat. luskengattungen differenziert. Man unterscheidet
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 189

1
2
3
4
5
6
7
.. Abb. 2.69  Der Sphinx bei Gisa (nahe Kairo) – Löwenkörper mit Antlitz des Königs Chefren – und die großen Pyramiden (im
Hintergrund die Chefren-Pyramide) bestehen aus eozänem Nummulitenkalk (Inset)
8
Alttertiär oder Paläogen (Paleozän, Eozän und In weiten, absinkenden Gebieten Europas da-
Oligozän) sowie Jungtertiär oder Neogen (Miozän gegen entstanden im Tertiär umfangreiche Braun- 9
und Pliozän). kohlenlager (s. EXKURS 2.16 und . Abb. 2.37). Die
Das Paleozän ist die erste Epoche der Erdneu- klimatische Situation war ähnlich wie im Karbon:
zeit; sie erstreckte sich über fast 10 Mio. Jahre (65– die Temperaturen waren relativ hoch, die Vegeta-
10
56 Mio. Jahre vor heute). Das folgende Eozän (grie- tion reich entwickelt, das Land sank langsam ab.
chisch eos = Morgenröte) währte über 20 Mio. Jahre Große Mengen absterbender Pflanzensubstanz 11
(56–34 Mio. Jahre vor heute) und erlebte den Be- sammelten sich, vertorften und wurden schließlich
ginn der modernen Weichtiere. Im Oligozän (oligos zu Braunkohle. Etwa 20 % der wirtschaftlich nutz- 12
= wenig; 34–23 Mio. Jahre vor heute) entsprachen baren Weltbraunkohlevorräte lagern in Europa,
nur wenige Weichtiere den heutigen Formen. Ähn- davon etwa die Hälfte in Deutschland. Im Wesent-
liches soll mit dem Begriff Miozän (23–5 Mio. Jahre lichen gibt es hier drei Reviere: Rheinland (Nieder- 13
vor heute) ausgedrückt werden (griechisch meion rhein) mit 35 Mrd. Tonnen, Mitteldeutschland mit
= weniger), im abschließenden Pliozän (5–2,6 Mio. 8 Mrd. Tonnen und Lausitz mit 13 Mrd. Tonnen. 14
Jahre vor heute; griechisch pleion = mehr) gab es Bezüglich ihres Heizwertes ist die Braunkohle der
dann schon viele Weichtiere der Gegenwart. Man Steinkohle unterlegen. Sie liefert 11.000–26.000 kJ/
schätzt, dass es im Eozän weniger als 5 % der heute kg, die Steinkohle 25.000–35.000 kJ/kg. In ihrer Ge-
15
existierenden Molluskengattungen gab, im Miozän nese war die Braunkohle nicht so hohen Drucken
waren es 20 %, im Pliozän über 50 %. und Temperaturen ausgesetzt wie die Steinkohle. 16
Im Tertiär erfolgten immer wieder Meeresein- In manchen Gebieten ist sie eine wesentliche Ener-
brüche, die auch in Europa zu fossilreichen Abla- gie- und Rohstoffquelle unserer modernen Welt 17
gerungen in „Tertiär-Becken“ führten, dem Pariser, (. Abb. 2.70a).
Londoner, Nordwestdeutschen und Wiener Becken, Einen weiteren Einblick in die Braunkohlenzeit,
sowie dem Oberrheingraben mit dem Mainzer Be- wie das Tertiär auch genannt wird, vermittelt uns der 18
cken. Die tiefgreifendsten Veränderungen erfolgten Bernstein (. Abb. 2.70b–d). Bernstein entstammt
jedoch im Raum der Pyrenäen, Alpen und Karpa- einer lange vergangenen Baumvegetation und geht 19
ten, wo hoch aufragende Gebirge und die heutigen auf Baumharze zurück, insbesondere aus der Kreide
Flusssysteme entstanden (alpidische Gebirgsbil- und dem Tertiär. Wesentlich jüngere, subfossile
dung, s. EXKURS 2.2 Abschn. 2.2.2). Harze der letzten 5 Mio. Jahre nennt man Kopale.
20
190 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

.. Abb. 2.70 a–d a Braun-
kohlekraftwerk am Lausit-
zer Findlingspark Nochten
(Sachsen). Bevor man an
die Braunkohle gelangte,
mussten bis 100 m Sedi-
ment entfernt werden, das
im Laufe der pleistozänen
Vergletscherungen hierher
gelangte. b–d Bernstein.
b Ansammlung verschiede-
ner Insekten, c Raptophas-
ma (Mantophasmatodea),
d Termiten. Photos b–d aus
Wichard u. Weitschat (2004)

Am bekanntesten ist in Europa der „baltische anderen Fällen (mexikanischer und dominikani-
Bernstein“. Sein Alter beträgt 40–50 Mio. Jahre, und scher Bernstein) spielten offenbar Heuschrecken-
wegen seiner Einschlüsse (Inklusen) von Tieren und bäume (Hymenaea), die zu den Hülsenfrüchtlern
auch Pflanzenteilen gibt er Auskunft über Fauna und (Fabaceae) gehören, eine wichtige Rolle.
Flora dieser Zeit. Baumharze wurden damals aus Auch in Braunkohlelagerstätten Mitteldeutsch-
Totholz ausgespült, von Flüssen verfrachtet, ins Meer lands, z. B. bei Bitterfeld und Hoyerswerda, ist Bern-
transportiert und zu Bernstein. Ohne Wasser wäre stein keine Seltenheit. Dieser „sächsische Bernstein“
dessen Genese nicht denkbar. 99 % aller im Bernstein ist wesentlich jünger als der oben erwähnte „balti-
eingeschlossenen Tiere sind Arthropoden, meist In- sche Bernstein“.
sekten, oft amphibische. Man geht also davon aus, Die Insektenfauna, soweit sie über Bern-
dass die Entstehung von großen Bernsteinmengen steininklusen erfasst wurde, besteht zum kleineren
in riesigen alttertiären Bergwäldern erfolgte, die von Teil aus auch heute noch in Europa vorkommenden
Fließgewässer durchzogen wurden und dass Entste- Taxa (. Abb. 2.70b), zum größeren Teil jedoch aus
hungsort des Harzes und Entstehungsort des Bern- Formen, die sich in wärmere Gebiete zurückgezo-
steins nicht übereinstimmen. Im Zuge der Eiszeiten gen haben (z. B. Termiten, . Abb. 2.70d). Besonders
kam es dann zu weiteren Verfrachtungen. bekannt wurden die kürzlich entdeckten Manto-
Der baltische Bernstein wird z. B. mit Kiefern phasmatodea (. Abb. 2.70c).
(Pinus succinifera) in Zusammenhang gebracht, in
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 191

In der „Braunkohlenzeit“ dominierten die Be- in Hunderte von Arten differenziert haben. Man
decktsamer (Angiospermen). Außerdem gab es geht derzeit von einer Artbildung in weniger als 1
Nadelhölzer in großer Artenfülle. Im Paläogen 100 Jahren aus. Cichliden sollen 5 % der rezenten
standen, entsprechend dem warm-feuchten Klima Wirbeltierarten stellen. 2
wärme- und feuchtigkeitsliebende Gehölze mit Schon im Paläogen eroberten die Wale das Meer,
immergrünen Blättern (Lorbeer-Mischwald-Ge- sie stammen von den Paarhufern nahestehenden
sellschaften) im Vordergrund. Im Zuge der Abküh- Huftieren ab. Aus Pakistan kennt man Schädel- 3
lung im Neogen wurde diese Vegetation von einer und Skelettreste, die Übergangsformen angehören,
aus dem Osten einwandernden Flora verdrängt, die die wohl eine amphibische Lebensweise hatten 4
im Herbst ihre Blätter abwirft. Damit entstanden in (. Abb. 1.29). In Mitteleuropa hat man eozäne
Mitteleuropa zum ersten Mal Wälder, wie wir sie Walreste bei Helmstedt (Niedersachsen) gefunden.
heute kennen. Ebenfalls aus dem Eozän Mitteleuropas kennt man
5
Die Fauna der Meere im Tertiär ähnelte der heuti- Robben. Robben lassen sich von bärenartigen Raub-
gen Meeresfauna schon sehr. Die früher so hervortre- tieren ableiten. 6
tenden Brachiopoden waren stark zurückgegangen, Im Oligozän war es in unseren Breiten feucht-
Muscheln dagegen verbreitet. Schnecken entfalteten warm. Zu dieser Zeit bestand eine letzte direkte 7
sich zu großer Artenfülle, im Pariser Becken findet Verbindung zwischen Nordsee und Mittelmeer,
man z. B. hervorragend erhaltene Schalen. Unter und dementsprechend finden wir an verschiedenen
den Foraminiferen erschienen abermals Riesenfor- Stellen in Mitteleuropa Fossilien mariner Formen 8
men: die scheibenförmigen Nummuliten (nach dem aus dieser Zeit. Bewohner der über 500 km langen
lateinischen Wort für kleines Geldstück = nummu- Meeresstraße, die z. B. den heutigen Oberrhein- 9
lus genannt) erreichten Durchmesser von mehr als graben und Teile Westfalens einnahm, waren z. B.
10 cm. Stellenweise sind sie gesteinsbildend. Am Haie, die im Paläogen eine besondere Entfaltung
bekanntesten sind wohl die großen Pyramiden von erlebten, und Seekühe. Von besonderer Bedeutung
10
Gisa in der Nähe von Kairo, die im Alten Reich aus ist der Doberg bei Bünde (Ostwestfalen) mit seinen
Nummulitengestein aus nahegelegenen Steinbrüchen küstennahen Ablagerungen. Die vielleicht bekann- 11
aufgebaut wurden. An ihnen kann man die Nummu- teste Region mit oligozänen, marinen Fossilien ist
litenschalen sehr schön erkennen (. Abb. 2.69); und wohl das Mainzer Becken, eine Ausbuchtung des 12
schon in der Antike waren sie aufgefallen, jedoch als Oberrheingrabens, wo man z. B. auf Äckern und in
Linsen interpretiert worden. Man meinte, die Bauar- Weinbergen Fossilien von Meeresschnecken und
beiter hätten ihr Linsengericht verschüttet. ‑muscheln findet, die heute in ganz ähnlicher Form 13
Nachdem im Mesozoikum die Reptilien als noch im Indo-Westpazifik leben.
Raubtiere in den Meeren eine bedeutende Rolle Auch auf dem Festland machten die Säugetiere 14
gespielt hatten, folgten jetzt Fische, insbesondere eine rasche Entfaltung durch. Raubtiere, Nagetiere
Teleosteer, und Säugetiere. und Insektenfresser waren schon im Paleozän vor-
Die Teleosteer entwickelten sich zur artenreichs- handen, Paar- und Unpaarhufer sowie Fledermäuse
15
ten Wirbeltiergruppe. Die bedeutendste Fundstätte sind seit dem Eozän bekannt. Es gab im Tertiär nicht
tertiärer Knochenfische liegt in der Provinz Ve- nur das rasche Entstehen neuer Säugerordnungen, 16
rona (Italien). Aus dem Eozän des dortigen Monte manche starben auch bald wieder aus (. Abb. 2.73).
Bolca kennt man über 150 wunderbar erhaltene Die Entfaltung der Blütenpflanzen, die vor etwa 17
Fischarten, die in verschiedenen Museen zur Aus- 120 Mio. Jahre vor heute begann, setzte sich im Ter-
stellung kamen. Rezente Teleosteer umfassen etwa tiär fort. Mit ihr entstand in einer engen Coevolution
25.000 Arten. 60 % von ihnen leben im Meer, 40 % die große Vielfalt der Insekten mit über 1 Mio. Arten. 18
im Süßwasser, obwohl dieses nur 1 % des Oberflä- Einen ganz besonders detaillierten Eindruck
chenwassers einnimmt. Die rasche Artbildung von von der alttertiären Organismenwelt vermitteln 19
Süßwasserteleosteern ist ein intensiv bearbeitetes uns die Grube Messel, die wegen ihrer kontroversen
Thema. Besonders gut sind in dieser Hinsicht die Einschätzung durch Wissenschaft und Politik in die
Seen Ostafrikas untersucht, in denen sich Cichliden Schlagzeilen kam, und das Geiseltal.
20
192 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

  EXKURS 2.15  

Messel: Von der geplanten Mülldeponie zum UNESCO-Weltnaturerbe


– ein Blick in die Welt vor nahezu 50 Mio. Jahren
Die Grube Messel liegt etwa 8 km nordöstlich von ernannt wurde. Diese Fundstätte enthält einen ein-
Darmstadt auf einem Ausläufer des nördlichen Oden- zigartigen Reichtum fossilisierter Pflanzen und Tiere
waldes und erlangte in breiten Kreisen der Bevölke- aus dem Eozän, als Europa noch eine Inselwelt war, zu
rung erst „Berühmtheit“, als man das bis zu 70 m tiefe der auch Grönland mit Krokodilen und Palmen zählte,
„Loch“, das durch den Abbau von Ölschiefer zustande und in der die großen Faltengebirge der Alpen, Pyre-
gekommen war und aus dem man schon viele Fos- näen und Karpaten noch nicht existierten.
silien geborgen hatte, als Mülldeponie verwenden Die Fossilien eröffnen uns einen differenzierten
wollte. Ein fast 20 Jahre währender Kampf engagier- Einblick in eine eozäne Organismenwelt (. Abb. 2.71).
ter Personen führte jedoch dazu, dass dieser unver- In der Zeit vor gut 47 Mio. Jahren reichte die Ur-Nord-
antwortliche Missbrauch nicht eintrat, sondern dass see bis etwa an die heutigen Mittelgebirge und der
die Grube Messel 1995 durch die UNESCO, die Orga- Alpenraum war vom Meer bedeckt. Das Klima war
nisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissen- tropisch-subtropisch, mit Jahresmitteltemperaturen
schaft und Kultur, zum Weltnaturerbe der Menschheit von etwas über 20 °C. In dem Maarsee nahe dem

.. Abb. 2.71 a–e  Fossilien von Messel. a Diplocynodon (das häufigste Krokodil in Messel), b Eurotamandua (Ameisen-
bär), c Eomanis (Schuppentier), d Hyrachyus(Tapir), e Formicium (Ameise). Nach von Koenigswald, G. Storch (1998)
7
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 193

 EXKURS 2.15 (Fortsetzung) 
heutigen Messel lagerten sich über einen Zeitraum häufig findet man Wiedehopfartige, Mausvögel 1
von etwa 1  Mio. Jahren Faulschlammlagen ab, die und Racken. Neben vielen fliegenden Formen gab
später zu einer bis zu 200 m dicken Ölschieferschicht es den 2 m hohen Riesenlaufvogel Gastornis (Dia­ 2
wurden, d. h. es sind nicht nur Skelettelemente und tryma), der auch aus Nordamerika bekannt ist.
Zähne erhalten, sondern auch Bakterienrasen, die den Das „Urpferdchen“ Eurohippus parvulus dage-
Körperumriss mit Haarkleid abbilden. Fossil überlie- gen hatte nur die Größe eines Foxterriers, das ver-
3
ferter Magen-Darm-Inhalt lässt Rückschlüsse auf die wandte Propalaeotherium hassiacum war schäfer-
Ernährung zu. Der Messeler See, stagnierend und hundgroß. Diese Formen besaßen vorn drei, hinten 4
weniger als 200 m tief, wurde zu einem fossilen Sam- vier Zehen und lebten von Blättern und Früchten
melbecken, einer so genannten Grabgemeinschaft (einschließlich Weintrauben). Sie gehörten zu einer
5
(Thanatozönose) für Bewohner limnischer und ter- phylogenetischen Seitenlinie der Pferde und star-
restrischer Habitate sowie des Luftraumes. Weltruhm ben im Eozän aus.
erlangte Messel als Fundstätte fossiler Säugetiere, die Auch einen Ameisenfresser (Eurotamandua jo- 6
so gut erhalten sind wie nirgendwo sonst; in sehr vie- resi, . Abb. 2.71b) kennt man aus Messel. Dessen
len Fällen lassen sich sogar Magen- und Darminhalte zahnlose Unterkiefer sind zu schmalen Spangen re- 7
identifizieren. In der ufernahen Vegetation spielten duziert. In der Morphologie ähnelt Eurotamandua
Palmen, Theaceae, Juglandaceae, Araceae, Magnolien
u. a. eine wichtige Rolle. Insgesamt fand man Vertre-
den Ameisenbären Südamerikas.
Dazu kommen Schuppentiere (Eomanis,
8
ter von 60 Blütenpflanzenfamilien; dazu Formen aus . Abb. 2.71c), die heute auf Afrika und Teile
sieben Farnfamilien. Der artenreiche, immergrüne Asiens beschränkt sind, und Tapire (Hyrachyus, 9
subtropisch-tropische Regenwald hatte eine gewisse . Abb. 2.71d), welche rezent in Südostasien und
Ähnlichkeit mit den heutigen Wäldern Südostasiens; Mittel- sowie Südamerika leben. 10
die Fauna des Sees zeigt Anklänge an die der Ever- Groß ist die Zahl der gefundenen Fledermäuse.
glades im Süden Floridas, wo auch heute noch – wie Ihre unglaublich gute Erhaltung wird auf die geringe
damals in Messel – Knochenhechte, Schlammfische Wasserbewegung am und im sauerstofffreien Boden 11
und Alligatoren zusammen vorkommen. des Maarsees zurückgeführt. Warum die Häufigkeit
Groß ist die Zahl der gefundenen Insekten, der Funde so hoch ist, weiß man nicht. Vielleicht 12
allerdings handelt es sich bis auf wenige Wasser- waren Gasausbrüche oder auch toxische Blaualgen
insekten, z. B. Hydrophilidae, um terrestrische For-
men, u. a. Riesenameisen (Formicium, Spannweite
die Ursache für ein besonders rasches Sterben. Die
nachfolgende Einbettung muss in einem lebens-
13
bis 16 cm; . Abb. 2.71e). feindlichen Milieu am Seeboden erfolgt sein.
An Fischen sind der Schlammfisch Cyclurus und Auf besonderes Interesse stieß im Jahr 2009 die 14
der Knochenhecht Atractosteus zu erwähnen, die zu Beschreibung eines lemurenähnlichen Primaten-
den Holosteern zählen. Holosteer leben heute nur fossils aus Messel: Darwinius masillae. 15
noch in Mittel- und Nordamerika (Amia, Lepi- Etwa 60 % der Säugetiergattungen der Mes-
sosteus), von wo sie nach Europa eingewandert sind seler Formen sind übrigens auch aus dem Eozän
(. Abb. 2.71a). Unter den Teleostei sind Barschar- Nordamerikas bekannt, was nicht überraschend ist, 16
tige (Amphiperca) und der Aal (Anguilla) zu nennen, weil sich der nördliche Nordatlantik erst im Altter-
eine Gattung, die noch heute verbreitet existiert. tiär öffnete. An der Grenze zwischen Paleozän und 17
Eine weitere wichtige Faunenkomponente Eozän gab es über transatlantische Landbrücken
waren Krokodile: sieben Arten wurden bisher auf
relativ engem Raum nachgewiesen; so etwas gibt
noch einen umfangreichen Austausch zwischen
Nordamerika und Europa. Unerwartet waren da-
18
es heute nirgendwo auf der Erde. Mit 5 m Länge ist gegen die paläogeographischen Beziehungen zu
Asiatosuchus germanicus die längste Art. Südamerika. Man vermutet, dass die Ameisenbären 19
Auch Vögel sind mit einer großen Anzahl (über aus Afrika, wo sie jedoch bisher noch nicht nachge-
50 Arten aus 36 Ordnungen) vertreten. Relativ wiesen werden konnten, nach Europa gelangten. 20
194 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

  EXKURS 2.16  

Das eozäne Geiseltal – eine Fossillagerstätte von Weltgeltung


in Mitteldeutschland
Meinolf Hellmund (Halle [Saale])

Die Fossillagerstätte Geiseltal, ein in der Vergan- Kohlenflözen und Zwischenmitteln. Dies eröffnete
genheit wirtschaftlich bedeutendes Braunkoh- die seltene Möglichkeit, einzelne Taxa unter strato-
lenvorkommen in Mitteldeutschland, befindet phänetischen Aspekten, d. h. kontrolliert am Profil-
sich etwa 20 km Luftlinie südwestlich von Halle verlauf zu untersuchen und zu interpretieren.
(Saale). Die wirtschaftliche Erschöpfung dieses Aufgrund besonderer geochemischer Be-
Vorkommens war im Jahre 1993 endgültig erreicht dingungen kamen in bestimmten Flözbereichen
und damit endeten auch die Möglichkeiten, dort im Geiseltalrevier, insbesondere in den 1930er
paläontologische Grabungen durchzuführen. Die bis 1960er Jahren, ausgezeichnet erhaltene, z. T.
zurückgebliebene Bergbaufolgelandschaft wurde dreidimensional überlieferte Fossilien durch den
in den darauffolgenden Jahren in einen See um- Bergbau zu Tage. Dabei ist das Vorkommen von
gewandelt. artikulierten Wirbeltierskeletten und deren Bezah-
Die Ausdehnung der Lagerstätte betrug etwa nungen unmittelbar in der Braunkohle einmalig in
60 km2, die Mächtigkeit der Kohlenflöze zusammen Mitteleuropa.
mit den darin eingeschalteten, klastischen Zwi- Die außergewöhnliche Überlieferung beruhte
schenmitteln bisweilen bis zu 120 m. Von der ältes- auf der Zufuhr von kalkhaltigen Wässern aus dem
ten, fossilführenden Kohlebildung bis zur jüngsten Unteren Muschelkalk. Hierbei wurde die Zerstö-
verging ein Zeitraum von etwa 5–6 Mio. Jahren. In rung von potenziellen Tierleichen durch eine zu-
der Fossillagerstätte Messel (s. Abschn. 2.4.1) da- fällig stattgefundene, natürliche Pufferung bzw.
gegen umfassen die dortigen Sedimente lediglich Neutralisation aggressiver Stoffe wie beispielsweise
einen Zeitraum von etwa 1,5  Mio. Jahren. Diese von Huminsäuren in den Niedermooren während
bilden ein zeitliches Pendant zur sogenannten eines frühen Stadiums der Diagenese unterbun-
„Unterkohle“ im Geiseltal, während die „untere den. Auch die z. T. durch Silifizierung und Gerbung
Mittelkohle“ und die „obere Mittelkohle“ sowie die hervorgerufene strukturgetreue Überlieferung von
„Oberkohle“ des Geiseltales entsprechend jüngere Weichteilen hat die Geiseltalfossilien weltbekannt
Flöze repräsentieren. Die Flöze wurden im Geiseltal gemacht. Die Geiseltalsammlung ist unterdessen in
vor etwa 48–43 Mio. Jahren unter subtropischen die Liste „national wertvollen Kulturgutes“ aufge-
Klimabedingungen während des Mitteleozäns nommen worden, wodurch ihr wissenschaftlicher
und des basalen Obereozäns gebildet (s. EX- Stellenwert noch unterstrichen wird.
KURS 2.15, Abschn. 2.4.1). Die Bergung, Konservierung und durchlichtmi-
Die einzelnen Braunkohlenflöze mit den darin kroskopische Betrachtung derartig filigraner Struk-
eingeschalteten Klastika umfassen im Geiseltal turen wurde durch eine eigens hierfür entwickelte,
vier stratigraphisch unterschiedliche, terrestrische damals bahnbrechende Methode möglich, die so-
Mammal Paleogene Zones (MP 11–MP 14), dabei genannte Lackfilmmethode von E. Voigt. Entspre-
handelt es sich jeweils um lokale, d. h. räumlich chende Objekte ließen sich unabhängig von ihrer
begrenzte Säugerfaunen, die ein bestimmtes Evo- Größe nach Auftragen eines speziellen Nitrozellu-
lutionsniveau repräsentieren. Diese spielen eine loselacks („Geiseltallack“) und nach dessen Trock-
entscheidende und herausragende Rolle für bios- nung wie ein „Abziehbild“ vom Substrat abnehmen
tratigraphische Vergleiche sowie für Korrelationen und im Durchlicht analysieren.
mit anderen eozänen Fundlokalitäten. Die Faunenliste der Vertebraten aus dem Gei-
Die Besonderheit für das Geiseltal liegt also seltal umfasst zurzeit insgesamt 125 verschiedene
in der nahezu kontinuierlichen Superposition von Taxa, die sich folgendermaßen verteilen: Fische: 5,
7
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 195

 EXKURS 2.16 (Fortsetzung) 
Amphibien: 8, Reptilien: 24, Vögel: 13 und Säuge- Eine Besonderheit unter den pferdeartigen 1
tiere: 75. Einige charakteristische und besonders Säugetieren ist das nahezu vollständige Skelett
bemerkenswerte Faunenelemente werden hier von Propalaeotherium isselanum. Die Erhaltung ist 2
genannt. Die Knochenfische Anthracoperca, Palaeo- dreidimensional und es handelt sich aufgrund der
esox und Thaumaturus waren in stehenden Gewäs- Größe der Canini und der Beckenmorphologie um
ser in den obersten Profilbereichen sehr zahlreich, einen Hengst. Von diesem sehr bekannten Fossil
3
in den tieferen Teilen der oberen Mittelkohle waren ist erst kürzlich, mehr als 75 Jahre nach der Aus-
Schlammfische aus der Gattung Cyclurus häufige grabung in der oberen Mittelkohle, der bislang 4
Fossilien. verschollene Inhalt des Magen-Darm-Traktes ana-
Auch die Frosch- und Schwanzlurche stammen lysiert worden. Diese Analyse belegt die betont fo-
5
aus ehemaligen Seen des oberen Profilbereiches, livore Ernährungsweise dieser Urpferde, hier beste-
zahlreich sind Verwandte der Knoblauchkröte, z. B. hend aus Blättern von Heidekraut- und tropischen
Eopelobates. Andere Vertreter gehören zu den Was- Mistelgewächsen. 6
serfröschen, z. B. Palaeobatrachus. Die mit zu bis 2 m Körperlänge größten Säuge-
Schildkröten haben im Geiseltal unterschiedli- tiere stellten damals die tapirartigen Hyrachyus und 7
che ökologische Nischen besetzt; nachgewiesen Lophiodon, die mit ausgezeichnet dreidimensional
sind Geoemyda (Erdschildkröte), Chrysemys (Sumpf-
schildkröte), Geochelone (Landschildkröte), nur
erhaltenen Schädeln, Gebissen und teilweise arti-
kulierten Skeletten vertreten sind. In der Geiseltal-
8
sehr selten wurde die Wasserschildkröte Trionyx fauna sind diese großen Unpaarhufer vergleichs-
gefunden. weise zahlreich und in allen Flözen nachgewiesen. 9
Schlangen sind vergleichsweise häufige Fos- Die Urraubtiere (Creodonta) sind mit sieben un-
silien, oftmals sind es vollständige Exemplare, die terschiedlichen Arten vertreten. Ihre Brechschere 10
über zwei Meter Körperlänge erreichten. Die meis- bildete ein wirksames Instrument zum Zerbeißen
ten von ihnen gehören zu den Würgeschlangen von Knochen. Diese wird aus dem zweiten oberen
(Boidae). und dem dritten unteren Molaren gebildet. Von 11
Krokodile kommen in fast allen Fundstellen den „modernen“ Raubtieren (Carnivora) gibt es
vor. Sie ermöglichen Aussagen zu den Klimaver- nur einen Einzelnachweis, ähnlich selten sind die 12
hältnissen während der eozänen Kohlenbildung. raubtierähnlichen Urhuftiere (Condylarthra).
Die fünf bekannt gewordenen Gattungen sind Di-
plocynodon, Asiatosuchus, Pristichampsus, Allogna-
Funde von Kleinsäugern, wie Rodentia, Chirop-
tera und Insectivora sind insgesamt selten. Dies ist
13
thosuchus und Bergisuchus. Die Krokodile des Gei- insbesondere auf unvermeidbare aufsammlungs-
seltales zeichnen sich durch eine große Diversität technische Defizite im Zusammenhang mit Kohlen- 14
in der Gebissmorphologie, der Panzerung und des substrat zurückzuführen.
Körperbaues aus. Die Beuteltiere sind z. B. mit den kleinwüchsi- 15
Die Differenziertheit der Eidechsenverwandten gen Gattungen Amphiperatherium und Peratherium
deutet auf sehr spezielle Lebensräume innerhalb vertreten. Die eozänen Halbaffen, tarsierähnliche
des „Ökosystems Geiseltal“ hin. Es sind sowohl stark Microchoeridae und die lemurenähnlichen Adapi- 16
gepanzerte als auch weniger bewehrte, fußlose dae kommen mit mehreren Arten vor.
Schleichen, Leguane und Baumeidechsen darunter. Besonders bekannt geworden unter den 17
Die vergleichsweise kleinwüchsigen Säugetiere Wirbellosen sind neben den Schnecken und den
des Geiseltales repräsentieren Vertreter aus einer
frühen Phase der Entwicklung hin zu den moder-
Muscheln die farbig erhaltenen Flügeldecken
(Strukturfarben) von Prachtkäfern (Buprestidae)
18
nen Säugetierarten unserer Zeit. Unter den insge- (. Abb. 2.72).
samt 14 verschiedenen Arten von Paarhufern wird Als Besonderheiten unter den Gymnospermen 19
beispielhaft das nur etwa ferkelgroße Amphiraga- und Angiospermen des Geiseltales ist die Erhaltung
therium genannt. von Chlorophyllresten hervorzuheben. 20
7
196 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.16 (Fortsetzung) 
.. Abb. 2.72  Prachtkäfer (Psiloptera acroptera) aus
dem Eozän des Geiseltales. Durch Interferenz treten
die Strukturfarben des etwa 2 cm langen Käfers her-
vor. Archiv Geiseltalmuseum/Geiseltalsammlung

Obwohl sich der eozäne Maarsee von Messel Die sehr bekannten „Urpferde“ Eurohippus par-
und die eozänen Niedermoore und Urwalddickicht- vulus (älteres Synonym: Propalaeotherium parvu-
zonen des Geiseltales aus geologischer und paläo- lum) und Propalaeotherium hassiacum reihen sich
ökologischer Sicht deutlich voneinander unter- hier ebenfalls ein. Das seltene Taxon Eurotaman-
scheiden, weisen die Algenlaminite („Ölschiefer“) dua joresi ist sowohl aus Messel als auch aus dem
aus Messel und die Unterkohle im Geiseltal (jeweils Geiseltal bekannt geworden. Neuere Untersuchun-
MP 11, s. o.), z. T. identische Tierarten auf. gen haben gezeigt, dass es sich hier nicht, wie
Es sind bei den Fischen insbesondere Cyclurus lange Zeit angenommen, um einen Vertreter der
(Amia) kehreri, bei den Krokodilen z. B. Diplocy- Ameisenbären, sondern dass es sich eher um ein
nodon darwini und Asiatosuchus germanicus und Schuppentier handelt. Substanzielle Unterschiede
schließlich der Laufvogel Gastornis („Diatryma“). in den Faunenzusammensetzungen lassen sich auf
Von diesem beeindruckenden Faunenelement taphonomische, spezifisch ökologische und strati-
liegen aus den Braunkohlen des Geiseltales die graphische Verschiedenheiten zurückführen, es
vergleichsweise umfangreichsten und insgesamt kommen aber auch Überlieferungslücken in Be-
besterhaltenen osteologischen Belege für ganz tracht.
Europa vor.

Die Säugetiere entfalten sich der Verwandtschaft dieser beiden Gruppen nicht
Dem Verlust an Biodiversität an der Kreide-Tertiär- gezweifelt wird. Die Robben sind seit dem Oligo-
Grenze folgte eine rasche Evolution und Diversifi- zän nachgewiesen und gehen wohl auf eine Form
kation der Säugetiere, weswegen das Känozoikum zurück, aus der sich auch Bären entwickelt haben.
auch als das Zeitalter der Säugetiere bezeichnet wird. Seekühe waren auch im heutigen Mitteleuropa ver-
Heute sind über 4600 rezente Arten bekannt, breitet. Im Paläogen gab es noch eine Verbindung
mehr als 90 % davon sind Eutheria. Von diesen von Nordsee und Tethys, in der Seekühe eine be-
stellen wiederum die Nagetiere mit 46 % die ar- deutende Rolle spielten. Im Norden (im heutigen
tenreichste Gruppe, es folgen die Fledermäuse mit Westfalen) lebte im Oligozän die Bündener Seekuh
21 %. Die artenreichste Familie sind die Muridae, (Anomotherium langewieschei). Aus dem Süden
die über 10 % aller rezenten Säugetierarten stellen. beschrieb man die Mainzer Seekuh (Halitherium
In den Meeren entwickelten sich Wale schinzi), die recht häufig in Rheinhessen gefunden
(. Abb. 1.29), Robben und Seekühe. Die Wale er- wird. Seekühe lassen sich derzeit fossil bis ins Eo-
lebten im Eozän eine intensive Entwicklungsphase. zän zurückverfolgen. Ihre nächsten Verwandten
Ursprüngliche Formen weisen im Skelett Überein- sind die Rüsseltiere (Proboscidea), mit denen sie
stimmungen mit den Paarhufern auf, so dass an auch als Tethytheria zusammengefasst werden,
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 197

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.. Abb. 2.73 a–d  Ausgestorbene Säugetiere: a Indricotherium (Oligozän bis Miozän, China und Pakistan, Kopfhöhe 6–7 m; Län-
ge etwa 7 m), b Thylacosmilus (Beuteltier, Miozän bis Pliozän, Argentinien; Länge gut 1 m), c Deinotherium (Miozän bis Pliozän,
Afrika und Europa, Schulterhöhe etwa 4 m), d Macrauchenia (Pleistozän, Argentinien; etwa 3 m lang). Nach Palmer (1988) 15

weil sie wohl in Küstenzonen der Tethys ihren hatten sie in Afrika, von dort besiedelten sie Eu- 16
Ursprung hatten. Von den Rüsseltieren existieren ropa, Asien und Amerika. In Mitteleuropa waren
heute nur noch zwei Gattungen (Loxodonta in Af- z. B. Deinotheriidae (mit nach unten gebogenen 17
rika, Elephas in Südasien). Die ältesten Fossilien Stoßzähnen im Unterkiefer (. Abb. 2.73c), Gom-
kennt man aus dem Paleozän; ihre frühen Vertreter photheriidae (mit vier Stoßzähnen) und diverse
hatten die Größe von Schweinen (z. B. Moerithe- Elephantidae verbreitet. Zu letzteren gehört das 18
rium in Afrika). Später entstanden viele Riesen‑, Mammut, welches in einer kleinen Form bis vor
aber auch sekundär Zwergformen (1 m hoch, auf 4000 Jahren auf der Wrangel-Insel nördlich von 19
Mittelmeerinseln). Die Rüsseltiere machten drei Sibirien gelebt hat.
Radiationen durch, im Eozän, im Miozän und am Im Paläogen waren bis nashorngroße Pflan-
Übergang Miozän-Pliozän. Ihren Ausgangspunkt zenfresser wie Brontotherium, Brontops und Uin-
20
198 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

tatherium verbreitet. In dieser Zeit sahen sich die in Nordamerika besonders gut zu verfolgen. Hier gab
Ausgangsformen von Huf- und Raubtieren noch so es sie vom Eozän bis kurz nach dem Pleistozän. Erst
ähnlich, dass es bisweilen sogar zu Schwierigkeiten die europäischen Eroberer haben das altweltliche
bei der Einordnung kommt. So hat man Mesonyx Pferd später nach Nordamerika gebracht.
lange Zeit zu den Urraubtieren (Creodonta) gestellt, Mehrfach ist Europa durch Einwanderungswel-
ordnet sie jetzt aber den Urhuftieren (Condylarthra) len von Pferden nach dem Oligozän neu besiedelt
zu. worden, zu Beginn des Miozän durch Anchithe-
Die Vorfahren der heutigen Unpaarhufer und rium, dann durch Hippotherium und Hipparion,
Paarhufer waren im Paläogen noch kleine, etwa alles dreizehige Formen. Auch Asien und Süd-
fuchsgroße Tiere. Manche Huftiere wichen stark amerika wurden von Nordamerika aus besiedelt.
von heutigen Formen ab (. Abb. 2.73d). Equus und Hippidion überlebten in Südamerika
Die Unpaarhufer entwickelten dann viele For- (Patagonien) bis ins Holozän. Die jüngsten Funde
men, z. B. diverse Nashörner und das mit diesen sind 4000 Jahre alt.
verwandte größte Landsäugetier aller Zeiten, das Der Pferdestamm„baum“ präsentiert sich also
über 6 m Schulterhöhe messende und über 7 m lange heute eher als ein Busch mit mehreren Radiatio-
Indricotherium (Baluchitherium) (. Abb. 2.73a), nen, einer im Eozän der Alten Welt und weiteren
das vom Oligozän bis zum Miozän bekannt ist. Es im Miozän in Nordamerika (. Abb. 2.74). Jens
wurde ursprünglich nach Belutschistan ( engl. Balu- Lorenz Franzen (2006) stellt speziell die Pferde der
chistan; Iran, Pakistan) benannt. Diese gigantische Morgenröte (eozäne Radiation) in einem größeren
Form hatte einen 1,5 m langen Schädel, welcher Zusammenhang dar.
an einem 2,5 m langen Hals saß. Die Körpermasse Unter den Paarhufern existierten die Kamele
schätzt man auf 20 Tonnen. Indricotherium war schon im Alttertiär mit vielen Formen, insbesondere
Pflanzenfresser. in Nordamerika. Die übrigen Paarhufer erreichten
Sehr genau ist die Geschichte der Pferde bekannt, den Höhepunkt ihrer Entwicklung erst im Jungter-
und in der Tat ist der Pferdestammbaum das „Pa- tiär, die Rinderartigen sogar erst im Pleistozän.
radepferd“ der Evolutionsbiologie. Ausgangspunkt Auch Raubtiere haben im Tertiär viele unge-
sind kleine, etwa hasengroße Formen wie Hyraco- wöhnliche Formen hervorgebracht, z. B. die Sä-
therium. . Abb. 2.74 stellt die Evolution der Pferde belzahnkatzen mit ihren extrem langen oberen
so dar, wie sie heute gesehen wird: sehr viel kompli- Eckzähnen, die verschiedenen Familien angehö-
zierter als noch vor einigen Jahren. In etwa 50 Mio. ren. Ähnliche Formen gibt es auch unter den Beu-
Jahren sind die heutigen Pferde, hoch spezialisierte teltieren. Ihre ersten Vertreter kennt man aus dem
Lauftiere, aus kleinen Buschschlüpfern hervorgegan- Paleozän; gleiches gilt für Nagetiere und Hasenar-
gen. Der Beginn ihrer Evolution ist am reichhaltigs- tige. Mit zunehmender Kenntnis der Plattentekto-
ten in Europa dokumentiert, wo es allerdings im Oli- nik, der Morphologie und des Genoms entstehen
gozän (34–24 Mio. Jahre vor heute) keine Pferde gab. interessante neue Vorstellungen über die Ver-
In jüngerer Zeit ist die Evolution der Pferde dagegen wandtschaftsbeziehungen zwischen den einzelnen
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 199

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.. Abb. 2.74  Die Stammesgeschichte der Pferde präsentiert sich uns heute als ein sehr komplexes Geschehen mit einer
Radiation im Eozän Europas und weiteren im Miozän. Beachte die Lücke im Oligozän Europas und das Aussterben der Pferde im 19
nacheiszeitlichen Amerika. Nach Franzen (2006), MacFadden (2006)

20
200 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

  EXKURS 2.17  

Die jungtertiäre Tier- und Pflanzenwelt zur Zeit der Auffaltung


der Alpen: Öhningen, Höwenegg, Eppelsheim
Als die Alpen zu einem Gebirge aufstiegen, ent- Abtragungsschutt). Starke Schüttungen von Ge-
stand vor der Gebirgsfront ein Vorlandbecken, das steinsbruchstücken (klastischem Material) von
unmittelbar am Gebirgsrand am tiefsten war, und den aufsteigenden Alpen her drängten das Meer
in dem die Schichtenfolge der Molasse zur Abla- wiederholt aus dem Vorlandbecken hinaus. Daher
gerung kam (Molasse: aus dem Französischen; lassen sich innerhalb der Molasseabfolge marine

.. Abb. 2.75 a–d  Eppelsheim (Rheinhessen) und Miozän. a Luftbild der Ortschaft, b Hydrobienkalk, c Wildtränke, mit
den Augen eines Künstlers (Pavel Major) gesehen. Im Vordergrund Pferde (Hippotherium) und Hirsche (Euprox), im Wasser
ein Nashorn (Aceratherium); im Hintergrund das „Krallentier“ Chalicotherium und Rheinelefanten (Deinotherium). d Moro-
pus (Chalicotheriidae)
7
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 201

 EXKURS 2.17 (Fortsetzung) 
Serien (untere und obere Meeresmolasse) von den senfrosch (Latonia). Auch Andrias dürfte hier gelebt 1
unter festländischen Bedingungen abgelagerten haben. In der Uferzone existierte eine reiche Insek-
Süßwassermolassen unterscheiden. tenfauna. Auch über Lebensgemeinschaften aus der 2
Neben der Alpenfaltung war Vulkanismus ein Umgebung des Sees haben wir Kenntnisse, da viel
weiteres wichtiges landschaftsgestaltendes Ereig- Material eingeweht oder eingeschwemmt wurde.
nis am Rande des Molassebeckens. Vulkanische Ex- Weide (Salix) und Erle (Alnus) standen dort, Pappel
3
plosionstrichter ließen Seen entstehen, die später (Populus) und Ulme (Ulmus), aber auch Zimt- oder
verlandeten. Zwei wurden zu besonders bekannten Kampferbäume (Cinnamomum) und Seifenbäume 4
Fossilfundstätten: Öhningen und Höwenegg. (Sapindus) sowie Palmen.
Öhningen (im Hegau nordwestlich des Boden-
sees) wurde schon im 18.  Jahrhundert bekannt,
Das Höwenegg ist der nördlichste der Hegau-
vulkane am Südrand der Schwäbischen Alb. Vor
5
nachdem der Züricher Stadtarzt Johann Jakob etwa 11 Mio. Jahren entstand dort ein vulkanischer
Scheuchzer 1726 ein Fossil aus den dortigen Stein- Sprengtrichter von 1 km Durchmesser, der sich mit 6
brüchen beschrieben hatte (s. EXKURS  1.4 Ab- Wasser auffüllte. In seiner Umgebung entstand eine
schn. 1.2.2). Scheuchzer war von der Existenz der Vegetation mit Ahorn, Pappel, Ulme, Kastanie, Weide 7
Sintflut überzeugt und interpretierte das „men- und Kiefer. Während den Mitteleuropäern dieses bo-
schenähnliche“ Fossil als Überrest eines Sintflu- tanische Szenario aus der Jetztzeit geläufig ist, gilt
topfers: Homo diluvii testis. Später wurde dieses das nicht in Bezug auf die hier gefundenen großen
8
Fossil noch detaillierter im Sinne des Sintflutglau- Säugetiere: Sie erinnern eher an die Säugetierfauna
bens als alter Sünder interpretiert. Heute trägt es im heutigen Ostafrika. Waldantilopen (Miotragoce- 9
den Namen Andrias scheuchzeri (. Abb. 1.24c): Der rus), Nashörner (das hornlose Aceratherium), Pferde
„alte Sünder“ wurde als Riesensalamander erkannt,
dessen nächster Verwandter heute nur noch in eng
(die dreizehige Gattung Hippotherium) sowie Elefan-
ten (Deinotherium, Mastodon) und Säbelzahnkatzen
10
umschriebenen Gebieten Ostasiens vorkommt. (Sansanosmilus) kamen damals im Schwäbischen
Man hat aus den Öhninger Steinbrüchen etwa vor. In der Umgebung des Höwenegg müssen große 11
500 Pflanzen- und fast 900 Tierarten beschrieben. Bei Huftierherden geweidet haben.
letzteren überwiegen Insekten. Das Klima war dort Mit Abkühlen des Klimas zogen sich die Hö- 12
vor 13 Mio. Jahren ausgeglichen und relativ warm; wenegg-Säuger in wärmere Gefilde zurück und
die mittlere Jahrestemperatur lag etwa 7 °C über der starben spätestens im Verlauf der Vereisungen vor
heutigen, die Niederschläge von 1300–1500 mm wa- etwa 1 Mio. Jahren aus.
13
ren recht gleichmäßig über das Jahr verteilt. Eine umfassende Präsentation der genannten
Im See von Öhningen lebten zahlreiche Fisch- Fossilien findet sich im Naturkundemuseum am 14
arten, insbesondere Weißfische (Leuciscus), aber Friedrichsplatz 7, 76133 Karlsruhe.
auch Schleie (Tinca) und Hechte (Esox). Die Öhnin-
ger Zahnkarpfen (Prolebias) gehörten wohl zu den
Einen weiteren Einblick in die Welt des Mio-
zän offenbart uns Eppelsheim (nahe Mainz;
15
eierlegenden Zahnkarpfen, die heute in Südeuropa, . Abb. 2.75a). Hier fand man 1835 den ersten Schä-
Asien und Mittelamerika verbreitet sind. An Grundfi- del von Deinotherium (. Abb. 2.73c). Mittlerweile 16
schen kamen Steinbeißer (Cobitis), Gründlinge (Go- kennt man von dieser Fundstelle über 20 Säuge-
bius) und Groppen (Cottus) vor. Am Seeboden lebten tier-Arten (. Abb. 2.75c, d), z. B. Aceratherium und 17
Malermuscheln (Unio) und Süßwasserkrabben (Tele- Chalicotherium. Eppelsheim selbst fällt durch einen
phusa); an Pflanzen wuchsen dort Laichkräuter (Po- hier oft verwendeten Baustein auf, den Hydrobien-
tamogeton) und Brachsenkräuter (Isoetes). Die Ufer- kalk (. Abb. 2.75b), der ganz vorwiegend aus den
18
zone wurde von einem Schilf-Rohrkolben-Gürtel Gehäusen dieser kleinen Schnecken besteht und
eingenommen (Phragmites, Arundo und Typha). Hier der vor 16–21 Mio. Jahren entstand. Einige Funde 19
lebten auch Wasserschildkröten (Chelydropsis) und sind im Dinotherium-Museum, Rathaus, 55234
Kröten (Bufo), Unken (Bombinator) sowie der Rie- Eppelsheim, ausgestellt. 20
202 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

2.18  
  EXKURS 2.18 

Zeuge einer der größten Katastrophen unseres Planeten: das


Steinheimer Becken, in dem man die Evolution „beobachten“ kann
Vor 15 Mio. Jahren schlugen zwei Meteoriten mit liche Schwankungen gekennzeichnet. Die Durch-
einer Geschwindigkeit von 20–50 km/s im Gebiet schnittstemperatur lag über der heutigen.
der Schwäbischen Alb ein, ein größerer mit einem Eine der paläontologischen Besonderheiten
Durchmesser von vielleicht 1000 m und ein klei- des Steinheimer Beckens ist die sich langsam
nerer mit einem Durchmesser von etwa 100 m. Es verändernde Schneckenfauna. Unter den fast
entstanden Krater von 25 bzw. 3,5 km Durchmesser, 100 beschriebenen Arten von Land- und Süßwas-
noch heute als Nördlinger Ries und Steinheimer Be- serschnecken dominiert die Tellerschnecke Gyrau-
cken erkennbar. Von den Meteoriten selbst blieb lus. In den etwa 40 m mächtigen Seeablagerungen
nichts Nachweisbares übrig, aber sie hinterließen zeigt sie ganz bestimmte Veränderungen ihres
zwei Hochdruckmodifikationen des Quarzes, Coesit Gehäuses, die schon 1866 – 7  Jahre nach dem
und Stishovit, die als Beweise für die meteoritische Erscheinen von Darwins epochalem Werk – von
Entstehung von Kratern gelten. dem Tübinger Franz Hilgendorf (1839 bis 1904)
In beiden Kratern entstanden abflusslose Seen, beschrieben wurden. Das war der erste kon-
und der See im Steinheimer Becken hinterließ eine krete Nachweis einer Entwicklungsreihe fossiler
artenreiche Lebensgemeinschaft in fossilisierter Lebewesen! Auch bei Muschelkrebsen (Ostracoda)
Form, die uns einen detaillierten Einblick in die wurden solche Veränderungen gefunden.
Organismenwelt des Miozäns erlaubt. Steinheim Die Fischfauna des Sees vom Steinheimer Be-
am Albuch (nicht mit Steinheim bei Ludwigsburg cken ähnelte schon der heutigen mitteleuropäi-
zu verwechseln, wo der „Steinheimer Mensch“ ge- schen: man fand z. B. Barbe (Barbus) und Schleie
funden wurde, s. Abschn. 5.6.4) beherbergt im Me- (Tinca). Besonders groß ist die Zahl der Vögel: über
teoritenkrater ein Meteorkratermuseum, wo die 50 Arten wurden bisher identifiziert. Neben vielen,
wichtigsten Funde aus den 30–40 m dicken Seese- die noch heute hier vorkommen, gab es in dieser
dimenten dargestellt werden. Zeit auch Papageien.
Die hohe Artenzahl der Fossilien des Steinhei- Ähnlich artenreich sind die Säugetiere. Weit
mer Beckens hängt damit zusammen, dass hier verbreitet waren Pfeifhasen, die heute v. a. in Step-
Organismen ganz unterschiedlicher Lebensräume pen Zentralasiens leben. Unter den Paarhufern
zusammenkamen: aus dem See, seiner bewalde- dominieren die Hirschverwandten, z. B. der fast
ten Uferzone und von der Hochfläche der Alb, elchgroße Palaeomeryx. Unter den Unpaarhufern
die von einem lockeren Wald bestanden wurde. sind verschiedene Nashörner zu nennen. Raubtiere
In der Uferzone gab es z. B. Erle (Alnus), Gledit- waren durch 15 Arten vertreten, wobei das marder-
schie (Gleditsia) und Seifenbaum (Sapindus), auf artige Rochotherium besonders häufig war. Größ-
der Hochfläche Eiche (Quercus), Scheinakazie (Ro- ter Carnivore war der etwa löwengroße Bärenhund
binia), Zürgelbaum (Celtis) und Walnuss (Juglans). Amphicyon. Aus der Gruppe der Rüsseltiere gab es
Das Klima war offenbar durch größere jahreszeit- die Gattung Gomphotherium.
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 203

Säugetierordnungen (s. Abschn. 4.2.2). So wurde zän, die Zeit nach der letzten Vereisung, die Jetzt-
z. B. die Einrichtung einer Überordnung Afrothe- zeit. Die Abtrennung des Holozäns vom Pleistozän 1
ria vorgeschlagen, der die Ordnungen Proboscidea ist historisch bedingt. Es handelt sich um die Warm-
(Elefanten), Sirenia (Seekühe), Hyracoidea (Klipp- zeit nach der Würm- (Alpenvorland) bzw. Weichse- 2
schliefer), Tubulidentata (Erdferkel), Macroscelidea leiszeit (Mitteleuropa). Das Holozän begann vor ca.
(Elefantenspitzmäuse) und Afrosoricida (Goldmulle 11.700 Jahren. Auch im Holozän gab es durchaus
und Tanreks) angehören. Alle diese Tiergruppen Temperaturoszillationen; bemerkenswert sind die 3
wären demnach in Afrika entstanden und zwar zu Kälteeinbrüche vom 13. bis 19. Jahrhundert n. Chr.
einer Zeit, als Afrika noch von den anderen Kon- („Kleine Eiszeit“). 4
tinenten isoliert war (Ende der Kreide, Beginn des Die Tertiär-Quartär(Plio‑/Pleistozän‑)-Grenze
Tertiär). DNA- und Proteinsequenzdaten stimmen ist nach jahrzehntelanger Diskussion seit dem Jahr
bei diesen Säugetiergruppen in einem erkennbaren 2009 international verbindlich und einvernehmlich
5
Ausmaß überein, was eine nähere Verwandtschaft auf 2,58 Mio. Jahre vor heute festgelegt. Zu dieser
möglich erscheinen lässt (. Abb. 4.34). Zeit setzte eine signifikante globale Abkühlung der 6
Die Vögel brachten nahe der Kreide-Tertiär- Atmosphäre ein, die sich sowohl auf den Kontinen-
Grenze zahlreiche sehr große, flugunfähige For- ten als auch in den Ozeanen auswirkte. 7
men hervor, z. B. den schon erwähnten Riesenvogel Die zeitliche Großgliederung des Quartärs
Gastornis (. Abb. 4.35b). unterscheidet Früh‑, Mittel- und Spätpleistozän
sowie Holozän. Die Grenze zwischen Früh- und 8
Mittelpleistozän ist durch eine Umpolung des Erd-
2.4.2 Quartär magnetfeldes (Matuyama/Brunhes-Grenze) vor 9
ca. 780.000 Jahren definiert. Die Grenze zwischen
|
Übersicht              | Mittel- und Jungpleistozän wird durch den Beginn
10
der letzten Warmzeit, dem Eem-Interglazial, vor
Das Quartär umfasst die letzten 2,6 Mio. Jahre etwa 128.000 festgelegt. Das Holozän, die Nach-
der Erdgeschichte und wird in Pleistozän und eiszeit, begann, wie erwähnt, vor ca. 11.700 Jahren 11
Holozän unterteilt. Auf das Pleistozän fällt der (. Abb. 2.76, 2.77). Die Datierung quartärer konti-
bei weitem größere Anteil des Quartärs. Es ist
durch mehrere Kaltzeiten gekennzeichnet,
nentaler Ablagerungen ist mit vielen Problemen be- 12
haftet, weil diese Ablagerungen große zeitliche und
deren Auswirkungen vor allem die nördlichen räumliche Lücken aufweisen. Tiefseesedimente, die
Bereiche Nordamerikas, Europas und Asiens langsam und kontinuierlich abgelagert werden, sind 13
betrafen. Seit etwa 500.000 Jahren entwickel- im Allgemeinen weniger problematisch. In diesen
ten sich vor allem in Europa und Nordamerika Meeresablagerungen sind es insbesondere die Sau- 14
periodische Inlandgletscher. Das Holozän erstoffisotopen-Signatur und die paläomagnetische
umfasst den ca. 11.700 Jahre langen Zeitraum Polarität, die in stratigraphischer Hinsicht gut ver-
nach dem Ende der letzten Eiszeit und ist durch wertbar sind (Sauerstoffisotopen-Stratigraphie und
15
das zunehmende Eingreifen des modernen Magneto-Stratigraphie). Diese stratigraphischen
Menschen in die Biosphäre gekennzeichnet: Mit Methoden liefern, wie die Biostratigraphie, relative 16
der Industrialisierung und dem starken Bevöl- Altersangaben, jedoch nicht zahlenmäßige Alters-
kerungswachstums von Homo sapiens beginnt
der auch Anthropozän genannte allerjüngste
angaben in Jahren. Hierfür lassen sich physikalische 17
Methoden einsetzen, die vor allem auf der Bestim-
Abschnitt der Erdgeschichte. mung der natürlichen Radioaktivität beruhen.
Klimaveränderungen spiegeln sich deutlich 18
auch in Änderungen überlieferter Floren- und Fau-
Die Erdperiode, die dem Pliozän folgte und in der nenelemente wider. Die kalten Zeitabschnitte des 19
wir heute leben, ist das Quartär. Dieses wird unter- Frühpleistozäns werden zumeist Kaltzeiten genannt,
teilt in das Pleistozän (das eigentliche Eiszeitalter, während die Kaltphasen von Mittel- und Jungpleis-
früher Diluvium (Sintflut) genannt) und das Holo- tozän Glaziale heißen, da sie mit umfangreichen
20
204 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

Gletscherbildungen und Verschiebungen von Stein- wurden nachgewiesen. Neben verschiedenen Pfer-
geröll (Geschiebe) verbunden waren. Zwischen den den und dem Hundsheim-Nashorn (Stephanorhinus
Kälteperioden lagen Warmzeiten, Interglaziale ge- hundsheimensis) traten Cerviden unterschiedlicher
nannt. Kürzere und zumeist gemäßigter ausgeprägte Körpermaße auf. Neben der Großform Eucladoceros
Zwischenwarmzeiten innerhalb der Kälteperioden giulii und dem damhirschgroßen Cervus nestii gab
werden als Interstadiale bezeichnet. es Elche (Alces carnutorum) sowie eine frühe Reh-
Die ersten zwei großen Hauptabschnitte des form mit abgeplatteten Geweihstangen (Capreolus
Frühpleistozäns sind Prätegelen und Tegelen cusanoides). Typisch ist außerdem der hochbeinige
(. Abb. 2.76), Bezeichnungen, die sich auf Tonab- Waldbison (Bison menneri). Riesige Flusspferde
lagerungen bei dem Ort Tegelen in den südlichen (Hippopotamus antiquus) deuten milde Winter und
Niederlanden beziehen. Um 1,8  Mio. Jahre vor ganzjährig offene Wasserflächen an.
heute, gegen Ende des paläomagnetischen Oldu- Das Mittelpleistozän begann vor ca. 780.000 Jah-
vai-Subchrons, trat die Wühlmausgattung Microtus ren und endete mit dem Saale-Komplex (. Abb. 2.77).
aus Asien kommend erstmals in Europa auf. Diese Im Laufe des Mittelpleistozäns begann der klassische
Tiere waren durch beständig wachsende Molaren Zyklus von Glazialen und Interglazialen, der in der
gekennzeichnet. In der Florenentwicklung, die Größenordnung von jeweils etwa 100.000  Jahren
durch kombinierte Pollenprofile erschlossen ist, lag. Die Interglaziale waren vergleichsweise kurz.
zeichnen sich in Prätegelen und Tegelen mehrere Durch Tiefseebohrungen konnte ein sehr genaues
kühlere und wärmere Phasen ab, die als Eburon Bild dieser Zyklen aus dem Verhältnis der Sauerstof-
(überwiegend kalt), Waal (zwei Warmzeiten und fisotope gewonnen werden. Danach kamen in den
ein dazwischenliegender kalter Abschnitt), Me- letzten 780.000 Jahren wahrscheinlich zehn Zyklen
nap (überwiegend kalt) und Bavel (eher warm) mit Warm- und Kaltzeiten vor. Diese Zahl besagt,
beschrieben wurden (. Abb. 2.77). In der Fauna dass die klassische Gliederung mit den drei nordi-
schlagen sich die jeweils etwa 41.000 Jahre dauern- schen Vereisungen (Elster-Saale-Weichsel) und den
den Klimaoszillationen durch wechselnde Anteile vier alpinen Vereisungen (Günz-Mindel-Riß-Würm)
von Wald- oder Offenlandarten nieder. Als ökologi- auf jeden Fall unvollständig ist. Hinzu kommt, dass
sche Generalisten sind aus zahlreichen Fundstellen die drei nordischen Vereisungen in Mittel- und Spät-
Südelefant (Mammuthus meridionalis) und Hunds- pleistozän liegen. Die Günz- und Mindel-Ablagerun-
heim-Nashorn (Stephanorhinus hundsheimensis) gen, wenn sie überhaupt Gletschervorstöße belegen,
nachgewiesen. Unter den Hirschen fällt Euclado- gehören dagegen noch in das Frühpleistozän.
ceros wegen seines großen, kammartigen Geweihs Im frühen Mittelpleistozän traten in Mitteleu-
auf. Daneben lässt sich aber auch der viel kleinere ropa die ersten Tiere auf, die heute auf den nor-
Damhirsch (Dama rhenena) nachweisen. Die aus dischen Lebensraum beschränkt sind, wie Ren-
Werra-Sanden bei Untermaßfeld in Südthüringen tier (Rangifer tarandus) und der Moschusochse
geborgene Warmzeitfauna der Bavel-Phase (Früh- (Ovibos moschatus). Bei den Elefanten löste der
pleistozän, . Abb. 2.77) zeigt den eigenständigen Steppenelefant (Mammuthus trogontherii) in den
Charakter der Tierwelt vor 1,2–0,9  Mio. Jahren kühleren Phasen den Südelefanten (Mammuthus
sehr deutlich an. Neben Makaken (Macaca sylva- meridionalis) ab. Stammesgeschichtlich hat sich
nus), Wölfen (Canis mosbachensis) und Wildhun- der Steppenelefant sicher aus frühen Formen des
den (Xenocyon lycaonoides) gab es die frühesten Südelefanten entwickelt. Älteste Nachweise des
Vertreter der Höhlenbärenlinie (Ursus dolinensis), Steppenelefanten sind aus 1,66  Mio. Jahre alten
Hyänen (Pachycrocuta brevirostris), Säbelzahnkat- Sedimenten Chinas bekannt. Die gesamte Verän-
zen (Homotherium crenatidens, Megantereon cult- derung der Säugetierfauna des Pleistozäns ist in
ridens) und den hier erstmals außerhalb Amerikas Mitteleuropa in erster Linie durch klimatisch be-
nachgewiesenen Eurasischen Puma (Puma pardoi- dingte Arealverschiebungen bestimmt. Während
des). Er wurde in der Alten Welt später durch den kontinental geprägter bzw. kaltklimatischer Zeit-
Leoparden ersetzt. Auch große Geparde (Acinonyx spannen zogen sich die Warmformen in unter-
pardinensis) und Eurasische Jaguare (Panthera onca) schiedliche Refugialräume z. T. außerhalb Europas
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 205

.. Abb. 2.76  Schematische Dar-


stellung des Ablaufs wesentlicher
Teile des Frühpleistozäns in Europa. Im
1
Prätegelen herrschte ein eher kühles,
im Tegelen ein eher warmes Klima 2
vor. Die mittlere Juli-Temperaturkurve
(rot-blau) zeigt aber, dass auch in den
größeren Zeitabschnitten deutliche Kli- 3
maschwankungen vorkamen. Folgende
Tiere sind dargestellt: Prätegelen: Equ-
us stenonis (Pferd), Alces gallicus (Elch), 4
Cervus philisi (Hirsch) und Praedama
sp. (Großhirsch). Tegelen: Anancus
arvernensis (Elephantidae), Tapirus 5
arvernensis (Tapir) und Trogontherium
cuvieri (Biber). Eburon: Allophaiomys sp.
(Wühlmaus), Cervus philisi, Mammuthus 6
meridionalis (Südelefant), Hypolagus
brachygnathus (Hase), Equus stenonis,
Dicrostonyx sp. (Lemming), Ursus
7
sp. (Bär), Lynx issiodorensis (Luchs).
Waal: Mammuthus meridionalis, Equus
stenonis, Stephanorhinus hundshei-
8
mensis (Nashorn), Ursus sp., Anancus
arvernensis 9
10
11
zurück. Asiatische Kontinentalregionen wurden zu Eine besonders wichtige warmzeitliche Einwan- 12
Entwicklungs- und Ausbreitungszentren für Ar- derungsphase, die im Bereich der Interglaziale II
ten, die an Trockenheit und niedrige Jahresdurch- und III der Cromer-Zeit lag, ist durch das Auftreten
schnittstemperaturen angepasst waren. Mit den des Waldelefanten (Elephas antiquus) gekennzeich- 13
Klimadepressionen des Mittelpleistozäns (Elster, net. Er hat den Südelefanten in waldreichen Regio-
. Abb. 2.77) entstanden eurasische Mammutfau- nen ersetzt und wird in allen kommenden Warm- 14
nen (Mammuthus-Coelodonta-Faunenkomplex). zeiten mit Ausnahme des Holozäns in Mitteleuropa
Sie rekrutierten sich vor allem aus zentralasiatischen erscheinen. Der Waldelefant mag im Mittelmeer-
Steppenelementen (z. B. Coelodonta, Saiga) sowie gebiet bereits früher vorgekommen sein, aber sein
15
aus Bewohnern arktischer Tundren (z. B. Ovibos erstes Auftreten nördlich der Alpen ist in Mauer bei
und Rangifer). Die Ausformung der so genannten Heidelberg belegt. Diese Warmzeit hatte ein so mil- 16
Mammutsteppe ermöglichte es Arten aus beiden des Klima, dass auch das Flusspferd seinen Lebens-
Lebensräumen, beträchtliche Arealgewinne zu er- raum wieder nach Mitteleuropa ausdehnen konnte. 17
zielen, die sich während der Glaziale bis an die Pyre- Für die Biostratigraphie ist zwar das Erscheinen
näen und sogar auf die Iberische Halbinsel erstreck- der Schermaus (Arvicola) von großer Bedeutung,
ten. Im Zuge der Wiederbewaldungen während der aber für das Verständnis der Geschichte ist weit 18
Interglaziale des späten Mittel- und Spätpleistozäns bedeutender, dass in dieser Warmzeit der Mensch
zogen sich die Offenlandarten der Mammutfaunen das erste Mal in Mitteleuropa als Sammler und Jä- 19
wieder in ihre jeweiligen Herkunftsräume zurück ger vorgekommen ist. Er ist durch den berühmten,
und überlebten dort. auf etwa 600.000 Jahre datierten Unterkiefer von
Mauer (Homo heidelbergensis) belegt. Gegenständ-
20
206 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

liche Hinterlassenschaften dieses Menschen sind sen herrschten für über 2000  Jahre Eiben, Hasel
aus dem Rheingebiet von Miesenheim und Kärlich und Fichten vor, in weiteren Phasen kamen neben
zusammen mit Steinwerkzeugen bekannt geworden. Kiefern und Erlen Eichen und Tannen vor.
Die in Mauer belegte Warmzeit gehört in eine der Die folgende Eiszeit wird als Saale-Eiszeit (im
jüngeren warmen Phasen der Cromer-Zeit. Alpenraum auch als Riß-Eiszeit) bezeichnet und
Nach der Warmzeit von Mauer beginnt der ist ein über mehrere 100.000  Jahre andauernder
Zyklus der großen Vereisungen. Während des Komplex mehrerer Kalt- und Warmphasen. Das
Hochstandes der ersten nordischen Inlandverei- skandinavische Gletschereis erreichte die Regionen
sung, dem Elster-Glazial (. Abb. 2.77), drangen Sachsen, Ostthüringen sowie Dortmund, Düssel-
die Gletscher bis nach Leipzig vor und erreichten dorf, Kleve und die Niederlande. Das Rote Kliff auf
den Nordrand des Harzes. Zu Beginn des Glazials Sylt entspricht einer saalezeitlichen Moräne. Die
ist das eine frühe Fellnashornform (Coelodonta Alpengletscher erreichten den heutigen Stadtrand
tologoijensis) als typisch kaltzeitlich-kontinentales von München. Zwischen den Eisrändern breitete
Faunenelement nachzuweisen, aber über die Zeit sich weitgehend baumlose Tundrensteppe aus mit
des Höchststandes der Gletscher gibt es keine In- Mammut (Mammuthus primigenius), Fellnashör-
formationen zur Vegetation oder Fauna. Es ist al- nern, Löwen, Riesenhirschen sowie Steppenbisons.
lerdings anzunehmen, dass in dieser Zeit wie auch Das Spätpleistozän beginnt mit der Eem-
während der Maxima späterer Glaziale die Cha- Warmzeit, die wohl nur gut 10.000 Jahre dauerte
raktertiere der Mammutfaunen vorkamen. Der und im Alpenraum auch Riß-Würm-Warmzeit
Mensch dürfte in den kältesten Phasen aus Mittel- heißt. Nordsee- und Ostseebecken waren mit
europa verschwunden sein, so dass sein Vorkom- Meerwasser gefüllt, so dass Skandinavien und
men in der nächsten Warmzeit (Holstein), etwa in Mitteleuropa getrennt waren. Wärmeliebende
Bilzingsleben, ebenso wie das der warmzeitlichen Meeresmollusken drängten über den Ärmelkanal
Fauna und Flora als Neueinwanderung verstanden nach Norden. Typisch ist die Abfolge a) Birken und
werden muss. Kiefern (frühe Eem-Zeit), b) Eichenmischwälder
Die Säugetierfauna der Holstein-Warmzeit, die mit Ulmen, Haselnuss, Linden, Eiben und Hain-
insgesamt ca. 16.000–17.000 Jahre dauerte, ist ge- buchen und schließlich c) Fichten und Kiefern am
genüber der des frühen Mittelpleistozäns deutlich Ende der Eem-Zeit. Es wanderten wieder wärme-
verändert. Der großwüchsige Hirsch Praemegaceros liebende Tiere nach Mitteleuropa ein, darunter
verticornis fehlt; das Hundsheim-Nashorn ist durch Flusspferde, Waldelefanten, Waldnashörner, Rie-
eine Waldform (Stephanorhinus kirchbergensis) er- senhirsche, Damhirsche und die Wimpernspitz-
setzt. In der Kleinsäugerfauna sind auch einige maus.
Insektenfresser (Talpa minor und Drepanosorex Die bisher letzte Eiszeit war die Weichsel-Eiszeit
savini) ausgeblieben. Das Elster-Glazial mit seiner (im Alpenraum Würm-Eiszeit genannt), die vor ca.
starken Gletscherausbreitung hat offensichtlich zu 115.000 Jahren begann und vor ca. 11.700 Jahren
einem erheblichen Faunenwandel geführt. In das endete. Auch diese Eiszeit ist durch unterschiedli-
Holstein-Interglazial gehören auch die Funde von che Klimaphasen gekennzeichnet. Immer wieder
Bilzingsleben (Thüringen). An größeren Säugetie- kam es zu gemäßigten Klimaperioden mit Waldbil-
ren kamen u. a. Waldnashorn, Wisent, Wildschwein, dungen. Hocheiszeitliche Kaltzustände traten vor
Reh und Makak vor. etwa 22.000–18.000 Jahren auf. In gletscherfreien
Aus der Holstein-Zeit ist die Abfolge der Ve- Gebieten war zumeist eine Tundrensteppe ausge-
getation aus Pollenanalysen gut bekannt. Es lassen bildet. Schon wenige tausend Jahre danach kam es
sich ca. 15 Vegetationsphasen unterscheiden, die wieder zur Erwärmung. Die skandinavischen Glet-
belegen, dass auch in einer Warmzeit deutliche scher drangen nur noch bis Schleswig-Holstein,
Klimaschwankungen vorkamen. Zu Beginn kamen Mecklenburg, Brandenburg, Westpreußen und das
z. B. Zwergbirken und Wacholder vor, es folgten Bir- südliche Ostpreußen vor. Durch die Absenkung des
ken, dann traten Kiefern auf, denen sich nach ca. Meeresspiegels um bis zu 130 m waren die Flächen
1000 Jahren Ulmen anschlossen; in späteren Pha- der heutigen Nordsee und des Ärmelkanals sowie
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 207

.. Abb. 2.77  Schematische Darstel-


lung des Ablaufs von spätem Früh- 1
pleistozän bis Holozän. Folgende Tiere
sind dargestellt: Menap: Mammuthus
meridionalis, Ursus sp., Stephanorhinus 2
hundsheimensis, Cervus philisi, Equus
stenonis, Alces sp., Hypolagus brachygna-
thus. Bavel: Acinonyx pardinensis, Cervus 3
nestii, Eucladoceros giulii, Homotherium
crenatidens, Pachycrocuta brevirostris,
Megantereon cultridens, Hippopotamus 4
antiquus. Cromer: Praedama sp., Capreo-
lus suessenbornensis (Reh), Homotherium
crenatidens, Elephas antiquus (Wal- 5
delefant), Panthera leo (Löwe), Cervus
reichenaui (Hirsch), Crocuta praespelaea
(Hyäne). Elster: Ovibos moschatus
6
(Moschusochse), Praeovibos priscus,
Rangifer tarandus (Rentier), Mammuthus
trogontherii (Steppenelefant), Coelodon-
7
ta tologoijensis (Fellnashorn). Holstein:
Bubalus murrensis (Wasserbüffel), Bison
schoetensacki (Wisent), Sus scrofa (Wild-
8
schwein), Equus steinheimensis (Pferd),
Macaca sylvanus (Makak), Homotherium 9
crenatidens, Stephanorhinus kirchbergen-
sis (Waldnashorn). Saale: Mammuthus
trogontherii, Cervus elaphus, Ursus 10
spelaeus (Höhlenbär), Mammuthus primi-
genius, Equus steinheimensis, Panthera leo
(Löwe), Coelodonta antiquitatis (Fellnas- 11
horn). Eem: Elephas antiquus, Hippopo-
tamus antiquus (Flusspferd), Panthera
pardus (Leopard), Crocidura (Wimpern- 12
spitzmaus), Megaloceros giganteus
(Riesenhirsch). Weichsel: Mammuthus
primigenius, Coelodonta antiquitatis, 13
Ursus spelaeus, Rangifer tarandus, Canis
lupus (Wolf ). Holozän: Bison bonasus
(Wisent), Alces alces, Ursus arctos (Braun-
14
bär), Canis lupus, Capreolus capreolus
(Reh), Bos primigenius (Auerochse)
15

der Britischen Inseln Bestandteil des europäischen Höhlenhyänen, Höhlenlöwen, Elche, Riesenhirsche, 16
Festlandes. Rhein, Themse und Seine flossen zusam- Vielfraß und andere Säuger verbreitet vorhanden.
men und mündeten als mächtiger Fluss nördlich der Gämsen kamen bis in den Harz und das Wiehenge- 17
heutigen Bretagne in den Atlantischen Ozean. Die birge vor. In dieser Periode lebte auch der Neander-
Alpengletscher erreichten eine Linie Bodensee- taler, von dem in Deutschland 1856 im Neandertal
Salzburg. Die Alpentälern füllten Gletscher bis zu (s. Abschn. 5.6.4) erste Funde gemacht wurden. Ty- 18
1500 m Mächtigkeit. Wie in früheren Eiszeiten wa- pische Pflanzen des Hochglazials waren Silberwurz
ren auch Schwarzwald und Vogesen vereist. Diese (Dryas octopetala), Zwergbirken, Zwergweiden 19
Eiszeit wird oft in drei Perioden gegliedert: Früh‑, und Heidekräuter. In dieser Zeit traten u. a. Saiga-
Hoch- und Spätglazial. In der ersten Phase waren Antilopen und Rentiere auf, letztere waren auch für
Wölfe, Biber, Braun- und Höhlenbären, Mammuts, das Spätglazial typisch, ebenso wie Wildpferde. An
20
208 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

zahlreichen Stellen Deutschlands sind noch heute Meeresspiegel lag zeitweise 130 m unter dem heu-
Pflanzen aus der ausgehenden letzten Eiszeit zu tigen. Mit dem nacheiszeitlichen Meeresspiegelan-
finden. Typische Spätglazialarten sind Betula nana, stieg füllte die Nordsee wieder ihr altes Bett. Vor
Dryas octopetala und Hippophae rhamnoides. 10.000  Jahren wurde die Doggerbank als große
Holozän. Das Holozän, die Jetztzeit, begann vor Insel abgetrennt, und vor 9000 Jahren wurde auch
ca. 11.700 Jahren und ist in Deutschland durch ge- die Festlandsverbindung nach England unterbro-
mäßigtes und feuchteres Klima gekennzeichnet. In chen. Diese wechselvolle Geschichte der Nordsee
den deutschen Alpen gibt es heute nur noch einige spiegelt sich in spektakulären Fossilfunden terres-
Gletscherreste, so im Watzmanngebiet und im Zug- trischer Großsäugetiere wider. Hunderttausende
spitzmassiv. von Stücken wurden vor allem von Fischern, die
Die ursprünglich überall verbreiteten Wälder mit Schleppnetzen arbeiten, vom Nordseegrund
sind erst seit ca. 1000 Jahren durch den modernen heraufbefördert. Fast alle bekannten eiszeitlichen
Menschen zunehmend gerodet und durch Kultur- großen Landsäuger hat man hier gefunden, Mam-
land ersetzt worden. Kälteliebende Tiere der offe- mut, Höhlenbär, Wollnashorn, Moschusochsen –
nen Landschaften wurden von gemäßigt wärmelie- und sogar die Säbelzahnkatze Homotherium, von
benden Arten abgelöst. Kennzeichnend sind z. B. vor 28.000 Jahren.
Braunbär, Luchs, Wildschwein, Elch, Reh, Rothirsch Das Schicksal der Erde wird in den letzten bei-
und Auerochse. Viele dieser Tiere verschwanden in den Jahrhunderten im globalen Maßstab zuneh-
Deutschland. Der Auerochse wurde sogar völlig mend vom Menschen beeinflusst. Es wurde daher
ausgerottet, das letzte Exemplar wurde 1627 süd- für diesen Zeitabschnitt der Begriff Anthropozän
lich von Warschau getötet. Der Steppenwisent starb geschaffen, das mit dem Beginn der Industrialisie-
aus, der kleinere Waldwisent überlebt bis heute in rung einsetzte. Treibhausgase, Zerstörung riesiger
geschützten Reliktarealen Osteuropas und des ökologischer Systeme und Gefährdung der Grund-
Kaukasus. Im Gebiet der Ostsee entstand zunächst lagen allen höheren Lebens auf der Erde kennzeich-
ein Eisstausee, der sich dann eine Verbindung zur nen dieses neue Zeitalter.
Nordsee schuf. Vor knapp 10.000  Jahren enthielt
die Ostsee schon eine marine Fauna (Yoldia-Meer, Lebende Fossilien
nach der verbreitet vorkommenden Muschel Yol- Als lebende Fossilien bezeichnet man Taxa, die in
dia [Portlandia]). Vor 8000 Jahren war sie infolge sehr ähnlicher Form schon in weit zurückliegenden
Hebung des Meeresbodens ein Binnensee (Ancylus- Erdzeitaltern existierten. Man kennt sie unter Pflan-
See). Vor 7000 Jahren erhielt sie wieder Anschluss zen (s. Abschn. 3.5) und Tieren, und die ältesten von
ans Meer (Littorina-Meer). Seither verengten sich ihnen haben ihre äußere Gestalt seit über 500 Mio.
die Verbindungen zum Kattegat und Skagerrak und Jahren kaum verändert.
der Salzgehalt nahm stetig ab. Die Phase des Lit- Unter den Tieren stellen die Priapuliden die äl-
torina-Meeres, die bis heute andauert, wird weiter testen lebenden Fossilien. Ottoia aus dem Burgess
untergliedert in eine Reihe von Unterstadien: Mas- Shale (Mittel-Kambrium) stimmt bis in Einzelheiten
togloia-Meer (niedriger Salzgehalt), Littorina-Meer der inneren Anatomie mit der rezenten Gattung Ha-
im engeren Sinne (hoher Salzgehalt), Lymnaea- licryptus überein (. Abb. 2.6). Ottoia prolifica weist
Meer (zunehmende Verbrackung) und Mya-Meer sogar eine besondere Ähnlichkeit mit der an der
(nach der erst im 16. Jahrhundert eingewanderten Küste Alaskas entdeckten Art Halicryptus higginsi
Sandklaffmuschel Mya arenaria). auf. Etwas jüngeren Datums ist die Gattung Priapu-
Während der Eiszeiten war die Nordsee zum lites aus der karbonischen Mazon-Creek-Formation
größten Teil trocken gefallen. Zwischen dem (heu- in den USA, die den rezenten Gattungen Priapulus
tigen) Großbritannien und Kontinentaleuropa be- (. Abb. 2.78a,b) und Priapulopsis ähnelt.
fand sich eine weiträumige Mammutsteppe, durch Ebenfalls seit dem Paläozoikum (Silur) hat die
die Rhein, Maas und Schelde in einem (gemeinsa- Brachiopodengattung Lingula ihre äußere Gestalt
men) Flusssystem flossen, die Themse aufnahmen, bewahrt. Lingula (. Abb. 2.9a) ist heute in der
um dann in den Atlantik zu münden. Der globale Gezeitenzone des Indopazifik weit verbreitet und
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 209

.. Abb. 2.78 a–f  Lebende Fossilien


(Wirbellose): a Priapulus, vollständiges
Tier mit eingezogenem Introvert, b Pri-
1
apulus, Vorderende mit ausgestülptem
Introvert, c Pleurotomaria, d Triops, e 2
Limulus, f Nautilus

3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17

kommt in manchen Gebieten, z. B. in Südostasien, vor der Ostküste Costa Ricas entdeckt und später im 18
in so hohen Populationsdichten vor, dass sie für die Peru-Chile-Graben gefunden, wo sie bis in 6000 m
Ernährung von Menschen und Haustieren genutzt Tiefe vorkommt. Bis dahin kannte man sie nur fos- 19
wird. sil. Neopilina und die nahe verwandte Vema gehen
Neopilina, zur Molluskengruppe der Monopla- auf eine kambrische Radiation zurück. Damals
cophora gehörend, wurde als rezente Form erst 1952 lebten die Formen auf Felssubstrat im Flachwasser
20
210 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

und hatten dickere Schalen als die rezenten Tiefsee- Nautilus (. Abb. 2.78f) schließlich ist seit dem
formen. Ein weiteres Mollusk mit einer besonders Eozän bekannt und gehört zu einer ehemals weit
langen Geschichte ist die Schnecke Pleurotomaria verbreiteten und formenreichen Tiergruppe, den
(. Abb. 2.78c). Wir kennen sie seit dem Devon, und Nautiloida, innerhalb der Cephalopoden. Die Nau-
auch in ihrem Fall blieb die Gestalt weitgehend kon- tiloida erlebten ihre Hauptblütezeit im älteren Paläo-
stant. zoikum. Mit Hunderten von Gattungen waren sie in
Seit dem Karbon, also seit mehr als 300  Mio. den Weltmeeren vertreten (s. Abschn. 2.2.2). Wäh-
Jahren, sind die Notostraca bekannt, von denen es rend die ältesten Formen vorwiegend langgestreckte
heute die beiden Gattungen Lepidurus und Triops Gehäuse besaßen, gibt es seit der Trias nur noch spi-
(. Abb. 2.78d) gibt. Es handelt sich um bodenle- ralig eingerollte Formen mit einfachem Siphunkel,
bende, filtrierende und räuberische Krebse, deren ähnlich dem rezenten Nautilus. Derartige Fossilien
vordere Rumpfextremitäten als Fangbeine entwi- dieser Art sind in Südschweden (Schonen), auf den
ckelt sind. Die Zahl von Segmenten und Rumpf- Inseln Öland und Gotland, aber auch in Kiesgru-
extremitäten ist sehr hoch; es können bis etwa 70 ben Norddeutschlands zu finden. Die rezente Gat-
Beinpaare ausgebildet sein, bis sechs Paare stehen tung Nautilus ist auf Teile des Indo-Westpazifik be-
auf einem Segment. Notostraca leben in Tümpeln, schränkt, wo sie in Tiefen von 60–500 m lebt. Das
die nur kurzfristig existieren (ephemere, astatische Wachstum dieser Formen erfolgt im Gegensatz zu
Gewässer). Lange Trockenperioden überstehen sie dem der modernen Kalmare, die im Laufe eines Jah-
in Form von Dauereiern, die Jahrzehnte trocken res geschlechtsreif werden können, außerordentlich
liegen können. Rasches Schlüpfen, tägliche Häu- langsam. Es dauert 20 Jahre, bis eine Schale, die aus
tungen über etwa einen Monat und Parthenogenese 30–35 Kammern besteht, ausgebildet ist. In 300 m
ermöglichen die Existenz selbst in Regionen, wo nur Tiefe dauert allein das Resorbieren der Flüssigkeit
kurzfristig Pfützen entstehen, sogar auf dem Ayers aus einer neu gebildeten Kammer wenigstens ein
Rock im Zentrum Australiens (Triops australiensis). halbes Jahr. Die Kopulation ist mit einer stunden-
Seit dem späten Paläozoikum sind die Xiphosu- langen Umarmung verbunden, und ein Weibchen
ren aus marinen Lebensräumen bekannt. Palaeoli- legt nur etwa zwei Dutzend Eier pro Jahr.
mulus aus dem Perm hatte schon große Ähnlichkeit Vielfach ist die Frage gestellt worden, warum
mit heutigen Formen. Mesolimulus kennen wir mit es überhaupt Formen gibt, die ihre Gestalt über so
wunderbar erhaltenen Exemplaren zum Beispiel aus lange Zeiten bewahrt haben. Eine Antwort bemüht
dem Jura der Fränkischen Alb. Noch älter ist der den konkurrenzarmen Lebensraum als Erklärung.
Pfeilschwanz Weinbergina, der vor 400 Mio. Jahren Das mag für die Tiefsee gelten (und damit z. B. für
lebte und heute im Hunsrückschiefer (. Abb. 2.29c) Neopilina), aber auf keinen Fall für andere Formen
zu finden ist. Heute sind Xiphosuren noch entlang wie Lingula und Limulus, die in der turbulenten und
der nordamerikanischen Atlantikküste verbreitet wechselhaften Gezeitenzone leben. Eine weitere
(Limulus; . Abb. 2.78e), und kommen mit zwei Antwort berücksichtigt Extrembedingungen (z. B.
Gattungen (Carcinoscorpius, Tachypleus) in Südost- eine hohe Konzentration von Schwefelwasserstoff),
asien vor, wo sie auch ins Brackwasser eindringen. unter denen nur wenige Organismen zu existieren
Es handelt sich also um eine disjunkte Verbreitung vermögen. Das gilt für einige Priapuliden, jedoch
und relativ kleine Reliktvorkommen. Limulus wurde nicht für die anderen genannten Formen.
zeitweise in Wagenladungen zum Düngen von Fel- Die richtige Antwort liegt vermutlich im geneti-
dern in Nordamerika eingesetzt, und die anderen schen Polymorphismus. Untersuchungen von Pria-
genannten Gattungen werden in Südostasien zum puliden haben gezeigt, dass homologe Blutproteine
Essen auf Märkten angeboten. Heute sind die Be- bei Formen, die sich strukturell kaum unterschei-
stände rückläufig. Die heutigen Xiphosuren sind den, bei Arten einer Gattung stärker unterschieden
Bewohner von Flachmeeren. Die Weibchen legen sind als vergleichbare Blutproteine verschiedener
ihre Eier in Sandgruben, die auf ihnen reitenden Säugetierordnungen. Hinter identischen oder sehr
Männchen geben das Sperma ins freie Wasser ab. ähnlichen Strukturen muss sich also nicht ein ent-
Die Entwicklung erfolgt direkt. sprechender identischer oder sehr ähnlicher phy-
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 211

.. Abb. 2.79 a–e  Lebende Fossili-


en (Wirbeltiere): a Neoceratodus, b
Latimeria, c Lepisosteus, d Leiopelma, e
1
Sphenodon
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
212 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

siologischer „Chemotyp“ oder Genotyp (s. Kap. 3) Hundertstel des Volumens der Schädelhöhle ein,
verbergen. der übrige Raum wird von einer fettreichen Sub-
Seit dem Devon sind Lungenfische (Dipnoi) stanz ausgefüllt. Auch das Schwimmblasenorgan
bekannt. Man kennt sie beispielsweise aus vielen stellt eine Fettmasse dar. Die Eier sind mit 300 g die
triassischen Sedimenten, sogar denen Helgolands. größten aller Knochenfische. Die Jungtiere sind bei
Die Gattung Ceratodus hat sich in leicht abge- der Geburt bereits 30 cm lang. Kein lebendes Fossil
wandelter Form bis heute in Australien gehalten hat so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie
(Neoceratodus, . Abb. 2.79a). Ähnliche Formen, Latimeria (s. EXKURS 2.19).
allerdings in eine andere Gattung (Conchopoma) Auch die Actinopterygii unter den Knochen-
gestellt, lebten z. B. im permischen Rümmel- fischen enthalten lebende Fossilien. Lepisosteus
bach-Humberg-See, der vor 290  Mio. Jahren (. Abb. 2.79c) ist mit ähnlichen Formen seit der
weite Gebiete der heutigen Pfalz einnahm (s. EX- Kreide bekannt und lebt heute noch in Süßgewäs-
KURS 2.7 Abschn. 2.2.6). sern Nord- und Mittelamerikas, kann aber auch
Quastenflosser (Crossopterygii), wie die Lun- ins Salzwasser vordringen. In Mitteleuropa sind
genfische zu den Choanichthyes (= Sarcopterygii) aus seiner nächsten Verwandtschaft Formen aus
innerhalb der Knochenfische gehörend, waren der Grube Messel (s. EXKURS 2.15 Abschn. 2.4.1)
schon seit langem fossil bekannt (vom Devon bis nachgewiesen. Vor 50  Mio. Jahren lebten diese
zur Kreide mit einer Blütezeit in der Trias), als 1938 Stoßräuber mit ihrem Panzer aus rhombischen,
völlig überraschend die kaum abgewandelte, bis 2 m aneinandergrenzenden Schuppen in dem dortigen
lange Latimeria chalumnae (. Abb. 2.79b, 2.80) vor Seengebiet.
der südafrikanischen Küste für die Wissenschaft Unter den Amphibien verdient wohl am ehesten
entdeckt wurde. Latimeria gehört innerhalb der der Frosch Leiopelma (. Abb. 2.79d) das Prädikat
Crossopterygii zu den Actinistia, deren Existenz „lebendes Fossil“. Die Gattung ist aus Neuseeland
schon seit dem Devon belegt ist. Ihre Lunge wurde bekannt und weist erhebliche Übereinstimmungen
im Laufe der Evolution zu einer Schwimmblase. mit den jurassischen Montsechobatrachus auf.
Wie sich später herausstellte, war Latimeria der Be- Unter den Reptilien bietet die Brückenechse
völkerung der Komoren schon lange bekannt. Mit (Sphenodon, . Abb. 2.79e) ein Beispiel für lebende
dem freien Teil der bestachelten Cosmoidschuppen Fossilien. Die beiden rezenten Brückenechsenarten
rauten sie die zu beklebenden Flächen von defek- leben tagsüber in selbstgegrabenen Erdlöchern oder
ten Fahrradschläuchen auf. Seit Ende der 1980er in Höhlen von Sturmvögeln; nachts gehen sie auf
Jahre wissen wir, wie sich Latimeria in einer Tiefe Nahrungssuche (Insekten, Vogeleier und Küken).
von 150–300 m auf Felsböden vor der südafrika- Sie kommen auf einigen kleinen Inseln vor der
nischen Küste fortbewegt: langsam schwimmend, Nordinsel Neuseelands vor. Im Mesozoikum war
Brust- und Bauchflossen im Kreuzgang bewegend. die Gruppe der Rhynchocephalia dagegen weit ver-
Seit Ende der 1990er Jahre kennen Wissenschaftler breitet. Man kennt sie u. a. aus dem Jura Solnhofens
Latimeria auch aus Meeresgebieten nördlich von (Homoeosaurus, Abschn. 2.3.2).
Sulawesi (Celebes). Auch dort war die Art den Unter den Säugetieren hat sich offenbar Di-
Einheimischen seit langem bekannt; in der Wis- delphis, das Opossum, besonders lange gehalten.
senschaft wird sie jetzt als L. menadoensis geführt. Schädelteile nahe verwandter Gattungen sind aus
In ihrer inneren Anatomie weist Latimeria einige der Kreide bekannt.
Besonderheiten auf: Das Gehirn nimmt nur ein
2.4  •  Känozoikum (Erdneuzeit) 213

  EXKURS 2.19  

Latimeria – gesucht, gefunden, geschützt


1
Hans Fricke (Tutzing)
2
Wenn ein kaltes Schuppentier einen tauchbesse- Glaube versetzt Berge. Ich probierte es mit Tauchge-
nen Jugendlichen so begeistert, dass er es zu sei- räten. Später, als angehender Berufszoologe tauchte 3
ner Lebensaufgabe macht und es ihn noch heute, ich vor Madagaskar und vor den Komoren in Tiefen,
nach mehr als drei Dekaden, zu weiterer Neugier
animiert, dann kann es wohl nur ein besonderer
die für die heutige Sporttaucherei tabu sind. Viele
Schutzengel standen dabei Wache.
4
Gast unseres blauen Wasserplaneten sein: der Die wissenschaftliche Literatur verriet mir, dass
Quastenflosser, ein Vertreter, dessen Vorfahren sie in Tiefen unterhalb von ca. 150 m die besten 5
einstmals den Schritt ans Land wagten. Er wurde Lebensbedingungen vorfinden. Ich brauchte ein
Lehrbuchbeispiel eines „lebenden Fossils“. Charles Tauchboot und begann, Tauchboottechnik zu stu- 6
Darwin prägte diesen Ausdruck – gerne hatte er ihn dieren. So entstand GEO – und ich wurde sein erster
nicht. Lebende Fossilien bleiben über Erdzeitalter Pilot. Im Januar 1987, fast ein halbes Jahrhundert
hinweg äußerlich fast gleich; ein Makel für die Evo- nach ihrer Entdeckung, hatten wir Glück. In 198 m 7
lutionstheorie, die auf evolutive Anpassung aus ist, Tiefe führte ein Quastenflosser einen bizarren Tanz
auf stete Veränderung. In der Trias hatten seine Vor- aus: er stand minutenlang auf dem Kopf und bis 8
fahren ihre Blüte, und vor 60 Mio. Jahren starben heute, nach vielen Hunderten Begegnungen, wis-
sie angeblich aus.
Wie Phönix aus der Asche tauchten sie 1938 vor
sen wir nicht, was der Kopfstand eigentlich zu be-
deuten hat.
9
der Komoreninsel Anjouan im westlichen Indischen Die Quastenflosser machten in diesen Wochen
Ozean wieder auf. Dass ein großer Fisch von fast 2 m eine rasante Medienkarriere durch. Sie erschienen 10
Länge in einer versteckten ökologischen Nische des auf der ersten Seite der „New York Times“ und auch
Indischen Ozeans überlebt hatte, wurde als größte „Nature“ brachte sie auf den Titel. Wir hatten aber 11
wissenschaftliche Sensation des vorigen Jahrhun- nur sechs Tiere gefunden. Lebten sie also in noch
derts gefeiert. Seine Wieder-Entdeckungsgeschichte tieferem Wasser? Mit GEO konnten wir nur 200 m
wurde ein Zoologenklassiker, geschrieben vom süd- tief tauchen. Ein neues, tiefer gehendes Tauchboot 12
afrikanischen Fischforscher JLB Smith, übersetzt in musste her. So wurde JAGO geboren. Öffentliche
37 Sprachen. Als 12‑jähriger las ich die deutsche Fördergelder hatten wir nicht – JAGO entstand 13
Übersetzung und schwor mir, den Fisch zu suchen. durch unsere Handarbeit und zählt heute als einzi-
.. Abb. 2.80  Latimeria chalum- 14
nae: Ansammlung von adulten
Tieren in einer Höhle. Photo:
Hans Fricke 15
16
17
18
19
20
7
214 Kapitel 2  •  Entfaltung der Organismen in der Erdgeschichte

 EXKURS 2.19 (Fortsetzung) 
ges bemanntes Tauchboot zur Forschungsflotte der fanden wir fast 60 verschiedene Tiere. Die Fle-
Bundesrepublik Deutschland. ckenmuster wurden ein ideales Hilfsmittel, einen
Zwei Jahre später waren wir wieder unterwegs Ausschnitt der Gesamtpopulation auf Grande Co-
– und jetzt ging es Schlag auf Schlag. Schon beim mores zu beobachten. Einen 8 km langen Küsten-
ersten Tauchgang sahen wir zwei Individuen vor ei- streifen wählten wir als Testgebiet aus. Um hier alle
ner Höhle, die sich bei Annäherung von JAGO in die Quastenflosser und ihre Tageshöhlen zu erfassen,
Höhle zurückzogen. Wir lernten, dass Quastenflos- markierten wir sie mit akustischen Transmittern.
ser tagsüber Höhlenbewohner sind und nachts in Mit einer Art Harpune schossen wir einen kleinen
der dunklen Lavawelt Jagd auf Fische machten. Sie Pfeil dicht unter den Schuppenpanzer, an dem der
sind piscivor und nehmen mittels ihres empfind- Sender hing. Dies war wohl ein „First“ in der Mee-
lichen Rostralorgans, einer überdimensionierten resforschung, dass ein Fisch von einem Tauchboot
Lorenzinischen Ampulle, Veränderungen im elek- aus besendert wurde. Nächtelang folgten wir ihnen
trischen Feld wahr, das selbst beim Schwimmen jetzt von der Oberfläche aus. Der Sender verriet
eines Beutefisches verändert wird. uns, dass sie sich nachts bevorzugt in etwa 250 m
Jetzt war es nur eine Frage von Tagen, wei- Tiefe aufhielten – wir hatten JAGO nicht umsonst
tere Quastenflosser zu finden – wir sahen in jede gebaut.
Höhle, und dort saßen sie. Keiner von ihnen kroch Im Verlauf der nachfolgenden Jahre suchten
am Boden, wie es Smiths berühmtes Buch „Old wir stets die gleichen Höhlen auf und videogra-
Fourlegs“ suggerierte. Noch etwas fiel uns auf: der phierten ihre Bewohner. Ein Individuenkatalog
Takt ihrer paarigen Flossen. Sie bewegten sich im entstand. Fast 130 Exemplare lebten in unserem Be-
Vierfüßergang. Hunderte Meter Film werteten wir obachtungsgebiet. Wir gaben ihnen Namen: Niko,
später aus und sahen mit Verwunderung, dass der Dirty Henry, Walflosse oder Herr Schwarzkopf (der
Quastenflosser nicht außer „Tritt“ geriet. Und wenn, amerikanische General) wurden unsere Vertrauten
so korrigierte er seinen Fehler in weniger als einer – und über 21 Jahre fanden wir sie wieder, immer
viertel Sekunde. Den Vierfüßertakt machte er in im selben Gebiet. Sie waren extrem ortstreu. Jetzt
jeder Position, auch bei seinem Kopfstand. Sehr gelang eine erste Abschätzung der Gesamtpopu-
schnell fanden wir heraus, dass der Vierfüßergang lation – es waren 200–400 Tiere vor Grande Como-
hydrodynamische Ursachen hatte – er verhinderte res. Und doch störte etwas unser Bild. Wir sahen
Drehmomente seines Körpers, die beim Abschlag niemals Jungtiere. Wo lebten sie? Ich war während
einer Flosse entstehen würden. Dass diese zentral- des Bürgerkriegs 1992 nach Mozambique geflogen.
nervöse Koordination den späteren Tetrapoden- Dort war ein Weibchen mit fast 26 fertigen Jungtie-
gang erleichtern würde, steht außer Frage – sie ist ren, jedes etwa 30 cm lang, gefangen worden. Das
eine Präadaptation. kleinste Exemplar auf Grande Comores schätzten
Der Blick in die dunklen Höhlen verriet uns wir auf ca. 50 cm. Die Kinderstube bleibt uns bis
auch, dass alle Quastenflosser individuelle Flecken- heute ein Rätsel.
muster haben (. Abb. 2.80). Ihre weißen Flecken Quastenflosser haben offenbar keine natürli-
sind optische Fingerabdrücke und dienen der Tar- chen Feinde, außer – wie immer – uns Menschen.
nung. Die Höhlenböden waren stellenweise mit Die Einheimischen angeln sie gelegentlich nachts
einem Teppich toter Austernschalen übersät, und von ihren wackligen Auslegerkanus aus. Quasten-
im Dämmerlicht der Höhlen verschwinden die Kör- flosser sind ein Nebenprodukt der Ölfischangler.
perumrisse des Quastenflossers – sie lösen seine Über Jahre hinweg zählten wir alle traditionellen
Gestalt auf. Der Jäger tarnt sich vor seiner Beute, Auslegerkanus, aber auch motorisierte Boote, die
die in den Höhlen tagsüber Schutz suchen. von der EU und anderen Organisationen gestiftet
Für uns war das individuelle Fleckenmuster ein wurde. Die Zahl der Auslegerkanus ging stetig zu-
Geschenk des Himmels. Jetzt konnten wir Indivi- rück, die Motorisierung nahm zu. Da motorisierte
duen wieder finden und beobachten. Sehr schnell Boote weit außerhalb des küstennahen Quasten-
7
Literatur  215

 EXKURS 2.19 (Fortsetzung) 
flosserhabitates operieren, nahm die Zahl der ge- großes Vertrauen mehr in die überregionalen Na- 1
fangenen Quastenflosser dramatisch ab. Das war turschutzorganisationen wie auch generell in die
ein gutes Zeichen. Doch auf unserer letzten Quas- „conservation industy“. Privatpersonen und die ein- 2
tenflosserexpedition 2008 erlebten wir eine Über- heimische Bevölkerung haben dem Quastenflosser
raschung. Eine Art Wasserbombe erschütterte die am besten geholfen. Ob auch zukünftige Genera-
Wassersäule, als wir 170 m tief in Jago saßen. Dy- tionen Zeitzeugen dieses „lebenden Fossils“ sein
3
namitfischer waren am Werk – und wir wurden an können, liegt jetzt in unseren Händen.
die erschreckenden Berichte aus Tansania erinnert. Unsere genetischen Studien haben gezeigt, 4
Dort gingen über 80 Quastenflosser im Tiefwasser dass die Heimat der Quastenflosser irgendwo im
in abgesenkte Stellnetze. Die Fischerei greift dort zu westlichen Pazifik sein muss. Auf Papua Neuguinea
5
dieser letzten Ressource, nachdem Dynamitfischer wurden paläolithische Felszeichnungen entdeckt,
das flache Meer leergebombt haben. Quastenflos- die Quastenflossern ähneln – und dort wurden
ser sind ihre unfreiwillige Beute. Die Tiefkühltruhen kürzlich Quastenflosser gefangen. Ihre Heimat zu 6
in Museen und Instituten quellen über. Jetzt wird finden, soll unser letztes, abschließendes Ziel sein,
berichtet, dass über 20 Quastenflosser verrotteten das wir mit Tauchbooten erforschen. Auch wollen 7
und vergraben werden mussten, weil die Elektrizi- wir wissen, weshalb Quastenflosser sich über
tät ausfiel. Ein großer Verlust für die Wissenschaft.
Über Jahre hinweg meinten es die Quastenflos-
400 Mio. Jahre äußerlich kaum veränderten – sie
blieben, was sie schon immer waren: Quastenflos-
8
ser gut mit uns. Wo immer wir konnten, haben wir ser. Sicher hätte auch Charles Darwin dies gerne
uns für sie eingesetzt – in vielen Artikeln, Filmen, gewusst. Es ist ein faszinierendes Stück evolutionä- 9
Gesprächen und Vorträgen. Jedoch haben wir kein rer Ökologie.
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19
20
3 Evolution – genetische und
zellbiologische Grundlagen
V. Storch, U. Welsch, M. Wink, Evolutionsbiologie,
DOI 10.1007/978-3-642-32836-7_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
220 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

3.1 Einführung Merkmale hilfreich. Die Unterscheidung zwischen


homologen und analogen Merkmalen ist in der Pra-
Bereits vor über 150 Jahren konnte Charles Darwin xis häufig problematisch und kann zu widersprüch-
durch zahlreiche wissenschaftliche Befunde und lichen Phylogeniehypothesen führen. Schon Charles
Überlegungen aufzeigen, dass sich die heutigen Darwin beklagte diese Problematik:
Organismen aus früheren Formen herleiten lassen Darwin schrieb 1857 an seinen Freund Tho-
und durch Evolution entstanden sein müssen. Dar- mas H. Huxley: „In regard to classification, & all the
wins großes Verdienst bestand jedoch insbesondere endless disputes about the ‚natural system‘ which no
darin, dass er einen Mechanismus, nämlich die na- two authors define in same way, I believe it ought, in
türliche Selektion, vorschlug, der die Entwicklung accordance with my heterodox notions, to be simply
und Spezialisierung der Organismen im Verlauf der genealogical. – But as we have no written pedigrees,
Evolution plausibel erklären kann. Obwohl Darwin you will, perhaps, say this will not help much; but I
damals noch kein Wissen über Zellbiologie, Bioche- think it ultimately will, whenever heterodoxy becomes
mie, Genetik und Molekularbiologie besitzen und orthodoxy, for it will clear away an immense amount
daher über die molekularen Mechanismen nichts of rubbish about the value of characters & – will make
sagen konnte, werden seine grundsätzlichen Vor- the difference between analogy & homology, clear. –
stellungen immer noch als zutreffend angesehen. The time will come I believe, though I shall not live to
Heute sind wir jedoch in der Lage, Einzelheiten der see it, when we shall have fairly true genealogical trees
Evolution und dazugehörige molekulare Mecha- of each kingdom of nature …“ („In Hinblick auf die
nismen und Ursachen im Detail wesentlich besser Klassifizierung der Organismen und die endlosen
verstehen und belegen zu können. Dazu dienen die Dispute über das natürliche System, das von zwei
Ausführungen in den Kap. 3 und 4 dieses Buches. Autoren niemals gleich definiert wird, habe ich die
Die Evolution und Stammesgeschichte (Phy- unorthodoxe Vorstellung, dass sie einfach genealo-
logenie) der Organismen lässt sich in Form von gisch sein sollte. – Da wir aber keine dokumentier-
Stammbäumen anschaulich darstellen. Bereits ten Stammbäume besitzen, werden Sie vermutlich
Darwin dachte in Stammbäumen, wie man der argumentieren, dass diese Aussage nicht weiter-
einfachen Skizze in seinem „First Notebook on hilft. Aber letztendlich wird sie weiterführen, dann
Transmutations of Species“, das er 1837 erstellte, nämlich, wenn sich die unorthodoxe Sichtweise
entnehmen kann (. Abb. 3.1). Die Grundidee be- als richtig herausstellen wird. Denn genealogische
steht darin, dass Organismen, die gleiche Merkmale Stammbäume werden die immensen Dummhei-
tragen, auch nahe verwandt sein müssen und in den ten, die über den Wert von Merkmalen geschrieben
Bäumen benachbart positioniert sind, da sie diese wurden, beseitigen und den Unterschied zwischen
Merkmale von einem gemeinsamen Vorfahren er- Analogie und Homologie klarstellen. – Ich glaube,
erbt haben. Ein wichtiges Ziel der Biologie besteht dass einmal die Zeit kommen wird, obwohl ich es
deshalb darin, ein natürliches System der systema- nicht erleben werde, dass wir ziemlich exakte ge-
tischen Beziehungen aller Lebewesen zu erstellen. nealogische Stammbäume für jedes Reich der Natur
Die Zuordnung nach dem Ähnlichkeitsprinzip wird haben werden …“)
jedoch dadurch erschwert, dass gleiche Merkmale Die Evolutionsbiologie, die sich traditionell mit
nicht in jedem Falle homolog sind, sondern auch Fachgebieten wie vergleichender Anatomie und
konvergent durch Anpassung an gemeinsame Le- Morphologie, Entwicklungsbiologie, Biogeographie,
bensbedingungen entstanden sein können; d. h. Paläontologie und Verhaltensbiologie sowie Bioche-
sie sind analog (zur Diskussion der Homologie- mie (Proteine, Sekundärstoffe), aber nicht mit der
Analogie-Problematik s. Abschn. 1.2.3). Bekannte Erbsubstanz selbst beschäftigen konnte, hat in den
Beispiele für analoge Merkmale sind die Flossen letzten 40–50 Jahren durch die rasche Entwicklung
bei Fischen und Tintenfischen (Cephalopoda) und der Molekularbiologie neue Werkzeuge erhalten,
die Flügel bei Vögeln und pterygoten (geflügelten) um Evolutionsvorgänge sowie deren Mechanismen
Insekten. Für die Interpretation von Verwandt- und Ursachen molekular zu analysieren und besser
schaftsverhältnissen sind aber nur die homologen zu verstehen.
3.1  •  Einführung 221

Die vielen Millionen Basenpaare in den Geno-


men der heute lebenden Organismen stellen eine 1
Blaupause der Evolutionsgeschichte und Phylo-
genie eines jeden Individuums dar. Punktmuta- 2
tionen haben das Genom im Verlauf der Zeit in
kleinen Schritten verändert ( Abschn. 3.3). Durch
Verdopplungen von DNA-Abschnitten oder ganzen 3
Genomen, Insertionen und Inversionen wurden Ge-
nome umorganisiert oder vergrößert. Mobile DNA- 4
Elemente, vor allem aber Viren, haben dazu beige-
tragen, dass DNA-Abschnitte horizontal, d. h. über
Artgrenzen hinaus, verschoben wurden ( Abschn. 3.4
5
und EXKURS 3.4 Abschn. 3.4.3). Alle diese DNA-Ver-
änderungen, die in der Vergangenheit auftraten, sind .. Abb. 3.1 a, b.  Darstellung evolutionärer Beziehungen 6
im Genom eines jeden Individuums und aller Arten anhand eines Stammbaums. a Skizze eines hypothetischen
gespeichert. Denn jede Zelle der heute lebenden Eu- Stammbaums von Charles Darwin (1837) im „First Notebook
on Transmutation of Species“. b Schematische Darstellung 7
karyoten ist durch Fusion einer Ei- und Spermazelle eines Phylogramms: Taxa A und B, C und D sowie E und F
oder durch Teilung aus einer Mutterzelle entstanden,
und hat damit die DNA einer Vorgängerzelle erhal-
sind jeweils Schwesterarten, die sich von einem gemein-
samen Vorfahren ableiten lassen. Taxa C, D, E und F bilden
8
ten. Wenn es gelingt, diese Informationen zu lesen eine monophyletische Gruppe. Der blaue Pfeil weist auf den
und zu interpretieren, dann können wir die nahe, gemeinsamen Vorfahren hin, von dem sich die monophyleti-
schen Gruppen ableiten lassen
9
mittlere und ferne evolutionäre Vergangenheit al-
ler Lebewesen rekonstruieren. Theoretisch lässt
sich über die DNA-Analyse die Verwandtschaft der Obwohl die Molekulare Evolutionsforschung
10
Lebewesen bis zur Entstehung des Lebens zurück- eine noch junge Disziplin ist, kann man jetzt schon
verfolgen, ohne dass wir die Zwischenglieder oder absehen, dass Darwins Vision vom natürlichen Sys- 11
Fossilien kennen. So wie der Archäologe aus alten tem bereits vielfach Realität geworden ist oder bald
Scherben auf frühere Kulturen oder der Paläontologe werden wird. Schon heute verfügen wir über ver- 12
anhand von Fossilien auf die Phylogenie ausgestor- lässliche molekulare Stammbäume für ausgewählte
bener Arten schließen kann, vermag die molekulare Organismen (s. Kap. 4), und vermutlich werden die
Evolutionsforschung anhand der DNA-Analyse die Evolutionsbiologen in nächsten Jahren derartige 13
Entstehung des Lebens auf der Erde sowie die Phy- Stammbäume für alle wichtigen Tier-, Pflanzen-
logenie oder Phylogeographie einer Organismen- und Prokaryoten-Gruppen aufgestellt haben. Sol- 14
gruppe, Art oder Population zu rekonstruieren. che Projekte laufen häufig unter dem Überbegriff
Die molekularen Methoden reichen von der be- Assembling the Tree of Life (ATOL-Projekte). Neu-
reits länger etablierten Allozymanalyse über neuere erdings bestehen Bestrebungen, alle Organismen
15
Verfahren, wie DNA-Fingerprinting, Mikrosatelliten- durch die Analyse von Markergenen zu identifizie-
Analyse, bis hin zur DNA-Sequenzierung (inklusive ren und zu typisieren. In Analogie zu den Strich- 16
des Next Generation Sequencing) und vergleichen- codes auf Industrieprodukten spricht man deshalb
den Genomanalyse ( Kap. 4). Genetische Unter- vom DNA-Barcoding. 17
schiede sind zwischen Individuen einer Population
in der Regel klein, aber größer zwischen Arten oder
Angehörigen verschiedener Gattungen oder Fami- 18
lien. Je länger zwei Organismen sich von einem ge-
meinsamen Vorfahren getrennt haben, desto größer 19
sind die genetischen Unterschiede. Diese Tatsache
ist die Grundlage für die molekulare Uhr, die in Ab-
schn. 4.1.2 ausführlicher diskutiert wird.
20
222 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

3.2 Grundlagen
der Molekularbiologie
und Genetik

|
Übersicht              |
In diesem Kapitel werden diejenigen Grundla-
gen der Molekularbiologie und Genetik kurz
dargestellt, die wichtig sind, um die Ergeb-
nisse der molekularen Evolutionsforschung
zu verstehen. Zunächst erfolgt eine Übersicht
über die Struktur der DNA und den Aufbau der
Gene. Dann werden die zentralen Prozesse der
Replikation, Transkription und Translation in
ihren Grundzügen erläutert. Besonders wichtig
sind in unserem Zusammenhang Funktions-
weise und Redundanz des genetischen Codes.
Zuletzt wird der Aufbau des Kerngenoms
sowie der Mitochondrien- und Plastiden-DNA
diskutiert. Exkurse führen in die Problematik
der Endosymbiontentheorie (d. h. die Evolution
von Mitochondrien und Chloroplasten), der
Evo-Devo-Forschung, der repetitiven DNA und
mobiler und retroviraler Genomelemente ein.

3.2.1 Aufbau der DNA


Desoxyribonucleinsäure (DNA) ist ein Makro-
molekül, das aus linear gekoppelten Nucleotiden .. Abb. 3.2 a, b.  a Struktur der Bausteine der Nucleinsäuren
aufgebaut ist (. Abb. 3.2). Jeder der vier Nucleo- und Aufbau von DNA und RNA. A: Adenin, G: Guanin, C: Cyto-
sin, T: Thymin, U: Uracil; b Bei der Biosynthese der Nucleinsäu-
tid-Bausteine besteht aus einer stickstoffhaltigen
ren wird die α-ständige Phosphatgruppe von Trinucleotiden
Base (. Tab. 3.1), d. h. einem heterozyklischen (dNTPs) mit der freien 3‘-OH-Gruppe des bereits vorliegenden
Kohlenstoffgerüst. Die Pyrimidinbasen Cytosin (C) Stranges verknüpft
und Thymin (T) weisen zwei N-Atome auf, die Pu-
rinbasen Adenin (A) und Guanin (G) jeweils vier wird als Nucleosid bezeichnet; trägt die 5-Position
N-Atome. Außerdem gehören Desoxyribose (eine der Pentose einen Phosphatrest, so liegt ein Nucle-
Pentose) und eine Phosphatgruppe zu einem Nuc- otid vor (. Tab. 3.1).
leotidbaustein. Im Unterschied zur DNA findet man Die Nucleotide stellen die Bausteine für DNA
in der Ribonucleinsäure (RNA) Uracil (U) anstelle und RNA dar. Nucleotide sind über ein Phos-
von Thymin und Ribose (der die Hydroxylgruppe phatrückgrat zu Polynucleotidketten verknüpft.
in 2-Position fehlt) anstelle von Desoxyribose. DNA Dabei wird jeweils die 5‘-Hydroxylgruppe (sprich
enthält also die Basen A, T, G und C, RNA die Basen „Fünf-Strich-Hydroxylgruppe“) einer Pentose über
A, U, G und C. eine Phosphodiesterverbindung mit der 3‘-Hy-
Die Basen sind N-glycosidisch mit der 1-Po- droxylgruppe einer zweiten Pentose verknüpft
sition der Pentose verknüpft. Ein solches Molekül (. Abb. 3.2). In einer Nucleinsäurekette haben die
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 223

.. Tab. 3.1  Nomenklatur der DNA- und RNA-Bausteine

Base Nucleosid Nucleotid (Anzahl Phosphatgruppen)


1
(Abkürzung) RNA DNA
2
1 2 3 1 2 3

Adenin Adenosin (A) AMPa ADPa ATPa dAMP dADP dATP* 3


Guanin Guanosin (G) GMP GDP GTP dGMP dGDP dGTP

Cytosin Cytidin (C) CMP CDP CTP dCMP dCDP dCTP 4


Thymin Thymidin (T) dTMP dTDP dTTP

Uracil Uridin (U) UMP UDP UTP 5


a
AMP: Adenosin-Monophosphat, ADP: Adenosin-Diphosphat, ATP: Adenosin-Triphosphat; *dATP: Desoxyadenosin-
Triphosphat 6
endständigen Nucleotide eine freie 5‘-Gruppe auf übernehmen Polyamine diese Rolle. Die Basen sind 7
der einen Seite und eine freie 3‘-Gruppe auf der ins Helixinnere gerichtet und bilden planare Stapel
anderen Seite. Man hat sich darauf geeinigt, Nuc- aus (. Abb. 3.3). Das Innere der Helix ist wasser-
leotidsequenzen in der 5‘→3'-Orientierung aufzu- frei, d. h. nur lipophile Substanzen, vor allem, wenn 8
schreiben, wobei der 5'-Terminus links und das 3'- sie ebenfalls planar sind, können sich zwischen die
Ende rechts zu stehen kommt. Basenstapel einlagern („DNA-Interkalatoren“). Eine 9
Zur Biosynthese der Nucleinsäuren (. Abb. 3.2) solche Interkalation führt meist zu Fehlern bei der
werden die jeweiligen Triphosphate benötigt, deren Replikation, die zu Frame-shift-Mutationen, d. h.
Phosphatesterbindungen besonders energiereich einem Verschieben des Leserasters, führen können
10
sind. In der fertigen Nucleinsäure liegen die jewei- (s. Abschn. 3.3.1).
ligen Monophosphate vor. Nach Abspaltung eines Bedingt durch die Kooperativität vieler Was- 11
Diphosphatrestes greift die α-Phosphatgruppe am serstoffbrücken und die lipophilen Wechselwir-
freien 3‘-Ende des bereits bestehenden Nucleinsäu- kungen zwischen den Basenstapeln ist die DNA- 12
restranges an und bildet eine neue Phosphodiester- Doppelhelix sehr stabil und kann nur durch hohe
bindung. Temperaturen in ihre beiden Einzelstränge getrennt
Die DNA liegt als Doppelhelix vor, wobei die werden. Dieser Vorgang wird auch als Schmelzen 13
Basen A und T bzw. G und C sich jeweils komple- bezeichnet; Tm kennzeichnet die Temperatur, bei
mentär gegenüberstehen (. Abb. 3.3). Die DNA- der 50 % der DNA bereits einzelsträngig vorliegen. 14
Doppelhelix weist einen Durchmesser von 2 nm auf. Tm ist abhängig vom GC-Gehalt der DNA, der zwi-
Die komplementäre Basenpaarung kommt durch schen den Organismengruppen deutlich schwankt
Ausbildung von jeweils zwei bzw. drei Wasserstoff- (. Tab. 3.2). Je größer der GC-Gehalt, desto höher
15
brücken zwischen AT- bzw. GC-Paaren zustande liegt die mittlere Schmelztemperatur (bedingt durch
(. Abb. 3.3). Die komplementäre Basenpaarung drei Wasserstoffbrücken in GC-Paaren gegenüber 16
kann als Ergebnis einer molekularen Erkennungs- zwei Wasserstoffbrücken in AT-Paaren). Tm-Werte
reaktion angesehen werden. wurden in der Anfangszeit der molekularen Syste- 17
Die beiden DNA-Stränge sind antiparallel an- matik als taxonomisches Merkmal, insbesondere für
geordnet, d. h. wenn man auf die Helix blickt, läuft die Klassifizierung von Prokaryoten, herangezogen.
einer der Stränge in 5‘→3'-Richtung, während der Tm-Werte spielten ferner bei der heute kaum noch 18
Partnerstrang in 3'→5'-Richtung orientiert ist. Die eingesetzten DNA-DNA-Hybridisierung in Phylo-
nach außen durch Phosphatgruppen vielfach nega- genieuntersuchungen eine wichtige Rolle (s. Ab- 19
tiv geladene DNA-Doppelhelix wird bei Eukaryoten schn. 4.1.2).
durch basische Histonproteine komplexiert (bilden
die sogenannten Nucleosomen); bei Prokaryoten
20
224 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

.. Abb. 3.3  Aufbau der DNA-Doppelhelix. Räumliche Orientierung der Basenpaare in der Doppelhelix (maßstabsgetreues Modell
der DNA nach dem Moletomics™-Konzept, das die Bildung der großen und kleinen Furche zeigt; Herkunft: Quadbeck-Seeger) und
Prinzip der komplementären Basenpaarung zwischen A und T bzw. G und C durch Ausbildung von Wasserstoffbrücken-Bindungen

3.2.2 Replikation Zellteilung muss eine exakte Verdopplung des Ge-


noms vorausgehen, d. h. aus jedem Chromosom
Schon Rudolf Virchow postulierte 1885, dass Zellen entstehen zwei identische Chromatiden, die nach
nicht de novo entstehen können, sondern immer Trennung als identische Tochterchromosomen auf
nur aus der Teilung einer Mutterzelle hervorgehen. die Tochterzellen verteilt werden (s. Abschn. 3.3).
Sein Lehrsatz lautete „omnis cellula e cellula“. Jeder Die Verdopplung der DNA, die als DNA-Replikation
bezeichnet wird, verläuft semikonservativ. Dabei
.. Tab. 3.2. Variation des GC (Guanosin-Cytidin)- wird der DNA-Doppelstrang zunächst lokal in seine
Gehalts der DNA bei verschiedenen Organismen-
Einzelstränge getrennt, indem sich eine Replikati-
gruppen
onsgabel bildet. Die Einzelstränge dienen nun als
Organismus % GC Matrize für die Synthese der jeweils komplemen-
tären neuen Stränge (. Abb. 3.4). Die DNA-Repli-
Plasmodium (Malaria-Erreger; Protozoa) 18–20 %
kation ist ein komplexer Vorgang, an dem mehrere
Dictyostelium (Schleimpilz) 22 % Proteine und Enzyme beteiligt sind.
Saccharomyces cerevisiae (Bierhefe) 39 % DNA-Polymerasen kopieren die ursprüngliche
Rattus/Mus (Säugetiere) 40–44 %
Basensequenz äußerst exakt (ihre Fehlerrate liegt
während der eigentlichen Synthese bei 1 falsch ein-
Gallus (Vogel) 43 %
gebautem Nucleotid pro 10.000 Nucleotide). Spezi-
Escherichia coli (Bakterium) 51 % elle Korrekturlese- und Reparaturfunktionen des
Neurospora crassa (Hefe) 54 % Enzyms spielen eine große Rolle und sorgen dafür,
dass die fertige Kopie fast fehlerfrei ist. Falsch ge-
Herpes-simplex-Virus (Virus) 72 %
paarte Nucleotide werden durch eine spezifische
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 225

1
Chromosom
2
Zellkern
DNA
3
Transkription
mRNA
4

Translation
5
Ribosom

6
Protein
7
8
.. Abb. 3.5  Vom Gen zum Protein. Im Zellkern der Eukaryo-
ten finden Replikation und Transkription statt. Die mRNA wird
9
aus dem Kern über Poren in der Kernmembran in das Cyto-
.. Abb. 3.4  Schematische Darstellung der DNA-Replikation
und Transkription. DNA-Polymerase-Komplex (Pol III: DNA-
plasma transportiert. Im Cytoplasma erfolgt die Übersetzung
(Translation) des mRNA-Codes in Aminosäuresequenzen
10
Polymerase III; SSB: single-strand binding protein; Transkription mittels Ribosomen
erfolgt mittels RNA-Polymerase
11
Exonuclease entfernt und dann durch DNA-Po- als Transkriptionseinheit definiert, da inzwischen
lymerase ersetzt; zuletzt wird die Phosphodiester- sowohl die Intron/Exonstruktur als auch die nicht- 12
bindung mittels DNA-Ligase kovalent verknüpft codierenden regulatorischen Sequenzen, die zu ei-
( Abschn. 3.3). Diese hohe, aber nicht absolute Ge- nem Gen gehören, sowie das alternative Spleißen
nauigkeit war und ist für die Evolution von großer erkannt wurden. Mit Exon bezeichnet man die 13
Wichtigkeit, denn das Erzeugen von Variabilität ist DNA-Abschnitte innerhalb eines Gens, die eine
eine Grundvoraussetzung für evolutive Vorgänge. Proteindomäne codieren, während Introns nicht- 14
Zur Entfernung der in der DNA regelmäßig und codierende Bereiche zwischen benachbarten Exons
häufig entstehenden Mutationen sind in der Evolu- darstellen (. Abb. 3.6).
tion spezielle Reparaturenzyme selektiert worden, Der Fluss der Erbinformation verläuft bei allen
15
die in Abschn. 3.3.1 näher besprochen werden. Organismen vom Gen über die mRNA zum Protein
(. Abb. 3.5). Nur Retroviren können RNA mittels 16
reverser Transcriptase in DNA zurückübersetzen;
3.2.3 Vom Gen zum Protein aber in keinem Falle wurde ein Informationsfluss 17
vom Protein zum Gen nachgewiesen. Durch Varia-
Ursprünglich, als man die DNA als Genträger noch tion und Kombination der 20 Protein-bildenden
nicht kannte, wurden Mutations- und Rekombina- Aminosäuren können Peptide und Proteine alle nur 18
tionseinheiten als ein Gen bezeichnet; in den 50er erdenklichen Raumstrukturen, aktive Zentren und
Jahren des 20.  Jahrhunderts wurden Gene enger Bindungsstellen bilden. Durch alternatives Splei- 19
definiert und die „Ein-Gen-ein-Protein“-Hypothese ßen können aus einem mRNA-Vorläufer, in dem
aufgestellt („DNA makes RNA, which makes prote- noch Introns und Exons enthalten sind, fertige mR-
ins“) (. Abb. 3.5). Heute wird das Gen allgemein NAs gebildet werden, die unterschiedliche Kombi-
20
226 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

3.2.4 Transkription
und Mosaikstruktur
der Eukaryotengene

Bei Eukaryoten finden wir drei verschiedene RNA-


Polymerasen, die DNA in mRNA (RNA-Polymerase
II), in rRNA (RNA-Polymerase I) oder in andere
funktionelle RNAs (z. B. tRNAs; RNA-Polymerase
III) umschreiben. Dieser Prozess wird als Transkrip-
tion bezeichnet.
.. Abb. 3.6  Schematische Darstellung der Struktur eines Auch bei der Transkription wird die DNA-Dop-
Eukaryotengens. Zu einem Gen zählen die regulatorischen
pelhelix lokal geöffnet, so dass die RNA-Polymerase
Enhancer- und Promotorregionen ebenso wie die eigentliche
Transkriptionseinheit, die aus Introns, Exons und nicht-codie-
die RNA (mRNA, rRNA oder tRNA) komplemen-
renden Sequenzen (NCS) aufgebaut ist. Der DNA-Abschnitt, tär zum Template-DNA-Strang synthetisieren
der oberhalb des Promotors liegt, wird 5‘-Upstream-Region kann (. Abb. 3.4). Der Templatestrang dient somit
genannt; entsprechend heißt der DNA-Abschnitt, der hinter als Matrize für die Synthese der mRNA. Der DNA-
einem Gen folgt, 3‘-Downstream-Region. Die CCAAT- und
Strang, der dieselbe Basensequenz wie die mRNA
TATA-Box bezeichnet DNA-Sequenzen in Promotoren, an die
Transkriptionsfaktoren binden
aufweist (außer dass er T anstelle von U enthält),
wird Nicht-Templatestrang oder (irreführender-
nationen von Exons enthalten (. Abb. 3.29). Auf weise) als codierender Strang bezeichnet. Üblicher-
diese Weise können aus einem Gen diverse Proteine weise wird die Sequenz des codierenden Stranges
codiert werden, die sich in der Zusammenstellung in 5'→3'-Orientierung abgebildet und auch so in
der Exons unterscheiden. Durch das alternative Datenbanken hinterlegt.
Spleißen kann also die phänotypische Variabilität Die Festlegung Template- oder Nicht-Templa-
und Plastizität erhöht werden. Proteine sind auf- testrang gilt nicht für ein komplettes Chromosom;
grund ihrer Strukturvariabilität in der Lage, ihre innerhalb eines Chromosoms kann diese Funktion
mannigfaltigen Aufgaben als Enzyme, Rezeptoren, von Gen zu Gen wechseln, d. h. Gen A kann von ei-
Ionenkanäle, Transporter, Strukturproteine, Tran- nem der Stränge abgelesen werden, das benachbarte
skriptionsfaktoren, Wachstumsfaktoren und Hor- Gen B dagegen vom gegenüber liegenden komple-
mone zu übernehmen. Proteine gehören somit zu mentären Strang (s. . Abb. 3.18).
den wichtigsten Werkzeugen der Zelle. Ihre Konfor- Bei Eukaryoten sind die Protein-codierenden
mation ist für molekulare Erkennungsreaktionen Gene meist aus Exons und Introns aufgebaut; wir
von entscheidender Bedeutung. Wird durch eine sprechen deshalb auch von Mosaikgenen. Das bei
Genmutation eine Aminosäure in einem Protein der Transkription entstehende Primärtranskript
ausgetauscht, so kann dies die Funktionsweise eines wird anschließend noch im Zellkern so prozessiert
Proteins dann einschneidend verändern, wenn da- („gespleißt“; abgeleitet von splicing), dass die jeweils
durch Raumstruktur oder Bindungsstellen verän- nicht-codierenden Intronregionen, die durch GU-
dert werden. und AG-Sequenzen flankiert sind, entfernt wer-
den. Am Spleißprozess sind snRNAs (small nuclear
RNAs) beteiligt und wirken hier als Ribozyme, d. h.
RNAs mit katalytischer Aktivität. Die wichtige Be-
deutung der Intron-Exon-Struktur für die Evolu-

codierender Strang 5‘-GGC TCC CTA TTA GCA GTC TGC CTC ATG-3‘

Templatestrang 3‘-CCG AGG GAT AAT CGT CAG ACG GAG TAC-5‘
mRNA 5‘-GGC UCC CUA UUA GCA GUC UGC CUC AUG-3‘
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 227

tion (Erhöhung der Variabilität; Generierung neuer sche Plastizität spielt die Epigenetik ebenfalls eine
Proteine) wird in Abschn. 3.4 ausführlich diskutiert. wichtige Rolle. Bei der Epigenetik geht es um die 1
Während bei Eukaryoten die Gene in der Regel Methylierung von Cytosin (bei Eukaryoten) sowie
streng linear hintereinander angeordnet sind, findet eine enzymatische Modifikation der Histonprote- 2
man bei Prokaryoten häufiger sich überlappende ine. In der Regel sind die Promotoren der Gene, die
Gene, die entweder von demselben oder dem ge- in einer Zelle exprimiert werden, nicht methyliert,
genüber liegenden komplementären DNA-Strang während sie bei abgeschalteten Genen (silent) hoch 3
codiert werden. Dies ermöglicht eine erhöhte In- methyliert sind. Nach jeder Replikation muss die
formationsdichte, behindert aber die unabhängige Methylierung des frisch replizierten DNA-Stranges 4
Evolution der DNA-Sequenzen. neu erfolgen; eine Störung der Methyltransferasen
Die Transkription eines Gens wird durch be- kann die Genexpression und Differenzierung von
nachbarte regulatorische DNA-Bereiche (Promoto- Zellen (und damit den Phänotyp) stark beeinflus-
5
ren, enhancer) (. Abb. 3.6) mittels Transkriptions- sen. Als kleinste Organisationseinheit des Chroma-
faktoren gesteuert, die darüber entscheiden, ob ein tins ist die DNA in Nucleosomen verpackt. Unter 6
Gen angeschaltet und aktiv oder abgeschaltet und dem mit basischen Kernfarbstoffen anfärbbaren
inaktiv ist. Von den rund 20.000 Protein-codieren- Chromatin versteht man das Material (Komplex aus 7
den Genen des Menschen wird in einer einzelnen DNA und speziellen Proteinen, u. a. Histone), aus
differenzierten Zelle nur immer ein kleiner Teil der dem die Chromosomen aufgebaut sind. Wenn Gene
Gene spezifisch angeschaltet, während die Mehrzahl transkribiert werden sollen, muss die Nucleosom- 8
der Gene inaktiv bleibt. Der Aufbau eines korrek- organisation kurzfristig aufgegeben werden. Dies
ten zellspezifischen Genexpressionssystems war ein wird durch eine lokale enzymatische Veränderung 9
wichtiges Ergebnis der frühen Evolution und Vor- der Histonproteine erreicht.
aussetzung für die Entwicklung von höher differen- Im Wesentlichen durch die Methylierung der
zierten Metazoen. Genregulation, insbesondere das DNA-Basen und durch enzymatische Modifizie-
10
Abschalten von Genen, kann auch über RNA-Inter- rung der Histonproteine wird die Differenzierung
ferenz (RNAi) erfolgen. Sie beruht auf der Aktivität von Zellen gesteuert und festgelegt („Epigenese“, 11
von microRNA-Molekülen, die komplementär zur genetische Prägung oder imprinting). Die DNA ist
Basensequenz von spezifischen Genen sind. Wenn in den Gameten noch nicht durch Methylierung 12
microRNAi mit komplementären mRNAs hybridi- modifiziert. Nach der Befruchtung ist die Zygote
sieren, entstehen Doppelstränge, die enzymatisch omnipotent; sukzessive erfolgt eine Programmie-
von einem Enzymkomplex abgebaut werden. Auf rung des Erbmaterials in der nachfolgenden Em- 13
diese Weise wird die Genexpression auf dem Weg bryonalentwicklung. Daher weisen differenzierte
vom Transkript zur Translation gestört. In der Mo- Zellen einen hohen Methylierungsgrad auf und 14
lekularbiologie spielt die RNAi-Technik heute eine sind daher nicht mehr in der Lage, sich in andere
große Rolle, um gezielt Gene auszuschalten. Zelltypen umzuwandeln.
Bei der Genregulation und der Differenzierung DNA-Methylierung und Histonmodifizierun-
15
spielt die Epigenetik eine entscheidende Rolle (s. gen werden bei der Zellteilung an die Tochterzellen
EXKURS 5.9 Abschn. 5.7). Der Begriff Epigenetik vererbt; man spricht hier von einer epigenetischen 16
wurde 1942 von Conrad H. Waddington geprägt Vererbung. Solche somatischen Veränderungen
als „the branch of biology which studies the causal haben vermutlich aber keinen Einfluss auf die 17
interactions between genes and their products which Nachkommen. Nur direkte Mutationen der Game-
bring the phenotype into being“ („der Zweig der Bio- ten können an die nachkommenden Generationen
logie, der die kausalen Wechselwirkungen zwischen vererbt werden. Ausnahmen wurden bei Pflanzen 18
Genen und ihren Produkten, die den Phänotyp nachgewiesen, was die Diskussion über die Hypo-
hervorbringen, studiert“). Durch unterschiedliche these der Vererbung erworbener Eigenschaften 19
Umweltbedingungen können ausgehend von einem (Lamarck) wieder entfacht hat. Über die möglichen
singulären Genotyp diverse Phänotypen (Polyphä- Einflüsse der Epigenetik auf die Evolution des Men-
nie) herausgebildet werden. Für die phänotypi- schen geht der EXKURS 5.9 in Abschn. 5.7 ein.
20
228 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

.. Abb. 3.7  Überblick über den genetischen Code. Die meisten Aminosäuren werden von mehr als einem Triplett codiert. Un-
terschiede im Codon findet man meist in der dritten Triplettposition. Die Abkürzungen der Aminosäuren sind in Tab. 3.3 erklärt

3.2.5 Genetischer Code karyotischen Ribosomen für Isoleucin steht; AGG/


AGA wird bei Vertebraten als Terminationscodon
Ein zentraler Fortschritt in der Anfangszeit der Mo- eingesetzt, während es sonst für Arginin codiert.
lekularbiologie war die Entdeckung eines fast ein- UGA, das gewöhnlich als Stoppcodon eingesetzt
heitlichen, kommalosen und nicht überlappenden wird, kann auch für Selenocystein („21. Amino-
genetischen Codes bei allen lebenden Organismen, säure“) oder für Pyrrolysin (ein modifiziertes Ly-
der für Bakterien ebenso gilt wie für Pflanzen und sinmolekül; „22. Aminosäure“) codieren.
Tiere. Er wird „kanonisch“ genannt und evolvierte Der Translationsstart beginnt bei AUG; dadurch
offenbar in einer Epoche, bevor sich die Organis- ist die Sequenz der folgenden Codons festgelegt (der
menreiche aufspalteten. Jeweils drei Nucleotide Leserahmen). Würde sich der Start der Translation
codieren für den Einbau einer spezifischen Amino- auch nur um ein oder zwei Nucleotide verschieben,
säure in das jeweilige Protein (. Abb. 3.7). Der weit- käme es zu einer Verschiebung des Leserahmens,
gehend universelle Triplettcode beginnt an einem einem frame shift. Dadurch würden sich die Codons
spezifischen Startsignal. Da Methionin (bei Eukary- verschieben und für gänzliche andere Aminosäuren
oten) bzw. N-Formylmethionin (bei Bakterien und codieren. Folglich würde ein gänzlich anderes neues
Chloroplasten) als erste Aminosäure in Polypeptide Protein entstehen. Mutationen, die einen frame shift
eingebaut wird, heißt das universelle Startcodon verursachen, führen meist zum Funktionsverlust in
AUG (wesentlich seltener kommt GUG vor). Methi- den veränderten Proteinen (s. Abschn. 3.3.1).
onin bleibt jedoch nicht als die erste Aminosäure in Bei einem Triplettcode mit vier Basen stehen
den fertigen Proteinen erhalten, sondern wird nach theoretisch 43 = 64 Kombinationen zur Verfügung.
der Translation in den meisten Fällen durch eine Da aber nur 20 reguläre Aminosäuren in Proteinen
spezifische Protease wieder entfernt. (. Tab. 3.3) vorkommen, gibt es mehr Codons als
In den tierischen und pilzlichen (nicht aber eigentlich notwendig wären. In der frühen Evolution
pflanzlichen) Mitochondrien gibt es kleine Abwei- wurde dieses Problem so gelöst, dass einige Amino-
chungen vom universellen genetischen Code: z. B. säuren nicht von nur einem, sondern von zwei bis
wird auch AUA zur Initiation verwendet und co- maximal sechs verschiedenen synonymen Codons
diert für Methionin, während dieses Codon in eu- (also Codons, die jeweils für dieselbe Aminosäure
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 229

schen System ca. 31 tRNAs, in Mitochon­drien 22


.. Tab. 3.3  Zusammenstellung und Gruppierung
der proteinogenen Aminosäuren. Zwei Typen von tRNAs nachgewiesen. Eine Mutation in der dritten 1
Abkürzungen werden international verwendet, die Codonposition beeinflusst das Ergebnis der Prote-
entweder aus drei oder einem Buchstaben bestehen. inbiosynthese meist nicht, da dieselbe Aminosäure 2
eingebaut wird; die Konsequenz aus dieser für die
Klassifizierung Abkürzungen
molekulare Evolution so wichtigen Tatsache wird
Neutrale und hydrophobe Ami- ausführlich in Abschn. 3.3.1 diskutiert. 3
nosäuren

Alanin Ala A 4
Glycin Gly G
3.2.6 Proteinbiosynthese
(Translation)
Isoleucin Ile I 5
Leucin Leu L Die Proteinbiosynthese erfolgt in den Ribosomen,
Methionin Met M die komplex aufgebaute Multienzymkomplexe 6
(auch molekulare Maschinen genannt) darstellen.
Phenylalanin Phe F
In den Ribosomen spielen verschiedene rRNAs 7
Prolin Pro P eine wichtige Rolle (. Abb. 3.10, . Abb. 3.11). Da
die rRNAs durch interne Basenpaarung (Stamm-
Tryptophan Trp W
strukturen) komplexe Raumstrukturen ausbilden, 8
Valin Val V
können sie als Gerüst für die richtige Anordnung
Neutrale und polare Aminosäuren der diversen Ribosomenproteine dienen. Sie sind 9
Serin Ser S zudem katalytisch aktiv, z. B. bei der Synthese von
Peptidbindungen. Da die Proteinbiosynthese ein
Threonin Thr T
Prozess ist, der offenbar in der frühen Evolution
10
Tyrosin Tyr Y
entstand, ist es nicht verwunderlich, dass der Auf-
Cystein Cys C bau der Ribosomen in den verschiedenen Organis- 11
Asparagin Asn N menbereichen grundsätzlich sehr ähnlich ist, wenn

Glutamin Gln Q
sich auch prokaryotische von eukaryotischen Ribo- 12
somen in Einzelheiten unterscheiden.
Basische Aminosäuren Ribosomale RNAs (rRNAs) gehören zu den häu-
Lysin Lys K figsten Makromolekülen in einer Zelle, alleine für 13
E. coli schätzt man die Zahl der rRNA-Moleküle
Arginin Arg R
auf 38.000. Die zusammengehörigen rRNA-Gene 14
Histidin His H liegen als Sequenzeinheiten (rDNA-Kassetten) vor,
z. B. in der Abfolge 18S rDNA, 5,8S rDNA und 28S
Saure Aminosäuren
rDNA, die als komplette Einheit transkribiert wer-
15
Aspartat Asp D
den (. Abb. 3.9). Nach der Transkription werden
Glutamat Glu E sie in die einzelnen rRNAs aufgespalten. Da diese 16
rRNAs unterschiedlich groß sind, kann man sie
stehen) codiert werden (. Abb. 3.7). Häufig unter- mittels Ultrazentrifugation voneinander trennen. 17
scheiden sich die Codons, die für dieselbe Amino- Die Größe der rRNA wird in Svedberg-Einheiten
säure codieren, in der dritten Codonposition. Die (S) angegeben; also 18S für 18 Svedberg-Einheiten.
zugehörigen tRNAs existieren grundsätzlich für je- In den Genomen der Zellen kommen die rDNA- 18
des Codon; bei synonymen oder „degenerierten“ Kassetten in zahlreichen Kopien vor. Dies beruht
Codons, die alle dieselbe Aminosäure codieren, sicher auf der Tatsache, dass diese Gene sehr häufig 19
existiert häufig nur eine spezifische tRNA, die eine abgelesen werden müssen, um die große Zahl an
Fehlpaarung (mismatching) in der dritten Codon- rRNA-Molekülen zu produzieren, die jede Zelle
position toleriert. Insgesamt wurden im eukaryoti- zum Aufbau der zahlreichen Ribosomen benötigt.
20
230 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

H 2N AS-1 AS-2
AS-2
AS-3
AS-3
H
AS-4 R5 N R6
OH H
C
C
O O
O O
P-Stelle
UUU
CGC E-Stelle A-Stelle

mRNA CUC UAG


5’ 3’
GCGGAGAUCAAAGGG

Codon Codon Codon Codon Codon Codon Codon Codon


AS-1 AS-2 AS-3 AS-4 AS-5 AS-6 AS-7 AS-8

.. Abb. 3.8  Schematische Darstellung der ribosomalen Proteinbiosynthese von Pro- und Eukaryoten. Die große Ribosomen-
untereinheit steht oben, die kleine Untereinheit, durch die die mRNA läuft, unten. In der A-Stelle hybridisiert jeweils die ankom-
mende, mit einer Aminosäure (AS) beladene tRNA mit ihrem Anticodon an das entsprechende Triplett der mRNA. Dann kommt
es zum Transfer des Peptidrestes, der auf der tRNA in der P-Stelle sitzt, auf die Aminosäure in der A-Stelle (Peptidyltransferase).
Jetzt rückt das Ribosom drei Nucleotide weiter auf der mRNA und entlässt die freie tRNA aus der E-Stelle (Exit-Stelle); die tRNA
mit dem verlängerten Peptidylrest rückt in die P-Stelle. Diese Schritte wiederholen sich, bis ein Stoppcodon erreicht wird. Die
Knüpfung der Peptidbindung (roter Pfeil) wird durch die rRNA katalysiert.

Weil rRNAs und zugehörige Gene auch als Mar- difiziert werden. Dieses Phänomen beobachtet
kergene für die molekulare Evolutionsforschung man insbesondere bei tRNAs, bei denen mehr als
wichtig sind, wurden in . Abb. 3.10 die Bausteine 50 modifizierte Nucleotide entdeckt wurden. Sub-
von prokaryotischen und eukaryotischen Riboso- stituierte Basen sind Thiouracil, 5-Methylcytosin,
men zusammengestellt. Da sich Mitochondrien Dihydrouracil, 2-Thiothymin, 2-Thiocytosin, N4-
und Chloroplasten aus Bakterien ableiten (s. EX- Acetylcytosin, 1-Methylhypoxanthin, 1-Methylgu-
KURS 3.1 Abschn. 3.2.7), finden wir in mtDNA und anin oder N6-Methyladenin. Insbesondere über
cpDNA erwartungsgemäß rRNAs, deren Aufbau diese ungepaarten Nucleotide können RNAs mit
und Sequenz denen der Bakterien weitgehend ent- anderen Molekülen (meist Proteinen) wechselwir-
sprechen (. Abb. 3.11, . Abb. 3.17, . Abb. 3.18) ken. In den loops finden wir vergleichsweise viele
(man beachte, dass in Mitochondrien eine 12S Basensubstitutionen, Deletionen, Insertionen und
rRNA anstelle der 23S rRNA der Prokaryoten vor- Inversionen, die ein Alignment homologer Sequen-
kommt). zen erschweren (s. Abschn. 4.1.2). Unter Alignment
Insbesondere 16/18S rRNAs und 23/28S rRNAs versteht man die Anordnung von zwei oder meh-
weisen komplexe Raumstrukturen auf, die über reren Sequenzen zueinander, so dass identische
große Bereiche der Organismen konserviert wur- Basenpositionen übereinander zu stehen kommen.
den (. Abb. 3.11). Obwohl RNAs als Einzelstränge Da die Nucleotidsequenzen der rDNA-Gene in der
vorliegen, bilden sie im wässrigen Milieu an vielen Evolution sehr stark konserviert wurden, sind sie
Stellen komplementäre Doppelstränge, sogenannte für die molekulare Evolutionsforschung von großem
Stammstrukturen aus. Die Nucleotidsequenz dieser Interesse, da man mit ihrer Hilfe Stammbäume über
Bereiche der rRNAs wurde in der Evolution meist alle Organismengruppen hinweg erstellen kann.
sehr stark konserviert. Anders sieht es bei den nicht Der Tree of Life (Baum des Lebens) und die davon
basengepaarten Schleifen (loops) aus, in denen die abgeleitete Einteilung der Organismen beruht u. a.
Nucleotide zudem noch nachträglich durch An- auf der Analyse von konservierten rDNA-Genen
hängen von weiteren chemischen Gruppen mo- (s. Abschn. 4.2).
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 231

1
2
3
.. Abb. 3.9 rDNA-Kassetten. ITS: internal transcribed spacer; 4
ETS: external transcribed spacer; IGS: intergenic spacer. Die Wie-
derholungseinheit umfasst ETS, 18S rDNA, ITS-1, 5,8S rDNA,
ITS-2, 28S rDNA und IGS. Gene der 5S rRNA liegen außerhalb 5
der RNA-Kassetten auf anderen Chromosomenabschnitten

.. Abb. 3.10  Vergleich des Aufbaus pro- und eukaryotischer


6
3.2.7 Kern-, Mitochondrien- Ribosomen, die Molekülmasse ist in Dalton angegeben.
und Chloroplastengenom S bedeutet Svedberg-Sedimentationseinheit, über die man 7
die Größe der Ribosomenuntereinheiten und die rRNA cha-
Die Gene eines Organismus (in ihrer Gesamtheit rakterisieren kann
auch als Genotyp zusammengefasst) sind die funk- 8
tionellen Einheiten der Vererbung und enthalten die man das menschliche Kerngenom, so erkennt man
Bauanweisungen für RNAs, Struktur- und Mem­ schnell, welche gigantische Informationsmenge hier 9
branproteine, Transkriptionsfaktoren sowie Enzyme vorhanden ist. Würde man die DNA einer einzelnen
(. Abb. 3.6), die für die Differenzierung und zum Zelle des Menschen als Faden aufspannen, so wäre
Aufbau der Zellen, Gewebe und des Gesamtorga- er 2 m lang. Bei etwa 1013 Zellen in unserem Kör-
10
nismus und damit zur Ausbildung des Phänotyps per beträgt die Gesamtlänge der DNA aller Zellen
notwendig sind. Ebenso steuern die Gene direkt 2 ×1010 km. Man könnte damit einen DNA-Faden 11
oder indirekt alle zentralen Lebensvorgänge, sowohl spannen, der mehrfach von der Erde bis zur Sonne
Stoffwechsel und Organfunktion, Bewegung, Reiz- und zurück reicht. 12
aufnahme und Erregungsleitung als auch Zelltei- Von den 3 Mrd. Basen, die z. B. im haploiden
lung, Fortpflanzung und diverse Verhaltensweisen. Chromosomensatz des Menschen vorhanden sind,
Da in einer Zelle oder einem Organismus nicht alle codieren jedoch nur ca. 1–3 % direkt für Peptide 13
Gene gleichzeitig zur Expression kommen, bezeich- und Proteine (. Abb. 3.28). Die restliche DNA be-
net man unter Phänotyp die jeweils in Erscheinung steht aus RNA-Genen und nicht-codierenden Berei- 14
tretende Ausprägung der Gene. Am Phänotyp setzt chen, die oft an Regulationsvorgängen beteiligt sind,
die natürliche Selektion an, so dass die Variabilität keine Funktion besitzen oder deren Funktion man
des Phänotyps eine große Bedeutung hat. noch nicht kennt (s. Abschn. 3.4.3).
15
Bei Prokaryoten liegt die DNA als ringförmiges In den letzten Jahren hat sich die Genomik
Chromosom in einem Kernäquivalent vor, während (genomics) als neues Teilgebiet der Genetik mit 16
sie in eukaryotischen Chromosomen, von denen der Riesenschritten etabliert, mit dem Ziel, komplette
Mensch z. B. 46 und die Taufliege Drosophila 8 hat, Genome molekular und funktionell zu charakteri- 17
linear aufgebaut ist (. Tab. 3.10). Eukaryotische sieren. Im Rahmen des humanen Genomprojektes
Chromosomen sind im Zellkern vom Rest der Zelle (HUGO; human genome organization) wurde die
abgegrenzt lokalisiert. Nucleotidsequenz eines haploiden Chromosomen- 18
satzes des Menschen im Jahre 2001 fast komplett
Genomgröße ermittelt. Bedingt durch die Entwicklung neuer 19
Die Gesamtheit der DNA einer Zelle, eines Zell- leistungsfähiger DNA-Sequenziergeräte (insbe-
kerns oder eines Organells (Mitochondrien, Chlo- sondere Next Generation Sequencer; s. Kap. 4)
roplasten) wird als Genom bezeichnet. Betrachtet wächst die Zahl komplett sequenzierter Genome
20
232 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

.. Abb. 3.11 a–c. Struktur der 16S rRNA am Beispiel von a E. coli, b Saccharomyces cerevisiae und c Säugermitochondrien (Rind)

kontinuierlich. Über 2000 weitere Genome (davon Erbe anzusehen sind (s. Abschn. 3.4). Da wir erst
124 Archaea, 1845 Bacteria, 152 Eukaryota) sind am Anfang dieser Forschung stehen, wird man
bereits vollständig sequenziert (Stand Feb. 2012) sicher bald für viele der aus heutiger Sicht funkti-
(. Tab. 3.4). Diverse Großprojekte wurden initi- onslosen DNA-Abschnitte eine Funktion erkennen
iert, welche unser Wissen in den nächsten Jahren können.
signifikant vergrößern werden; u. a. das Genome Die Größe der Genome einiger Organismen-
10 K Project (G10 K), das 1000 Plant & Animal gruppen ist in . Abb. 3.12 graphisch dargestellt.
Reference Genomes Project (1000P&A), die 5000 Betrachtet man die minimale Genomgröße in
Insect (i5 K) and other Arthropod Genome Initiative den Organismenreichen (d. h. nur die linke Seite
oder das Ten Thousand Microbial Genomes Project der Balken in . Abb. 3.12), so beobachtet man
(10 K M). Über den Vergleich mit Nucleotidse- eine Zunahme, die im Wesentlichen parallel zur
quenzen, die aus umfangreichen organ- und gewe- Organisationshöhe verläuft. Einfach aufgebaute
bespezifischen cDNA- und EST-Banken (expressed Bakterien und Pilze haben kleinere Genome als
sequence tags) gewonnen wurden, oder durch Kon- komplex aufgebaute multizelluläre Organismen.
struktion von Knock-out- oder Antisense-Mutan- Die maximale Genomgröße hat bei den Eukary-
ten (in denen einzelne Gene gezielt abgeschaltet oten jedoch nur eine geringe Beziehung zur Ent-
wurden) sowie durch RNAi-Experimente wird im wicklungshöhe, denn viele Pflanzen und Amphi-
nächsten Schritt versucht, genomischen Sequen- bien haben Genome mit annähernd 1011 Basen,
zen funktionelle Einheiten oder Gene zuzuord- die damit das Genom des Menschen um ein bis
nen (Teilgebiet der Funktionellen Genomik). Die zwei Größenordnungen übertreffen. Dieses Phä-
Funktionelle Genomik wird letztlich eine genaue nomen (sogenanntes C-Wert-Paradoxon) deutet
Antwort auf die Frage liefern, welche Bereiche des schon darauf hin, dass die überdimensionierten
Genoms eine Funktion haben (heute schätzt man Genome DNA-Bereiche aufweisen, die nicht mit
die zum Überleben notwendige Information auf dem Phänotyp im Zusammenhang stehen können
85–90 % bei Bakterien und auf weniger als 10 % (s. Abschn. 3.4). Offensichtlich kam es bei diesen
der Gesamt-DNA bei Vertebraten) und welche Gruppen zu mehrfachen Verdopplungen der Ge-
Teile lediglich als funktionsloses evolutionäres nome (s. Abschn. 3.4.2).
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 233

.. Tab. 3.4  Verhältnis zwischen Genomgröße und der Anzahl der Gene. Übersicht über einige der bereits sequenzierten
und publizierten Genome (siehe www.ebi.ac.uk/genomes und www.genome.jp/kegg/catalog/org_list.html) 1
Organismus Genomgröße Basenpaare a
Proteincodierende Gene

Archaea
2
Archaeoglobus fulgidus 2,18 x 106 2541

Methanothermobacter thermoautotrophicus 1,75 x 10 6


1968
3
Pyrococcus furiosus 1,91 x 106 2160
4
Sulfolobus acidocaldarius 2,99 x 10 6
2233

Bacteria 5
Clostridium tetani (Tetanus-Erreger) 2,8 x 106 2617

Escherichia coli 4,67 x 106 4288 6


Haemophilus influenzae 1,83 x 106 1728

Mycoplasma genitalium 0,58 x 106 487 7


Rhodospirillum rubrum 4,35 x 106 3926

Hefen
8
Aspergillus fumigatus (Schimmelpilz) 4,9 x 107 9630

Saccharomyces cerevisiae (Bierhefe) 1,2 x 10 7


5882
9
Candida glabrata (Candida-Hefe) 1,2 x 107 5213
10
Sporozoa

Plasmodium falciparum (Malaria-Erreger) 2,3 x 107 5331


11
Pflanzen

Arabidopsis thaliana (Ackerschmalwand) 1,4 x 108 27.296 12


Glycine max (Sojabohne) 1,1 x 109 43.095

Tiere 13
Caenorhabditis elegans (Fadenwurm) 1,0 x 10 8
20.183

Drosophila melanogaster (Taufliege) 1,6 x 10 8


13.776 14
Danio rerio (Zebrafisch) 1,0 x 109 26.577

Mus musculus (Hausmaus) 3,0 x 10 9


22.169
15
Pan troglodytes (Schimpanse) 3,2 x 109 21.552
16
Homo sapiens (Mensch) 3,2 x 10 9
19.762
a
haploides Genom
17
18
19
20
234 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

.. Abb. 3.12  Größe des haploiden


Bakterien Genoms bei einigen großen Organis-
Pilze mengruppen. Die X-Achse hat eine
Einzeller
logarithmische Skala
Pflanzen
Insekten
Mollusken
Knorpelfische
Knochenfische
Amphibien
Reptilien
Vögel
Säugetiere

105 106 107 108 109 1010 1011 1012


Anzahl der Basenpaare im haploiden Genom

Mitochondrien und Chloroplasten


enthalten DNA
Eukaryotenzellen enthalten Erbinformation in den
Chromosomen (Kerngenom) sowie in den Mito-
chondrien und Chloroplasten (s. EXKURS 3.1).

  EXKURS 3.1  

Symbiogenese in der Zell- und Lebensevolution


Peter Sitte (Freiburg)
Das Periodensystem der Biologie: Ernst Haeckels; ihre Zellen entsprechen Protocyten)
Zwei Zelltypen, drei Domänen und der Eukaryota (mit Eucyten) unterschieden.
Zellen sind die kleinsten lebensfähigen Systeme. Inzwischen haben neben anderen Merkmalen
Sie sind enorm vielgestaltig – man denke nur an vor allem Sequenzvergleiche ribosomaler RNAs bei
Bakterien oder die meist größeren, sehr verschiede- den Prokaryoten eine tiefe Kluft zwischen Bakterien
nen Einzellerformen, schließlich an die ganz unter- und Archaeen deutlich werden lassen (. Tab. 3.6).
schiedlichen Zellen unseres Körpers. Dennoch las- Daher wird heute das Gesamtreich aller zellulär ge-
sen sie sich zwei Grundtypen zuordnen: Protocyten bauten Organismen in drei Domänen gegliedert:
und Eucyten. Die meist sehr kleinen Protocyten der Bacteria, Archaea und Eukarya (. Abb. 3.16).
Bakterien und Archaeen (Archaebakterien) enthal-
ten keinen von Membranen umhüllten Zellkern, ihre Frühe Lebensevolution als Zellevolution
Spuren von Lebewesen lassen sich bis in älteste
DNA-haltigen Nucleoide liegen ohne Membranum-
Sedimente zurückverfolgen. Es hat demnach
grenzung in der Zelle. Dagegen verfügen die in der
schon vor mehr als 3,5 (vermutlich sogar 4) Mrd.
Regel viel größeren Eucyten aller übrigen Organis-
Jahren Leben auf unserem Planeten gegeben. Da-
men über einen Zellkern, der von einer doppelten,
rüber, wie erste Zellen auf der unwirtlichen Ur-Erde
von Porenkomplexen durchbrochenen Membran-
in nur einer halben bis einer Jahrmilliarde entste-
hülle umschlossen ist. Auch sonst gibt es eine Reihe
hen konnten (die Erde ist 4,6 Mrd. Jahre alt), gibt
fundamentaler Unterschiede (. Tab. 3.5). Nach ih-
es mangels konkreter Daten nur Hypothesen.
rem Zellbau werden dementsprechend die beiden
Wahrscheinlich konnten sich unter einer weitge-
Großreiche der Prokaryota (der Monera im Sinne
7
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 235

 EXKURS 3.1 (Fortsetzung) 
1
.. Tab. 3.5  Einige strukturelle Unterschiede zwischen Protocyten und Eucyten

Merkmal Protocyt Eucyt 2


Endomembranen (endoplasmatiches Reticulum, Golgi-Membra- – +
nen, Endosomen) 3
Kernhülle mit Porenkomplexen – +

Cytoskelett + + 4
und damit assoziierte Motoroproteine – +

Exo- und Endocytose, Phagocytose – + 5


Genom 1 zirkuläres DNA- mehrere lineare
Molekül Chromosomen
6
Ribosomentyp 70S 80S

RNA-Polymerasen 1 3 (I-III)
7
.. Tab. 3.6  Einige Unterschiede zwischen Bakterien und Archaeen 8
Merkmal Bacteria Archaea

Peptidoglycan (Murein) in der Zellwand + – 9


RNA-Polymerase eubakt. archaebakt.
10
Formylmethionyl-tRNA + –

Methanogenese – bei einigen Vertretern


11
Isoprenyl-Ether-Lipide – +

Acylester-Lipide + – 12
ATP-Synthase-Typ F V

hend sauerstofffreien Atmosphäre und an unter- säure-Vervielfältigung im Vordergrund. Die Evolu-


13
seeischen heißen Quellen abiotisch verschiedene tion konnte vergleichsweise rasch zur Verbesse-
organische Moleküle bilden, darunter Aminosäu- rung der Replikation mit Hilfe von Proteinen 14
ren, Zucker und organische Basen, schließlich auch führen, damit zu Hyperzyklen (zyklische Reaktions-
Oligonucleotide und Peptide. In dieser präbioti- folgen zwischen RNAs und Proteinen) (Eigen u. 15
schen, chemischen Evolution können sich letztlich Winkler 1975) und Translation, zu definierten Ge-
auch selbstreplizierende Ribonucleinsäuren nen und über RNA-Genome schließlich zu DNA-
(„RNA-Welt“) gebildet haben, eine Vorstellung, die Genomen, Transkription und Genregulation. Nach 16
durch den Nachweis enzymatisch aktiver RNAs (Ri- Ausbildung einer umgebenden Membran, über
bozyme) gestützt wird. Somit war zwar noch nicht deren Entstehung unterschiedliche Hypothesen 17
die Organisationsstufe von Zellen erreicht, doch existieren, sollte es Zellen gegeben haben, die alle
gab es jetzt schon Vererbung. Damit waren alle
wesentlichen Voraussetzungen für eine Evolution
essenziellen biochemischen Komponenten und
Vorgänge innerhalb einer Membran – der Zell-
18
im Sinne Darwins erfüllt: Vermehrung, erbliche Va- membran – vereinigten und in hohen Konzentra-
riation durch Mutationen, Konkurrenz und Selek- tionen halten konnten. Mit dem Auftreten zellulä- 19
tion. Dabei stand das Mutationsgeschehen wegen rer Organismen war jene Evolutionsphase erreicht,
der zunächst noch geringen Präzision der Nuclein- die bis heute andauert. Dabei sind nach den frei- 20
7
236 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

 EXKURS 3.1 (Fortsetzung) 
lich sehr lückenhaften Mikrofossilfunden Eucyten biologischen Evolution immer wieder Fortpflan-
möglicherweise vor ca. 2 Mrd. Jahren aufgetreten. zungseinheiten, die sich zunächst selbstständig
Reste von möglichen Vielzellern finden sich in Ab- entwickelt hatten, zu komplexeren Einheiten zu-
lagerungen, die ca. eine Jahrmilliarde alt sind. Der sammengeschlossen haben. Die so entstandenen
dominante Teil der Lebensentwicklung war also Systeme konnten dann zu Ausgangspunkten für
Zellevolution. völlig neue Entwicklungslinien werden.
Astronomen nehmen an, dass im Universum Ein Beispiel für einen solchen Großübergang
Abertausende erdähnliche Systeme existieren. Da- ist die evolutive Entstehung von Vielzellern aus
her ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass Einzellern. Bei Einzellern repräsentiert die einzelne
das Leben nicht auf unserer Erde entstand, sondern Zelle einen ganzen Organismus, im Vielzeller ist
durch Meteoriteneinschlag aus anderen Welten im- sie nur mehr eines von vielen Elementen eines
portiert wurde. einzigen Lebewesens. Die einzelnen Zellen büßen
mit dem Einbau in das größere System, das ihnen
Makroevolution und Großübergänge stabile Lebensbedingungen gewährt, viel von ih-
In der Evolution der Organismen wurden und wer- rer Selbstständigkeit ein. Steuernde Einflüsse des
den evolutive Fortschritte vorwiegend durch Re- Gesamtsystems diktieren z. B. die Teilungstätigkeit
kombination im Gen-Pool der einzelnen Arten im und entscheiden über Leistungen und Lebens-
Sinne immer besserer Anpassung an die jeweils dauer der einzelnen Zellen im übergeordneten
gegebenen, veränderlichen Umwelten erzielt. Eine Funktionsgefüge. Damit ist ein wichtiges Charakte-
nicht unerhebliche Rolle spielen weiterhin Ände- ristikum solcher Systeme angesprochen: sie sind ar-
rungen der Expressionsrate von Genprodukten, beitsteilig. Im vielzelligen Organismus können sich
sowie die Integration und Expression von Genen, die einzelnen Zellen auf bestimmte Teilaufgaben
die von nicht verwandten Arten abstammen und spezialisieren, andere sind ihnen dafür abgenom-
via horizontalem Gentransfer in einen Organismus men. Dadurch können nicht nur Teilprozesse wich-
gelangen können. Nun muss es allerdings in der tiger Stoffwechselvorgänge bzw. bestimmte Funk-
Phylogenese neben den zahlreichen kleineren Ver- tionen mit höherer Effizienz ausgeführt werden,
änderungsschritten gelegentlich auch größere sondern auch Synergiepotenziale voll ausgenützt
Sprünge gegeben haben. Neben graduellen Verän- werden. Zusätzlich können die so differenzierten
derungen, wie sie die Bildung von Unterarten und Zellen bzw. Gewebe während der weiteren Phy-
Arten beherrschen (Mikroevolution), wird für die logenese ohne große genetische Veränderungen
Makroevolution also auch die mehr oder weniger vermehrt oder vermindert, verschoben und wie
unvermittelte Entstehung grundsätzlich neuartiger Module im Gesamtsystem neu kombiniert werden.
Organismen postuliert. Solche dramatischen Ver- Dank dieser Kombinatorik können mit relativ we-
änderungen waren zwar sicher viel seltener als die nigen unterschiedlichen Elementen fast beliebig
kleinen Mutations- und Rekombinationsereignisse, viele verschiedene Systeme aufgebaut werden.
aber folgenreicher. Sie entsprechen den zukunfts- Dem ist die enorme Arten- und Formenfülle an Ma-
trächtigen Bifurkationen im deterministischen kroorganismen in der Biosphäre mit zu verdanken.
Chaos der Evolution und markieren die großen Ver- Komplexe Vielzeller haben sich nur bei den Eu-
zweigungen der Stammbäume. Allerdings bleiben karyoten entwickelt. Mit steigender Komplexität
solche Vorgänge wegen ihrer Seltenheit der direk- der Organismen nimmt die für die systemgerechte
ten Beobachtung entzogen, die zugrunde liegen- Steuerung der einzelnen Zellen, Gewebe und Or-
den Mechanismen sind einer experimentellen Er- gane und ihrer Entwicklung in der Ontogenese
forschung nur schwer zugänglich. Eine mögliche erforderliche Informationsmenge zu. Die Informa-
Erklärung liefert das Konzept der phylogene­ tion kann jedoch in verschiedenen Ebenen gespei-
tischen Großübergänge (major evolutionary chert und abgerufen werden. In der Tat findet sich
transitions). Grundaussage ist, dass sich in der eine gewisse Korrelation zwischen Komplexität ei-
7
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 237

 EXKURS 3.1 (Fortsetzung) 
.. Abb. 3.13  Doppel-, Drei- und Vierfachmemb- 1
ranen von Plastiden bei primärer bzw. sekundärer
Endosymbiose. Oben: Cyanobakterien werden durch
Phagocytose in eukaryotische Wirtszellen aufge- 2
nommen (1), wenn dabei die sogenannte Outer
membrane der Cyanobakterien erhalten bleibt, kön-
nen Plastiden mit drei Hüllmembranen entstehen
3
(2). Unten: Entstehung komplexer Plastiden durch
Aufnahme plastidenhaltiger Einzeller in phagotro-
phe Wirtszellen und nachfolgende Reduktion der
4
Endocytobionten auf Plastide und Zellmembran (3).
Geht eine der vier Hüllmembranen verloren (5), ent-
stehen auch hier Plastiden mit drei Hüllmembranen.
5
Durch unvollständige Reduktion des Endocytobion-
ten (4) entsteht eine Situation, wie sie bei Crypto- 6
monaden und Chlorarachnion beobachtet wird (vgl.
. Abb. 3.15)
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
nes Organismus und der Anzahl der in seinem Ge- gänge. Eine besonders bedeutsame ergibt sich aus
nom codierten Gene, die bei Eukaryoten im Gegen- Symbiosen, dem intimen Zusammenleben artver- 17
satz zu den meisten Bakterien in mehreren schiedener Organismen (. Abb. 3.13).
Chromosomen lokalisiert sind. Jedoch können
homologe Gene in unterschiedlichen Organismen Endocytobiose
18
verschieden exprimiert werden, was zur Ausbil- Unter Endocytobiose versteht man den Einbau art-
dung neuer Einheiten führen kann. Neben dem fremder Zellen in größeren Wirtszellen. Solche intra- 19
Übergang vom Einzeller- zum Vielzellerstatus gibt zellulären Symbiosen stellen den engsten Symbio-
es weitere Möglichkeiten für evolutive Großüber- sebezug dar, der überhaupt denkbar ist. In der 20
7
238 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

 EXKURS 3.1 (Fortsetzung) 

.. Abb. 3.14 a, b.  Beispiele für Endocytobiosen re-


zenter Einzeller. a das Grüne Paramecium, P. bursaria,
ist durch intrazelluläre, einzellige Grünalgen (Chlorella
lobophora) phototroph. b Glaucosphaera vacuolata,
ein einzelliger Glaucocystophyt, mit Cyanellen, endo-
cytischen Abkömmlingen von Cyanobakterien

rezenten Organismenwelt finden sich zahlreiche neue phyletische Entwicklungen einleiten kann. Sie
Beispiele für mutuelle Endocytobiosen. Als Endocy- entspricht dann einem evolutiven Großübergang.
tobionten treten dabei vielfach Bakterien auf, so die Er hat dergleichen als Symbiogenesis bezeichnet
N2-fixierenden Knöllchenbakterien (Rhizobium, Bra- und damit nach seiner Überzeugung „eine neue
dyrhizobium) der Leguminosen oder die Photosyn- Lehre von der Entstehung der Organismen“ ent-
these betreibenden Cyanobakterien im Erdpilz Geo- wickelt. Tatsächlich erzwingt ja der dauerhafte
siphon (s. unten). In vielen Fällen finden sich Einbau artfremder Zellen in eine Wirtszelle eine
eukaryotische Einzeller in Wirtszellen eingebaut, z. B. besonders enge Koevolution der Partner. Vor al-
einzellige Grünalgen („Zoochlorellen“) in bestimmte lem müssen das Teilungsverhalten beider Teilzel-
Amöben, Paramecien (. Abb. 3.14) und Hydren, len aufeinander abgestimmt und der gegenseitige
oder Dinophyceen („Zooxanthellen“) in Foraminife- Stoffaustausch optimiert werden. Den Startpunkt
ren und in die Polypenzellen von Riffkorallen. Dabei einer symbiogenetischen Entwicklung markiert der
gibt es neben vorübergehenden, fakultativen Endo- ursprüngliche Vereinigungsprozess ungleichartiger
cytobiosen stabilere Verbindungen, deren Partner in Zellen, die intertaxonische Kombination (ITC). Da-
der Natur zwar nur gemeinsam auftreten, nach bei ist wesentlich, dass es zwar zu einer stabilen
künstlicher Trennung aber auch einzeln zu überle- Vereinigung, aber nicht zu einer Fusion der Partner
ben vermögen. Dagegen können in obligaten Endo- kommt. Echte Zellfusionen, d. h. die Vermischung
cytobiosen die Partner ohne einander nicht mehr bisher getrennter Zellplasmen, sind nur zwischen
überleben. artgleichen Zellen möglich. Beispiele dafür sind die
Gametenverschmelzung bei Syngamie oder die Bil-
Symbiogenese dung vielkerniger quergestreifter Skelettmuskelfa-
Schon 1905 hat der russische Biologe Constantin sern aus einkernigen Myoblasten. Von artfremden
Mereschkowsky postuliert, dass die Etablierung Zellen können die natürlichen Fusionsbarrieren
stabiler, mutualistischer Endocytobiosesysteme offenbar nicht durchbrochen werden. Solche Zel-
7
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 239

 EXKURS 3.1 (Fortsetzung) 
.. Abb. 3.15 a, b.  Nucleomorphen in den Zellen 1
von a Pyrenomonas salina und b Chlorarachnion rep-
tans. P: Plastiden mit Pyrenoiden, Py; S: Stärke oder
entsprechende Speicherstoffe; N: Kern der Wirtszelle 2
(in b außerhalb der Schnittebene); M: Mitochon­
drien. Pfeile: Nucleomorphen, in beiden Fällen in die
Pyrenoide eingesenkt. Maßstab 1 µm. Elektronenmi-
3
kroskop. Aufnahmen von H. Falk (a) und V. Speth (b)
4
len können zwar durch Phagocytose- bzw.
Endocytose-ähnliche Mechanismen in Wirts-
zellen aufgenommen werden, sie bleiben
5
aber in Membran-umschlossenen Strukturen
und damit abgegrenzt gegen das Cytoplasma 6
der Wirtszelle. Das entspricht in vielen Fällen
der Situation bei rezenten Endocytobiosen,
die auch bei fortdauernder Symbiogenese
7
beibehalten werden kann (. Abb. 3.13).
Die Kombination vorher selbstständiger 8
Partner bei ITC und nachfolgender Symbio-
genese hat nur dann auf dem Prüfstand der 9
Selektion Bestand, wenn sie sich in mindes-
tens einer Hinsicht entscheidend ergänzen
können. Denn nur dann weist das neue Über-
10
system emergente Eigenschaften auf, die den
einzelnen Partnern nicht zukamen. Bei er- 11
folgreichen Endocytobiosen ist Arbeitsteilig-
keit, wie sie für Großübergänge typisch ist,
bereits vorgegeben. Und da beide Partner
12
ihre eigene genetische Information mit ein-
bringen, ist auch der Gehalt an genetischem 13
Material im Gesamtsystem von vornherein
entsprechend höher. Dazu zwei konkrete Bei- 14
-
spiele:
Geosiphon: Dieser unscheinbare Pilz
ohne Chloroplasten, der zu den Glome-
15
romycota gezählt wird, bildet unter ge-
eigneten Bedingungen etwa 1 mm große, 16
zartwandige Blasenzellen und nimmt in
diese durch Phagocytose Cyanobakterien
17
(Nostoc punctiforme) auf. Die endocytobi-
otischen Nostoc-Zellen betreiben Photo-
synthese, sie spielen im Pilz die Rolle von 18
Chloroplasten. Das Endocytobiosesystem
ist dadurch phototroph und vermag auch 19
Luftstickstoff zu assimilieren.

20
7
240 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

-
 EXKURS 3.1 (Fortsetzung) 
Paramecium bursaria: Das „Grüne Pantoffeltier- zess. Tatsächlich weisen Plastiden viele Typenmerk-
chen“ (. Abb. 3.14a) enthält mehrere hundert male von Protocyten auf (. Tab. 3.7) und verfügen
Chlorella-Zellen, die ihren heterotrophen Wirt über ein eigenes genetisches System. Nach RNA-
mit Produkten der Photosynthese – Maltose, und DNA-Sequenzvergleichen stammen sie aus
Glucose und Sauerstoff – versorgen und von dem Bereich der Cyanobakterien, wie schon Mer-
ihm mit anorganischen Ionen und CO2 beliefert eschkowsky postuliert hatte.
werden. Die Verdauung der eukaryotischen Für die Mitochondrien, die Atmungsorganellen
Symbionten durch den Wirt wird durch das Lek- der Eucyten, haben Sequenzvergleiche gezeigt,
tin Concanavalin A verhindert, ein Mannose dass sie dem Bereich der α-Proteobakterien ent-
und Glucose bindendes Oberflächenprotein stammen. Somit gehen auch alle atmenden Euka-
der Chlorellen. Chlorellen, die dieses Lektin ryoten (das sind die allermeisten) auf einen phylo-
nicht bilden können, werden im Paramecium genetischen Großübergang zurück, der auf ITC und
wie andere Nahrungspartikel abgebaut. Das Symbiogenese beruht. So haben sich also jene bei-
Grüne Pantoffeltierchen ist im Gegensatz zu den Organellen, die bei den meisten Eukaryoten
anderen Paramecien phototaktisch, es bringt den zellulären bzw. organismischen Energiebedarf
also seine „Gäste“ in günstige Lichtbedingun- befriedigen, aus endocytierten Prokaryoten evolu-
gen für optimale Photosynthese. Das gesamte iert. Es ist ein Verdienst von Lynn Margulis, die En-
Endocytobiosesystem kann bei Licht in rein dosymbiontenhypothese in den 70er und 80er Jah-
anorganischen Medien kultiviert werden. Die ren des letzten Jahrhunderts so popularisiert zu
Paramecium-Chlorella-Symbiose ist nicht obli- haben, dass sie heute zum Lehrbuchwissen zählt.
gatorisch, beide Partner sind unter geeigneten Bei den heute lebenden Organismen verfügen
Umständen auch zu selbstständigem Leben nun allerdings weder Plastiden noch Mitochond-
befähigt. Doch wird dank seinem Selektionsbo- rien über genügend eigene genetische Informa-
nus in freier Natur nur das komplette Symbio- tion, um alle ihre Proteine selbst synthetisieren zu
sesystem gefunden. können. Während der Koevolution (Symbiogenese)
von Symbiont und Wirt ist ein Großteil des Symbi-
Die Endosymbiontentheorie ontengenoms durch intrazellulären Gentransfer in
Schon vor über hundert Jahren hatte Andreas den Kern der eukaryoten Wirtszelle verlagert wor-
Schimper nachgewiesen, dass Plastiden in den den. Dadurch wurde die Steuerung wesentlicher
Eizellen der Pflanzen nicht neu gebildet, sondern Leistungen der Endocytobionten zentralisiert. Die
in ununterbrochener Folge über die Eizellen von Symbionten wurden zu Xenosomen reduziert, die
den Mutterpflanzen auf die Nachkommen über- außerhalb der Wirtszelle nicht mehr auf Dauer
tragen werden. Zeitgleich hatte Friedrich Schmitz überleben können. Die Vereinigung der taxono-
für die Plastiden von Algen gezeigt, dass sie nicht misch so unterschiedlichen Zellen bzw. Genome ist
aus dem Zellplasma neu gebildet werden können, damit unauflöslich. Eucyten sind genetische Chi-
sondern immer nur durch Teilung aus ihresgleichen mären, nicht eigentlich Einzelzellen, sondern Mo-
hervorgehen. Entsprechendes wurde bald auch für saikzellen. Dennoch verhalten sie sich wie einheit-
Mitochondrien vermutet. liche Zellen.
C. Mereschkowsky hat dann eine bereits von Unter den Algen gibt es die kleine, heterogene
Schimper (und nach ihm noch mehrfach) geäu- Gruppe der Glaucocystophyten, die alle wesentli-
ßerte Vermutung zu einer konsequenten Hypo- chen Aussagen der Endosymbiontentheorie gut il-
these großer Tragweise ausgebaut. Danach geben lustrieren kann. Die Vertreter dieser Gruppe waren
Plastiden stammesgeschichtlich auf endosymbio- durch ihre blaugrün gefärbten Plastiden aufgefal-
tische Cyanobakterien zurück; die verschiedenen len, die schon im Lichtmikroskop an Cyanobakte-
Algen und grünen Pflanzen verdanken ihre Befähi- rien erinnern (. Abb. 3.14). Sie werden daher als
gung zur Photosynthese einem Symbiogenesepro- Cyanellen bezeichnet, die stabilen Endocytobio-
7
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 241

 EXKURS
 EXKURS 3.1 (Fortsetzung) 
3.1 (Fortsetzung) 
1
.. Tab. 3.7  Prokaryotische Eigenschaften von Plastiden und Mitochondrien

Genom: meist zirkuläre DNA mit Membrananheftung, ohne Histone und Nucleosomen; mehrere
Kopien in Nucleoiden konzentriert; Gene z. T. in prokaryotische Anordnung (Operonstruk-
2
tur); hoch-repetitive Sequenzen selten bis fehlend

Ribosomen: 70S Typ, Chloramphenicol-sensitiv 3


Peptidoglycan: bei den Plastiden der Glaucocystophyten vorhanden.

Translation: keine Cap-Struktur am 5′-Ende der mRNAs, prokaryotisches Komplement von Initiations-
4
faktoren

Tubulin und in den Organellen fehlend. Bei der Teilung von Plastiden (und bei der Teilung von Mito- 5
Aktin: chondrien mancher Algengruppen) wirkt das bakterielle, Tubulin-homologe Zellteilungs-
protein (FtsZ) mit
6
Plastidäre Fett- wie bei Bakterien mithilfe von Acylcarrierproteinen
säuresynthese:

Cardiolipin: als Membranlipid bei Bakterien verbreitet, fehlt in Eucytenmembranen außer in der inne-
7
ren Mitochondrienmembran
8
sesysteme als Endocyanome. Inzwischen haben Endocytobiose erklärt werden (. Abb. 3.13). In die-
elektronenmikroskopische, biochemische und mo-
lekularbiologische Untersuchungen gezeigt, dass
sem Fall waren nicht nur die Wirtszellen, sondern
auch die Endosymbionten eukaryote Zellen (und
9
es sich bei den Cyanellen tatsächlich um Abkömm- nicht Prokaryoten, wie bei der primären Endocyto-
linge aufgenommener Cyanobakterien handelt, die biose). Bei den Algen, die Plastiden mit vier Hüll- 10
sich zu Plastiden evolviert haben. So ließen sich membranen haben, war der sekundäre Endosymbi-
zwar an den Cyanellen noch Reste prokaryotischer ont ursprünglich offenbar ein phototropher Protist, 11
Zellwände nachweisen, aber ihr Genom ist bereits dessen Plastoplasma vom Cytoplasma der Wirtszelle
großenteils in den Kern der Wirtszelle verlagert wie nun durch vier Membranen getrennt ist. In einem
bei Chloroplasten. Dementsprechend ist bei den solchen System aus zwei artverschiedenen Mosaik-
12
Glaucocystophyten – im Gegensatz zu Geosiphon zellen finden sich viele einander entsprechende
– die Endocytobiose obligatorisch, die Partner kön- Zellstrukturen und Gene sowohl im Wirt wie auch im 13
nen nicht getrennt voneinander kultiviert werden. Symbionten. Man kann nun annehmen, dass der

Sekundäre Endocytobiose: Eucyten in Eucyten


Symbiont während der Symbiogenese durch Elimi-
nierung überflüssiger Zellorganellen immer weiter
14
Die Plastiden der höheren Pflanzen sowie der Glau- reduziert wurde, bis im Extremfall schließlich nur
cocystophyten, Rot- und Grünalgen sind von zwei seine Plastiden übrig blieben als die einzigen Orga- 15
Membranen umgeben (. Abb. 3.13). Die Plastiden nellen, die der Wirtszelle gefehlt hatten. Dies scheint
aller übrigen Algen haben allerdings mehr als zwei
Hüllmembranen. Solche „komplexe“ Plastiden mit
allerdings nur die Spitze des Eisbergs zu sein, die 16
ansatzweise auch morphologisch nachweisbar ist.
drei Hüllmembranen finden sich bei den Euglenen Denn neue genomische und bioinformatische Daten
und den meisten Dinoflagellaten, solche mit vier lassen den Schluss zu, dass die Wirtszelle einiger se-
17
Membranen sind charakteristisch für alle Heterokon- kundär evolvierter Organismen bereits phototroph
ten von den Xantho- und Chrysophyceen bis zu den war, d. h. bereits eine Plastide besaß. Somit wäre 18
Kiesel- und Braunalgen, ferner für die Haptophyten, eine bereits vorhandene Plastide mittels Endosym-
Cryptomonaden und Chlorarachniophyten sowie für
einige Alveolaten (s. unten). Die evolutive Entste-
biose durch eine komplexe ausgetauscht, ein Szena-
19
rio, das den Mosaikcharakter dieser Zellen entschei-
hung komplexer Plastiden kann durch sekundäre dend vergrößert.
20
7
242 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

 EXKURS 3.1 (Fortsetzung) 
Komplexe Plastiden geben ihre Abstammung len deutlich hervortritt, weil sie noch nicht durch
aus einem phototrophen, endosymbiontischen Eu- sekundäre Veränderungen während einer langen
cyten in den meisten Fällen nur noch durch die vier Symbiogenese verschleiert ist. So lässt sich etwa
oder drei umhüllenden Membranen morpholo- beim Grünen Paramecium (. Abb. 3.14) klar er-
gisch zu erkennen. Nun konnte allerdings bei zwei kennen, dass fünf verschiedenartige Zellen inei-
Algengruppen überzeugend gezeigt werden, dass nander geschachtelt sind: die Wirtszelle (1) mit
sie ihre Plastiden tatsächlich durch sekundäre En- ihren Mitochondrien (2), sowie die endocytischen
docytobiose erworben haben. Sowohl bei den ein- Chlorellen (3) mit ihren Plastiden (4) und Mito-
zelligen, biflagellaten Cryptomonaden als auch bei chondrien (5).
den Chlorarachniophyten liegen die beiden Mem-
branpaare ihrer komplexen Plastiden nicht wie Die Herkunft der Eukaryoten
sonst unmittelbar aneinander, sondern sind durch Nach der Endosymbiontentheorie sind also die Mi-
schmale Cytoplasmasäume voneinander getrennt. tochondrien und Plastiden, die hauptsächlichen
Diese sind sicher eukaryotischen Ursprungs, weil Energielieferanten der Eucyten, als Prokaryoten in
sie 80S Ribosomen enthalten und einen kleinen die Zellen urtümlicher Eukaryoten endocytiert wor-
Zellkern, das Nucleomorph (. Abb. 3.13, 3.14). Das den. Dabei besteht über die phyletische Herkunft
in den Nucleomorphen enthaltene Genom besteht der Endocytobionten heute Klarheit. Offen ist aber
in beiden Fällen aus drei sehr kleinen, linearen die Frage, woher ihre Wirte kamen, jene urtümli-
Chromosomen, deren rRNA-Gensequenzen sich chen Einzeller („Ur-Karyoten“ oder „Protoeukaryo-
eindeutig von denen der Wirtszellkerne unterschei- ten“), die weder Mitochondrien noch Plastiden
den. Die Pigmente der Plastiden und Sequenzver- besaßen und aus denen sich die modernen Eucyten
gleiche haben gezeigt, dass die sekundären Endo- entwickeln konnten.
symbionten der Cryptomonaden von Rotalgen Wenn alles Leben dieser Erde auf einen gemein-
abstammen, jene der Chlorarachniophyten von samen Ahnen zurückgeht (Cenancestor bzw.
Grünalgen. „LUCA“, Last Universal Cellular Ancestor), dann legen
Die Erforschung phyletisch sekundärer En- eklatante Unterschiede in den rRNA-Sequenzen das
docytobiosen kann übrigens auch für die Medi- Drei-Domänen-Konzept nahe (. Abb. 3.16). Die
zin wichtig sein. Sowohl Toxoplasma gondii, der Stämme der Archaeen, Bakterien und Eukaryoten
Erreger der Toxoplasmose, wie auch der Malaria- sollten sich danach sehr frühzeitig voneinander ge-
Parasit Plasmodium falciparum (beide zum Stamm trennt haben. Nun weisen die Archaeen in den Ge-
der Apicomplexa gehörend) enthalten komplexe nen für Replikation, Transkription und Translation
Plastiden („Apicoplasten“), die von vier Membra- auffällige Ähnlichkeiten zu den Eukaryern auf. Daher
nen umgeben sind. Die Apicoplasten sind photo- wird angenommen, dass sich die Bakterien noch vor
synthetisch inaktiv, dennoch zeigen Genvergleiche, der Trennung der Stammlinien von Archaeen und
dass sie auf internalisierte Rotalgen zurückgehen. Eukarya vom zunächst gemeinsamen Stammbaum
Somit zeigt dies den Übergang von einer photosyn- abgetrennt und ihre eigene Entwicklung einge-
thetisch aktiven Zelle hin zu einem intrazellulären schlagen haben. Die Hoffnung, durch weitere Se-
Parasiten. Neben diesen wichtigen evolutionären quenzvergleiche diese Vorstellung konkretisieren zu
Erkenntnissen eröffnet dieses Wissen die Möglich- können, hat sich allerdings nicht erfüllt – im Gegen-
keit, diese gefährlichen Parasiten durch Pharmaka teil. Je mehr DNA-, RNA- und Proteinsequenzen be-
auszuschalten, die spezifisch auf den Stoffwechsel kannt geworden sind, desto verwirrender wurde das
von Plastiden einwirken, was die Gefahr ungünsti- Bild. Der intertaxonische, horizontale Gentransfer
ger Nebenwirkungen mindert. (HGT) hat sich durch den Vergleich ganzer Genom-
Für sekundäre Endocytobiosen mit zwei eu- sequenzen als sehr weit verbreitet erwiesen. Der
karyoten Partnern gibt es rezente Beispiele, bei Stammbaum des Lebens nimmt immer mehr den
denen die Mosaik-Natur der resultierenden Zel- Charakter eines Netzwerkes an. Die in . Abb. 3.16a
7
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 243

 EXKURS 3.1 (Fortsetzung) 
1
2
3
4
.. Abb. 3.16 a, b.  a Allgemeiner Stammbaum des Organismenreiches nach Sequenzvergleichen ribosomaler RNAs,
Drei-Domänen-Konzept (verändert nach C. R. Woese). b Basis des allgemeinen Stammbaumes nach neueren Vorstel- 5
lungen: Die Domäne der Eucarya ist sekundär durch eine Symbiogenese von Vertretern der beiden prokaryotischen

6
Domänen entstanden (in Anlehnung an Martin u. Müller 1998, Rivera u. Lake 2004)

eingezeichnete gemeinsame Wurzel aller Stamm- umhüllte Organellen enthalten (Mitosomen bzw.
bäume ist jedenfalls hinsichtlich ihrer Positionierung Hydrogenosomen, s. unten). Schließlich fanden 7
ganz unsicher. Es ist sogar fraglich, ob das gesamte sich in ihrer Kern-DNA Sequenzen, die nur von
irdische Leben nur eine einzige Wurzel hat. Die Bil- Mitochondrien stammen können. Auch andere
dung erster Zellen (Progenoten) aus den damals Molekulardaten sprechen dafür, dass die ehemals
8
verfügbaren Bausteinen hätte theoretisch mehrfach als Archaezoen bezeichneten Organismen extrem
unabhängig voneinander erfolgt sein können. Ge- abgeleitete Einzeller sind, die ursprünglich Mito- 9
gen jene Vorstellung und für den gemeinsamen Ur- chondrien besaßen.
sprung allen Lebens spricht jedoch die Universalität
des genetischen Codes sowie die universelle Ver-
Durch diese Befunde ist das Stammbaum-
10
schema von . Abb. 3.16 in Frage gestellt, alterna-
wendung von L-Aminosäuren beim Aufbau der Pro- tive Vorstellungen wurden entwickelt. Eine Hypo-
teine am Ribosom. these, die sich unter anderem auf die besonderen 11
Gibt es heute noch – als lebende Fossilien – Stoffwechselverhältnisse bei den Trichomonaden
urtümliche eukaryotische Einzeller, an denen klä- und Diplomonaden stützt, ist die Wasserstoffhypo- 12
rende Untersuchungen vorgenommen werden these. Ihr Basispostulat ist, dass bereits die ersten
könnten? Eine Zeit lang war angenommen wor-
den, dass es tatsächlich rezente Protoeukaryoten
Eucyten das Produkt einer zellulären Symbiose wa-
ren. Die Partner jener Symbiose waren demnach H2-
13
in Gestalt der mitochondrienlosen und plastiden- abhängige, methanogene Archaeen als Wirtszelle
freien Archaezoen gäbe. Zu diesen wurden einst und zur H2-Produktion befähigte α-Proteobakterien 14
die protozoischen Diplomonaden, Trichomonaden, als Mitochondrien. Die Eukaryer wären durch Sym-
Hypermastiginen und Microsporidien gezählt. biogenese entstanden. 15
Diese Gruppen weisen nämlich von den übrigen α-Proteobakterien sind fakultative Anaerobier, sie
Eukaryern relativ stark abweichenden DNA-, RNA- können auch ohne O2 leben und gewinnen das erfor-
und Proteinsequenzen auf, die eine frühzeitige Ab- derliche ATP dann nicht durch Atmung, sondern – 16
spaltung der genannten Gruppen im Stammbaum wenn auch weniger effizient – durch Gärung. Dabei
der Eukaryoten nahelegen. Aber abweichende wird in vielen Vertretern Pyruvat in H2, CO2 und Essig- 17
Sequenzen können sowohl auf eine basale phylo- säure gespalten. Dieselbe Reaktion führen auch Hyd-
genetische Stellung als auch auf stark abgeleitete
Merkmale spät abzweigender Gruppen hindeuten.
rogenosomen aus, die nach Größe und Form Mito-
chondrien entsprechen, wie diese eine doppelte
18
Bei diesen Organismen handelt es sich nämlich um Membranhülle besitzen und sich durch Querteilung
obligate Parasiten, die auf funktionelle Mitochond- vermehren, aber in der Regel keine DNA enthalten. 19
rien nicht angewiesen sind. Auch hat sich gezeigt, Das Kerngenom von Zellen mit Hydrogenosomen ent-
dass ihre Zellen DNA-freie, von Doppelmembranen hält Gene für mitochondriale Hitzeschockproteine. 20
7
244 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

 EXKURS 3.1 (Fortsetzung) 
3–1 (Fortsetzung) 
Hydrogenosomen sind also offenbar anaerobe For- – über Histone und vermögen dementsprechend
men der Mitochondrien (und damit letztlich Ab- ihre DNA in Nucleosomen zu kompaktieren.
kömmlinge vom gleichen α-proteobakteriellen Endo- Sobald Sauerstoff zur Verfügung stand, konn-
symbionten, der die aeroben Mitochondrien ten die bakteriellen Endocytobionten ihre At-
hervorbrachte). Die allermeisten Hydrogenosomen mungskette als Mitochondrien verwenden, unter
haben nicht nur einen Teil, sondern ihre gesamte DNA anaeroben Bedingungen blieb die Fermentationen
an den Kern der Wirtszelle abgegeben. Eine wichtige der Hydrogenosomen. Der Wasserstoffhypothese
Ausnahme ist jedoch beim Ciliaten Nyctotherus ovalis nach stammen alle Eukaryoten aus mitochondri-
anzutreffen, dessen Hydrogenosomen noch ein klei- enhaltigen Vorfahren ab, Eukaryoten ohne Mito-
nes Genom beibehalten haben, das Genom eines Ci- chondrien wären somit allesamt als abgeleitete
liaten-Mitochondriums, was die phylogenetische Formen einzuordnen, was sich soweit mit den Be-
Identität der Hydrogenosomen und der Mitochond- funden bis dato deckt. Rezente Übergangsformen
rien belegt. zwischen Mitochondrien und Hydrogenosomen,
Viele rezente anaerobe Protozoen, die Hyd- die sogenannten anaeroben Mitochondrien sind
rogenosomen enthalten (z. B. der Ciliat Plagio- bekannt. Der geforderte Transfer von Genen aus
pyla frontata, aber eben auch Trichomonaden dem Genom der Mitochondrien und deren Integ-
und Diplomonaden), bergen zusätzlich metha- ration im Genom der Wirtszelle ist in der Natur ein
nogene Archaeen als Endocytobionten. Diese ganz gewöhnlicher Vorgang, wie die Analyse euka-
erzeugen aus H2 und CO2 Methan (CH4) und H2O ryotischer Kerngenome belegt. Einige Eukaryoten
und bilden dabei ATP. Hydrogenosomen und besitzen weder Mitochondrien noch Hydrogeno-
Methanogene sind in den sie enthaltenden Zel- somen. Zumindest bei den gut untersuchten Ver-
len verständlicherweise eng assoziiert. Im Sinne tretern konnte allerdings ein weiteres Komparti-
der Wasserstoffhypothese kann man in solchen ment nachgewiesen werden, dass wie die
Assoziationen Abbilder der Entstehung der Eu- Mitochondrien und Hydrogenosomen von zwei
cyten sehen: Methanogene Archaeen lagerten Membranen umgeben und α-proteobakteriellen
sich unter anaeroben Bedingungen an gärende Ursprungs ist, die Mitosomen. Diese liefern der
α-Proteobakterien an, deren H2-Ausscheidung Wirtszelle allerdings kein ATP. Ihre essenzielle
sie unabhängig machte von abiotischen Wasser- Funktion ist in der Synthese von Eisen-Schwefel-
stoffquellen. Im Zuge der weiteren Symbiogenese Clustern zu suchen, wichtigen Komponenten eini-
konnten diese Assoziationen dadurch gefestigt ger Proteine, die in Mitochondrien, Hydrogenoso-
werden, dass die Methanogenen ihre H2-Liefe- men oder Mitosomen synthetisiert und dem
ranten schließlich ganz umwuchsen und sie sich Cytoplasma der Wirtszelle zur Verfügung gestellt
damit total einverleibten – die primäre Endocyto- werden.
biose. Die stabile intrazelluläre Lebensweise der Der allgemeine Stammbaum muss nach dieser
α-proteobakteriellen Endosymbionten erforderte Hypothese umgezeichnet werden (. Abb. 3.16). Nach
jedoch Gentransfer vom Symbionten zum Wirt. ihr gab es zunächst nur zwei Domänen, die Eukarya
Durch den Transfer von Genen für Transportpro- wären erst später aus einer intertaxonischen Vereini-
teine der Zellmembran vom Bakteriengenom in gung bestimmter Vertreter dieser Domänen hervor-
das Archaeengenom konnte ja auch die zur Wirts- gegangen. Schon die urtümlichsten Eukarya hätten
zelle gewordene Archaeenzelle die organischen außerdem bereits Proteobakterien enthalten und
Substrate für die Gärung ihrer Symbionten aus brauchten sie sich (entgegen der entsprechenden
der Umwelt aufnehmen und sie an diese weiter- Aussage der Endosymbiontentheorie) nicht erst nach-
geben. Zugleich wurde durch diesen Gentransfer träglich einzuverleiben. Doch wären auch nach dieser
die zur Endocytobiose avancierte Assoziation un- Vorstellung zwei unterschiedliche, zunächst selbst-
auflöslich. Nebenbei: Gerade die methanogenen ständige Organismen mit unterschiedlichen, sich aber
Archaeen verfügen – wie sonst nur Eukaryoten ergänzenden metabolischen Fähigkeiten zu einem
7
3.2  •  Grundlagen der Molekularbiologie und Genetik 245

 EXKURS 3.1 (Fortsetzung) 
komplexeren System zusammengetreten und hätten Trotz dieser und anderer noch offener Fragen 1
damit einen fundamental neuen, überaus erfolgrei- steht heute fest, dass es in der Evolution nicht nur
chen Evolutionsprozess gestartet. zu ständigen Verzweigungen von Stammbäumen 2
(Kladogenese) gekommen ist, sondern gelegent-
Offene Probleme lich auch zu folgenschweren Vernetzungen.
Von den geschilderten, noch weiter zu prüfenden Durch ITC und Symbiogenese können sich weit
3
Hypothesen werden andere wesentliche Aspekte getrennte Zweigenden evolutiver Stammbäume
der Eucytenevolution nicht berührt. Wie bildeten zu Startpunkten für neue Entwicklungslinien 4
sich die zahlreichen Endomembranen (endoplas- verbinden. Die Formierung stabiler intertaxoni-
matisches Reticulum und Kernhülle, Golgi-Dictyoso-
men, Vakuolen usw.)? Sind sie, wie zu vermuten ist,
scher Kombinationen ist damit neben Mutation,
5
genetischer Rekombination und horizontalem
letztlich Abkömmlinge der Plasmamembran? Wie Gentransfer ein wichtiger Motor der Evolution,
entstanden aus einem einzigen DNA-Ring mehrere zumal er auch evolutive Großübergänge zu pro- 6
lineare Chromosomen mit besonderen Telomeren vozieren vermag.
und zahlreichen Startpunkten der Replikation?
7
8
In den Mitochondrien ist die DNA ring- Das Chloroplastengenom (cpDNA) ist 120–200
förmig aufgebaut (. Abb. 3.17), wie bei den kB groß und kommt 20- bis 40-mal in einem einzel- 9
α-Proteobakterien, aus denen die Mitochondrien nen Chloroplasten vor. Da eine Pflanzenzelle bis zu
ursprünglich durch Endosymbiose entstanden sind 40 Chloroplasten enthält, liegt die Gesamtzahl der
(s. EXKURS 3.1). In Pflanzenzellen finden wir außer- cpDNA-Kopien zwischen 800 und 1600 pro Zelle.
10
dem extranukleäre ringförmige DNA in den Chlo- Auch in den Chloroplastengenomen ist die lineare
roplasten (. Abb. 3.18), die sich ursprünglich aus Anordnung der Gene innerhalb der verschiedenen 11
Cyanobakterien entwickelt haben. Mitochondrien photosynthetisch aktiven Eukaryoten sehr ähnlich.
und Chloroplasten werden niemals de novo gebildet, Dies deutet auf einen gemeinsamen Ursprung hin. 12
sondern vermehren sich (ähnlich wie Bakterien) Auffällig ist eine inverse Verdopplung eines größe-
durch Teilung. Es liegt also eine klonale Vererbung ren Sequenzabschnitts (. Abb. 3.18).
vor. Bei jeder Zellteilung werden diese Organellen Das Mitochondriengenom (mtDNA) ist bei 13
auf die Tochterzellen verteilt. Auch Replikation, Tieren mit ca. 14–19 kB deutlich kleiner als bei
Transkription und Proteinbiosynthese laufen heute Pflanzen. Es enthält bei den meisten Tieren 13 14
noch in den Mitochondrien und Chloroplasten ab, Gene, die für Enzyme oder andere am Elektro-
jedoch sind diese Organellen nicht länger autonom. nentransport beteiligte Proteine codieren, und
Sie importieren die meisten ihrer Proteine aus dem Gene für tRNAs sowie zwei für rRNAs. Die lineare
15
Cytoplasma. Die zugehörigen Gene waren ursprüng- Anordnung der mitochondrialen Gene ist bei den
lich einmal Bestandteil der Endosymbionten, wurden Eukaryoten weitgehend konstant, was auf einen 16
dann aber zunehmend in den Kern ausgelagert, so gemeinsamen Ursprung der Mitochondrien hin-
dass heute nur ein vergleichsweise kleiner Bausatz deutet. Kleine Unterschiede, die auf einer Inver- 17
an Genen in Mitochondrien und Chloroplasten übrig sion von Genen beruhen, ergeben sich jedoch z. B.
geblieben ist (. Abb. 3.17, . Abb. 3.18). Im Gegen- zwischen Säugetieren und Vögeln (. Abb. 3.17).
satz zu vielen Protein-codierenden Genen verblieben Da jede tierische Zelle mehrere Hundert bis 18
die tRNA- und rRNA-Gene in diesen Organellen. über 1000 Mitochondrien und jedes davon 5–10
Mitochondrien sind strukturell sehr dynamische mtDNA-Kopien enthält, liegt die Gesamtzahl der 19
Organellen, die regelmäßig Fusionsprozesse mit mtDNA-Kopien bei mehreren Tausend pro Zelle.
anderen Mitochondrien einer Zelle durchlaufen und Die mtDNA macht etwa 1 % der Gesamt-DNA-
auf diese Weise ihre DNA offenbar durchmischen. Menge einer Zelle aus.
20
246 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

.. Abb. 3.17  Schematische Übersicht über die Anordnung


der Gene in Mitochondrien von Vögeln, Mensch und anderen
Säugetieren (ohne Beuteltiere) sowie Amphibien (nach
Mindell 1997). Im Vergleich zu anderen Vertebraten ist bei
Vögeln ein Teil der mtDNA neu arrangiert, indem das ND6-Gen
(links oben) zwischen Cytochrom b und der Kontrollregion
inseriert wurde. Die Kontrollregion wird auch als D-Loop
bezeichnet und enthält den Replikationsursprung (origin of
replication). Der äußere DNA-Strang wird als H-Strang, der
innere als L-Strang bezeichnet (H von heavy; L von light). ND:
NADH-Dehydrogenase mit den Untereinheiten ND1 bis ND6;
CO: Cytochrom-Oxidase mit den Untereinheiten COI bis COIII;
ATP: ATPase mit den Untereinheiten ATPase 6 und 8; 12S: 12S
rRNA-Gen; 23S: 23S rRNA-Gen. Die gelben Querstriche stellen
tRNA-Gene dar; in vielen Fällen stehen sie zwischen Protein-
codierenden Genen. Weiße Querstriche deuten die Grenzen
von Genen an

.. Abb. 3.18  Übersicht über die Gene


im Chloroplastengenom einer Alge
(Nephroselmis olivacea) mit 200.799
Basenpaaren (nach Turmel et al. 1989).
Das Genom enthält 200 Gene, davon
155 Protein-codierend und 45 RNA-
Gene. Im Chloroplastengenom wurde
ein DNA-Abschnitt verdoppelt und
invers orientiert eingebaut; sogenannte
inverted repeat, IRA und IRB. Einige Gene
werden vom äußeren H-Strang, andere
vom inneren L-Strang codiert. In vielen
phylogenetischen Arbeiten wird das
rbcL-Gen, das für die große Untereinheit
der Rubisco codiert, als Markergen
eingesetzt. Jedes Kästchen entlang der
ringförmigen DNA entspricht einem
Gen, das durch eine Abkürzung eindeu-
tig gekennzeichnet wird, so dass man
Chloroplastengenome untereinander
vergleichen kann
3.3  •  Veränderlichkeit und Vererbung der genetischen Information 247

Bislang ungeklärt ist, warum Pilze und vor allem sten; die cpDNA liegt in der Evolutionsgeschwin-
Pflanzen Mitochondrien besitzen, deren DNA um digkeit zwischen beiden Extremen. 1
ein Vielfaches größer ist als die der Tiere. Mitochon- Bakterien weisen zusätzlich zu einem ringför-
driengenome von Pilzen weisen große Längenun- migen Chromosom mehrere kleine ringförmige 2
terschiede auf und enthalten zwischen 20 und 100 DNA-Moleküle auf, die Plasmide, welche häufig
kB. Pflanzliche Mitochondrien haben dagegen sehr Gene enthalten, die für Antibiotikaresistenz codie-
große Genome (über 140–2500 kB) und weisen z. T. ren. Plasmidähnliche DNA-Elemente wurden auch 3
Gene mit Intron-/Exonstruktur auf. in Mitochondrien und Chloroplasten nachgewiesen,
Bedingt durch die hohe Kopienzahl der mtDNA in denen sie aber angeblich keine Funktion haben. 4
und cpDNA eignen sich diese Genome besonders Vielleicht helfen sie, über Rekombination die DNA-
gut für die molekulare Evolutionsforschung, da sie Sequenzen der Organell-DNA einheitlich zu halten;
leichter zugänglich sind als single-copy-Gene der denn extrachromosomale Elemente der Bakterien
5
Kern-DNA, die nur in wenigen Kopien pro Zelle ermöglichen auch bei den haploiden Prokaryoten
vorkommen ( Kap. 4). Für die Betrachtung der Rekombinationsvorgänge. 6
molekularen Systematik ist außerdem die Tatsa-
che wichtig, dass Mitochondrien fast immer und 7
Chloroplasten bei höheren Pflanzen bei ca. 70 % 3.3 Veränderlichkeit
der Arten maternal (also nicht nach den Mendel- und Vererbung der
schen Regeln; s. Abschn. 3.5.2) vererbt werden. genetischen Information 8
Über die Analyse von mtDNA und cpDNA kann
man streng genommen nur maternale Linien zu-
|
Übersicht              | 9
rückverfolgen.
Experimentelle Befunde deuten jedoch dar-
aufhin, dass bei der Befruchtung doch einige Mi-
In diesem Kapitel werden die genetischen Grund- 10
lagen besprochen, die der Veränderlichkeit und
tochondrien aus den Spermien in die Eizelle (die
sehr viele Mitochondrien aufweist) gelangen, so
Vererbung der genetischen Information zugrunde
liegen. Während die Mitose wichtig ist, um die
11
dass die Hypothese der rein maternalen Vererbung Tochterzellen mit einem identischen Genom
vermutlich nur begrenzt stimmt und im Einzelfall auszustatten, erzeugt die Meiose durch zufällige 12
zu prüfen ist. Nach allgemeiner Ansicht unterliegen Mischung der haploiden Chromosomensätze und
mtDNA und cpDNA außerdem keiner Rekombi-
nation (s.  Abschn. 3.3.3). Überraschenderweise
durch Rekombination von DNA-Abschnitten der 13
mütterlichen und väterlichen Chromosomen die
sind die DNA-Sequenzen der mtDNA in einem notwendige genetische Variation der Genotypen,
Individuum weitgehend identisch, was eigentlich an der die natürliche Selektion angreifen kann. 14
auf Rekombinationsvorgänge oder Genkonversion Weitere wichtige Themen sind die Art, Auslösung
hinweist. Vermutlich finden Rekombinations- und
Genkonversionsvorgänge (s. Abschn. 3.3.3 u. 3.4.2)
und Häufigkeit von Mutationen. 15
auch in der mtDNA bei Tier und Mensch statt.
Da sich die DNA-Polymerasen und Reparatur­ 16
enzyme der Mitochondrien und Chloroplasten Darwin schrieb 1872: „variations, … if they be in
untereinander und von denen des Zellkerns un- any degree profitable to the individuals of a species, 17
terscheiden, beobachtet man unabhängige und un- … will tend to the preservation of such individuals,
terschiedlich schnelle Evolutionsraten der mtDNA and will generally be inherited by the offspring … I
und cpDNA. Bei Tieren ist die Rate der Nucleotid- have called this principle, by which each slight va- 18
substitutionen in den Mitochondrien etwa zehnmal riation, if useful, is preserved, by the term Natural
höher als die der DNA im Zellkern (ncDNA), da die Selection“. („Variationen, die auf irgendeine Weise 19
mitochondriale Replikation eine höhere Fehlerrate einem Individuum einer Art nützen, werden zum
aufweist. In Pflanzen dagegen ist die mtDNA am Überleben dieser Individuen beitragen und an die
stärksten konserviert und die ncDNA am variabel­ nachkommenden Generationen weitergegeben ….
20
248 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

Ich habe dieses Prinzip, durch das jede kleine Va-


riation, falls nützlich, beibehalten wird, Natürliche
Selektion genannt.“). Damit kommt der Frage, auf
welche Weise Variabilität entstehen kann, eine ent-
scheidende Bedeutung zu.
In diesem Kapitel werden wir erörtern, wie die
Variabilität der genetischen Information zustande
kommen kann.

3.3.1 Mutationen

Die Struktur der DNA muss relativ stabil sein und


DNA muss nahezu fehlerfrei repliziert und transkri-
biert werden, um als verlässlicher Informations- und
.. Abb. 3.19  Schematische Darstellung der Auswirkung von
Erbträger dienen zu können. Andererseits müssen Punkt- und Genmutationen
Erbänderungen (Mutationen) zugelassen werden,
um die notwendige Variabilität für die natürliche umgedreht wurden (Inversion). Die Auswirkungen
Selektion zu schaffen. Offensichtlich haben sich von Punktmutationen oder dem Herausschneiden
die Mutationsraten bei allen Organismen im Laufe von Sequenzelementen sind in . Abb. 3.19 und
der Evolution auf ein Niveau eingependelt, das eine . Abb. 3.20 erläutert. Wird der Leserahmen des
Weiterentwicklung der Organismen ermöglicht genetischen Codes in einem Protein-codierenden
und positive und negative Mutationseffekte in ein Gen durch Deletionen und Insertionen einzelner
Gleichgewicht bringt. Basenpaare verändert, entstehen häufig Frame-shift-
Unter einer Mutation versteht man Veränderun- Mutationen; d. h. die nachfolgende Basenreihenfolge
gen der DNA, die einzelne Basen oder auch längere ist zwar identisch, jedoch wurde das Leseraster um
Sequenzbereiche auf den Chromosomen betreffen ein oder zwei Basen verschoben, so dass jetzt andere
können. Mutationen können spontan oder nach Codons entstehen. Dadurch geht die Funktionalität
Induktion (z. B. durch mutagene Substanzen oder des betreffenden Proteins verloren.
ionisierende Strahlung) auftreten. Punktmutationen Punktmutationen, bei denen es sich um den
liegen vor, wenn nur einzelne oder wenige Nucleo- Austausch (Substitution) einzelner Basen han-
tide ausgetauscht wurden (. Abb. 3.19). Man spricht delt, werden in zwei große Klassen unterteilt

-
von single nucleotide polymorphisms (SNPs), wenn (. Abb. 3.21):
Punktmutationen in einer Population an identischen Transitionen: Darunter versteht man die
Stellen in einem DNA-Abschnitt auftreten. Man Substitution einer Pyrimidinbase durch eine
schätzt, dass sich jeder Mensch von einem anderen andere, d. h. T → C oder umgekehrt, oder einer
Menschen durch 1–10 Mio. Punktmutationen unter- Purinbase durch eine andere, d. h. A → G oder
scheidet. Erfolgen Mutationen innerhalb von Tran- umgekehrt (. Abb. 3.21). Transitionen stellen
skriptionseinheiten, sprechen wir von Genmutatio- die häufigste Klasse der Punktmutationen dar
nen; sind mehrere Gene, Chromosomenabschnitte (u. a. durch Fehlpaarung tautomerer Basen
oder mehrere Chromosomen betroffen, handelt es hervorgerufen; . Abb. 3.22). Betrachtet man
sich um Chromosomenmutationen. Zahlenmäßige homologe Gene nah verwandter Arten, so
Abweichungen im Gesamtbestand der Chromoso- machen Transitionen ca. 90 % und mehr der
men (z. B. Polyploidie; s. Abschn. 3.4.2) werden als Substitutionen aus. Zwischen entfernt ver-
Genommutationen bezeichnet. Nucleotide oder wandten Arten geht der Anteil der Transitionen
DNA-Abschnitte können herausgeschnitten (De- durch multiple Substitutionen, d. h. mehrfacher
letion), eingefügt (Insertion oder Translokation), Austausch einer Base an derselben Position, auf
verdoppelt (Duplikation) oder in ihrer Orientierung unter 35 % zurück.
3.3  •  Veränderlichkeit und Vererbung der genetischen Information 249

.. Abb. 3.20 a, b. Schematische a Chromosomenbrüche und Neuverknüpfung


Übersicht über die Mechanismen von 1
Chromosomen-Rearrangements durch
homologe Rekombination. Die Zahlen 1
in den farblich markierten Kästchen
1 2 3 4 5 1 2 5
2
deuten definierte DNA-Abschnitte in
DNA-Doppelsträngen. a Es können
direkte Chromosomenbrüche auftreten,
2 1 2 3 4 5 1 4 3 2 5
3
die anschließend wieder verbunden
werden. b Zwischen repetitiven DNA-
4
1 2 3 4 5 1 2 4* 5*
Elementen (z. B. Mikrosatelliten; s. 3
1* 2* 3* 4* 5* 5 1* 2* 3* 3 4 5
Abschn. 4.1.2) kann es zur homologen
Rekombination und Crossing over kom-
men; dies ermöglicht den Austausch
4
1 2 3 4 5 1 2 D E F G 5
von DNA-Abschnitten. 1. Deletion A B C D E F G A B C 3 4 5
von DNA-Abschnitten innerhalb eines
Chromosoms. 2. Inversion innerhalb
6
eines Chromosoms. 3. Austausch Chromosomenbruch DNA-Abschnitt
von Chromosomenstücken zwischen
homologen Chromosomen durch b Crossing-over zwischen repetitiven Elementen
7
reziproke Translokation, die jeweils mit
einer Sequenzdeletion und Sequenz-
duplikation einhergeht. 4. Austausch
1 2 3 4 5 6 7
8
von Chromosomenstücken zwischen 5 4
verschiedenen Chromosomen durch
3 5
9
reziproke Translokation, die jeweils mit
einer Sequenzdeletion und Sequen- 1 7 1 6 5 4 3 2 7
6
2

zinsertion einhergeht. 5. Inversion 10


von DNA-Abschnitten innerhalb eines
Chromosoms infolge von Crossing over
zwischen benachbarten repetitiven
6 A B 2* C D E A B 2 3 4 5 6
11
Elementen. 6. Rekombination zwischen
unterschiedlichen Chromosomen an
repetitiven Elementen führt zur rezip- 1 2 3 4 5 6 1 2* C D E 12
roken Translokationen von Chromoso-
menabschnitten
13
Repetitives Element Homologe Rekombination

- Transversionen: Darunter versteht man den


Austausch einer Purinbase durch eine Pyrimi-
dinbase (. Abb. 3.2), d. h. A → C oder T und
nachfolgenden Replikation U mit A statt mit G,
wie es das ursprüngliche C getan hätte. Dadurch
ist das CG-Paar letztlich durch ein TA-Paar ersetzt
14
15
G → C oder T oder umgekehrt (. Abb. 3.21). worden (also eine Transition) (. Abb. 3.24). Da
Transversionen sind deutlich seltener als Tran- viele Gene durch Methylierung in ihrer Expres- 16
sitionen. sion reguliert werden (abgeschaltete Gene sind
häufig stark methyliert), führt die spontane oder 17
Wie entstehen Mutationen? induzierte Desaminierung von 5-Methylcytosin zu
DNA-Basen können spontan und zufällig desami- Thymin. Bei der nachfolgenden Replikation würde
niert, depuriniert und oxydiert werden. In euka- jetzt T mit A anstelle von C mit G paaren (Tran- 18
ryotischen Zellen treten Basen-Desaminierungen sition). Als Beispiel für eine chemisch induzierte
mit einer Rate von 100 Desaminierungen pro Tag Mutation sei auf die Wirkung von salpetriger Säure 19
und Zelle auf (. Abb. 3.23). Durch Desaminierung oder Disulfit hingewiesen, die zu einer oxidativen
von Cytidin entsteht Uridin. Werden solche Muta- Desaminierung von Cytosin und 5-Methylcytosin
tionen nicht repariert (s. unten), paart sich bei der führt.
20
250 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

.. Abb. 3.21  Schematische Darstellung der Transition und


Transversion von Nucleotiden. A: Adenin; G: Guanin; C: Cyto-
sin, T: Thymin

.. Abb. 3.22  Auslösung von Punkt-


Normale Basenpaarung mutationen (Transitionen): Prinzip der
Basenfehlpaarung tautomerer Nucleoti-
de, die durch intramolekulare Umlage-
T N
CH3
N
C rung der „normalen“ Basen entstehen.
H A: Adenin; G: Guanin; C: Cytosin, T:
O N O O N N Thymin; A*: seltene Iminoform des Ade-
H H
H H H nins; G*: seltene Enolform des Guanins;
N N N N O C*: seltene Iminoform des Cytosins; T*:
H H seltene Enolform des Thymins
N N

A G
N N
N N

Tautomere Pyrimidinbasen

T* N
CH3
N C*
O N O H
O N N
H H
H H H
N N O N N
H H
N N

G N
N
N
N
A

Tautomere Purinbasen

T N
CH3
N C
H
O N O O N N
H H
H H H

N N N
N O
H H
N N
N

G* N
N
N A*
3.3  •  Veränderlichkeit und Vererbung der genetischen Information 251

desaminiertes CU
Replikation A T T C GC-Paar
durch 1
AT-Paar
A T U C T A A G ersetzt

T A G G
2
A T C C Keine

T A G G
Mutation
3
depuriniertes G

A T C 4
GC-Paar
A T C deletiert
T A G
T A C G 5
A T C C Keine
Mutation 6
T A G G
oxidiertes G
(8-Oxo-G = g) CG-Paar
7
A T T C durch
A T g C T A A G
AT-Paar
ersetzt 8
T A C G
A T G C Keine
9
Mutation
T A C G
10
.. Abb. 3.23  Ursachen für Punktmutationen: Prinzip und .. Abb. 3.24  Auswirkungen von Desaminierung, Depuri-
Auswirkung der Desaminierung, Depurinierung, Oxidation nierung und Oxidation. Wurde eine durch Desaminierung,
Depurinierung oder Oxidation hervorgerufene Punktmutation
11
und Dimerisierung von DNA-Basen. Durch Desaminierung
kann aus Cytosin Uracil, aus 5-Methylcytosin Thymin und aus nicht durch Reparaturenzyme rückgängig gemacht, so wirken
Adenin Hypoxanthin entstehen. Durch Depurinierung kön- sie sich in den nachfolgenden Replikationen aus: Während der
nicht-mutierte Strang (blau) identisch repliziert wird, führt der
12
nen sowohl Guanosin als auch Adenosin verändert werden.
Guanosin wird zu 8-Oxoguanosin oxidiert. Dimerisierung mutierte Strang (grün) dazu, dass auf dem komplementären
aufgrund von UV-Strahlung tritt besonders bei Thymidin auf, neuen Strang nach Desaminierung oder Oxidation ein verän- 13
ist aber auch bei Cytosin festgestellt worden dertes Nucleotid eingebaut wird oder aber nach Depurinie-
rung eine Deletion erfolgt oder eine neue Base zufällig ersetzt
wird. A: Adenin; G: Guanin; C: Cytosin, T: Thymin, U: Uracil 14
Das Genom ist permanent oxidativem Stress,
z. B. durch Sauerstoffradikale (reactive oxygen danzien, die in vielen Nahrungsmitteln vorkom-
species; ROS) ausgesetzt. Die Base Guanosin ist men, eine besondere Bedeutung für eine gesunde
15
besonders anfällig für oxidativen Stress, da sie das Ernährung zugesprochen.
geringste Oxidationspotenzial besitzt. Durch Oxi- Die Purinreste Guanin und Adenin können 16
dation kann aus Guanin 8-Oxoguanin entstehen spontan durch Hydrolyse aus der DNA entfernt
(8-OxoG). 8-OxoG paart nicht länger mit Cytosin werden (. Abb. 3.23). Solche Depurinierungen 17
sondern mit Adenosin. Wird eine solche Mutation zählen zu den häufigsten spontanen Verände-
nicht durch Reparaturenzyme entfernt, kommt es rungen; über 5000–10.000 Purinbasen werden
nach einer Replikation zu einer Transversion, d. h. täglich in jeder menschlichen Zelle depuriniert. 18
das GC-Paar wird durch ein TA-Paar ausgetauscht Werden depurinierte Basen nicht repariert (s. un-
(. Abb. 3.24). Man nimmt an, dass Alterungspro- ten), so kommt es bei der nachfolgenden Replika- 19
zesse unter anderem durch Mutationen entstehen, tion entweder zur Deletion einer einzelnen Base
die durch Oxidation von Guanosin durch ROS (. Abb. 3.24) oder es wird anstelle des depurinier-
hervorgerufen werden. Daher wird den Antioxi­ ten Guanins jede beliebige Base nach dem Zufall-
20
252 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

sprinzip eingebaut. Solche Substitutionen können sierung) werden von Reparaturenzymen (u. a. AP-
entweder zu einer Transition aber auch Transver- Endonuclease; DNA-Glycosylasen) erkannt und
sion führen. herausgeschnitten (solange nicht auch der zweite
Durch UV-Bestrahlung können benachbarte DNA-Strang beschädigt wurde) und durch DNA-
Thymin- oder Cytosinreste aktiviert werden, die Polymerase und DNA-Ligase repariert. Aber auch
dann jeweils Dimere ausbilden (. Abb. 3.23). Sol- Alkyltransferasen, Photolyasen und Fehlpaarungs-
che Dimere führen unrepariert zu Deletionen oder reparatur- und Rekombinationsreparatursysteme,
wenn sie häufig vorhanden sind, zum programmier- die vor der Replikation aktiv werden, sind vorhan-
ten Zelltod (Apoptose). Solche Dimerisierungen den. Die Anzahl der an Reparaturvorgängen betei-
treten verstärkt auf, wenn natürlich vorkommende ligten Enzyme liegt bei weit über 50. Eine Reparatur
Mutagene, wie z. B. die in Apiaceen und Rutaceen ist aber nur möglich, wenn die Zelle eine korrekte
vorkommenden Furanocumarine (s. Abschn. 4.3.3), Kopie besitzt. Darin liegt der große Vorteil der
mit der Nahrung oder als Arzneimittel aufgenom- Doppelhelix, in der genetische Information kom-
men wurden. Denn diese Sekundärstoffe werden plementär als Kopie gespeichert ist. Selbst wenn die
in der Haut abgelagert. Setzt man sich intensiver Information auf einem Strang verloren geht, ist sie
Sonnen- und damit UV-Strahlung aus, so werden auf dem komplementären Strang noch vorhanden
die DNA-interkalierenden Furanocumarine photo- und kann genutzt werden, um eine entsprechende
chemisch angeregt und können mit der DNA von Korrektur durchzuführen. In diploiden Organis-
Hautzellen in der Epidermis reagieren und diese men kommt zudem eine zweite Genkopie vor, die
quervernetzen. Interkalierende Substanzen sind mittels Rekombination und Genkonversion (s. Ab-
planar und lipophil. Sie lagern sich zwischen die schn. 3.4.2) nutzbar wird, falls das Original geschä-
Basenstapel der DNA-Doppelhelix ein und führen digt wurde.
bei der Replikation zur Deletion oder zur Insertion In einer Keimbahnzelle, z. B. beim Menschen,
eines Basenpaars. Dadurch wird der Leserahmen kommt es dank der Effektivität der Reparatursys-
um eine Base verschoben, es entstehen Frame- teme nur zu 10–20 Basensubstitutionen pro Jahr
shift-Mutationen, die sich meist negativ auf das zu bezogen auf die vorhandenen 3 × 109 Basenpaare.
codierende Protein auswirken (. Abb. 3.19). Inter- Die Bedeutung der Reparatursysteme lässt sich gut
kalierende Substanzen kommen auch in der Natur bei Menschen erkennen, die an Xeroderma pig-
vor; z. B. haben diverse Sekundärstoffe, die Pflanzen mentosum, einer seltenen autosomal-rezessiven
zur Abwehr von Fraßfeinden und Mikroorganismen neurocutanen Krankheit, erkrankt sind. Bei ihnen
einsetzen, solche Eigenschaften (s. Abschn. 4.3.3). sind einzelne Elemente des Reparatursystems aus-
Depurinierung, Interkalation und Alkylierung gefallen, die bei durch UV-Strahlung verursachter
können Einzel- und Doppelstrangbrüche in der DNA-Schädigung benötigt werden. Als Folge der
DNA auflösen, die zum Zelltod oder Chromoso- UV-Strahlung des Sonnenlichts treten neben zahl-
menmutationen führen können. reichen neurologischen und psychischen Sympto-
In seltenen Fällen können die DNA-Basen durch men eine starke Hautfleckenbildung und Hautkrebs
intramolekulare Umlagerungen tautomere Formen auf, die sich nur durch vollständige Vermeidung von
einnehmen (. Abb. 3.22), die zu Fehlpaarungen bei Sonnenlichtexposition verhindern lassen. Inzwi-
der Replikation führen. Normalerweise liegen die schen sind weitere vererbbare Störungen von Re-
Basen in der Keto-Form vor und nehmen selten die paraturenzymen und die dadurch hervorgerufenen
Enol-Form ein. Tautomeres Adenin paart mit Cyto- Krankheitsbilder bekannt geworden, die belegen,
sin statt mit Thymin, und tautomeres Thymin mit wie wichtig Reparaturenzyme sind (. Tab. 3.8).
Guanin statt mit Adenin und umgekehrt. Die durch Mutationen treten in allen Organismen spontan
Einbau tautomerer Basen bewirkten Nucleotidsub­ und zufällig auf; die Häufigkeit dieser Spontanmu-
stitutionen fallen alle in die Klasse der Transitionen tationen (auch „Hintergrundmutationen“ genannt)
(. Abb. 3.21). ist organismenspezifisch. Die meisten Mutationen,
Die meisten primären Veränderungen (Des- soweit sie nicht durch Reparaturenzyme beseitigt
aminierung, Depurinierung, Oxidation, Dimeri- werden, beobachtet man in somatischen Zellen, die
3.3  •  Veränderlichkeit und Vererbung der genetischen Information 253

.. Tab. 3.8  Erkrankungen, denen Defekte in der DNA-Reparatur zugrunde liegen

Erkrankung Phänotyp ausgefallenes Reparatursystem


1
Xeroderma pigmentosum Hautkrebs, neurologische Probleme Excision-Repair
2
MSH2,3,6; MLH1, PMS2 Kolonkrebs Mismatch-Repair

BRCA-2 Brust- und Ovarialkrebs homologe Rekombination 3


Werner-Syndrom vorzeitiges Altern; diverse Tumoren 3-Exonuclease; DNA-Helicase

Bloom-Syndrom Zwergwuchs, Genominstabilität DNA-Helicase 4


Fanconi-Anämie Missbildungen, Leukämie, DNA-Cross-link-Repair

46 BR-Patient Hypersensitivität für Mutagene DNA-Ligase 5


mit dem Tod des Individuums untergehen (soma- Zellteilung kommt – bald hohe Dichten erreichen. 6
tische Mutationen). Somatische Mutationen sind Interessanterweise sind die Gene für Antibiotikare-
für das Auftreten vieler Krankheiten, u. a. Tumo- sistenz offenbar bereits sehr alt (> 30.000 Jahre) und 7
rerkrankungen, verantwortlich. Nur Mutationen in wurden von Bakterien evolviert bevor Antibiotika
Keimbahnzellen und Gameten (Gametenmutatio- medizinisch eingesetzt wurden (Wright u. Poinar
nen oder generative Mutationen) werden an Nach- 2012). Auch die schnelle Veränderlichkeit der Vi- 8
kommen weitergegeben. Mutationen, die in einer ren ist medizinisch bekannt und gut belegt. Viren,
Population fixiert sind (d. h. mehrere Individuen deren Erbinformation auf einzelsträngiger RNA ge- 9
tragen dieses Merkmal), werden zu einem evoluti- speichert ist (z.B Retroviren) zeichnen sich durch
onären Ereignis und unterliegen der Selektion sowie besonders hohe Veränderlichkeit aus. Man denke
Zufallsprozessen (genetische Drift). an die Variabilität von HIV, dem Erreger von AIDS,
10
Natürliche Mutationshäufigkeiten, die zum der sich so schnell ändert, dass es bislang nicht mög-
Ausfall eines Gens führen, schätzt man bei Bakte- lich war, einen wirksamen Impfstoff zu entwickeln. 11
rien auf 10–5 bis 10–6 Mutationen pro Genlocus (da- An der schnellen Entwicklung von Resistenzen bei
runter versteht man den Ort eines Gens auf dem Bakterien und Viren kann man erkennen, dass auch 12
Chromosom) und Generation. Bei Eukaryoten sind heute noch evolutive Prozesse ablaufen, die wir im
diese Häufigkeiten nur schwer zu bestimmen, dürf- Gegensatz zu den Prozessen in der fernen Vergan-
ten aber in derselben Größenordnung liegen. Auf genheit unmittelbar untersuchen können. Bei den 13
die einzelne Nucleotidposition bezogen, beträgt Tieren und Pflanzen mit längerer Generationszeit
die Mutationshäufigkeit bei Bakterien 10–9 bis 10–10 und meist geringen Nachkommenzahlen dauert es 14
Substitutionen pro Generation. Beim Menschen entsprechend länger, bis man den Effekt einer Mu-
kommt auf 100.000–200.000 Genreplikationen eine tation feststellen kann.
Mutation. Bei etwa 20.000 Genloci pro haploidem Mutationen können durch Behandlung mit
15
Genom finden wir entsprechend weniger als 1 mu- energiereichen Strahlen (UV-Strahlung, radioaktive
tiertes Allel pro Genom, das bei den jeweiligen El- Strahlung) oder mutagenen Agentien vermehrt aus- 16
tern nicht vorhanden war. Bei Bakterien und Viren gelöst werden (induzierte Mutationen). Die meisten
mit hoher Teilungsrate und Individuenzahl kann Mutagene bewirken eine Modifikation einzelner 17
man die Auswirkung von Mutationen direkt beob- Basen (Alkylierung, Desaminierung, Depurinie-
achten. Vermehrt man Bakterien in Anwesenheit rung), werden als Basenanaloge eingebaut, hemmen
eines starken Selektionsfaktors, z. B. Antibiotika, Reparaturenzyme oder DNA-Topoisomerasen oder 18
so werden die meisten von ihnen abgetötet oder im führen zu Strangbrüchen und Um- sowie Neuord-
Wachstum gehemmt. Gelingt es aber einer einzigen nungen (rearrangements). Chemische Alkylantien 19
Bakterienzelle, durch Mutation eine Resistenz ge- (z. B. Dimethylsulfat) methylieren u. a. Guanin zu
gen das Antibiotikum auszubilden, so wird sie sich O6-Methylguanin, das nicht länger mit Cytosin ein
vermehren und – zumal es alle 20 Minuten zu einer Basenpaar bilden kann. Ähnliche Reaktionen kön-
20
254 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

.. Tab. 3.9  Konsequenzen von Nucleotidaustauschen in Protein-codierenden Genen. 549 Mutationen der Aminosäure­
codons sind theoretisch möglich

Mutation in AS-ändernd synonym nonsense Summe


Stoppcodons

1. Position 166 8 9 183 (100 %)

2. Position 176 0 7 183 (100 %)

3. Position 50 126 7 183 (100 %)

Summe 392 134 23 549 (100 %)

nen auch durch natürlich vorkommende Substan- die keinen oder nur geringen negativen Selektions-
zen, wie z. B. S-Adenosylmethionin, hervorgerufen, wert aufweisen. Wenn auch positive Veränderun-
werden. In der Natur sind etliche Sekundärstoffe be- gen selten sind, so führt die natürliche Auslese im
kannt, die nach metabolischer Aktivierung in der Verlauf der Jahrmillionen doch zu einer Optimie-
tierischen Leber zu starken Alkylantien werden, rung der Genfunktionen. Träger von Austauschen
Beispiele sind Pyrrolizidinalkaloide, Aristolochia­ mit negativen Eigenschaften sind geschwächt (man
säure oder Aflatoxine. Weitere mutagene Effekte denke an Patienten mit neuromuskulärer Dysfunk-
werden in unseren Zellen durch ROS (Wasserstoff- tion, Thalassämie und anderen Erbkrankheiten,
peroxid, Sauerstoff- und Superoxidradikale) (s. bei denen einzelne kritische Aminosäuren mutiert
oben) hervorgerufen. sind) oder sterben.
Bedingt durch den redundanten genetischen Insertionen/Deletionen oder Translokation län-
Code (s. Abschn. 3.2.5) führt bei weitem nicht jede gerer Sequenzelemente (Chromosomenmutatio-
Punktmutation in einem Gen zu einer Veränderung nen) treten mit einer gewissen Häufigkeit auf und
der Aminosäuresequenz. 134 (24,4 %) der 549 the- werden u. a. durch Transposons (s. Abschn. 3.4.3)
oretisch möglichen Substitutionen sind synonym; oder Viren hervorgerufen. Strangbrüche und Fehl-
23 (4,2 %) führen zu Stoppcodons und 392 (71,4 %) paarungen der DNA während der Meiose, so z. B. im
zu Aminosäureaustauschen (. Tab. 3.9). Wie aus Bereich repetitiver Sequenzelemente (. Abb. 3.20),
. Abb. 3.7 und . Tab. 3.9 ersichtlich, hat aber die können ungleiches Crossing over, fehlerhafte Repli-
Nucleotidsubstitution in der dritten Codonposition kation und Reparatur zur Folge haben und führen
in ca. 69 % der Fälle (126 von 183) keine Verände- meist zu einem größeren Nucleotidaustausch als
rung zur Folge (man spricht von stiller, neutraler einfache Punktmutationen (. Abb. 3.19).
Mutation oder silent mutation). Eine solche Muta- Außerhalb von codierenden oder regulatori-
tion kann demnach beibehalten werden, ohne dass schen DNA-Abschnitten wirken sich Mutationen
der Träger des Merkmals negative Auswirkungen nicht oder nur geringfügig aus. Wenn ein oder zwei
erfährt. Wie . Tab. 3.9 andeutet, sind unter den 549 Nucleotide oder größere Einheiten innerhalb eines
Mutationsformen theoretisch 392 Aminosäure-än- Gens entfernt oder hinzugefügt werden, kommt es
dernde (nicht-synonyme) Mutationen möglich; da- zu einer Verschiebung des Leserasters (Frame-shift-
von ändern 184 (47 %) die Polaritätsklasse der Ami- Mutation) und damit zu gänzlich anderen Protei-
nosäuren und 128 (33 %) die Ladung, während 273 nen (. Abb. 3.19), die fast immer funktionslos sind
(70 %) zu einer Aminosäure einer anderen Klasse (loss-of-function), in seltenen Fällen aber zu Pro-
führen. Doch selbst konservierte Aminosäuresubs- teinen mit neuen Funktionen (gain-of-function)
titutionen führen nur selten zum Totalausfall eines führen. Die meisten Mutationen sind neutral oder
Proteins oder Enzyms (man spricht von neutraler negativ, und nur in seltenen Fällen vermag ein mu-
Substitution), es sei denn, das aktive Zentrum wäre tiertes Gen oder Allel seinen Träger besser an seine
von einer Mutation betroffen oder ein Stoppcodon Umwelt anzupassen und dadurch den Fortpflan-
wäre eingefügt. Bei den Mutationen, die sich etab- zungserfolg der Nachkommen zu steigern. Wenn
lieren konnten, überwiegen Aminosäureaustausche, wir demnach DNA-Sequenzen oder Genomstruk-
3.3  •  Veränderlichkeit und Vererbung der genetischen Information 255

.. Tab. 3.10  Anzahl (n) der Chromosomen in haploi­ .. Tab. 3.10 (Fortsetzung) Anzahl (n) der Chromoso­
den Chromosomensätzen men in haploiden Chromosomensätzen 1
Wissenschaftlicher Name n Wissenschaftlicher Name n

Hefen/Pilze Felis silvestris forma domestica (Hauskatze) 19


2
Aspergillus nidulans (Kolbenschimmel) 8 Mus musculus (Hausmaus) 20
Saccharomyces cerevisiae (Bierhefe) 16 Macaca mulatta (Rhesusaffe) 24
3
Algen Gorilla gorilla (Gorilla) 24
4
Chlamydomonas reinhardtii (einzellige 16 Pan troglodytes (Schimpanse) 24
Grünalge)

Pflanzen
Pongo pygmaeus (Orang-Utan) 24 5
Homo sapiens (Mensch) 23

6
Oenothera biennis (Nachtkerze) 7

Solanum tuberosum (Kartoffel) 24


turen der heute lebenden Organismen analysieren,
Vicia faba (Saubohne) 6 so sehen wir im Wesentlichen nur Mutationen, die 7
Zea mays (Mais) 10 entweder neutral waren oder einen positiven Se-
lektionswert hatten, da die Träger von schädlichen
Insekten
Mutationen keine nachhaltige Überlebenschance 8
Bombyx mori (Seidenspinner) 28 hatten, sondern im Verlauf der Evolution heraus-
Culex pipiens (Mücke) 3 gefiltert wurden. 9
Musca domestica (Hausfliege) 6

Fische 3.3.2 Mitose und Meiose 10


Alosa pseudoharengus (Alse, Maifisch) 24

Salmo salar (Lachs) 28 In Bakterien liegt die DNA als ringförmiges, in Eu- 11
karyoten jedoch als lineares Molekül vor. Eukaryoti-
Amphibien
sche Chromosomen bestehen aus einem Centromer, 12
Bufo regularis (Kröte) 10 an dem die Mikrotubuli während der Zellteilung
angreifen, diversen Replikationsstarts (origin of
Hyla chrysoscelis (Laubfrosch) 12
replication) und Telomersequenzen an den Enden. 13
Rana pipiens (Leopardfrosch) 13
Die DNA liegt in den Chromosomen nicht als freier
Reptilien Faden, sondern mit basischen Histonproteinen ver- 14
Boa constrictor (Königsschlange) 18 bunden vor. Vier Histonproteine (H2 A, H2B, H3,
H4), die viele positiv geladen Lysinreste aufweisen,
Mabuya mabouya (Skink) 15
bilden octamere Zylinder aus, um die sich die DNA
15
Tropidurus torquatus (südamerikanischer 18 (Nukleosomen mit ca. 145 Basenpaare DNA) win-
Leguan)
det. Hierbei spielen ionische Wechselwirkungen 16
Xenodon merremii (neuweltliche Natter) 15 zwischen den positiven geladenen Lysinresten und
Vögel den negativ geladenen Phosphatgruppen der DNA 17
eine wichtige Rolle. Zwischen zwei benachbarten
Bubo virginianus (Virginia-Uhu) 41
Nucleosomen befindet sich meist ein linearer DNA-
Corvus corax (Kolkrabe) 39 Abschnitt von ca. 80 Basenpaaren, an dem sequenz- 18
Gallus gallus forma domestica (Haushuhn) 39 spezifische Proteine binden.
Rhea americana (Nandu) 41
Im Gegensatz zu den haploiden Bakterien und 19
primitiven Eukaryoten weisen die meisten höheren
Säuger
Eukaryoten einen diploiden Chromosomensatz auf.
Equus przewalskii forma domestica (Hauspferd) 32 Im diploiden Genom sind von jedem Chromosom
20
256 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

zwei Exemplare vorhanden, deren Länge und Struk- menhängen (. Abb. 3.25, 3.26). Die kondensierten
tur (z. B. Sitz des Centromers, lineare Anordnung der Chromatiden werden über den Spindelapparat so
Genloci) identisch sind; man spricht deshalb von ho- auseinander gezogen, dass jede neue Zelle einen
mologen Chromosomen. Jeweils eins der homologen kompletten diploiden Chromosomensatz erhält (s.
Chromosomen lässt sich auf das haploide väterliche, EXKURS 3.2 Abschn. 3.3.3).
das andere auf das haploide mütterliche Genom zu- Die Gameten sind haploid. Der Prozess, der
rückführen, denn bei der Befruchtung werden die vom diploiden zum haploiden Chromosomensatz
jeweils haploiden Chromosomensätze der männli- führt, wird als Meiose bezeichnet. Bei der Meiose
chen und weiblichen Gameten in der Zygote vereinigt wird der verdoppelte Chromosomensatz halbiert
und bleiben in den somatischen Zellen als diploider (Reduktionsteilung) und somit wieder in haploide
Chromosomensatz erhalten. In . Tab. 3.10 ist eine Genome zurückgeführt (s. EXKURS 3.2). Die Meiose
Übersicht von haploiden Chromosomenzahlen eini- ist bei diploiden Organismen die Voraussetzung für
ger Organismen zusammengestellt. Wie man leicht die geschlechtliche Fortpflanzung. Wären die Ga-
erkennt, gibt es keinen einheitlichen Trend hinsicht- meten diploid, so würde jede neue Zygotenbildung
lich der evolutionären Entwicklungshöhe und der eine Verdopplung der Chromosomensätze mit sich
Chromosomenzahl. Die Grünalge Chlamydomonas bringen. Nur durch haploide Gameten lässt sich die-
hat bereits 18 Chromosomen, der Seidenspinner 28, ses Dilemma lösen.
während der Mensch (Homo sapiens) 23 Chromoso- Über die Evolution und Bedeutung der Ge-
men im haploiden Chromosomensatz aufweist. schlechter gibt es unterschiedliche Ansichten. Fest
Man unterscheidet paarweise auftretende Au- steht, dass die geschlechtliche Fortpflanzung die
tosomen und Geschlechtschromosomen (Go- genetische Variabilität der Individuen erhöht. Jeder
nosomen); letztere sind beim heterogametischen Gamet erhält in der Meiose eine unterschiedliche
Geschlecht nicht als identisches Paar (. Abb. 3.25) Mischung der ursprünglich mütterlichen und väter-
vorhanden. Beim Menschen finden wir im diploiden lichen Chromosomen (s. EXKURS 3.2); beim Men-
Chromosomensatz (auch als Karyotyp bezeichnet) schen mit 23 Chromosomen sind 223 Kombinationen
bekanntlich 46 Chromosomen, darunter 2 Ge- möglich; d. h. theoretisch kann jeder Mensch über
schlechtschromosomen, die bei Frauen, dem homo- 8 Mio. genetisch unterschiedliche Gameten bilden.
gametischen Geschlecht mit XX, bei Männern, dem Da bei der Zygote zwei Gameten verschmelzen, liegt
heterogametischen Geschlecht mit XY bezeichnet die Zahl der Chromosomenkombinationen bei (8 ×
werden (. Abb. 3.25). Nicht bei allen Organismen 106)2 = 64 × 1012. Wie in Abschn. 3.3.3 gezeigt, kommt
ist das männliche Geschlecht heterogametisch; bei es bei der Meiose außerdem zu einem Crossing over
Vögeln und Schmetterlingen, z. B., sind die Weibchen der homologen Chromosomen und damit zu einem
heterogametisch und besitzen WZ-Geschlechtschro- zusätzlichen Genaustausch zwischen den jeweils ho-
mosomen, die homogametischen Männchen dagegen mologen Chromosomen. Dadurch stellt bereits jedes
ZZ-Chromosomen (s. Abschn. 4.3). einzelne Chromosom in einem Gameten ein Mosaik
Die Anzahl und Form der in einer Zelle vor- aus jeweils homologen mütterlichen und väterlichen
handenen Chromosomen ist in der Regel artkon- Genen dar. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, dass
stant. Bei einigen Organismen gibt es Ausnahmen, zwei Kinder eines Elternpaares identisch sind, extrem
indem die Chromosomenzahl innerhalb einer Art klein. Nur eineiige Zwillinge sind weitgehend gleich.
schwanken kann (z. B. Silbergrüner Bläuling, Polyo- Bei der sexuellen Fortpflanzung finden also ein
mmatus coridon). Bei einer Zellteilung muss auch starker Austausch und eine Rekombination der
die Tochterzelle das identische Genom der Mutter- elterlichen Gene statt; damit wird die notwendige
zelle erhalten; diesen Prozess nennt man Mitose. genetische Variabilität erzeugt, an der die natürli-
Bei der mitotischen Zellteilung wird die gesamte che Selektion ansetzen kann. Die Entwicklung der
DNA zunächst verdoppelt (Replikation); es entste- sexuellen Fortpflanzung war demnach ein extrem
hen dabei aus einem Chromosom jeweils zwei pa- wichtiger Evolutionsschritt, ohne den die Weiter-
rallel liegende identische Schwesterchromatiden, und Höherentwicklung der Organismen nicht hätte
die über ein gemeinsames Centromer eng zusam- stattfinden können.
3.3  •  Veränderlichkeit und Vererbung der genetischen Information 257

1
2
3
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5
6
7
8
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14
15
16
17

.. Abb. 3.25 a–c.  Schematische Illustration der menschlichen Chromosomen während der Metaphase. a Darstellung der
18
Metaphase-Präparation einer Frau mit einer Trisomie 21 (Chromatinregionen farblich markiert) und b eines Mannes (schwarze
Umrissdarstellung). Von jedem Chromosom sind zwei homologe Partner vorhanden; nur die X- und Y-Chromosomen treten 19
beim Manne einzeln auf. Jedes einzelne Chromosom liegt verdoppelt vor, wobei die Schwesterchromatiden durch ein gemein-
sames Centromer zusammengehalten werden. c Lokalisation wichtiger Gene, die bei genetisch bedingten Krankheiten eine
Rolle spielen, auf den jeweiligen Chromosomen 20
258 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

3.3.3 Rekombination geringem Umfang findet Rekombination auch

-
während der Mitose statt.
Unter Rekombination verstehen wir den Austausch Ortsspezifische Rekombination durch spezifi-
von homologen DNA-Sequenzen. Mehrere Formen sche Basenpaarung wird bei Viren beobachtet,

-
der Rekombination werden unterschieden: deren DNA in die Wirtszell-DNA eingefügt

-
Homologe Rekombination tritt zwischen ho- wird.
mologen DNA-Sequenzen, z. B. während der Transpositionale Rekombination ist durch
Meiose in der Prophase I (s. EXKURS 3.2) auf, Einfügen von Transposons an Stellen ohne
die meist auf den homologen männlichen und Sequenzhomologie gekennzeichnet.
weiblichen Chromosomen lokalisiert sind. In

  EXKURS 3.2
3.2  

Mitose, Meiose und Cytokinese


Mitose (Kern- und Zellteilung; Karyokinese auch werden die Nucleoli sichtbar. Gleichzeitig
und Cytokinese) schieben die polaren Mikrotubuli die Zellen weiter
Grundsätzlich werden bei den meisten Eukaryoten auseinander. In der anschließenden Cytokinese
mehrere Phasen der Mitose unterschieden: Pro- (Zellteilung) wird die Mutterzelle in der Mitte ein-
phase, Prometaphase, Metaphase, Anaphase und und durchgeschnürt. Damit ist die Mitose abge-
Telophase (. Abb. 3.26). schlossen und zwei Tochterzellen mit jeweils fast
Nachdem die Chromosomen im Interphase- identischen Chromosomensätzen (bis auf Ände-
kern (in der S-Phase) verdoppelt (repliziert) wur- rungen durch Rekombination) sind entstanden.
den, erfolgt in der Prophase eine Verdichtung des
Meiose
Chromatins zu diskreten Chromosomen, die aus
Der wesentliche Unterschied zur Mitose liegt in
zwei identischen Schwesterchromatiden bestehen
der Paarung homologer Chromosomen und der
(s. oben). Am Ende der Prophase und vor Beginn
anschließenden Reduktion des Chromosomen-
der Prometaphase lösen sich Kernmembran und
satzes. Es werden zwei Teilungen unterschieden:
Nucleoli auf; die Kernspindel (bestehend aus po-
die 1. und 2. Reduktionsteilung (oder Meiose I und
laren Mikrotubuli und Kinetochorenmikrotubuli), Meiose II) (. Abb. 3.26).
die in den Zentrosomen (Zentriolen) verankert ist, In der Prophase der 1. Reduktionsteilung unter-
bildet sich aus. In der Prometaphase heften sich die scheidet man fünf Stadien: Leptotän, Zygotän, Pachy-
Mikrotubuli über spezielle Proteinkomplexe (Kine- tän, Diplotän und Diakinese. Nach der Verdopplung
tochoren) an die Centromeren der Chromosomen der DNA der Chromosomen in jeweils zwei Schwes-
an. Die Chromosomen werden über die Mikrotu- terchromatiden werden diese im Leptotän als kon-
buli zum Zelläquator hin bewegt. In der Metaphase densierte Chromosomen sichtbar. Im Zygotän be-
liegen die Chromosomen in der Äquatorialebene ginnt die Paarung der homologen mütterlichen und
aufgereiht vor und Mikrotubuli verbinden die väterlichen Schwesterchromatiden-Paare (Synapsis).
Centromere mit den beiden Spindelpolen. In der Die jeweils gepaarten Bereiche entsprechen sich auch
Anaphase I verkürzen sich die Kinetochorenmi­ auf der Sequenzebene, wodurch Crossing over und
krotubuli; dadurch werden die Schwesterchroma- Rekombination möglich werden. Im Pachytän wird
tiden zu den jeweiligen Spindelpolen gezogen. In die Paarung der homologen Schwesterchromatiden-
der darauffolgenden Anaphase II verlängern sich Paare abgeschlossen. Im darauf folgenden Diplotän
die polaren Mikrotubuli, so dass die Zelle sich zu trennen sich die Schwesterchromatiden-Paare, haften
strecken beginnt. In der Telophase befinden sich aber an den Stellen, an denen ein Crossing over statt-
die Schwesterchromatiden an den jeweiligen Spin- gefunden hat, zusammen (Chiasmata, Singular: Chi-
delpolen; die Kernmembran bildet sich wieder aus; asma). In dieser Phase sind die Chromosomen entspi-
7
3.3  •  Veränderlichkeit und Vererbung der genetischen Information 259

 EXKURS 3.2 (Fortsetzung) 
1
.. Abb. 3.26 Sche-
matische Darstel-
lung des Verlaufs 2
von Meiose, Mitose
und Cytokinese. Bei
der Mitose entste- 3
hen stets identische
Tochterzellen. Bei
der Meiose kommt 4
es durch Crossing
over zu einem Aus-
tausch von DNA- 5
Abschnitten zwi-
schen väterlichen
und mütterlichen
6
Chromosomen. Die
haploiden Gameten
erhalten eine Zu-
7
fallsmischung von
jeweils väterlichen
und mütterlichen
8
Chromatiden
9
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11
12
13
14
ralisiert und transkriptorisch aktiv. In der Diakinese Schwesterchromatiden-Paare über die sich verkür- 15
hört die Transkription auf und die Chromosomen zenden Kinetochorenmikrotubuli zu den Zellpolen
kondensieren erneut. auseinander gezogen. An den Chiasmata trennen
In der folgenden Metaphase I werden Kern- sich die rekombinierten Chromosomenbereiche. 16
membran und Nucleoli aufgelöst und der Spindel- Die Schwesterchromatiden bleiben dabei über ihr
apparat bildet sich aus. Die Schwesterchromatiden- Centromer vereint. 17
Paare ordnen sich in der Äquatorialplatte an, wobei Nach einer kurzen Interphase setzt die 2. Re-
die jeweiligen Centromeren zu den Spindelpolen
ausgerichtet sind. Die Kinetochorenmikrotubuli
duktionsteilung ein. Die Chromosomen werden
wieder in einer Metaphase, der Metaphase II,
18
setzen jedoch nicht an den Centromeren einzelner angeordnet. Die Chromatiden werden über Kine-
Chromatiden (wie in der Mitose) an, sondern an ei- tochorenmikrotubuli zu den Zellpolen auseinander 19
nem gemeinsamen Centromer jedes Chromatiden- gezogen. Dieser Vorgang wird mit der Anaphase II
paares. In der meiotischen Anaphase I werden die abgeschlossen. Nach der Telophase II und Cytoki- 20
7
260 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

 EXKURS 3.2 (Fortsetzung) 
nese liegen vier haploide Zellen (Meiosporen oder Die Meiose verläuft bei Pflanzen und Tieren,
Meiogameten) vor, die jeweils über einen haploi- ebenso bei Männchen und Weibchen grundsätz-
den Chromosomensatz verfügen. Auf diese Weise lich nach dem hier schematisch dargestellten

-
erreicht die Meiose zwei Ziele: Muster ab. Dies deutet schon daraufhin, dass diese
Zurückführung des diploiden Genoms auf das Mechanismen früh in der Evolution entstanden

-
haploide Genom und sein müssen. Im Speziellen gibt es jedoch etliche
eine intensive Mischung der väterlichen und Unterschiede, z. B. in der männlichen und weibli-
mütterlichen Gene durch Rekombination. chen Gametogenese.

Für die Evolution sind die Rekombinationsereig-


nisse während der meiotischen Reduktionsteilung
am wichtigsten. Während der Meiose (s. EXKURS
3.2) kommt es durch Crossing over regelmäßig zu
einer gemischten Basenpaarung der jeweils homo-
logen Gensequenzen homologer Chromosomen
(. Abb. 3.27). Werden die Stränge dabei durch-
schnitten, kann ein DNA-Strang aus dem ursprüng-
lich mütterlichen Erbgut nun mit dem homologen
väterlichen Strang hybridisieren (Breakage-and-
reunion-Hypothese). Dabei können große, aber
auch kleine Chromosomenabschnitte (z. B. Allele)
ausgetauscht werden (. Abb. 3.20; . Abb. 3.27).
Bei geschlechtlicher Vermehrung werden also Al-
lele neu kombiniert und nach dem Zufallsprinzip
auf die Chromosomen verteilt. Auf diese Weise ent-
stehen neue Genotypen. Aus evolutionärer Sicht ist
ein einzelnes Chromosom demnach nur ein Über-
gangszustand mit einer zeitweiligen Assoziation
bestimmter Allele.
Fehlerhafte Hybridisierung während der Re-
kombination, insbesondere im Bereich repetitiver
DNA (. Abb. 3.20), erhöht deren Variabilität. Die
daraus bedingte individuelle Architektur der Ge-
nome nutzt man beim DNA-Fingerprinting oder bei
.. Abb. 3.27 a, b.  Schematische Darstellung der homologen der Mikrosatelliten-Analyse (s. Abschn. 4.1.2) zur
Rekombination. a Austausch von Chromosomenabschnitten Untersuchung von Paternität oder von Genfluss in
durch Crossing over und Rekombination; Beispiel Chromo-
Populationen.
somentetrade in der meiotischen Prophase I. b Crossing over
und Rekombination auf der DNA-Ebene
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 261

3.4 Veränderung des Genoms 3.4.1 Eukaryotengene


während der Evolution mit regulatorischen 1
Sequenzabschnitten
|
Übersicht              | und Intron-Exon-Struktur 2
In diesem Abschnitt werden Genomelemente und
Bedeutung der Exon-Intron-
ihre Veränderungen im Verlauf der Evolution be-
Struktur der Eukaryotengene 3
sprochen. Sehr wichtig in diesem Zusammenhang
Evolutionär von Bedeutung ist die Entwicklung der
ist die Intron-Exon-Struktur der Eukaryotengene,
da durch Kombinatorik vorhandener Grundbau-
Mosaikstruktur der Eukaryotengene mit Introns 4
und Exons (. Abb. 3.29). Prokaryoten besitzen in
steine (z. B. Exons) schneller neue Eigenschaften
der Regel keine Introns. Eine Ausnahme stellen
erzeugt werden konnten als durch einfache
die Archaea dar, bei denen nur wenige Gene, wie
5
Punktmutationen. Mittels Um- und Neuordnung
z. B. die 23S rDNA, Introns aufweisen. Wie man
von DNA-Elementen durch Insertion, Duplikation
. Abb. 3.30 entnehmen kann, steigt die Zahl der 6
oder Transposition entstanden im Verlauf der
Introns, die in einem Gen vorkommen, in etwa mit
Evolution weitere neue Bausteine (Multigen-
familien, Pseudogene, Transposons) für eine
der Entwicklungshöhe der Organismen. 7
Introns weisen eine Länge von über 1000 Nucle-
evolutionäre Weiterentwicklung. Während bei
otiden auf, während Exons mit nur 100–300 Nucleo-
einfachen Eukaryoten nur kurze nicht-codierende
tiden (entsprechend 30–100 Aminosäuren) deutlich 8
Bereiche zwischen zwei Genen liegen, finden wir
kürzer sind. Durch die Intron-Exon-Struktur erhalten
bei Pflanzen und Tieren lange, oft repetitive DNA-
Abschnitte (VNTR, Mikro- und Minisatelliten-DNA,
Eukaryotengene häufig eine Gesamtlänge von 5–40 9
kB. Einzelne Gene haben sogar eine Länge von mehr
SINE, LINE) zwischen individuellen Genen, die
als 2 Mio. Basenpaaren (2000 kB): das Dystrophie-
wichtige molekulare Marker liefern.
Gen (eine mutierte Form ist für die Duchenne-
10
Muskeldystrophie verantwortlich) weist 50 Introns
auf, während die eigentliche Transkriptlänge 17.000 11
Aus relativ einfach gebauten Genomen, wie man sie Nucleotide beträgt. Die Intronbereiche werden nach
heute noch bei einigen Bakterien sieht und in denen der Transkription herausgeschnitten (RNA-splicing) 12
nahezu alle DNA-Abschnitte funktionell von Bedeu- (. Abb. 3.29). Der Spleißprozess verläuft nicht in
tung sind, entwickelten sich im Verlauf der Evolution allen Zellen nach demselben Muster: Durch alterna-
bei den Eukaryoten durch genetische Rekombination tives Spleißen werden nicht nur die Introns, sondern 13
(s. Abschn. 3.3.3) und Mutationen (s. Abschn. 3.3.1) auch einige der Exons entfernt. Auf diese Weise kön-
sehr große und komplex aufgebaute Genome nen aus einem Gen nicht nur ein einziges Protein, 14
(. Abb. 3.28), die umfangreiche nicht-codierende sondern mehrere Proteine erzeugt werden, die sich in
Bereiche aufweisen (z. B. Introns, Promotor- und der Zusammensetzung der Exons unterscheiden. Die
Enhancerbereiche, Pseudogene und repetitive DNA). Zahl der Protein-codierenden Gene liegt beim Men-
15
Die Erforschung der Genomstruktur ist die Domäne schen bei ca. 20.000; man schätzt jedoch, dass die Zahl
eines eigenen Forschungszweiges, der strukturellen der Proteine, bedingt durch den alternativen Spleiß- 16
oder vergleichenden Genomforschung. prozess zwischen 50.000 und 200.000 liegt. Durch
diesen Prozess wird die phänotypische Variabilität 17
und Plastizität der Eukaryoten zusätzlich erhöht.
Die funktionelle Analyse der Proteine hat ge-
zeigt, dass man in einem Protein häufig mehrere 18
funktionelle Bereiche, die Domänen, unterscheiden
kann, z. B. Domänen für aktive katalytische Zentren, 19
für Transmembranbereiche oder Bindungsstellen.
Ein Protein wird in der Regel von mehreren Exons
codiert, wobei die Exons häufig speziellen funktio-
20
262 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

.. Abb. 3.28  Übersicht über die wich-


tigsten Elemente des Genoms einer
tierischen Zelle

nellen Domänen entsprechen. Die nicht-codieren- schiedlichen Häusern zu bauen. Fängt man dagegen
den Introns fungieren demnach als Spacer. Bei ei- mit einzelnen Ziegeln an, so ist der Prozess wesent-
nigen Genen (unterschiedlicher Organismen) findet lich aufwendiger und dauert länger. Ähnlich war es
man Introns an identischen Genpositionen, so z. B. wohl in der Evolution: Nur durch Abänderung eines
im Triosephosphat-Isomerase-Gen von Mensch ursprünglichen Gens durch Punktmutationen hätte
und Mais. Dieses Phänomen deutet daraufhin, dass es sehr lange gedauert, bis ein neues Gen entstan-
Introns recht alte genetische Erfindungen sein müs- den wäre, das für ein Protein mit mehreren funk-
sen, denn bei späterer Insertion hätte man Introns tionellen Domänen codiert. Durch Verwendung
an unterschiedlichen Stellen erwarten müssen. und Kombination der „vorgefertigten“ Exonmodule
Man nimmt heute an, dass im Verlauf der frü- konnten sprunghaft Gene mit neuen Eigenschaften
hen Evolution zunächst einmal die Struktur einzel- geschaffen werden.
ner Domänen optimiert wurde, die nur jeweils eine
oder wenige Funktionen ausübten. Diese Grund- Bedeutung regulierbarer
bausteine (Module) wurden in der späteren Evolu- Genaktivitäten
tion bei den Eukaryoten offensichtlich so miteinan- Bereits auf der Stufe der Prokaryoten sind die meis-
der kombiniert, dass zusammengesetzte Proteine, ten Strukturgene mit regulierbaren Promotoren
Enzyme oder Rezeptoren mit neuen und mehreren ausgestattet, die es einem Organismus erlauben,
Funktionen entstanden (. Abb. 3.31). Dieser Pro- Gene nur dann anzuschalten, wenn die Genpro-
zess wurde von W. Gilbert 1979 als Exon-Shuffling dukte benötigt werden. Bei den Eukaryoten ist die
bezeichnet. Die mannigfaltigen neuen Möglichkei- Genregulation noch wesentlich stärker weiterent-
ten, die sich aus einer solchen Kombinatorik erge- wickelt. Von den vielen vorhandenen Genen des
ben, lassen sich gut am Beispiel der Antikörpergene Genoms ist nur ein kleiner Teil in allen Zellen aktiv
der Säugetiere (über 1 Mio. Antikörper können in (house-keeping genes). Viele Gene werden nicht
einem einzigen Individuum erzeugt werden) oder nur zell- und gewebespezifisch exprimiert, son-
der variablen Oberflächenantigene der Trypanoso- dern auch noch entwicklungsspezifisch. Nur das
men und anderer Parasiten erkennen, mit denen das korrekte An- und Abschalten der Gene während
Immunsystem der Wirte überlistet wird. der Embryogenese (Epigenetik, s. EXKURS 5.9 Ab-
Man kann das Exon-Shuffling mit dem Fertig- schn. 5.7), der Gewebe- und Zelldifferenzierung,
hausprinzip vergleichen. Wenn man alle Elemente der Jugendzeit und im Erwachsenstadium führt zu
eines Hauses vorgefertigt hat, ist es relativ einfach Individuen mit angepasstem und artspezifischem
und wenig zeitaufwendig, eine Vielzahl von unter- Phänotyp. Die Steuerung erfolgt über spezifische
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 263

.. Abb. 3.29  Struktur und Transkrip­


tion eukaryotischer Mosaikgene,
Intron-Exon-Struktur eukaryotischer
1
Gene, Transkription und alternatives
Spleißen der mRNA 2
3
4
5
6
7
Transkriptionsfaktoren und enhancer- bzw. silencer- diese Weise wird die phänotypische Variabilität
Proteine (. Abb. 3.6). Nur wenn diese Proteine an und Plastizität gefördert.
die regulatorischen Genabschnitte binden, kann die Das Arbeiten mit Modulen oder vorgefertigten 8
RNA-Polymerase die zugehörigen Gene transkribie- Bausätzen findet man in der Evolution an vielen
ren (. Abb. 3.4). Stellen; selbst die Ausbildung komplexer morpho- 9
Viele Gene der heutigen Organismen entstan- logischer Strukturen ist offenbar modular geordnet
den bereits in der frühen Evolution der Pro- und und durch wenige Schritte, z. B. durch An- oder Ab-
Eukaryoten. Sie umfassen sowohl Gene, die En- schalten von Kontroll- oder Mastergenen ursprüng-
10
zyme, Rezeptoren und andere Elemente des Zell- lich angelegter Gencluster regulierbar. Beispiels-
stoffwechsels und der Zellstruktur codieren, als weise führt bei der Ackerschmalwand (Arabidopsis 11
auch Bauplan- und Entwicklungsgene, die eine thaliana) oder beim Löwenmäulchen der Austausch
entwicklungsspezifische Morphogenese steuern eines einzigen Mastergens dazu, dass die Blüte von 12
(s. EXKURS 3.3). einer radiären zu einer zygomorphen Form oder
Einmal entstandene Gene oder Genkomplexe umgekehrt verändert wird. Bei A. thaliana zeigen
wurden im Verlauf der Evolution meist beibehalten die homöotischen apetala-Mutanten unterschied- 13
(wenn auch nicht notwendigerweise exprimiert) liche Maße der Ausbildung von Staub-, Kron- und
und standen als Bausteine in späteren Evolutions- Fruchtblättern. Diese Kombinationsebene, d. h. 14
phasen zur Verfügung, da die Genome ja von Ge- das Umschalten von einem komplexen Phänotyp
neration zu Generation weitervererbt werden. Der zu einem anderen durch An- und Abschalten we-
vorhandene Genpool lässt sich durch Kombinatorik niger Kontroll- und Bauplangene (Morphogene),
15
insbesondere auf der Ebene der Genregulation viel- wird experimentell bald in einem größeren Maße
fältig variieren. Die DNA-Sequenz im Promotorbe- zugänglich sein als heute. Vermutlich werden wir 16
reich eines Gens kann durch Punkt- oder andere dann besser verstehen können, wie durch „Ma­
Mutationen so geändert werden, dass andere oder kromutationen“ komplexe Strukturen relativ schnell 17
neue Transkriptionsfaktoren binden können. Auf entstehen konnten.
diese Weise würde dieses Gen zu einem Zeitpunkt Auch bei künstlicher Selektion, wie sie bei
oder in einem Organ aktiviert, wo es früher abge- Haustieren und Kulturpflanzen stattfindet, lässt 18
schaltet gewesen wäre. Ebenso können Sequenzab- sich diese Evolutionsebene erkennen. Man denke
schnitte, an die spezifische Transkriptionsfaktoren an die vielen, oft ungewöhnlichen Formen von 19
binden, als DNA-Elemente vor vorhandene Gene Hunden, Katzen, Tauben oder Hühnern, die in
inseriert werden (z. B. durch Transposons) und so vergleichsweise kurzer Zeit (meist innerhalb der
neue Expressionsmuster hervorrufen. Auch auf letzten 5000–10.000 Jahre) selektiert wurden (s. Ab-
20
264 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

H2N COOH cro-Repressor

H2N COOH lac-Repressor

H2N COOH cAMP-abhängige


Proteinkinase
H2N COOH Chymotrypsin

H2N COOH Urokinase

H2N COOH Faktor IX

H2N COOH Plasminogen

H2N COOH CAP-Protein

DNA-Bindungsdomäne
kringle-Domäne
cAMP-Bindungsdomäne

Serinprotease-Domäne Calcium-Bindungsdomäne

EGF-Domäne

.. Abb. 3.31  Beispiele für Domänenkombinatorik. In bakte-


.. Abb. 3.30  Prozentualer Anteil der Zahl der Exons pro Gen riellen lac- und cro-Repressorproteinen findet man typische
bei Hefen, Insekten und Säugetieren DNA-Bindungsdomänen, die ebenfalls als Modul im bakteriel-
len Katabolit-Aktivator-Protein (CAP-Protein) vorkommen. Zu-
schn. 5.8.3), oder an die verschiedenen Kohlsorten, sätzlich enthält das CAP-Protein auch eine Bindungsdomäne
die aus der Wildform Brassica oleracea entstanden für cyclisches AMP (cAMP), die bei Proteinkinasen mehrfach
vorkommen kann. Chymotrypsin ist eine einfache Protease
(. Abb. 3.32). mit einer Serinprotease-Domäne; diese Domäne kommt als
Fände man die verschiedenen Haustier- und Modul in spezialisierten eukaryotischen Proteasen, wie der
Kulturpflanzenvarietäten in einer Museumssamm- Urokinase, dem Faktor IX und im Plasminogen vor. Diese
lung ohne eine Kenntnis ihrer Vorgeschichte, so Proteasen enthalten zusätzliche Module, z. B. des epidermalen
würde man vermutlich eine größere Anzahl von Wachstumsfaktor (EGF), von Calcium-Bindungsstellen und
des kringle-Proteins, das drei interne Disulfidbrücken trägt
distinkten Arten beschreiben und nicht auf die
Idee kommen, dass es sich nur um junge Varietäten
weniger Arten handelt. Charles Darwin hatte eine Ebene beigetragen (man könnte sie auch „Ma­
große Sammlung von verschiedenen Taubenras- kromutationen“ nennen) (s. EXKURS 3.3). Wenn
sen angelegt. Als Charles Lyell ihn im April 1856 ein schneller Wechsel der Morphologie in erd-
besuchte, legte ihm Darwin Bälge von 15 Tauben- geschichtlich neuerer Zeit erfolgte, ist er auf der
rassen vor, die so unterschiedlich aussahen, dass Ebene der Markergen-Sequenzen (s. Abschn. 4.1.2)
„three good genera, and about 15 species according meist nicht zu sehen. Mit anderen Worten, bei jun-
to the received mode of species and genera making gen Ereignissen kann sich das sichtbare Tempo
of the best ornithologists“ (drei gute Gattungen und zwischen morphologischer und molekularer Evo-
mindestens 15 Arten entsprechend dem Art- und lution deutlich unterscheiden. In anderen Fällen
Gattungskonzept der besten Ornithologen) plausi- beobachtet man eine Konstanz der Baupläne über
bel gewesen wären. viele Jahrmillionen hinweg, obwohl diese Arten
Ein solches Variieren von Bauplan- und Ent- weiterhin der molekularen Evolution unterlagen.
wicklungsgenen (insbesondere von Hox-Genen Diese werden als „lebende Fossilien“ bezeichnet
und Genen des Wnt-Signalweges) hat sicherlich (s. Abschn. 2.4.2).
zu einer schnellen Evolution auf morphologischer
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 265

1
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.. Abb. 3.32 a–i.  Sprunghafte Veränderung einer Wildform durch Züchtung, am Beispiel von Kohl Brassica oleracea, den man
auch heute als Wildform noch an der deutschen Nordseeküste finden kann, z. B. auf Helgoland. Schematische Illustration der 18
Merkmalsvariation in den kultivierten Kohlsorten: a Wildform; b Weißkohl, c Rotkohl, d Grünkohl, e Blumenkohl, f Brokkoli,
g Markstammkohl, h Kohlrabi, i Rosenkohl
19
20
266 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

Veränderung Varietät

Gehemmte Knospenentfaltung Kopfkohl, Weißkohl

Vergrößerung der Blätter; Anthocyanbildung Rotkohl

Verdickung des Stiels und Vergrößerung des Blütenstandes Broccoli

Vergrößerung des Blütenstandes; Stauchung der Blütenstandachsen Blumenkohl

Verlängerung und Verdickung des Stiels Markstammkohl

Starke Verdickung des Stiels Kohlrabi

Vergrößerung der Blätter Grünkohl

Vergrößerung und Vermehrung der Achselknospen mit Kopfbildung Rosenkohl

Umformung und Neukombination von Vorhan- Evolution natürlich schneller als durch Verände-
denem ist offenbar ein wichtiges Evolutionsprin- rung der Proteine über einfache Punktmutationen.
zip, das von dem französischen Molekularbiologen Man kann sich so eher jene sprunghaften morpho-
François Jacob als tinkering (spielen, basteln) be- logischen Veränderungen vorstellen, die bei Fossi-
zeichnet wurde. Durch diese Prozesse verlief die lien oft beobachtet wurden.

  EXKURS 3.3  

Evo-Devo-Forschung
Detlev Arendt und Thomas Holstein (Heidelberg)

Ontogenie und Phylogenie Ersteres erklärt das Phänomen der „Rekapitulation“,


Die Evolution vielzelliger Organismen erschließt letzteres macht begreiflich, warum nicht jeder Weg
sich durch die vergleichende Analyse ihrer Ent- (und Umweg) der Evolution in der heutigen Ent-
wicklung. Dieser fundamentale Zusammenhang wicklung Niederschlag findet: „In der Tat existiert
zwischen Evolution und Entwicklung spiegelt sich immer ein gewisser Parallelismus (zwischen Ent-
in der Bezeichnung einer sehr lebhaften neuen wicklung und Evolution). Aber dieser wird dadurch
Forschungsrichtung – „Evo-devo“ – wieder (Gould verwischt, dass meistens in der ontogenetischen
1977; Riedl 1977; Raff u. Kaufman 1983; Schlosser u. Entwicklungsfolge vieles fehlt und verloren ge-
Wagner 2004; Kirschner u. Gerhart 2007). In seiner gangen ist, was in der phylogenetischen Entwick-
Bedeutung und Tragweite zuerst erfasst wurde die- lungskette früher existiert und wirklich gelebt hat“
ser Zusammenhang in der „biogenetischen Grund- (Haeckel 1874).
regel“ von Ernst Haeckel.
„Die Ontogenie rekapituliert die Phylogenie“ Homologie
erläuterte Haeckel 1874 am Beispiel der Gast- Wie lässt sich unterscheiden, welche Entwicklungs-
rula, die er als Rekapitulation einer urtümlichen schritte die Evolution rekapitulieren und welche
Metazoen-Stammart, der Gastraea, verstand im Verlauf derselben abgewandelt worden sind?
(. Abb. 3.33). Wie erklärt sich dieser Zusammen- Diese Unterscheidung ist Ziel der vergleichenden
hang? In Anlehnung an Haeckel verändern sich Evolutionsforschung, welche die Entwicklungs-
Tierarten in der Evolution durch eine Abwandlung gänge möglichst vieler Arten vergleicht und nach
ihrer Entwicklung, entweder durch Hinzufügen Gemeinsamkeiten sucht. Wenn sich zwei Arten in
neuer Entwicklungsschritte an das bestehende bestimmten Entwicklungsschritten im Detail äh-
Programm oder durch Veränderung desselben. neln, besteht der Verdacht, dass diese Ähnlichkeit
7
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 267

 EXKURS 3.3 (Fortsetzung) 
1
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.. Abb. 3.33  Ontogenie und Phylogenie. Die obere Reihe zeigt die hypothetische Entstehung eines Gastrea-ähnlichen
Organismus in der frühen Evolution der Metazoen. Hier kam es zu einer Trennung von somatischen und reproduktiven 8
Zellen und zur Entstehung eines eingesenkten Verdauungsraums (Urdarm). Die untere Reihe zeigt die Rekapitulation
dieses frühen Stadiums in der Evolution, die von allen Tiere in mehr oder weniger stark abgewandelter Form in der
Gastrulation durchlaufen wird (Stern 2004, Bildrechte liegen bei CSHL Press) 9
auf Vererbung beruht und als Homologie gedeutet
werden kann. Homologe Merkmale zweier Arten
Orthologe und paraloge Gene
Grundlage eines jeden Vergleichs auf molekularer
10
lassen sich auf dasselbe Vorläufermerkmal in der Ebene ist die Analyse der Verwandtschaft der be-
letzten gemeinsamen Stammart zurückführen und teiligten Gene. 11
sind am besten an morphologischen und/oder mo- Vergleicht man die Entwicklung von Organis-
lekularen Gemeinsamkeiten zu erkennen, die sich men auf molekularer Ebene, muss zunächst die 12
plausibel nur durch ein gemeinsames Erbe erklären Homologie der beteiligten Gene untersucht wer-
lassen. Die Evo-devo-Forschung ist also zu einem den. Somit ist der bioinformatische Vergleich von
großen Teil Homologieforschung, die Entwick- Molekülen ein Grundpfeiler moderner Evo-devo-
13
lungsgänge verschiedener Organismen vergleicht Forschung. Durch das Alinieren der DNA- und Pro-
und nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden teinsequenzen wird zunächst ermittelt, ob eine 14
abklopft. Darüber hinaus stellt sie einen Ansatz Verwandtschaft zwischen Molekülen besteht. Als
dar, um die Mechanismen der Makro-Evolution
(Evolution von Bauplänen) aufzuklären (Schlosser
nächstes wird geprüft, welcher Art diese Ver-
wandtschaft ist. Mit Hilfe der Sequenzalinierungen
15
u. Wagner 2004). Ihre momentane Blüte erklärt und durch das Errechnen von Genstammbäumen
sich dadurch, dass den vergleichenden Entwick- werden Gene und Proteine in Familien und „Über- 16
lungsbiologen ein ganzer neuer Werkzeugkasten familien“ eingeteilt. Genfamilien sind in der Evolu-
in die Hand gedrückt wurde, der ihnen völlig neue tion durch Genduplikation, also durch die Verdop- 17
Ebenen des Vergleichs erschlossen hat: Evo-devo pelung einzelner Gene, Chromosomenabschnitte
ist heute im Wesentlichen eine molekulare Diszip- oder ganzer Genome, entstanden. Oftmals findet
lin, welche die Methoden der Gentechnik für sich man viele Duplikate eines ursprünglichen Gens
18
nützt. Haeckels Ziele werden heute mit molekula- innerhalb eines Genoms. Beim Vergleich von Ge-
ren Werkzeugen verfolgt. nen ist es daher besonders wichtig, zunächst die 19
„serielle Homologie“ duplizierter Gene innerhalb
eines Genoms zu erkennen und zu berücksichti-
20
7
268 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

 EXKURS 3.3 (Fortsetzung) 

.. Abb. 3.34  Paraloge und orthologe Gene. Am


Beispiel der Evolution der Opsin-Genfamilie wird der
Unterschied von paralogen Genen (z. B. GPR op11
und 12) und von orthologen Genen (z. B. r-Opsin und
c-Opsine) deutlich (für weitere Details siehe Text)

gen. Paraloge Gene sind durch Genduplikation Die Bedeutung konservierter Genfunktionen
und anschließende Diversifizierung entstanden. Einen wichtigen Einblick in die Entwicklung und
Man findet sie innerhalb einer Evolutionslinie; die organismische Komplexität unserer Vorfahren
wenn das Duplikationsereignis jedoch weit genug erhält man bereits durch die Rekonstruktion ihres
zurückreicht, existieren dieselben verdoppelten Genoms und ihres Proteoms (der Gesamtheit der
paralogen Gene auch in den Genomen weiterer exprimierten Proteine) sowie der damit verbunde-
Organismen, welche sie ebenfalls geerbt haben. nen Molekülfunktionen.
Orthologe Gene hingegen werden stets zwischen Ein zunehmend wichtiger Aspekt der verglei-
zwei Spezies identifiziert. Es handelt sich um Gene, chenden Genomforschung ist die Rekonstruktion von
die auf dasselbe Vorläufergen im letzten gemein- Genom (und Proteom) bestimmter Schlüsselarten,
samen Vorfahren zurückzuführen sind, deren Se- wie z. B. der letzten gemeinsamen Stammart der Bila-
quenzdivergenz also im Wesentlichen auf phylo- terier und der Cnidarier (Eumetazoa), durch die ver-
genetischer Distanz beruht. Die Unterscheidung gleichende Analyse sequenzierter Genome. Beispiel-
von paralogen und orthologen Gene kann man am weise wissen wir heute durch den Vergleich des
besten mit Hilfe von Genstammbäumen verstehen, Genoms des Anthozoenpolyps Nematostella mit Wir-
wie in . Abb. 3.34 illustriert. Eine Komplikation beltier- und Polychaetengenomen, dass die Stammart
ergibt sich, wenn zwei zwischen zwei Spezies nahe der Eumetazoa bereits 12 paraloge Liganden der Wnt-
verwandte Gene auf zwei unterschiedliche Para- Familie besaß (Kusserow et al. 2005; Holstein 2012)
loge (Schwestergene) des letzten gemeinsamen (. Abb. 3.35a). Diese Tatsache allein ist von großer
Vorfahren zurückgehen. Diese Gene sind nicht or- Wichtigkeit für unser Verständnis dieser Stammart,
tholog! denn diese unterschiedlichen Liganden stehen für
verschiedene Induktions- und Signaltransduktions-
ereignisse während der Entwicklung, was auf eine
unerwartet hohe Komplexität des Polypen und damit
7
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 269

 EXKURS 3.3 (Fortsetzung) 
1
2
3
4
5
6
7
8
9
.. Abb. 3.35  Evolution und basale Funktion der Wnt-Genfamilie. Vergleiche zwischen den an der Basis der Meta-
zoenevolution stehenden Cnidaria und den restlichen Metazoen zeigen, dass es in der Evolution zu einem Genverlust
in mehreren Großgruppen kam. Die Vertebraten zeichnen sich dagegen durch einen kompletten Satz von Wnt-Genen 10
aus, die sie mit den Cnidariern und den Ur-Eumatazoen, den gemeinsamen Vorfahren aller Tiere, teilen. Die Wnt-Gene
werden während der Gastrulation am Blastoporus in der Planulalarve in einer gestaffelten Abfolge vom oralen zum
aboralen Pol exprimiert („Wnt-Code“) (aus: Kusserow et al. 2005, Bildrechte liegen bei Nature) 11
der Stammart der Eumetazoa hinweist. Einen Einblick
in die möglicherweise ursprünglichen Funktionen
Der Transkriptionsfaktor Pax6 ist das wohl be-
rühmteste Beispiel für ein innerhalb der Bilaterier
12
dieser Wnt-Gene liefert die Analyse ihrer gestaffelten konserviertes Protein und für aus der vergleichen-
Expression entlang der Körperlängsachse des Cnida- den funktionellen Analyse gewonnene spektaku- 13
rierpolypen (. Abb. 3.35b). läre Schlussfolgerungen. Das Pax6-Gen ist durch
Die Entdeckung eines Östrogenrezeptormo- die Augenmutante Aniridia in der Maus zuerst als 14
leküls beim Seehasen Aplysia, einer Gattung der Schlüsselgen der Augenentwicklung bei Wirbeltie-
Weichtiere, ist ein weiteres Beispiel für die Aussa- ren identifiziert worden, bis man herausfand, dass
gekraft von Proteomvergleichen (Thornton et  al. der Verlust der Genfunktion des orthologen Gens
15
2003). Aus der Existenz dieses Moleküls im Seehasen bei der Taufliege Drosophila zum vollständigen Ver-
und seiner (noch unvollständigen) funktionellen lust der Augen führt (Quiring et al. 1994). Bei Dro- 16
Analyse können wir schließen, dass die Stammart sophila lässt sich durch die ortsfremde (ektopische)
der Bilaterier, der Urbilater, bereits einen solchen
Steroidhormonrezeptor besaß. Das bedeutet wie-
Expression von Pax6 auch an anderen Körperstellen
ein Auge erzeugen, was die zentrale Rolle dieses
17
derum, dass ein östrogenähnliches Hormon bereits Gens bei der Augenentwicklung noch unter-
vorhanden und wirksam war, was man bislang für streicht. Diese Ergebnisse erlauben den Schluss, 18
eine Spezialität der Wirbeltiere gehalten hatte. Das dass der Urbilater bereits ein Pax6-Gen besaß, und
Östrogensystem kann in der Entwicklung oder in sie machen es sehr wahrscheinlich, dass die Funk- 19
der adulten Physiologie dieser Stammart eine Rolle tion des urtümlichen Pax6-Transkriptionsfaktors
gespielt haben. auch dort bereits mit der Augenentwicklung zu tun
20
7
270 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

 EXKURS 3.3 (Fortsetzung) 
.. Abb. 3.36 Dorsoventrale
Achsenumkehr zwischen
Vertebraten und Arthropoden.
Der inversen Anlage des Ner-
vensystems (hell-grünlich) und
Blutgefäßsystems (schwarz) bei
Arthropoden und Vertebraten
entlang der Dorsoventral-Achse
entspricht die antagonistische
Expression und Funktion von
dpp (BMP-4) und sog (Chordin)
bei Arthropoden und Verteb-
raten in der Blastula (Details
siehe Text) (aus: Wolpert 2002,
Bildrechte liegen bei Oxford
University Press)

hatte. Letzteres wiederum setzte voraus, dass der tet die Hox-Genkassette als eine Synapomorphie
Urbilater bereits Augen besaß – die eigentliche bilateralsymmetrischer Tiere. Auch die Wnt-Gene
Überraschung dieser Studie. sind primär in der Entwicklung und Evolution ent-
lang dieser Achse exprimiert (Holstein 2012).
Konservierte Signalkaskaden bei der Bildung Die Überraschung steigerte sich noch, als auch
der Körperachsen im Tierreich für die Bildung der Dorsoventralachse (Rücken-
Die wichtigste Entdeckung der vergangenen Jahr-
Bauch-Achse) der Insekten und Wirbeltiere eine
zehnte ist die gemeinsame Verwendung homolo-
konservierte Genkassette ins Spiel gebracht wurde,
ger Signalkaskaden bei der embryonalen Achsen-
die allerdings in beiden Tiergruppen in umgekehr-
bildung völlig unterschiedlicher Tiergruppen, von
ter Orientierung aktiv ist (. Abb. 3.36). Unverhofft
Wirbeltieren bis zu Insekten oder Polypen, gewesen.
verhalf dieser Befund einem jahrhundertealten
Diese überraschende Gemeinsamkeit ermöglicht
Konzept zum Durchbruch, das die Rückenseite
den Vergleich von Körperachsen durch das gesamte
samt Neuralrohr der Wirbeltiere mit der Bauch-
Tierreich und erlaubt Rückschlüsse auf die Evolution
seite samt Bauchmark der Insekten homologisierte
dieser Achsen vor Hunderten von Jahrmillionen.
und eine dorsoventrale Achsenumkehr in der frü-
Nachdem Lewis in einer bahnbrechenden Ar-
hen Evolution der Wirbeltiervorfahren postulierte
beit die Musterbildung entlang der Körperlängs-
(Arendt u. Nübler-Jung 1994). Molekular handelt es
achse der Taufliege durch die Aktivität der Hox-
sich bei dieser Genkassette um ein System zweier
Gene erklärt hatte, kam es einer Revolution gleich,
gegenläufig wirkender Signalmoleküle namens
dass dieselbe homologe Genkassette auch bei
Decapentaplegic (Dpp) und Chordin, das inzwi-
Wirbeltieren entlang der Körperlängsachse aktiv
schen auch in Polypen identifiziert werden konnte
sein sollte. Zum ersten Mal ergab sich die Möglich-
(Holstein et al. 2011) und damit erstmalig erlaubt,
keit, die Bildung von Körperachsen und damit auch
die Entstehung der Dorsoventralachse durch das
die Körperachsen selbst zu homologisieren. Die
gesamte Tierreich zu verfolgen.
konservierte Rolle der Hox-Gene bei Fliege und
Maus machte eine Homologie der Körperlängs- Abgleich der molekularen Fingerabdrücke von
achse von Fliege und Maus unausweichlich Zelltypen
(. Abb. 3.36), was im Zootyp-Konzept Nieder- Diese jüngste Variante der Evo-devo-Forschung
schlag fand (Slack et al. 1993). Dieses Konzept deu- identifiziert homologe Zelltypen zwischen weit
7
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 271

 EXKURS 3.3 (Fortsetzung) 
.. Abb. 3.37  Molekularer Fingerabdruck. Am 1
Beispiel ciliärer Lichtsinnesorgane bei Polychaeten
kann gezeigt werden, dass Polychaeten (oben) und
Vertebraten (unten) homologe cilliäre Zelltypen 2
besitzen (Details siehe Text). Purpur: ciliäre Photore-
zeptorzellen; gelb: rhabdomere Photorezeptorzellen
und retinale Ganglionzellen; grün: photoperiodisch
3
aktive Neuronen; grau: Pigmentzellen. Abkürzungen:
ae: adultes Auge; cPRC: ciliärer Photorezeptor; le:
larvales Auge; nsc: Nucleus suprachiasmaticus; pin:
4
Pinealorgan; ret: Retina; RGC: retinale Ganglionzelle;
rPRC: rhabdomerer Photorezeptor. Sterne zeigen
die Lage des Apical organs (aus: Arendt et al. 2004,
5
Bildrechte liegen bei AAAS)
6
7
8
.. Abb. 3.38  Evo-devo. Aus Populationsgenetik und
Entwicklungsgenetik ist es in den letzten Jahren zu
einer neuen evolutionsbiologischen Synthese gekom- 9
men (mod. nach Gilbert 2003)

10
11
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13
14
15
16
entfernten Tiergruppen aufgrund ihres molekula- genen eine zelltypspezifische Differenzierung be- 17
ren Fingerabdrucks und zeichnet die Diversifizie- wirkt. Diese Kombination zelltypspezifischer Gene
rung von Zelltypen in der Evolution der Tiere nach. wird als molekularer Fingerabdruck bezeichnet. Der
18
Ein Zelltyp repräsentiert eine molekular und Abgleich molekularer Fingerabdrucke zwischen
morphologisch homogene Population von Zellen, weit entfernten Tierstämmen hat ergeben, dass
in denen eine einzigartige Kombination von Tran- Zelltypen ein hoch konserviertes Merkmal darstel- 19
skriptionsfaktoren und nachgeschalteten Effektor- len, deren Evolution über weite evolutive Distanzen
20
7
272 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

 EXKURS 3.3 (Fortsetzung) 
nachgezeichnet werden kann. So konnten konser- Synthese der Evolutionsforschung: Evo-devo
vierte Motoneuronentypen zwischen Insekten, und Populationsbiologie
Nematoden und Wirbeltieren identifiziert werden Neben der Evo-devo-Forschung ist die Populations-
(Thor u. Thomas 2002), was eine entscheidende genetik ein weiterer klassischer Ansatz der Evolu-
Voraussetzung für ein tieferes Verständnis funktio- tionsbiologie. Die Populationsbiologie betont vor
neller Gemeinsamkeiten der zentralen Nervensys- allem die Variationen innerhalb einer Art. Sie un-
teme ist (wie z. B. der nervösen Steuerung des Be- tersucht, unter welchen Bedingungen sich manche
wegungsapparats). Ein weiteres Beispiel ist die dieser Variationen unter natürlicher Selektion effek-
Entdeckung einer besonderen Form von cilientra- tiv vermehren (. Abb. 3.38). Sie erklärt nicht, wie es
genden Lichtsinneszellen im Gehirn der Polychae- zur Entstehung neuer Strukturen kommt.
ten, die durch den Abgleich der molekularen Fin- Die Entwicklungsgenetik untersucht hinge-
gerabdrücke als homolog mit den ebenfalls ciliären gen, wie es durch Expression von regulatorischen
Stäbchen und Zäpfchen der Wirbeltierretina iden- Genen zu Morphogenese, Organbildung und
tifiziert werden konnten (Arendt et  al. 2004) Zelldifferenzierung kommt. Dieser Ansatz erklärt
(. Abb. 3.37). Dieses sind erste Belege für die Trag- die Entstehung neuer Strukturen im Kontext von
fähigkeit eines Ansatzes, der die Evolution komple- Zwängen, welche die Variation einschränken (evo-
xer Organsysteme der Metazoen wie z. B. des lutionary novelties und constraints). Gemeinsam
Nervensystems als eine Abfolge von Dif­ eröffnen beide Ansätze einen umfassenden gene-
ferenzierungsereignissen von Zelltypen nachzu- tischen Ansatz, um die Mechanismen der Evolution
zeichnen versucht. zu verstehen.

3.4.2 Genomduplikationen flosser und Lungenfische. Aus ihnen gingen alle


und Evolution Landwirbeltiere (Amphibien, Reptilien, Vögel und
von Multigenfamilien Säuger) hervor ( Kap. 2 und Abschn. 4.2).
Auch bei der Evolution der Angiospermen spie-
Die Genomgröße der Tiere hat sich im Verlauf der len Genomduplikationen (Polyploidisierung) eine
Evolution vermutlich durch wiederholte Dupli- sehr große Rolle (Soltis u. Soltis 2009). Man un-
kationen des Genoms stark erhöht (. Abb. 3.12). terscheidet zwischen Allopolyploidisierung (nach
Protostomia und die Deuterostomia-Vorfahren Hybridisierung verschiedener Arten) und Autopo-
(s. Abschn. 4.2) enthielten in der Regel nur eine lyploidisierung (Verdopplung ohne vorherige Art-
Ausführung eines Gens, während man in den Ge- kreuzung). Polyploidisierung trat zu Beginn der An-
nomen der Chordaten meist mehrere Kopien eines giospermenentwicklung auf und wiederholte sich
Gens vorfindet. Es wird deshalb angenommen, dass in vielen Pflanzenfamilien. Eine Polyploidisierung
die Chordatengenome mindestens zweimal ver- kann durch Wegfall der meiotischen Reduktionstei-
doppelt wurden (1-2-4-Regel). Die erste Genom- lung auftreten, indem diploide Gameten entstehen,
duplikation während der Evolution der Chordaten die zu tetraploiden Zygoten verschmelzen (Autopo-
erfolgte bereits vor der kambrischen Explosion lyploidie). Eine andere Entstehungsweise der Poly-
(s. Abschn. 2.2.1), während die zweite und nächste ploidie beruht auf der Hybridisierung zweier Arten
Verdopplung (also auf vier Kopien) im frühen De- (Allopolyploidie). Hybridisierung war offenbar eine
von stattfand. In der Evolution der Fische erfolgte treibende Kraft in der Pflanzenevolution, die zur
im späten Devon, nachdem sich bereits die Sarcop- großen Biodiversität der Landpflanzen geführt hat.
terygii abgetrennt hatten, eine weitere Verdopplung Polyploidisierung findet man häufiger bei Pflan-
des Genoms auf acht Kopien (1-2-4-8-Hypothese) zen als bei Tieren. Bei Pflanzen sieht man in den
(Wittbrodt et  al. 1998, Robinson-Rechavi et  al. meisten Familien polyploide Chromosomensätze,
2004). Zu den Sarcopterygii gehören die Quasten- die einem Mehrfachen des diploiden Chromoso-
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 273

mensatzes entsprechen. Viele Tiere sind diploid: Weise entstanden in der Evolution Genfamilien. In
Ausnahmen im Tierreich sind zwittrige Oligocha- . Abb. 3.39 ist ein molekularer Stammbaum der 1
eten, Turbellarien und Gastropoden sowie parthe- Proteinkinasefamilie dargestellt, der zeigt, wie aus
nogenetische Arten (einige Coleopteren, Lepido- einem ursprünglichen Protein eine Vielzahl von 2
pteren und Garnelen). Aber auch innerhalb eines funktionellen Proteinkinasen entstehen konnte, die
ansonsten diploiden Organismus können einzelne sich heute in diverse Unterfamilien aufteilen.
Zelltypen polyploid sein: Beispiel für polyploide In Multigenfamilien lassen sich besondere 3
Zellen beim Menschen sind die Megakaryocyten Phänomene beobachten. In vielen Fällen sind die
und Urothelzellen (nur obere Zellschichten). Da in Mitglieder von Genfamilien in Genclustern auf 4
den polyploiden Zellen alle Chromosomen funk- den Chromosomen angeordnet und nicht zufällig
tionell sind, erhöht sich in diesen Zellen die Tran- irgendwo im Genom verteilt, sondern benachbart.
skriptionsrate, da mehr Genkopien vorhanden sind Man könnte diese Cluster auch als Supergen be-
5
als im diploiden Genom. zeichnen. Markant und nicht ohne weiteres erklär-
Polyploidie stört besonders, wenn ein XY-XX- bar ist die häufig beobachtete Sequenzähnlichkeit 6
Mechanismus der genotypischen Geschlechtsbe- zwischen den Genen einer Familie, da sich die Se-
stimmung vorliegt, da die XY-Gleichgewichte in der quenzen innerhalb von Multigenfamilien häufig 7
Zygote gestört werden. Bei Fischen und Amphibien, nicht unabhängig entwickeln, wie man es eigentlich
deren Mechanismus der Geschlechtsbestimmung erwarten würde.
weniger streng ist, tritt Polyploidisierung regelmä- Der zugrunde liegende Evolutionsprozess wird 8
ßig auf. Bei einigen Amphibien existieren heute als konzertierte oder horizontale Evolution be-
noch diploide und tetraploide Arten in derselben zeichnet. Diese Prozesse (. Abb. 3.40) führen nicht 9
Gattung nebeneinander. Selbst unter Säugetieren nur dazu, dass die DNA-Sequenzen aller Mitglie-
existieren polyploide Arten, z. B. bei der argenti- der einer Genfamilie angeglichen werden, sondern
nischen Kammratte (Familie Octodontidae). Auch auch dazu, dass sich Varianten in der Genfamilie
10
die stark schwankenden Chromosomenzahlen der ausbreiten können und letztlich in der Population
Vertebraten und Invertebraten (z. B. bei Lycaenidae; fixiert werden. Dieses Phänomen ist für rRNA- 11
Lepidoptera) (. Tab. 3.10) deuten darauf hin, dass Gene, Globin-, Immunoglobin-, HLA-, Histon- und
Chromosomenduplikation und Polyploidisierung in Hitzeschockgene sowie für repetitive DNA genauer 12
der Evolution auftraten. untersucht worden. Eine wichtige Multigenfamilie
Verdoppelte Chromosomensätze (z. B. von Hy- stellen die rRNA-Gene dar, die in der Grundeinheit
briden) tragen aber eine verdoppelte genetische als Genkassette vorliegen (. Abb. 3.9). Zunächst 13
Information, die evolutionär genutzt werden kann. wird die ganze Kassette transkribiert, später erfolgt
Einzelne Allele werden durch Mutation abgeschaltet das Herausschneiden der 5S, 18S und 28S rRNAs. 14
(sogenannte Null-Allele), oder aber die duplizierten Beim Krallenfrosch (Xenopus) findet man 400–600
Gene durchlaufen eine divergente Evolution und er- tandemartige Wiederholungen der RNA-Kassette
werben neue Eigenschaften. Meist werden sie dann auf einem einzigen Chromosom. Beim Menschen
15
entwicklungs- und gewebsspezifisch unterschied- sind ca. 300 Kopien auf fünf Chromosomen verteilt.
lich exprimiert. Letztlich wird die Funktionalität des Trotz hoher Kopienzahl sind die Nucleotidsequen- 16
diploiden Chromosomensatzes durch diese Mecha- zen in allen repeats fast immer identisch; dies ist
nismen wiederhergestellt (Diploidisierung). eine wichtige Voraussetzung für die Verwendung 17
Die wiederholten Gen- und Genomverdopplun- der rRNA-Gene in der molekularen Phylogeniefor-
gen eröffneten die Möglichkeit, mit den zusätzlich schung (s. Abschn. 4.2); die Sequenz eines einzelnen
geschaffenen Genkopien neue Wege zu gehen, da rDNA-Gens ist meist repräsentativ für die vielen 18
diese nicht unmittelbar zum Überleben gebraucht Kopien, die im Genom vorhanden sind.
wurden. Aus den Genkopien entwickelten sich Für Um- und Neuordnungen (rearrangements) 19
durch Punktmutationen und Genmutationen Gene der Kern-DNA werden zwei Prozesse verantwort-
mit neuen Eigenschaften, die für Proteine mit lich gemacht, das ungleiche Crossing over (unequal
meist ähnlichen Eigenschaften codierten. Auf diese crossing-over) und die Genkonversion (. Abb. 3.40).
20
274 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

.. Abb. 3.39 a–f.  Nicht gewurzelter molekularer Stammbaum der Proteinkinasefamilie rekonstruiert über Aminosäuresequen-
zen der zugehörigen Proteine. Mehrere Unterfamilien können definiert werden: a durch Mitogene aktivierte Proteinkinasen
(MAP-Kinase); b Proteinkinasen, die Tyrosinreste phosphorylieren; c Proteinkinasen, die Serinreste phosphorylieren; d Calcium/
Calmodulin-abhängige Proteinkinasen; e die im Stoffwechsel verbreiteten Proteinkinasen, die cAMP oder cGMP als allosteri-
schen Aktivator benötigen; f Cyclin-abhängige Proteinkinasen

Beide Mechanismen beruhen auf Fehlpaarungen in anderen Sequenzbereichen. Durch Genkonver-


homologer DNA. Crossing over ist ein wesentlicher sion werden Sequenzen einander angeglichen oder
Prozess in der Meiose (s. EXKURS 3.2 Abschn. 3.3.3), neue Sequenzkombinationen erzeugt. Bei Säugetie-
bei dem homologe Abschnitte der Chromatiden aus- ren liegen rDNA-Repeats auf fünf Chromosomen
getauscht werden. Beim ungleichen Crossing over, und weisen alle die gleiche Sequenz auf. Demnach
das insbesondere im Bereich repetitiver Sequenzen erfolgt Genkonversion nicht nur innerhalb eines
auftritt (. Abb. 3.20), werden Sequenzbereiche oder Chromosomenpaares, sondern auch zwischen
vollständige Gene verdoppelt, d. h. Genzahl und nicht-homologen Chromosomen. Nicht immer
Genlänge verändern sich. Bei repetitiver DNA (z. B. werden komplette Gene umgewandelt, manchmal
Minisatelliten-DNA; s. Abschn. 3.4.3) ist dieses Phä- sind es auch nur begrenzte Genbereiche, die dieses
nomen am auffälligsten. Merkmal zeigen, z. B. findet man bei zwei huma-
Genkonversion tritt dagegen sowohl in der Mi- nen Cytochrom p450-Genen eine Sequenzidentität
tose als auch in der Meiose auf, wenn bereits durch im 5´-Ende, aber eine Variabilität an 36 Positionen
Genduplikation mehrere Kopien eines Gens vor- im 3´-Ende. Ein anderes Beispiel betrifft die bei-
liegen. Bei der Genkonversion bleibt die Zahl der den Alpha-Globin-Gene (α1 und α2) des Hämo-
Gene und ihre Länge unverändert (. Abb. 3.40c). globins, die an beiden Loci bei verschiedenen Orga-
Genkonversion beginnt mit einer Heteroduplex- nismen identische Mutationen aufweisen, obwohl
bildung von DNA-Einzelsträngen verwandter, aber eine Trennung beider Gene vermutlich bereits vor
nicht gleicher Gene, die dann durch Mismatch- 300 Mio. Jahren erfolgte.
Repair in vollständig komplementäre Stränge um- Genkonversion ist also nur bei DNA-Abschnit-
gewandelt werden. Ausgangspunkt der Hetero- ten möglich, die eine Sequenzhomologie aufweisen;
duplexbildung sind identische (häufig repetitive) ihre Häufigkeit ist proportional zur Sequenzhomo-
Sequenzbereiche, z. B. in der Intronregion oder logie. Sind die Mitglieder von Genfamilien durch
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 275

3.4.3 Nicht-codierende repetitive


DNA 1
Der vermutlich größte Teil des Genoms (über 50 % 2
bei vielen höheren Eukaryoten) wird nicht tran-
skribiert und ist teilweise vermutlich funktionslos.
Wichtige Elemente stellen Pseudogene und repeti- 3
tive DNA-Sequenzen dar (. Abb. 3.28).
4
Pseudogene
Durch Verdopplung oder Vervielfachung von Genen
und Genomen entwickelten sich meist, aber nicht
5
immer, neue funktionelle Gene (s. Abschn. 3.4.2).
Im Gegensatz dazu stehen Pseudogene, bei de- 6
nen es sich um nicht translatierbare Kopien von
ehemals aktiven Genen handelt, die Frame-shift-, 7
Nonsense-Mutationen, Deletionen und Insertio-
nen aufweisen. Pseudogene haben nicht mehr die
ursprüngliche Genfunktion. Auch sie unterliegen 8
der horizontalen Evolution, d. h. sie können durch
.. Abb. 3.40 a–c.  Sequenzangleichung (Homogenisation)
von tandemartig angeordneten DNA-Sequenzen durch
ungleiches Crossing over und durch Genkonversion 9
(s. Abschn. 3.4.2) verändert werden.
ungleiches Crossing over und Genkonversion. a In einer Familie
Bei Pseudogenen kann man zwei Gruppen
von tandemartig angeordneten DNA-Elementen kommt es zu
unterscheiden: Die erste entsteht durch Gendu-
10
einem regelmäßigen Gewinn oder Verlust von Einzelelementen
durch ungleiches Crossing over, denn homologe Genelemente plikation und anschließender Geninaktivierung.
sind Orte erhöhter genetischer Rekombination. b Mutationen Die zweite Gruppe mit sogenannten Retropseu- 11
können sich durch ungleiches Crossing over in einer Genfamilie
dogenen (oder prozessierten Pseudogenen) durch
durchsetzen, indem das mutierte Element bevorzugt dupliziert
wird, während die Wildtypallele verloren gehen. c Ausbreitung Retrotransposons. Im diesem Falle werden Gene 12
von Mutationen in einer Genfamilie durch Genkonversion. transkribiert, die mRNAs prozessiert und nach
Dabei dient eine Genkopie als Matrize und überführt ihre Rückübersetzung mittels reverser Transcriptase an
Information (und Mutation) auf andere Genkopien. Dieser einer neuen Stelle im Genom als cDNA-Kopie inse- 13
Prozess verläuft bei höheren Eukaryoten nur bei Genkopien,
riert. Diese Retropseudogene haben keine Introns,
die nebeneinander auf einem Chromosom lokalisiert sind
aber häufig Poly-A-Schwänze und liegen nicht in 14
Nachbarschaft zum Ursprungsgen, wie dies bei
Alu-Sequenzen (s. Abschn. 3.4.4) getrennt, so tritt Pseudogenen, die durch Duplikation entstanden
eine Genkonversion nicht oder seltener ein; wir sind, der Fall ist.
15
beobachten in solchen Fällen, dass die Einzelgene Erstaunlicherweise kann die Natur es sich leis-
getrennt evolvierten, d. h. unterschiedliche Sequen- ten, diese Sequenzen, die früher aufgrund mangeln- 16
zen aufweisen. den Wissens als „Müll“ (junk-DNA) bezeichneten
Unklar ist der Mechanismus, über den eigent- Sequenzen, mit jeder Generation weiter zu vermeh- 17
lich eine Sequenzkonstanz in den vielen Kopien ren, obwohl die Replikation ein energieaufwendiger
der Organell-DNA (Mitochondrien und Chloro- Prozess ist. Aber vielleicht sind ja diese DNA-Ab-
plasten) erreicht wird, da hier Rekombinations- schnitte, die heute funktionslos erscheinen, in einer 18
prozesse (angeblich) fehlen. Ob bei ihnen ebenfalls späteren Evolutionsphase (als molekulares „Ersatz-
extra-chromosomale Elemente, wie z. B. Plasmide, teillager“) wieder von Nutzen. Unter anderen befin- 19
eine Rekombination ermöglichen, wie bei haplo- den sich in diesen DNA-Abschnitten Sequenzen für
iden Prokaryoten angenommen wird, bleibt zu RNAi, die bei der Genregulation eine wichtige Rolle
prüfen. spielen (s. Abschn. 3.2.4).
20
276 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

von Tandem-Repeat. Diese Tandem-Repeats sind


der Ausgangspunkt für weitere DNA-Amplifikatio-
nen, hervorgerufen durch ungleiches Crossing over
(. Abb. 3.20; . Abb. 3.40). Mengenmäßig bedeut-
.. Abb. 3.41  Schematische Darstellung der Anordnung von sam ist die repetitive DNA, die man in mittelrepeti-
Protein-codierenden Genen, VNTR, LINE und SINE auf einem tive DNA (umfasst Transposons und Retroelemente)
Chromosom: VNTR (variable number tandem repeats), SINE und hochrepetitive DNA unterteilen kann. Die
(short interspersed elements), LINE (long interspersed elements) letzte Klasse umfasst kurze Nucleotidsequenzen,
die tandemartig in großer Anzahl in den Chromo-
Repetitive DNA somen vorkommen (. Abb. 3.28; . Abb. 3.41). Man
Wird ein DNA-Bereich verdoppelt und neben dem unterscheidet Telomer-, Satelliten-, Minisatelliten-
ursprünglichen Gen positioniert, so sprechen wir und Mikrosatelliten-DNA.

  EXKURS 3.4  

Repetitive, mobile und retrovirale Sequenzen im menschlichen


Genom
Jens Mayer (Homburg)
Das haploide menschliche Genom besteht aus noch evolutiv sehr alte, teilweise Hunderte von Mil-
ca. 3,2 Mrd. Basenpaaren. Jedoch codiert nur ein lionen Jahren alte DNA-Transposonsequenzen.
kleiner Teil unseres Genoms, ca. 1,5 %, für Proteine, Ungefähr 13 % unseres Genoms bestehen aus
also die den menschlichen Organismus maßgeb- sogenannten Short Interspersed Elements (SINEs),
lich aufbauenden und regulierenden Moleküle. wobei bisher ca. 1,8 Mio. solcher SINEs in unserem
Ein deutlich größerer Teil der DNA des menschli- Genom identifiziert werden konnten. Diese wenige
chen Genoms, ca. 45 % besteht aus sogenannten hundert Basenpaare langen Elemente haben sich
repetitiven Elementen, auch mobile DNA genannt. über RNA-Intermediate in unserem Genom ausge-
Dies bedeutet, dass bestimmte Nucleotidsequen- breitet. SINEs können durch eigene Promotorele-
zen (mit entsprechend ihrem evolutiven Alter an- mente eine RNA von sich herstellen, die an einer
gesammelten Sequenzveränderungen) an vielen anderen Stelle im Genom wieder als DNA integriert
Stellen im Genom vorkommen. Alle diese Sequen- werden kann. Da SINE-Sequenzen selbst keine Pro-
zen waren oder sind mobil; sie haben sich in unse- teine codieren, profitieren sie quasi als Nebenpro-
rem Genom über lange Zeiträume hinweg bewegt dukte von den folgenden mobilen DNA-Elementen.
oder können sich sogar noch bewegen. Man unter- Ungefähr 17 % unseres Genoms bestehen aus
scheidet verschiedene Klassen solcher repetitiven, sogenannten Long Interspersed Elements (LINEs),
mobilen Elemente, und untersucht, wie sich diese wobei sich in unserem Genom ca. 1,4 Mio. solcher
Elemente im Genom beweg(t)en bzw. wie sie ent- Elemente, welche eine Länge von mehreren Kiloba-
standen. senpaaren haben, finden. Die im Genom vorkom-
Ca. 3 % unseres Genoms sind sogenannte DNA- menden LINEs sind in den meisten Fällen nicht
Transposons. Diese codieren ein Protein (Transpo- komplett; sehr oft fehlen größere 5‘-Bereiche der
sase), mit dem sie ihre eigene DNA-Sequenz aus Elemente. Volllängenelemente sind ca. 6 kb lang,
einem DNA-Strang ausschneiden und an einer an- enthalten in ihrem 5‘-Bereich einen Promotor und
deren Stelle im Genom wieder einsetzen können. codieren zwei Proteine, wobei das eine mit RNA
Das Intermediat während dieses Vorganges ist also interagieren kann und das andere eine reverse
eine DNA (und keine RNA wie bei Retrotranspo- Transcriptase (RT) und eine Endonuclease codiert,
sons). Im menschlichen Genom finden sich jedoch also Enzyme, welche einen RNA-Strang in einen
keine aktiven DNA-Transposons mehr, sondern nur DNA-Strang umschreiben und zusätzlich DNA-
7
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 277

 EXKURS 3.4 (Fortsetzung) 
Stränge durchtrennen können. Volllängen-LINEs net man solche Sequenzen als humane endogene 1
können, sofern sie noch entsprechend intakt sind, Retroviren (HERV). Weitere Infektionen durch ein
eine RNA von sich transkribieren, welche von dem bestimmtes Retrovirus A konnten zu weiteren 2
codierten RT/EN-Protein an einer anderen Stelle HERV-Elementen im Genom führen. Andere Retro-
im Genom als DNA wieder integriert wird, ein als viren B, C, D usw. können ebenfalls Kopien in der
Retrotransposition bezeichneter Prozess. Dieser Keimbahn bilden. Tatsächlich hinterließen während
3
Prozess ist nicht sehr effizient, so dass oft nur ein der Evolution eine ganze Reihe verschiedener Ret-
3‘-Abschnitt einer LINE-RNA in DNA umgeschrie- roviren ihre Spuren in den Genomen der evolutiven 4
ben wird. Von diesem Mechanismus profitieren Vorläufer des Menschen (wie auch in denen vieler
auch SINEs, deren RNA ebenfalls von der Enzym- anderer Vertebraten). Es finden sich ca. 35 verschie-
5
maschinerie von LINEs in DNA umgeschrieben dene Gruppen von HERVs in unserem Genom. Zu-
werden kann. Ebenso bildet die LINE-Maschinerie sätzlich konnten die einzelnen HERV-Gruppen
sogenannte prozessierte Pseudogene, quasi cDNA- noch innerhalb des Wirtsgenoms weitere Kopien 6
Kopien (copy oder complementary DNA) die mittels von sich bilden, so dass manche HERV-Gruppen mit
reverser Transcriptase von RNA-Transkripten zellu- vielen tausend Kopien im Genom vertreten sind. 7
lärer Gene hergestellt wurden. Verschiedene HERV Gruppen bildeten bzw. breite-
Im menschlichen Genom findet sich noch eine
weitere Klasse von mobilen Elementen, die ur-
ten sich im Genom z. B. vor 35 oder 55 Mio. Jahren
jeweils innerhalb relativ kurzer evolutiver Zeit-
8
sprünglich auf Retroviren zurückgeht und ca. 8 % räume aus. Danach verloren diese Sequenzen
unseres Genoms einnimmt. Wenn Retroviren einen durch Mutationen ihre Fähigkeit zur Codierung der 9
neuen Wirtsorganismus infizieren, bauen sie ihr retroviralen Proteine. Es gibt aber Ausnahmen,
retrovirales Genom als Provirus in das Genom be- manche HERV-Gruppen bildeten noch nach der 10
stimmter somatischer Zellen des Wirtes ein. Solche evolutiven Abspaltung des Menschen vom ge-
Proviren enthalten in ihrem etwa 9kb langen Ge- meinsamen Vorfahren mit dem Schimpansen neue
nom Elemente zur Steuerung der Transkription, wie Proviren im menschlichen Genom. Diese Proviren 11
Promotoren, Polyadenylierungs- und Spleißsignale sind noch relativ intakt und können noch retrovi-
sowie Proteine, welche retrovirale Partikel bilden, rale Proteine codieren. 12
retrovirale Proteine prozessieren oder sich in die Warum gibt es mobile Elemente in unserem
Membran der Wirtszelle integrieren und später die
Infektiosität retroviraler Partikel vermitteln können,
Genom? Welche Auswirkungen hat diese Mobili-
tät auf unser Genom bzw. Genome allgemein? Zu-
13
sowie eine reverse Transcriptase, eine Endonucle- nächst ist hier zu betonen, dass keineswegs nur das
ase und eine RNase H, welche die Umschreibung menschliche Genom solche mobilen Sequenzen 14
eines retroviralen RNA-Genoms in provirale DNA enthält. In den Genomen von praktisch allen eu-
bewerkstelligen. Zu retroviralen Sequenzen in un- karyoten Spezies finden sich Spuren von mobilen 15
serem Genom kommt es, wenn sich provirale Se- Elementen, die sich in den Genomen von (gemein-
quenzen nicht (nur) in somatischen Zellen unseres samen) Vorläuferspezies bewegten, oder aktuell
Organismus, sondern in Genomen von Zellen der noch in den Genomen dieser Spezies bewegen. 16
Keimbahn bilden. In einzelnen Fällen werden sol- Innerhalb der SINEs finden sich im Menschen so-
chermaßen „infizierte“ Genome (Chromosomen) an genannte Alu-Elemente, die sich im Verlauf der Evo- 17
die folgende Generation vererbt. Da alle Zellen der lution der Primaten innerhalb von deren Genomen
Nachkommen aus dem Genom von Keimbahnzel-
len hervorgehen, werden also die Genome aller
stark ausbreiteten und deshalb in den Genomen
von Primaten zu finden sind. In Nagern verbreite-
18
Zellen des Nachkommens dieses Provirus enthal- ten sich innerhalb der SINEs dagegen sogenannte
ten. Das Provirus wurde vertikal an nachfolgende B1- und B2-Sequenzen. Die Evolution von LINEs 19
Generationen und über evolutive Zeiträume auf überspannt vermutlich mehrere hundert Millionen
neue Spezies vererbt. Für den Menschen bezeich- Jahre, und man kann Sequenzen entsprechender 20
7
278 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

 EXKURS 3.4 (Fortsetzung) 
unterschiedlicher Alter in Genomsequenzen vieler könnten. Zum Beispiel wird für eine evolutiv junge
Spezies detektieren. Auch finden sich homologe und deshalb noch für verschiedene retrovirale Pro-
Sequenzen von im menschlichen Genom vorhan- teine codierende Gruppe von HERVs (als HERV-
denen HERVs je nach evolutivem Alter auch in an- K[HML-2] bezeichnet) die Involvierung in be-
deren Primaten oder gar in Nagern. stimmte Formen von Krebs, wie z. B. Hodentumoren
Generell sind mobile Elemente (genetische) (der häufigsten Tumorform des jungen Mannes),
Moleküle, welche sich in bestimmter Weise bewe- Brustkrebs und Hautkrebs diskutiert und grundla-
gen oder vervielfältigen können. Sie nutzen dabei genwissenschaftlich untersucht. Für die HERV-W-
ihre Wirtsgenome als „Lebensraum“, in dem sie sich Gruppe wird deren Involvierung in Multiple Skle-
auf molekularer Ebene vermehren bzw. erhalten. rose erwogen und ebenso untersucht.
Mobile Elemente sind offensichtlich sehr erfolgrei- Jedoch sind mobile Elemente nicht grund-
che genetische Elemente, auch in niederen Euka- sätzlich schädigend für das Wirtsgenom bzw. den
ryoten und Bakterien findet man mobile Elemente. menschlichen Organismus. Mobile Elemente hat-
Dabei mussten vor allem die mobilen Elemente ten auch durchaus positive Auswirkungen für den
sicherstellen, dass sich durch ihre eigene Aktivität Wirtsorganismus. Wenn durch mobile Elemente
die Genome des Wirtes nicht zu sehr schädigten, die Funktion und die Produkte eines Gens verän-
also nicht zu stark mutierten. Das ist offensichtlich dert wurden, könnte dies im jeweiligen evolutiven
gut gelungen. Kontext einen Vorteil für die betreffenden Indivi-
Durch ihre eigene Aktivität innerhalb von Ge- duen gehabt haben, und diese wurde deshalb se-
nomen verändern mobile Elemente die Struktur lektiert. In Mäusen finden sich z. B. von proviralen
und teilweise auch Funktionalität eines Genoms, Sequenzen abstammende Gene, welche teilweise
und die Auswirkungen solcher Aktivitäten sowie sehr effektiv gegen die Infektion durch bestimmte
die sich daraus ergebenden sekundären Phäno- exogene Retroviren schützen. Im Menschen und
mene sind keinesfalls zu unterschätzen. Wenn sich einigen anderen Primaten ist ein von einem endo-
z. B. die Alu-Elemente innerhalb von 60 Mio. Jahren genen Retrovirus abstammendes Gen bzw. Protein-
auf heute ca. 1 Mio. Elemente vermehrten, hatte produkt anscheinend essenziell in die Entwicklung
dies sicherlich Auswirkungen auf die Struktur des der Plazenta involviert. Hierbei wurde ein einzelner
Genoms und manche Gene. In der Tat finden sich Locus der HERV-W-Gruppe, insbesondere der für
vielfach Beispiele, in denen die Funktion von Genen ein Hüllprotein (Envelope Protein) codierende Teil
durch die Bildung von mobilen Elementen verän- des Locus, zu einem echten Gen (Syncytin) hin se-
dert wurde. Retrovirale Elemente konnten z. B. mit lektiert. Syncytin wird während der Bildung von Syn-
ihren eigenen Sequenzen alternative Promotoren cytiotrophoblasten aus Trophoblasten exprimiert.
oder Spleißsignale einbringen. Die Bildung neuer Die Membranen von Trophoblasten-Einzelzellen
SINEs oder LINEs konnte während der Evolution verschmelzen hierbei miteinander. Die Evolution
Gene verändern oder zerstören. Sowohl SINEs als hat offensichtlich eine für Retroviren während der
auch LINEs sind noch heute im menschlichen Ge- Infektion von Zellen wichtigen Prozess, nämlich die
nom aktiv und bilden neue Kopien von sich. Es ist Verschmelzung von Zellmembranen, welche vom
deshalb eine ganze Reihe von Fällen genetisch be- retroviralen Hüllprotein vermittelt wird, für einen
dingter Erkrankungen bekannt, bei denen das je- körpereigenen Prozess nutzbar gemacht. Syncytin
weils relevante Gen durch die Bildung eines LINE ist nun anscheinend ein im Menschen essenzielles
oder SINE innerhalb des Gens zerstört wurde. Für Gen; in bisherigen Studien konnten keine Nonsens-
den Menschen wird deshalb auch wissenschaftlich Mutationen innerhalb des Syncytin-Locus identifi-
untersucht, ob mobile Elemente oder die von be- ziert werden.
stimmten HERVs codierten Proteine an der Entste- Aus wissenschaftlicher Sicht liefern die Sequen-
hung von bestimmten Erkrankungen mit geneti- zen von HERVs, wie auch die von endogenen Ret-
schen Ursachen, oder z. B. gar Krebs, beteiligt sein roviren in anderen Spezies, zudem wichtige Er-
7
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 279

 EXKURS 3.4 (Fortsetzung) 
kenntnisse für ein besseres Verständnis der damaligen Retroviren codierten, inwieweit diese 1
Evolution von Retroviren. HERVs sind im Prinzip die Retroviren z. B. schon spezialisierte Proteine codier-
Sequenzüberreste von Retroviren, welche Vorläu- ten, die sich heute bezüglich der Proteinfunktion 2
ferspezies vor vielen Millionen von Jahren infizier- auch im Humanen Immundefizienz-Virus (HIV)
ten. Die retroviralen Sequenzen im Menschen be- finden. Man kann hier also gewissermaßen
inhalten also Hinweise, welche Proteine diese Paläo(retro)virologie betreiben.
3
4
.. Tab. 3.11  Nucleotidsequenz von Telomeren .. Tab. 3.12  Repetitive Sequenzelemente in Satelliten-

Organismus Sequenzelement
DNA von Drosophila 5
Sequenzelement Länge der
Mensch (Vertebrata) TTAGGG Satelliten-DNA
(Anzahl Basen- 6
Bombyx (Insecta) TTAGG paare)
Arabidopsis (höhere Pflanzen) TTTAGGG
ACAAACT 107 7
Chlamydomonas (Algen) TTTTAGGG
ATAAACT 10 6

Saccharomyces (Hefepilze) G(2-3)(TG)(1-6)T


ACAAATT 106
8
Neurospora (filamentöser Pilz) TTAGGG
AATATAG 106
Trypanosoma (Flagellata) TTAGGG 9
Tetrahymena (Ciliata) TTGGGG
siert sein. Bei Insekten und anderen Arthropoden
ist die Satelliten-DNA sehr homogen aufgebaut,
10
An den Enden der Chromosomen findet man d. h. ihre Sequenzelemente sind hochkonserviert
mehrere Tausend Kopien der tandemartig wieder- (. Tab. 3.12). Bei Vertebraten sind die bis 1000-fach 11
holten Telomersequenzen, die über weite Orga- wiederholten Sequenzeinheiten der Satelliten-DNA
nismengruppen konserviert wurden (. Tab. 3.11). deutlich länger und variabler (Länge über 200 Ba- 12
Telomere verhindern, dass Chromosomenenden senpaare); in diesen Elementen findet man variierte
vorzeitig durch Nucleasen abgebaut werden. Telo- Unterelemente, wie z. B. GA5TGA. Durch unglei-
mere werden durch spezielle Telomerasen an die ches Crossing over (s. Abschn. 3.4.3) ist die Varia- 13
Chromosomenenden angeheftet. Die Telomerase, bilität in der Satelliten-DNA etwa zehnmal höher
die mit den reversen Transcriptasen von LINEs (s. als bei Genen, die nur in wenigen Kopien vorkom- 14
unten) verwandt ist, ist in Embryonal- und Tu- men. Verteilung und Organisation der repetitiven
morzellen besonders stark, in somatischen Zellen DNA-Elemente in den Centromerenbereichen sind
erwachsener Organismen ist sie dagegen weitge- chromosomen- und artspezifisch; vermutlich dient
15
hend inaktiv. Ausgehend von diesem Phänomen die repetitive Centromeren-DNA dazu, dass sich die
wurde die Hypothese aufgestellt, dass Altern und homologen Chromosomen während der Meiose er- 16
Tod eine Konsequenz des irreversiblen Abbaus der kennen und zusammenlagern können. Sie ist auch
Telomersequenzen und funktionaler Chromoso- der Ansatzpunkt für die Kinetochorenproteine, an 17
menabschnitte ist. denen sich die Mikrotubuli des Spindelapparats an-
Trennt man die Gesamt-DNA von Eukaryoten heften können.
durch Cäsiumchlorid-Gradientenzentrifugation Neben der eigentlichen Satelliten-DNA findet 18
auf, so findet man häufig zwei Banden, von denen man bei Tieren und Pflanzen 5- bis 50-fach wie-
eine kleinere die sogenannte Satelliten-DNA enthält. derholte Sequenzelemente, die jeweils 15–100 Ba- 19
Diese Satelliten-DNA ist besonders reich an repeti- senpaare umfassen. Die Sequenzelemente lassen
tiven Sequenzen und kann auf den Chromosomen sich auf ursprüngliche Sequenzen zurückführen,
bevorzugt im Bereich der Centromeren lokali- die durch Punktmutationen variiert wurden. Diese
20
280 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

repetitive DNA, die jeweils ca. 500–5000 Nucleo- Loci. Da die Mikrosatelliten-PCR mit geringsten
tide umfasst, ist wesentlich kürzer als die eigentliche Mengen an DNA auskommt, ist sie heute für viele
Satelliten-DNA (. Tab. 3.13) und wird als Minisa- forensische und biologische Fragen die Methode
telliten-DNA oder VNTR (variable number tandem der Wahl (s. Abschn. 4.1.2) und hat das Multilocus-
repeats) bezeichnet. Sie zeigt eine starke Längenvari- Fingerprinting inzwischen weitgehend ersetzt. Die
abilität an jedem Locus und weist durch ungleiches Variabilität von Mikrosatelliten-DNA wird während
Crossing over (s. Abschn. 3.4.2) eine besonders hohe der Meiose durch ungleiches Crossing over und slip-
Mutationsrate auf (indem z. B. die Zahl und Länge page (man kann dies bildhaft als Stottern der DNA-
der Repeats verändert wird), die bis zu 5 % pro Ga- Polymerase auffassen, die durch die kurzen repeti-
met betragen kann. Man hat die Minisatelliten-DNA tiven DNA-Elemente „irritiert“ wird) stark erhöht,
deshalb auch als hot spot der meiotischen Rekombi- indem die kurzen Sequenzelemente mutiert, oder
nation bezeichnet. Minisatelliten-DNA eignet sich in ihrer Anzahl verdoppelt oder verringert werden
besonders zur Identifizierung von Individuen (z. B. können (. Abb. 3.20; . Abb. 3.40).
in der forensischen Medizin oder Kriminalistik bei Im Genom von Pflanzen und Tieren findet man
Aufklärung von Sexualstraftaten oder Mord) und zusätzlich bis 500 Basen lange DNA-Abschnitte, die
zur Aufklärung von Paternität und Homozygotie in short interspersed elements (SINE) (mit über 1,8 Mio.
einer Population. Viele VNTR-Loci haben in einer Kopien im Humangenom) oder im Falle von Voll-
Population Dutzende von Allelen, die dominant längenelementen ca. 6000 Nucleotide lange long
vererbt werden. Diese Eigenschaft wird im Multi- interspersed elements (LINEs), die in vielen Kopien
locus-DNA-Fingerprinting (s. Abschn. 4.1.2) ausge- (>1 Mio. im Humangenom) auftreten (jedoch nicht
nutzt, bei dem Dutzende Loci gleichzeitig analysiert in tandemartigen Wiederholungen) (. Abb. 3.41).
werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei nicht In tierischen und pflanzlichen Genomen gibt es
verwandte Individuen identische Fingerprints auf- ferner Tausende Kopien von miniature inverted-
weisen, ist kleiner als 1 zu 10 Mio. Diese Vorausset- repeat transposable elements (MITEs), die an ihren
zung ist jedoch nicht immer gegeben, denn gerade Enden ca. 15 Basen lange inverted repeats tragen
in natürlichen Populationen oder bei Haustieren (s. EXKURS 3.4).
finden wir, dass nah verwandte Individuen in einer Zu den SINEs zählen die DNA-Elemente Alu
Population vorhanden sind (bedingt durch Philo- (s. EXKURS 3.4). Im menschlichen Genom umfasst
patrie, d. h. bevorzugte Ansiedlung am Geburtsort, der Anteil dieser Elemente ca. 13 % des Gesamtge-
und Inzucht). Je höher die innere Verwandtschaft noms. SINEs eignen sich auch als phylogenetische
in einer Gruppe oder Population, desto schwieriger Marker, da sie Merkmalspolarität aufweisen. Diese
kann es sein, über DNA-Fingerprinting eindeutige Elemente, die man auch als mobile genetische
identitäts- und Vaterschaftsnachweise zu erbringen. Elemente („springende Gene“) oder Retroposons
Daneben treten in tierischen und pflanzlichen bezeichnet, werden durch Reverse-Transcriptase-
Genomen noch kürzere repetitive Elemente auf, Aktivität von intakten LINEs gebildet. Aus evolu-
deren Grundeinheit aus zwei (manchmal bis fünf) tionärer Sicht könnte man die Transposons (mit
Nucleotiden (z. B. (GC)n oder (CA)n) bestehen, die long terminal repeats, LTR oder inverted repeats,
bis zu 100-mal wiederholt sind. Von diesen, als Mi- IR), Retrotransposons und Retroposons (Trans-
krosatelliten oder short tandem repeats (STR) be- posons ohne LTR) als Beispiele für aktive „ego-
zeichneten Elementen, finden wir beim Menschen istische“ Gene (selfish genes) ansehen, die nur
ca. 30.000 Loci, die für die Erkennung von Indivi- ihre Vermehrung „im Sinn haben“. Andererseits
duen, für Paternitäts-, Populationsuntersuchungen führen diese mobilen Elemente zur genetischen
und Genomkartierungen von großer Wichtigkeit Variabilität (u. a. vermehrtes Exon-Shuffling oder
sind (s. Abschn. 4.1.2). Die Allele eines Mikrosa- Enhancer-Shuffling), die sich langfristig auch positiv
tellitenlocus, die dominant vererbt werden, lassen auswirken kann. Chromosomen zeigen im Bereich
sich mittels PCR (s. Abschn. 4.1.2) amplifizieren. von Alu-Sequenzen erhöhte Raten von Neuorien-
Zur eindeutigen Identifizierung eines Individuums tierung. Wenn Alu-Elemente in aktive Gene sprin-
benötigt man die Allelverteilung von 10–20 STR- gen, so werden diese meist inaktiviert; umgekehrt
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 281

mal Oncoproteine. Sie werden von LTR-Sequenzen


.. Tab. 3.13  Beispiele für Sequenzvariation und Länge
von Minisatelliten-DNA flankiert. Die retrovirale RNA wird durch die retro- 1
virale reverse Transcriptase in eine doppelsträngige
Sequenzelement Repeat-
Länge
Zahl der
Repeats
Allele DNA umgeschrieben und an einer neuen Stelle im 2
Genom als sogenanntes Provirus inseriert.
AAGGGTGGG- 62 20–40 6 Der relative Anteil der nicht-repetitiven DNA
CAGGAAC liegt bei Bakterien bei 100 % und nimmt bei höher 3
TGGGGAGGGCAG- 64 10–18 5 entwickelten Eukaryoten ab: 70 % bei Drosophila,
AAAG ca. 55 % bei Säugetieren und 33 % bei Pflanzen. 4
GGA-GTGGG- 41 5 1 Der Anteil der repetitiven DNA nimmt entspre-
chend zu. Bedingt durch ungleiches Crossing over
CAGGCAG
wird der Anteil der repetitiven DNA im Genom
5
können „schlafende“ Gene aktiviert werden, in- der Eukaryoten in der zukünftigen Evolution
dem springende Elemente als Enhancer fungieren. vermutlich weiter wachsen. Wie bereits oben er- 6
Letztlich werden damit der Selektion neue Merk- wähnt, kennen wir die Funktion von deutlich über
male zur Verfügung gestellt. Sexuelle Isolation und 50 % des Genoms nicht, die Funktion und Regu- 7
Artbildung können durch diese Mechanismen ge- lation vieler Gene ist größtenteils oder gänzlich
fördert werden. unverstanden. Die repetitive mobile DNA hatte
Retrovirale Sequenzen sind ebenfalls in vielen zunächst einmal als „egoistische“ DNA aber ent- 8
eukaryoten Genomen identifizierbar. Bei voller scheidenden Einfluss auf das Genom selbst und
Länge codieren retrovirale Sequenzen verschie- trug wesentlich zur Evolution des Genoms bei. Die 9
dene Proteine, u. a. gag (Kapsidprotein), reverse zukünftige Forschung wird solche Einflüsse detail-
Transcriptase, Envelope (Hüllprotein) und manch- lierter aufklären.
10
3.4.4 Horizontaler Gentransfer 11
und Symbiosen
12
  EXKURS 3.5  
13
Die Bedeutung des horizontalen Gentransfers für die Evolution
der Bakterien 14
Gottfried Wilharm (Wernigerode)
1995 begann mit der Sequenzierung des ersten lutionsforschung stellen diese Datensammlungen 15
kompletten Genoms eines Organismus’ – des Bak- eine besonders wertvolle Ressource dar. Die Ana-
teriums Haemophilus influenzae – ein neues Zeital- lyse dieser Daten lässt uns vor allem die fundamen-
ter in den Biowissenschaften: das der Genomfor- tale Bedeutung des horizontalen Gentransfers 16
schung. Inzwischen hat uns die Geräteentwicklung (HGT) für die Phylogenie der Bakterien und Archa-
dahin gebracht, dass bakterielle Genome in einem ebakterien erkennen. HGT bezeichnet den Erwerb 17
einzigen experimentellen Ansatz in wenigen Stun- von Erbsubstanz außerhalb der normalen Erbfolge.
den vollständig sequenziert werden können. So
werden inzwischen die Metagenome ganzer Le-
Die am besten verstandenen Mechanismen zum
Erwerb neuer Erbsubstanz bei Bakterien sind die
18
bensräume studiert und wir lernen, dass der kollek- Aufnahme nackter DNA aus der Umgebung (Trans-
tive Genpool der etwa 1013 bis 1014 Darmbakterien formation), die Übertragung von Erb­substanz zwi- 19
eines Menschen etwa hundertfach mehr Gene um- schen Bakterien über sogenannte Sex-Pili (Kon-
fasst als unser eigenes Genom. Gerade für die Evo- jugation) sowie die Übertragung durch Infektion 20
7
282 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

 EXKURS 3.5 (Fortsetzung) 
mit Bakteriophagen (Transduktion). Man weiß in- 5500 Genen nur auf etwa 2000 Gene, die bei allen
zwischen, dass alle funktionellen Kategorien von Vertretern anzutreffen sind (das sogenannte Kern-
Genen dem HGT unterliegen können, wenn auch genom). Demgegenüber ist das Pangenom von
mit unterschiedlicher Frequenz. Selbst die taxono- E. coli, also die Gesamtheit aller nicht-orthologen
misch so wichtigen rRNA-Operons bilden hier keine Gene, die man in dieser Spezies finden kann, mit
grundsätzliche Ausnahme. Aus diesen Erkenntnis- mehr als 18.000 Genen fast zehnmal so groß wie
sen folgt nicht nur die Erosion der gebräuchlichen der Kernbestand der Art. Diese enorme Plastizität
Taxonomie sondern vor allem der Abschied von bakterieller Genome spielt unter anderem für die
einer rein Stammbaum-artigen Betrachtung der Entwicklung vieler bakterieller Krankheitserreger
Phylogenie. Stattdessen werden Netzwerk-artige eine entscheidende Rolle.
Betrachtungen der Entwicklungsgeschichte der Ein aktuelles Lehrstück, das diese Plastizität il-
Bakterien und auch der anderen Lebensformen lustriert, stellt ein Lebensmittel-assoziierter Infekti-
erforderlich. Die entwicklungsgeschichtliche Be- onsausbruch im Jahr 2011 in Deutschland dar, bei
deutung des horizontalen Gentransfers soll hier dem ein E. coli vom Serotyp O104:H4 fast 4000
anhand einiger Beispiele illustriert werden. Durchfallerkrankungen verursachte. Dabei kam es
Während sich die Akquisition neuer Gene in über 900-mal zu der schweren Komplikation eines
Eukaryoten vor allem durch Genduplikation inner- hämolytisch-urämischen Syndroms (HUS) sowie zu
halb einer Entwicklungslinie abzuspielen scheint, 54 Todesfällen. Die blutigen Durchfallerkrankun-
ist für die Entwicklung prokaryotischer Genome gen mit der Komplikation HUS deuteten auf en-
vor allem der horizontale Gentransfer (HGT) zwi- terohämorrhagische E. coli (EHEC) hin, allerdings
schen verschiedenen Entwicklungslinien entschei- war der Serotyp O104:H4 für einen EHEC-Erreger
dend. Immerhin weist aber auch das menschliche ebenso ungewöhnlich wie die hohe Komplikations-
Genom mehr als 100 Gene auf, die wahrscheinlich rate bei diesem Ausbruchsgeschehen. Die Genom-
über HGT Eingang in unsere Erbmasse gefunden sequenzierung mehrerer Ausbruchsisolate zeigte
haben und von Bakterien stammen. Umgekehrt dann, dass der Erreger die höchste Verwandtschaft
hat auch menschliches Erbgut vereinzelt Einzug in mit enteroaggregativen E. coli (EAEC) aufwies, aber
bakterielle Genome gehalten. So findet man etwa zusätzlich ein für EHEC-Erreger typisches Shiga-
in einigen Isolaten des Gonorrhoe-Erregers Neis- Toxin erworben hatte, ebenso einige typische Ei-
seria gonorrhoeae einen Genabschnitt menschli- genschaften extraintestinal pathogener E. coli (Ex-
chen Ursprungs. Deutlich stärker sind jedoch die PEC) sowie mehrere Antibiotika-Resistenzgene.
meisten bakteriellen Genome durch HGT unter- Zusammengefasst zeigt dies, wie durch HGT aus
einander bzw. durch Austausch mit Archaebak- verschiedenen Erregerpools neue aggressive Erre-
terien geprägt. Dies führt dazu, dass auch nah gervarianten entstehen können. Das gleichzeitige
verwandte Taxa sich vor allem auf Grund von HGT Akkumulieren von Antibiotika-Resistenzgenen
dramatisch im Gengehalt unterscheiden können. deutet an, dass die Entstehung dieser Erregervari-
Die Art Escherichia coli als Beispiel umfasst neben ante zumindest teilweise in einem Umfeld stattge-
kommensalisch lebenden Darmbewohnern auch funden hat, in dem ein Selektionsdruck durch An-
verschiedene Pathovare wie enterohämorrhagi- tibiotika bestand, also z. B. durch human- oder
sche E. coli (EHEC), enteroaggregative E. coli (EAEC) tiermedizinische Intervention.
oder extraintestinal pathogene E. coli (ExPEC). Ein Die Entwicklung multiresistenter bakterieller
Genomvergleich zwischen dem gebräuchlichen La- Krankheitserreger innerhalb weniger Jahrzehnte
borstamm E. coli K12 und einem EHEC zeigt, dass seit der therapeutischen Nutzung von Antibiotika,
diese nur 70 % Gemeinsamkeit in der Genausstat- die vor allem in Krankenhäusern zu einem immer
tung aufweisen. Vergleicht man nun alle bekannten größeren Problem wird, fußt vor allen Dingen auf
E.-coli-Genome, so kommt man bei einer Genom- HGT. Antibiotika sind keine Erfindung des Men-
größe der verschiedenen Vertreter von etwa 4200– schen sondern eine alte Erfindung der Natur. Des-
7
3.4  •  Veränderung des Genoms während der Evolution 283

 EXKURS 3.5 (Fortsetzung) 
halb waren Resistenzgene auch schon lange vor ren, die alle das gleiche Resistenzplasmid trugen. 1
der Entdeckung und therapeutischen Nutzung von Auch bei Klinikausbrüchen mit einer Vielzahl von
Antibiotika in der Natur vorhanden und konnten so Patienten konnte man schon die Weitergabe von 2
unter Selektionsdruck schnell aus verschiedensten Resistenzplasmiden über Art-, Gattungs-, Familien-
Genpools mobilisiert werden. Zu den bekanntesten und sogar Ordnungsgrenzen hinweg nachweisen.
Krankenhauserregern gehören Methicillin-resis- Zwischen Krankenhausproblemkeimen aus der
3
tente Staphylococcus aureus (MRSA). Für eine be- Familie der Enterobacteriaceae und entfernter ver-
stimmte Gruppe von MRSA, den klonalen Komplex wandten Gram-negativen Erregern wie Pseudo- 4
398 (CC398), der zunehmend häufig von Nutztieren monas aeruginosa und Acinetobacter baumannii
auf den Menschen übertragen wird, konnte man bilden sich regelrechte genetische „Austauschge-
5
durch phylogenetische Untersuchungen an Hand meinschaften“.
einer Vielzahl von ermittelten Genomen die jün- Dass durch den Gebrauch von Antibiotika in
gere Entwicklungslinie nachzeichnen. Ursprüng- Human- und Tiermedizin, aber auch in der Pflan- 6
lich handelte es sich um Methicillin-sensitive Kolo- zenproduktion, vielfältige Selektionsdrücke auf
nisierer des Menschen, die dann auf Nutztiere wie bakterielle Populationen aufgebaut werden und so 7
Schweine übertragen wurden. Dort erwarben sie deren Evolution beeinflusst wird, ist unmittelbar
Resistenzgene gegen die Antibiotika Methicillin
und Tetracyclin und von dort werden sie nun in im-
einsichtig. Das wahre Ausmaß dieser anthropoge-
nen Einflüsse ist jedoch bislang kaum abzuschät-
8
mer schwerer zu behandelnder Form wieder zurück zen. Bakterien haben Mechanismen entwickelt, die
auf den Menschen übertragen. Es wird hier offen- eine genetische „Auffrischung“ unter Stressbedin- 9
sichtlich, dass durch den Einsatz von Antibiotika in gungen fördern. Dazu gehört nicht nur die Erhö-
der Tiermast die Evolution von Krankheitserregern hung von Mutations- und Rekombinationsraten 10
befeuert wird. sondern auch die Stimulation von HGT-Ereignissen.
Erscheinen diese Entwicklungen schon rasant Besonders bedrohlich ist nun die Beobachtung,
gemessen an den in der Evolutionsbiologie sonst dass bereits unter dem Einfluss von subinhibitori- 11
üblicherweise betrachteten Zeiträumen, so kann schen Antibiotikakonzentrationen die Frequenz
man in Krankenhäusern Evolution wie im Zeitraf- von HGT-Ereignissen erhöht werden kann und so- 12
fertempo erleben. So konnte man nacheinander mit der Resistenzentwicklung weiter Vorschub ge-
in einem einzelnen Patienten die zur Familie der
Enterobacteriaceae gehörigen Erreger Klebsiella
leistet wird. So reicht die Bedeutung des HGT weit
über die Evolution der Bakterien hinaus und betrifft
13
pneumoniae, E. coli und Serratia marcescens isolie- den Menschen ganz unmittelbar.
14
Die Genome wurden nicht nur durch intraspezi- durch Plasmidaustausch auch über Artgrenzen hin-
fische Duplikationen, Deletionen und Insertionen weg weitergegeben.
15
verändert, sondern auch durch fremde DNA-Be- Ebenso bekannt ist der Gentransfer von Vi-
reiche angereichert. Der Transfer von genetischem ren (z. B. Retroviren), die als mobile genetische 16
Material über Art- und Familiengrenzen hinweg Elemente angesehen werden können, in tierische
wird als horizontaler Gentransfer (HGT) bezeich- Genome. Dieser Prozess hat in der Evolution of- 17
net, tritt bei Prokaryoten weit verbreitet auf und ist fenbar vielfach stattgefunden, so dass die Vertebra-
gut belegt (s. EXKURS 3.5). Ein HGT war offenbar tengenome viele, meist repetitive DNA-Abschnitte
in der frühen Evolution von besonderer Bedeutung enthalten, die auf Retroviren zurückgehen (s. Ab- 18
und hat dazu geführt, dass im Durchschnitt 6 % ei- schn. 3.4.3). Bei Pflanzen kommt es bei Infektion
nes bakteriellen Genoms auf Import von anderen durch Agrobacterium tumefaciens zu Kronengalltu- 19
Organismen zurückgeht. Aber auch heute noch tritt moren oder durch A. rhizogenes zu hairy roots. Auch
HGT auf: So werden z. B. Antibiotikaresistenzen, hier findet ein Transfer der t-DNA (Transfer-DNA)
die durch Gene auf den Plasmiden codiert werden, in die Pflanzenzelle statt, bei dem Gene für die
20
284 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

Biosynthese von Wuchsstoffen und für die Opine indem Zellen mit ihren Organellen von Wirtszellen
(nicht-proteinogene Aminosäuren, die von den aufgenommen wurden (s. Abschn. 4.2.2). W. Ford
Agrobakterien als Stickstoffquelle genutzt werden Doolittle hat den HGT als wichtigsten Mechanis-
können) übertragen werden. Das gemeinsame Vor- mus der Phylogenie angesehen; diese Aussage wird
kommen von Hämoglobingenen bei Tieren und inzwischen auf die frühe Evolution vor 1  Mrd.
Leguminosen könnte ebenfalls durch horizontalen Jahren eingeschränkt; die meisten Phylogenien,
Gentransfer verursacht worden sein, nur kennen die wir heute sehen, gehen vermutlich mehr auf
wir die Übertragungswege nicht. vertikale Abstammungsprozesse zurück (Kurland
Ein neu entdeckter Fall von HGT wurde für et al. 2003).
Wolbachia beschrieben, eine Gattung von parasi- Symbiosen sind aber nicht auf Mitochondrien
tisch lebenden gram-negativen Bakterien, die of- oder Chloroplasten beschränkt. Symbiosen, d. h.
fenbar sehr viele Insekten, einige Spinnen- und Ne- ein enges Miteinander von Partnern mit gänzlich
matodenarten befallen. Wolbachia lebt intrazellulär unterschiedlichen Genomen, treten in vielen Or-
und manipuliert offenbar die Fortpflanzung ihrer ganismengruppen auf. Sie sind aber noch nicht
Wirte. Man kennt inzwischen mehrere Fälle, dass soweit fortgeschritten, wie die Mitochondrien oder
Teile des Wolbachia-Genoms auf die Chromosomen Chloroplasten. Beispiele sind (s. EXKURS 1.2 Ab-

-
der Wirtsarten (Insekten, Nematoden) übertragen schn. 1.1.8):
und dort zu einem geringen Teil sogar exprimiert Flechten bestehen aus einer Symbiose von

-
wurden. Algen- und Pilzzellen
HGT wurde inzwischen bei einigen Pilzen, ins- Viele Pflanzen leben mit Endophyten und

-
besondere bei Hefen nachgewiesen und scheint für Mykorrhizen zusammen
die Evolution der Pilzgenome wichtig zu sein. Pflan- Riffbildende Korallen enthalten häufig photo-
zen leben mit pilzlichen Endophyten zusammen. In synthetisch aktive einzellige Algen als Symbio-

-
den letzten Jahren wurden Endophyten entdeckt, separtner
welche dieselben Sekundärstoffe produzieren, wie Viele Insekten, deren Nahrung nicht alle
ihre Wirtspflanze (. Abb. 4.46). Es wird spekuliert, essenziellen Nahrungsbestandteile enthält,
dass die Endophyten durch HGT Sekundärstoffgene kultivieren in speziellen Mycetomen intrazel-
in Pflanzen übertragen haben. Die laufenden und lulär oder extrazellulär Bakterien, Protozoen
zukünftigen Genomprojekte werden sicher noch und Pilze, die in der Lage sind, die fehlenden
viel mehr Evidenzen für horizontalen Gentransfer Nahrungsbestandteile zu synthetisieren. Bei
aufdecken, als wir heute vermuten. den intrazellulär lebenden Bakterien liegt eine

-
Ein klassisches Beispiel für einen besonders Endosymbiose vor.
wichtigen horizontalen Gentransfer kann man In den Därmen kultivieren Tiere eine große
in Eukaryotenzellen sehen: Wie im EXKURS 3.1 Diversität an meist symbiontischen Bakterien,

-
in Abschn. 3.2.7 dargestellt, entstanden durch die welche zur Verdauung der Nahrung beitragen
Aufnahme von α-Proteobakterien in frühe Eu- Leguminosen enthalten in Wurzelknöllchen
cyten Mitochondrien und durch Aufnahme von symbiotische Bakterien, die es vermögen, den
Cyanobakterien Chloroplasten. Zunächst wurden Luftstickstoff in organische Verbindungen zu

-
natürlich die bakteriellen Genome in die Eucyte fixieren
übertragen und waren vermutlich funktionsfähig. In Erlenwurzeln sorgen andere Bakterien
In der späteren Evolution wurden die bakteriellen (Actinomyceten) in analoger Weise für die
Gene aus dem mitochondrialen bzw. Chloroplas- Verwertung des Luftstickstoffs
tengenom entfernt und teilweise in den Zellkern
der Wirtszelle ausgelagert. Mitochondrien und Die symbiontischen Beziehungen belegen, dass für
Chloroplasten können im Verlauf der Evolution die Evolution nicht nur Wettbewerb (survival of
auch wieder verloren gehen; dies sieht man bei ei- the fittest), sondern auch Kooperationen zwischen
nigen parasitischen Protozoen (s. Abschn. 4.2.2). unterschiedlichen Partnern eine sehr große Rolle
Ebenso wurden sekundäre Symbiosen beschrieben, gespielt hat (s. EXKURS 1.2 Abschn. 1.1.8).
3.5  •  Vererbung, Populationsgenetik und Artbildung 285

3.5 Vererbung, hig geworden sind (. Abb. 3.42). Ein Funktionsaus-


Populationsgenetik fall wird auch als loss of function bezeichnet. Solche 1
und Artbildung Fälle kann man zuweilen schon makroskopisch
analysieren. Wir wollen von dem einfachsten Fall 2
ausgehen, dass in einer Population das Allel A und
|
Übersicht              | seine mutierte Form a vorkommen. In der Popula-
Wie Mutationen vererbt werden und sich in tion finden wir demnach Individuen mit den Al- 3
Populationen ausbreiten, beschreiben Men- lelverteilungen AA, Aa und aa. AA und aa bezeich-
delsche Regeln und Populationsgenetik. Diese nen wir als homozygot und Aa als heterozygot. A 4
Basisdaten sind wichtig, um das Phänomen der soll ein Gen darstellen, das für ein Enzym codiert,
welches einen schwarzen Farbstoff bildet. AA-Tiere
Artbildung und phylogenetischen Diversifika-
wären dann schwarz gefärbt, während aa-Tiere, die
5
tion zu verstehen.
dieses Pigment nicht bilden, weiß aussähen (in der
Wirklichkeit benötigen wir meist eine Serie von 6
Biosynthesegenen, um einen Farbstoff zu bilden,
die von einem oder mehreren Mastergenen regu- 7
3.5.1 Allel- und Genotypen­ liert werden; unsere Betrachtung könnte demnach
frequenz und Vererbungs­ auf ein Kontrollgen zurückgehen, das einen Biosyn-
regeln theseweg an- oder abschaltet). Treten heterozygote 8
Individuen auf, so sind diese entweder intermediär
Auf den Chromosomen befinden sich linear ange- grau gefärbt oder entsprechen dem homozygoten 9
ordnet die Gene. Genorte mit einer spezifischen schwarzen Phänotyp. Im letzteren Fall würden wir
Erb­information bezeichnet man als einen Genlo- A (man beachte die Großschreibung!) als dominant
cus (Plural: Genloci) mit jeweils einem Allel auf bezeichnen. Das entsprechende rezessive Allel wird
10
den beiden homologen elterlichen Chromosomen. mit a gekennzeichnet (man beachte die Kleinschrei-
Ihre Vererbung erfolgt demnach biparental. Ist die bung!). In welchem Grade die Dominanz ausgeprägt 11
Nucleotidsequenz identisch, sprechen wir davon, ist, kann von Genlocus zu Genlocus variieren, und
dass die Individuen homozygot sind; unterschei- der Phänotyp der Heterozygoten kann irgendwo 12
den sie sich, z. B. weil in einem Allel eine Punktmu- zwischen dem der beiden Homozygoten liegen, in
tation oder anderweitige Veränderung aufgetreten unserem Falle auch also alle Graustufen umfassen
ist, dann sind sie heterozygot. In einem diploiden (wenn z. B. ein Enzym der Biosynthesekette von der 13
Individuum gibt es natürlich für jeden Locus nur Mutation betroffen wäre). Die meisten Merkmale
zwei Allele (Ausnahme sind multiple Kopien eines sind jedoch nicht disjunkt sondern kontinuierlich, 14
Gens). Anders kann es in der Gesamtheit einer da eine Vielzahl an Genen zur Ausprägung des
Population aussehen. Wenn man für einen Locus Merkmals beiträgt. Die formale Analyse solcher
mehrere Allele findet spricht man von Genpoly- Merkmale ist daher wesentlich komplexer als in
15
morphismus. In der Praxis sucht man nach Poly- unserem einfachen Beispiel angenommen wurde.
morphismen, deren Frequenz im häufigsten Allel Das in der Population am stärksten vertretene 16
kleiner als 0,99 bis 0,95 ist. Den Gesamtbestand an Allel wird häufig als Wildtyp-Allel bezeichnet. Bei
Genen und Allelen in einer Population zu einem diploiden Organismen wird das Wildtyp-Allel meist 17
bestimmten Zeitpunkt bezeichnet man als Genpool dominant, das mutierte Allel dagegen rezessiv ver-
der Population. erbt. Unvollständige, partielle Dominanz oder
Der Genotyp eines Individuums umfasst alle Kodominanz liegen vor, wenn die Heterozygoten 18
Gene des Genoms, während der Phänotyp nur intermediäre Merkmale ausbilden, z. B. sind die
durch die exprimierten Gene zustande kommt. Auf Nachkommen aus Kreuzungen zwischen rotblü- 19
der Stufe der Allele kann die Expression ausfallen, henden mit weißblühenden Löwenmäulchen rosa-
wenn ein oder beide Allele durch Mutationen ver- farben; in der F2-Generation erhalten wir rote, rosa
ändert und die abgeleiteten Proteine funktionsunfä- und weiße Pflanzen im 1:2:1-Verhältnis. Werden
20
286 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

Analysen wie beispielsweise DNA-Fingerprinting,


AFLPs (amplified fragment length polymorphisms)
und Mikrosatelliten-Analysen verwendet (s. Ab-
schn. 4.1.2), da sie den direkten Zugriff auf die va-
riablere DNA-Sequenzebene erlauben.
Über die Allozym- und Mikrosatelliten-Analyse
lässt sich auch der Heterozygotiegrad einer Popula-
tion bestimmen. Die Heterozygotie des einzelnen
Locus h ergibt sich aus folgender Berechnung:

h =1− ∑x i
2

Wobei xi die Frequenz des i-ten Allels darstellt.


In einer bisexuellen Population mit Zufall-
spaarung entspricht h dem Anteil der an einem
einzelnen Locus heterozygoten Tiere und H dem
.. Abb. 3.42  Auswirkung von Mutationen, die zur Funkti- durchschnittlichen Anteil heterozygoter Loci. In
onslosigkeit von Proteinen in diploiden Organismen führen. natürlichen Populationen weicht der beobachtete
a Wildtyp Genotyp AA; b heterozygoter Genotyp Aa, c homo- Anteil der Heterozygoten Hobs oft von der erwarte-
zygoter rezessiver Genotyp aa. A codiert für das funktionsfä-
hige Protein, a für das funktionslos gewordene Protein
ten Größe Hexp ab. Inzucht und Selbstbefruchtung
verringern Hobs, d. h. der Anteil der Homozygoten
nimmt zu. H variiert in natürlichen Populationen
beide Allele gleich stark und unabhängig vererbt, zwischen 0,1 und 0,35. Die Wahrscheinlichkeit,
so sprechen wir von Kodominanz. dass zwei Individuen in solchen Populationen an z
In vielen Fällen finden wir Nucleotidsubstituti- Loci die identische Allelverteilung aufweisen, kann
onen in den Allelen eines Genlocus, durch die sich über
die Aminosäuresequenz des resultierenden Prote-
ins aufgrund des degenerierten Codes nicht ändert W = (1–H)Z
oder im Falle einer Veränderung der Aminosäurese-
quenz dessen Funktion nicht oder nicht wesentlich ermittelt werden.
verändert wird. Dieser Allelpolymorphismus ist Bei H = 0,1 und z = 104 ergibt sich W = 10–458;
makroskopisch nicht zu erkennen und die Grund- d. h. die Wahrscheinlichkeit identischer Allelmuster
lage der Allozymanalyse oder DNA-Analytik (s. Ab- ist extrem gering; nur bei eineiigen Zwillingen sind
schn. 4.1.2). Häufig unterscheiden sich die Proteine die Muster nahezu identisch. Diese Erkenntnis ist
eines Locus durch ein bis zwei Aminosäuren in ihrer die Grundlage der Anwendung von DNA-Finger-
Sequenz, was zu einem veränderten Laufverhalten printing und Mikrosatelliten-Analysen zum Erken-
in der Elektrophorese führt. So verändert sich etwa nen von Individuen und für Vaterschaftsanalysen
durch den Austausch einer basischen Aminosäure (s. Abschn. 4.1.2).
durch eine saure Aminosäure die elektrophoretische
Eigenschaft des Proteins (d. h. die Gesamtladung bei
definiertem pH-Wert), so dass sich hierdurch auch 3.5.2 Mendelsche
die Wanderungsgeschwindigkeit im elektrischen Vererbungsregeln
Feld ändert. Als 1966 die Enzymelektrophorese
in die Populationsgenetik eingeführt wurde, hatte Diese Betrachtung führt uns zu den allgemeinen
dies eine „elektrophoretische Revolution“ zur Folge, Mendelschen Vererbungsregeln, die für die mo-
denn nun konnten äußerlich nicht sichtbare Allele derne Evolutionstheorie extrem wichtig sind, denn
eines Individuums bestimmt werden. Heute wer- ohne diese Basis bleibt die Darwinsche Evolutions-
den in diesem Zusammenhang zunehmend DNA- theorie unvollständig. Diese Regeln erklären die
3.5  •  Vererbung, Populationsgenetik und Artbildung 287

Häufigkeit der Genotypen bei Nachkommen von


Eltern, deren Genotyp genau definiert ist. 1
Für die formale Erläuterung der Mendel-
schen Regeln bleiben wir bei den Genotypen AA, 2
Aa und aa, wobei A dominant und a rezessiv ist
(. Abb. 3.43). In unserem Beispiel sind die Nach-
kommen von AA × AA und AA × aa (oder vice versa) 3
zu 100 % schwarz gefärbt, da sie alle das dominante
A-Allel besitzen. (1. Mendelsche Regel [Uniformi- 4
tätsregel], nach der die Nachkommen reziproker
Kreuzungen reiner Linien einen einheitlichen Phä-
notyp besitzen). Sind beide Eltern Aa-heterozygot
5
(Ergebnis der F1-Kreuzung AA × aa), so erhalten
wir 25 % AA, 50 % Aa und 25 % aa-Genotypen. 6
Wir beobachten ein Phänotypenverhältnis von 3:1
und ein Genotypenverhältnis von 1:2:1 in der F2- 7
Generation (2. Mendelsche Regel [Spaltungsregel])
(. Abb. 3.43). Bei der Kombination AA × Aa entste-
hen zu 50 % AA und 50 % Aa-Genotypen. 8
Betrachtet man die Kreuzung in einem dihy­
briden Erbgang mit zwei unabhängigen Merkmalen 9
(z. B. AaBb × AaBb) so erhält man ein 9:3:3:1 Phä-
notypenverhältnis. Dieses Ergebnis belegt, dass die
Allele frei kombiniert werden (3. Mendelsche Regel
10
[independent assortment], Prinzip der unabhängi-
gen Segregation). Kreuzungsschemata lassen sich 11
auch für trihybride Erbgänge mit drei unabhängi-
gen Merkmalen usw. aufstellen. Komplizierter wird 12
der Erbgang, wenn multiple Allele für einen Locus
in der Population vorhanden sind; ein bekanntes
Beispiel dafür ist die Ausprägung der Blutgruppen .. Abb. 3.43 a, b.  Illustration der Mendelschen Regeln.
13
AB0. Viele Merkmale variieren jedoch nicht diskon- a In der Elterngeneration (Parentalgeneration, P0) werden die
tinuierlich, wie in . Abb. 3.46 dargestellt, sondern homozygoten Genotypen AA und aa miteinander gekreuzt. In 14
kontinuierlich. Für ihre Vererbung gelten die Regeln der Tochtergeneration (Filialgeneration, F1) erhalten wir nur
Aa-Genotypen, die das dominante Gen A exprimieren. Kreuzt
der quantitativen Genetik.
Auf einem typischen Säugerchromosom liegen
man die Heterozygoten miteinander, so beobachtet man in 15
der F2-Generation eine Aufspaltung in den AA-, Aa- und aa-
ca. 1000 Gene. Bei der Vererbung segregieren ei- Genotyp. b Intermediäre Vererbung der Blütenfarbe bei der
nige Gene/Allele nicht unabhängig voneinander, Wunderblume Mirabilis jalapa (Nyctaginaceae) 16
sondern zusammen. Wir bezeichnen die Zusam-
mengehörigkeit solcher Gene, die häufig benach- 17
bart liegen, als Kopplung. Dieses Phänomen hat Chromosomenabschnitten und damit die Architek-
man zuerst bei der Vererbung von Puffmustern auf tur des Genoms ermitteln. Auch der Vergleich sol-
den Drosophila-Riesenchromosomen beobachtet. cher Kopplungskarten verschiedener Organismen 18
Als Maß wurden die Morgan-Distanzen ermittelt. kann uns interessante Information über die Phylo-
Heute kann durch Erstellung von Kopplungskarten genie dieser Taxa liefern. 19
(linkage maps) mittels RFLP-, AFLP- oder STR-
Markern (s. Abschn. 4.1.2) die Verteilung der ver-
schiedenen Gene auf einzelnen Chromosomen und
20
288 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

3.5.3 Grundlagen und natürliche Selektion sind die wichtigsten Pro-


der Populationsgenetik zesse.
Dieser Bereich der sogenannten Mikroevolu-
Die Betrachtung der Allelvariabilität führt un- tion ist zum Verstehen des Artbildungsprozesses
mittelbar zur Frage der Populationsgenetik, die und damit für das Gesamtverständnis der Evoluti-
herauszufinden versucht, wie und warum gewisse onsvorgänge wichtig. Die Grundlagen der Popula-
genetische Varianten in der Population erhalten tionsgenetik, die bereits in den ersten Jahrzehnten
bleiben, während andere abnehmen oder mit der des 20.  Jahrhunderts erarbeitet wurden, sind im
Zeit gänzlich verschwinden. Variation, Vererbung EXKURS 3.6 erläutert.

3.6  
  EXKURS 3.6

Grundlagen der Populationsgenetik


Aus dem einfachen Genmodell mit einem Locus Es lautet:
und zwei Allelen kann man die Grundlagen der (p + q)2 = p2 + 2pq + q2,
Populationsgenetik ableiten. Zwei Kenngrößen

--
spielen hier eine besondere Rolle: wobei p2 für AA, pq für Aa und q2 für aa stehen.
die Gen- oder Allel-Häufigkeit (oder -Frequenz), Aus . Abb. 3.44 kann man, wenn diese Vor-
die Genotypen-Häufigkeit (oder -Frequenz). aussetzung erfüllt ist, die Relation zwischen der
Genotypenfrequenz und der Allelfrequenz bestim-
In einer Modellpopulation mit den Allelen A und men, auch wenn man nicht alle Größen kennt. Das
a werden z. B. folgende Genotypen Aa, AA, aa, aa, Hardy-Weinberg-Gesetz hat drei wichtige Eigen-

-
AA, Aa, AA, Aa beobachtet. Daraus leitet sich die schaften. Es besagt:
Genotypenhäufigkeit P (für AA), Q (für Aa) und R Über die Allelfrequenz lässt sich die Genotyp­

-
(für aa) ab; wobei P + Q + R = 1,0 ergibt: P: AA(3/8) frequenz vorhersagen.
= 0,375; Q: Aa(3/8) = 0,375 und R: aa(2/8) = 0,25. Allel- und Genotypfrequenzen ändern sich
Als Allelfrequenz p für A und q für a ergibt nicht von Generation zu Generation, wenn ein

-
sich: p: A(9/16) = 0,56; q: a(7/16) = 0,44; wobei Hardy-Weinberg-Gleichgewicht vorliegt.
p  +  q  =  1,0 ist. Aus den Genotypenhäufigkeiten Das Hardy-Weinberg-Gleichgewicht stellt sich
kann man leicht die Allelfrequenz ermitteln: bereits nach einer Generation ein, wenn die
Partnerwahl zufällig erfolgt.
p = P + 1/2Q und q = R + 1/2Q.

Wenn man die Häufigkeit der Genotypen und Allele Als Voraussetzungen für die Gültigkeit des Hardy-

-
in einer Population kennt, so möchte man in der Po- Weinberg-Gesetzes gelten:
pulationsgenetik wissen, wie sich diese Parameter Die Population ist so groß, dass Probenfehler

-
in nachfolgenden Populationen entwickeln, denn und Zufallseffekte keine Rolle spielen.
durch natürliche Auslese könnten einzelne Geno- Die Partnerwahl in der Population erfolgt zufäl-

-
typen unterschiedlich gut überleben oder sich fort- lig.
pflanzen. Falls in großen Populationen Paarungen Alle Genotypen sind gleich lebensfähig und
zufällig und nicht selektiv verlaufen und wenn keine fertil; d. h. sie haben keinen selektiven Vorteil

-
Selektion gegen einen Genotyp eintritt, gelten die gegenüber anderen Genotypen.
Regeln des Hardy-Weinberg-Gesetzes (nach den Mutation, Migration und zufällige Gendrift
Wissenschaftlern Godfrey Harold Hardy [englischer spielen keine Rolle.
Mathematiker] und Wilhelm Robert Weinberg [Arzt
aus Stuttgart] benannt, die das Gesetz unabhängig Über das Hardy-Weinberg-Gesetz lässt sich auch die
voneinander 1908 erkannten). Frequenz der Heterozygoten berechnen
(. Abb. 3.44). Beispiel: Das Merkmal Albinismus ist
7
3.5  •  Vererbung, Populationsgenetik und Artbildung 289

 EXKURS 3.6 (Fortsetzung) 
.. Abb. 3.44  Häufigkeit der Genotypen AA, Aa und aa 1
in Abhängigkeit zur Frequenz des Allels a

2
3
4
5
6
7
autosomal rezessiv; d. h. Träger des Merkmals 2 × (0,99 × 0,01) = 0,02 oder 2 %. 8
(ihren Epidermiszellen fehlt durch einen Gendefekt
Man kann das Hardy-Weinberg-Gleichgewicht
das Enzym Tyrosinase, so dass kein Melanin gebildet
werden kann) müssen homozygot sein. Wenn die
natürlich auch für Populationen anwenden, in 9
denen drei und mehr Allele in einem Genlocus
Häufigkeit von albinotischen Individuen in einer
Population bei 1:10.000 liegt, so ergibt sich die
beobachtet werden. Liegt in einer Population kein 10
Hardy-Weinberg-Gleichgewicht vor, so findet ent-
Frequenz des rezessiven Allels als
weder natürliche Auslese statt oder es erfolgt eine
q2 = 0, 0001; gerichtete Verpaarung. Wenn die Population sehr 11
klein ist und stochastische Effekte an Bedeutung
q = 0,01 oder 1:100. Da p + q = 1,
gewinnen, kann das Hardy-Weinberg-Gesetz ver- 12
ergibt sich für p die Häufigkeit 1 – q = 0,99. Die Fre- letzt sein. In diesen Fällen lohnt es sich, den zu-
quenz der Heterozygoten ist 2 pq; also grunde liegenden Variablen weiter nachzugehen.
13
Am Beispiel der Gefiedermorphen des Eleo- gänge auf). . Tabelle 3.14 zeigt die Gefiedermor- 14
norenfalken (Falco eleonorae) lassen sich die Men- phen der Jungvögel in Relation zu den Morphen
delschen Regeln und das Hardy-Weinberg-Gesetz der Eltern.
gut erläutern. Diese Falkenart brütet in großen Demnach treten bei Paaren der dunklen Mor-
15
Kolonien auf Felsinseln des Mittelmeers und über- phe sowohl helle (in geringer Zahl) als auch dunkle
wintert in gemischten Schwärmen zusammen mit Nachkommen (überwiegend) auf, während bei 16
dem Schieferfalken (Falco concolor), mit dem der Paaren der hellen Morphe ausschließlich helle und
Eleonorenfalke nah verwandt ist (s. Abschn. 4.4), keine dunklen Jungvögel beobachtet wurden. Diese 17
auf Madagaskar. Beim Eleonorenfalken kann man Verteilung lässt sich erklären, wenn das Merkmal
eine helle und eine dunkle Gefiedermorphe eindeu- „dunkel“ (D) dominant und „hell“ (d) rezessiv ist.
tig erkennen, während beim Schieferfalken nur die Bei DD × DD-, DD × dd- und DD × Dd-Paaren hät- 18
dunkle Morphe vorkommt (. Abb. 3.45). In einer ten 100 % der Nachkommen den dunklen Phäno-
vereinfachten Betrachtung kann man etwa 29 % der typ, während bei dd × dd-Paaren alle Nachkommen 19
Altvögel des Eleonorenfalken in einer ägäischen hell sind. Ebenso sind bei der Kombination von zwei
Kolonie der dunklen und 71 % der hellen Morphe mischerbig dunklen Falken sowohl helle als auch
zurechnen (in Wirklichkeit treten aber auch Über- dunkle Nachkommen zu erwarten (. Tab. 3.14).
20
290 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

26,5 %; dieses Ergebnis hätte man grafisch auch aus


. Abb. 3.44 entnehmen können. Im Phänotyp las-
sen sich homozygote DD-Falken nur bei genauem
Hinsehen von heterozygoten Dd-Genotypen un-
terscheiden (. Abb. 3.45); sie sind lediglich stärker
schwarz gefärbt und weisen einen dunklen Schnabel
auf. Diese Merkmale lassen sich bereits bei Falken
im Jugendkleid erkennen. Da Paarungen zwischen
hellen und dunklen Falken rein stochastisch erfol-
gen und da der Anteil der dunklen Morphe von Jahr
zu Jahr zwar schwankt, aber im Trend weder zu-
noch abnimmt, kann man annehmen, dass sich die
Population im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht be-
findet. Unklar ist, warum sich der Anteil der dunk-
len dominanten Morphe auf 29 % eingependelt hat.
In vielen Fällen liegt jedoch nicht das einfache
Vererbungs- und Populationsmodell vor, wie wir
es in den vorangehenden Abschnitten besprochen
haben. In der Natur finden wir wesentlich häufiger
Merkmale, die genetisch von mehreren Loci gesteu-
ert werden. Ein Beispiel dafür ist der Farbpolymor-
.. Abb. 3.45 a–d.  Gefiedermorphen des Eleonorenfalken phismus bei den Schmetterlingen Papilio glaucus in
(Falco eleonorae) (nach Ristow et al. 1998). a Männchen und Nordamerika (mimetischer Polymorphismus) oder
b Weibchen der hellen Morphe; c heterozygotes Männchen Papilio memnon in Südostasien, bei denen nicht die
der dunklen Morphe; d homozygoter Jungvogel der dunklen Männchen, wohl aber die Weibchen extrem variable
Morphe. Bildrechte liegen bei Ornithological Society of the
und polymorph sind. Gut untersucht ist der Poly-
Middle East
morphismus in der südamerikanischen Schmetter-
Wäre das Merkmal d dagegen dominant, so hätte lingsgattung Heliconius, bei der die Morphen geo-
man in heterozygoten d × d-Kombinationen auch graphisch getrennt vorkommen.
dunkle Morphen bei den Nachkommen finden Wenn nur ein Genlocus pro Merkmal vor-
müssen, was aber nicht der Fall ist. kommt, ermittelt die Populationsgenetik Allel-
Da wir den Anteil der hellen Falken, d. h. des frequenzen; liegt ein Multilocussystem vor, dann
homozygot rezessiven Genotyps kennen, können werden Haplotyphäufigkeiten bestimmt. Unter
wir über das Hardy-Weinberg-Gesetz (s. EXKURS einem Haplotyp versteht man eine Variante einer
3.6) die Häufigkeit der DD- und Dd-Genoty- Nucleotidsequenz in einem bestimmten Chromo-
pen ermitteln. Da q2  =  0,71, ist nach der Formel somenabschnitt oder in der mitochondrialen oder
p + q = 1, p = 0,157. Demnach ergibt sich eine Ge- plastidären DNA. Wenn in einem Multilocussys-
notypfrequenz für DD von 2,5 % und für Dd von tem die Loci auf einem Chromosom liegen, kann

.. Tab. 3.14  Verteilung der Gefiedermorphen bei Jungvögeln des Eleonorenfalken bei bekannter Morphenzusammenset-
zung der Altvögel (nach Wink et al. 1978); ? = Morphe war nicht sicher zu bestimmen

Morphenkombination n Elternpaare n Jungvögel


hell dunkel ?

dunkel x dunkel 5 2 5 0

dunkel x hell 23 23 17 3

hell x hell 18 29 0 0
3.5  •  Vererbung, Populationsgenetik und Artbildung 291

kommen mit größeren Schnäbeln produzieren


(. Abb. 3.46). Für die Vererbung kontinuierlicher 1
Merkmale (Gewicht, Größe, Farben), die in allen
Organismen häufig vorkommen, gelten die Regeln 2
der quantitativen Genetik. Die zugehörigen Loci
werden als QTL (quantitative trait loci) bezeichnet.
Es würde den Rahmen des Buches sprengen, auf 3
die Genetik von QTLs ausführlicher einzugehen (s.
hierzu Camp u. Cox, 2002). 4
Aus Zwillingsforschung und Ethologie kann
man heute sicher sagen, dass auch viele Verhal-
tensmerkmale der Tiere und des Menschen ge-
5
netische Komponenten aufweisen und vererbbar
sind. Nur in wenigen Fällen wird ein Verhaltens- 6
merkmal auf einem Genlocus liegen, eher müssen
wir QTLs erwarten. Über die Struktur der Ver- 7
.. Abb. 3.46  Beispiel für die Vererbung eines kontinuier- haltensgene und ihre Veränderung in der Evolu-
lichen Merkmals am Beispiel der Schnabelgröße des Gala- tion können wir heute meist noch keine Aussage
pagosfinken (Geospiza fortis). Eltern mit großen Schnäbeln
machen. Nicht vergessen werden darf in diesem 8
erzeugen meist auch Nachkommen mit großen Schnäbeln.
Da die Nahrungsbedingungen von Jahr zu Jahr schwanken,
Zusammenhang, dass Verhaltensmerkmale zwar
wirkt sich die Schnabellänge unterschiedlich auf die Fitness genetisch determiniert sein können, aber häufig 9
und letztlich auf das Reproduktionsverhalten aus plastisch sind, d. h. durch Umwelteinflüsse, Er-
ziehung und Lernen (s. EXKURS 5.9 Abschn. 5.7)
man Kopplung beobachten; analog zum Hardy- gestaltet werden.
10
Weinberg-Gleichgewicht kann man bei Multilo-
cussystemen ein Kopplungsgleichgewicht (linkage 11
equilibrium) bestimmen. Liegt kein Kopplungs- 3.5.4 Selektion
gleichgewicht vor, so ist dies häufig ein Hinweis und Mikroevolution 12
darauf, dass die Partnerwahl nicht zufällig erfolgt
oder dass die Population sehr klein ist. Charles Darwin hat als erster klar erkannt, dass man
Neben diskreten Verteilungen von Merkmalen die Entstehung neuer Arten nur unter Annahme 13
findet man in der Natur häufig eine kontinuierli- der natürlichen Selektion durch Umweltfaktoren
che Variation eines Merkmals. In diesen Fällen plausibel erklären kann. Es geht dabei nicht um das 14
geht man davon aus, dass mehrere Gene für die Überleben des Stärksten, sondern um den Fort-
Expression eines Merkmals zuständig sind. Ein pflanzungserfolg. Dabei spielen Kooperation und
klassisches Beispiel für dieses Phänomen kann Altruismus ebenso eine Rolle wie eine körperliche
15
man bei den Darwinfinken auf den Galapagos- Fitness. Im Unterschied dazu steht die künstliche
Inseln beobachten: 14 Darwinfinkenarten wurden Selektion, bei der ein Züchter den Fortpflanzungs- 16
als eigenständige Arten beschrieben, die sich in ih- erfolg jener Individuen fördert, die Eigenschaften
rer Körpergröße, insbesondere aber in der Schna- besitzen, welche vom Züchter gewünscht werden. 17
bellänge und -größe unterscheiden, je nachdem, Am Beispiel der Rassen von Haustieren hatten wir
welche Nahrungsnische genutzt wird. Große Fin- bereits gesehen, dass die künstliche Selektion relativ
ken haben „Nussknacker-Schnäbel“ und können schnell zu morphologisch unterschiedlichen Rassen 18
entsprechend große Samen öffnen, während sich kommen kann.
Arten mit kleinen Schnäbeln auf kleine Samen spe- Selektion greift nicht an einzelnen Genen (Gen­ 19
zialisiert haben. Die Schnabelgröße ist vererbbar. selektion) sondern am ganzen Organismus (Indivi-
Das ist daran zu erkennen, dass Eltern mit größe- dualselektion) an; nicht nur die Fähigkeit zu über-
ren Schnäbeln im statistischen Mittel auch Nach- leben entscheidet, sondern der reproduktive Erfolg
20
292 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

(Fitness), d. h. die Frage, wie viele Nachkommen ein Stabilisierende Selektion: Liegen konstante Um-
erfolgreiches Individuum produzieren kann. Doch weltbedingungen vor, so haben Individuen, deren
der evolutionäre Einfluss der natürlichen Auslese Merkmale nahe dem Mittelwert der Population
zeigt sich nur, wenn man die Entwicklung einer liegen, eine höhere Fitness als Individuen, die ex-
Population (Gruppenselektion) über längere Zeit- treme Merkmale aufweisen. Durch die stabilisie-
räume hin verfolgt. rende Selektion ist die phänotypische Variabilität
Selektionsvorgänge auf der Stufe von Popu- herabgesetzt.
lationen werden diskutiert, um die Evolution von Gerichtete (oder transformierende, dynamische
gewissen Verhaltensmerkmalen (z. B. Altruismus, oder verschiebende) Selektion: Ändern sich die
Kooperation) und den Zusammenhalt in sozialen Umweltbedingungen, so haben Individuen, deren
Gruppen zu erklären (Clutton-Brock 2009). Wäh- Merkmale vom Mittelwert der Population abwei-
rend die Theorie der Gruppenselektion nach Vero chen unter Umständen einen Überlebensvorteil,
Wynne-Edwards (Wynne-Edwards 1962) heute wenn sie besser angepasst sind (z. B. Birkenspanner,
meist abgelehnt wird, wird heute die Theorie der Biston betularia, s. unten).
Verwandtenselektion (kin selection), die von John Disruptive Selektion: Wenn Individuen, deren
Maynard Smith und William D. Hamilton entwi- Merkmale dem Mittelwert einer Population entspre-
ckelt wurde, eher akzeptiert. Richard Dawkins hat chen, bevorzugt von Parasiten, Pathogenen oder
dieses Konzept durch seine Theorie vom „egoisti- Fressfeinden dezimiert werden, werden unter Um-
schen Gen“ erweitert und popularisiert. Auf Robert ständen Phänotypen bevorzugt, die unterschiedli-
Trivers geht das Konzept des reziproken Altruismus che Merkmale ausgebildet haben.
zurück (Trivers 1971). Die Theorie der Multilevel- Ein anderes Selektionsregime ist die frequenz-
selektion erklärt, dass Selektion nicht nur auf der abhängige Selektion, bei der ein Phänotyp in
Gen- und Individualebene auftritt, sondern auch in Abhängigkeit seiner Häufigkeit in der Population
sozialen Gruppen und Populationen wirkt (Wilson ausgelesen wird. Steigt die Fitness mit der Häu-
1975, Wilson u. Wilson 2007). figkeit des Phänotyps, liegt eine positiv-frequenz-
Ein wichtiges Thema in diesem Zusammenhang abhängige Selektion vor. Ein bekanntes Beispiel
ist die sexuelle Selektion. Schon Charles Darwin betrifft das Auftreten einer Warnfärbung. Je mehr
hatte erkannt, dass die Männchen vieler Arten Tiere in einer Population warnfarben sind, desto
energieaufwendige morphologische Strukturen höher der Schutz vor Fressfeinden, die schneller
(Geweihe, Federn beim Pfau) oder Verhaltens- das Signal erlernen und beachten. Bei der negativ-
merkmale (Balz, Schaukämpfe) aufweisen, die für frequenzabhängigen Selektion sinkt die Fitness in
die Fitness oft eher nachteilig sein können. Diese Abhängigkeit zur Häufigkeit eines Phänotyps. Ein
Merkmale erleichtern jedoch den Weibchen, ein Beispiel wäre das Auftreten von Nachahmern in
Männchen zu wählen, das die besten Gene für die Populationen von warnfarbenen Arten (Mimikry).
Nachkommen liefert und/oder sich um die Ernäh- Je häufiger der Nachahmer, desto geringer der Ab-
rung des Weibchens und der Brut besonders gut schreckungseffekt, denn Fressfeinde werden den
kümmern wird. Die sexuelle Selektion ist zum Ver- Unterschied schnell lernen. Weitere Beispiele sind
ständnis des Sexualdimorphismus, zur Erklärung Wirt-Parasit-Beziehungen bei Schnecken und bei
des Geschlechterverhältnis in Populationen und für Daphnien.
die Interpretation des Verhaltens und von Sozial- Auf der Gen- und Allelebene kann durch Selek-
systemen wichtig. tion die Allelfrequenz negativ oder positiv beein-
flusst werden. Unter negativer Selektion (purifying
Formen der Selektion selection) versteht man die Entfernung nachteiliger
Innerhalb der Selektion kann man drei Formen un- Allele in einer Population. Im Gegensatz dazu führt

--
terschieden: die positive Selektion zur Auswahl bestimmter Al-
stabilisierende Selektion lele. Bei der gerichteten positiven Selektion (direc-

-
gerichtete Selektion tional selection) werden die Träger einzelner Allele
disruptive Selektion bevorzugt, so dass dieses Allel in einer Population
3.5  •  Vererbung, Populationsgenetik und Artbildung 293

häufiger vorkommt. Dadurch werden Allele in ei- .. Tab. 3.15  Simulation der Veränderung von Allelfre-
ner Population fixiert und die Variabilität (Polymor- quenzen, wenn eine Selektion gegen das rezessive
Gen a erfolgt
1
phismus) vermindert. Bei der ausgleichenden Se-
lektion (balancing selection) werden Allele aufgrund Generati-
onen
s = 0,05 a s = 0,01
A
a
2
ihrer Häufigkeit (Allelfrequenz) unterschiedlich A
ausgelesen. Wird ein Allel in der Population häufi-
ger, wird es benachteiligt, wird es seltener so wird es
0 0,01 0,99 0,01 0,99
3
100 0,44 0,56 0,026 0,974
bevorteilt. Damit erhält die ausgleichende Selektion
den Polymorphismus in einer Population. Wenn für 200 0,81 0,19 0,067 0,933 4
einen bestimmten Genlocus heterozygote Indivi- 400 0,93 0,07 0,28 0,72
duen gegenüber homozygoten bevorzugt werden,
spricht man von Überdominanz (overdominance).
800 0,97 0,03 0,72 0,28 5
Ein Beispiel wäre der Erhalt des Polymorphismus
der MHC-Gene, die für die Vielfältigkeit der Immu- lich, dass nicht alle Mutationen (man denke an die 6
nantwort wichtig sind. In diese Gruppe fällt auch synonymen Substitutionen) der Selektion, sondern
die Sichelzellanämie, bei der heterozygote Indivi- der freien Drift unterliegen. Um zwischen Selektion 7
duen gegenüber Malaria resistent sind (s. unten). und neutraler Evolution zu entscheiden, kann man
Ursprünglich wurde angenommen, dass Rich- den McDonald-Kreitman- und den Hudson-Kreit-
tung und Geschwindigkeit der Evolution aus- man-Aguade-Test (HKA-Test) einsetzen. 8
schließlich von der Selektion abhängen. Als man Die natürliche Selektion wird Individuen be-
in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts den unge- vorzugen, die über eine höhere Fitness verfügen. 9
heuren Allozym-Polymorphismus und später die Fitness-steigernde Allele werden daher in einer
Häufigkeit der synonymen Nucleotidsubstitution Population im Vergleich zu neutralen Allelen zu-
(s. Abschn. 4.1.2) in Populationen und die Grund- nehmen. Neutrale Mutationen, die mit solchen
10
lagen der molekularen Uhr erkannte, suchte man Fitness-steigernden Allelen gekoppelt sind, werden
nach neuen Erklärungsmöglichkeiten. Kimura ebenfalls bevorzugt; man nennt dies genetic hitch- 11
(1983) entwickelte die Neutrale Theorie der mo- hiking. Durch einen selective sweep wird die ge-
lekularen Evolution, die eine Gegenposition zum netische Variabilität in DNA-Abschnitten in Nach- 12
Denkmodell der Evolution durch natürliche Se- barschaft zu Fitness-steigernden Allelen reduziert
lektion darstellen sollte. Beide Standpunkte sind oder eliminiert.
zwischenzeitlich konträr diskutiert worden. Heute 13
erkennt man jedoch, dass sich die Argumente bei- Modellierung von
der Seiten ergänzen und keineswegs so gegensätz- Selektionsvorgängen 14
lich sind, wie zunächst angenommen. Weder ist die Die Auswirkungen der Selektion zugunsten oder
neutrale Evolution so wichtig, noch die natürliche zuungunsten eines Genotyps lassen sich einfach
Selektion so unwichtig, wie Kimura vermutete. Die berechnen. Liegt keine Selektion vor, d. h. wenn der
15
molekulare Evolutionsforschung zeigt, dass Kimu- Selektionskoeffizient s = 0 ist, dann befindet sich die
ras Vorstellung der neutralen Evolution am ehesten Population im Hardy-Weinberg-Gleichgewicht. Ein 16
für die häufigen synonymen Mutationen gilt (die zu Selektionskoeffizient von 0,1 gegen aa würde z. B.
keinem Wechsel des Phänotyps führen), während bedeuten, dass bei gleicher Häufigkeit der Allele A 17
die nicht-synonymen Substitutionen den Regeln der und a in der Parentalgeneration in der ersten Filial-
natürlichen Selektion unterliegen. Der ursprüng- generation auf 100 AA- 90 aa-Genotypen kommen.
liche Titel „Non-Darwinian Evolution“, (King u. Unter diesen Bedingungen beobachten wir (wie in 18
Jukes 1969) entfachte eine Diskussion darüber, ob . Tab. 3.15 dargestellt) über vergleichsweise wenige
die Neutrale Theorie und die molekulare Genetik Generationen eine Abnahme von aa und eine Zu- 19
den Darwinismus in Frage stellen. Jedoch erweitern nahme von AA in der Population.
gerade die Erkenntnisse der Molekularbiologie die Kennt man die Veränderung der Allelfrequen-
darwinistische Evolutionstheorie. Sie belegen ledig- zen in zwei aufeinanderfolgenden Generationen,
20
294 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

.. Abb. 3.48 a, b  Potenzielles Verbreitungsgebiet der Ma-


laria tropica und b Häufigkeit des Sichelzellallels (HbS). Nach
Bodmer u. Cavalli-Sforza (1976; Bildrechte liegen bei Freeman)

schmutzung hatten sehr seltene dunkle Phänotypen


(carbonaria) den Selektionsvorteil, nicht so leicht
von Prädatoren, z. B. Vögeln, erkannt zu werden
.. Abb. 3.47 a, b  Farbmorphen von Biston betularia. a Illus- (. Abb. 3.47b). Bereits 1878 lag der Anteil dunk-
tration der Tiere; Form typica (links), Form carbonaria (rechts). ler Spanner bei 45 %, 1908 bei 90 % und 1938 bei
b Verteilung der Formen in Großbritannien. Die carbonaria- 96 %. Aus diesen Daten lässt sich ein Selektions-
Mutante überwiegt in Industriegebieten mit starken Ruß-
vorteil von s = 0,33 berechnen; d. h. nach weniger
emissionen (aus: Sperlich 1988)
als 100 Generationen kann sich eine Morphe in der
Population quantitativ durchsetzen. Inzwischen ist
dann lässt sich der Selektionskoeffizient s wie folgt die Luftverschmutzung in England aber deutlich
berechnen: zurückgegangen und parallel dazu hat sich die
helle Morphe typica wieder stärker ausgebreitet.
s = Dp / p'· q2 ; Die Birkenspanner-Ergebnisse, die Kettlewell in
den 1950er Jahren durchführte, wurden von Maje-
dabei ist p die Allelhäufigkeit in Generation 1 und rus in den neunziger Jahren überprüft und wegen
p´ diejenige in Generation 2. der Methodik kritisiert. Da einige der experimen-
Bei starker Selektion wird einer der Genotypen tellen Befunde nicht reproduzierbar waren, wurde
eliminiert und der andere in der Population fixiert von Seiten der antievolutionären Kritik die gesamte
(gerichtete Selektion). Ein aufschlussreiches Bei- Biston-Forschung als fragwürdig dargestellt, wäh-
spiel für eine starke Selektion ist die Zunahme der rend Majerus die Schlussfolgerungen im Prinzip
melanistischen Morphe des Birkenspanners (Bis- für richtig einschätzte. Aus dem Hunsrück, wo
ton betularia) in England. In der vor- und früh- die Luftverschmutzung als gering angesehen wer-
industriellen Zeit, d. h. vor 1850, lag der Anteil den kann, ist bekannt, dass die carbonaria-Form
der hellen Morphe (typica) bei annähernd 100 % eine Häufigkeit von ca. 50 % hat. Hier gibt es aber
(. Abb. 3.47a). Durch zunehmende Umweltver- viele Buchen, die dunkle Stämme aufweisen und
3.5  •  Vererbung, Populationsgenetik und Artbildung 295

damit den dunklen Birkenspannern einen Überle- „Verinselungseffekt“ weiter verstärkt und ist we-
bensvorteil liefern (T. Schmitt, Universität Trier). sentlich häufiger, als meist allgemein angenommen 1
Andere Beispiele für aktuelle Selektionsprozesse wird.
sind das Auftreten von resistenten Insekten nach In Inselpopulationen oder anderen ähnlich 2
längerer Insektizidbehandlung, wie man es z. B. bei isolierten Populationen können sich die Allelfre-
der Anopheles-Mücke nach DDT-Behandlung fest- quenzen durch Zufallseffekte deutlich verändern.
stellte, oder resistenter pathogener Bakterien nach Diese Zufallseffekte, die insbesondere bei kleinen 3
Antibiotika-Applikation. Populationen auftreten, werden als genetische
Ein weiteres gut untersuchtes Beispiel zur aus- Drift bezeichnet. Sie sind besonders häufig bei 4
gleichenden Selektion ist die Sichelzellanämie, neutralen Allelen, die dem Träger weder Vor- noch
die in Gebieten mit Malaria vermehrt auftritt. Bei Nachteil bringen. In kleinen und mittelgroßen Po-
der Sichelzellanämie tritt eine Mutation im Hämo- pulationen bewirkt der Einfluss der Gendrift, dass
5
globingen auf, indem in der Position 6 Glutamin neutrale Mutationen häufig durch Zufall fixiert
durch Valin ausgetauscht wird. Dies bewirkt, dass werden. 6
das Hämoglobin in den Erythrozyten nicht länger Wird von einer Art ein neues Areal besiedelt,
globulär, sondern als fibrilläres Netzwerk vorliegt. z. B. eine bisher unbewohnte Insel, so hängt es von 7
Entsprechende Erythrozyten sind sichelförmig und der Größe der Gründerpopulation ab, ob alle Geno-
nicht länger als Sauerstoffträger funktionsfähig. typen vertreten sind und ob sich die gleiche Allelfre-
Plasmodien, die Erreger der Malaria, überleben quenz wie in der Ursprungspopulation entwickelt. 8
in Sichelzellen deutlich schlechter als in normalen Da Gründerpopulationen meist klein sind (im Mi-
Erythrozyten. Deshalb haben Menschen, die für die nimum ein trächtiges Weibchen bei Tieren oder ein 9
Sichelzellmutation heterozygot sind, in Malariage- Samen bei Pflanzen), kommt es meist kurzfristig zu
bieten einen Vorteil, während Homozygote zwar einer genetischen Verarmung (Flaschenhalseffekt),
auch keine Malaria bekommen, aber unter starker und eine Zunahme der Homozygoten wird beob-
10
Anämie leiden und frühzeitig sterben. Aus diesem achtet. Dieser Trend kann leicht erkannt werden,
Grunde ist der heterozygote Genotyp in Malariage- da sich diese Populationen nicht länger im Hardy- 11
bieten Afrikas deutlich erhöht. In Asien ist die Si- Weinberg-Gleichgewicht befinden.
chelzellmutation vermutlich unabhängig entstanden Betrachten wir einmal zwei isolierte Inselpo- 12
(. Abb. 3.48). pulationen, deren Allelfrequenzen sich stark un-
terscheiden. Kommt es aber zu einem Genfluss
zwischen beiden Inseln (dazu reicht bereits der 13
3.5.5 Genfluss und genetische Austausch von ein bis zwei Individuen pro Gene-
Drift ration aus), so verändern sich die Allelfrequenzen 14
bald wieder in Richtung des Hardy-Weinberg-
Bisher haben wir die Allelverteilung bzw. den Po- Gleichgewichtes. Man beobachtet dann wieder eine
lymorphismus in einer uniformen Population Zunahme der Heterozygoten und eine Abnahme
15
betrachtet. In der Natur finden wir jedoch häufig von Erbkrankheiten, die bei homozygot rezessiven
Populationen, die geographisch isoliert sind. Am Individuen vermehrt auftreten können. 16
auffälligsten ist dieses Phänomen bei Inselpopu- Die Veränderung der Allelfrequenzen durch
lationen, die mit Festlandspopulation nicht länger Genfluss lässt sich nach folgender Formel berech- 17
im Austausch stehen. Jedoch bilden sich auch auf nen:
dem zusammenhängenden Festland lokale Verbrei-
tungsinseln, die meistens geographisch z. B. durch Dp = m(pm–p) 18
physische Barrieren (Gebirge, breite Flüsse, große
Wälder, Wüsten) oder zeitliche Trennung bedingt dabei ist p die Frequenz von A in der Hauptpopu- 19
sind. Da viele Tierarten dazu neigen, sich an ihrem lation und pm die Allelfrequenz von A bei den Ein-
Geburtsort anzusiedeln (Philopatrie), wird der wanderern. Δp beschreibt die Veränderung nach ei-
20
296 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

ner Generation; m ist der Einwanderungskoeffizient liten-Analyse lässt sich der Homozygotiegrad einer
(Verhältnis der Einwanderer zur Populationsgröße Zuchtpopulation leicht ermitteln (s. Abschn. 3.5.1
pro Generation). und 4.1.2). Die erhaltenen Daten geben dem Züch-
Über die Allelverteilung kann man die Struktur ter die Möglichkeit, möglichst wenig verwandte
von Populationen und zugrunde liegende Effekte Tiere zur Nachzucht einzusetzen und damit In-
(z. B. Wahlund-Effekt, FST, Coalescence) ermitteln. zuchtdepression zu vermeiden.
Die Populationsgenetik ist ein umfangreiches und Mutation, Selektion, Drift, Migration und
schwieriges Gebiet, das sich nicht im Rahmen des Kopplung gehören demnach zu den Mechanismen,
vorliegenden Buches abhandeln lässt (näheres in welche die Allel- und Genotypfrequenzen in einer
Gillespie 2004; Hartl u. Clark 2007; Hamilton 2009; Population beeinflussen. Dieser Evolutionsbereich
Hedrick 2009). wird auch als Mikroevolution bezeichnet, die den
Populationsgröße und Selektion beeinflussen Wandel in der genetischen Ausstattung einer Popu-
demnach signifikant die evolutionären Verände- lation widerspiegelt.
rungen und den Polymorphismus. Ist eine Popu-
lation klein und die Selektion niedrig, so herrscht
im Wesentlichen die genetische Drift vor. In großen 3.5.6 Artbildung (Speziation)
Populationen mit deutlicher Selektion beobachtet
man dagegen besonders die Effekte der natürlichen Eine neue Art (zum Thema Artkonzepte s. Ab-
Auslese. schn. 1.2.3) kann entstehen, wenn Angehörige ei-
Die Paarung erfolgt unter natürlichen Bedin- ner Fortpflanzungsgemeinschaft in zwei getrennte
gungen nicht immer nach dem Zufallsprinzip, son- Populationen aufgeteilt werden, deren Mitglieder
dern häufig gerichtet: Positives assortative mating sich nur noch innerhalb, aber nicht mehr zwischen
liegt vor, wenn verwandte oder ähnliche Partner, ne- den Populationen fortpflanzen. Man unterscheidet
gatives assortative mating, wenn nicht verwandte, zwischen allopatrischer Artbildung (d. h. Popula-
ungleiche Partner gewählt werden. Ein Spezialfall tionen entwickeln sich in geographischer Isolie-
ist die Inzucht (inbreeding), bei der sich nah ver- rung), parapatrischer (d. h. Populationen grenzen
wandte Individuen paaren. Als Konsequenz fortge- aneinander) und sympatrischer (d. h. Populationen
setzter Inzucht wird man in einer Population eine überlappen sich) Artbildung (. Abb. 3.49) (Coyne
Zunahme an Homozygoten und eine Abnahme an u. Orr 2004; Butlin u. Ritchie 2009; Schluter 2009;
Heterozygoten feststellen. Insbesondere wird der Sobel et al. 2010).
Anteil der Nachkommen mit nachteiligen homozy-
got rezessiven Genen zunehmen; man spricht von Allopatrische Artbildung
Inzuchtdepression. Der inbreeding-Koeffizient F Bei den meisten Vertebraten geht man von einer
nach Sewall Wright beschreibt die Wahrscheinlich- allopatrische Artbildung (Artbildung durch räum-
keit, dass zwei Allele eines Gens in einem Indivi- liche Trennung) aus. Viele Arten, insbesondere
duum von einem gemeinsamen Gen des Vorfahren wenn sie sessil leben, zeigen erhebliche geographi-
abstammen. sche Variabilität; bei einer räumlichen Trennung
Auch in großen natürlichen Populationen tritt einzelner variabler Populationen können diese sich
Inzucht auf. Da die Jugendmortalität in freier Natur zu selbstständigen Arten entwickeln. Allopatrische
meist sehr hoch liegt, kommt bei fast allen Orga- Speziation kann durch Teilung der Ausgangspo-
nismen nur ein kleiner Teil der Nachkommen zur pulation oder durch Abtrennung peripherer Teil-
Fortpflanzung. Daher werden sich nachteilige re- populationen zustande kommen. Ein gut belegtes
zessive Homozygote kaum auswirken, da sie meist Beispiel ist die Besiedlung vulkanischer Inseln, die
nicht zur Fortpflanzung kommen. Anders sieht die in den Ozeanen neu entstanden. Wenn Individuen
Situation bei Haus- oder Zootieren aus. Hier fällt oder Teilpopulationen vom Festland auf diese Inseln
die natürliche Jugendmortalität weitgehend fort, so verdriftet werden, können dort neue Arten entste-
dass man die negativen Inzuchteffekte schon nach hen, die sich von der Ausgangsart oft deutlich un-
wenigen Generationen bemerkt. Durch Mikrosatel- terscheiden. Auf den Makaronesischen Inseln, zu
3.5  •  Vererbung, Populationsgenetik und Artbildung 297

.. Abb. 3.49  Schematische Darstel-


lung der verschiedenen Speziations-
modelle
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
denen die Azoren, Madeira, die Kanaren und die seln verdriftet wurde (z. B. mit Holzstämmen). Es 14
Kapverden zählen, wird ein erheblicher Anteil der scheinen mehrere unabhängige Kolonisierungen
Arten als endemisch angesehen, d. h. sie kommen stattgefunden zu haben. So lassen sich alle Gecko-
nur hier vor: von 2400 Pflanzenarten gelten 1120 Haplotypen der Ostinseln, die als T. angustimen-
15
Arten als endemisch, unter den 105 Brutvogelarten, talis abgetrennt werden, von einer gemeinsamen
die wesentlich mobiler sind, liegt der Anteil der En- Stammart ableiten. Selbst die vorgelagerten kleinen 16
demiten bei 13 %. Ozeanische Inseln sind daher zur Inseln sind durch Geckos besiedelt, die bereits in-
Untersuchung von Artbildungsprozessen besonders selspezifische Haplotypen ausgebildet haben. Die 17
gut geeignet. Besiedlung der Westinseln erfolgte in einer zweiten
Als Beispiel ist in . Abb. 3.50 und . Abb. 3.51 Phase. Betrachtet man die Astlängen in den Phylo-
die molekulare Phylogeographie der Geckos der grammen, die mit den Divergenzzeiten korreliert 18
Gattung Tarentola und von Rotkehlchen, Gold- sind, erhalten wir einen Anhaltspunkt dafür, wann
hähnchen und Blaumeisen dargestellt. Bei den die Besiedlung der einzelnen Inseln erfolgte. Da 19
Geckos kann man vermuten, dass Tarentola mau- die Kanaren vulkanischen Ursprungs sind, kann
ritanica vom afrikanischen (Kanarentiere) oder man ihr Alter gut datieren. Alle Inseln entstanden
europäischen Festland (Madeiratiere) auf die In- in den letzten 20 Mio. Jahren (. Abb. 3.50a). Die
20
298 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

Lanzarote
(15,5 Mio)
La Palma
(2 Mio) Teneriffa
(11,6 Mio)

Gomera
(10 Mio)
Fuerteventura
(20 Mio)
El Hierro Gran Canaria
(1 Mio) (14-16 Mio)

T. delalandii Teneriffa

T. delalandii Teneriffa
T. delalandii La Palma
T. gomerensis La Gomera

T. boettgeri Gran Canaria


T. boettgeri El Hierro
T. boettgeri Selvage-Inseln

T. angustimentalis Fuerteventura
T. angustimentalis Lobos
T. angustimentalis Lanzarote
T. angustimentalis Alegranza
T. angustimentalis M. Clara
T. angustimentalis R. del Este
T. angustimentalis Graciosa
T. mauritanica Madeira
T. mauritanica
T. mauritanica Spanisches Festland
H. turcicus Marokko
10 Nucleotidsubstitutionen

.. Abb. 3.50 a, b.  a Lage und Alter der Kanarischen Inseln und Madeiras. b Phylogeografie der Geckos (Gattung Tarentola)
auf den Makaronesischen Inseln; rekonstruiert über Nucleotidsequenzen mitochondrialer DNA (Cytochrom b, 12S rRNA) (nach
Nogales et al. 1998). Im Phylogramm entsprechen die Astlängen genetischen Distanzen. Bildrechte liegen bei Wiley
Rotkehlchen (Erithacus rubecula) Winter-Goldhähnchen (Regulus regulus) Blaumeise (Cyanistes caeruleus)

Turdus merula Regulus regulus


Sylvia melanocephala

Luscinia svecica S. borin Parus major


Phylloscopus collybita
R. calendula
Saxicola rubicola
Europäisches Teneriffa
Festland Teneriffa La Gomera

La Palma

R. r. teneriffae C. c. teneriffae

La Gomera
El Hiero Gran Canaria
Europäisches
E. r. rubecula Festland
C. c. teneriffae

R. r. regulus
Fuerteventura

schen Distanzen (nach Dietzen et al. 2006, Bildrechte liegen beim Autor)
Azoren Lanzarote

R. r. inermis
C. c. degener
El Hierro, La Palma
Teneriffa
R. r. ellenthaleri
El Hierro
E. r. superbus Europa
R. ignicapllus
C. c. ombriosus
Madeira
La Palma
C. c. palmensis

R. maderensis
Gran Canaria Europäisches
Festland

E. r. marionae
C. c. caeruleus
3.5  •  Vererbung, Populationsgenetik und Artbildung

iert über Nucleotidsequenzen des mitochondrialen Cytochrom-b-Gens. Im Phylogramm entsprechen die Astlängen geneti-
.. Abb. 3.51  Phylogeographie der Rotkehlchen, Goldhähnchen und Blaumeisen auf den Makaronesischen Inseln; rekonstru-
299

9
8
7
6
5
4
3
2
1

20
19
18
17
16
15
14
13
12
11
10
300 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

Astlängen in den Phylogrammen der Geckos von Spannend ist auch die Phylogeographie der
den Westinseln sind größer als die der Ostinseln. Da Wintergoldhähnchen (Regulus regulus), die nur
die Westinseln ein Alter von 10–12 Mio. Jahren und wenige der Kanareninseln besiedeln. Von Teneriffa
weniger aufweisen, kann man folgern, dass die Ge- wird eine eigene Unterart (R. r. teneriffae) beschrie-
ckos frühestens vor 5–10 Mio. Jahren dort ankamen, ben, die sich überraschenderweise von den Gold-
während die Besiedlung der Ostinseln vermutlich hähnchen der Westinseln El Hierro und La Palma
erst später erfolgte. (R. r. ellenthaleri) unterscheidet. Die Bewohner der
Auf den Kanaren leben weitverbreitet Rotkehl- Westinseln sind mit den Wintergoldhähnchen der
chen (Erithacus rubecula), die teilweise eigenen Azoren und des Festlandes offenbar näher verwandt
Unterarten, wenn nicht sogar Arten angehören als mit den Bewohnern Teneriffas. Das Wintergold-
(. Abb. 3.51a): Auf Teneriffa und Gran Canaria hähnchen kommt jedoch nicht auf Madeira vor,
konnten aufgrund von DNA-Sequenzen zwei ei- sondern wird dort durch einen Vertreter aus dem
genständige Taxa erkannt werden, E. r. superbus auf Sommergoldhähnchen-Komplex (R. ignicapillus)
Teneriffa und E. r. marionae auf Gran Canaria. Die ersetzt.
Rotkehlchen der übrigen kanarischen Inseln haben Für andere Archipele (z. B. die Galapagosinseln
Haplotypen (also Sequenzvarianten), die denen der und Hawaii) lassen sich ähnliche Beispiele auffüh-
Rotkehlchen auf dem europäischen Festland ent- ren. Als Fazit kann man feststellen, dass sich auf
sprechen (E. r. rubecula). Man kann die Unterarten den meisten landfernen Inseln inselspezifische
auf Teneriffa und Gran Canaria auch an der intensi- (endemische) Haplotypen und Spezies/Subspezies
veren Rotfärbung und den abweichenden Gesängen erkennen lassen, die sowohl genetisch als auch
unterscheiden; aufgrund der genetischen Distanzen morphologisch (bei Vögeln meist auch akustisch)
und der übrigen Unterschiede könnte diese Besied- differenziert sind. Da endemische Inselarten meist
lung schon bald nach der Entstehung dieser Inseln auf kleinem Raum vorkommen und kleine Be-
vor max. 11,6 bzw. 16 Mio. Jahren erfolgt sein, wäh- stände aufweisen, sind viele von ihnen durch Ha-
rend die übrigen Inseln deutlich später vom europä- bitatverluste oder andere menschliche Eingriffe viel
ischen Festland her besiedelt wurden. Von einigen stärker bedroht als weit verbreitete Festlandarten.
Autoren werden die beiden Kanaren-Rotkehlchen Es ist daher nicht verwunderlich, dass unter den
als eigenständige Arten angesehen. nachweislich ausgestorbenen Arten und unter den
Ein ähnliches Szenario ergibt sich für den Blau- hochgradig gefährdeten Arten besonders viele In-
meisenkomplex (Cyanistes caeruleus) der Makaro- selendemiten zu finden sind.
nesischen Inseln (. Abb. 3.51c), die gut definier-
bare Inselunterarten ausgebildet haben, welche sich Parapatrische Artbildung
durch Gefiederfärbung und Rufe gut differenzieren Wenn sich die Umweltbedingungen im einem
lassen. Auf der molekularen Ebene unterscheiden geographisch abgrenzbaren Teilbereich einer Po-
sich die Blaumeisen der Westinseln El Hierro und pulation ändern, kommt es durch natürliche Se-
La Palma (C. c. ombriosus und C. c. palmensis) klar lektion zur Ansiedlung von Individuen, die an die
von denen der mittleren (Teneriffa und Gran Ca- neuen Bedingungen besser angepasst sind, als die
naria) und östlichen Inseln (Fuerteventura und Ursprungsart. Bleiben die veränderten Umweltbe-
Lanzarote). Aus genetischer Sicht lassen sich die dingungen konstant, so können sich zunächst zwei
Bewohner von Teneriffa und Gran Canaria, die separate Entwicklungslinien herausbilden, die zu-
bislang zur derselben Unterart gerechnet werden, nächst als Unterarten, später als Arten abzutrennen
ähnlich wie die Rotkehlchen, in zwei eigenständige sind. Da deren Areale aneinander grenzen, findet
Arten unterteilen. Ausgehend von den Blaumeisen man häufig eine Hybridzone. Isolationsmechanis-
des europäischen Festlands gab es möglicherweise men und Hybridisierungsschranken folgen später.
mehrere Kolonisationsereignisse, wobei die erd- Isolationsmechanismen können präzygotisch oder
zeitlich jungen Westinseln offenbar zuerst besiedelt postzygotisch erfolgen. Präzygotische Isolation
wurden. kann durch Unterschiede im Timing des Brutge-
schehens, in Bruthabitaten, Balzverhalten, Morpho-
3.5  •  Vererbung, Populationsgenetik und Artbildung 301

1
2
3
4
5
6
.. Abb. 3.52 a–c.  Sympatrische Artbildung durch Hybridi- 7
sierung, am Beispiel der Gattung Galeopsis. Aus den diploiden
Ausgangsarten Galeopsis speciosa (a) und G. pubescens (c)
entstand eine neue tetraploide Art, G. tetrahit (b) 8
logie oder gametischer Inkompatibilität hervorgeru- 9
fen werden. Eine postzygotische Isolation tritt erst
nach der Befruchtung ein und reduziert die Vitalität
oder Fertilität der hybriden Nachkommen. .. Abb. 3.53  Hybridisierung bei Minzen. Aus den Aus-
10
Diese Art der Artbildung wird auch als ökolo- gangsarten Mentha suaveolens (2n = 24 Chromosomen) und
gische Artbildung bezeichnet. Ein Beispiel aus der M. longifolia (2n = 24 Chromosomen) entstand M. spicata
(2n = 36 und 48 Chromosomen), die mit den Ausgangsarten
11
heimischen Fauna ist das Auftreten von Raben- und rückkreuzbar ist. Durch Hybridisierung von M. spicata mit M.
Nebelkrähe (Corvus corone und C. cornix), die frü- aquatica (2n = 96) entstand die sterile M. x. piperita (2n = 66 12
her in zwei Unterarten untergliedert wurden. In und 72 Chromosomen)
Westdeutschland treten Rabenkrähen auf, während
östlich der Elbe die Nebelkrähen überwiegen. Wo Bei parapatrischen Arten kennt man das Phä- 13
beide Taxa aneinander stoßen, bilden sich Hybrid- nomen des character displacements. In den Berei-
zonen aus. Auf der Ebene von DNA-Sequenzen des chen, wo zwei nah verwandte parapatrische Arten 14
mitochondrialen Cytochrom-b-Gens unterscheiden sich nicht begegnen, ähneln sich beide Arten meist
sich beide Taxa noch nicht, ein Hinweis darauf, dass sehr. Dagegen findet man in den Überlappungs-
immer noch ein Genfluss stattfindet und die Tren- bereichen eine starke Ausprägung von unterschei-
15
nung erst vor erdgeschichtlich kurzer Zeit erfolgte. denden Merkmalen im Aussehen, Verhalten oder
Demnach ist die Artbildung noch nicht abgeschlos- ökologischen Ansprüchen. 16
sen. Erst wenn keine Hybridzone mehr vorhanden
ist, können wir von „guten“ Arten sprechen. Dies Sympatrische Artbildung 17
gilt z. B. für Schwesterartenpaar Sprosser (Luscinia Wenn Arten innerhalb desselben Verbreitungsge-
luscinia) und Nachtigall (Luscinia megarhynchos), bietes entstehen, so liegt Sympatrie vor. Da sym-
die sich geographisch ersetzen und nur in Ausnah- patrische Arten regelmäßig aufeinander treffen 18
mefällen hybridisieren. Viele nah verwandte und können, sind bei jungen Arten Hybridisierungen
junge Arten unterscheiden sich morphologisch nicht selten. Sympatrische Artbildung ist schwerer 19
nur wenig; solche „kryptischen“ Arten lassen sich nachzuweisen und bei Arten mit stabilen Polymor-
am ehesten durch DNA-Marker auseinanderhalten phismen denkbar, bei denen sich eine Verpaarung
(s. Abschn. 4.1.2). zwischen speziellen Genotypen bevorzugt einstellt.
20
302 Kapitel 3  •  Evolution – genetische und zellbiologische Grundlagen

Insbesondere bei Cichliden, Anolis-Leguanen, In- die sterile Hybride durch Colchicin polyploidisiert
sekten und Palmen gibt es klare Belege für diese und fertile Mutanten selektiert; z. B. ist so die be-
Form der Artbildung, wie dies in den Labors von A. liebte Zierpflanze Primula kewensis (2n = 36) aus
Meyer, B. Dieckmann, M. Doebeli, D. Tautz und U. P. verticillata (2n = 18) und P. floribunda (2n = 18)
Schlieven eindrucksvoll gezeigt werden konnte. Bei gezüchtet worden. In der Natur sind Arthybride be-
Vögel und Säugetieren ist die sympatrische Artbil- sonders häufig in einigen Gattungen der Asteraceae,
dung bislang nur selten belegt; ein Beispiel dafür ist Brassicaceae, Lamiaceae, Asphodelaceae (Gattung
die Differenzierung der Witwenvögel, bei denen ein Aloe) und Orchidaceae zu finden.
Wirtswechsel zu einer anderen Prachtfinkenart zur
generativen Isolierung und damit zur Artbildung
führen kann (Dieckmann et al. 2004, Pennisi 2006). Literatur
Wie schon in Abschn. 3.4.2 diskutiert spielen die
Hybridisierung und Polyploidisierung für Pflanzen Arendt D, Nübler-Junk K (1994) Inversion of dorsoventral
axis? Nature 371: 26
(sowohl Allopolyploidisierung als auch Autopoly-
Arendt D, Tessmar-Raible K, Snyman H, Dorresteijn AW,
ploidisierung) und sicher auch für einige Tier- Wittbrodt J (2004) Ciliary photoreceptors with a ver-
gruppen eine wichtige Rolle bei der sympatrischen tebrate-type Opsin in an invertebrate brain. Science
Artbildung, da sie zu Genfluss und komplexen Ge- 306: 869–871
nomreorganisationen führen: einige Wissenschaft- Bodmer WF, Cavalli-Sforza LL (1976) Genetics, evolution
and man. Freeman, San Francisco
ler vermuten, dass 50 % der höheren Pflanzen durch
Brown WM, George M, Wilson AC (1979) Rapid evolu-
Hybridisierung entstanden. Die Genomevolution tion of animal mitochondrial DNA. Proc Natl Acad Sci
von Polyploiden und Hybriden wird durch vielfäl- USA 76: 1967–1971
tige genetische Interaktionen gesteuert, z. B. Rekom- Butlin RK, Ritchie MG (2009) Genetics of speciation. He-
bination, Genkonversion, konzertierte Evolution, redity 102: 1–3
Camp NJ, Cox A (2002) Quantitative Trait Loci: Methods
innergenomische Chromosomenaustausche, cyto-
and Protocols. Reihe: Methods in Molecular Biology.
nukleäre Stabilisation und Genstilllegungen. Durch Band 195. Humana Press, Totowa
diese Reorganisationen können neue Genkombina- Clutton-Brock T (2009) Cooperation between non-kin in
tionen zustande kommen, die zu neuen Funktionen animal societies. Nature 462: 51–57.
führen und adaptive Radiationsprozesse erleichtern. Coyne JA, Orr HA (2004) Speciation. Sinauer Associates,
Sunderland
Normalerweise sind Hybride steril. Durch Po-
Cracraft J (2005) Phylogeny and evo-devo: Characters,
lyploidisierung (s. Abschn. 3.4.2) kann die Fertili- homology, and the historical analysis of the evolution
tät jedoch u. U. wieder restauriert werden, so dass of development. Zoology 108: 345–356
fertile neue Arten entstehen. Ein Beispiel für Art- Dawkins D (1999) The Selfish Gene. Oxford University
bildung durch natürliche Hybridisierung ist der Press, Oxford
Dawkins R (2000) The Blind Watchmaker. Neuaufl. Pen-
Hohlzahn Galeopsis tetrahit (Familie Lamiaceae),
guin, London
der aus G. pubescens und G. speciosus entstand Dawkins R (2009) The Greatest Show on Earth. Free Press,
(. Abb. 3.52). Ein anderes Beispiel stellen Minzen New York
da, die nah verwandt sind und in der Natur oder in de Duve C (1994) Ursprung des Lebens. Präbiotische
Kultur leicht hybridisieren. Viele der Hybride sind Evolution und die Entstehung der Zelle. Spektrum,
Heidelberg
steril oder haben eine reduzierte Fertilität; sie kön-
de Duve C (1995) Aus Staub geboren. Spektrum, Heidel-
nen sich jedoch vegetativ vermehren und bleiben berg (Vgl. auch: Die Herkunft der komplexen Zellen
daher erhalten. Die bekannte Pfefferminze (Mentha (1996) Spektrum Wiss, S 60–68
× piperita), die zur Gewinnung von ätherischem Öl Dieckmann U, Doebeli M, Metz JAJ, Tautz D (2004) Ad-
angebaut wird, stellt einen sterilen Tripel-Bastard aptive speciation. Cambridge Univ Press, Cambridge
Dietzen C, Garcia-del-Rey E, Delgado Castro G, Witt HH,
dar, mit M. aquatica und M. spicata als Ausgangsar-
Wink M (2006) Molecular phylogeography of passe-
ten, wobei M. spicata selbst ein Hybrid zwischen M. rine bird species on the Atlantic Islands. Poster IOC
suaveolens und M. longifolia darstellt (. Abb. 3.53). Berlin
In der Pflanzenzucht wird diese Strategie häufig Doolittle WF (2000) Stammbaum des Lebens. Spektrum
genutzt, indem man Arten kreuzt, anschließend Wiss, S 52–57
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4 Molekulare
Evolutionsforschung:
Methoden, Phylogenie,
Merkmalsevolution
und Phylogeographie
V. Storch, U. Welsch, M. Wink, Evolutionsbiologie,
DOI 10.1007/978-3-642-32836-7_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
306 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

4.1 Methoden der molekularen Mitte der 1970er Jahre, bevor die Klonierungs-
Evolutionsforschung und Sequenzierungsmethoden etabliert waren,
führte Charles Sibley die DNA-DNA-Hybridisierung
als eine wichtige Methode in die Evolutionsfor-
|
Übersicht              | schung ein (die 1966 von Britten und Kohne entwi-
In diesem Kapitel erfolgt zunächst eine kurze ckelt worden war), um Verwandtschaftsbeziehun-
historische Einführung in molekulare Evoluti- gen zwischen Organismen erkennen zu können.
onsforschung. Den Methoden, wie beispiels- Bei dieser Methode hybridisiert man Single-copy-
weise Allozymanalyse, DNA-Fingerprinting, DNA von zwei Organismen und bestimmt die Ver-
Mikrosatelliten-Analyse und andere PCR-Ver- änderung der Schmelztemperatur der DNA. Eine
fahren, DNA-Sequenzierung, Sequenzanalysen, Veränderung um 1 °C in der Schmelztemperatur
Stammbaumrekonstruktion und molekularen entspricht in etwa einer Divergenz von 1 %, d. h.
Uhren wird ein etwas breiterer Raum gewidmet, einem Austausch von 1 Nucleotid in 100 Nucle-
da man die Aussagekraft der Ergebnisse der otiden. Sibley und Mitarbeiter untersuchten über
molekularen Evolutionsforschung nur beurtei- 1000 Vogelarten mit dieser Methode und erstellten
len kann, wenn man die Methoden und ihre die erste molekulare Gesamtphylogenie einer gro-
Einschränkungen kennt. ßen Organismengruppe (Sibley u. Ahlquist 1990).
Da die DNA-DNA-Hybridisierung nur Distanzen
und keine distinkten Merkmale liefert, konnten sich
kladistisch arbeitende Systematiker (s. Abschn. 4.2)
nur schwer mit dieser Methode anfreunden. Außer-
4.1.1 Ein kurzer historischer dem ist ihre Auflösung in vielen Fällen nicht aus-
Rückblick reichend, so dass die DNA-DNA-Hybridisierung
heute kaum noch durchgeführt wird und durch die
Der britische Biologe Falkner untersuchte um Sequenzierung von Markergenen abgelöst wurde.
1900 immunologische Merkmale in Blutproben Durch die Entdeckung von Restriktionsendo-
von Menschen und Menschenaffen (Schimpanse, nucleasen durch Werner Arber im Jahre 1962 wurde
Gorilla, Orang-Utan und Gibbon). Schon damals es möglich, isolierte DNA in Abschnitte definierter
erkannte der Autor, dass Homo sapiens mit den af- Länge zu zerschneiden, da diese Enzyme spezifi-
rikanischen Menschenaffen näher verwandt ist als sche Sequenzabschnitte erkennen können, die häu-
mit den asiatischen Arten (s. Kap. 5). In Deutsch- fig eine Palindromstruktur aufweisen (. Abb. 4.1).
land war es Paul Uhlenhuth, der 1901 als Erster Man hat diese Methode insbesondere bei zirkulärer
Menschenblut mithilfe der Serologie von Tierblut mitochondrialer (mtDNA) und plastidärer (cpDNA)
unterscheiden konnte. 60 Jahre später wurden er- DNA eingesetzt und nach Gelelektrophorese kom-
neut Blutproben untersucht; dieses Mal wurden plexe Bandenmuster erhalten, wie man sie heute
Blutproteine über die neu entwickelten Methoden beim DNA-Fingerprinting kennt. Die Methode des
der Proteinelektrophorese in ihre Einzelkompo- Restriktionsfragment-Längen-Polymorphismus
nenten aufgetrennt und die Aminosäuresequenzen (RFLP) von mtDNA und cpDNA wurde besonders
ausgewählter Blutproteine in mühevoller Kleinar- in den Jahren zwischen 1970 und 1990 benutzt, wird
beit über den Edman-Abbau bestimmt. Berühmte aber heute in der Evolutionsforschung zunehmend
Forscher wie Pauling, Zuckerkandl und Goodman durch höher auflösende Methoden, z. B. DNA-Se-
sind mit dieser frühen Phase der molekularen Evo- quenzierung oder AFLP ersetzt (s. Abschn. 4.1.2).
lutionsforschung (. Tab. 4.1) eng verbunden. Ab Durch die bahnbrechenden Versuche von Bo-
Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts traten in- yer, Cohen und Berg wurde es ab 1973 möglich,
formativere DNA-Untersuchungen an die Stelle der Gene gezielt zu klonieren. Weitere Meilensteine
Proteinanalyse, da die Aminosäuresequenzierung waren reproduzierbare und schnelle Methoden zur
sehr aufwendig ist und da Proteine nah verwandter DNA-Sequenzierung: In den Jahren 1975–1977
Arten oft keine Unterschiede aufweisen. entwickelten Frederick Sanger und Mitarbeiter die
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 307

.. Tab. 4.1  Meilensteine in der Entwicklung molekularbiologischer Methoden oder Konzepte mit Bezug auf die mole­
kulare Evolutionsforschung
1
Jahr Methode Maßgebliche Wissenschaftler
2
1871 DNA wird isoliert Miescher

1881 Struktur der Nucleotide wird ermittelt Kossel 3


1933 Entwicklung der Proteinelektrophorese Tiselius

1943 Nachweis von DNA als Erbsubstanz Avery 4


1953 Ermittlung der DNA-Doppelhelixstruktur Watson u. Crick

1957 Entdeckung der DNA-Polymerasen Kornberg 5


1959 Entwicklung der Polyacrylamid-Gelelektrophorese Raymonds

1961 DNA-Renaturierung und Hybridisierung Marmur u. Doty


6
1961 Postulat einer molekularen Uhr Pauling u. Zuckerkandl
7
1962 Entdeckung der Restriktionsenzyme Arber

1963 Erste molekulare Phylogenie wird über die Aminosäure-


sequenz des Cytochrom c aufgestellt
Margoliash
8
1966 Entzifferung des genetischen Codes Nirenberg, Ochoa, Khorana

1967 Entdeckung der DNA-Ligase Gellert


9
1972/73 Entwicklung der DNA-Klonierung Boyer, Cohen, Berg
10
1975 DNA-Transfer aus Gel auf Membran Southern

1975–77 Entwicklung der DNA-Sequenzierung Sanger u. Barrell; Maxam u. Gilbert 11


1983–85 Entwicklung der PCR Mullis

1985 DNA-Fingerprinting von Minisatelliten-DNA Jeffreys 12


1987 erster automatisierter DNA-Sequencer (ABI 370) Applied Biosystems

1995 erste Komplettsequenzierung eines Lebewesens (Hae- Venter, Smith 13


mophilus influenzae)

1996 Entwicklung der Pyrosesequenzierung Nyrén, Ronaghi 14


2000 Entwicklung des Next Generation Sequencing (MPSS) Lynx Therapeutics

2001 Sequenzierung des humanen Genoms Venter 15


2004 Automatisierung der Pyrosequenzierung 454 Life Sciences

2010 Genom des Neandertalers (2,6 GB) sequenziert Pääbo und Mitarbeiter 16
17
Strangabbruchmethode und Maxam und Gilbert cing (NGS) hinzugekommen (s. Abschn. 4.1.2).
die chemische Sequenzierung. Heute hat sich die Diese neuen DNA-Sequenzierungsmethoden erlau-
Strang­abbruchmethode mit Didesoxynucleotiden ben es, ganze Genome oder Transkriptome in einem 18
durchgesetzt und wird vor allem bei der automa- einzigen Lauf zu analysieren. Diese Analysen liefern
tischen Sequenzierung verwendet, bei der DNA- eine Fülle von Informationen, die in allen Bereichen 19
Fragmente durch Fluoreszenzfarbstoffe markiert der Biologie, vor allem in der Evolutionsforschung,
werden. In den letzten 5–10 Jahren sind die Hoch- zu neuen Erkenntnissen geführt haben und weiter-
durchsatzverfahren des Next Generation Sequen- hin führen werden.
20
308 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.1  Erkennungssequenzen und Hydrolyseprodukte einiger Restriktionsenzyme. Die spiegelbildlich identischen Erken-
nungssequenzen werden als Palindrome bezeichnet

Durch die Fortschritte in der Klonierung und Weitere Meilensteine in der Geschichte der
der Entwicklung der DNA-Sequenzierung war es Molekularbiologie und molekularen Evolutionsfor-
erstmals möglich, anstelle von Proteinen Gene zu schung sind in . Tab. 4.1 aufgeführt.
sequenzieren. Anfangs wurden nur leichter zugäng-
liche Nucleinsäuren wie 5S rRNA (s. Abschn. 3.2.6)
unter phylogenetischen Aspekten bearbeitet, denn 4.1.2 Wichtige Methoden
die Isolierung der DNA und die Klonierung waren der molekularen
aufwendige Arbeitsschritte. Evolutionsforschung
Die Situation änderte sich gewaltig mit der Ent-
wicklung der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) in Da die Methoden der molekularen Evolutionsfor-
den Jahren 1983–1985 durch Mullis und Mitarbei- schung von der DNA-Sequenzierung von Mar-
ter. Mit Hilfe der PCR kann man heute einzelne kergenen über die Analyse der Muster von Mini-
DNA-Abschnitte (z. B. Markergene) gezielt enzyma- und Mikrosatelliten sowie von Allozymen bis
tisch vermehren (amplifizieren), bis am Ende der zur Genom- und Transkriptomanalytik reichen
Reaktion 108–109 Kopien vorliegen (. Abb. 4.2), (. Tab. 4.2), sind entsprechend viele Methoden vor-
eine ausreichende Menge für eine anschließende handen, die für Anfänger und Nichtfachleute häufig
Sequenzierung. Als Ausgangsmaterial reicht die verwirrend sind. In den folgenden Abschnitten sind
DNA aus wenigen Zellen oder Geweberesten. Fer- die wichtigsten Prinzipien einiger Basismethoden
ner benötigt man Sequenzinformation über den kurz dargestellt. Ausführlichere Beschreibungen
DNA-Bereich, der amplifiziert werden soll. Ent- finden sich in den in der Literaturübersicht aufge-
sprechende PCR-Primer von ca. 20 Nucleotiden- führten Titeln.
Längen, die zur Template-DNA komplementär
sind, werden chemisch synthetisiert. Die eingesetzte Allozymanalyse
DNA-Polymerase (meist Taq-Polymerase) aus dem Mittels Allozymanalyse, die seltener auch Alloen-
thermophilen Bakterium Thermus aquaticus ist zym- oder Allelozymanalyse genannt wird (s. Ab-
temperaturtolerant, so dass die PCR bei hohen Tem- schn. 3.5.1) kann geprüft werden, ob die Proteine,
peraturen durchgeführt werden kann. Der schema- welche von einem Gen-Locus codiert werden, in
tische Verlauf der PCR ist in . Abb. 4.2 dargestellt. ihrer Aminosäuresequenz identisch sind. Falls
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 309

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
.. Abb. 4.2 a, b  Schematischer Verlauf der Polymerase-Kettenreaktion (PCR). Darstellung der einzelnen Reaktionsschritte: a Im
ersten Zyklus wird in einem ersten Schritt die DNA bei 94 °C denaturiert, d. h. die beiden Einzelstränge werden getrennt. Wenn 15
anschließend die Reaktionslösung auf beispielsweise 52 °C (je nach Basenzusammensetzung der Primer) abgekühlt wird, lagern
sich die PCR-Primer an die jeweils komplementären Sequenzbereiche des zu amplifizierenden DNA-Abschnittes. Im folgenden
Schritt wird die Temperatur auf 72 °C erhöht, bei der die Taq-Polymerase optimal arbeitet. Die Taq-Polymerase verlängert die 16
PCR-Primer in 5‘→3'-Richtung, wobei die Sequenz des jeweiligen Template-Stranges als Matrize dient. Auf diese Weise wird die
Ausgangs-DNA identisch kopiert und verdoppelt. Damit ist der erste PCR-Zyklus abgeschlossen. Der zweite Zyklus beginnt
wieder mit Denaturierung; Primeranlagerung und Primerverlängerung folgen. Die Zyklen werden 20- bis 30-mal wiederholt, 17
so dass am Ende theoretisch 109 Kopien vorliegen. In der Praxis liegt die Ausbeute ein bis zwei Zehnerpotenzen niedriger, da
in den letzten Reaktionszyklen die Menge der PCR-Primer und Nucleotide zunehmend limitiert wird und die Taq-Polymerase
durch Hitzeeinwirkung einen Teil ihrer Aktivität einbüßt. Im Verlauf der PCR stellt sich die Länge der PCR-Produkte auf genau die
18
Länge ein, die durch die PCR-Primer vorgegeben ist, während die ersten Amplifikate noch deutlich länger sind. b Temperatur-
und Zeitprofil der PCR. A: Denaturierung, B: Primeranlagerung, C: Primerverlängerung. Die Anzahl der Kopien verdoppelt sich
mit jedem Zyklus
19
20
310 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Tab. 4.2  Wichtigste Methoden der molekularen Evolutionsforschung

Methode DNA-Bereiche Fragestellung

DNA-Sequenzierung

Sequenz-Analyse Markergene: Phylogenie, Taxonomie, Phylogeographie


mtDNA, cpDNA, Kern-
gene, Introns

SNP-Analyse Punktmutationen in allen Populationsgenetik, Individualerkennung,


DNA-Abschnitten Paternitätsbestimmung, Phylogeographie

Sequenz-Analyse Gesamte Genome, Exome Phylogenie, Genomevolution, funktionelle


Next Generation Sequencing oder Transkriptome Genomik

DNA-Fragmentlängen-Analysen (Fingerprints) meist repetitiver DNA

Mikrosatelliten-Analyse Mikrosatelliten (STR) des Populationsgenetik, Individualerkennung,


(Single locus) Kerngenoms Paternitätsbestimmung

AFLP-Analyse vor allem Kerngenom Populationsgenetik, Gen-Kartierung;


(Multilocus) Hybridisierung

ISSR-Analyse vor allem Kerngenom Phylogenie, Populationsgenetik, Gen-


(Multilocus) Kartierung, Hybridisierung

RAD-Marker (Restriction site vor allem Kerngenom Genkartierung (Mapping), Populationsge-


associated DNA) netik, Individualerkennung, Paternitätsbe-
stimmung

DNA-Fingerprinting Satelliten-DNA (VNTR, Paternitätsbestimmung, Individualerken-


(Multilocus) STR) nung

Sexing Geschlechts- molekulare Geschlechtsbestimmung


(single locus) Chromosom

AFLP: amplified fragment length polymorphism; cpDNA: Chloroplasten-DNA; ISSR: inter simple sequence repeats; mtDNA:
mitochondriale DNA; SNP: single nucleotide polymorphism; STR: short tandem repeats; VNTR: variable number tandem
repeats

1 2 3 4 5 6 .. Abb. 4.3 a–c  Schematische Darstellung der Allozym-


a muster bei Vorliegen von einem Polymorphismus in einem
A einzigen Genlocus. a Monomeres Protein mit zwei kodomi-
A* nanten Allelen; Spur 1: homozygoter Locus mit Allel A; Spur 3:
homozygoter Locus mit Allel A*, Spur 2: heterozygoter Locus
b A mit Allelen A und A*. b Wie a, aber drei kodominante Allele A,
A* A* und A**. c Ein Wildtyp-Allel A, ein Nullallel von A*, das aber
A** nicht sichtbar ist, weil das Gen nicht exprimiert wird.
c A
A*

Punktmutationen, z. B. Substitution einer neu­ der elektrischen Ladung eines Proteins führen, wer-
tralen Aminosäure durch eine basische oder saure den mit dieser Methode nicht alle Mutanten (sog.
Aminosäure, in einem der Allele vorkommen, kann kryptische Varianten) erfasst. In . Abb. 4.3 sind
man dies durch elektrophoretische Trennung nach- verschiedene Ausprägungen von Polymorphismus
weisen. Da nicht alle Mutationen zur Veränderung in einem Genlocus schematisch dargestellt. Treten
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 311

mehr als drei Allele in einer Population auf, werden


die Expressionsmuster entsprechend komplexer.
.. Tab. 4.3  Charakterisierung der bei der Allozymanaly-
se verwendeten Markerproteine
1
Bei der Wahl der Markerproteine werden in
der Regel Enzyme gewählt, deren Aktivität man Protein Heterozy-
gotie
Funktions-
typ 2
durch chromogene Substrate nachweist, deren Pro-
dukte farblich erkannt werden können. . Tab. 4.3 Adenylatkinase 0,136 R
gibt eine Übersicht über häufig verwendete Mar- (ADKIN) 3
kerproteine. Alkoholdehydroge- 0,140 R
Der Polymorphismus (in . Tab. 4.3 durch die nase (ADH) 4
Spalte „Heterozygotie“ gekennzeichnet) variiert Aspartat-Transami- 0,057 N
zwischen Proteinen, aber auch zwischen Organis-
mengruppen. Außerdem nimmt die Wahrschein-
nase (GOT)
5
Esterase (EST) 0,277 U
lichkeit, dass Punktmutationen auftreten, mit der
Proteingröße zu. Bei Wirbeltieren sind ca. 25 % der Glucose-6-Phosphat-
Dehydrogenase
0,121 N 6
Loci polymorph mit einer mittleren Heterozygotie (G6PDH)
H von 0,06, bei vielen Wirbellosen hingegen 47 %
Glycerophosphat- 0,039 N
7
der Loci (H = 0,134). Je kleiner die Tiere sind, desto
Dehydrogenase
größer ist im Allgemeinen der Heterozygotiegrad.
Bei Arten mit Selbstbefruchtung oder Parthenoge-
(GPDH)
8
Hexokinase (HK) 0,087 R
nese ist H = 0. D.h. sexuelle Reproduktion erhöht
die genetische Variabilität, während diese bei Par- Isocitratdehydroge- 0,082 N 9
thenogenese sehr niedrig liegt. Die Heterozygotie nase (IDH)
nimmt mit der Größe einer Population und ihrem
Alter zu. Junge und von wenigen Individuen ge-
Malatdehydrogenase
(MDH)
0,064 N
10
gründete Populationen zeigen verminderten Po- Malatenzym (ME) 0,131 R
lymorphismus (Gründereffekt, Founder-Effekt),
Peptidasen (PEP, LAP) 0,192 U
11
ebenso Populationen, deren Größe reduziert wurde
und dann wieder anstieg. Man spricht von Bottle- Phosphoglucomu-
tase (PGM)
0,170 R
12
neck- oder Flaschenhalseffekten. Meist dauert
es über 1000 Generationen, bis die Heterozygo- Phosphoglucose- 0,138 R
tie in solchen Populationen wieder den mittleren Isomerase (PGI) 13
Wert großer Populationen erreicht. Gründer- und Saure 0,224 U
Bottle­neck-Effekte sind für eine Reihe von Tier- und Phosphatase(ACPH) 14
Pflanzengruppen beschrieben, u. a. für die Nördli- Superoxiddismutase 0,080 U
chen See-Elefanten (Mirounga angustirostris), für
die Mücke Aedes aegypti, für in Europa eingebür-
(SOD)
15
Triosephosphat- 0,054 N
gerte Waschbären (Procyon lotor) oder südafrikani- Isomerase (TIM)
sche Palmfarne der Gattung Encephalartos.
Xanthin-Dehydroge- 0,208 R
16
Aus den Allozymdaten lassen sich auch evolu- nase (XDH)
tionäre oder genetische Distanzen zwischen zwei 17
Populationen oder Taxa abschätzen. Am häufigsten U: relativ unspezifische Enzyme; R: spezifische regula-
wird die standard genetic distance nach Nei ver- torische Enzyme; N: spezifische nicht-regulatorische

wendet. D entspricht der mittleren Anzahl erkenn-


Enzyme 18
barer Codondifferenzen pro Locus zwischen zwei
Organismengruppen X und Y, abzüglich der mitt- 19
leren Codondifferenzen innerhalb dieser Gruppen.
D wird als der negative natürliche Logarithmus der
normierten Genidentität I ausgedrückt:
20
312 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

lösung und verbesserte Reproduzierbarkeit aufwei-


( )
1/2
D = log e I , wobei I = J xy : J x J y . sen.

∑∑ x , J = (1 : r ) ∑∑ y
J x = (1 : r ) 2
ij y
2
ij
Da mitochondriale DNA bei Tieren eine hohe
Variabilität zeigt, setzte man in den 1970er Jahren
und J xy = (1 : r ) ∑∑ x y ; 2 2
ij ij Restriktionsenzyme (. Abb. 4.1) ein, um mtDNA in
definierte Größenfragmente zu schneiden, die man
r ist die Zahl der verglichenen Loci, xij und yij elektrophoretisch trennen kann. Nach Gelelektro-
die Frequenz des Allels i am Locus j in den Gruppen phorese erhält man komplexe Bandenmuster. Durch
X und Y. Jx ist demnach die über alle Loci gemit- die RFLP-Analyse (restriction fragment length po-
telte Wahrscheinlichkeit, dass zwei beliebig aus der lymorphism) wird bereits eine Auflösung erreicht,
Gruppe X herausgegriffene Gene identisch sind; Jy die Unterschiede zwischen Arten, manchmal auch
gilt entsprechend für Gruppe Y; Jxy für den Vergleich zwischen Populationen sichtbar macht.
eines Gens aus X mit einem aus Y. I kann den Wert Aus den Restriktionsmustern lässt sich der An-
zwischen 0 und 1 annehmen; I ist gleich 1, wenn in teil identischer Banden für zwei mtDNAs x und y
X und Y an allen Loci identische Allele in gleicher leicht berechnen:
Frequenz vorliegen; I ist gleich 0, wenn dies an kei-
nem Locus der Fall ist. S = 2nxy: (nx + ny),
Da die Allozymanalyse synonyme Mutationen
in Protein-codierenden Genen und Veränderun- wobei nx, ny und nxy die Zahl der Banden in x, y
gen in nicht-codierenden DNA-Abschnitten nicht oder der gemeinsamen Banden zwischen x und y
erfassen kann, wird sie inzwischen meist durch darstellt. Bei nahe verwandten Organismen liegt S
DNA-Analysen mit höherer Auflösung ersetzt bei 1,0.
(. Tab. 4.2). Werden Restriktionsstellen durch Punktmuta-
tion verändert, so fallen u. a. bekannte Banden weg
Analyse der DNA-Variabilität und/oder neue Restriktionsschnittstellen entstehen.
Die Genome von Individuen, Mitgliedern einer Da man mit Restriktionsenzymen nicht alle Punkt-
Familie oder einer Population unterscheiden sich mutationen erfassen kann, wird die RFLP-Analyse
durch eine Vielzahl von Mutationen, beispielsweise von Organell-DNA, die besonders in den Jahren
synonyme Nucleotidsubstitutionen, vor allem aber zwischen 1970 und 1990 eingesetzt wurde, heute
durch Längenpolymorphismus im Bereich der zunehmend durch Methoden mit höherer Auflö-
repetitiven DNA (s. Abschn. 3.4.3), insbesondere sung, wie z. B. DNA-Sequenzierung oder DNA-
der Mini- und Mikrosatelliten. Man hat geschätzt, Fingerprinting sowie Mikrosatelliten-Analysen der
dass sich zwei beliebige Menschen bereits durch ca. Kern-DNA ersetzt.
5 Mio. Nucleotidunterschiede (in einem diploiden
Genom von 6,6 × 109 Nucleotiden) unterscheiden DNA-Fingerprinting
können (d. h. die Sequenzunterschiede liegen un- (genetischer Fingerabdruck)
ter < 0,1 %). Gameten eines einzelnen Menschen Um 1985 entwickelte Jeffreys das Multilocus-DNA-
differieren untereinander im Mittel schon durch Fingerprinting, das zeitweise in vielen Labors für
20 Nucleotidsubstitutionen. Diese Variabilität Vaterschaftsuntersuchungen oder für forensische
wird genutzt, um Individuen zu erkennen, Vater- Fragestellungen eingesetzt wurde. In diesem Verfah-
schaft, Populationsstrukturen (Heterozygotiegrad; ren wird die Gesamt-DNA eines Individuums mit
Hardy-Weinberg-Gleichgewicht) oder Genfluss einer spezifischen Restriktionsendonuclease, z. B.
zu bestimmen (s. Abschn. 3.5). Bei der Größe und Hinf I, Hae III (. Abb. 4.1), in unterschiedlich große,
Komplexität des Genoms ist es sehr aufwendig, aber definierte Restriktionsfragmente zerschnitten,
diese Unterschiede gezielt nachzuweisen. In den die über Gelelektrophorese ihrer Größe nach aufge-
letzten Jahrzehnten sind verschiedene Methoden trennt werden (. Abb. 4.4). Anschließend wird die
entwickelt worden (neue Verfahren werden nahezu aufgetrennte DNA auf eine Nylon- oder Nitrocellu-
jährlich eingeführt), die zunehmend größere Auf- losefolie übertragen (im sog. Southern-Blot). Erst
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 313

.. Abb. 4.4 a, b Schematischer
Verlauf des DNA-Fingerprintings mit
Oligonucleotid-Sonden und immunolo-
1
gischer Detektion. Nach den jeweiligen
Hybridisierungs- und Antikörperre- 2
aktionsschritten wird die Nylonfolie
intensiv mit Puffer gewaschen, um
unspezifisch gebundene Oligonucleoti- 3
de oder Antikörper zu entfernen. Nach
der Enzymreaktion (meist alkalische
Phosphatase oder Peroxidase) erschei- 4
nen die DNA-Fragmente, an denen
die Sonde gebunden hat, als gefärbte
Banden. Zur sicheren Vaterschafts- 5
oder Individualbestimmung wird die
Analyse mit mehreren Restriktionsen-
zymen, die jeweils unterschiedliche 6
Erkennungssequenzen aufweisen,
wiederholt. Schematische Darstellung
a der wichtigsten Reaktionsschritte und
7
b des Nachweisverfahrens. X-Phosphat
= 5-Brom-4-chlor-1H-indol-3-yl) dihyd-
rogenphosphat; BCIP; NBT = Nitroblau-
8
tetrazolium
9
10
11
12
13
nach Hybridisierung mit einer DNA-Sonde, welche bei dem das Herzglycosid Digoxigenin an die
Mini- oder Mikrosatelliten selektiv erkennt und Sonde gekoppelt ist. Die gebundenen Sondenmo- 14
daran bindet, lassen sich in der großen Mannigfal- leküle werden über einen Digoxigenin-spezifischen
tigkeit der RFLP-Fragmente definierte Banden er- Antikörper detektiert, der seinerseits mit einem
kennen. Die DNA-Sonde kann entweder aus kurzen Enzym gekoppelt ist. Durch Zugabe eines chromo-
15
Oligonucleotiden wie (GGAT)4 oder (CAC)6 oder genen Substrats bildet sich an DNA-Fragmenten,
aus komplexen Minisatellitensequenzen bestehen. an denen eine Sonde gebunden hat, eine blaue oder 16
Das Prinzip der spezifischen DNA-Hybridisierung braune Farbe aus. Das Ergebnis der Autoradiogra-
ist in . Abb. 4.5 schematisch dargestellt; nur wenn phie oder der immunologischen Detektion ist ein 17
sich ausreichend viele komplementäre Basenpaare spezifisches Bandenmuster, das als Fingerprint
ausbilden können, kommt eine stringente und spe- oder genetischer Fingerabdruck bezeichnet wird.
zifische Hybridisierung zustande. Die Gleichsetzung mit dem Fingerabdruck ist be- 18
Wurde die Sonde radioaktiv markiert (z. B. mit rechtigt, da auch das DNA-Bandenmuster für jedes
33
P-ATP oder 32P-ATP), kann man die DNA-Frag- Individuum spezifisch und in der Regel nicht bei 19
mente, an denen eine Sonde gebunden hat, durch zwei Individuen einer Art identisch ist. Das DNA-
Autoradiographie nachweisen. In . Abb. 4.4b ist Fingerprinting mit Mini- und Mikrosatellitenson-
ein nicht-radioaktives Detektionssystem gezeigt, den wird manchmal auch als VNTR (variable number
20
314 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

1 TTAGCTTATGCAGTAAGTTTCCCGGGGGGGGGGGGAA
DNA-Sonde

2 GGCTTAATTAATTAGCGCATGATGATGAATTTTCGGG + GAATTAATTAATCGCG

3 AACCGTGGATCGATGGGCCCTTAATGGCCCGGGTT

Hybridisierung unter
stringenten Bedingungen
(z. B. 52 °C)

1 TTAGCTTATGCAGTAAGTTTCCCGGGGGGGGGGGGAA

2 GGCTTAATTAATTAGCGCATGATGATGAATTTTCGGG
GAATTAATTAATCGCG

3 AACCGTGGATCGATGGGCCCTTAATGGCCCGGGTT

.. Abb. 4.5  Schematische Darstellung der DNA-Hybridisierung mit DNA-Sonden. Unter stringenten Hybridisierungsbedin-
gungen bindet die Oligonucleotidsonde ausschließlich an Gen 2, da es auf eine perfekte Basenpaarung der komplementären
Basen ankommt. Erfolgt die Hybridisierung unter weniger stringenten Bedingungen, dann kann eine Sonde auch unspezifisch
an andere DNA-Abschnitte binden

of tandem repeat)- oder RFLP(restriction fragment dargestellt, damit man einen Eindruck erhält, wie
length polymorphism)-Analyse bezeichnet. solche Multilocus-DNA-Fingerprints aussehen.
In . Abb. 4.6a ist der DNA-Fingerprint einer Fa- Beim DNA-Fingerprinting unterscheidet man
milie mit drei Kindern schematisch dargestellt. Die zwischen Multilocus-Sonden, die komplexe Fin-
DNA-Banden von Vater und Mutter werden nach den gerprints vieler Loci produzieren, und Single lo-
Mendelschen Regeln codominant vererbt, d. h. 50 % cus-Sonden, mit denen man die beiden Allele eines
der Banden eines Kindes stammen vom Vater und Genlocus sichtbar machen kann. Die Auswertung
50 % von der Mutter. Bei den Kindern 1 und 2 kann von Single locus-Fingerprints ist meist einfacher, da
man auf diese Weise alle Banden eindeutig zuordnen. die Muster direkt zu interpretieren sind. In vielen
Bei Kind 3 ist die Mutter eindeutig erkennbar, jedoch Fällen benötigt man jedoch ein Set von Single locus-
der BSC (band-sharing coefficient) von 0,1 zeigt, dass Sonden (die meist artspezifisch sind), um eine ein-
der Vater nicht stimmt. D.h. Kind 3 wurde von ei- deutige Entscheidung zu treffen. Multilocus-Sonden
nem anderen Vater gezeugt. Die Berechnung des BSC sind dagegen nicht artspezifisch und haben deshalb
wird in . Abb. 4.6a erläutert. BSC-Werte unter 0,2 einen breiteren Anwendungsbereich, jedoch sind
deuten auf nicht-verwandte Individuen, BSC-Werte die Fingerprintmuster schwieriger zu interpretieren.
über 0,5 in der Regel auf Vollgeschwister und Vater-
bzw. Mutter-Kind-Verwandtschaftsverhältnisse hin. PCR-Methoden
In . Abb. 4.6b, c sind Original-Fingerprints von Seg- Ausgehend von Polymerase-Kettenreaktion (PCR)
genrohrsängern und Gelbschnabel-Sturmtauchern (. Abb. 4.2) sind inzwischen weitere Methoden ent-
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 315

.. Abb. 4.6 a–c  Beispiel für eine Paternitätsanalyse mittels


DNA-Fingerprinting. a Die Ähnlichkeit der Bandenmuster wird
über den Bandsharing-Index (band sharing coefficient, BSC)
1
ermittelt. Die Banden von Kind 1 und 2 lassen sich zu je 50 %
dem Vater (V) oder der Mutter (M) zuordnen. Bei Kind 3 liegt 2
eine klare Übereinstimmung mit der Mutter, nicht jedoch mit
dem vermeintlichen Vater vor. Demnach wurde Kind 3 von
einem anderen Vater gezeugt. Über den Band-Sharing-Index 3
(BSC) lässt sich der Verwandtschaftsgrad ermitteln. b Illustra-
tion eines Original-Fingerprints einer Seggenrohrsängerbrut
(Acrocephalus paludicola), an der mehrere Väter beteiligt sind. 4
Die Hälfte der Jungvogelbanden lassen sich der entsprechen-
den Mutter (F) zuordnen, die Banden 1, 2 und 4 stammen
von einem unbekannten Männchen a, Banden von Nr. 3 und 5
5 vermutlich von einem zweiten Männchen b. Eine hohe Po-
lygamierate ist für Seggenrohrsänger typisch (nach M. Wink
und Mitarbeiter). c Original-Fingerprint einer Gelbschnabels- 6
Sturmtaucher-Familie (Calonectris diomedea) mit Jungvögeln
aus zwei aufeinanderfolgenden Jahren. Die DNA-Banden der
Jungvögel lassen sich entweder denen des Männchens (M)
7
oder denen des Weibchens (F) zuordnen, so dass die gene-
tische Elternschaft hier durch DNA-Fingerprinting eindeutig
belegt werden kann. Obwohl Gelbschnabel-Sturmtaucher in
8
engen Kolonien brüten, war in keinem Falle extra-pair young
(EPY) nachzuweisen (nach M. Wink und Mitarbeiter) 9
10
11
12
13
wickelt worden, die eine individuelle Identifizierung entsprechen (. Abb. 4.7a). Durch Einsatz mehre- 14
erlauben. Die anfangs der 1990er Jahre entwickelte rer polymorpher Mikrosatelliten-Loci mit mehr als
RAPD-Analyse (randomly amplified polymorphic 20 Allelen in der Population kann man Vaterschafts-
DNA) mit Zufallsprimern von 10 Nucleotiden- bestimmungen auch in komplexen Sozialsystemen
15
Länge hat sich nur bedingt bewährt, da die Repro- vornehmen oder die Populationsstruktur und den
duzierbarkeit zu gering ist. Genfluss bestimmen. Um eine individuelle Zuord- 16
Mehr und mehr setzt sich anstelle der RAPD- nung zweifelsfrei durchzuführen, sollten 10 und
PCR die Mikrosatelliten-Analyse oder STR-Analyse mehr Loci analysiert werden. Um den Arbeitsauf- 17
(short tandem repeats) durch, bei der PCR-Primer wand einer solchen Analyse zu senken, kann man
von ca. 20 Nucleotiden-Länge verwendet werden, eine Multiplex-PCR durchführen, in der mehrere
die polymorphe Mikrosatelliten-Loci flankieren Loci gleichzeitig amplifiziert werden (. Abb. 4.7b). 18
(. Abb. 4.7). Während man beim DNA-Fingerprint Die An- oder Abwesenheit von Allelen kann man
komplexe Bandenmuster erzeugt, erhält man bei in einer 0/1-Matrix darstellen, die sich mit Cluster- 19
der Mikrosatelliten-Analyse nur jeweils zwei Ban- Programmen und anderen Programmen der Po-
den pro Locus (bei diploiden Zellen), die jeweils pulationsgenetik (Structure, GenePop) analysieren
einem väterlichen und einem mütterlichen Allel lässt. Der Vorteil der Mikrosatelliten-Analyse ist
20
316 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 317

ihre Empfindlichkeit (sie benötigt nur Nanogramm- Vor mehr als 15 Jahren wurde das Methodenre-
Mengen an DNA), ihr Nachteil, dass man für die pertoire durch die AFLP-Analyse (amplified frag- 1
meisten Arten eigene spezifische PCR-Primer ent- ment length polymorphisms) erweitert, welche die
wickeln muss. Next Generation Sequencing über Selektivität der RFLP mit der Empfindlichkeit der 2
Pyrosequenzierung bietet ein schnelles Verfahren PCR kombiniert (. Abb. 4.9a,b). Durch hochauf-
zur Identifizierung von Mikrosatellitenprimern in lösende Gelelektrophorese oder Kapillarelektropho-
einem einzigen Sequenzierlauf. Liegt die entspre- rese in einem DNA-Sequenziergerät werden noch 3
chende Primerinformation vor, so stellt die Mikro- komplexere Bandenmuster (Fingerprints) als bei
satelliten-Analyse eine sehr effektive Methode dar, der ISSR-Analyse erzeugt, die Aufschluss über Vari- 4
Individuen zu identifizieren, Vaterschaften aufzu- abilität zwischen Individuen, Populationen oder Ar-
klären, Familienstammbäume zu erstellen, Populati- ten geben. Die AFLP-Profile sind sehr komplex, und
onsstrukturen zu erkennen oder Genfluss zwischen es kann Schwierigkeiten bereiten, ein eindeutiges
5
Populationen zu bestimmen. band-scoring vorzunehmen, d. h. identische Banden
In einem Spezialfall der Mikrosatelliten-Ana- zu bestimmen. Diese Methode wird bereits vielfach 6
lyse werden PCR-Primer benutzt, die direkt zu in der Kartierung von Pflanzengenen (mapping),
den Sequenzen von Mikrosatelliten komplemen- aber auch für Vaterschaftsanalysen eingesetzt, da sie 7
tär sind. Liegen zwei Mikrosatelliten in Nachbar- universell einsetzbar ist und nicht auf das Vorhan-
schaft (Abstand bis 3000 Bp.), von denen einer densein von spezifischen PCR-Primern (wie bei der
durch Inversion seine Orientierung geändert hat, STR-Analyse) angewiesen ist. Man kann die Varia- 8
erhält man PCR-Produkte (. Abb. 4.8a,b), die oft bilität der AFLP-Profile noch weiter erhöhen, indem
Polymorphismen zwischen Taxa klar erkennen las- man wie bei der ISSR-Analyse mit einem ISSR-Pri- 9
sen. Diese Methode wird als ISSR-Analyse (inter mer arbeitet, z. B. MFLP (microsatellite-anchored
simple sequence repeats) bezeichnet. Ebenso wie fragment length polymorphism).
die RAPD-PCR wird bei der ISSR-Methode nur Da sich auch nah verwandte Individuen durch
10
ein einziger Primer eingesetzt. Da dieser Primer einzelne Basenmutationen unterscheiden (bis zu
jedoch meist 20 Nucleotide lang ist, erreicht die 5 Mio. beim Menschen), kann man durch die Ana- 11
ISSR-Analyse die notwendige Selektivität und Re- lyse von SNP (single nucleotide polymorphisms)
produzierbarkeit. Diese Methode eignet sich zur ebenfalls wertvolle Informationen zu Fragen der 12
molekularen Geschlechtsbestimmung, zur Diffe- Populationsgenetik, Phylogeographie oder Sozio-
renzierung und Identifizierung von Populationen biologie gewinnen. Voraussetzung ist jedoch, dass
und Arten sowie zur Hybridanalyse (. Abb. 4.8b). ausreichend viele SNP-Marker untersucht werden 13
Im Unterschied zur Mikrosatelliten-Analyse liegt (mehr als 30). Die Daten können über eine 0/1
der Vorteil der ISSR-Methode darin, dass die Pri- Matrix mit Phylogenie- und Clusterprogrammen 14
mer universell einsetzbar sind und nicht erst für ausgewertet werden. Die SNP-Daten haben eine
jede Organismenart speziell entworfen werden ähnliche gute Auflösungskraft wie STR-Marker.
müssen. Ihre Interpretation ist jedoch meist einfacher und
15
16
.. Abb. 4.7 a, b  a Prinzip der Vaterschaftsbestimmung mittels Mikrosatelliten-Analyse (schematische Darstellung). Bei der
Mikrosatelliten-Analyse werden PCR-Primer eingesetzt, die spezifische Mikrosatelliten-Loci flankieren. Die Länge der erhaltenen
PCR-Produkte hängt von der Länge, d. h. der Gesamtzahl der wiederholten Mikrosatelliten-Elemente (repeats) ab. In diesem Bei- 17
spiel wurde ein Mikrosatelliten-Locus gewählt, der sehr polymorph ist, d. h. bei dem Vater (V) der Beispielfamilie liegen andere
Allele vor als bei der Mutter (M). Die Mikrosatellitenbanden der vier Kinder sollten jeweils zwei der vier möglichen Elternallele
aufweisen. Bei Kind 1, 2 und 4 ist dies der Fall, d. h. Vater und Mutter sind nicht nur die sozialen, sondern auch die genetischen
18
Eltern. Bei Kind 3 finden wir Allel 1, das dem der Mutter entspricht. Das zweite vorhandene Allel entspricht nicht den väterlichen
Allelen; demnach sollte es von einem fremden Vater stammen; wir sprechen davon, dass es sich um ein EPY (extra-pair young)
handelt. b Original einer Multiplex-Mikrosatellitenanalyse. In den Bahnen 1 bis 3 sind jeweils die Allelpeaks von zwei bis vier Loci
19
aufgetrennt. Die Länge der Allele ist über den Größenstandard in Bahn 4 abzulesen. Die Allelfragmente kann man durch vier
unterschiedliche Fluoreszenzfarbstoffe markieren. Dadurch kann man in einem einzigen Lauf in einem DNA-Sequenzierer bis zu
zehn Loci gleichzeitig analysieren
20
318 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.8 a, b  Schematische Darstellung von ISSR-PCR. a Bei der ISSR-PCR (inter simple sequence repeats) wählt man i. d. R.
einen einzigen PCR-Primer, der mit Mikrosatelliten-repeats identisch ist, z. B. (GT)10. Diese Primer werden immer dann ein ein-
deutiges PCR-Produkt liefern, wenn in einem gewissen Abstand ein zweiter, aber in der Orientierung umgedrehter (invertierter)
GT-repeat-Bereich auftritt. b Schematisches Vorgehen bei der ISSR-Analyse. Die An- oder Abwesenheit von DNA-Banden kann
man in einer 0/1-Matrix darstellen, die sich mit Cluster-Programmen analysieren lässt
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 319

.. Abb. 4.9 a, b  Schematische Darstel-


a
lung der AFLP-Analyse. a Schematisches
Vorgehen bei der AFLP-Analyse. Die An-
Federn, Haare Blut Gewebe, Rachenabstrich 1
DNA Puffer Ethanol
oder Abwesenheit von DNA-Banden
kann man in einer 0/1-Matrix darstellen, Isolierung der Gesamt-DNA 2
die sich mit Cluster-Programmen analy-
sieren lässt. b Prinzip der AFLP-Analyse Restriktionsverdau mit MseI and PstI

3
Ligation mit MseI and PstI Adaptoren

1a 1b
Amplifikation mittels PCR und spezifischen Primern für MseI und PstI Adaptoren
4
Hochauflösende PAGE oder Kapillar-Elektrophorese (DNA-Sequencer) 5
Indiv. A1 A2 A3 A4 A5 A6 A7 A8 A9 B1 B2 B3 B4 6
1a 1 0 1 1 1 1 1 0 1 0 1 0 1
1b 0 1 1 1 1 1 1 1 0 1 0 1 0
7
b
8
9
10
11
12
13
14
eindeutiger. SNP-Markersysteme müssen für jede evolutionären Entwicklung (Stammesgeschichte
Art individuell aufgebaut werden; deshalb sind sie oder Phylogenie) dadurch zurückverfolgen, dass
15
zurzeit nur für wenige Organismen (Mensch, Rind) man das Auftreten und die Weitergabe von Punkt-
einsetzbar. Da SNP-Analysen jedoch leicht automa- mutationen analysiert. Dieser Vorgang soll an ei- 16
tisierbar sind (DNA-Chips, Massenspektrometrie), nem einfachen Beispiel, wie es in der Evolution von
werden sie zukünftig von Bedeutung sein, wenn Tieren und Pflanzen vielfach aufgetreten ist, sche- 17
große Individuenzahlen genetisch zu analysieren matisch erläutert werden (. Abb. 4.10).
sind. Aus einer Stammpopulation von Pflanzen oder
Tieren werden einige Individuen abgetrennt und 18
Analyse der Nucleotidsequenzen z. B. auf eine Insel verdriftet. Sie können sich dort
von Markergenen etablieren und fortpflanzen (s. Abschn. 3.5.5 und 19
Da Keimbahnmutationen bei Eukaryoten über die 3.5.6). In der Ausgangs- und der Inselpopulation
Gameten an nachfolgende Generationen weiterge- treten im Verlauf der nachfolgenden Generationen
geben werden, kann man theoretisch den Weg der unabhängig voneinander zufällige Mutationen (vor
20
320 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

Geographische Ausgangssequenz
Trennung AAA CCC GGG TTT

AAA CCC GGG TTT AAA CCC GGG TTT


Zeit

1000de

ATG TCG GGC ATT Generationen


GAT CCC GGA TTT

ATG TGG GGC ATG ATG TAG GGC ATT

Taxon 1 Taxon 2 Taxon 5 Taxon 3 Taxon 4


ATG TGG GGC ATG ATG TAG GGC ATT ATG TAG GGC ATC GAT CCC GGA TTC GAT CCT GGA TTC
Taxon 1
Taxon 1
Taxon 2
Taxon 2
Taxon 5
Taxon 5
Phylogramm Kladogramm Taxon 4
Taxon 4
Taxon 3
Taxon 3
Ausgangstaxon Ausgangstaxon

.. Abb. 4.10  Evolution auf der Ebene von Nucleotidsequenzen. Ausgehend von einer Stammart nehmen wir mehrere
Trennungen der Entwicklungslinien an, z. B. durch Verdriften auf Inseln. Die isolierten Populationen sollen in keinem Genfluss
mit der Ausgangspopulation stehen und deshalb eine unabhängige Evolution durchlaufen. Substituierte Nucleotide sind blau
hervorgehoben. Gehen wir von den bekannten Sequenzen der fünf Taxa aus, die wir heute vorfinden, so kann man die Phyloge-
nie mit den Phylogenieprogrammen rekonstruieren. Das Ergebnis ist als Phylogramm und Kladogramm dargestellt. In einem
Phylogramm entsprechen die Astlängen den genetischen Distanzen

allem Nucleotidsubstitutionen) auf. Diese Mutati- Stammesgeschichte rekonstruieren (EXKURS 4.1),


onen werden, sofern sie nicht die Merkmalsträger der zu den heutigen Formen führte, ohne dass man
schwächen, an nachfolgende Generationen wei- die Zwischenstufen jemals gesehen hat. Diese Logik
tergegeben. Die Mutationen, die wir bei den heute wendet die molekulare Phylogenieforschung heute
lebenden Organismen sehen, betreffen insbeson- an, um die Phylogenie oder Phylogeographie von
dere nicht-codierende DNA-Abschnitte und die Organismen (s. Abschn. 4.2) zu rekonstruieren.
dritte Codonposition Protein-codierender Gene, Aber nicht nur Nucleotid- und Aminosäuresub-
da diese Mutationen sich in der Regel nicht auf stitutionen eignen sich zur Phylogenieforschung.
die Aminosäuresequenz und damit die Funktion Änderungen in der Topologie der Genome oder
eines Proteins auswirken (. Tab. 3.9; . Abb. 3.7). größere Genom-rearrangements (s. Abschn. 3.3 und
Wenn man die Nucleotidsequenzen homologer 3.4) stellen ebenfalls wichtige Merkmale dar, die,
Gene (oder die Aminosäuresequenzen der aus den wenn sie einmal aufgetreten sind, an nachfolgende
DNA-Sequenzen abgeleiteten Proteine) bei den Generationen weitergegeben werden. In . Abb. 3.17
heute lebenden Organismen sequenziert, so kann sieht man z. B., dass bei allen Vögeln ein Teil der
man über entsprechende computergestützte Phy- mtDNA neu angeordnet wurde, indem das ND6-
logenieprogramme den mutmaßlichen Verlauf der Gen zwischen Cytochrom b und der Kontrollregion
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 321

inseriert wurde. Diese Umlagerung trat offenbar bei Phylogenie, Phylogeographie und für die moleku-
den Vorfahren der Vögel auf und findet sich heute lare Systematik durch folgende Eigenschaften be- 1

-
als synapomorphes Merkmal bei allen lebenden sonders gut geeignet:
Vögeln. Sequenzdaten sind eindeutige und diskrete 2
Aussagen der molekularen Phylogenie sind Merkmale (im Unterschied zu Protein- oder
Teil der Evolutionsgeschichte und bleiben streng DNA-Banden, unter denen sich mehrere Mole-

-
genommen Hypothesen (s. Abschn. 1.1), die wir küle verstecken können). 3
experimentell nur selten beweisen können. Diese Sie sind quantifizierbar und statistischen Tests

- 4
Einschränkung gilt natürlich auch für die molekula- zugänglich.
ren Ergebnisse. So wie der Archäologe aus Mustern Sie lassen sich einem bestimmten Genlocus

-
auf gefundenen Scherben Rückschlüsse auf die Ge- zuordnen (Homologiekriterium).
schichte ziehen kann, ist es für den Evolutionsbio- Man kann sie erkennen, auch wenn sie nicht
5
logen möglich, aus den DNA-Ergebnissen evolutio- mutiert sind (im Unterschied zu den Metho-

-
näre Ereignisse und Beziehungen zu rekonstruieren. den der klassischen Populationsgenetik). 6
Je umfangreicher die untersuchten Sequenzen und Sie sind unabhängig von inneren und äuße-
je vollständiger die Datensätze sind, desto größer ren Bedingungen und auch in Heterozygoten 7
-
wird die Wahrscheinlichkeit, über solche Analysen bestimmbar.
die realen Evolutionsereignisse erkennen zu kön- Sie weisen einen hohen Informationsgehalt auf
nen. (jede Aminosäuren- oder Nucleotidposition in 8
Es gibt einige experimentelle Befunde, welche einem Protein oder Gen wird zunächst als un-
die Validität molekularer Daten belegen. Fitch und abhängiges Einzelmerkmal angesehen, obwohl 9
Atchley (1985) untersuchten Allozymvariationen die Nachbarschaft einen Einfluss haben kann).
in einer Linie von Labormäusen, die seit 70 Jahren Bereits 1000 und mehr Merkmale können
kontrolliert gezüchtet wird und von der man die durch die Sequenzierung eines einzelnen Mar-
10

-
Phylogenie der letzten 70 Jahre genau kennt. Die kergens bereitgestellt werden.
molekularen Daten konnten die bekannte zugrunde Man kann sie über weite systematische Berei- 11
liegende Phylogenie exakt rekonstruieren, während che vergleichend analysieren, da homologe
streng kladistisch (die Kladistik wird als eine wich- Gene unmittelbar für eine Analyse zugänglich 12
-
tige Methode der Systematik angesehen; s. EXKURS sind.
4.5, Abschn. 4.2.1) ausgewertete morphologische Konvergenzen, welche die Interpretation mor-
Daten zu gänzlich anderen Ergebnissen kamen. Ein phologischer Merkmale oft erschweren, spielen 13
weiteres aktuelles Beispiel stammt aus der AIDS- bei DNA-Sequenzen eine deutlich geringere
Forschung; auch hier konnte man über die Nucleo- Rolle. Eine Konvergenz längerer Sequenzbe- 14
tidsequenzen von HIV die bekannte Evolution der reiche oder Genomanordnungen ist extrem
verschiedenen Virusstämme eindeutig rekonstru- unwahrscheinlich.
ieren und den Ursprung von HIV-1 in Schimpan-
15
sen in Kamerun wahrscheinlich machen, während Die Sequenzen von Markergenen lassen sich für
HIV-2 vermutlich von Mangaben (Cercocebus atys) eine Reihe von wichtigen biologischen und evolu- 16
aus Westafrika stammt. tionären Fragestellungen nutzen. Während man in
In den nachfolgenden Abschnitten werden ei- den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im 17
nige der Grundannahmen sowie das methodische wesentlichen Markerproteine sequenziert hat, um
Vorgehen bei der Analyse von Nucleotidsequenz- molekulare Stammbäume zu erstellen, findet man
daten ausführlicher erläutert, da sie für das Ver- seit 1980, bedingt durch die Erfolge in der Klonie- 18
ständnis molekularer Phylogenie-Rekonstruktionen rung, Amplifizierung und Sequenzierung von DNA,
wichtig sind. einen Rückgang der direkten Proteinsequenzierung 19
Aminosäure- und vor allem aber Nucleotid- und eine starke Zunahme der DNA-Sequenzen, aus
sequenzen sind für die molekulare Evolutionsfor- denen leicht die zugehörigen Aminosäuresequen-
schung, insbesondere für die Rekonstruktion von zen abgeleitet werden können. Nucleotidsequen-
20
322 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

Von der Probe


Federn, Haare Blut Gewebe, Rachenabstrich
zur Sequenz

DNA-Puffer Ethanol

Isolierung der Gesamt-DNA

Amplifizierung von Markergenen durch die Polymerase Kettenreaktion (PCR) mit


sequenzspezifischen Primern

Cycle Sequencing PCR und Automatische DNA - Sequenzierung

DNA-Sequenz
Von der Sequenz zum Stammbaum

Taxon 1 ATG CAT GGG CTT TAA GGC CT


Taxon 2 ATG CAT GGT CTA GAA GGC CT
Alignment Taxon 3 ATG CAA GGT CTA GAA GGT CT
Taxon 4 ATG CAT GGT CTA TAA GGT CT
Taxon 5 ATG CAA GGG CTT TAA GGT CT

Programme
Phylogenie Rekonstruktion PAUP*, PHYLIP, MEGA, MrBayes, BEAST

Maximum Parsimony, MP Neighbour Joining, NJ Maximum Likelihood, ML Netzwerke

.. Abb. 4.11  Schematische Zusammenfassung der Arbeitsschritte, die zwischen Probeentnahme, Sequenzierung und Stamm-
baumrekonstruktion liegen

zen weisen eine Reihe von Vorteilen auf: Sie sind Mittelpunkt der Molekularen Systematik und Evo-
leicht zugänglich und erfassen zudem den großen lutionsforschung, die in nachfolgenden Abschnitten
Bereich der synonymen Substitutionen, die auf ausführlicher beschrieben wird.
Proteinebene nicht sichtbar sind. Deshalb steht die Wie man von einer Gewebeprobe zu einer Nu-
Untersuchung von Nucleotidsequenzen von Mar- cleotidsequenz eines Markergens kommt, ist in EX-
kergenen oder kompletten Genomen durch Next KURS 4.1 abgehandelt und in . Abb. 4.11 schema-
Generation Sequencing (s. Abschn. 3.2.7) heute im tisch skizziert.

  EXKURS 4.1  

Amplifizierung und Sequenzierung von Markergenen


Qualität der DNA sind, nämlich in Fossilien oder im Museumsmaterial
Eine wichtige Voraussetzung für molekulargene- ausgestorbener Organismen.
tische Untersuchungen ist das Vorhandensein in-
takter DNA, d. h. für eine Sequenzanalyse müssen DNA aus Fossilien
lange zusammenhängende Nucleotidsequenzen Die anfänglichen sensationellen Erfolgsmeldungen
vorliegen. Diese Bedingung wird leider oft nicht zwischen 1980–1995, man habe DNA aus Millio-
erfüllt, häufig gerade in den Fällen, die aus Sicht nen Jahre alten Fossilien isoliert und sequenziert,
der Evolutionsforschung besonders interessant haben sich in fast allen Fällen als falsch herausge-
7
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 323

 EXKURS 4.1 (Fortsetzung) 
stellt. Vermutlich wurde rezente DNA, welche die kompletten Gen zusammensetzt. Sind Basen in der 1
Präparate kontaminiert hatte, kloniert und sequen- alten DNA auf beiden DNA-Strängen ausgefallen
ziert. Pääbo (MPI für evolutionäre Anthropologie (z. B. durch gleichzeitige Depurinierung und Des- 2
in Leipzig) hat mit seinen Mitarbeitern überzeu- aminierung, . Abb. 3.23) kann die Taq-Polymerase
gend darlegen können, dass DNA innerhalb von
ca. 20.000 Jahren in der Regel weitgehend zerfällt.
in der PCR unter Umständen diese Lücken zufällig
auffüllen und so künstlich Variationen schaffen, wo
3
D.h. die Hoffnung, aus Knochen von Dinosauriern ursprünglich gar keine vorhanden waren. Bei der
intakte DNA zu isolieren oder vielleicht sogar zu ex- Sequenzierung der kompletten mtDNA des Mam- 4
primieren, wird sich demnach nicht erfüllen. muts wurde diese Methode erfolgreich eingesetzt.
Noch nicht abgeschlossen ist die Diskussion, Mithilfe dieser Arbeiten konnte 2006 bestätigt wer- 5
ob man aus Insekten, die in Bernstein eingeschlos- den, dass das Mammut eine Schwesterart des Asi-
sen wurden, intakte DNA gewinnen kann. Bei den atischen Elefanten ist. Auch die DNA von weiteren
wenigen positiven Befunden, die bislang publiziert ausgestorbenen Arten, wie Moas, Dronte oder Rie- 6
wurden, muss man beachten, dass Bernstein häu- senalk wurde erfolgreich sequenziert und konnte
fig manipuliert wird, da er mit Einschlüssen einen mit den Sequenzen ähnlicher, heute noch lebender 7
hohen Handelswert hat. Bei den Fälschungen wird Taxa verglichen werden.
Bernstein geöffnet und rezente Insekten werden
eingeschmolzen. Diese Fälschungen sind so gut, Aufbewahrung von Proben zur DNA-
8
dass nur Fachleute sie erkennen können. Es ist Untersuchung
nicht ausgeschlossen, dass solche Präparate bei
Für die meisten Forschungsprojekte im Bereich der 9
molekularen Systematik und Phylogenie wird man
den „erfolgreichen“ DNA-Analysen unwissentlich
DNA aus lebenden Organismen bevorzugen, um zu
verwendet wurden.
einem sicheren Ergebnis zu kommen (. Abb. 4.11). 10
Es ist jedoch möglich, aus mehrere Tausend
Für Tiere mit kernhaltigen Erythrocyten (unter den
Jahre alten Knochen kleine Bruchstücke von DNA
(meist unter 100 Bp Länge) zu isolieren und zu
Wirbeltieren Fische, Amphibien, Reptilien oder Vö- 11
gel) bietet sich Blut als die einfachste DNA-Quelle
sequenzieren. Als Methode der Wahl hat sich für
fossile DNA das Next Generation Sequencing (NSG)
an, zumal man die geringen Mengen an Blut, die
benötigt werden (1–2 Tropfen), meist leicht ent-
12
besonders bewährt (s. Abschn. 4.1.2). Aus den se-
nehmen kann, ohne dem Tier zu schaden. Aber
quenzierten Bruchstücken werden dann schritt-
weise komplette Gene rekonstruiert. Besonders
auch Federn und Haare, ja selbst Kot, enthalten 13
DNA (wenn auch geringe Mengen), die sich isolie-
eindrucksvolle Beispiele der letzten Jahre sind die
Analysen der mtDNA und ncDNA des Neanderta-
ren und über PCR amplifizieren lässt. Bei Fischen 14
entnimmt man auch Schuppen und Flossenstücke,
lers, des Denisova-Menschen oder der Steinzeitmu-
die DNA-haltig sind. Bei Säugetieren benötigt man
mie „Ötzi“ im Labor von Svante Pääbo ( Kap. 5). Die
etwas mehr Blut (ca. 0,1–1 ml), da nur die kern- 15
Arbeit mit alter DNA ist jedoch äußerst schwierig
haltigen Leukocyten DNA enthalten, oder man
und erfordert sehr viel Zeit und Vorsichtsmaßnah-
men gegen Kontaminationen.
entnimmt DNA-haltiges Gewebe, wie z. B. kleine 16
Hautstücke aus der Ohrmuschel. Als nicht-invasive
DNA aus altem Museumsmaterial Methode für die DNA-Gewinnung bieten sich bei
vielen Wirbeltieren Rachenabstriche an.
17
Leider ist die DNA auch in den meisten Museums-
bälgen und Knochen bereits so degradiert, dass Gewebestücke und Blut lassen sich selbst bei
man in der Regel keine längeren Abschnitte in- Raumtemperatur über viele Monate hinweg in ei- 18
takter DNA mehr gewinnen kann. Hier muss man nem EDTA-Puffer aufbewahren (10 % EDTA, 0,5 %
ähnlich vorgehen wie bei fossiler DNA: Es werden Natriumfluorid, 0,5 % Thymol, 1 % Tris-Puffer, pH 19
jeweils nur kleine DNA-Abschnitte von ca. 100 BP 7,0), was besonders für Felduntersuchungen wich-
tig ist. Auch eine Aufbewahrung in reinem Ethanol
Länge amplifiziert, die man anschließend zu einem
20
7
324 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

 EXKURS 4.1 (Fortsetzung) 

7
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 325

 EXKURS 4.1 (Fortsetzung) 
(Endkonzentration ca. 70 %) konserviert die DNA; dass es anschließend sequenziert werden kann 1
man muss jedoch sicherstellen, dass der Alkohol (. Abb. 4.12). Daran schließt sich eine zyklische
nicht verdunstet. Auch tiefgefrorenes Gewebe eig- Sequenzierung an: Ausgehend von PCR-Produkten 2
net sich meist für eine DNA-Untersuchung. Als Al- wird die Sequenzierung mit fluoreszenzmarkier-
ternative zur Aufbewahrung des Blutes in Pufferlö- ten Sequenzierprimern oder fluoreszenzmarkier-
sung bietet sich ein speziell behandeltes ten Nucleotiden und einer speziellen hitzestabi-
3
Filterpapier an (FTA-Cards von Whatman): Blut wird len DNA-Polymerase mittels PCR durchgeführt
auf das Filterpapier getropft und bei Raumtempe- (. Abb. 4.11). 4
ratur getrocknet. Blutproben können so längere Je nach Fragestellung werden die Markergene
Zeit aufbewahrt werden. Material, das in Formalde- aus ncDNA oder mtDNA (bei Tieren) oder ncDNA
5
hyd fixiert wurde (wie leider die meisten Museum- und cpDNA (bei Pflanzen) ausgewählt (. Abb. 4.13).
spräparate), ist völlig ungeeignet, da Formaldehyd Diese Gene haben nichts mit der Morphologie zu
die DNA irreversibel verändert. tun und unterliegen somit nicht den adaptiven Fak- 6
Pflanzenmaterial kann entweder durch Etha- toren, welche die äußere Gestalt der Organismen
nol oder aber durch schnelles Trocknen so kon- geprägt haben. Aufgrund dieser Auswahl sollen 7
serviert werden, dass intakte DNA isoliert wer- Konvergenzen, welche die traditionelle Systematik
den kann. Insbesondere Pflanzensamen eignen
sich gut für die DNA-Isolierung, so dass sich hier
erschweren, vermieden werden.
Sollen evolutionäre Ereignisse rekonstruiert
8
die Konservierungsfrage nicht unbedingt stellt. werden, die vor Hunderten von Millionen Jahren
Die in den Pflanzen enthaltenen Sekundärstoffe erfolgten, so eignen sich rDNA-Gene des Kerns 9
(s. Abschn. 4.3.3) müssen aus den DNA-Präparaten (. Abb. 3.9, . Abb. 3.17) am besten, da sie in al-
entfernt werden, da sie oft die nachfolgenden En- len Eukaryoten gleichermaßen zur Verfügung 10
zymreaktionen hemmen. Altes Herbarmaterial ist stehen und sehr konserviert, d. h. wenig variabel
häufig genauso unbrauchbar wie Balgmaterial in sind. Die entsprechenden rDNA-Gene (. Abb. 3.9,
Zoologischen Museen. . Abb. 3.17) der tierischen Mitochondrien sind 11
dagegen wesentlich variabler und sind gute Mar-
Amplifizierung und Sequenzierung von ker für Ereignisse zwischen 5 und 100 Mio. Jahren. 12
Markergenen Aber auch codierende Kerngene (sowohl Introns als
Ausgehend von der isolierten Gesamt-DNA (d. h.
Kern- und Organell-DNA) wird im nächsten Schritt
auch Exons) werden zunehmend eingesetzt, so z. B.
RAG1, EF-1α, atp6, rpb1 oder rpb2.
13
ein Markergen entweder kloniert oder heute meis-
tens mittels PCR in solcher Menge amplifiziert, 14
.. Abb. 4.12  Schematische Darstellung der DNA-Sequenzierung mittels Strangabbruchmethode. Bei dieser Methode 15
werden dem Reaktionsansatz Didesoxynucleotide (ddNTP) zugegeben, denen die 3‘-OH-Gruppe der Desoxyribose

16
fehlt. Wird ein ddNTP von der DNA-Polymerase in einen neuen Strang eingebaut, kommt es zu einem Strangabbruch,
da an dieses Nucleotid kein weiteres Nucleotid angehängt werden kann (es fehlt ja die 3‘-OH-Gruppe). In einer ersten
Reaktion muss die zu sequenzierende DNA in ausreichender Menge (d. h. in vielen Kopien) hergestellt werden (z. B.
durch Klonieren oder PCR). Dann wird diese DNA in vier Reaktionsgefäße gegeben, die alle DNA-Polymerase, einen
Sequenzierprimer und die vier dNTPs enthalten. Der Sequenzierprimer muss zum Template-Strang komplett komple- 17
mentär sein. Bei der radioaktiven Sequenzierung wird der Primer mit 32P-dATP, 33P-dATP oder 35S-dATP markiert. Bei
der automatischen Sequenzierung wird der Primer mit einem Fluoreszenzfarbstoff gekoppelt (alternativ werden die
dNTPs mit einem Farbstoff markiert). Zusätzlich gibt man in Reaktionsgefäß 1 eine kleine Menge an ddATP, in Gefäß
18
2 ddTTP, in Gefäß 3 ddCTP und in Gefäß 4 ddGTP. Die Mengen der dNTPs zu ddNTPs muss so eingestellt werden, dass
die statistische Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass die DNA-Polymerase an allen in Frage kommenden Positionen ein
entsprechendes ddNTP einbauen kann. Dadurch wird eine Leiter von DNA-Fragmenten synthetisiert, die sich um jeweils
19
ein Nucleotid unterscheiden. Im DNA-Sequencer werden die DNA-Fragmente mit Kapillar-Elektrophorese getrennt und
aufgrund ihrer Fluoreszenz detektiert (untere Abbildung) 20
7
326 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

 EXKURS 4.1 (Fortsetzung) 

Insekten
Fische Pflanzen
Reptilien schneller
schnell
Vögel
Säuger
langsam
langsam sehr langsam

Kern -DNA Mitochondriale DNA Chloroplasten -DNA


ncDNA mtDNA cpDNA

Protein -codierende Gene:


Single -copy- Gene
cyt b, ND2, COI Protein -codierende Gene:
5.8, 18, 28S rDNA
rbcL, atpB, trnK, ndh
ITS 1, ITS 2, ETS
D -Loop 16S, 23S rDNA
RAG1, Introns
12S, 16S rDNA

.. Abb. 4.13  Schematische Übersicht über das evolutionäre Tempo von ncDNA, mtDNA und cpDNA sowie eine kleine
Auswahl häufig verwendeter Markergene

In den Mitochondrien der Tiere ist die Kon- ständen Pseudogene vor, d. h. multiple, aber unter-
trollregion (auch D-Loop-Bereich genannt) schiedliche Kopien (z. B. im Fall von Multigenfami-
(. Abb. 3.17), die am Start der Replikation liegt lien; man spricht von paralogen Genen). Wenn
und nicht transkribiert wird, am variabelsten man anstelle der homologen Gene solche paralo-
(ungefähr vier- bis sechsmal variabler als das Cy- gen Gene amplifiziert und sequenziert, kann eine
tochrom-b-Gen, das häufig als Marker bei Tieren Phylogenierekonstruktion scheitern. Werden Se-
verwendet wird). Bei Kerngenen wählt man die quenzen von homologen und paralogen Genen
ITS-Bereiche (internal transcribed spacer) zwischen gemischt, so erhält man meist falsche molekulare
den rRNA-Genen, die zwar transkribiert werden, Stammbäume. Von paralogen Genen spricht man
aber keine weitere Funktion ausüben (. Abb. 3.9). beispielsweise, wenn ein mitochondriales Gen
Sie sind nicht so konserviert wie rRNA-Gene, kom- durch „illegitime Rekombination“ eine funktions-
men aber in ebenso vielen identischen Kopien im lose Kopie im Kerngenom (sog. nuclear mitochond-
Genom vor. rial DNA; Numt) erhalten hat, die sich mit anderer
Bei der Auswahl der PCR-Bedingungen und Evolutionsgeschwindigkeit entwickelt als das mito-
Markergene ist es wichtig, dass man ausschließlich chondriale Gen. Wenn ein Gen durch horizontalen
homologe Gene (orthologe Gene) amplifiziert und Gentransfer (HGT) verschoben wurde, spricht man
miteinander vergleicht. Orthologe Gene sind von einem xenologen Gen, das bei einer Phyloge-
durch ein Speziationsereignis entstanden, so dass nierekonstruktion sicherlich Probleme verursacht,
dasselbe Gen nach der Artaufspaltung in zwei oder da es aus einem völlig anderen Organismus
mehr Arten vorkommt. Wenn ein Gen im Genom stammte.
dupliziert wurde (s. Abschn. 3.4.3) liegen unter Um-
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 327

Next Generation Sequencing rekonstruktion als ein Einzelmerkmal gewertet oder


Durch den Einsatz des Next Generation Sequencing gänzlich weggelassen. Alignment-Programme, die auf 1
(NGS) werden Phylogenierekonstruktionen zukünftig Dynamic Programming und Needleman-Wunsch-
nicht nur auf einzelne Markergene sondern auf Mul- oder Smith-Waterman- Algorithmen beruhen (wie 2
tigen-Vergleiche oder Genom-Analysen (phylogeno- in CLUSTALW), können sehr hilfreich sein, ein
mics) zurückgreifen können. Wie bereits in Kap. 3 er- erstes Alignment zu erstellen, doch muss in jedem
wähnt, wurden einige sehr ehrgeizige Genomprojekte Falle eine manuelle Feinkorrektur erfolgen, indem 3
unter diesem Aspekt gestartet, wie z. B. Genome 10 K man z. B. auf die Raumstruktur der rRNA Rücksicht
Project (G10 K), das 1000 Plant & Animal Reference nimmt (. Abb. 3.11; Struktur der 16S rRNA). 4
Genomes Project (1000P&A), die 5000 Insect (i5 K) Sobald ein gutes Alignment vorliegt, können
and other Arthropod Genome Initiative oder das Ten Phylogenieprogramme eingesetzt werden, um die
Thousand Microbial Genomes Project (10 K M). zugrunde liegenden Verwandtschaftsverhältnisse
5
Zu den wichtigen Geräten zählen zurzeit (2012) und Phylogenie zu rekonstruieren. Das evolutionäre
die folgenden Geräte, die zunehmend auch für phy- Verzweigungsmuster lässt sich am besten durch ei- 6
logenetische und phylogenomische Untersuchen nen dichotom aufgebauten Stammbaum darstellen
eingesetzt werden: Das 454-Sequenzgerät (und (. Abb. 4.14). 7
Folgegeräte) von Roche war das erste NGS-Gerät Grundsätzlich wird zwischen numerischen Di-
auf dem Markt. Es hat den Vorteil, dass man ver- stanzmatrixmethoden und Merkmalsmethoden
gleichsweise lange Sequenzen erhält. Der Nachteil (Parsimony- und Maximum-Likelihood-Methoden) 8
liegt in einem vergleichsweise hohen Preis der Ana- unterschieden (EXKURS 4.2). Es gibt eine fast unend-
lysen. Das HiSeq2000 von Illumina, in dem man bis liche Anzahl möglicher Bäume, von denen aber nur 9
zu fünf Genome parallel in einem Lauf auf 2 x 8 einer den wahren Verlauf der Evolution wiedergibt.
Bahnen sequenzieren kann, wird aktuell am meisten Um aus der Vielzahl der Bäume den oder diejenigen
verwendet. Pro Bahn werden 100–200 Mio. Sequen- herauszugreifen, die der Wahrheit am nächsten kom-
10
zen produziert. In Anzeigen wurde 2012 ein neues men, muss man den Bäumen eine bestimmte Qualität
NGS-Verfahren von Oxford Nanopore angekündigt, zuordnen und sie danach reihen können. Dies ge- 11
dass über die Nanoporentechnologie sehr lange Se- schieht durch sog. Optimierungskriterien (MP, ME,
quenzen ermitteln soll. ML, A-posteriori-Wahrscheinlichkeit usw.). Bei Ma- 12
ximum Parsimony (MP) werden Taxa so angeordnet,
Stammbaumrekonstruktion dass die Zahl der Merkmalsänderungen zwischen
Die Arbeitsschritte zwischen der Sequenzierung verwandten Taxa möglichst klein ist; d. h. derjenige 13
(. Abb. 4.12) und der Phylogenie-Rekonstruktion Baum ist am besten, der mit der geringsten Anzahl
sind in . Abb. 4.11 sowie EXKURS 4.2 schematisch von Substitutionsereignissen die phylogenetischen 14
dargestellt. Zusammenhänge darstellen kann. Unter Maximum
Erhaltene DNA-Sequenzen werden in einem Likelihood (ML) wird derjenige Baum als am besten
Alignment (. Abb. 4.11) so angeordnet, dass ho- geeignet gewählt, bei dem die Likelihood (Wahr-
15
mologe Positionen (die alle als einzelne Merkmale scheinlichkeit) der Daten maximal wird. Neighbour-
gelten) jeweils untereinander zu stehen kommen. Ein Joining (NJ) ist eine typische Distanzmethode, bei 16
Alignment ist einfach durchzuführen, wenn in einem der die Gesamtähnlichkeit der Sequenzen von jeweils
Gen keine Deletionen, Insertionen oder Inversionen zwei Taxa als numerischer Wert ermittelt wird. Dann 17
auftreten, wie dies bei Protein-codierenden Genen wird das Taxon ermittelt, das diesen Sequenzen am
auch meist der Fall ist. Nicht-codierende Gene und nächsten kommt. Dieser Prozess wird so lange wie-
DNA-Abschnitte, wie z. B. rDNA und ITS-Regionen, derholt, bis alle Taxa zugeordnet wurden. 18
weisen dagegen auch rearrangements auf. Diese Ver- Kladisten erkennen nur Parsimony-Methoden
änderungen können auf einem einzelnen Evolutions- als sinnvoll an, da Distanzmethoden grundsätzlich 19
schritt (Verlust oder Insertion eines DNA-Abschnit- nur phänetische Dendrogramme erstellen können
tes) oder auf multiplen Schritten beruhen. Meist und nicht zwischen ursprünglichen und abgeleite-
werden die unklaren Merkmale bei der Stammbaum- ten Merkmalen unterscheiden. Streng genommen
20
328 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.14 a–f  Grafische Darstellung von Stammbäumen und Aussagemöglichkeiten. a–e Darstellung als Kladogramm;
f ist ein Phylogramm, in dem die Astlängen mit der Divergenzzeit proportional sind. a A und B sind Zwillingsarten, die einen
gemeinsamen Vorfahren aufweisen. A, B, C und D bilden eine monophyletische Gruppe, die sich von einem gemeinsamen
Vorfahren ableitet. Außengruppen sollen nicht zu nahe mit den zu untersuchenden Arten (Innengruppe) verwandt sein, aber
gemeinsame Ursprünge mit den Arten der Innengruppe aufweisen. b In einem Stammbaum können die Äste frei um die jewei-
ligen Verzweigungsknoten gedreht werden, d. h. Kladogramme a und b sind identisch. c Kladogramm c unterscheidet sich von
a und b, da die Reihenfolge der Arten A, B und C verändert ist. d und e zeigen ein Kladogramm, in denen die Taxa A und B sowie
C und D Zwillingsarten sind, die von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Die Kladogramme d und e sind in ihrer Aus-
sage identisch, aber graphisch anders dargestellt. f Darstellung der Verwandtschaftsbeziehungen aus d und e als Phylogramm,
das die unterschiedlichen Divergenzzeiten der einzelnen Taxa aufzeigt

unterscheiden aber auch Parsimonie-Verfahren bei ausgestorben sind und eine rezente Linie nur isoliert
den Berechnungen nicht zwischen ursprünglichen vorkommt, oder wenn unvollständige Datensätze
und abgeleiteten Merkmalen, sondern addieren zu- zugrunde gelegt werden. Der Wahl des Markergens,
nächst einmal nur Merkmalsänderungen. Im ferti- das in der richtigen Geschwindigkeit evolviert (kann
gen Baum lassen sich aber dann Apomorphien für je nach Organismus und Fragestellung verschieden
jeden Ast anzeigen. In der Praxis der molekularen sein; . Abb. 4.13), kommt damit eine entscheidende
Phylogenieanalyse liefern Distanz- und Merkmals- Bedeutung zu. Wählt man ein schnell evolvieren-
methoden daher identische oder ähnliche Bäume. des Markergen zur Analyse alter Gruppen, dann
In jedem Falle versuchen die Programme, einen wird die ursprünglich vorhandene phylogenetische
Stammbaum zu erstellen, der die Entstehung der Information durch multiple Substitutionen bereits
Taxa im Verlauf der Evolution so genau wie möglich teilweise verloren gegangen sein. Wählt man kon-
widerspiegelt. Streng genommen ist jeder Stamm- servierte Markergene, z. B. rRNA-Gene des Zell-
baum eine Hypothese über den Verlauf der Evolu- kerns, zur Analyse junger Gruppen, so wird man
tion, deren Plausibilität mit weiteren Hypothesen zu keine Unterschiede finden. Ferner muss beachtet
bewerten ist. Problematisch kann es sein, wenn in werden, dass Stammbäume, die auf den Sequen-
einer Organismengruppe die meisten Linien bereits zen eines Markergens beruhen, im strengen Sinne
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 329

nur Genstammbäume darstellen, die nicht immer als Gesamtdistanz gewertet werden. In der Praxis
mit der Phylogenie der zugehörigen Organismen der molekularen Phylogenie ist die Wahl einer ge- 1
(Speziesbäume) übereinstimmen. Mitochondriale eigneten Außengruppe zwar wichtig, hat aber meist
Gene werden beispielsweise weitgehend maternal einen geringeren Einfluss auf die Baumtopologie, als 2
vererbt; falls in einem Datensatz Hybridarten vor- gemeinhin angenommen wird, insbesondere dann,
kommen, so könnte es hier zu einer (meist lokalen) wenn Datensätze durch aussagekräftige Merkmale
Unstimmigkeit kommen. Im Falle, dass molekulare gestützt werden. Bei morphologischen Datensätzen 3
Stammbäume und herkömmliche Vorstellungen di- ist die Wahl der Außengruppe von wesentlich grö-
vergieren, ist es angebracht, nicht nur ein einziges ßerer Bedeutung als bei DNA-Datensätzen. 4
Markergen, sondern mehrere Markergene (sowohl Verlässlichkeit der Stammbäume. Die Suche
mtDNA als auch ncDNA) zu untersuchen. nach dem wahren Stammbaum ist außerordentlich
Für die phylogenetische Analyse ist die Le- schwierig, denn selbst bei nur vier Arten gibt es
5
serichtung (Polarität) von Merkmalsänderungen schon drei ungewurzelte Rekonstruktionen, von
wichtig. Innerhalb der homologen Merkmale wird denen nur eine korrekt sein kann. Enthält ein Se- 6
zwischen ursprünglichen und gleich gebliebenen quenzdatensatz aber viele Taxa, so verringert sich
(plesiomorphen) und abgeleiteten veränderten die Wahrscheinlichkeit gewaltig, einen in allen 7
(apomorphen) Merkmalen unterschieden. Tragen Verzweigungen korrekten Baum zu finden. Bei 50
alle Folgearten einer Stammart ein gemeinsames Arten sind bereits theoretisch 2,8 × 1074 Bäume
abgeleitetes Merkmal (evolutive Neuheit), so wird möglich (also mehr Bäume als Atome im Univer- 8
dies als Synapomorphie bezeichnet. Eine Symple- sum). Selbst wenn ein moderner und schneller
siomorphie liegt vor, wenn ein relativ ursprüngli- Rechner 109 Bäume pro Sekunde durchrechnen 9
ches Merkmal bei vielen Taxa auftritt unterschiedli- könnte, würde er immer noch 8,9  ×  1054  Jahre
cher Kategorie. Tritt ein Merkmal neu nur in einem benötigen, um alle Möglichkeiten zu berücksich-
Monophylum auf, so liegt eine Autapomorphie vor. tigen. Man berechnet deshalb selten die relative
10
Man kann Stammbäume ohne Annahme einer Wahrscheinlichkeit ganzer Bäume, sondern eine
Wurzel (unrooted tree) oder mit Wurzel (rooted wie auch immer geartete statistische Unterstützung 11
tree) erstellen. Bei interspezifischen Analysen wird für einzelne Äste oder Knoten. Bedingt durch die
meistens der rooted tree vorgezogen, da er mehr Komplexität müssen die mathematischen Verfah- 12
Informationen enthält und eine zeitliche Abfolge ren deshalb vereinfacht und die Kombinations-
der Verzweigungen sichtbar macht. Dabei wer- möglichkeiten von vorneherein limitiert werden
den die Arten, die man untersuchen möchte, als (EXKURS 4.2). Wir sprechen davon, dass Maximum 13
Innengruppe angesehen, die der Außengruppe Parsimony (MP) ein Optimalitätskriterium ist,
(Outgroup) gegenübergestellt wird. Außengrup- das nur bei kleineren Datensätzen (ca. 25 Arten) 14
pen sollen sich von einem früheren gemeinsamen streng durchgehalten werden kann. Man kann
Vorfahren mit der Innengruppe ableiten lassen, den Suchprozess durch vereinfachte Annahmen
aber nicht nah mit der Innengruppe verwandt sein. (z. B. durch heuristische Suche mittels Branch-
15
Durch die Wahl der Außengruppe wird der Merk- and-bound-Methode) erleichtern und beschleu-
malssatz polarisiert, d. h. es lassen sich jetzt abgelei- nigen. Computergestützte Phylogenieprogramme 16
tete (apomorphe) Merkmale von ursprünglichen arbeiten, trotz theoretisch vorhandener Unzu-
(plesiomorphen) Merkmalen unterscheiden. Bei länglichkeiten, verlässlich. Stammbäume über die 17
Parsimony-Methoden empfiehlt es sich, mehrere Evolution der Nucleotidsequenzen von T7-Phagen,
Außengruppentaxa zu wählen, so dass der Effekt deren Phylogenie man genau kannte, ergaben eine
der long branch attraction und ancestral lineage hervorragende Übereinstimmung zwischen er- 18
sorting reduziert und die Anzahl der phylogene- rechneter und bekannter Phylogenie. Hillis, ein
tisch informativen Merkmale erhöht wird. Bei Ma- renommierter molekularer Systematiker, äußerte 19
ximum Parsimony werden nur die phylogenetisch sich 1994 dazu: „Both simulation and experimental
informativen Merkmale ausgewertet, während bei phylogenies indicate that many methods are power-
NJ-Rekonstruktionen alle Merkmalsunterschiede ful enough to reconstruct evolutionary histories with
20
330 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

a high degree of accuracy.“ (Computersimulationen


.. Tab. 4.4  Wahrscheinlichkeit (in %), mit unterschied-
und experimentelle Phylogenien belegen, dass viele lichen Phylogenieprogrammen die korrekte Baum-
Methoden ausreichend geeignet sind, die Evoluti- topologie zu erhalten. NJ: Neighbour-Joining; MP:
onsgeschichte mit einem hohen Grad an Genauig- Maximum Parsimony, ML: Maximum Likelihood
keit zu rekonstruieren.). Anzahl der NJ MP ML
Gute Datensätze liefern mit allen drei Verfah- Nucleotide
ren kongruente Bäume; Unterschiede weisen auf p JC K2 UW W
Verzweigungen hin, die vermutlich nicht eindeutig
100 98 73 74 88 96 64
sind. Wie sicher eine Verzweigung in einem Phylo-
gramm ist, kann man ebenso durch statistische Ver- 300 100 88 86 98 100 82
fahren, Bootstrapping, Jackknifing oder Bremer- 500 100 96 94 100 100 90
Support, bestimmen. In der Bootstrap-Analyse
800 100 98 96 100 100 94
werden von dem ursprünglichen Datensatz sehr viele
(100–10.000) zufällig erzeugte Pseudodatensätze 1000 100 99 99 100 100 96

gleicher Größe erstellt, in denen Basenpositionen p: p-Distanz; JC: Jukes-Cantor-Distanz; K2: Kimura-
(Matrixmerkmale) des ursprünglichen Datensatzes 2-Parameter-Distanz; UW: ungewichtet; W: gewichte-
durch willkürliches Sammeln und Weglegen ver- te Merkmale
ändert werden. Dadurch kommen zufällig einzelne
Matrixmerkmale mehrmals vor, andere fallen weg.
Beim Jackknifing wird dagegen eine bestimmte An- liegt die Wahrscheinlichkeit, mit allen drei Berech-
zahl von Positionen willkürlich weggelassen. Boot- nungsverfahren (MP, ML, und NJ) den korrekten
strapping und Jackknifing lassen sich in Maximum- Baum zu finden, bereits über 80 %. In der Praxis
Parsimony(MP)- und Neighbour-Joining-Analysen versucht man, Markergene von mindestens 1000
leicht durchführen; für Maximum-Likelihood-Ver- Nucleotiden zu analysieren. Zudem bestehen die
fahren sind sie meist zeitaufwendig, es sei denn man Datensätze zunehmend aus den Sequenzen von
verfügt über einen Computercluster: In einem Kon- mehreren Markergenen (Multigen-Analyse). Wie
sensusbaum wird für jede Verzweigung (Knoten) man der . Tab. 4.4 entnehmen kann, führen dann
angezeigt, wie oft sie in den 1000-mal wiederhol- alle drei Methoden zu nahezu identischen und kor-
ten Einzelbäumen gefunden wurde (Angabe meist rekten Bäumen. Grundsätzlich gilt jedoch, dass län-
in Prozent). Je höher der jeweilige Bootstrap- oder gere DNA-Sequenzen aus verschiedenen Genomen
Jacknife-Wert, desto sicherer soll eine bestimmte Ver- (insbesondere von mtDNA und ncDNA) und eine
zweigung sein. In der Praxis werden vielfach schon möglichst vollständige Zusammensetzung der zu
Bootstrap-Werte größer als 70 % als ausreichend si- untersuchenden Organismengruppen (taxon sam-
cher angesehen. Eine Bootstrap-Analyse sollte jedoch pling) zu den verlässlichsten Stammbäumen führt.
nicht überbewertet werden, denn auch phylogene- Letztlich tragen ein möglichst vollständiges taxon
tisch falsche Verzweigungen lassen sich manchmal sampling und character sampling beide zur Verbes-
durch hohe Werte sichern, während sichere Verzwei- serung phylogenetischer Rekonstruktionen bei (zur
gungen, die auf wenigen Merkmalen beruhen, oft als Diskussion, siehe Rosenberg u. Kumar 2003; Hil-
unsicher bezeichnet werden. Der Bremer-Support lis et al. 2003). Liegen Sequenzen mehrerer Gene
(oder decay index) gibt an, wie robust ein Knoten von (Multigen-Ansatz) vor, so kann man diese zu einem
den Daten gestützt wird. gemeinsamen Datensatz (total evidence) vereinen
Notwendige Länge der DNA-Sequenzen und und damit die Gesamtlänge der zu untersuchenden
Vollständigkeit der Datensätze. Häufig wird die Sequenzen erhöhen.
Frage diskutiert, wie viele Basen man sequenzieren Zunehmend stehen immer längere Sequenzen
muss, um eine verlässliche Aussage zu erhalten. für eine phylogenetische Analyse zur Verfügung;
In einer Computersimulation (Nei 1996) erhielt schon heute existieren Sequenzierungen der kom-
man folgendes Ergebnis (. Tab. 4.4): Bei einem pletten mtDNA oder cpDNA von über 3400 Orga-
Datensatz mit einer Sequenzlänge von 300 Basen nismen, die z. T. natürlich eine bessere und sicherere
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 331

Aussage zulassen, als die Analyse eines einzelnen kennen kann, zieht man sie heran, um evolutionäre
Markergens (s. Abschn. 4.2). In . Abb. 4.34a ist eine Distanzen zu berechnen. Um multiple Substitutio- 1
Phylogenierekonstruktion gezeigt, die auf einem nen, Parallel- und Rückmutationen zu berücksich-
Datensätzen mit kompletten mtDNA-Genomen tigen oder um Transition/Transversionsverhältnisse 2
basieren. Inzwischen liegen auch DNA-Sequenzen zu gewichten, wurden verschiedene Substitutions-
kompletter Genome von mehr als 2000 Bakte- modelle entwickelt (z. B. Jukes-Cantor, Kimura, Ta-
rien- und über 150 Eukaryotenarten vor, die man mura-Nei. Näheres s. Handbücher von PAUP und 3
phylogenetisch auswerten kann (s.  Abschn. 4.2; MEGA), die bei ML- und NJ-Analysen nützlich sind
. Abb. 4.25). (EXKURS 4.2). 4
Wenn sowohl molekulare als auch morpho- Die Anzahl der Nucleotidsubstitutionen ist mit
logische Datensätze vorliegen, kann man beide der Divergenzzeit korreliert, d. h. je länger zwei
natürlich getrennt berechnen und prüfen, ob die Taxa getrennt sind, desto größer die Anzahl der
5
Ergebnisse kongruent sind. Einige Wissenschaftler Nucleotidunterschiede und Aminosäureaustau-
plädieren dafür, beide Datensätze zu vereinen und sche. Diese Tatsache ist die Grundlage für das Kon- 6
berechnen sog. total evidence trees (Gesamtevidenz- zept der molekularen Uhr, wie es von Pauling und
bäume). Es kommt dann aber auf die Ausgewogen- Zuckerkandl 1961 erstmals postuliert wurde. Eine 7
heit der Datensätze an, ob sinnvolle Stammbäume molekulare Uhr bezieht sich meist auf die Mutati-
entstehen können. onsraten in einzelnen Genen oder Proteinen und
kann nur dann eine verlässliche Maßeinheit sein, 8
Evolutionäre Distanzen und Molekulare wenn sie eine konstante Taktfrequenz aufweist und
Uhren geeicht werden kann, z. B. über Fossilfunde. Mole- 9
Für Protein- und DNA-Sequenzen lässt sich der kulare Uhren werden in der Praxis häufig verwen-
Unterschied zwischen zwei Sequenzen homologer det, aber ebenso häufig kritisiert. Wir wissen heute,
Proteine oder Gene leicht quantitativ fassen, indem dass es keine exakte und generelle molekulare Uhr
10
die Anzahl der unterschiedlichen Aminosäuren im Sinne der Physik gibt, wie früher optimistisch
bzw. Nucleotide zwischen zwei Sequenzen ermit- angenommen wurde. Aber eine molekulare Uhr 11
telt wird. Weil der Aminosäurevergleich nur schwer grundsätzlich zu negieren, wie es manche Kritiker
Mehrfach-, Parallel- und Rückmutationen erkennen tun, ist ebenso unangemessen. Es handelt sich bei 12
kann und vor allem synonyme Substitutionen un- der molekularen Uhr eher um lokale Uhren, die re-
berücksichtigt lässt, wurden verschiedene Korrek- lative Zeitaussagen erlauben.
turen vorgeschlagen, wie z. B. die Poissonkorrektur. Aus der Sequenzdifferenz K zwischen zwei Taxa 13
Da heute zunehmend DNA-Sequenzdaten ermittelt lässt sich die Trennungs- oder Divergenzzeit T be-
werden, über die man synonyme Substitutionen er- rechnen: T = K / 2. 14
  EXKURS 4.2   15

-
Methoden der Stammbaumrekonstruktion
Für die Stammbaumerstellung stehen heute eine PHYLIP und 383 weitere Programme: http:// 16
Reihe brauchbarer Phylogenieprogramme zur Ver- evolution.genetics.washington.edu/phylip/

- 17
fügung, wie z. B. PAUP* (Swofford 2003), PHYLIP software.html
(Felsenstein 1993), MEGA5 (Tamura et  al. 2011), MacClade 4: http://www.sinauer.com/detail.

- 18
und MrBayes (Huelsenbeck u. Ronquist 2001). Diese php?id=4707

--
Programme sind über das Internet erhältlich: Netzwerkverfahren: http://darwin.uvigo.es/
MEGA5.1: http://megasoftware.net
19
-
MrBayes 3.2.1: http://mrbayes.sourceforge.net/ Maximum Parsimony (MP)
PAUP*4.0: http://paup.csit.fsu.edu/ MP-Methoden liegt das Prinzip der größten Spar-
samkeit (englisch: parsimony) zugrunde, d. h. sie
20
7
332 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

 EXKURS 4.2 (Fortsetzung) 

halten die Lösung, die mit der geringsten Anzahl Substitutionen (die hier besonders häufig auftre-
evolutiver Schritte (hier Nucleotidsubstitutionen ten) zu reduzieren, oder aber Transversionen hö-
oder Merkmalsänderungen) auskommt, für die her bewerten als die häufigeren Transitionen, da
wahrscheinlichste Variante. Ob die Evolution in Transversionen als Mutationsereignisse seltener
jedem Falle nach diesem Prinzip verläuft, ist frag- sind als Transitionen (s. Abschn. 3.3.1). Das Problem
lich, doch sprechen viele Beobachtungen und bei einer Gewichtung ist jedoch, dass man u. a. da-
Erfahrungen aus der Biologie und anderen Natur- mit bewusst oder unbewusst den Baum als richtig
wissenschaften dafür, dass einfache Lösungswege wählt, den man sich a priori gewünscht hat. Hillis
wahrscheinlicher sind als komplexe. et al. (1994) fanden, dass unweighted parsimony eine
Im MP-Verfahren wird derjenige Stammbaum höhere Genauigkeit zeigte, als gewichtete MP oder
als der wahrscheinlichste angesehen, der am kür- Distanzanalysen.
zesten ist und auf der geringsten Anzahl an Merk- Die Baumrekonstruktion kann bei MP durch
malsänderungen beruht. Zu beachten ist, dass bei „exakte“ und „heuristische“ Verfahren durchge-
MP nur phylogenetisch informative Merkmale führt werden. Die exakten Algorithmen (exhaustive
(Synapomorphien) und „sichtbare“ Substitutio- search, branch-and-bound) garantieren, den kür-
nen (ohne Korrektur durch Substitutionsmodelle) zesten unter allen möglichen Bäumen zu finden.
gewertet werden, die im Alignment bei mindes- Da die Kombinationsmöglichkeiten immens sind,
tens zwei Taxa auftreten und diese von anderen lassen sich die exakten Algorithmen zurzeit nur
abgrenzen. Nicht-informative Polymorphismen, mit kleinen Datensätzen unter 25 Taxa einsetzen.
die nur bei einem einzigen Taxon auftreten (Auta- Bei größeren Datensätzen verwendet man heu-
pomorphien), haben dagegen keine Bedeutung, ristische Algorithmen, die mit hoher, aber nicht
obwohl diese Merkmale für die Berechnung der absoluter Wahrscheinlichkeit den kürzesten Baum
genetischen Distanz und damit der Divergenzzeit finden.
wichtig sind. Solche autapomorphen Merkmale Durch MP-Verfahren erhält man im günstigs-
können real sein oder aber auch auf Sequenzier- ten Falle nur einen einzigen Baum. Im Falle, dass
fehlern beruhen, d. h. eine schlechte Sequenzie- mehrere gleich kurze Bäume gefunden werden,
rung führt automatisch zu hohen Distanzen (kann lassen sich die Ergebnisse entweder als ein „Strik-
sich bei Distanzmethoden negativ auswirken). Eine ter Konsensus“ (strict consensus) oder beispiels-
gründliche Kontrolle der Sequenzier-Ergebnisse, weise als 50 %-Konsensusbaum darstellen. Maße
insbesondere wenn sie über automatische DNA- für die Qualität der Daten sind der Retentions(RI;
Sequenzier-Geräte erhalten wurden, ist absolut retention index)- und der Konsistenz-Index (CI; con-
notwendig, um falsche Aussagen zu vermeiden. sistency index); je näher beide Zahlen einem Wert
Für jedes informative Merkmal wird bei MP ein ei- von 1 kommen, desto besser wird ein Baum durch
genes Verzweigungsschema berechnet, für jedes die zugrunde liegenden Daten gestützt und desto
Schema die Minimalzahl an Substitutionen pro geringer ist die Homoplasie (als HI ausgedrückt).
informativer Position abgeleitet, und schließlich
werden die Ergebnisse aller informativer Positio- Maximum Likelihood (ML)
nen zusammengefasst. Aus der Gesamtheit dieser Unter ML wird derjenige Baum als am besten an-
Rekonstruktionen wird der Baum ausgewählt, der gesehen, bei dem die Likelihood (Wahrscheinlich-
bei minimaler Anzahl an Substitutionen durch die keit) der Daten unter einem bestimmten Modell
meisten informativen Merkmale gestützt wird. maximal wird. ML bevorzugt streng genommen
Bei MP unterscheidet man zwischen ungewich- also das Verzweigungsmuster, bei dessen Annahme
teten (unweighted parsimony) und gewichteten der Datensatz die größte Wahrscheinlichkeit hat.
Analysen (weighted parsimony). Bei gewichteten Bei ML wird meist ein einziger optimaler Baum er-
MP-Verfahren kann man z. B. die dritte Codonpo- halten. Der Umfang der evolutiven Veränderungen
sition schwächer werten, um den Einfluss multipler wird über verschiedene statistische Substitutions-
7
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 333

 EXKURS 4.2 (Fortsetzung) 
modelle abgeschätzt; z. B. werden die Häufigkeiten und molekulare Daten, analysieren. Bei Datensät- 1
von Transitionen und Transversionen und der einzel- zen mit identischen Sequenzen liegen diese nicht
nen Nucleotide sowie Rück- und Parallelmutationen auf einer Linie (wie bei ML oder NJ), sondern auf 2
berücksichtigt. Das geeignete Substitutionsmodell eigenen Ästen, was unter Umständen eine nicht
kann über das Programm „jModeltest“ (Posada 2006; vorhandene Sequenzdiversität vortäuscht.
http://darwin.uvigo.es/software/modeltest_server.
3
html) ermittelt werden. Durch ML werden bei der Neighbour-Joining (NJ)
Analyse diejenigen Positionen stärker gewichtet, NJ ist ein Distanzmatrixverfahren, das nicht auf 4
an denen nur zwei oder drei unterschiedliche Nu- Sequenzen, sondern zur Baumberechnung auf die
Distanzen zwischen den Sequenzen zurückgreift;
cleotide auftreten und die deshalb weniger homo-
d. h. bei NJ werden zunächst die paarweisen Dis-
5
plasieträchtig sind, als solche Positionen, an denen
alle vier Nucleotide vorhanden sind. Vergleichende tanzen zwischen jeweils zwei Taxa bestimmt, wobei
Studien konnten zeigen, dass über ML berechnete alle Merkmale (auch autapomorphe) berücksichtigt 6
Stammbäume der vermutlichen realen Phylogenie werden (daher wirken sich Sequenzierfehler relativ
häufig am nächsten kommen. Den MP-Methoden stark aus). Um unterschiedliche Substitutionsmög-
lichkeiten zu berücksichtigen, stehen bei NJ diverse
7
gegenüber ist ML darin überlegen, dass man durch
Substitutionsmodelle z. B. Jukes-Cantor, Tajima-
Einbeziehung der Astlängen den hypothetischen
Merkmalszustand eines Vorfahren bestimmen kann. Nei, Kimura 2-Parameter oder Tamura-Nei zur Ver- 8
Da jedoch lange Rechenzeiten notwendig sind, und fügung, die Nucleotidhäufigkeiten, Transitionen/
wenn man nur über einfache Rechnerkapazität ver- Transversionen und Rück- und Parallelmutationen 9
fügt, eignen sich ML-Methoden eher für kleine Da- berücksichtigen oder gar keine Annahmen machen
(p-Distanz oder LogDet). Rück- und Parallelmutatio-
tensätze (< 100 Taxa), während umfangreiche Daten-
nen sind primär unsichtbar; ihre Wahrscheinlichkeit
10
sätze mit mehreren Hundert Sequenzen bislang nur
über MP, NJ vor allem aber über MrBayes bearbeit- wird aber von den Substitutionsmodellen berück-
bar sind, es sei denn man hat einen leistungsfähigen sichtigt und in genetische Distanzen eingerechnet. 11
Rechnercluster zur Verfügung. Wenn informative Datensätze mit hohem taxon and
character sampling (s. oben) vorliegen, haben die 12
MrBayes verschiedenen Algorithmen kaum einen Einfluss auf
MrBayes verwendet das Bayes’sche MCMC (Mar- die Baumtopologie.
kov Chain Monte Carlo)-Verfahren, als Simulati- NJ startet mit einem sternförmigen Klado- 13
onstechnik. Das Markov-Ketten-Verfahren sucht gramm, sucht aus diesem das Taxonpaar mit der
eine optimale Lösung durch zufällige Verände- geringsten Distanz und verknüpft es mit einem 14
rungen in kleinen Schritten. Bayes’sche Phyloge- Knoten. Von nun an wird dieses Paar als eigene OTU
nierekonstruktionen basieren auf der A-posteriori-
Wahrscheinlichkeitsverteilung von Bäumen. Bei
(operational taxonomic unit) betrachtet, die über
einen internen Zweig mit den restlichen OTUs ver-
15
MCMC-Verfahren werden Tausende von Bäumen bunden ist. Jetzt werden erneut die paarweisen
„gesammelt“, die als Konsensusbaum zusammen- Distanzen berechnet und dem ersten OTU-Paar die 16
gefasst werden. Bei der Berechnung der Bäume nächste OTU zugewiesen, zu dem die geringste Di-
werden Substitutionsmodelle zugrunde gelegt. stanz besteht (nearest neighbour). Dieses Verfahren 17
Das MCMC-Verfahren wird teilweise auch kontro- wird solange wiederholt, bis alle Taxa im Klado-
vers diskutiert, weil A-posteriori-Wahrscheinlichkei- gramm eingebaut sind. Da das Berechnungsverfah-
ten aus MCMC-Analysen meist höher sind als die ren relativ einfach ist, eignet sich NJ zur schnellen 18
entsprechenden Bootstrap-Werte. MrBayes hat eine Analyse großer Datensätze, insbesondere um zu
enorme Effizienz und ergänzt daher immer mehr einer ersten Stammbaumhypothese zu kommen. 19
ML- und andere Verfahren. Man kann mit ihm auch Anschließend wählt man dann die aufwendigeren
leicht gemischte Datensätze, also morphologische MP- und ML-Berechnungen.
20
7
334 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

 EXKURS 4.2 (Fortsetzung) 

Netzwerk-Methoden GEODIS 2.4 implementiert die nested clade analysis


Bei phylogeographischen Auswertungen, in denen (NCA), die von Templeton (1998) entwickelt wurde,
viele nah verwandte Haplotypen zu analysieren um die geographische Verteilung von Haplotypen
sind, bieten sich zusätzlich Netzwerkprogramme, zu ermitteln. Die nested clade analysis wurde viel-
beispielsweise sog. minimal spanning networks (vgl. fach kritisiert und wird daher heute kaum noch
. Abb. 4.59), an. TCS 1.2 berechnet phylogeneti- verwendet.
sche Netzwerke über Parsimonie-Algorithmen.

Aminosäuresubstitutionen. Seit ca. 1960 wur-


den Aminosäuresubstitutionen in Proteinen und
.. Tab. 4.5  Evolutionsgeschwindigkeit verschiedener
seit 1980 vermehrt Nucleotidsubstitutionen in
Proteine
DNA analysiert, um das Tempo der molekularen
Protein UEPa Substitutions- Evolution zu bestimmen. Nehmen wir zur Erläu-
rateb
terung zwei Arten an, die von einem gemeinsamen
Histon H4 400 0,013 Vorfahren abstammen. Wenn wir die Dauer der
Histon H3 330 0,015
zugrunde liegenden Divergenzzeit durch Fossilf-
unde abschätzen können, ergibt sich z. B. die Rate
Glutamatdehydrogenase 55 0,09 der Proteinevolution als Anzahl der paarweisen AS-
Glucagon 43 0,12 Substitutionen geteilt durch 2.
Corticotropin 24 0,21 Rechenbeispiel: Angenommene Divergenzzeit =
80 Mio. Jahre; Länge des Proteins = 100 Aminosäu-
Triosephosphat-Isomerase 19 0,26
ren (AS), davon sind 16 substituiert.
Lactatdehydrogenase 19 0,26 Evolutionsrate (AS-Substitution pro Position
Cytochrom c 21 0,33 und Jahr) = 16 / (100 × 80 × 2 × 106) = 110–9. Analog
wird diese Berechnung auch für Nucleotidsubstitu-
Insulin 14 0,36
tionen bei DNA-Sequenzen benutzt.
Lipotropin (b-Kette) 8 0,60 Für viele Proteine liegen Abschätzungen der
Myoglobin 6 0,8 Evolutionsgeschwindigkeit (. Tab. 4.5) und der
molekularen Uhr vor, die zeigen, dass die Evolu-
Trypsinogen 6 0,8
tionsrate nicht konstant ist, sondern von Protein
Prolactin 5 1,0 zu Protein variiert, je nachdem, wie wichtig die
Hämoglobin (a-Kette) 3,7 1,4 Beibehaltung der Raumstruktur für die Funktion
3,3 1,5
eines Proteins ist (. Tab. 4.5). So ist die Struktur
Hämoglobin (b-Kette)
von housekeeping genes, wie z. B. Histonen, hoch
Albumin 3,0 1,7 konserviert, während spezialisierte Proteine, wie
Ribonuclease 2,3 2,2 Fibrinopeptide, offensichtlich einen höheren Frei-
Immunoglobulin C 1,7 2,9
heitsgrad besitzen. Insbesondere Proteinbereiche,
die funktional wichtig sind, z. B. aktive Zentren oder
Fibrinopeptid A 1,7 2,9
Bindungsstellen, evolvieren langsamer als funktio-
Fibrinopeptid B 1,1 5,5 nell weniger kritische Bereiche, z. B. in Transmem-
branregionen, denn Träger von Mutationen, welche
a
Als UEP (unit evolutionary period) gilt die Zeit (in Mio.
Jahren), die zur Ausbildung von 1 % Sequenzunter- die Funktion eines wichtigen Proteins beeinträch-
schied zwischen zwei Evolutionslinien notwendig ist tigen, haben eine geringere Fitness und sind daher
weniger in der Lage, ihre Gene an die Nachkommen
b
Austauschrate pro Aminosäureposition und in 1 Mrd.
Jahren weiterzugeben als Individuen mit neutralen oder so-
gar positiven Mutationen.
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 335

Für einige spezifische Proteine hat man zeigen


können, dass die Evolutionsraten über lange Zeit-
.. Tab. 4.6  Vergleich der Evolutionsrate (Substitution
pro Position in 1 Mrd. Jahren) zwischen synonymen 1
räume relativ konstant blieben und damit das Kri- und nicht-synonymen Nucleotidpositionen (nach Li
terium einer molekularen Uhr erfüllen. Beispiele et al. 1985)
2
sind Hämoglobin, Cytochrom c und Fibrinopep- Gen Rate der Nucleotid­
tide (. Abb. 4.15). Die Kalibrierung erfolgt über substitutionen
das ungefähre Alter von Fossilien bzw. evolutionä- 3
ren Meilensteinen. Auch unabhängig von Fossilf- Nicht- synonym
synonym
unden kann man prüfen, ob die Veränderungsrate 4
eines Proteins oder Gens in verschiedenen Entwick- b2-Mikroglobulin 1,21 11,77
lungslinien konstant ist und damit in etwa den Be-
dingungen einer molekularen Uhr entspricht. Dazu
Albumin 0,92 6,72 5
Histon H4 0,027 6,13
dient der Relative-rate-Test nach Sarich und Wilson
(1973) (EXKURS 4.3). Immunoglobulin Vh 1,07 5,67 6
Wie in . Abb. 4.15 gezeigt, verläuft die moleku- a-Globin 0,56 3,94
lare Evolution bei spezifischen Proteinen ungefähr
b-Globin 0,87 2,96 7
mit gleicher Geschwindigkeit. Dabei spielt die Zahl
der Generationen oder die Zahl der Nachkommen Mittel aus 38 Proteinen 0,88 4,65
(wider Erwarten) keine wesentliche Rolle, d. h. die 8
Substitutionsrate ist beim Elefanten (als Beispiel für wie bei Mäusen (als Beispiel für eine Tiergruppe mit
eine Art mit langer Generationszeit) genauso hoch kurzer Generationszeit). 9
10
11
12
13
14
15
16
17
18

.. Abb. 4.15  Evolutionsraten (auf Aminosäureebene) von Fibrinopeptiden, Hämoglobin, Cytochrom c und Histon H4. Wichtige
19
Meilensteine der Evolution sind durch Pfeile gekennzeichnet. Die Rate der Aminosäuresubstitutionen/Zeit (T) ist in Klammern
aufgeführt als Millionen Jahre, die benötigt wurden, um zu 1 Aminosäureaustausch auf 100 Aminosäuren eines Proteins (AS) zu
kommen. Wenn man den Austausch pro Million Jahre berechnet, muss man die Formel T = K: 2 berücksichtigen
20
336 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

  EXKURS 4.3  

.. Abb. 4.16  Schematische Darstellung des Relative-


rate-Tests; k, l und m entsprechen der Anzahl an
Aminosäure- oder Nucleotidsubstitutionen zwischen
den drei Arten 1, 2 und 3. Zur Ermittlung der Evoluti-
onsraten x, y und z s. Text

Relative-rate-Test
Wenn die Sequenz von drei Arten 1, 2 und 3 und die K = x + y; L = y + z und M = x + z.
zugehörige Phylogenie ermittelt ist (. Abb. 4.16),
Ist die Rate gleich, so sollte die Zahl der Amino-
kann die Veränderungsrate zwischen einem ge-
säuren- oder Nucleotidsubstitutionen zwischen Art
meinsamen Vorfahren und den heutigen Arten 1
1 und dem Vorfahren gleich groß sein wie zwischen
und 2 berechnet werden.
Art 2 und dem Vorfahren, deshalb ist x = y; ist x
Da wir die Substitutionsrate zwischen Art 1 und
ungleich y, dann liegt keine konstante Rate vor, d. h.
2 (K), zwischen 1 und 3 (M) und 2 und 3 (L) kennen,
man kann das Gen oder Protein nicht als moleku-
ergeben sich 3 Gleichungen mit insgesamt 3 Un-
lare Uhr benutzen.
bekannten:

Nucleotidsubstitutionen. Bei Nucleotidsequenzen abhängen, da bei höheren Temperaturen spontane


von Protein-codierenden Genen ergibt sich ein Mutationen beispielsweise durch Depurinierung,
anderes Bild (. Tab. 4.6), da sich nicht alle Nucle- Desaminierung oder Oxidation; (s. Abschn. 3.3.1)
otidsubstitutionen auf die Aminosäuresequenz aus- leichter erfolgen. Entsprechend geht die molekulare
wirken (z. B. sind ca. 70 % der Substitutionen in der Uhr bei wechselwarmen (poikilothermen) Tieren in
dritten Codonposition synonyme Austausche, d. h. der Regel langsamer als bei homoiothermen Tieren.
sie führen nicht zur Substitution einer Aminosäure Die höhere Artenzahl in den Tropen und die ra-
und sind damit selektionsneutral; s. Abschn. 3.3.1; schere Artbildung in warmen Erdepochen könnten
. Tab. 3.9). Generell finden wir bei Tieren eine bis mit diesem Phänomen zusammenhängen.
fünfmal schnellere Substitutionsrate in synonymen Wenn Populationen auf Inseln verdriftet oder
Nucleotidpositionen als in nicht-synonymen Positi- durch andere Ereignisse auf kleine Größe reduziert
onen (. Abb. 4.17; . Tab. 4.6), in denen eine Substi- werden, dann können sich DNA-Veränderungen
tution zur Änderung der Aminosäure führen würde. unter Umständen schneller manifestieren als in
Tiere mit kurzer Generationszeit und hoher großen Populationen, die in einem regen Genfluss
Nachkommenzahl haben in der Regel höhere Sub- stehen; d. h. „Flaschenhalseffekte“ (Bottleneck-Ef-
stitutionsraten an synonymen Nucleotidpositionen fekte) können die messbare Evolutionsrate erhöhen
als Tiere mit wenigen Nachkommen und langen (s. Abschn. 3.5.5).
Generationszeiten (. Tab. 4.7). Die Zahl der Mu- Wir wissen heute, dass sich die Mutationsra-
tationen ist offenbar proportional zur Anzahl der ten zwischen codierenden und nicht-codierenden
DNA-Replikationen in Keimbahnzellen und damit DNA-Abschnitten unterscheiden. Im Allgemei-
zur Generationszeit. Mutationsraten können außer- nen haben Mutationen in nicht-codierenden Ge-
dem von der Körper- und Umgebungstemperatur nombereichen keinen Einfluss auf die Fitness des
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 337

100 .. Tab. 4.7  Evolutionsrate von synonymen Nucleotid-


substitutionen in Relation zur Generationszeit (nach 1
synonyme
Li et al. 1987)
80 Substitutionen
Vergleich Unter- Diver- Ratea Gene- 2
Divergenzrate %

suchte genzzeit × 10-9 rations-


60 Gene Mio. zeit
Jahre 3
40 Primaten

Mensch/ 7 7 1,3 lang-


4
nicht-synonyme Schim- sam
20
Substitutionen panse 5
Mensch/ 8 25 2,2 lang-
0 100 200 300 400 500
Eulenaffe sam
6
Mio. Jahre Divergenzzeit Paarhufer

.. Abb. 4.17  Molekulare Evolutionsraten der synonymen Kuh/


Ziege
3 17 4,2 mittel
7
und nicht-synonymen Nucleotidpositionen in Globingenen.
Die Divergenzzeiten ergeben sich aus dem Alter von Fossil­
funden
Schaf/
Ziege
3 55 3,5 mittel
8
Nage-
tiere 9
Maus/ 24 15 7,9 schnell
Ratte 10
a
Substitution pro Nucleotidposition in 1 Mrd. Jahren
11
.. Tab. 4.8  Substitutionsraten (pro Position in 1 Mrd. Jahren) in Pseudogenen verglichen mit synonymen Substitutionen
in aktiven Genen (nach Li et al. 1987)
12
Vergleichspaare Divergenz Evolutionsrate Synonyme Positionen
Zeit (Mio. Jahre) Pseudogene in aktiven Genen 13
Mensch/Schimpanse 7 1,2 1,3

Mensch/Orang-Utan 15 1,0 2,0


14
Mensch/Rhesusaffe 25 1,5 2,2
15
Kuh/Ziege 17 2,7 4,2

16
Merkmalsträgers und unterliegen damit weniger Die Mutationsrate variiert ebenfalls zwischen
der Selektion. Als Konsequenz manifestieren sich Kern- und Organellgenen (. Abb. 4.13), was mit 17
in diesen Bereichen höhere Substitutionsraten. Im den entsprechenden unterschiedlichen Reparatur-
Vergleich zwischen Protein-codierenden Genen mechanismen im Zusammenhang steht. Gene in
und ihren Pseudogenen (s. Abschn. 3.4.3) lässt sich Mitochondrien und Plastiden können selbst bei 18
dieser Zusammenhang gut erkennen (. Tab. 4.8). verschiedenen Organismen unterschiedlich schnell
Die Substitutionsrate liegt bei Pseudogenen so hoch evolvieren: Bei Wirbeltieren ist mitochondriale 19
wie in synonymen Codonpositionen und deutlich DNA vergleichsweise variabel (ihre Rate ist 10- bis
höher als bei nicht-synonymen Substitutionen 20-mal höher als bei Kern-DNA), während sie bei
(. Tab. 4.6). Pflanzen zu den am stärksten konservierten DNA-
20
338 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

a b

ribosomale DNA mitochondriale DNA


40 40
Protein-codierende Gene
mitochondriale rDNA
Divergenz (%)

Divergenz (%)
30 30

20 20
Nucleäre rDNA
10 10

0 100 200 300 400 50 0 0 10 20 30 40 50


Mio. Jahre Divergenzzeit Mio. Jahre Divergenzzeit

.. Abb. 4.18 a, b  Vergleich der Evolutionsraten (a) ribosomaler RNA im Kern und in Mitochondrien und (b) Protein-codieren-
der Gene in tierischen Mitochondrien

Bereichen überhaupt zählt. Bei Pflanzen ist die Mu- Theoretisch sollten alle synonymen Substitu-
tationsrate der cpDNA dagegen dreimal und die der tionen gleich häufig auftreten, da sie sich ja nicht
ncDNA etwa sechsmal größer als die der mtDNA auf die Proteinstruktur auswirken. In der Realität
(. Abb. 4.13). Die Relation zwischen Divergenzzeit zeigt sich jedoch, dass einzelne synonyme Codons
und die Evolutionsrate von mtDNA und ncDNA ist häufiger auftreten als andere, wobei sich die relati-
in . Abb. 4.18a skizziert. Für mtDNA von Säugern ven Häufigkeiten zwischen den Organismenklassen
und Vögeln (Protein-codierende Gene) setzt man unterscheiden. Die Selektivität ist durch die Häufig-
in vielen Fällen 2 % Divergenz mit einer Evolutions- keit der einzelnen tRNA-Moleküle bedingt: Von den
zeit von 1 Mio. Jahren gleich (. Abb. 4.18b). Dieser sechs Codons für Leucin (. Abb. 3.7) benutzt E. coli
Eichung liegen Divergenzzeiten bei verschiedenen in den meisten Fällen nur CUG. Entsprechend ist in
Tieren zugrunde, deren zeitliches Auftreten man der E.-coli-Zelle nur die tRNA für dieses spezifische
über Fossilien datieren konnte. Die 2 %-Rate gilt Codon in nennenswerter Menge vorhanden. Bei der
jedoch nur für die lineare Anfangsphase; sobald Hefe ist UUG dagegen das bevorzugte Codon für
sich die Kurve durch multiple Substitutionen Leucin.
abflacht, werden mit dieser Eichung die Diver- Da es nur vier Möglichkeiten (A, T, G oder
genzzeiten meist unterschätzt. Trägt man anstelle C) der einzelnen Nucleotidposition eines Gens
der kompletten Substitutionsrate nur die Rate der gibt, können theoretisch multiple Mutationen
nicht-synonymen Mutationen auf, so erhält man an den einzelnen Nucleotidpositionen auftreten.
weitgehend lineare Beziehungen, die denen von Durch multiple Substitutionen (z. B. mehrfachen
Kerngenen ähneln. Bei Vögeln z. B. liegt die Rate Austausch derselben Basenposition; Parallel- und
nicht-synonymer Substitutionen bei mitochondri- Rückmutationen), die bei langen Divergenzzeiten
alen Protein-codierenden Genen bei ca. 0,1 % pro beobachtet werden, können die realen genetischen
1 Mio. Jahre. Anstelle der nicht-synonymen Positi- Distanzen leicht unterschätzt werden. Durch multi-
onen kann man auch Proteindistanzen auswerten, ple Substitutionen kann theoretisch der ursprüngli-
indem man zunächst die Nucleotidsequenzen in che Zustand wiederhergestellt werden (Rückmutati-
Aminosäuresequenzen umwandelt. Dann kann man onen) oder zwei Taxa können an derselben Position
die zugehörigen Proteinsequenzen vergleichen und dieselbe Base aufweisen, obwohl dieses Nucleotid
die Distanzwerte zur Zeitbestimmung einsetzen nicht durch Abstammung von einem gemeinsamen
(. Abb. 4.15). Vorfahren sondern durch multiple Substitution ent-
stand. In diesem Falle sprechen wir von Homopla-
4.1  •  Methoden der molekularen Evolutionsforschung 339

a
1
2
3
4
Microcycas
Zamia 5
Dioon
Ceratozamia Cycas
Chigua
6
Bowenia
Lepidozamia
7
Encephalartos Macrozamia
Stangeria
8
.. Abb. 4.19 a, b  Molekulare Phylogenie der Palmfarne, rekonstruiert über Nucleotidsequenzen des Chloroplastengens 9
rbcL-Gens (Abb. 3.18). a Verbreitung der Palmfarngattungen; b Stammbaum-Rekonstruktion; Darstellung als Phylogramm, in
dem die Astlängen den Divergenzzeiten entsprechen. Zahlen an den Ästen sind Bootstrap-Werte. Die farbliche Codierung der
Palmfarne entspricht ihrer geographischen Verbreitung (a). Die abgebildeten Arten gehören der Gattung Encephalartos an 10
sie oder molekularer Konvergenz (s. Abschn. 1.2.3). Organismen nicht auf. Dieses Phänomen wird als 11
Bezogen auf die Gesamtzahl der variablen Nucle- Muller-Ratsche oder Muller’s ratchet bezeichnet.
otidpositionen eines Markergens sind in der Regel Innerhalb von Familien und Gattungen kann 12
nur wenige Positionen von multiplen Substitutionen man molekulare Uhren gut verwenden, wenn man
betroffen, insbesondere wenn die Verwandtschaft in berücksichtigt, dass damit nur Annäherungswerte
näher verwandten Gruppierungen untersucht wird. erhalten werden. Über molekulare Uhren können 13
Werden Taxa mit langer Divergenzzeit verglichen, wir Ereignisse sicher nicht auf 100 Jahre genau da-
so muss man insbesondere in der dritten selektions- tieren, wohl aber eine grobe zeitliche Einordnung 14
neutralen Codonposition mit Homoplasie rechnen. von evolutionären Ereignissen erreichen (vgl. San-
Deshalb lässt man die dritte Position manchmal in derson et al. 2004).
der Berechnung weg oder wichtet sie mit einem ge- Adaptive Merkmale unterliegen keiner kon-
15
ringeren Faktor als die zweite oder erste Position. stanten molekularen Uhr. Die Annahme einer
Die Arbeit mit sehr großen Datensätzen (z. B. rbcL- konstanten Uhr ist nur für die Entwicklung nicht- 16
Datensätzen mit über 3000 Taxa) zeigte jedoch, dass adaptiver Merkmale sinnvoll; morphologische
die dritte Codonposition trotz Homoplasie wichtige Merkmale, die der natürlichen Selektion unterlie- 17
Informationen zur Stammbaumrekonstruktion bei- gen, entwickeln sich häufig nicht mit konstanter
trägt, da bei weitem nicht alle Positionen von Ho- Rate. Dies kann man leicht erkennen, wenn man
moplasie betroffen sind. Um multiple Substitutio- die Morphologie sog. lebender Fossilien oder von 18
nen bei der Ermittlung von genetischen Distanzen Haustieren oder Kulturpflanzen mit ihrer moleku-
zu berücksichtigen, ist es angebracht, Korrekturen laren Evolution vergleicht. 19
mit entsprechenden Substitutionsmodellen vorzu- Bei „lebenden Fossilien“ bleibt die zugehörige
nehmen. Im Unterschied zu den Nucleotiden tritt Morphologie über Jahrmillionen annähernd kons-
eine Rückmutation bei Entwicklungslinien von tant (s. Abschn. 2.4.2), Beispiele für lebende Fossi-
20
340 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.19 b (Fortsetzung) Molekulare Phylogenie der Palmfarne, rekonstruiert über Nucleotidsequenzen des Chloroplasten-
gens rbcL-Gens (Abb. 3.18). a Verbreitung der Palmfarngattungen; b Stammbaum-Rekonstruktion; Darstellung als Phylogramm,
in dem die Astlängen den Divergenzzeiten entsprechen. Zahlen an den Ästen sind Bootstrap-Werte. Die farbliche Codierung der
Palmfarne entspricht ihrer geographischen Verbreitung (a). Die abgebildeten Arten gehören der Gattung Encephalartos an
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 341

lien sind die Brachiopodengattung Lingula, deren divergierende Formen finden, die vor nicht langer
Morphologie seit über 400 Mio. Jahren nahezu un- Zeit aus jeweils einer Stammart selektiert wurden. 1
verändert ist, oder der Pfeilschwanz Limulus. Brü- Als Beispiel kann die Züchtung der verschiedenen
ckenechsen (Sphenodon) und Krokodile sehen heute Kohlsorten dienen, die in . Abb. 3.32 illu­striert 2
noch so aus wie ihre frühen Vorfahren. Die geneti- sind. Man denke aber auch an die vielfältigen
sche Variabilität dieser Gruppen entspricht jedoch Hunde-, Katzen-, Rinder- und Taubenrassen, die
derjenigen „normaler“ Arten, d. h. die Sequenzevo- der Mensch innerhalb der letzten 10.000 Jahre do- 3
lution ist nicht im Mesozoikum stehen geblieben, mestiziert und durch aktive Zuchtwahl modifiziert
sondern ist „normal“ weiter gelaufen. hat (s. Abschn. 5.8.3). Eine rasche morphologische 4
Unter den Pflanzen gelten Schachtelhalme, Bär- Evolution wurde auch in der Natur beispielsweise
lappgewächse und Farne, aber auch höhere Pflan- für Drosophila-Arten auf Hawaii, für Buntbarsche
zengruppen, wie die Palmfarne (Cycadophyta) und (Cichliden) in den ostafrikanischen Seen (Victoria,
5
Ginkgo als lebende Fossilien. Die Vorfahren der Malawi und Tanganjika) und für die Besiedlung der
Palmfarne (Cycadophyta), die als frühe Vertreter der Kanarischen Inseln durch Boraginaceen der Gat- 6
Gymnospermen angesehen werden (. Abb. 4.28), tung Echium beschrieben. Da die Artentstehung bei
wiesen bereits in der Trias vor 200 Mio. Jahren eine diesen Gruppen relativ rezent ist, können über die 7
ähnliche Anatomie auf wie die heutigen Formen. Sequenzen von Markergenen in diesen Fällen keine
Ein molekularer Stammbaum der rezenten Gat- oder nur geringe Unterschiede festgestellt werden,
tungen ist in . Abb. 4.19 dargestellt. Aufgrund der während die morphologischen Änderungen alleine 8
Fossilgeschichte hätte man annehmen können, dass lange Evolutionszeiten implizieren würden.
auch die heutigen Arten alt sind, d. h. dass sie im 9
Phylogramm lange Astlängen aufweisen. Die vor-
liegenden DNA-Daten, aber auch Allozymuntersu- 4.2 Molekulare Systematik 10
chungen, belegen jedoch eindeutig, dass die heuti- und Phylogenie
gen Arten eher jung sind und sich erst in den letzten
10–20 Mio. Jahren entwickelt haben. Die Gattungen 11
Cycas, Encephalartos oder Zamia wurden vermut- |
Übersicht              |
lich schon vor 70–80 Mio. Jahren von gemeinsamen Organismen wurden in der klassischen Syste- 12
Vorfahren auf dem Urkontinent Gondwana durch matik hauptsächlich aufgrund gemeinsamer
die Kontinentaldrift abgespalten. Die australischen
Gattungen Lepidozamia, Macrozamia, Bowenia sind
morphologischer Ähnlichkeiten klassifiziert. 13
Wenn gleiche Merkmale aber adaptiv in
so nah mit der afrikanischen Gattung Encephalar- paralleler Evolution entstanden, werden Taxa
tos sowie mit den amerikanischen Gattungen Dioon möglicherweise zusammengefasst, obwohl 14
und Ceratozamia verwandt, dass man ihre Verbrei- sie phylogenetisch nicht verwandt sind. Die
tung nicht mit der Plattentektonik vereinbaren kann.
Denn diese Gattungen entstanden, als die Erdteile
Anwendung genetischer Methoden, insbe- 15
sondere die Analyse der Nucleotidsequenzen
sich bereits komplett getrennt hatten. Eine Verbrei-
tung über das Meer ist eine plausible Alternative
von Markergenen und Genomen kann helfen,
Konvergenzprobleme objektiv zu klären. Bei
16
(s. Abschn. 4.4.2). Die Vielfalt der Arten innerhalb der Erkennung von Artniveau und monophyle-
der Gattung Encephalartos entstand in Südafrika in tischen Gruppen kommt der DNA-Analyse eine 17
Trockenzeiten, in denen einzelne Pflanzen oder Po- besondere Bedeutung zu. Molekulare Stamm-
pulation nur in kleinräumigen Feuchtigkeitsinseln
überleben konnten. Dadurch wurden sie „verinselt“
bäume werden in diesem Kapitel exemplarisch 18
angeführt, um die Evolution der großen Or-
und durchliefen so den Prozess der allopatrischen ganismenreiche, beispielsweise der Bakterien,
Artbildung (s. Abschn. 3.5.6). Pflanzen und der Tiere zu illustrieren. 19
Im Gegensatz zur Konstanz der äußeren Ge-
stalt bei lebenden Fossilien kann man bei Haus-
tieren und Kulturpflanzen morphologisch stark
20
342 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

Ziel der Systematik ist eine hierarchische Ordnung deshalb die morphologischen Konvergenzen gut
aller Lebewesen aufgrund von verwandtschaftlichen erkennen (s. Abschn. 4.3.2).
Zusammenhängen, die durch Phylogenieuntersu- Auch wenn der Schwerpunkt in diesem Kapitel
chungen erfassbar sind. Als kleinste Einheit gilt auf DNA-Daten liegt, sollte nicht vergessen wer-
die Art, die nach Linné binominal benannt wird den, dass für den Systematiker selbstverständlich
(s. Abschn. 1.1.5). Artnamen bestehen aus einem anatomische und morphologische Merkmale nach
Gattungsnamen und dem Art-Epitheton. Während wie vor eine wichtige Grundlage darstellen. Bei
Art-Epitheta mehrfach vergeben werden können, der Rekonstruktion von Stammbäumen kommt
dürfen Gattungsnamen nur einmalig Anwendung der Systematiker in manchen Gruppen jedoch
finden. Auf diese Weise wird verhindert, dass zwei nicht weiter, weil entweder zu wenige morpholo-
Arten denselben Namen tragen. Die Namensgebung gische Merkmale zur Verfügung stehen oder weil
(Nomenklatur) wird international durch den Inter- sie sich widersprechen. In dieser Situation kann
national Code of Zoological Nomenclature (ICZN), die Molekularbiologie helfen. Da die molekulare
den International Code of Botanical Nomenclature Phylogenieforschung häufig objektive Basisdaten
(ICBN), den International Code of Nomenclature for liefern kann, ist sie bereits heute zu einer wichtigen
Cultivated Plants, Bacteriological Code und Rules for Grundlage der Systematik geworden, ohne dass da-
Virus Classification and Nomenclature geregelt. mit morphologische, entwicklungsgeschichtliche
Ähnliche Arten werden zu umfassenderen Ord- Grundlagen oder Verhaltensmerkmale unwich-
nungseinheiten, sog. Taxa (singular Taxon) in einem tig würden. Im Gegenteil, Molekularbiologie und
hierarchischen, eingeschachtelten System zusam- klassische Systematik schließen einander nicht aus,
mengefasst. Das Beschreiben und die Einordnung sondern ergänzen sich.
von Organismen in Arten oder andere Taxa nach Ein großer Vorteil der Analyse von Markerge-
festgelegten Regeln ist Aufgabe der Taxonomie. nen (s. Abschn. 4.1) besteht darin, dass homologe
Ähnliche Arten werden nach Linné in kategoriale Merkmale (s. Abschn. 4.1.2) über weite Organis-
Ränge, wie Gattungen (Genus, pl. Genera), Fami- mengruppen verglichen werden können. Dies ist
lien und Ordnungen und Klassen zusammenge- besonders dann von Bedeutung, wenn nur wenige
fasst (Aufgabe der Klassifikation). Die linnaeischen „klassische“ Merkmale innerhalb einer Organis-
Ränge kann man in der Regel an ihren Namensend­ mengruppe existieren. Bei Bakterien z. B. fußt heute
ungen erkennen (. Tab. 4.9). schon die Systematik weitgehend auf Analysen von
Eine natürliche Systematik soll den Grad der Markergenen oder kompletten Genomen, da in der
Verwandtschaft zwischen Organismen wider- Regel nur sehr wenige morphologische und andere
spiegeln. Das Ähnlichkeitskriterium ist für die biochemische Merkmale als Unterscheidungsmerk-
Ermittlung von Verwandtschaft seit jeher von male zur Verfügung stehen. Bei gut untersuchten
entscheidender Bedeutung gewesen. Ähnliche höheren Tieren und Pflanzen, bei denen meist viele
Merkmale können homolog oder analog sein morphologische Merkmale sichtbar sind, existiert
(s. Abschn. 1.2.3). Bei nicht verwandten Arten, die zwar häufig bereits eine fundierte Taxonomie. Wie
gleiche ökologische Nischen nutzen, können sich in diesem Kapitel ausgeführt, führten die geneti-
durch Anpassungsprozesse identische oder ähnli- schen Daten oft zu einigen Neuanordnungen.
che Merkmale entwickeln (Konvergenz). In diesem
Falle würde Ähnlichkeit (bedingt durch analoge
Merkmale) eine falsche Verwandtschaft vortäu- 4.2.1 Hilfe der DNA-Daten bei der
schen. So hat man bei Vögeln lange Zeit alle beu- Erkennung von Arten und
tegreifenden Arten mit gebogenen Schnäbeln, also monophyletischen Gruppen
Falken, Habichte, Adler, Geier, Eulen und selbst
Würger als Greifvögel zusammengefasst. Phylo- Die verschiedenen Artkonzepte wurden in Ab-
genierekonstruktionen über DNA-Sequenzen des schn. 1.2.3 bereits diskutiert. Um die genetischen
Cytochrom-b-Gens zeigen dagegen eine Vielzahl Daten berücksichtigen zu können, müsste der Art-
von unabhängigen Entwicklungslinien und lassen begriff folgendermaßen erweitert werden: Die Art
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 343

.. Tab. 4.9  Nomenklaturregeln: Endungen zur Bezeichnung linnaeischer Ränge oberhalb der Gattungsebene. Gattungen
und Arten tragen keine einheitlich festgelegten Endungen 1
Rang Pflanzen Pilze Tiere

Abteilung/Stamm -phyta -mycota 2


Klasse -atae (oder -opsida) -mycates

Unterklasse -idae -anae


3
Ordnung -ales -ales - formes; bei Krebsen –acea; bei Insekten -optera
4
Unterordnung -ineae -ineae

Familie -aceae -aceae -idae


5
Unterfamilie -oideae -oideae -inae

Tribus -eae -eae -ini 6


ist das terminale Glied einer evolutionären Linie Artniveaus wesentlich schwieriger zu definieren. 7
und umfasst Gruppen von Individuen, die sich von Bei gut untersuchten Organismengruppen findet
anderen Gruppen durch diagnostische Merkmale man häufig eine Zunahme der genetischen Distan-
(Morphologie, Anatomie, Physiologie, Biochemie, zen mit jeder höheren Klassifizierungsebene; eine 8
Verhalten) eindeutig als distinkt abtrennen lassen. verbindliche Richtschnur existiert jedoch nicht.
Genetische Unterschiede, die durch Analyse von Große Unterschiede findet man bei der Klassifi- 9
Markergenen (Abschn. 4.1) sichtbar werden, kön- zierung in unterschiedlichen Organismengruppen,
nen dann als zusätzliches Kriterium herangezogen die auf Traditionen in der Systematik der jeweiligen
werden, wenn sie zwischen zwei etablierten Arten Organismen zurückgehen. So beobachtet man bei
10
größer sind als die genetische Variation zwischen Pflanzen häufig große Gattungen mit genetischen
den Mitgliedern einer Art. Unterscheiden sich in- Unterschieden, die bei höheren Tieren bereits zu 11
formative Markergene signifikant zwischen zwei einer Aufgliederung in mehrere Gattungen oder
Taxa, so kann man annehmen, dass beide Taxa nicht Tribus geführt hätten. 12
länger eine Fortpflanzungsgemeinschaft bilden, Nur monophyletische Gruppen, deren Mit-
während gleiche Gensequenzen auf Genaustausch glieder sich ohne Ausnahme von einem gemein-
hindeuten (. Abb. 4.20). Nach diesem Konzept samen Vorfahren ableiten lassen, sollten (aus Sicht 13
lassen sich auch allopatrische Taxa und sich nicht- der Kladistik und Phylogenetik) als Einheiten für
sexuell fortpflanzende Organismen klassifizieren. Systematik und Klassifizierung verwendet werden 14
Junge Arten mit sehr ähnlichen oder identischen (EXKURS 4.5). Monophyletische Gruppen lassen
DNA-Sequenzen lassen sich über DNA-Marker da- sich meist über die Sequenzanalyse von Marker-
gegen kaum differenzieren (EXKURS 4.4) genen verlässlich erkennen. Wenn paraphyletische
15
Um Arten oder höhere systematische Ebenen und polyphyletische Gruppierungen über die mo-
(Gattung, Familie, Ordnung) zu klassifizieren, lekularen Stammbäume sichtbar werden, so muss 16
kann man genetische Distanzen ins Spiel bringen. die Systematik dieser Taxa neu bearbeitet werden.
Jedoch sind Klassifizierungsebenen oberhalb des Dies kann zu erheblichen Umbenennungen führen. 17
18
19
20
344 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

4.4  
  EXKURS 4.4

Erkennung von Artstatus


Wenn sich zwei Taxa morphologisch durch diagnos- etablierten Arten, z. B. einer Gattung oder Familie, so
tische Merkmale unterscheiden, werden Unter- kann man eine untere genetische Distanz definieren,
schiede auf der Sequenzebene geeigneter Marker- die für abgegrenzte („gute“) Arten typisch ist.
gene sicher als Bestätigung dafür genommen, dass Findet man jetzt genetische Distanzen zwi-
beide Taxa bereits sexuell isoliert sind; andernfalls schen zwei Taxa, beispielsweise zwischen zwei Un-
wären die Sequenzen eines Markergens zwischen terarten oder Populationen, die diesen „Schwellen-
zwei Taxa identisch oder würden nur in einem Rah- wert“ überschreiten, so ist dies ein Hinweis darauf,
men schwanken, wie er innerartlich üblich ist. Gene- dass beide Taxa bereits seit längerer Zeit reproduk-
tische Unterschiede, die größer als die Variation inner- tiv isoliert sein müssen. Gibt es jetzt noch zusätzli-
halb einer Population sind, deuten demnach bei zwei che diagnostizierbare morphologische, ökologische
isolierten Taxa darauf hin, dass sich beide Taxa nicht oder ethologische Unterschiede, so liegen mit gro-
länger in einer Fortpflanzungsgemeinschaft befinden ßer Wahrscheinlichkeit zwei distinkte Arten vor.
und dass seit einiger Zeit kein Genfluss mehr statt- Schwieriger wird die Situation bei Taxa, die
fand. Um Speziationsfragen zu klären, müssen wir sich morphologisch nur geringfügig (sog. krypti-
aber die Sequenzvariabilität des entsprechenden sche Arten), genetisch aber deutlich unterschei-
Markergens in der zu untersuchenden Organismen- den. Da die genetischen Differenzen für das Vor-
gruppe kennen, da die molekulare Uhr nicht in allen handensein von sexueller Isolation sprechen,
Organismen gleich schnell geht (s. Abschn. 4.1.2). wären Sequenzunterschiede, die in derselben
Kennt man die genetischen Distanzen zwischen gut Größenordnung liegen wie bei etablierten Arten

DNA - Distinkte, Fortpflanzungs-


Sequenz- diagnostische Verbreitung gemeinschaft DIAGNOSE
unterschiede? Merkmale
1 Art
N
J 1 Art (z.B. Sexualdimorphismus)
keine S
J N 2 junge Arten
A
J 1 Art (genetischer Polymorphismus)
S
N 2 junge kryptische Arten
N
A 1 Art (Polymorphismus, Dimorphismus)
J
geringe S
J N 2 junge Arten
A
1 Art (genetischer Polymorphismus)
J
S
N 2 etablierte kryptische Arten
N
A 1 Art (Polymorphismus, Sexualdimorphismus)
J
große S
J N 2 „gute“ Arten
A

.. Abb. 4.20  Entscheidungshilfe zur Artdiagnose unter Berücksichtigung von molekularen und morphologischen
Merkmalen und der Frage, ob die Taxa allopatrisch oder sympatrisch vorkommen und in einer kontinuierlichen Fort-
pflanzungsgemeinschaft stehen. N = nein, J = ja, S = sympatrisch, A = allopatrisch
7
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 345

 EXKURS 4.4 (Fortsetzung) 

Cytochrom b 1
NJ
Gallus 2
100 Calonectris leucomelas
85 97
Calonectris diomedea- Gelbschnabel-Sturmtaucher
Calonectris borealis Sturmtaucher 3
100 Puffinus assimilis
95
100
Puffinus mauretanicus- Balearen-Sturmtaucher 4
Puffinus yelkouan- Mittelmeer-Sturmtaucher
88 Puffinus p. puffinus- Schwarzschnabel-Sturmtaucher
68 Puffinus creatopus 5
Pterodroma hypoleuca
100 Procellaria westlandica
99 Procellaria cinerea Sturmvögel 6
Bulweria bulwerii

95
Daption capense 7
Fulmarus glacialis
100 Fulmarus glacialoides
Macronectes giganteus 8
Diomedea antipodensis
100 Diomedea amsterdamensis
100
Diomedea exulans dabbenena
9
100 Diomedea epomophora sanfordi
Phoebastria albatrus
Albatrosse 10
Phoebastria irrorata
100 Phoebastria immutabilis
87 Phoebastria nigripes 11
100 100 Phoebetria fusca
Phoebetria palpebrata
Thalassarche bulleri bulleri 12
96 Thalassarche cauta cauta
100 Thalassarche chlororhynchos
Thalassarche melanophris
13
Thalassarche chrysostoma
95
Oceanodroma furcata 14
Hydrobates pelagicus Sturmschwalben
100 Oceanodroma castro
Sula bassana 15
Phalacrocorax pelagicus
1 % Nucleotidsubstitution
16
.. Abb. 4.21  Molekulare Phylogenie der Schwarzschnabel-Sturmtaucher-Gruppe, rekonstruiert über Nucleotidsequen-
zen des Cytochrom-b-Gens (nach Heidrich et al. 1998)
17
innerhalb der zu untersuchenden Organismen-
gruppe, ein guter Hinweis für das Vorliegen dis-
logisch differenzieren (beispielsweise die Cichli-
den in ostafrikanischen Seen), noch keine oder nur
18
tinkter Arten. Bedenkt man, dass Sequenzunter- geringe genetische Unterschiede feststellen. Diese
schiede von Markergenen erst nach längerer Einschränkungen muss man berücksichtigen, 19
Divergenz signifikante Unterschiede aufweisen, wenn man Sequenzunterschiede für taxonomi-
wird man bei jungen Arten, die sich rasch morpho- sche Zwecke nutzen möchte. . Abbildung 4.20 20
7
346 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

 EXKURS 4.4 (Fortsetzung) 
fasst diese Argumente in ein mögliches Diagnose- terschiede innerhalb der jeweiligen Unterarten
schema zusammen, das die klassische Artdiagnose (. Abb. 4.21), jedoch wesentlich größere Unter-
ergänzt. Dieses Schema erfasst aber keineswegs schiede zwischen den Unterarten: yelkouan weist
Spezialfälle und alle Ausnahmen. 2,2 % Nucleotidsubstitutionen zu mauretanicus auf
Analysiert man nur mitochondriale oder plas- und beide Taxa haben eine Distanz von 3,3 % zu P.
tidäre Gene, so erfasst man in vielen Fällen nur p. puffinus. Bei den akzeptierten Sturmtaucherarten
maternale Linien. Wenn eine Hybridisierung zwi- liegt der Schwellenwert für zwischenartliche Dis-
schen zwei Arten mit anschließender Introgression tanzen bei 2–3 %. Aufgrund der genetischen, mor-
erfolgt, können bei derselben Art zwei mitochon- phologischen und ökologischen Daten wurden die
driale Haplotypen in der Population vorhanden beiden Mittelmeer-Sturmtaucher als distinkte Arten
sein, welche die Artdiagnose erschweren. Der zu- P. yelkouan und P. mauretanicus abgetrennt
sätzliche Einsatz von Kern-DNA (ncDNA), die von (. Abb. 4.21). Die Beschreibung von P. mauretanicus
beiden Eltern vererbt wird, ist in diesen Fällen hilf- als eigene Art hat unmittelbare Auswirkungen auf
reich (. Abb. 4.13). seinen Schutzstatus. Als Unterart wurde er nach den
Die Speziationsproblematik soll kurz am Bei- Kriterien von Birdlife International in der SPEC-Kate-
spiel des Schwarzschnabel-Sturmtauchers (Puffinus gorie 4 geführt. Als eigenständige Art rückt er nun
puffinus) erläutert werden. Schwarzschnabel-Sturm- mit maximal 4000 Brutpaaren in SPEC-Kategorie 2
taucher brüten kolonieweise auf Inseln des Nordat- auf und hat damit einen wesentlich höheren
lantiks sowie im Mittelmeergebiet, wo man bislang Schutzstatus.
zwei Unterarten P. p. yelkouan und P. p. mauretanicus Ebenso wie bei den Schwarzschnabel-Sturmtau-
unterschied. P. p. yelkouan ist hauptsächlich im mitt- chern wird man bei einer ganzen Reihe anderer Vo
leren und östlichen Mittelmeer verbreitet, während gelarten, in denen Subspezies unterschieden wur-
P. p. mauretanicus ausschließlich auf den Balearen den, distinkte Arten neu beschreiben können. Man
brütet. Beide Mittelmeerunterarten unterscheiden schätzt, dass durch die molekularen Analysen die
sich in Gefiederfärbung, Größe und in ihrem Zug- Zahl der Vogelarten von heute 10.300 auf maximal
verhalten von den Schwarzschnabel-Sturmtauchern 20.000 Arten steigen wird. Für andere Organismen-
der atlantischen Inseln. Die Analyse des Cytochrom- gruppen, in denen Unterarten unterschieden wer-
b-Gens zeigte populationsspezifische Sequenzun- den, gelten vermutlich ähnliche Bedingungen.

EXKURS 4.5  

Kladistik
Die Kladistik erkennt nur monophyletische paraphyletisch bezeichnet (s. Beispiel Reptilien
Gruppen als Basis für eine Klassifizierung an; d. h. und Vögel, Abschn. 4.2.2). Wenn ein Taxon Nach-
para- und polyphyletische Gruppierungen gelten kommen unterschiedlicher Stammarten vereint,
als artifiziell. Im Gegensatz dazu akzeptiert die so wird es polyphyletisch genannt (z. B. Würmer,
evolutionäre Klassifikation, die von Ernst Mayr Geier, Algen). Nach Hennig entstehen neue Arten,
begründet wurde, auch paraphyletische Grup- wenn sich eine Stammart in zwei Schwesterarten
pen. Eine Gruppe ist monophyletisch, wenn alle auftrennt (Dichotomie). Daher kann man alle Art-
Nachkommen (ohne Ausnahme) einer Stammart spaltungsereignisse im Evolutionsverlauf als Kla-
darin enthalten sind. Haben zwei Monophyla dogenese ansehen und daraus dichotome Stamm-
eine gemeinsame Stammart, so werden sie als bäume rekonstruieren.
Schwestergruppen bezeichnet. Eine Gruppe, die Die Analyse von Nucleotidsequenzen von Mar-
ausschließlich Nachkommen einer Stammart ent- kergenen kann mithelfen, para- und polyphyleti-
hält, aber diese nicht einheitlich benennt, wird als sche Gruppen zu identifizieren (. Abb. 4.22). Am
7
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 347

 EXKURS 4.5 (Fortsetzung) 
1
Merkmalstypen Taxonomische Gruppen
a b: Synapomorphie
a : Symplesiomorphie Monophylie 2
Außengruppe Außengruppe
a
b Art A Bubo bubo
3
b Art B Bubo virginianus 4
b Art C Bubo nipalensis
Art D Bubo lacteus 5
b
b b: Autapomorphie 6
c: Synapomorphie Paraphylie
a Außengruppe Außengruppe
b 7
Art A Nyctea scandiaca
c
Art B Bubo virginianus 8
c Art C Bubo bengalensis
c Art D Bubo bubo 9
c a: Symplesiomorphie 10
c: Konvergenz Polyphylie
Außengruppe Außengruppe 11
Art A NN
Art B Asio otus
12
c Art C Otus leucotis
Art D Otus scops
Otus longicornis
13
Art E
Art F Otus lettia
14
.. Abb. 4.22  Schematische Darstellung der verschiedenen Merkmalskategorien (Symplesiomorphie, Synapomor-
phie, Autapomorphie) und taxonomischen Gruppierungen (Monophylie, Paraphylie und Polyphylie). Symplesiomor- 15
phe Merkmale sind ursprünglich in der Ausgangsart und in allen davon abgeleiteten Taxa vorhanden; synapomorphe
Merkmale sind jünger und abgeleitet und bei allen Vertretern einer monophyletischen Gruppe vorhanden; autapo-
morphe Merkmale sind abgeleitet und treten nur isoliert in einem terminalen Taxon auf. Alle Mitglieder einer mono- 16
phyletischen Gruppe (A) haben denselben gemeinsamen Vorfahren; Angehörige von paraphyletischen Gruppen (B)
lassen sich zwar auf eine letzte gemeinsame Stammform zurückführen, die sie jedoch mit Angehörigen einer anderen
Gruppierung teilen. Angehörige polyphyletischer Gruppen (C) gehen auf als mehr als eine Stammart zurück 17
Beispiel der molekularen Systematik der Eulen soll gruppieren sich (clustern) als Schwestergruppe zu
das Vorgehen erläutert werden. den Strigidae (Käuze, Ohreulen und Uhus). Inner- 18
. Abbildung 4.23 zeigt die molekulare Phylo- halb der Strigidae bilden die Steinkäuze, Raufuß-
genie der Eulen, die über Nucleotidsequenzen des käuze und Sperlingskäuze monophyletische Grup- 19
Cytochrom-b-Gens rekonstruiert wurden. Die Ver- pen, die von einem ursprünglich gemeinsamen
treter der Tytonidae (Schleiereule und Verwandte) Vorfahren abstammen (Gruppe der Käuze).
20
7
348 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

 EXKURS 4.5 (Fortsetzung) 

Maximum Likelihood
neuweltlich B. (Scotopelia) peli
Bubo nipalensis
neuweltlich + Bubo sumatrana
altweltlich B. (Ketupa) zeylonensis
Bubo lacteus
altweltlich Bubo africanus Uhus
Bubo bengalensis
Bubo (b.) ascalaphus
Namensänderung Bubo b. bubo
Bubo (b.) interpositus
Bubo magellanicus
Bubo virginianus
B. (Nyctea ) scandiacus
Strix aluco
Strix uralensis
Strix nebulosa Waldkäuze
Strix butleri
Strix woodfordii
Strix rufipes
Megascops (O.) albogularis Neuweltliche
Megascops (O.) choliba Kreischeulen
Megascops (O.) asio
Megascops (O.) atricapillus
Megascops (O.) usta
Megascops (O.) roboratus
Megascops (O.) hoyi
Psiloscops (O.) flammeolus
Asio otus
Strigidae Ptilopsis (O.) leucotis Weißgesichtseule
Otus bakkamoena
Otus lettia
Otus megalotis Zwergohreulen
Otus longicornis
Otus scops
Ninox boobook Falkenkäuze
Ninox scutulata
Aegolius a. acadicus
Aegolius harisii Raufußkäuze
Aegolius funereus
Athene cunicularia
Athene noctua (Europa)
Steinkäuze
Athene (n.) lilith (Israel)
Phalaenopsis (G.) bolivianum Sperlingskäuze
Phalaenopsis (G.) californicum
Phalaenopsis (G.) brasilianum
Phalaenopsis (G.) tucumanum
Phalaenopsis (G.) peruanum
Phalaenopsis (G.) nanum
Glaucidium passerinum
Glaucidium tephronotum
Surnia ulula Sperbereule
Phodilus badius
Tyto alba Maskeneule
Tyto pratincola Schleiereulen
Tinamus major
Tytonidae
.. Abb. 4.23  Para- und Polyphylie in der Taxonomie der Eulen, rekonstruiert über Nucleotidsequenzen des Cytochrom-
b-Gens. Nach Wink u. Heidrich (2009)

Die zweite große Gruppe innerhalb der Strigi- den Uhus. Demnach hat das Merkmal „Ohren“ nur
dae umfasst die „Ohreulen“ der Gattungen Otus, eine sehr begrenzte systematische Bedeutung. In-
Bubo und Asio; die Waldkäuze und Verwandte (Gat- nerhalb dieser Ohreulen gibt es mehrere Gattun-
tung Strix) gruppieren sich als Schwestergruppe zu gen, in denen offensichtlich para- und polyphyleti-

7
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 349

 EXKURS 4.5 (Fortsetzung) 
sche Beziehungen vorkommen. Da sich diese Eulen Para- und polyphyletische Gruppierungen er- 1
oft nur wenig in der Gefiederfärbung unterschei- kennt man innerhalb der Uhus (. Abb. 4.23). Die
den, hat man sie zu gemeinsamen Gruppen vereint, Fischuhus der Gattung Ketupa teilen mit Bubo ni- 2
obwohl die Analyse der angeborenen Lautäuße- palensis und B. sumatrana einen gemeinsamen
rungen, der bei Eulen eine große taxonomische Vorfahren, der vermutlich im südlichen Asien zu
Bedeutung zukommt, eine wesentliche stärkere Hause war. Die Fischuhus stehen den eigentlichen
3
Unterteilung nahe legt. Uhus auch morphologisch nahe. Ähnliches gilt für
Die Gattung Otus (nach alter Systematik) z. B. die Fischeulen der Gattung Scotopelia, die im sel- 4
clustert in drei unabhängige, jeweils monophy- ben Cluster wie Ketupa und Bubo nipalensis/B. su-
letische Gruppen und wird dadurch zu einer po- matrana liegen. Die in der Arktis lebende Schnee-
5
lyphyletischen Gruppe. Die Ohreulen der Neuen eule Nyctea scandiaca hat mit den amerikanischen
Welt, die man inzwischen als eigene Untergattung Uhus einen gemeinsamen Vorfahren und würde
Megascops abtrennt (König u. Weick 2008), trenn- die Gattung Bubo paraphyletisch machen. Ein Aus- 6
ten sich schon vor mindestens 6–8  Mio. Jahren weg wäre, entweder die Gattungen Ketupa, Scoto-
von den altweltlichen Zwergohreulen der Gattung pelia und Nyctea einzuziehen und sie mit Bubo zu 7
Otus; sie bilden eine artenreiche Gruppe, die sich vereinen oder aber die große Gattung Bubo in
an unterschiedliche Lebensräume angepasst hat.
Die altweltlichen Zwergohreulen unterscheiden
mehrere neue Gattungen aufzuteilen. Vogeltaxo-
nomen haben diese Erkenntnisse bereits konse-
8
sich von den afrikanischen Büscheleulen, die man quent umgesetzt: die amerikanischen Kreischeu-
besser als Gattung Ptilopsis abtrennt. Ptilopsis ist len wurden in die Gattung Megascops, die 9
die Schwestergruppe der Waldohreule (Asio otus), amerikanischen Sperlingskäuze in die Gattung
zu der sie auch morphologische Ähnlichkeiten Phalaenopsis sowie Ketupa und Nyctea in die Gat- 10
aufweist. tung Bubo überführt.

11
4.2.2 Molekulare Phylogenie führt, kommt man aber dem Ziel in der Regel ein 12
ausgewählter Stück näher. Diese Einschränkung sollte der Leser
Organismengruppen bei der Betrachtung von Stammbäumen immer im
Gedächtnis behalten. 13
Die moderne Biologie, insbesondere Zell-, Mole- Die Zahl der bereits publizierten molekularen
kular- und Entwicklungsbiologie, beschäftigt sich Stammbäume für einzelne Gruppen oder größere 14
mit wenigen Modellorganismen und kaum mit der Organismenreiche hat bereits einen erstaunlichen
Breite der Biodiversität. Wichtige Modellorganis- Umfang angenommen. Es würde den Rahmen
men wurden bereits in . Tab. 3.4 vorgestellt. Sehr dieses Buches sprengen, wenn wir alle Bereiche
15
leicht werden Befunde, die in einem Modellorganis- ausführlich dokumentieren wollten. Nachfolgend
mus gefunden wurden, verallgemeinert. Vor diesen sind molekulare Stammbäume einiger ausgewähl- 16
Fehlern könnte eine profunde Kenntnis der Phylo- ter Gruppen dargestellt. Viele der hier besprochen
genie der Modellorganismen bewahren. Stammbäume beruhen nicht nur auf den Sequen- 17
Evolutionsbedingt kann es nur einen einzigen zen eines einzelnen Markergens, sondern bereits auf
objektiven Stammbaum für jede Gruppe von Or- der Analyse von mehreren Markergenen (Multigen-
ganismen geben. Bedingt durch die Komplexität, Vergleich) bzw. auf partiellen und kompletten Ge- 18
das Fehlen geeigneter Merkmale und die Unvoll- nomdaten (phylogenomics).
ständigkeit der Datensätze sind die meisten Bäume, 19
die wir heute rekonstruieren, nur Annäherungen Evolution der Organismenreiche
an den einzig richtigen Baum. Mit jedem Taxon Schon Haeckel, der sich als früher Evolutionsbio-
oder Merkmal, welches man der Datenmatrix zu- loge einen Namen machte (s. Abschn. 1.1.9), pu-
20
350 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

blizierte 1866 Stammbäume der Organismen, die anschaulich belegen. Als Beispiel für ein Protein-
vom Grundverständnis her auch den molekularen codierendes Gen wurde das atpB-Gen (codiert F-
Stammbäumen durchaus entsprechen. Sie sollten Typ-ATPase) gewählt, das sowohl bei Prokaryoten
phylogenetische Zusammenhänge widerspiegeln. als auch in Mitochondrien und Chloroplasten der
Ähnlich wie bei kladistischen und molekularen Eukaryoten vorkommt (. Abb. 3.17, . Abb. 3.18).
Phylogenien legte Haeckel dichotome Verzwei- Wie man . Abb. 4.26 entnehmen kann, existieren
gungen als Grundschema zugrunde (. Abb. 4.24). drei Großgruppen: Die Gene der Archaea bilden
Haeckel nahm also an, dass aus einer Vorläuferart eine Gruppe, getrennt von denen der Cyanobak-
nach Trennung zwei neue Arten entstehen. terien und Chloroplasten (Algen, Moose, Farne
Um phylogenetische Beziehungen aufzuklären, und höheren Pflanzen) sowie von denen der Bak-
die von den Archaea bis hin zu Homo sapiens rei- terien und den Mitochondrien (Pflanzen, Pilze und
chen, benötigt man konservative molekulare Mar- Tiere). Cyanobakterien und Chloroplasten sowie
ker (s. Abschn. 4.1). Bislang wurden insbesondere α-Proteobakterien und Mitochondrien bilden je-
rRNA-Gene oder von DNA abgeleitete Aminosäu- weils Schwestergruppen, so wie man es aufgrund
resequenzen konservativer Proteine herangezogen. der Endosymbiontenhypothese erwarten würde.
In . Abb. 3.16 wurde bereits ein Stammbaum des Die Sequenzen der atpB-Gene in Plastiden spiegeln
Lebens vorgestellt (EXKURS 3.1, Abschn. 3.2.7), der die Evolution von den Algen bis zu den höheren
die Zusammenhänge zwischen den Organismen- Pflanzen gut wider. Die Sequenzen der mitochon-
reichen illustriert. Dieser Stammbaum basiert im drialen atpB-Gene bilden drei Gruppen mit Pilzen,
Wesentlichen auf den Nucleotidsequenzen der Tieren und Pflanzen, die erwartungsgemäß jeweils
Small-subunit-rRNA (s. Abschn. 3.2.6). Drei Reiche monophyletisch sind.
lassen sich gut erkennen, die beiden Prokaryoten- Diese Stammbäume beantworten nicht die
reiche Archaea und Bacteria sowie das Reich Euka- Frage, ob die Endosymbiose, die zu Mitochondrien
ryota (oder Eucarya) (. Abb. 3.16). Für die basale und Chloroplasten führte, im Verlauf der frühen
Verzweigung der drei Reiche werden verschiedene Evolution nur einmal oder mehrfach erfolgte. Neu-
Möglichkeiten diskutiert. Entweder sind Archaea erdings nimmt man an, dass dieser Prozess mehr-
und Bacteria oder Archaea und Eukaryota Schwes- fach und unabhängig stattgefunden hat (EXKURS
tergruppen, die einen gemeinsamen Vorfahren (die 3.1, Abschn. 3.2.7); insbesondere bei diversen Algen
„Urzelle“) haben. Einige Autoren diskutieren sechs sind „sekundäre“ Endosymbiosen bekannt. Auch
Lebensreiche mit Bacteria, Protozoa, Animalia, der Verlust von Mitochondrien und Chloroplasten
Fungi, Plantae und Chromista (Cavalier-Smith ist bei parasitisch lebenden Einzellern mehrfach
2003). 2006 wurde ein neuer Stammbaum des aufgetreten (s. Abschn. 4.2.2).
Lebens publiziert (. Abb. 4.25), welcher auf den
Nucleotidsequenzen von 31 orthologen Genen aus Evolution der Prokaryoten
191 Organismen beruht, deren Genom bereits se- Für die Systematik der Bakterien, die man morpho-
quenziert und annotiert wurde (. Tab. 3.4). Nach logisch nur schlecht differenzieren kann, hat man
diesem Stammbaum gibt es drei große Domänen; schon frühzeitig biochemische und molekulare Mar-
die Bacteria bilden die Basis von der sich Archaea ker eingesetzt. Die heutige Systematik der Bakterien
und Eukaryota als Schwestergruppen ableiten las- beruht im Wesentlichen auf Nucleotidsequenz-Ana-
sen. lysen von Markergenen. Die Evolution der Bakterien
Der Verlauf der frühen Evolution und die mut- ist teilweise in . Abb. 4.25 wiedergegeben, für die
maßlichen Zeitpunkte, zu denen Zellkern und Mi- ein vergleichsweise großer Datensatz von vollständig
krotubuli evolvierten und die Eucyten durch Endo- sequenzierten Taxa zugrunde liegt. Für die Phyloge-
symbiose Mitochondrien erwarben, wurden bereits nie und Artbildung der Bakterien spielt horizonta-
im EXKURS 3.1 (s. Abschn. 3.2.7) diskutiert. Die En- ler Gentransfers eine sehr große Rolle (s. EXKURS
dosymbiontenhypothese lässt sich über die Analyse 3.5, Abschn. 3.4.4). Aus dieser Tatsache haben einige
von Genen, die sowohl in Prokaryoten als auch in Wissenschaftler geschlossen, dass die Evolutionsthe-
Mitochondrien und Chloroplasten vorkommen, orie von Darwin nicht stimmen würde.
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 351

.. Abb. 4.24  Der Stammbaum des


Lebens. Nach Haeckel (1866) 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
Archaea hypersaline Gewässer. Sie kommen auch im Verdau-
Archaea (oder Archaebakterien) sind ausnahms- ungstrakt der Wirbeltiere vor, so z. B. im Pansen der 16
los Prokaryoten mit variabler Struktur (EXKURS Wiederkäuer.
3.1, Abschn. 3.2.7). Sie können rund oder gelappt Innerhalb der Archaea mit ca. 260 bekannten 17
sein oder Stäbchen- bzw. Spiralformen aufweisen. Arten unterscheidet man aufgrund von DNA-Merk-

--
Sie leben einzeln oder in Aggregaten. Archaea sind malen drei Gruppen (. Abb. 4.25):
aerob, fakultativ oder obligatorisch anaerob. Wei- Nanoarchaeota 18

-
tere biochemische und physiologische Eigenschaf- Crenarchaeota
ten sind in . Tab. 3.6 zusammengefasst. Archaea Euryarchaeota 19
sind häufig Bewohner extremer Lebensräume, so
besiedeln sie beispielsweise heiße Vulkanquellen Die Crenarchaeota (griech. Krne = Quelle) umfas-
am Meeresgrund, kochende Schlammlöcher oder sen Arten, die an warmen bis heißen Standorten
20
352 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.25  Phylogenetische Beziehungen zwischen den Organismenreichen Archaea, Bacteria und Eukaryota, rekonstruiert
über Nucleotidsequenzen von 31 universell vorkommender orthologer Gene (8090 Merkmale) von 191 Arten, deren Genome
komplett sequenziert und annotiert wurden (nach Ciccarelli et al. 2006, Bildrechte liegen bei AAAS). Der gemeinsame Ast, der
zu Archaea und Eukaryota führt, wurde aus Platzgründen verkürzt
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 353

(bis 100 °C; thermophil bzw. hyperthermophil) anpassen mussten, um unter diesen Bedingungen
vorkommen; beispielsweise in den heißen Quellen funktionsfähig zu sein. Die Ernährung der Bakte- 1
des Yellowstone Nationalparks (Wyoming, USA), in rien ist sehr divers; offenbar sind Bakterien fähig,
hydrothermalen Ozeanquellen oder in den Schwe- nahezu alle verfügbaren energiereichen Stoffe für 2
felböden des Vesuvs. Einige Archaea sind acidophil ihren Stoffwechsel zu nutzen.
und können hohe Säuregehalte tolerieren; die meis- Bakterien leben heterotroph oder autotroph.
ten betreiben einen anaeroben Schwefelstoffwech- In unterschiedlichen Gruppen entstand (mögli- 3
sel. Die Ernährungsweise ist autotroph oder hete- cherweise parallel) die Fähigkeit zur Photosyn-
rotroph. Innerhalb der Crenarchaeota werden die these, z. B. bei den Chlorobi, Cyanobacteria und 4
Thermoproteales, Igneococcales und Sulfolobales ε-Protobacteria. Sie nutzen Bacteriochlorophyll und
unterscheiden (. Abb. 4.25). Chlorophyll a als Photosynthesepigmente. Wie be-
Die Euryarchaeota umfassen mesophile (leben reits im letzten Kapitel ausgeführt, erwarben Algen
5
zwischen 20 °C und 40 °C), aber nicht acidophile und Pflanzen die Fähigkeit zur Photosynthese durch
Arten, die häufig Methan produzieren (methano- Aufnahme von Cyanobakterien vor vermutlich 6
gen) und/oder halophil sind (d. h. in hypersalinen 1 Mrd. Jahren. Andere Gruppen sind in der Lage,
Gewässern leben). Ihre Ernährung ist heterotroph anorganische Materie zu nutzen (chemoautotrophe 7
oder autotroph, z. T. wird Photophosphorylierung und chemolithoautotrophe Arten). Die auf orga-
betrieben. Innerhalb der Euryarchaeota werden die nische Materie angewiesenen heterotrophen Bak-
Methanopyrales, Thermococcales, Methanococca- terien leben entweder aerob und setzen Glykolyse 8
les, Methanbakterien, Thermoplasmen, Archaeoglo- mit anschließender Atmungskette zur Energiege-
bales, Methanomicrobiales, Methanosarcinales und winnung ein (aus ihnen entstanden vor ca. 1,4 Mrd. 9
Halobakterien unterschieden (. Abb. 4.25). Jahren die Mitochondrien). Viele Arten leben an-
Die Nanoarchaeota umfassen nur eine Art Na- aerob; sie bauen organische Materie fermentativ ab
noarchaeum equitans, die symbiotisch oder para- (ihnen fehlen die Enzyme der Atmungskette). Einer
10
sitär mit anderen Archaea in Extremlebensräumen Reihe von Bakterien ist es gelungen, als Parasiten in-
(heiße Sauerstoff-freie Quellen) zusammenlebt. Die trazellulär zu leben; dazu zählen die Mycoplasmen, 11
sehr kleine Art wurde erst 2002 von K.O. Stetter in Rickettsien und Chlamydien. Viele dieser Arten
Regensburg gefunden, aber bereits 2004 komplett sind Krankheitserreger bei Mensch und Tier. Die 12
sequenziert. Ihr Genom ist mit 490.000 BP äußerst diversen Ernährungsweisen treten in allen Bakte-
klein. riengruppen nebeneinander auf, wobei innerhalb
von Gattungen häufig ähnliche Lebensweisen vor- 13
Bacteria herrschen, die offenbar von einem gemeinsamen
Bakterien besiedeln nahezu alle Lebensräume und Vorfahren übernommen wurden. 14
kommen in einer sehr großen Diversität vor. Ver- Aufgrund von DNA-Merkmalen (. Abb. 4.25)
mutlich stellen die ca. 9000 bislang beschriebenen und biochemischen Eigenschaften werden folgende
15
--
und kultivierbaren Arten nur einen kleinen Anteil Gruppen unterschieden:
der auf der Erde real vorkommenden Arten dar. Proteobakterien
Biochemische Eigenschaften und die frühe Evolu- α-Proteobakterien: Umfangreiche Gruppe 16
tion der Bakterien wurden bereits in EXKURS 3.1 mit über 1000 Arten, die in nährstoffarmer
(s. Abschn. 3.2.7) sowie in . Tab. 3.6 erörtert. Umgebung leben können (z. B. chemoli- 17
Bakterien waren die ersten Lebewesen, die auf thotrophe Arten und Nichtschwefel-Pur-
der Erde vor über 3,5 Mrd. Jahren evolvierten. Bak- purbakterien). Auch die landwirtschaftlich
terien waren in der Lage, sich an unterschiedliche wichtigen Agrobakterien, stickstoff-fixie- 18
Lebensbedingungen anzupassen. Einige Arten rende Rhizobien sowie nitrifizierende Nit-
können bei sehr hohen Temperaturen (z. B. in Vul- robacter- oder Nitrococcus-Arten fallen in 19
kanquellen) oder nahe dem Gefrierpunkt leben. Das diese Gruppe. Auch Rickettsia, ein bedeut-
setzt natürlich voraus, dass die Eigenschaften von samer pathogener Mikroorganismus, zählt
Proteinen und Biomembranen sich entsprechend zu den α-Proteobakterien. Man nimmt
20
354 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.26  Phylogenie des atpB-Gens aufgrund von Aminosäurensequenzen, die von Nucleotidsequenzen abgeleitet wur-
den. Darstellung als Kladogramm, das mit dem Neighbour-Joining(NJ)-Verfahren errechnet wurde. Die plastidären Sequenzen
sind grün, die mitochondrialen Sequenzen gelb unterlegt
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 355

an, dass sich die Mitochondrien aus dieser haben eine basale Stellung im Tree of Life; dies
Gruppe ableiten (. Abb. 4.26; EXKURS unterstützt die Vorstellung, dass gram-positive 1

- -
3.1, Abschn. 3.2.7). Organismen die Vorfahren der Bacteria waren.
β-Proteobakterien: Morphologisch und Actinobakterien: Umfangreiche gram- 2
biochemisch heterogene Gruppe (über 460 positive Bakteriengruppe (> 1400 Arten), zu
Arten) mit farblosen Schwefelbakterien und der wichtige Produzenten von natürlichen
einigen pathogenen Arten, wie z. B. Neisse- Antibiotika gehören (früher auch Actinomyce- 3
ria gonorrhoeae (Erreger der Gonorrhoe) ten genannt), vor allem Vertreter der Gattung
oder Bordetella pertussis (Keuchhusten- Streptomyces. Ferner fallen in diese Gruppe 4
-
Erreger) einige humanpathogene Arten, z. B. der
γ-Proteobakterien: wichtige und vielfältige Diphtherie-Erreger Corynebacterium diphthe-
Gruppe von gram-negativen Bakterien riae, der Lepra-Erreger Mycobacterium leprae
5
(über 1500 Arten), u. a. Schwefel-Pur- und der Tuberkulose-Erreger Mycobacterium
purbakterien, biolumineszente Arten in tuberculosis. Aber auch das Darmbakterium 6
Leuchtorganen der Fische (Photobacte- Bifidobacterium bifidus sowie das für die Käse-
rium), intrazelluläre Parasiten (Legionella, herstellung und bei der Entstehung der Akne 7
Coxiella), pathogene Bakterien (Pest-Erre- wichtige Propionibacterium zählt man zu den

-
ger Yersinia pestis; Cholera-Erreger (Vibrio Actinobacteria.
cholerae); Typhus-Erreger (Salmonella Spirochaeten: Gruppe von meist lang ge- 8
typhi), Endosymbionten (Buchnera) und streckten und schraubenförmigen Bakterien
9
-
Enterobakterien (Escherichia coli). (> 340 Arten), die sich mittels Bakteriengei-
δ-Proteobakerien: Myxobakterien (bilden ßeln auch in zähflüssigen Medien fortbewegen
zeitweise mehrzellige Fruchtkörper), ferner können. In diese Gruppe fallen einige human-
10
-
Bdellovibrio und Desulfovibrio (> 180 Arten). pathogene Bakterien, beispielsweise der in
ε-Proteobakterien: Gruppe mit über 180 Zecken lebende Erreger der Lyme-Borreliose
Arten, darunter der humanpathogene Heli- (Borrelia burgdorferi) oder der Syphilis-Erreger 11

-
cobacter, der Gastritis und Magengeschwüre (Treponema pallidum).

- 12
hervorrufen kann. Planctomyceten: Kleine Gruppe (> 80 Arten)
Firmicutes: Umfangreiche monophyleti- von Bakterien mit fibrillärem Anhang (sog.

-
sche Bakteriengruppe mit über 3100 Arten, Stiel), die im Süßwasser leben.
zu denen zellwandlose Mycoplasmen (mit Chlamydien: Kleine Gruppe (> 110 Arten) von 13
Erregern einer speziellen Lungenentzündung) Bakterienkokken mit sehr kleinem Genom,
und gram-positive Clostridien und Bazillen die als intrazelluläre Parasiten von Vögeln und 14
zählen. Clostridien sind Anaerobier mit Spo- Säugetieren leben. Wichtige pathogene Chla-
renbildung; zu ihnen zählen die Erreger von mydien sind: Chlamydia psittaci (Erreger der
Tetanus (Chlostridium tetani), Wundbrand (C. Psittacose), C. trachomatis (Trachom-Erreger;
15
perfringens) und von Botulismus (C. botuli- einer Augenkrankheit, die bei ca. 20 Mio.
num). Auch Bacillus bildet Sporen; Bazillen Menschen Blindheit verursacht) und C. pneu- 16
sind stäbchenförmig und bewegen sich mit moniae (Erreger einer Form der Lungenent-

- 17
Bakteriengeißeln fort; zu ihnen zählen auch zündung).
humanpathogene Bakterien, z. B. der Anthrax- Bacteroide: Strikte Anaerobier, die in der
Erreger B. anthracis oder der insektenpatho- Mundhöhle und im Verdauungstrakt beim
gene B. thuringensis. Humanpathogene Arten, Menschen und Wiederkäuern leben (> 270 18
die teilweise schon resistent gegen Antibio- Arten). Bacteroides ruminicola lebt im Pansen

- 19
tika geworden sind, findet man auch in den und ist in der Lage, Cellulose abzubauen.
Gattungen Streptococcus und Staphylococcus. Grüne Schwefelbakterien/Chlorobi: Kleine
Für die Biotechnologie sind Vertreter der Gruppe strikt anaerob lebender grüner Schwe-
Gattung Lactobacillus wichtig. Die Firmicutes felbakterien (Chlorobium, Pelodictyon), die
20
356 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

Schwefel und Sulfide als Elektronendonator komplex aufgebauten Cytoskeletts (. Tab. 3.5). Die
nutzen. Besiedeln schlammige Gewässer und Taxonomie der einfachen Eukaryoten, beispielsweise
Meeressedimente. Bilden mit Chlamydiae, Einzeller (Protozoen), steht noch vor erheblichen
Fibrobacteres, Bacteroidetes, Actinobacteria, Problemen. Dies gilt insbesondere für parasitische
Spirochaetes und Planctomyces eine vermut- Formen, die sich an das Leben in Wirt und Zwischen-

-
lich monophyletische Gruppe (. Abb. 4.25). wirt besonders angepasst haben. Auch hier führen
Deinococcales: Kokken oder Stäbchen, die molekulare Analysen von Markergenen zu weitge-
häufig in Paaren oder Tetraden auftreten. Zu hend neuen Erkenntnissen. In . Abb. 4.27 ist eine
dieser kleinen Gruppe (> 60 Arten) zählen vereinfachte Übersicht über die Phylogenie der Ein-
mesophile Aerobier (Deinococcus), die im zeller dargestellt, die im Wesentlichen auf den Nucle-
Süßwasser oder in Exkrementen vorkommen, otidsequenzen von rRNA und anderen Markergenen
ferner Arten aus heißen Quellen, z. B. die für beruht. In diesem System werden vier Großgruppen
die Entwicklung der Molekularbiologie so unterschieden: Excavata, Chromalveolata, Archae-
wichtige Art Thermus aquaticus, aus der die plastida und Unikonta. Ein verbindliches und all-
hitzestabile Taq-Polymerase (s. Abschn. 4.1) gemein anerkanntes System gibt es aber noch nicht.
gewonnen wurde, die heute in vielen PCR-

-
Verfahren eingesetzt wird. Excavata
Cyanobakterien: Eine ökologisch bedeutende Zu den basalen Linien der Protozoen gehören of-
Gruppe photosynthetischer Bakterien (> 150 fenbar die begeißelten Fornicata (oder Tetramas-
Arten), die als Vorläufer der Chloroplasten an- tigota; > 300 Arten), zu denen die Diplomonada
gesehen werden (EXKURS 3.1, Abschn. 3.2.7). als bekannteste Gruppe gehören (. Abb. 4.27), die
Leben meist in Kolonien, die häufig Filamente weder Mitochondrien noch Chloroplasten aufwei-
ausbilden. Cyanobakterien sind gegenüber sen. Viele Taxa dieser Gruppe leben als Kommen-
Umweltbedingungen sehr tolerant und kom- salen oder Parasiten im Verdauungstrakt von Tie-
men daher in fast allen Gewässern, Böden und ren; Giardia lamblia ist z. B. ein Darmflagellat des
Lebensräumen vor. Einige Arten können Luft- Menschen. Ebenfalls als ursprüngliche Protozoen
stickstoff fixieren und leben in Symbiose mit werden die Parabasalia (> 350 Arten) angesehen,
Moosen, Nadelbäumen und Angiospermen. eine allerdings sehr heterogene Gruppe. Viele ha-
Wichtige Gattungen sind: Anabaena, Oscillato- ben vier Geißeln, andere gar keine, wieder andere
ria, Prochlorococcus, Spirulina, Synechococcus Tausende. Sie besitzen einen typischen Parabasal-

-
und Nostoc. körper (ein modifizierter Teil des Golgi-Apparats).
Aquificales: Kleine Gruppe (> 14 Arten) mit Anstelle von Mitochondrien haben einige Parabasa-
der Gattung Aquifex, die lange und unbeweg- lia Hydrogenosomen, mit deren Hilfe molekularer
liche Stäbchen ausbilden; leben chemolithoau- Wasserstoff zur Energiegewinnung genutzt werden
totroph in heißen Vulkanquellen und nutzen kann. Sie leben als Endosymbionten oder Parasiten
Wasserstoff, Thiosulfat und Schwefel als Elek- im Verdauungstrakt von Insekten (z. B. Termiten)
tronendonatoren. Die Aquificales werden als und Vertebraten. Trichomonas vaginalis kommt als
ursprüngliche Gruppe innerhalb der Bakterien Parasit im Urogenitaltrakt des Menschen vor.
diskutiert. In heißen Quellen leben auch die Zu den Excavata rechnet man inzwischen auch
Thermotogales (mit Thermotoga), die phyloge- die Euglenozoa oder Euglenobionta (> 1400 Ar-

-
netisch mit den Aquificales verwandt sind. ten), die sich in drei Protozoengruppen gliedern:
Euglenophyta: Photosynthetische Algen, z. B.

-
Evolution der Eukaryoten Euglena.
Die frühe Evolution der Eukaryoten wurde bereits in Kinetoplastida: Protozoen, die frei oder
EXKURS 3.1 (s. Abschn. 3.2.7) besprochen. Wichtige parasitisch leben; charakteristisch sind zwei
Innovationen waren die Herausbildung von mem- Geißeln, von denen eine oft reduziert ist, die
branumschlossenen Kompartimenten, der Erwerb andere kann eine undulierende Membran aus-
von Mitochondrien und Chloroplasten sowie eines bilden. Sie besitzen ein einziges großes Mito-
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 357

Euglenozoa
Parabasalia EXCAVATA 1
Fornicata (Diplomonada)

Alveolata Ciliata
2
Dinoflagellata
Apicomplexa (Sporozoa)
Oomycetes
3
Stramenopilata
Bacillariophyceae (Diatomeen)
CHROMALVEOLATA 4
Chrysophyceae
Phaeophyceae

Rhizaria Radiolaria 5
Cercozoa
Foraminifera

Rhodophyta
6
Chlorophyta ARCHAEPLASTIDA
Embryophyta (Landpflanzen)
7
Amoebozoa Myxobionta
Gymnamoeba
Entamoeba 8
Nuclearia UNIKONTA
Opisthokonta Fungi (echte Pilze)
Choanoflagellata
9
Metazoa (vielzellige Tiere)

.. Abb. 4.27  Entwicklungslinien der Eukaryoten (nach Lecointre u. Le Guyader 2006, Ciccarelli et al. 2006, Keeling 2004,
10
Palmer et al. 2004, Adl et al. 2005)
11
chondrium, das sich über die Länge der Zelle Die Alveolata sind Protozoen mit Geißeln oder
erstreckt. Ein Abschnitt hoher DNA-Dichte Cilien, die abgeflachte Vesikel unter den Zellmem- 12
wird als Kinetoplast bezeichnet. Wichtige branen, sogenannte Alveolen, als synapomorphes
Vertreter sind die Blutparasiten der Gattung Merkmal aufweisen. Auch molekular wurden sie als
Trypanosoma: T. brucei wird in Afrika von der monophyletische Gruppe erkannt. Man unterschei- 13

-
Tsetsefliege übertragen und ruft die Schlaf- det drei Gruppen:
krankheit hervor; T. cruzi wird in Südamerika Ciliata: Große und strukturell diverse Gruppe 14
von Wanzen verbreitet und verursacht die (ca. 8000 Arten), die zahlreiche Cilien (Wim-
Chagas-Krankheit. Leishmania-Arten sind die pern) auf der Oberfläche tragen (Wimpertier-
Erreger der Leishmaniose. Die Vorfahren der chen) und einen Kerndualismus (Mikro- und
15
Kinetoplastida hatten offenbar Chloroplasten, Makronucleus) aufweisen; einzellig oder
deren Reste man auch heute noch mit moleku- in Kolonien lebend. Beispiele: Paramecium 16

-
larbiologischen Methoden nachweisen kann. caudatum (das bekannte Pantoffeltierchen),

- 17
Pseudociliata: Heterotrophe, begeißelte Proto- Paramecium tetraurelia, Stentor polymorphus.
zoen, die früher für Ciliaten gehalten wurden. Dinoflagellata: Zweigeißlige, planktonisch
Beispiel: Stephanopogon. lebende Gruppe (> 2200 Arten), die auch
als Panzergeißler bezeichnet werden. Hülle 18
Chromalveolata aus Celluloseplatten. Viele Arten betreiben
Die Chromalveolata (die Chloroplasten über sekun- Photosynthese mit Chloroplasten unter- 19
däre Endosymbiose erhielten) bilden offenbar ein schiedlicher Herkunft (sekundäre Endosym-
Monophylum, das sich in Alveolata, Stramenopilata biose). Seit dem Silur (420 Mio. Jahre; s. Ab-
und vermutlich Rhizaria aufgliedert. schn. 2.2.3) bekannt; möglicherweise schon
20
358 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

im Kambrium (540 Mio. Jahre) vorkommend. bislang angenommen, sondern Mitglieder der


Beispiele: Gonyaulax, Ceratium, Noctiluca, Stramenopilata.

-
Peridinium.
Apicomplexa: Die auch als Sporozoa oder Als dritte große Gruppe der Chromalaveolata zäh-
Sporentierchen bezeichneten einzelligen len die Rhizaria: Zu den Rhizaria (> 12.000 Arten)
Parasiten (> 5000 Arten) zeichnen sich durch werden die Cercozoa, Haplosporidia, Foraminife-
enge Anpassungen an Wirt und Wirtswechsel ren (Foraminifera), Gromia und Strahlentierchen
aus. Gemeinsame synapomorphe Merkmale (Radiolaria) gerechnet. Die Foraminiferen und Ra-
sind der Apikal-Komplex und Centriolen, die diolarien haben harte Schalen, die auch fossil erhal-
aus neun einzelnen Mikrotubuli (sonst neun ten blieben und für die Stratigraphie wichtig sind
Tripletts) aufgebaut sind. Die Gruppe hat in (Kap. 2).
der frühen Evolution offenbar Chloroplasten
besessen; denn man konnte mit genetischen Archaeplastida
Methoden Reste der cpDNA nachweisen. Eine weitere Entwicklungslinie, die man auch als
Wichtige Parasiten: Babesia canis (Erreger der Archaeplastida zusammenfasst, führt zu den Rot-
Piroplasmose); Eimeria falciformis (Erreger der algen, Grünalgen und Landpflanzen. Ein gemein-
Kokzidiose); Plasmodium falciparum (Erreger sames Merkmal ist das Vorhandensein von Chloro-

-
der Malaria tropica), Toxoplasma gondii (Erre- plasten (primäre Endosymbiose).
ger der Toxoplasmose). Rhodophyta: Die mehrzelligen Rotalgen sind
artenreich (> 5950 Arten) und leben marin.
Die nächste große Abteilung der Chromalveolata, Die Kernhülle bleibt bei der Mitose bestehen.
die Stramenopilata (oder Heterokontobionta) Seit dem Kambrium (ca. 540 Mio. Jahren;
umfassen eine monophyletische, aber diverse und s. Abschn. 2.2.1) bekannt. Wichtige Vertreter:
artenreiche Gruppe von ein- bis vielzelligen Orga- Chondrus, Corallina, Gracilaria, Lithotham-

-
nismen (> 110.000 Arten), die man weiter unter- nion, Polysiphonia und Porphyra.

-
gliedern kann. Chlorobionta: Die Chlorobionta (mehr als
Bacillariophyceae: Die auch als Diatomeen 3700 Arten) umfassen die Grünalgen und die
oder Kieselalgen bezeichneten Organismen grünen Landpflanzen mit Moosen, Farnen
sind photosynthetisch aktiv und leben im und Samenpflanzen (s. unten). Die Grünalgen
Süß-, Brack- und Salzwasser. Sie sind durch (Chlorophyta) sind sehr formenreich und
einen stabilen Panzer aus Kieselsäure charakte- umfassen sowohl Einzeller als auch fädige und
risiert. Fossile Diatomeen sind weit verbreitet thallöse Lebensformen. Man unterscheidet die
und gehen auf Ursprünge im Präkambrium Prasinophyta, Ulvophyta und Streptophyta

-
(s. Abschn. 2.1) zurück. (mit den Algengruppen Charophyta, Zygnemo-
Phaeophyceae: Die auch als Braunalgen oder phyta; Embryophyta [Landpflanzen]). Fossilien,
Tange bezeichneten mehrzelligen Organismen die möglicherweise auf Chlorophyten zurück-
leben marin und bilden wichtige Vegetati- gehen, sind aus dem Präkambrium (ca. 1,2
onszonen im Meer. Wichtige Gattungen sind: oder 0,9 Mrd. Jahre; s. Abschn. 2.1) beschrieben

-
Ascophyllum, Fucus, Nereocystis und Pelvetia. worden.
Chrysophyceae: einzellige oder in Kolonien
lebende goldbraune gefärbte Algen, sog. Gold- Unikonta

-
algen; seit dem Präkambrium bekannt. Als vierte Gruppe kann man die Unikonta defi-
Xanthophyceae: einzellige, filamentöse oder nieren, die sich in Amoebozoa und Opisthokonta

- -
Kolonien bildende gelbgrüne Algen. gliedern:
Oomycetes: Die Oomyceten betreiben keine Amoebozoa: Monophyletische Gruppe (umfasst
Photosynthese und leben häufig parasitär, Schleimpilze mit > 530 Arten und Archamö-
wie z. B. der Mehltau (Plasmopara viticola). ben), die sich durch einen komplexen Lebens-
Molekular sind es keine „niederen Pilze“, wie zyklus auszeichnet. Aus einzelligen amoeboiden
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 359

oder begeißelten Formen erfolgt ein Wechsel in


eine mehrzellige Phase (Plasmodium), die den
- Die Nucleariida bilden einer Schwester-
gruppe zu den Eumycetes. Es handelt sich
1
Fruchtkörper mit einem Sporangium bildet. um Einzeller der Gattungen Nuclearia, 2
Wichtige Vertreter sind die Acrasiomyceten Micronuclearia, Rabdiophrys, Pinaciophora
(Dictyostelium discoideum), Myxomyceten und Pompholyxophrys, die im Boden oder
3
-
(Didymium iridis; Physarum polycephalum) und im Süßwasser leben.
Archamöben (Pelomyxa palustris, Entamoeba Choanoflagellata: Kleine Gruppe von marin
histolytica). Bei den parasitischen Archamöben oder limnisch verbreiteten, einzelligen, 4
sind die ursprünglich vorhandenen Mitochond- begeißelten Formen (> 120 Arten), die einen

-
rien verloren gegangen. Kranz („Kragen“) von Mikrovilli aufweisen.
Eine weitere wichtige Entwicklungslinie, die Choanoflagellaten spielen bei der Entste-
5

-
als Opisthokonta zusammengefasst wird, führt hung der Metazoa eine wichtige Rolle.
zu den echten Pilzen (Eumycetes), Nucleari- Metazoa: Die vielzelligen Tiere werden als 6
ida, Choanoflagellaten und vielzelligen Tieren Metazoa bezeichnet; sie bilden eine mono-
(Metazoa). Ein gemeinsames Merkmal ist das phyletische Gruppe. 7
Vorhandensein einer vorwärts treibenden
Geißel (griech. pisthe = hinten; konts = Ru- Evolution der Pflanzen
derstange), die immer am hinteren Ende einer Für die Rekonstruktion der phylogenetischen Be- 8

-
Zelle sitzt. Man unterscheidet: ziehungen zwischen den verschiedenen Pflanzen-
Eumycetes (> 100.000 Arten): Pilze haben abteilungen (Algen, Moose, Farne, Gymnospermen, 9
Zellwände aus Chitin und leben hetero- Angiospermen) wurden Nucleotidsequenzen von
troph; sie pflanzen sich durch haploide rRNA-Genen, Chloroplastengenen, wie rbcL oder
Sporen fort, die nach Auskeimung Hyphen anderen Protein-codierenden Genen wie GAP-DH
10
bilden. Die Gesamtheit der Hyphen wird als herangezogen. Berücksichtigt man Nucleotid- und
Myzel bezeichnet. Es kann einen vegetati- Aminosäuresequenzen sowie die Struktur der Ge- 11
ven Thallus und die Fruchtkörper bilden. nome, so lässt sich die Phylogenie der Landpflanzen
Ein Gefäßsystem ist nicht vorhanden. Zu wie in . Abb. 4.28 dargestellt zusammenfassen. 12
den Pilzen zählen die Ascomyceten (Hefen, Innerhalb der Chlorobionta (s. oben) führen die
Trüffel, Schimmelpilze), Basidiomyceten Streptophyta als Entwicklungslinie zu den Land-
(Hutpilze) und die Zygomyceten (Joch- pflanzen (. Abb. 4.28). Die Anpassung an eine ter- 13
pilze). Vorläufer der Eumyzeten sind aus restrische Lebensweise erforderte eine Reihe wich-

- 14
dem Devon (400 Mio. Jahre) und Ordo- tiger Innovationen:
vizium (460 Mio. Jahre; s. Abschn. 2.2.2) Bildung einer wachsartigen Cuticula, die ein
bekannt. Eine besondere Lebensform stellen Austrocknen verhindert, und von Schließzel-
15
-
die Flechten dar: Es handelt sich bei dieser len für den Gasaustausch.
weltweit verbreiteten Organismengruppe, Entwicklung von Gametangien, die Gameten
die an klimatisch extremen Standorten vor- einschließen und einer Austrocknung entge- 16

-
kommt, primär um Pilze, die mit photosyn- genwirken.
thetisch aktiven Algen (z. B. Kugelalgen) in Embryonen, die als junge Sporophyten anzu- 17
Symbiose leben. Diese Symbiosen entstan- sehen sind, liegen nicht frei, sondern geschützt

-
den offenbar mehrfach in der Evolution vor (daher Embryophyta).
der Pilze; sie wurden aber auch wieder Synthese von UV-absorbierenden Sekundär- 18

-
aufgegeben. Zu den Pilzen gehören auch die stoffen.
Microsporidia, einzellige Parasiten (> 800 Entwicklung von Sporenwänden, die gegen 19
Arten) mit breitem Wirtsspektrum, die Austrocknung und mikrobiellen Abbau schüt-
obligat intrazellulär leben. Mitochondrien zen.
sind verloren gegangen.
20
360 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

Chlorophyta

Charophyta

Marchantiophyta

Anthoceratophyta

Embryo- Bryophyta
phyta
Lycophyta
Stomatophyta
Sphenophyta

Tracheophyta
(Gefäßsystem) Filicophyta

Cycadales
Gymnospermae
Ginkgoales

Spermatophyta Pinales
(Samen)

Angiospermae
Blüten, triploides Endosperm

.. Abb. 4.28  Entwicklung von der Chlorobionta zu den höheren Pflanzen (nach Palmer et al. 2004, Burleigh u. Mathews 2004,
Crane et al. 2004, Pryer et al. 2004, Lecointre u. Le Guyader 2006)
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 361

Als einfachste Landpflanzen treten Formen ohne Verteidigung (s. Abschn. 4.3.3). Lycopodio-


Leitgewebe (also ohne Xylem und Phloem) auf. phyten sind seit dem Silur bekannt und traten 1
Die auch als Nicht-Tracheophyten bezeichneten insbesondere im Karbon (s. Abschn. 2.2.5) als
Pflanzen umfassen die Marchantiophyta (Leber- formenreiche Gruppe auf. Wichtige Gattungen: 2
-
moose), Anthoceratophyta (Hornmoose) und Lycopodium, Selaginella und Isoëtes.
Bryophyta (Laubmoose). Eine Zusammenfassung Sphenophyta: Die Klasse Sphenopsida wird
dieser Gruppen als Moose ist aus kladistischer auch als Equisetales (Schachtelhalme) bezeich- 3
Sicht nicht korrekt, da es sich nicht um eine mo- net. Schachtelhalme sind durch gegliederte,
nophyletische, sondern paraphyletische Gruppe aufrechte Stängel und wirtelig angeordnete 4

-
handelt. Zweige gekennzeichnet. Viele Arten bilden
Marchantiophyta: Thallöse Lebermoose ohne fertile Stängel, die chlorophyllfrei sind. Seit dem
Wurzeln, Gefäßsystem und Spaltöffnungen Devon (380 Mio. Jahre) bekannt; im Karbon
5
(ca. 9100 Arten); der haploide Gametophyt ist besonders formenreich mit baumartigen Ver-
die dominante Lebensform. Mikrosporen sind tretern (Calamitaceae) (s. Abschn. 2.2.5); heute 6
aus dem unteren Silur (435 Mio. Jahre), Ma­ als „lebendes Fossil“ mit nur noch 20 Arten

- 7
krofossilien aus dem oberen Devon (375 Mio. vertreten. Gattung: Equisetum.
Jahre) bekannt (s. Abschn. 2.2.3 und 2.2.4). Filicophyta: Die Farne (Filicopsida bzw. Pte-
Beispielgattungen: Marchantia, Riccia und ridopsida) (> 9500 Arten) sind eine Schwes-
8
-
Lunularia. tergruppe der Schachtelhalme, die gemeinsam
Anthoceratophyta: Kleine monophyletische als monophyteische Monilophyta abgetrennt
Moosgruppe (> 300 Arten), die bereits Sto- werden. Gekennzeichnet durch große, 9
mata und aufgerichtete Sporophyten besitzt. wedelförmige Blätter, die auf der Unterseite
Cyanobakterien (Nostoc) leben als Symbionten Sporangien tragen. Seit dem Devon bekannt;
in Einbuchtungen der Thallus-Unterseite. Spo- im Karbon formenreich mit baumartigen Ver-
10
ren sind aus dem Silur beschrieben. Beispiel- tretern (s. Abschn. 2.2.5). Wichtige Ordnun-

-
gattungen: Anthoceros und Dendroceros. gen: Ophioglossales, Psilotales, Marattiales, 11
Bryophyta: Umfangreiche Gruppe der Laub- Osmundales, Hymenophyllales, Gleicheniales,
moose (> 15.000 Arten), die Leitelemente in Schizaeales, Salviniales, Cyatheales und Poly- 12
den Stängeln des Gametophyten (Vorstufe podiales (größte Gruppe). Wichtige Gattun-
zum Gefäßsystem der Tracheophyten) und gen: Marsilea, Osmunda, Pteridium, Polypo-
Rhizoide (wurzelähnliche Organe) bilden. dium und Psilotum. 13
Makrofossilien sind aus dem Devon (395 Mio.
Jahre; Abschn. 2.2.4) bekannt. Wichtige Als weitere Innovation in der Evolution der Land- 14
Gattungen: Funaria, Polytrichum, Sphagnum pflanzen kann die Entwicklung von Samen angese-
(Torfmoos) und Takakia. hen werden. Samenpflanzen bilden als Spermato-
phyta eine monophyletische Gruppe (. Abb. 4.28;
15
Als nächste wichtige Innovation ist die Entwick- . Abb. 4.29). Man unterscheidet Gymnospermae
lung eines Gefäßsystems mit Xylem und Phloem (Samenanlage wird nicht im Fruchtknoten ein- 16
zu werten, das als synapomorphes Merkmal der Tra- geschlossen; Nacktsamer) und Angiospermae
cheophyten anzusehen ist (. Abb. 4.29). Wichtige (Samenanlage vollständig im Fruchtknoten einge- 17
-
Gruppen sind: schlossen, der sich später zur Frucht entwickelt;
Lycopodiophyta: Kleine monophyletische Bedecktsamer). Man unterscheidet innerhalb der
18
-
Gruppe (> 1275 Arten) mit den Ordnungen Gymnospermae (> 870 Arten):
Selaginellales (Moosfarne), Lycopodiales (Bär- Ginkgoales: Heute nur noch in einer Art,
lappe) und Isoetales (Brachsenkräuter). Stängel Ginkgo biloba, vorkommend. Ähnliche For- 19
mit Mikrophyllen; Sporangien auf spezialisier- men sind aus dem Mesozoikum bekannt; im
ten Blättern (Sporophylle). Bärlappgewächse Jura wurde Ginkgoites lunzensis beschrieben.
produzieren bereits Alkaloide zur chemischen Sphenobaiera aus dem Perm (270 Mio. Jahre)
20
362 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.29  Phylogenie der Sporen-


und Samenpflanzen

wird manchmal den Ginkgoales zugerechnet Jahren) bekannt sind (Gattung Walchia)

-
(s. Abschn. 2.3). (s. Abschn. 2.2.5). Die Gnetopsida (91 Arten)
Pinales (inkl. Gnetopsida) (> 660 Arten): wurden früher mit den ursprünglichen Gat-
Nadelbäume bilden eine monophyletische tungen Ephedra, Gnetum und Welwitschia als
Gruppe, die seit dem oberen Karbon (310 Mio. gemeinsame Gruppe betrachtet. Heute werden
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 363

die Gattungen in die Familien Ephedraceae, stämme von einem gemeinsamen Vorfahren er-
Gnetaceae und Welwitschiaceae unterteilt und folgte vermutlich vor circa 800 Mio. Jahren (s. Ab- 1
den Pinopsida zugerechnet (. Abb. 4.19). Seit schn. 2.1). Auf der Basis von Sequenzdaten der 18S
dem Perm (270 Mio. Jahren) nachgewiesen rDNA, Hox-Genen, mtDNA, des Myosin-II-Gens 2
-
(s. Abschn. 2.2.6). und der Anordnung der mitochondrialen Gene
Cycadales: Palmfarne oder Cycadeen (>210 wurde ein Stammbaum der Metazoa entwickelt, der
Arten) werden häufig als „lebende Fossilien“ sich im Bereich der Protostomia von der klassischen 3
(s. Abschn. 2.4.2 und 4.1.2) angesehen, deren Aufteilung etwas unterscheidet.
Vorläufer (Taeniopteris) bereits aus dem Perm Der aktuelle Stammbaum (. Abb. 4.31) weist 4
(270 Mio. Jahre; s. Abschn. 2.2.6) und insbe- die über 5000 Arten umfassenden Schwämme
sondere aus dem Mesozoikum beschrieben (Porifera) mit den Demospongiae, Hexactinellida
wurden (s. Abschn. 2.3). Während die meisten und Calcarea als möglicherweise paraphyletische
5
Nacktsamer eine Windbestäubung aufweisen, Gruppe an der Basis der Metazoen aus. Schwämme
findet man bei vielen Palmfarmen eine Bestäu- sind als Fossilien wenigstens seit dem unteren Kam- 6
bung durch Insekten, insbesondere Rüssel- brium (540 Mio. Jahre) bekannt (s. Abschn. 2.2.1).
käfer und Thripse. Diese Interaktion begann Die nachfolgenden Tierstämme werden als Eu- 7
vermutlich bereits in der Kreide vor 135 Mio. metazoa abgetrennt.
Jahren (s. Abschn. 2.3.3). Im Phylogramm (. Abb. 4.31) folgen die Nes-
seltiere (Cnidaria) (> 9000 Arten), Rippenquallen 8
Die Angiospermae (Magnoliopsida) sind eine um- (Ctenophora) (> 100 Arten) und Placozoa (1 Art;
fangreiche monophyletische Gruppe (>  280.000 Trichoplax adhaerens). Die Placozoa sind die struk- 9
Arten in 413 Familien und 55 Ordnungen), die sich turell am einfachsten aufgebauten Metazoa. Ihre
durch weit verbreitete Zwitterblüten und bedeckte systematische Stellung ist nicht unumstritten. Nes-
Samenanlagen auszeichnet. Angiospermen sind seit seltiere zeichnen sich durch Radiärsymmetrie aus,
10
der Kreidezeit (135 Mio. Jahre; s. Abschn. 2.3.3) be- Rippenquallen sind zweistrahligsymmetrisch. Beide
kannt. Die Ausbildung komplex aufgebauter Blüten Gruppen sind aus zwei Keimblättern aufgebaut. 11
entstand in Koevolution mit der starken Diversifi- Erstere haben spezialisierte Nesselzellen (Cnidocy-
kation der Arthropoden, insbesondere der Insekten, ten), letztere Klebzellen (Colloblasten). Cnidarier 12
die als Bestäuber eine entscheidende Bedeutung ha- wurden in der Ediacara-Fauna nachgewiesen (s. Ab-
ben (s. Abschn. 4.3.3). schn. 2.1.1).
Für die höheren Pflanzen (Angiospermae) Alle anderen Tiere gehören zu den Bilateria, 13
wurde die klassische Großsystematik (. Abb. 4.30) die sich primär durch Bilateralsymmetrie, einen
aufgrund der Ergebnisse der DNA-Daten kom- durchgehenden Verdauungstrakt, Mesoderm als 14
plett neu strukturiert. Danach stehen die Ambo- drittem Keimblatt, unidirektionelle chemische Sy-
rellaceae, Nymphaceae und Austrobaileyales an napsen mit Acetylcholin u.v. a. als Neurotransmit-
der Basis der Angiospermen, von denen sich die ter, einem zentralen Nervensystem und diversen
15
Einkeimblättrigen (Monocots) (62.600 Arten in anderen Innovationen auszeichnen. Innerhalb der
86 Familien), die Magnoliiden und die Zweikeim- bilateralsymmetrischen Tiere, die vermutlich ein 16
blättrigen im engeren Sinne (Eudicots) als jeweils Monophylum bilden und in Protostomia und Deu-
monophyletische Gruppen ableiten. Innerhalb der terostomia unterteilt werden, unterscheidet man 17
--
Eudicots werden die core eudicots unterschieden, drei Großgruppen:
in denen sich die Großgruppen der Asteriden und Lophotrochozoa (> 150.000 Arten),
18
-
Rosiden befinden. Ecdysozoa (> 1.200.000 Arten),
Deuterostomia (> 63.000 Arten).
Evolution der Tiere 19
Wie in . Abb. 4.27 dargestellt, leiten sich die viel- Protostomia
zelligen Tiere (Metazoa) aus der Entwicklungslinie Lophotrochozoa und Ecdysozoa sind vermutlich
der Opisthokonta ab. Eine Auftrennung der Tier- monophyletische Untergruppen innerhalb der
20
364 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.30  Molekulare Phylogenie der Angiospermen (nach Angiosperm Phylogeny Group, APGIII, 2009). Die Neuordnung
beruht auf Stammbäumen, die über Nucleotidsequenzen der 18S rRNA, rbcL, atbB-Gene und diversen anderen DNA-Markern
rekonstruiert wurden
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 365

1
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17
.. Abb. 4.31  Molekulare Phylogenie der Hauptentwicklungslinien der Tiere (nach Halanych 2004, Wink 2006). Nicht aufgelöste
Verzweigungen sind als Polytomien dargestellt, d. h. die Äste gehen ohne Verzweigung aus einer gemeinsamen Basis hervor. 18
Aufgelöste Phylogenien sind dichotom aufgebaut. Die Pfeile und farbigen Punkte deuten auf wichtige Verzweigungen hin.
Dreiecke bedeuten, dass diese Verzweigung zu mehr als einer Gruppe führt
19
20
366 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.32 a,b  Phylogenie der Ecdy-


sozoa, insbesondere der Arthropoden.
a Stammbaum und molekulare Datie-
rung aufgrund von 129 Markergenen
(Rehm et al., 2011). b siehe Folgeseite

Protostomia (. Abb. 4.31). Die Lophotrochozoa (Protura), Springschwänze (Collembola), Dop-


vereinen Organismen mit einem Lophophor und pelschwänze (Diplura), Felsenspringer (Archaeo-
einer Trochophora-Larve (beispielsweise Anneli- gnathae) und Silberfischchen (Zygentoma) exis-
den und Mollusken mit über 85.000 Arten) sowie tieren seit dem Ordovizium oder Silur. Auch die
weitere Stämme (Plathelminthes und Nermertini). meisten Ordnungen der Pterygota entstanden im
Die Ecdysozoa stellen die artenreichste Tiergruppe Palaeozoikum. Jünger sind lediglich Dermaptera,
dar und vereinen alle Organismen mit Häutung Zoraptera, Isoptera, Mantodea, Manthophasmato-
(beispielsweise Arthropoden, Nematoden, Tardi- dea, Strepsiptera und Siphonaptera.
graden und Priapuliden). Nach wie vor bestehen
Unklarheiten zur Phylogenie einzelner Stämme Deuterostomia
innerhalb der Ecdysozoa und Lophotrochozoa. Die Deuterostomia umfassen die Hemichordaten,
Für die Ecdysozoa liegt eine Auswertung eines Da- Echinodermen und Chordaten. Die Phylogenie
tensatzes mit 129 Genen vor (Rehm et  al. 2011), innerhalb der Deuterostomia, insbesondere der
die zudem eine Datierung erlaubt (. Abb. 4.32a). Wirbeltiere ist in . Abb. 4.33 vereinfacht zusam-
Danach entstanden einige Stämme bereits im Prä- mengefasst. An der Basis der Deuterostomia stehen
kambrium vor mehr als 550 Mio. Jahren, z. B. die die marin lebenden Echinodermata (> 6000 Arten),
Tardigrada, Nematoda und Onychophora. Dagegen die als Larven bilateralsymmetrisch, als Adultfor-
haben Myriapoden, Cheliceraten, Crustaceen und men jedoch meist pentamärsymmetrisch aufgebaut
einige frühe Insekten ihre Wurzel im Kambrium sind. Charakteristisch sind ein Ambulakralsystem
(s. Abschn. 2.2.1). Die Trennung von Lophotrocho- und ein im Bindegewebe liegendes Skelett aus
zoa und Ecdysozoa ist noch älter und erfolgte vor Calciumcarbonat. Man unterscheidet unter den
mehr als 600 Mio. Jahren. rezenten Echinodermen Asteroidea (Seesterne),
Einen Überblick über die Phylogenie der Insek- Ophiuroidea (Schlangensterne), Holothuroidea
ten liefert . Abb. 4.32b (nach Gullan u. Cranston (Seegurken), Echinoidea (Seeigel) und Crinoidea
2005). Die apterygoten Urinsekten wie Beintastler (Haarsterne und Seelilien). Echinodermen sind
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 367

.. Abb. 4.32 a,b (Fortsetzung) Phy-
logenie der Ecdysozoa, insbesondere
der Arthropoden. b Phylogenierekons-
1
truktion der Insekten über molekulare
und morphologische Merkmale (nach 2
Gullan u. Cranston 2010)

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368 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

seit dem frühen Kambrium (540 Mio. Jahre; s. Ab- nachgewiesen. Wichtige Gattungen: Lampe-

-
schn. 2.2.1) bekannt. tra, Petromyzon.
Die Hemichordaten umfassen marine Formen Chondrichthyes: Knorpelfische (> 850
(Enteropneusta, Eichelwürmer; Pterobranchia, Arten), wie Haie, Rochen und Chimären,
Flügelkiemer). Die Pterobranchia sind mit den fos- deren Skelett aus Knorpel besteht. Seit
silen Graptolithen verwandt, die vom Kambrium dem Silur (410 Mio. Jahre; s. Abschn. 2.2.3)

-
bis zum Devon vorkamen (s. Abschn. 2.2.2). bekannt.
In der weiteren Entwicklung werden die Chor- Osteichthyes: Knochenfische mit chondra-
data abgetrennt, deren gemeinsame Merkmale bi- len Knochen und Deck- oder Hautknochen.
lateralsymmetrische Larven, eine Chorda dorsalis Weitere Merkmale: Ausbildung eines Schul-
(Rückensaite), Neuralrohr (aus Neuroektoderm), tergürtels, der mit der Wirbelsäule verbun-
segmentierte Rumpfmuskulatur und ein ventral den ist und Vorhandensein von Luftsäcken
gelegener Verdauungstrakt sind. Wichtige Grup- (Schwimmblase). Man untergliedert die

-
pen sind: Knochenfische in Actinopterygii (z. B. Aal,
Urochordata: Marine Deuterostomia (> 1300 Barsch, Nilhecht, Lachs, Stör, Flösselhecht)
Arten), die als nahe Verwandten der Vertebra- und Sarcopterygii (Choanichthyes). Zu den
ten gelten. Chorda dorsalis im Larvenstadium letzteren zählen die Crossopterygii und

-
vorhanden; typisch ist das Vorhandensein Dipnoi.
einer Tunica (daher auch Tunicaten). Man Dipnoi: Lungenfische (6 Arten) weisen
unterscheidet Thaliacea (Salpen), Ascidiae paarige Flossen und funktionelle Lungen

-
(Seescheiden) und Appendicularia. auf. Fossilien sind aus dem Unter-Devon
Cephalochordata: Die Cephalochordaten (410 Mio. Jahre; s. Abschn. 2.2.4) bekannt.
(auch Acrania, Schädellose genannt; 13 Arten) Rezente Gattungen: Protopterus (Afrika),
leben marin. Lanzettfischchen (Branchio­ Lepidosiren (Südamerika) und Neoceratodus

-
stoma) stehen morphologisch den Craniota (Australien).
näher als die Urochordata (Ascidiae sind Crossopterygii: Latimeria (Quastenflos-
molekular näher mit Vertebraten verwandt ser) ist der einzige noch lebende Vertreter.
sind). Fossile Cephalochordaten sind bereits Zahlreiche, morphologisch ähnliche Formen
im unteren Kambrium (530 Mio. Jahre) z. B. in wurden z. B. in der Kreide gefunden. Älteste
SO-China gefunden worden; z. B. Haikouella Fossilien aus dem Unter-Devon (380 Mio.

-
(s. Abschn. 2.2.1). Jahre; s. Abschn. 2.2.4). Besonderes Merkmal
Myxinoidea: Schleimaale (22 Arten) sind sind paarige Flossen, die wie bei Tetrapoden
marine Cranioten (umfassen Myxinoidea und kreuzweise koordiniert werden können.
Vertebraten), die weder Wirbel noch Kiefer Beispiel: Latimeria chalumnae. Offenbar

-
besitzen („agnath“). entstanden Crossopterygii, Dipnoi und Tet-
Vertebrata (> 63.000 Arten) mit Wirbeln, Ohr rapoden in einem relativ kurzem Zeitraum,
mit zwei bis drei Bogengängen. Fossile Formen so dass sich diese Verzweigungen molekular
aus dem unteren Kambrium (530 Mio. Jahre; oft nicht eindeutig auflösen lassen (Takezaki
s. Abschn. 2.2.1). Die Gruppen der Fische (über et al. 2004). Morphologische, paläonto-
31.300 Arten) und Reptilien sind phylogene- logische und entwicklungsgeschichtliche
tisch gesehen paraphyletisch und wurden da- Gründe sprechen aber dafür, dass die

-
her von einigen Taxonomen neu strukturiert. Crossopterygier näher mit den Tetrapoden

-
Petromyzonta: Neunaugen (38 Arten) verwandt sind als die Lungenfische.
leben larval im Süßwasser, als adulte Tiere Amphibia: Die Amphibien stellen wahr-
ebenfalls limnisch oder marin. Parasiti- scheinlich ein Monophylum (> 6440 Arten)
sche Lebensweise (Blutsauger bei Fischen innerhalb der Tetrapoden mit drei Grup-
und Walen) (es gibt auch nichtparasitische pen: Gymnophiona (Blindwühlen), Urodela
Arten). Fossile Formen aus dem Karbon (Schwanzlurche: Salamander und Molche)
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 369

.. Abb. 4.33 Entwicklung
der Deuterostomia: von Deuterostomia 1
den Echinodermata zu den
Vertebrata (nach Lecointre Echinodermata
u. Le Guyader 2006).
Hemichordata
2
Aktuelle Genomdaten
deuten darauf hin, dass die
Lungenfische (Dipnoi) und Urochordata 3
nicht die Quastenflosser
näher mit den Tetrapoden Cephalochordataa
verwandt sind 4
Myxinoidea
Chor-
data
Petromyzonta 5
Craniota Chondrichthyes

Vertebrata
6
Actinopterygii

Dipnoi 7
Crossopterygii
Osteichthyes
8
Gymnophiona
Sarcopterygii Amphibia
Urodela 9
Anura

Mammalia
10

Tetrapoda
Chelonia
11
Squamata
Amniota
Sphenodontia 12
Sauropsida
Crocodylia
13
Diapsida
Aves

14
(als Urodelomorpha vereinigt) und Anura distik. Diese erlaubt nur monophyletische
(Froschlurche: Frösche, Kröten, Laubfrö- Gruppen (s. EXKURS 4.5). Nach dem streng
15
sche) dar. Erste Amphibienfossilien sind kladistischen Stammbaum sind Vögel somit
in der Trias aufgetreten (240 Mio. Jahre; entweder eine Untergruppe der Reptilien 16

-
s. Abschn. 2.3.1). – wogegen jeder Ornithologe protestieren
Mammalia: Säugetiere (> 5490 Arten) (s. würde –, oder aber die Übergruppe der 17
unten) als basales Mitglied der Amnioten, „Reptilien“ muss aufgegeben und in fünf
die Mammalia, Reptilien und Vögel umfas- eigenständige Entwicklungslinien unterteilt
sen. Als Fossilien seit der Trias (220 Mio. werden. Da viele Argumente für den zwei- 18

-
Jahre; s. Abschn. 2.3.1) bekannt. ten Vorschlag sprechen, werden die heute
Sauropsida: Traditionell wurden Reptilien lebenden Sauropsida folgendermaßen 19
und Vögel als eigenständige systematische gegliedert: Schildkröten (Testudines) (327
Gruppierungen betrachtet. Jedoch wider- Arten), Schuppenkriechtiere (Schlangen
spricht diese Aufteilung den Regeln der Kla- und Echsen; Squamata; über 9000 Arten),
20
370 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.34a, b  Evolution und Divergenz wichtiger Säugetiertaxa. a Rekonstruktion über die Nucleotidsequenzen von 13 Pro-
tein-codierenden mtDNA-Genen (nach M. Wink und Mitarbeiter). Das dargestellte Kladogramm wurde mit Maximum parsimony
als kürzester Baum erhalten; die Zahlen an den Ästen stellen Bootstrap-Wahrscheinlichkeiten dar. )
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 371

b 220 175 100 65 50 0 Mio Jahre


Tachyglossidae
1
Monotremata Ameisenigel
Ornithorhynchidae Schnabeltier 2
Didelphimorphia
Marsupialia Paucituberculata
Beutelratten (Opossum)
3
Mausopossums
Microbiotheria
Notoryctemorphia
Chiloé-Beutelratte 4
Beutelmulle
Peramelemorphia
Dasyuromorphia
Nasenbeutler
5
Raubbeuteltiere
Diprotodontia Kängurus, Wombats, Koala
6
Cingulata
Gürteltiere 7
Xenarthra Folivora
Faultiere
Pilosa Vermilingua
Ameisenbär
8
Macroscelidea
Rüsselspringer 9
Afrosoricida
Tenrekartige
Tubulidentata Erdferkel 10
Proboscidea Rüsseltiere (Elefanten)
Afrotheria
Hyracoidea Schliefer 11
Sirenia Seekühe
12
Laurasiatheria Eulipotyphla
Insektenfresser
Metatheria
Cetartiodactyla Paarhufer, Wale 13
Chiroptera Fledertiere (Flughunde,Fledermäuse)
Perissodactyla
Unpaarhufer 14
Pholidota Schuppentiere
Carnivora Raubtiere 15
Euarchontoglires Rodentia Nagetiere
16
Lagomorpha Hasenartige
Scandentia Spitzhörnchen 17
Dermoptera Riesengleiter
Primates Primaten 18

.. Abb. 4.34 (Fortsetzung) b Rekonstruktion der Säugerphylogenie über Sequenzen von Kernmarkern (inklusive einer moleku-
19
laren Datierung
20
372 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

a Ornithischia
Sauropodopmorpha
Ceratosauria
Carnosauria

Theropoda Juravenator

Compsognathidae (Sinosauropteryx)
Tyrannosauroidea (Tyrannosaurus,
Albertosaurus)
Ornithomimosauria
Alvarezsauridae (Shuvuuia)
Coelurosauria Therizonosauroidea
mit einfach
aufgebauten Federn Oviraptorosauria (Caudypteryx)

Troodontidae (Trodoon)

Dromaeosauridae (Microraptor
Sinornithosaurus, Velociraptor)
Maniraptora Avialae (Archaeopteryx;
mit komplex Confuciusornis)/Aves
aufgebauten Federn

b
Aves/Avialae

Archaeopteryx Pygostylia

Confuciusornithidae Ornithothoraces

Ornithurae Enanornithes

Ichthyornithiformes Carinatae Hesperornithiformes

Neornithes
(moderne Vögel)

Palaeognathae Neognathae

Galloanserae Neoaves

Anseriformes Galliformes

.. Abb. 4.35 a–c  Von den Dinosauriern zu den Vögeln. a Kladistische Analyse der Fossilfunde (nach Xu 2006, Göhlich u. Chiappe
2006). Bei den Coelurosauria finden wir bereits einfache Befiederung, während die Maniraptora schon komplex aufgebaute Federn
besaßen. b Die Avialae/Aves (Archaeopteryx als Vertreter) waren schon flugfähig. c Stammbaum der Vögel nach Hackett et al. (2008)
Grüne Pfeile: direkte Entwicklungslinie der Vögel; rote Pfeile: Seitenlinien
4.2  •  Molekulare Systematik und Phylogenie 373

1
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.. Abb. 4.35 a–c (Fortsetzung) c Stammbaum der Vögel nach Hackett et al. (2008)
19
20
374 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

Brückenechsen (Sphenodontidae; heute dern war in der Kreide auch bei einigen Dinosau-
2 Arten), Krokodile (Crocodylia; etwa 25 riern vorhanden. Während bei den Coelurosauria
Arten) und Vögel (Aves; > 10.300 Arten) einfache Federn auftreten, findet man bei den Ma-
(s. unten). Reptilien wurden als Fossilien niraptora bereits komplex aufgebaute Federn, die,
vielfach nachgewiesen (s. Abschn. 2.3). wie bei Archae­opteryx, zur Flugfähigkeit führten.
Die vermutliche Weiterentwicklung von den vogel­
Innerhalb der Mammalia kann man inzwischen ähnlichen Dinosauriern zu den modernen Vögeln
über die Nucleotidsequenzen von 13 Protein-co- (Neornithes) ist in . Abb. 4.35b dargestellt. Wich-
dierenden Genen mitochondrialer Genome (jeweils tige Zwischenstufen waren: Die Verkürzung der
11.631 Nucleotide-Länge) einen hoch aufgelösten Schwanzwirbel zum Pygostyl (Pygostylia) und die
Stammbaum rekonstruieren. . Abbildung 4.34a Herausbildung eines kräftigen Brustbeins (Carina-
gibt eine darauf fußende Übersicht über die großen tae) (. Abb. 4.35b).
Entwicklungslinien der Säugetiere. Innerhalb der Für die Phylogenie der Vögel (EXKURS 2.13,
Mammalia trennten sich die Schnabeltiere (Mono- s. Abschn. 2.3.2) sind Phylogenierekonstruktionen,
tremata) und Beuteltiere (Marsupialia) als basale die auf Nucleotidsequenzen kompletter mtDNA-
monophyletische Gruppen bereits vor ca. 175 Mio. Daten fußen, bei weitem nicht so umfassend wie
Jahren ab (. Abb. 4.34b). Während die Nagetiere die der Säugetiere; sie werden hier daher nicht
paraphyletisch erscheinen, clustern Primaten, In- weiter illustriert. 2008 wurde eine Phylogenie auf
sektenfresser, Raubtiere, Unpaarhufer, Paarhufer Ordnungsebene vorgestellt, die auf der Analyse
und Wale jeweils als monophyletische Gruppen. von 19 Kerngenen beruht (Hackett et  al. 2008)
Die Position der Wale und Flusspferde als Schwes- (. Abb. 4.35c), die sich mit der Struktur innerhalb
tergruppe der Unpaarhufer, die bereits durch frü- der Neornithes auseinandersetzt (EXKURS 2.13).
here Rekonstruktionen aufgedeckt werden konnte, Innerhalb der Non-Passeres liegen die Palaeo-
wird bestätigt. Ein interessantes Monophylum bil- gnathen mit flugunfähigen Laufvögeln (Ratitae)
den die Tethytheria (mit Elefanten und Seekühen), und Tinamidae basal. Es wird angenommen, dass es
Hyracoidea (Klippschliefer) und Macroscelidea sich bei den Ratitae um Gondwana-Elemente han-
(Rüsselspringer; Elefantenspitzmäuse). Auch die delt, da man davon ausgeht, dass die Flugunfähig-
Evolution der Primaten und des Menschen wird keit in dieser Gruppe ein ursprüngliches Merkmal
durch die molekularbiologischen Daten erhellt. darstellt. Als weitere monophyletische Gruppen sind
Entsprechende Ergebnisse sind in Kap. 5, in dem die die Enten- und Hühnervögel (Galloanserae) als ba-
Evolution des Menschen ausführlich abgehandelt sale Gruppe der Neognathae erkennbar. Innerhalb
wird, dargestellt. der Neoaves (. Abb. 4.35b), die alle übrigen Vögel
Inzwischen liegt auch ein Stammbaum der Säu- enthalten, werden zwei Großgruppen unterschieden,
getiere vor, der auf einer Multigenanalyse von di- die Metaves und Coronaves. Die Metaves umfas-
versen Kerngenen beruht. In diesen Stammbäumen sen Segler, Kolibris, Nachtschwalme, Kranichvögel
stehen die Monotremata an der Basis, gefolgt von und Rallen, Flamingos und Lappentaucher, sowie
den Schwestergruppe Marsupialia und Metatheria Flughühner, Stelzenrallen und Tauben. Zu den Co-
(. Abb. 4.34b). Innerhalb der Metatheria werden ronaves zählen alle übrigen Non-Passeres, die zwei
vier größere Monophyla abgetrennt, Xenarthra, Af- Monophyla bilden: 1. Trappen, Kuckucke, Turakos,
rotheria, Laurasiatheria und Euarchontoglires. Die Seetaucher, Pinguine, Röhrennasen, Störche, Peli-
meisten Gruppen entstanden bereits in der Kreide kane und Tölpel, und 2. Watvögel, Möwen, Greif-
vor 65 Mio. Jahren. vögel, Eulen, Mausvögel, Trogons, Hornvögel, Ra-
Die Ursprünge der Vögel, die sich offenbar ckenvögel, Falken, Papageien sowie Sperlingsvögel.
von den Dinosauriern ableiten, wurden bereits Diese Anordnung steht vielfach im Widerspruch
in EXKURS 2.13 (s. Abschn. 2.3.2) diskutiert. In zur Großsystematik der Vögel, die Sibley und Ahl-
. Abb. 4.35a ist eine Rekonstruktion der frühen quist (1990) aufgrund von DNA-DNA-Hybridisie-
Vogelphylogenie dargestellt. Das Merkmal Federn rung aufgestellt hatten. Die Ordnung Falconiformes
ist offenbar nicht auf Vögel alleine beschränkt, son- (zu der Falconidae, Accipitridae, Cathartidae, Pan-
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 375

dionidae und Sagittariidae gerechnet werden) ist 4.3.1 Blütenmorphologie


offenbar eine künstliche Gruppe, zu der die Falken und Systematik 1
phylogenetisch nicht gehören (. Abb. 4.35c). Die
Falken bilden eine Schwestergruppe zu den Papa- Die Blütenmorphologie, die durch genetische 2
geien und Singvögeln. Die Neuweltgeier liegen nach Rahmenbedingungen und durch Koevolution zwi-
den Kerngendaten doch im Verwandtschaftskreis schen Angiospermen und bestäubenden Tieren
der übrigen Greifvögel und nicht bei den Störchen, beeinflusst wurde, liefert informative Merkmals- 3
wie man eine Zeit lang annahm. komplexe. Diese wurden sehr früh in der Pflan-
Im mitochondrialen Stammbaum clustern die zensystematik (z. B. von Linné) bewertet, insbe- 4
Singvögel (Passeres) an der Basis des Baumes. Ver- sondere der Unterschied zwischen zygomorphem
mutlich ist dies ein Fehler des mitochondrialen Da- (unregelmäßigem oder partialsymmetrischem) und
tensatzes, denn im Phylogramm der Kerngene fin- actinomorphem (radiärsymmetrischem) Blüten-
5
den sich die Singvögel erwartungsgemäß innerhalb bau. In . Abb. 4.36 ist die molekulare Phylogenie
der Neoaves als Schwestergruppe zu den Papageien. der Euasteriden I dargestellt (zur Stellung der Eu- 6
Man nimmt an, dass die Singvögel in Australien asteriden I im System der höheren Pflanzen vgl.
entstanden und sich erst vor 30 Mio. Jahren nach . Abb. 4.30). Die jeweilige Blütenform wurde in 7
Eurasien ausgebreitet haben. einem rbcL-Stammbaum markiert. Es wurde ange-
nommen, dass radiärsymmetrische Blüten ein ur-
sprüngliches Merkmal darstellen. Würde man die 8
4.3 Merkmalsevolution: Blütenform als einziges Merkmal für die Klassifi-
Erkennung konvergenter kation heranziehen und die Familien mit gleicher 9
Evolutionsprozesse Blütenform als verwandt ansehen, erhielte man fal-
sche Gruppierungen: Zygomorphe Blüten beobach-
tet man als abgeleitetes Merkmal in den Gattungen
10
|
Übersicht              | Lamium, Acanthus, Linaria und Antirrhinum, die
Wie in den Abschn. 4.1 und 4.2 dargestellt, eine monophyletische Gruppe bilden, aber ebenso 11
erhält man über molekulare Stammbäume die in den nicht-verwandten Gattungen Echium und
Möglichkeit zu prüfen, ob gemeinsame morpho- Schizanthus, die anderen Evolutionslinien angehö- 12
logische, biochemische, verhaltensbiologische ren. Die Blütenform ist demnach teilweise sowohl
ein synapomorphes Merkmal als auch ein adaptives
oder andere biologische Merkmale in einer
Merkmal, das im Zusammenhang mit der Koevo- 13
Organismengruppe dadurch zustande kommen,
dass die zugehörigen Arten von einem gemein-
lution mit bestäubenden Insekten zu interpretieren
samen Vorfahren abstammen und dabei diese
ist. Ob es sich um Konvergenz im strengen Sinne 14
(homologen) Merkmale ererbt haben, oder ob
handelt (d. h. um analoge Merkmale), müsste ge-
prüft werden, denn denkbar wäre auch ein Ab- und
diese Merkmale unabhängig und konvergent
Anschalten von vorhandenen Bauplangenen für zy-
15
entstanden sind. Die Interpretation von Merk-
gomorphen bzw. actinomorphen Blütenbau (s. Ab-
malstransformationen anhand der molekularen
Stammbäume ist spannend und betrifft alle
schn. 3.4.1). Die Ontogenie ist oft aussagekräftiger 16
Gebiete der Biologie, inklusive Verhalten, Öko-
als die adulte Form (Beispiele: Zustandekommen
logie und life history evolution. Aus Platzmangel
der Kronröhren bei den Euasteriden, Muster bei 17
können in diesem Kapitel nur wenige Beispiele
der Entstehung multistaminater Androeceen).
Fazit: Morphologische Variationen im Blütenbau
besprochen werden. Stellvertretend werden
eignen sich nur mit Einschränkungen für taxono- 18
exemplarisch die Blütenform bei Pflanzen,
Morphologie und Verhalten bei Greifvögeln, die
mische Klassifizierungen.
Genetik von Sozialsystemen sowie das Vorkom- 19
men und die Funktion von Sekundärstoffen bei
Pflanzen und herbivoren Insekten betrachtet. 20
376 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

Nicotiana .. Abb. 4.36 Phylogenie
der Asteridae und das
Lycopersicon Vorkommen von zygo- und
actinomorphen Blütenfor-
Schizanthus zygomorph
men. Nach Donoghue et al.
Convolvulus (1998). Taxa mit zygomor-
phen Blüten sind durch
Borago blaue Äste markiert

Echium zygomorph

Antirrhinum zygomorph
Linaria
Acanthus
actino-
morph Lamium
Saintpaulia

Sinningia
Gentiana
Asclepias
Spigelia
Chiococca

4.3.2 Morphologie, Verhalten men Gruppe Falconiformes zusammenfassen.


und Systematik Conrad Gesner (16. Jahrhundert; s. Abschn. 1.1.3)
zählte auch die Würger und Eulen zur Gruppe der
Konvergenzen bei Geiern Greifvögel, doch wurden die Merkmale, die sie
und Adlern mit den eigentlichen Greifvögeln gemein haben,
Insgesamt wurden über 230 Greifvogelarten be- schon länger als Konvergenzen (d. h. als analoge
schrieben, die 79 Gattungen und 5 Familien Merkmale) erkannt. Heute gelten die Würger als
(Falken – Falconidae; Adler, Bussarde, Weihen, eigene Familie unter den Singvögeln und die Eulen
Habichte, Altweltgeier – Accipitridae; Fischadler als eigene Ordnung Strigiformes unter den Non-
– Pandionidae; Sekretäre – Sagittariidae; Neu- Passeriformes.
weltgeier – Cathartidae) zugeordnet wurden. Die In eigenen Arbeiten haben wir (M. Wink und
Familien werden traditionsgemäß oft als Ordnung Mitarbeiter) die Nucleotidsequenzen des mito-
Falconiformes zusammengefasst, da sie äußerlich chondrialen Cytochrom-b-Gens und des Kern-Gens
ähnlich aussehen und viele gemeinsame Merk- RAG1 (s. Abschn. 4.1.2) von ca. 300 Greifvogeltaxa
male aufzeigen. Vögel dieser Ordnung sind daran erfasst und geprüft, ob die Falconiformes und
angepasst, entweder lebende Beute zu erlegen oder die einzelnen Familien jeweils monophyletische
Aas zu fressen. Dazu besitzen sie entsprechende Gruppen bilden, oder ob der ökologische „Beruf “
morphologische Anpassungen, wie z. B. kräftige Beutegreifer bzw. Geier nicht auch unabhängig in
hakenförmige Schnäbel, kräftige Greiffüße mit verschiedenen Verwandtschaftskreisen entstanden
starken Krallen, exzellentes Sehvermögen und sehr sein könnte. In . Abb. 4.37 wurde eine molekulare
gut entwickelte Flugfähigkeit. Die meisten dieser Phylogenie der Falconidae, Accipitridae, Pandio-
Merkmale könnte man als synapomorph betrach- nidae, Sagittariidae, Cathartidae, sowie Vertreter
ten und deshalb diese Arten zu einer gemeinsa- anderer Vogelfamilien (Gallus als Außengruppe);
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 377

Circus_cyaneus_cyaneus_9943
Cyt b + RAG I 100
Circus_macrourus_5964
Circus_aeruginosus_7325
Weihen 1
78 Circus_pygargus_1681

99
Accipiter_gentilis_2604
Accipiter_nisus_3
Habichte, Sperber 2
Buteo_buteo_423
99 100
Buteo_lagopus_473
Buteo_hemilasius_16609 Bussarde 3
Buteo_rufinus_7451
100 Haliaeetus_leucocephalus 10037
Haliaeetus_albicilla_190 Seeadler 4
68 Milvus_migrans_24912
50
100 Milvus_milvus_22549 Milane
Aquila_adalberti_2841 5
Aquila_heliaca_396
100
Aquila_rapax_28151
Aquila_nipalensis_3876 6
Aquila_wahlbergi_153
100 A. (Hieraaetus)_pennatus_16498
Aquila_clanga_7389 Adler 7
Aquila_pomarina_7386
99
A. (Lophaetus)_occipitalis_20582
Aquila_chrysaetos_15101
Aquila_verreauxii_10028
8
98
A. (Hieraaetus)_spilogaster_20588
A. (Hieraeetus)_fasciatus_376
Circaetus_gallicus_4091 Schlangenadler
9
87
Circaetus_pectoralis_20596
Theratopius_ecaudatus_2371
Aegypius_monachus_10102
10
93
Torgos_tracheliotus_6813
93
Trigonoceps_occipitalis_9251
Sarcogyps_calvus_10101 11
100 Necrosyrtes_monachus_10076 Altweltgeier I
Gyps_fulvus_21650
81 100 Gyps_indicus_24871
12
Gyps_africanus_9219
Gyps_bengalensis_7317

87
Pernis_apivorus_9879 Wespenbussard 13
76 Gypohierax_angolensis_4092
Gypaetus_barbatus_7377 Altweltgeier II
75
86
Neophron_percnopterus_3260 14
Elanus_caeruleus_373 Gleitaar
Pandion_h._haliaetus_3042 Fischadler
Sagittarius_serpentarius_10142
Cathartes_aura_10148
Sekretär 15
Coragyps_atratus_16573
Neuweltgeier III
100 Sarcoramphus_papa_3129
Vultur_gryphus_10113
16
Leptoptilos_crumeniferus_10116
100 Ciconia_ciconia_5791
Jabiru_mycteria_2710
Störche 17
Falco_p._peregrinus_2746
Falken
100 Phalcoboenus_australis_28301
Gallus_gallus (AUßENGRUPPE) 18
0.01
19
.. Abb. 4.37  Konvergenz in der Phylogenie der Greifvögel. Molekulare Phylogenie, abgeleitet aus Nucleotidsequenzen des
Cytochrom-b-Gens und der Intronregion von RAG I und dargestellt als Bootstrap-Phylogramm. Nach M. Wink und Mitarbeiter.
Die Kladen, die Geier beinhalten, sind gelb markiert. Die Zahlen an den Ästen stellen Bootstrap-Wahrscheinlichkeiten dar
20
378 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

Ciconiiformes als Innengruppe) rekonstruiert. Aus log sind, kann die genetische Analyse unzweifelhaft
Gründen der Übersichtlichkeit wurde nur eine herausstellen.
begrenzte Anzahl an Arten aus diesen Gruppen Fischadler, Seeadler und die Steinadlerverwand-
berücksichtigt; die Eigenständigkeit der Gruppen ten könnte man oberflächlich alle in eine Gruppe
bleibt aber erhalten, wenn man alle vorhandenen „Adler“ einordnen. Genauere morphologische,
Sequenzen oder Sequenzen von anderen Genen biologische und ökologische Analysen weisen da-
zugrunde legt. Man kann eindeutig erkennen, dass rauf hin, dass diese Gruppen eigenständige Ver-
jeweils die Familien der Falken, Habichtsartigen, wandtschaftslinien darstellen. Die Sequenzanalyse
Bussarde und Neuweltgeier erwartungsgemäß mo- bestätigt diese Annahme: Seeadler der Gattung
nophyletische Gruppen bilden, die jedoch nicht un- Haliaeetus teilen sich einen gemeinsamen Vorfah-
bedingt näher miteinander verwandt sind. Falken ren mit den Bussarden (Buteo und Verwandte) und
bilden eine unabhängige Gruppe, die keine nähere Milanen (Milvus, Haliastur), während der Fisch-
Verwandtschaft zu den eigentlichen Greifvögeln adler (Pandion) eine sehr frühe Entwicklungslinie
(Accipitridae) aufweist (. Abb. 4.35c). Ähnlichkei- repräsentiert. Die Adler der Gattungen Aquila und
ten in ihren Lebensweisen sind deshalb vermutlich Hieraaetus (Habichts- und Zwergadler) hingegen
auf Konvergenz zurückzuführen. Fischadler stehen bilden in der jetzigen Form eine polyphyletische
in dieser Rekonstruktion an der Basis des Astes, der Gruppe. Würde man Hieraaetus, Lophaetus mit
zu den Accipitridae führt; sie teilen sich vermutlich Aquila vereinen, wie dies bereits vor einigen Jahr-
einen gemeinsamen Vorfahren mit den eigentlichen zehnten geschah, so erhielte man eine eigenstän-
Greifvögeln. dige monophyletische Gruppierung (. Abb. 4.37),
Am Beispiel der Geier kann man die konver- die biologisch und phylogenetisch sinnvoll ist. Eine
gente Evolution der Greifvögel am klarsten erken- Zusammenfassung in eine gemeinsame Gattung
nen. Die Sequenzanalyse bestätigt, dass die Neu- Aquila findet man bereits in neueren Handbüchern
weltgeier eine eigenständige Entwicklungslinie und Bestimmungsbüchern.
darstellen. Innerhalb der Altweltgeier (. Abb. 4.37)
lassen sich zwei grundsätzlich unterschiedliche Ent- Evolution der Brutbiologie
wicklungslinien erkennen: Bartgeier, Schmutzgeier bei Baum-, Eleonoren-
und Palmgeier zweigen basal im Baum der Accipit- und Rotfußfalken
ridae ab, d. h. sie stellen vermutlich eine sehr alte Innerhalb der westpaläarktischen Falken finden wir
Entwicklungslinie dar, zu der auch die Wespen- spezifische ökologische, morphologische und sozio-
bussarde zählen, die mit den echten Bussarden der logische Besonderheiten; z. B. leben einige Arten
Gattung Buteo nicht näher verwandt sind (obwohl sozial in Kolonien, andere dagegen solitär und ter-
sie ähnlich aussehen). Auch andere Merkmale, ritorial. Einige Arten sind strikte Flugjäger, andere
insbesondere in der Embryonal- und Jugendent- nehmen die Beute vom Boden. Einige Falken sind
wicklung, bestätigen den gemeinsamen Ursprung Stand- oder Strichvögel, andere ausgeprägte Zugvö-
dieser Altweltgeiergruppe. Gänsegeier, Mönchsgeier gel, die im tropischen Afrika überwintern. Es stellt
und verwandte Arten repräsentieren dagegen eine sich nun die Frage, inwieweit diese Besonderhei-
zweite eigenständige Entwicklungslinie. Sie bilden ten von einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt
eine Schwestergruppe zu den Schlangenadlern. und an die Nachkommen einer monophyletischen
Innerhalb der Altweltgeier sind die Vertreter der Gruppe sequenziell weitergegeben wurden oder
Gattung Gyps sehr nah verwandt und stellen relativ konvergent entstanden sind. Bei den Falken (Gat-
junge Arten dar. Als Schwestergruppe gruppieren tung Falco) lassen sich mindestens vier große Ent-
sich Mönchsgeier und verwandte Arten, die man wicklungslinien erkennen, die 1. zu den Turm- und
in monotypische Gattungen aufgegliedert hat. Die Rötelfalken, 2. zu den Wander- und Ger-/Würg-
Lebensweise als Aasfresser entstand offensichtlich falken, 3. zu den Merlinen und 4. zu den Baum-,
mehrfach in der Evolution und führte jeweils zu vie- Eleonoren- und Rotfußfalken führen (. Abb. 4.38).
len Ähnlichkeiten in Morphologie und Verhalten; Betrachten wir das Merkmal Zugverhalten
dass diese Merkmale nicht homolog, sondern ana- (. Abb. 4.38a), so erkennt man, dass alle Mitglieder
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 379

der Gruppe 4 in Europa oder Asien brüten, aber in Ein letztes Merkmal, das wir kurz diskutieren
Afrika südlich der Sahara überwintern. Vermutlich wollen, ist das Auftreten einer dunklen Gefieder- 1
hat der gemeinsame Vorfahre von Rotfuß-, Amur-, morphe, insbesondere in der Gruppe der Rot-
Baum-, Schiefer- und Eleonorenfalke (Falco vesper- fuß-, Amur-, Baum-, Schiefer- und Eleonorenfal- 2
tinus, F. amurensis, F. subbuteo, F. concolor und F. ken (. Abb. 4.38d): Während die dunkle Morphe
eleonorae) bereits diese Eigenschaft aufgewiesen. beim Eleonorenfalken bei beiden Geschlechtern
Zugverhalten findet man aber auch beim Rötelfal- vorkommt (s. . Abb. 3.38), finden wir bei Rotfuß- 3
ken (F. naumanni), der mit den Falken aus Gruppe und Amurfalken stets dunkelfarbige Männchen und
4 nicht verwandt ist; hier würde man eher eine un- helle Weibchen. Interessanterweise sind Schiefer- 4
abhängige Entwicklung des Merkmals Zugverhalten falke (dunkel) und Baumfalke (hell) monomorph,
annehmen. d. h. sie besitzen nur eine Farbmorphe. Die phyloge-
Die meisten Greife und Falken brüten solitär netischen Beziehungen implizieren, dass bereits der
5
und sind territorial. Unter den Falken sind Eleo- gemeinsame Vorfahre dieser Gruppe beide Merk-
noren-, Rotfuß- und Amurfalke ausgesprochene male dunkel und hell besaß. 6
Koloniebrüter; Schieferfalken und Baumfalken, die Die Analyse der Falken zeigt also, dass gemein-
zur selben monophyletischen Gruppe gehören, sind same ökologische, soziologische und morpholo- 7
häufig Einzelbrüter, kommen manchmal aber in lo- gische Merkmale in einigen Fällen synapomorph
ckeren Kolonien (besonders der Schieferfalke) vor sind, d. h. sich von einem gemeinsamen Vorfahren
(. Abb. 4.38b). Aber auch die Mitglieder der Turm- ableiten lassen, in anderen Fällen aber auf Konver- 8
falkengruppe, insbesondere der Rötelfalke, brüten genz beruhen.
kolonial. Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass 9
Koloniebrüten und soziale Verhaltensweisen in bei- Genetik von Paarungssystemen
den monophyletischen Falkengruppen unabhängig Wie in Absch. 3.3 erläutert, war die Entwicklung
voneinander entstanden sind. der Sexualität ein wichtiger evolutionärer Schritt,
10
Setzt man die Nahrung und die Art der Nah- der die genetische Variabilität und phänotypische
rungssuche in Beziehung (. Abb. 4.38c), so er- Plastizität stark erhöhte. In diesem Kapitel soll die 11
kennt man Gemeinsamkeiten in einigen mono- Evolution der sich daraus ableitenden Paarungssys-
phyletischen Teilgruppen: Baum-, Schiefer- und teme bei Tieren diskutiert werden; außer Betracht 12
Eleonorenfalken, die sich erst vor ca. 1 Mio. Jahren bleibt der bei Pflanzen und anderen einfachen Or-
trennten, sind reine Flugjäger und auf Insekten und ganismen vorherrschende Hermaphroditismus
Kleinvögel spezialisiert. Amur- und Rotfußfalken (Zwittrigkeit). 13
sind nah verwandte Zwillingsarten und ernähren Wenn getrennte Geschlechter vorliegen, so
sich ähnlich den Baum-, Schiefer- und Eleono- lassen sich theoretisch folgende Paarungssysteme 14

-
renfalken; sie haben aber ihr Nahrungsspektrum unterscheiden:
um Eidechsen und Amphibien erweitert, die auf Promiskuität: es liegt keine Paarbindung vor
dem Erdboden erbeutet werden. Darin ähneln sie und Kopulationen erfolgen bei beiden Ge-
15

-
den Rothalsfalken (F. chicquera, F. horsbrughi), schlechtern mit mehreren Partnern.
mit denen sie einen gemeinsamen Vorfahren tei- Polygynie: ein Männchen paart sich mit 16
len. Ganz anders sieht das Nahrungsspektrum der mehreren Weibchen (Haremsbildung); im
Großfalken (Falco cherrug, F. biarmicus, F. rusti- Sonderfall, dass ein Männchen zwei Weibchen 17
-
colus) aus, die sich auf größere Vögel, Kleinsäuger hat, spricht man von Bigynie.
und Eidechsen spezialisiert haben. Die Vertreter Polyandrie: ein Weibchen paart sich mit meh-
18
-
der Turm- und Rötelfalken dagegen erbeuten ihre reren Männchen.
Nahrung auf dem Erdboden, insbesondere Kle- Polygamie: umfasst Polygynie und Polyand-

- 19
insäuger, Eidechsen, aber auch Kleinvögel und rie.
Insekten. Auch bei diesem Merkmal erkennt man Monogamie: die Paarbindung hat während
sowohl phylogenetisch beibehaltene als auch kon- einer oder mehrerer Brutperioden Bestand.
vergente Elemente.
20
380 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.38 a–d  Molekulare Evolution der Falken im Zusammenhang mit ökologischen, ethologischen, physiologischen und
morphologischen Merkmalen. a Zugverhalten, b Sozialverhalten, c Nahrung, d Gefiederfärbung. Beim Würgfalken können zwei
Haplotypen unterschieden werden, die als Falco cherrug I und II bezeichnet werden.
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 381

Bei vielen Wirbellosen sind feste Paarungssysteme nur über solche „Statussymbole“ indirekt sichtbar
mit gemeinsamer Aufzucht der Nachkommen sel- wird. Denn diese Balzkleider, ausgiebige Gesänge 1
ten, so dass polygyne und promiskuine Paarungssys- oder andere Luxusmerkmale (besonders gelb oder
teme vorherrschen. Man kann von einer anonymen rot gefärbte Schnäbel, Füße und Hautareale) ver- 2
Panmixie sprechen. Bei den sozialen staatenbilden ursachen Kosten und nur ein gesundes und vitales
Insekten (z. B. Bienen, Ameisen, Termiten) hat sich Männchen ist in der Lage, solche Merkmale auszu-
die Polyandrie als ein sehr erfolgreiches System eta- bilden. Kommen Tiere mit solchen „Statussymbo- 3
blieren können. len“ vermehrt zur Fortpflanzung, werden sich auch
Wie sieht die Situation bei den Vertebraten aus? die zugehörigen Merkmale (vorausgesetzt, dass sie 4
Fische, Amphibien und Reptilien zeigen nur selten genetisch vererbt werden) bevorzugt durchsetzen.
monogame Paarbeziehungen; meist liegt Polygamie Dieses Phänomen wird auch als „Handicap-Prinzip“
und Promiskuität vor. Bei Vögeln überwiegen mo- von Amotz Zahavi und Avishag Zahavi (1998) be-
5
nogame Paarungssysteme; ca. 90 % aller Vogelarten zeichnet.
sollen wenigstens sozial monogam sein. Bei den Das neue Methodenrepertoire der Molekular- 6
Säugetieren ist wiederum die Polygynie besonders biologie kann man nutzen, um die Soziobiologie
häufig, gefolgt von Promiskuität und Monogamie. von Paarungssystemen genetisch zu überprüfen 7
Ein interessantes Thema ist in diesem Zusammen- (näheres s. Bennett u. Owens 2002). Durch DNA-
hang die Spermienkonkurrenz (sperm competition), Fingerprinting (. Abb. 4.4, . Abb. 4.6) oder Mi-
denn für die reproduktive Fitness kommt bei pro- krosatelliten-Analyse (. Abb. 4.7) kann man die 8
miskuinen Systemen nicht nur darauf an, wer mit Elternschaft genauer analysieren und der Frage
wem kopuliert sondern welche Spermien zur Be- nachgehen, ob sozial monogame Arten auch auf 9
fruchtung kommen (Shifferman 2012). Für interes- genetischer Ebene als monogam anzusehen sind,
sierte Leser sei auf das Buch von T. Birkhead (2001) oder ob Extra-pair young (EPY) außerhalb des
„Promiscuity: An Evolutionary History of Sperm Paarverbundes auftreten. Um Paternität oder in-
10
Competition“ verwiesen. dividualspezifische DNA-Strukturen zu erkennen,
Der sexuellen Selektion, die bereits 1871 von muss der Bereich der DNA analysiert werden, der 11
Darwin eingehend untersucht wurde, kommt aus die höchste Variabilität aufweist (s. Abschn. 3.4.3).
evolutionärer Sicht besondere Bedeutung in den Mini- und Mikrosatelliten-DNA, die in vielen un- 12
verschiedenen Paarungssystemen zu. Während terschiedlich großen Kopien im Genom verbreitet
Darwin die Weibchenwahl (female choice) zumin- sind und durch Rekombination individualspezifisch
dest in monogamen Paarungssystemen für nicht variieren, eignen sich für diese Fragestellung beson- 13
wichtig hielt, nimmt sie heute in der aktuellen ders. Die vielfältigen Analysen, die im letzten Jahr-
Diskussion eine größere Rolle ein. Sexuelle Selek- zehnt durchgeführt wurden, haben klar gezeigt, dass 14
tion kann Merkmale fördern, die aus Sicht der na- in monogamen Systemen Kopulationen außerhalb
türlichen Auslese auf den ersten Blick als schlecht des Paarverbundes (Extra-pair copulations; EPC)
angepasst gelten. Man denke an die aufwendige regelmäßig auftreten und in nicht wenigen Fällen
15
Prachtfärbung der Vogelmännchen, zu denen auch zu Extra-pair fertilisation (EPF) und zu EPY füh-
das Rad des Pfaus und die für den menschlichen ren (diese Terminologie hat sich auch im deutschen 16
Betrachter oft merkwürdigen Balzgefieder bei Birk- Sprachraum eingebürgert). Deshalb schränkt man
hühnern oder Trappen zählen. Der lautstarke Ge- den Begriff Monogamie häufig durch das Adjektiv 17
sang vieler Singvogelmännchen während der Balz- „sozial“ ein.
zeit ist ein weiteres Verhalten, womit die Männchen Die Analysen haben außerdem gezeigt, dass in
Prädatoren geradezu auf sich aufmerksam machen monogamen Beziehungen nicht nur die Männchen, 18
und anlocken. Diese Merkmale sind nur unter dem sondern auch die Weibchen versuchen, ihren indi-
Aspekt der female choice sinnvoll. Es sind nämlich viduellen Reproduktionserfolg durch EPC zu erhö- 19
die Weibchen, welche die Männchen als Partner hen. Weibchen können durch EPC direkte und in-
wählen. Als Zielkriterium gilt sicherlich die Vita- direkte Fitness-Gewinne erlangen. Zu den direkten
lität der Männchen, die aber nicht direkt, sondern Vorteilen zählen eine zusätzliche Versorgung und
20
382 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

Verteidigung des Weibchens und der Jungvögel


durch ein EPC-Männchen. Indirekte Vorteile be-
treffen die genetische Qualität des EPC-Männchens
(Gute-Gene-Hypothese; good gene hypothesis),
indem die Heterozygotie in den Nachkommen,
ihre Fitness oder die Attraktivität der Söhne erhöht
werden (sexy son hypothesis). Nicht immer ist die
Wahl eines Partners ideal (constrained female hy-
pothesis); durch EPC können Weibchen diese Fehl-
entscheidung teilweise bereits im Brutjahr korrigie-
ren. Bei längerlebigen Tieren kann aus einer solchen
Beziehung eine Neuverpaarung in der nächsten
Brutsaison resultieren (re-pairing hypothesis).
Entspricht das Männchen jedoch dem Qualitäts-
standard des Weibchens oder liegt es sogar darüber,
dann sollte ein Weibchen keine EPC suchen und
nicht die Vorteile der Monogamie riskieren.
Die Faktoren, die zur Extra-Pair-Paternität .. Abb. 4.39  Beziehung zwischen der Wahrscheinlichkeit,
führen, sind vielschichtig, und EPF-Raten können dass beide Partner eines Vogelpaares überleben und ein
zwischen Arten, ja selbst Populationen und un- zweites Mal zusammen brüten, und dem Anteil an Extra-
terschiedlichen ökologischen Randbedingungen pair Young (EPY) bei den Nachkommen. Nach Wink u. Dyrcz
(1999). Singvögel sind als gefüllte rote, Nicht-Singvögel als
schwanken. Man kann nicht erwarten, dass ein ein-
offene Kreise dargestellt
mal gefundener Wert für eine EPF-Rate bei einer
Art für alle Populationen und Bedingungen gilt.
Analysiert man die EPF-Raten bei sozial monoga- einer Organismengruppe entstanden, z. B. indem
men Vogelarten, so findet man relativ hohe Raten man die molekulare Phylogenie über Sequenzen
bei Singvögeln (bis zu 50 % der Bruten können bei von Markergenen ermittelt und in die erhaltenen
einigen EPY enthalten), aber deutlich geringere Ra- Stammbäume die Paarungssysteme kartiert.
ten (unter 10 %) bei längerlebigen größeren Vogel- Für amerikanische Stärlinge (Familie Icteri-
arten (meist in der Gruppe der Nicht-Singvögel), dae) oder altweltliche Rohrsänger, in denen mo-
selbst wenn diese kolonial und synchron brüten und nogame, polygyne, promiskuine und polymorphe
damit die theoretischen Möglichkeiten für EPC be- Paarungssysteme nachgewiesen wurden, liegen
sonders günstig wären. Setzt man diese Werte in entsprechende Analysen bereits vor. Die Mehrzahl
Relation zur Wahrscheinlichkeit, dass ein Brutpaar der Arten ist sozial monogam. Die Kuhstärlinge der
bis zur nächsten Saison überlebt (pair survival), so Gattung Molothrus sind polygam und gleichzeitig
ergibt sich eine Beziehung, wie in . Abb. 4.39 dar- Brutparasiten, die ihre Jungen von fremden Eltern
gestellt. Vogelarten mit hoher Mortalität brüten oft ausbrüten und aufziehen lassen (ähnlich unserem
nur einmal in ihrem Leben; für solche Arten sollte Kuckuck). In der Gattung der Rotschulterstärlinge
es wichtig sein, den Reproduktionserfolg in jedem (die nach den Cytochrom-b-Analysen polyphyle-
Falle durch EPC abzusichern. Längerlebige Arten tisch zu sein scheint) treten monogame und po-
können eine schlechte Partnerwahl im nächsten lygame Brutsysteme parallel auf. Nimmt man die
Jahr revidieren. Einmal erfolgreich brütende Paare Monogamie als ancestrales (ursprüngliches) Merk-
sollten jedoch zusammenbleiben und keine EPC mal an, so erfolgten die Spezialisierungen zu poly-
eingehen. Dieser Trend wird aus . Abb. 4.39 und gamen Systemen nur bei einzelnen Arten oder bei
aus Freilandstudien ersichtlich. Zwillingsarten; es handelt sich damit um vermutlich
Hat man über diese Verfahren die Genetik der adaptive konvergente Merkmale.
Sozialsysteme ermittelt, so kann man im nächsten Brutparasitismus stellt einen Sonderfall der
Schritt prüfen, wie diese Systeme in der Phylogenie Brutsysteme dar. Beim Kuckuck (Cuculus canorus)
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 383

konnte die Genetik des Brutparasitismus weitge- unterschiedliche Fitness oder Motilität haben. Das
hend geklärt werden. Kuckucksweibchen bilden Geschlechtsverhältnis (sex ratio) bei Geburt wird als 1
spezifische Wirtsrassen aus und legen Eier, die de- primäres Geschlechtsverhältnis bezeichnet. Nach
nen der jeweiligen Wirtseltern entsprechen, d. h. der Geburt kann es durch unterschiedliche Fitness 2
ein Kuckucksweibchen, das von einer Bachstelze und Mortalität weiter modifiziert werden (sekun-
aufgezogen wurde, legt seine Eier später nur in däres Geschlechtsverhältnis).
Bachstelzennester. Da seine Eier denen der Bach- Bei Rothirschen wurde beispielsweise beobach- 3
stelzen in Färbung und Größe ähneln, besteht eine tet, dass vitale Weibchen mehr Söhne produzieren
große Chance, dass die Wirtseltern das Kuckucksei als schwächere Weibchen. Umgekehrt haben starke 4
nicht entdecken, sondern ausbrüten. Die Kuckucks- vitale Männchen mehr Töchter als Söhne. Als Er-
männchen sind promiskuin und paaren sich mit al- klärung wird diskutiert, dass Töchter für eine vitale
len verfügbaren Weibchen, unabhängig von deren Mutter bzw. Söhne für einen starken Vater später
5
Wirtsrasse. Da bei den Vögeln die Weibchen das u. U. zu Konkurrenten werden, während das gegen-
heterogametische Geschlecht (s. Abschn. 3.3.2) dar- teilige Geschlecht nicht zum Konkurrenten, son- 6
stellen, wäre es möglich, dass die genetischen Anla- dern eher sogar zum Geschlechtspartner werden
gen für die Eimorphologie auf dem W-Chromosom könnte (näheres in Hardy 2002). 7
(s. Abschn. 3.3.2) lokalisiert sind. Dies würde die Eine Voraussetzung für die Analyse solcher Fra-
Herausbildung der genetisch determinierten Wirts- gestellungen ist die Möglichkeit, das Geschlecht von
rassen ermöglichen. Embryonen oder gerade geborenen Tieren mole- 8
Es liegt nahe, die Betrachtung der Evolution der kular zu bestimmen, denn bei vielen Tiergruppen,
Paarungssysteme auf den Menschen auszudehnen z. B. Vögeln, ist die Geschlechtsbestimmung nach 9
(s. Kap. 5). Wenn auch eine zeitweise und soziale äußerlichen morphologischen Kriterien schwierig.
Monogamie als ein weitverbreitetes Paarungssystem In den letzten Jahren wurden deshalb PCR-Verfah-
in den meisten menschlichen Kulturen vorherrscht, ren entwickelt, welche DNA-Fragmente auf den
10
kann man Polygynie (Haremsbildung) und Polyan- Geschlechtschromosomen amplifizieren, die bei
drie in einigen Ethnien beobachten. Berücksichtigt Vogelweibchen bekanntlich heterogametisch sind 11
man die Paarungssysteme bei den Menschenaffen, (s. Abschn. 3.3.2). Bei geeigneter Wahl der PCR-Pri-
die im Wesentlichen von Polygynie (Gorilla) bis zur mer kann man bei den Weibchen eine oder mehrere 12
Promiskuität (Bonobo) reichen, ist die beim Men- Banden amplifizieren, die bei den Männchen nicht
schen vorherrschende Monogamie nicht als selbst- vorhanden sind. Bei Säugetieren funktioniert die
verständlich anzusehen. Es stellt sich eher die Frage, Methode analog, nur dass die Männchen zusätzliche 13
welche ökologischen und soziologischen Faktoren geschlechtsspezifische Banden aufweisen.
dieses System beim Menschen selektiert haben. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, 14
wenn man die unterschiedlichen sexuellen Verhält-
Geschlechterverhältnis nisse bei Tieren und Pflanzen (Eingeschlechtlichkeit,
15
Das Geschlechterverhältnis beträgt bei getrenntge- Hermaphroditismus, sequenzieller Hermaphroditis-
schlechtlichen Arten (Gonochoristen) bei Geburt mus) ausführlich abhandeln wollte – so spannend
theoretisch 1:1, doch gibt es viele Beispiele, die Ab- das Thema auch aus evolutionärer Sicht ist. 16
weichungen von diesem Gleichgewicht zeigen.
Wie kann das Geschlechterverhältnis (sex allo- 17
cation) verändert werden? 4.3.3 Pflanzliche Sekundärstoffe
Nach der Befruchtung könnte es in der Gebär- und Systematik
mutter zu einer selektiven Mortalität kommen, 18
indem eines der Geschlechter bevorzugt abstirbt.
Bei Organismen, in denen die Männchen heteroga- Funktion der Sekundärstoffe 19
metisch sind (z. B. den Säugetieren) kann das Ge- Ein auffälliges Merkmal der höheren Pflanzen ist
schlechtsverhältnis auch dadurch beeinflusst wer- ihre Fähigkeit, Sekundärstoffe, eine große Diver-
den, dass die Spermien mit Y- und X-Chromosomen sität meist niedermolekularer Naturstoffe, zu pro-
20
384 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.40  Übersicht über die Strukturklassen der Sekundärstoffe und die geschätzte Zahl der bekannten Strukturen

duzieren. Bei der Betrachtung der in . Abb. 4.40 u. Berenbaum 1992; Harborne 1993; Wink 1988,
aufgeführten Zahlen der derzeit bekannten Struk- 1993, 2003, 2010a, b). Die über 360.000 Landpflan-
turvarianten muss man beachten, dass schätzungs- zen stehen als autotrophe Organismen an der Basis
weise lediglich 20 % aller Pflanzen – und diese der Nahrungskette (Primärproduzenten). Direkt
bislang meist nur unvollständig – phytochemisch oder indirekt hängen über 1,5 Mio. Tierarten als
untersucht wurden. Man kann annehmen, dass die Konsumenten (Sekundärproduzenten) von ihnen
Zahl der wirklich vorhandenen Strukturen, zu de- ab. Sowohl Pflanzen als auch Tiere werden von den
ren Aufklärung neuerdings sehr empfindliche und Mikroorganismen als Nahrungssubstrat genutzt.
leistungsfähige Methoden, beispielsweise HPLC Wir wissen in vielen Fällen, welche Strategien Tiere
(high pressure liquid chromatography), GLC (gas- benutzen, um sich gegen Mikroorganismen oder ge-
liquid chromatography), MS (Massenspektrometrie) gen Fraßfeinde zu schützen: Da ist zum einen das
und NMR (nuclear magnetic resonance) zur Verfü- hoch entwickelte Immunsystem gegen Viren und
gung stehen, ein Vielfaches betragen wird. Eine Mikroorganismen wie Bakterien und Pilze, zum an-
Auswahl wichtiger Strukturtypen ist in . Abb. 4.40 deren sind es Waffen oder Verhaltensweisen (Flucht,
aufgeführt. Tarnung usw.) gegenüber Prädatoren.
Nachdem man die pflanzlichen Sekundärstoffe Pflanzen sind unbeweglich und können deshalb
lange als Endprodukte und Abfallprodukte oder als weder fliehen noch sich aktiv mit Waffen wehren,
funktionslose Stoffwechselprodukte angesehen hat, und gegen pathogene Mikroorganismen fehlt ih-
weiß man inzwischen, dass viele Sekundärstoffe für nen ein Immunsystem. Jede Pflanzenart hat in der
die Fitness und das Überleben der sie produzieren- Evolution spezielle Eigenschaften erworben, die ihr
den Pflanze wichtig sind (Übersichten in Rosenthal Überleben fördern (. Abb. 4.41a). Mechanischen
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 385

.. Abb. 4.41 a, b  Mögliche Funktio- a


nen von Sekundärstoffen bei Pflanzen 1
und Tieren. a Verteidigung gegen
Pflanzenfresser und Mikroorganismen
am Beispiel des Fingerhuts (Digitalis 2
purpurea), der Herzglycoside produ-
ziert. Herzglycoside wirken gegen Tiere,
indem sie Na+-K+-ATPasen hemmen. Herbivore Mikroorganismen 3
Außerdem wirken Herzglycoside, die
man chemisch als Saponine ansehen
kann, wie Tenside und sind daher in der 4
Lage, Biomembranen von Mikroor-
ganismen permeabel zu machen.
Daher sind sie auch antimikrobiell. b 5
Übersicht über die generelle Funktion O

von Sekundärstoffen in Pflanzen


6
OH O
Störung der
Membranpermeabilität
Na+, K+- O
OH

ATPase
O
CH3 7
CH3
O O

8
OH CH3

OH
OO
Multiple Funktionen
OH
OH

b 9
Sekundärstoffe

Funktion UV-Schutz 10
N-Speicherung

11
Abwehr Anlockung
12
Herbivore/ Mikroorga- Konkurrenten •bestäubende Insekten
Prädatoren nismen (andere Pflanzen) •Samenverbreitende Tiere
•Rhizobien
13
•Insekten •Bakterien
•Mollusken •Pilze •angepasste Spezialisten
•Vertebraten Viren
14

Schutz erhalten einige Arten durch Brennhaare, (z. B. Phytoalexine nach Pathogenbefall) gebildet
15
Dornen, Stacheln oder inerte Rinden und andere werden. Die Hauptfunktion der Sekundärstoffe
abweisende Abschlussgewebe. Einige Proteine besteht besonders in der chemischen Abwehr von 16
(Abwehrproteine [pathogenesis related proteins: Pflanzenfressern aber auch von Mikroorganismen
PR-Proteine], Enzyme wie Glucanasen oder Chiti- und anderen Pflanzen. Daneben wirken andere, 17
nasen) helfen gegen mikrobiellen Befall. Die wich- manchmal aber auch dieselben Sekundärstoffe als
tigste Funktion haben in diesem Zusammenhang Signale zur Anlockung von bestäubenden Insekten
aber wohl die Sekundärstoffe (. Abb. 4.40), die oder von Früchte-verbreitenden Tieren; auch UV- 18
zum Teil konstitutiv vorkommen, zum Teil präfor- Schutz und Schutz gegen reaktive Sauerstoffspezies
miert (z. B. als „Protoxine“ wie Glucosinolate, cya- (ROS) können eine zusätzliche Komponente sein 19
nogene Glucoside, Cumaroylglycoside, Alliin und (. Abb. 4.41b).
Ranunculin, die erst im Verteidigungsfall durch Um erfolgreich gegen Pflanzenfresser geschützt
Enzyme aktiviert werden) oder nur nach Induktion zu sein, muss die Pflanze Substanzen in ausreichen-
20
386 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.42 a, b  Wirkorte von Sekun-


därstoffen in Bakterien und Tieren auf
der Ebene der Zelle und Makromolekü-
le: a Bakterien, b Tierzelle. PAs = Pyrroli-
zidin-Alkaloide

der Konzentration produzieren. Dazu müssen sie (Bindeproteine für Neurotransmitter) oder andere
wichtige Organe oder Gewebe bzw. Zielstrukturen Elemente der neuronalen Signaltransduktion, die
(Targets) in einem Tier oder einem Mikroorganis- nur im Tier angelegt sind. Es ist deshalb auch nicht
mus signifikant beeinflussen. In . Abb. 4.42a,b überraschend, dass Pharmakologen und Toxiko-
sind die molekularen Targets in Bakterien und logen für jedes dieser Targets Naturstoffe nennen
tierischen Zellen aufgeführt, die besonders „sen- können, die hier spezifisch angreifen (. Abb. 4.42).
sibel“ sind. Wichtige basale Zielstrukturen, die in Neben den spezifisch wirksamen Naturstoffen exis-
allen Organismen vorkommen, wie DNA, RNA tieren diverse Polyphenole und Terpene, die eher
und zugehörige Enzyme und Prozesse, die Prote- unselektiv mit Proteinen und Biomembranen in-
inbiosynthese und die Stabilität der Biomembran teragieren, aber dennoch biologisch sehr aktiv sind
kommen genauso in Frage wie Neurorezeptoren (Wink 2008).
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 387

.. Abb. 4.43  Hypothetische Ent-


stehung von Biosynthesewegen am
Beispiel der von Lysin abgeleiteten
1
Alkaloide
2
3
4
5
6
7
8
9

Eine chemische Verteidigung evolvierte paral- Evolution von Sekundärstoffen 10


lel an vielen Stellen des pflanzlichen Stammbaums. mit biologischer Wirkung
Dabei ist nicht nur eine einzige Wirkstoffklasse Wie kann man sich die Evolution eines Wirkstoffs 11
entstanden, sondern viele unterschiedliche Wirk- vorstellen? In der Natur werden immer sehr viel
stoffe, die zudem an unterschiedlichen Stellen im mehr Nachkommen produziert als überleben 12
Stoffwechsel angreifen und pleiotrope Wirkun- können. Wenn auch die Nachkommen im We-
gen hervorrufen können. Außerdem produzieren sentlichen gleich sind, entstehen durch Mutation
Pflanzen fast immer komplexe Gemische von Se- und Rekombination doch ständig kleine Varian- 13
kundärstoffen mit unterschiedlichen Wirkspektren. ten im Genotyp und im Phänotyp einer Art. Man
Vermutlich wirken die einzelnen Inhaltsstoffe nicht könnte sich vorstellen, dass in einer ursprüngli- 14
nur additiv, sondern verstärken sich synergistisch chen Pflanzenart durch Mutation ein Enzym des
(Wink 2008). Auf diese Weise sind Pflanzen gegen Primärstoffwechsels (z. B. eine Decarboxylase) so
ein weites Spektrum von Feinden geschützt. Zudem modifiziert wurde, dass es Lysin als Substrat ak-
15
wäre die chemische Abwehr sehr anfällig, wenn sich zeptiert. Alle Nachkommen, die dieses mutierte
alle Pflanzen auf eine einzige Substanz „konzen­ Gen exprimierten, würden Lysin in das Diamin 16
triert“ hätten; es wäre den Tieren oder Pathogenen Cadaverin überführen. Würde bei diesen Pflanzen
sicher ein Leichtes gewesen, entsprechende Resis- in weiteren Generationen eine erneute Mutation 17
tenzmechanismen „zu entwickeln“. Man denke an vorhandene Transaminasen oder Aminoxidasen so
die analoge Situation bei den Antibiotika: Werden verändern, dass diese Cadaverin als Substrat ein-
alle Patienten nur mit Penicillin behandelt, so selek- setzen, so würde Cadaverin in 5-Aminopentanal 18
tiert man Bakterienstämme mit Penicillinresistenz. umgewandelt. Dieses instabile 5-Aminopentanal
Setzt man dagegen unterschiedliche Antibiotika (die kann mit Cadaverin oder mit sich selbst zyklisie- 19
zudem noch an verschiedenen molekularen Targets ren und biologisch aktive Piperidein-Derivate wie
[Zielorte] angreifen) oder Mischpräparate ein, so z. B. Ammodendrin bilden (. Abb. 4.43). Also wä-
lässt sich eine Resistenz in vielen Fällen vermeiden. ren Pflanzen bereits durch zwei Mutationsschritte
20
388 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.44  Schematische Darstel-


lung des evolutionären molekularen
Modellings der Natur

Terpene Bootstrap
Marchantia Moose
Phenole 40
Equisetum Schachtelhalme
84 Angiopteris
Farne
Ophioglossum
Lycopodium Bärlappe
Alkaloide 99
Ephedra
61
Gnetum Pinales-Gnetaceae
94
Welwitschia
94
74 Cycas Cycadales
Taxodium Pinales
96 56 Nymphaea
Dicotyle
Amborella
95
94 Colchicum Monocotyle
Aloe
55
Papaver Sperma-
82 88 Nicotiana tophyta
Heliotropium
96 Dicotyle
92 Lupinus
Prunus
rbcL
.. Abb. 4.45  Auftreten von Sekundärstoffen im Stammbaum der Pflanzen, der über Sequenzen des plastidären rbcL-Gens
rekonstruiert wurde. Darstellung als Bootstrap-Kladogramm. Die Bärlappe stehen in diesem Stammbaum zwischen Farnen und
Samenpflanzen; sie sind aber in der Evolution vermutlich früher als die Farne entstanden (. Abb. 4.29). Die blau gezeichneten
Äste führen zu Taxa, die Alkaloide produzieren
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 389

an Primärstoffwechselenzymen in der Lage, aktive angreifen oder aber für die es biochemische Schutz-
Wirkstoffe zu synthetisieren. mechanismen gibt. Während der Chemiker auch 1
In jeder Generation setzt die Selektion ein, d. h. Substanzen erzeugen kann, die alle Lebensformen
in der Regel bleiben von den vielen potenziellen vernichten, kann diese Möglichkeit für natürliche 2
Nachkommen nur solche Individuen am Leben, die Wirkstoffe ausgeschlossen werden.
am besten an ihre Umwelt angepasst sind. Dabei Dadurch, dass Pflanzen im Verlauf der Evolu-
verschwinden insbesondere Individuen, die funk- tion eine Vielzahl an Wirkstoffen entwickelt haben, 3
tionslose oder negative Merkmale exprimieren. waren sie seit jeher auch für den Menschen interes-
Bezogen auf die Evolution der chemischen Vertei- sant und nutzbar. Alkaloide, Herzglycoside und an- 4
digung kann man annehmen, dass Individuen, die dere Wirkstoffe wurden früher bei uns und werden
in der Lage sind, einen Abwehrstoff zu bilden, bes- heute noch bei einigen Naturvölkern als Gifte zur
sere Überlebenschancen haben als Pflanzen ohne Jagd und Verteidigung eingesetzt (z. B. als Pfeil-
5
Schutzstoffe. Da bereits einfache Piperideinderivate gifte). Bei uns steht inzwischen die medizinisch-
Neurorezeptoren in Tieren negativ beeinflussen, pharmazeutische Nutzung im Vordergrund, denn 6
könnte man sich in unserem Beispiel vorstellen, viele Sekundärstoffe liefern, richtig dosiert, inter-
dass die Pflanzen, die durch Mutation in der Lage essante Therapeutika. Ökonomisch bedeutsam ist 7
sind, diese Alkaloide zu produzieren, einen gewis- ferner die Nutzung der Sekundärstoffe als Gewürz-,
sen Selektionsvorteil haben. Wenn sich die Selekti- Aroma- und Duftstoffe, ferner als Stimulanzien
onsspirale weiterdreht, können durch weitere Mu- (beispielsweise das Koffein im Kaffee oder Tee, oder 8
tationen an Biosynthesegenen Enzyme entstehen, das Nicotin im Tabak) und Naturfarben. Da bislang
die aus den einfachen Piperideinen komplexere nur etwa 20–30 % aller Pflanzen phytochemisch un- 9
Alkaloide, z. B. Spartein machen (. Abb. 4.43). Je tersucht wurden, lässt sich nur abschätzen, wie viele
besser diese Alkaloide mit einem molekularen Tar- Wirkstoffe, insbesondere in tropischen Pflanzenar-
get interagieren (z. B. je besser es an die Bindestelle ten, noch nicht gefunden wurden. Mit z. T. großem
10
des Acetylcholins am Acetylcholinrezeptor passt), Aufwand wird die Suche nach diesen Wirkstoffen
desto größer wird der evolutionäre Vorteil. Da diese (Bioprospektion) betrieben. Nicht nur aus evolu- 11
Prozesse über viele Millionen von Generationen ab- tionären oder naturschützerischen Gründen, son-
laufen konnten, ist es nicht verwunderlich, dass die dern auch unter biotechnologisch-ökonomischen 12
Natur so viele Sekundärstoffe entwickelt hat, die gut Aspekten ist daher die vollständige Erhaltung der
mit Zielstrukturen (Targets) in Tieren interagieren Biodiversität der Erde von großer Wichtigkeit.
können. Bildlich gesprochen hat die Natur „Nach- 13
schlüssel“ entworfen, die aber nur tierische Türen Sekundärstoffe als taxonomische
aufschließen können und damit für die produzie- Marker 14
renden Pflanzen harmlos sind. In Analogie zum Sekundärstoffe müssen schon früh in der Evolu-
„molecular modelling“ der modernen synthetischen tion der Pflanzen entstanden sein, denn die Not-
Chemie könnte man von einem „evolutionären wendigkeit einer Abwehr von Bakterien und Tieren
15
molekularen Modelling“ sprechen. In . Abb. 4.44 bestand schon in der frühen Phase der Landpflan-
sind diese Schritte schematisch zusammengefasst. zenevolution. Auch ein Schutz gegen UV-Strahlen 16
Synthetische Wirkstoffe werden auf ähnliche war notwendig. Wir wissen natürlich nicht, wel-
Weise entwickelt; nur entscheidet hier der Chemi- che Sekundärstoffe bereits im Mesozoikum oder 17
ker (und nicht die natürliche Selektion) aufgrund früher produziert wurden. Wenn man jedoch die
von Ergebnissen im Bioassays oder Tiermodell, ob Nachfahren der frühen Landpflanzen, beispiels-
eine Struktur ausreichend wirksam ist. Ein grund- weise Moose, Farne und Samenpflanzen darauf- 18
sätzlicher Unterschied besteht jedoch zwischen den hin überprüft, ob sie Sekundärstoffe produzieren,
„natürlichen“ und den „synthetischen“ Wirkstoffen. so gibt es keine Gruppe ohne chemische Vertei- 19
Eine Pflanze kann nur einen Wirkstoff hervorbrin- digung. . Abb. 4.45 illustriert den vereinfachten
gen, der sie selbst nicht tötet, d. h. es sind insbe- Stammbaum der Landpflanzen und das Vorkom-
sondere solche Substanzen, die nur Targets im Tier men wichtiger Sekundärstoffgruppen. Es ist sehr
20
390 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

FRÜHE EVOLUTION Protobacteria Cyanobacteria

HGT HGT

mt cp

Symbiotische Pilze

HGT Gene
Duplikation
-Endophyten
Mutation
-Ectomycorrhiza Genom Selektion
SM Spezialisierung
mRNA

Protein
SM SM

SM

.. Abb. 4.46  Schematische Darstellung der möglichen Evolution von Sekundärstoffgenen bei Pflanzen unter besonderer
Berücksichtigung des horizontalen Gentransfers (HGT). cp = Chloroplast, mt = Mitochondrium, SM = Sekundärmetabolit

wahrscheinlich, dass die Stoffwechselwege, die zu Import an bakteriellen Sekundärstoffgenen über


den Sekundärstoffklassen führen, bereits sehr früh α-Proteobakterien, aus denen die Mitochondrien
in der Phylogenie angelegt wurden: Terpene und entstanden und aus Cyanobakterien, aus denen die
Polyphenole (z. B. Flavonoide) treten verbreitet Chloroplasten hervorgingen. Viele Pflanzen leben
bereits bei Moosen auf, die im Palaeozoikum vor mit endophytischen Pilzen zusammen, die ebenfalls
mehr als 400  Mio. Jahren entstanden. Alkaloide Sekundärstoffe produzieren und damit die chemi-
finden wir bei den meisten Gruppen der Tracheo- sche Verteidigung der Wirtspflanzen verbessern.
phyta (. Abb. 4.29); sie sind bereits prominent bei Es gibt Hinweise darauf, dass diese Endophyten of-
Bärlappgewächsen, die im Devon vor ca. 400 Mio. fenbar einige Biosynthesegene an das Genom der
Jahren entstanden (s. Abschn. 2.2.4). Da die meis- Wirtspflanzen abgegeben haben, also ein weiterer
ten Alkaloide mit Zielstrukturen im tierischen Fall von horizontalem Gentransfer.
Nervensystem interagieren, sind sie sicher gegen Da Sekundärstoffgruppen in vielen Fällen in ge-
tierische Fraßfeinde gerichtet, die auch schon im wissen Pflanzenfamilien oder Gattungen vermehrt
Paläozoikum vorhanden waren. Wenn man über auftreten, hat man Sekundärstoffe seit 200 Jahren
die Evolution des Sekundärstoffwechsels speku- als taxonomische Marker benutzt. Die daraus ent-
liert, darf man die Möglichkeiten des horizontalen standene Disziplin wird als Chemotaxonomie be-
Gentransfers (HGT; s. Abschn. 3.4.4) und die Mit- zeichnet. Je mehr Sekundärstoffe in ihrer Struktur
wirkung von pilzlichen Symbionten nicht aus dem und Verbreitung aufgeklärt wurden, desto wider-
Auge verlieren. Wie in . Abb. 4.46 angedeutet, kam sprüchlicher wurde ihre Bedeutung als unabhän-
es in der frühen Evolution der Pflanzen zu einem gige systematische Marker, denn in vielen Fällen ist
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 391

eine Gruppe von Sekundärstoffen nicht nur in einer Ein ähnliches Dilemma lässt sich in der Verbrei-
Pflanzengattung oder Familie anzutreffen, sondern tung von Herzglycosiden erkennen, die als Hemm- 1
in mehreren, die dazu häufig nicht einmal verwandt stoffe der Na+-K+-ATPase sehr potente Fraßgifte
sind. Zudem unterscheiden sich die Sekundärstoff- gegen Herbivore darstellen. Ein gewisser Verbrei- 2
muster innerhalb einer Pflanze (Profile von Samen tungsschwerpunkt liegt in den Familien Scrophul-
und Blättern sind beispielsweise meist verschieden) ariaceae (neu Plantaginaceae) (z. B. Digitalis pur-
häufig stärker als zwischen zwei verwandten Arten. purea; Roter Figerhut), Apocynaceae (z. B. Nerium 3
Würde man die Sekundärstoffe stringent als Marker oleander, Oleander), Asclepiadaceae (Asclepias;
einsetzen und nach kladistischen Grundsätzen aus- Schwalbenwurz), Ranunculaceae (z. B. Adonis ver- 4
werten, so erhielte man eine Vielzahl von para- und nalis; Adonisröschen), Brassicaceae, Hyacinthaceae,
polyphyletischen Gruppen. Die Grundfrage lautet Liliaceae (z. B. Convallaria majalis; Maiglöckchen),
demnach, ob gleiche chemische Strukturen von Se- Celastraceae (Euonymus europaea; Pfaffenhütchern)
5
kundärstoffen in jedem Falle homologe Merkmale und einigen anderen. Wie man aus . Abb. 4.47 er-
darstellen oder ob diese Merkmale auch analog ent- sehen kann, ist das gemeinsame Vorkommen von 6
standen sein können. Da wir heute die molekulare Herzglycosiden kein Zeichen von näherer Ver-
Phylogenie vieler Pflanzen relativ sicher kennen, wandtschaft. 7
besteht die Möglichkeit, noch genauer zu prüfen, Auch die Pyrrolizidinalkaloide (PA), die in
inwieweit die Verbreitungsmuster von Sekundär- ca. 3 % aller höheren Pflanzen gefunden wurden,
stoffen auf Synapomorphien beruhen oder konver- zeigen ein erratisches und mosaikartiges Verbrei- 8
gente und parallele Entwicklungen widerspiegeln. tungsmuster: Zwar findet man sie gehäuft in den
. Abb. 4.47 zeigt eine Rekonstruktion der Phy- Boragi­naceen (alle Gattungen), in den Tribus Eu- 9
logenie der höheren Pflanzen anhand eines Mul- patorieae und Senecioneae der Asteraceae (z. B.
tigen-Datensatzes. In diesem Stammbaum haben Senecio-Arten, Kreuzkraut), im Tribus Crotalarieae
wir das Vorkommen von Glucosinolaten, Herzgly- der Fabaceae und bei einigen Orchidaceae, doch
10
cosiden, Pyrrolizidin- und Chinolizidinalkaloiden treten sie vereinzelt in den Apocynaceae, Celast-
kartiert. Glucosinolate findet man als verbreitete raceae, Convolvulaceae, Poaceae, Ranunculaceae, 11
Sekundärstoffe in den Brassicales, welche die Fa- Rhizophoraceae, Santalaceae und Sapotaceae auf.
milien Tropaeolaceae, Moringaceae, Caricaceae, Auch die PA-produzierenden Familien sind nicht 12
Limnanthaceae, Resedaceae, Capparidaceae und näher untereinander verwandt.
Brassicaceae umfassen. Die Glucosinolate, oder Chinolizidinalkaloide (QA) haben einen Ver-
genauer die aus ihnen bei Gewebsverletzung frei- breitungsschwerpunkt bei den Schmetterlingsblüt- 13
gesetzten Senföle oder Isothiocyanate, weisen ein lern (Fabaceae, Unterfamilie Papilionoideae); man
breites Wirkungsspektrum gegen Mikroorganismen findet sie aber auch in Chenopodiaceae, Berberi- 14
und Herbivore auf, so dass sie in diesen Pflanzen- daceae, Ranunculaceae, Scrophulariaceae und So-
gruppen als potente chemische Abwehrmittel ge- lanaceae, die mit den Fabaceen nicht verwandt sind
nutzt werden können. (. Abb. 4.47).
15
Die Caricaceae, die man ursprünglich nicht zu Wie lassen sich die Phänomene interpretieren,
der engen Verwandtschaft der Brassicales rechnete, die wir im Verbreitungsmuster von Glucosinolaten, 16
sind durch molekulare und chemische Merkmale Herzglycosiden, Pyrrolizidin- und Chinolizidinal-
eindeutig diesem Verwandtschaftskreis zuzuordnen. kaloiden sehen? Die getrennte Verbreitung könnte 17
Diese Familien sind offensichtlich monophyletisch, auf konvergente Evolution zurückzuführen sein,
und die Glucosinolate könnte man als verlässliches d. h. die Sekundärstoffwege wurden unabhängig
synapomorphes Merkmal mit taxonomischer Be- voneinander mehrfach gebildet. Da diese Sub­ 18
deutung ansehen, gäbe es nicht auch noch isolierte stanzen für die Pflanzen als Verteidigungsmittel
Vorkommen von Glucosinolaten in den Familien wichtig sind, hat ihre Produktion einen positiven 19
Euphorbiaceae, Gyrostemonaceae und Salvadora- Selektionswert. Aus dem Tierreich wissen wir, dass
ceae. Diese Familien sind mit den Brassicales aber Verteidigungsstrategien, z. B. Tarnung, Flucht oder
nicht verwandt. Waffen, an vielen Stellen unabhängig und konver-
20
392 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.47 a, b  Molekulare Phylogenie der höheren Pflanzen und Vorkommen von a Pyrrolizidinalkaloiden und Chinolizidin­
alkaloiden sowie b Glucosinolaten und Herzglykosiden
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 393

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
.. Abb. 4.47 a, b (Fortsetzung) 20
394 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

gent entstanden sind. Ähnlich plausibel wäre eine Für einige Biosynthesegene, die Schlüsselre-
konvergente Evolution von chemischen Schutzsub- aktionen von Sekundärstoffbiosynthesen kataly-
stanzen (s. Abschn. 4.3.3). sieren, sind die DNA-Sequenzen bekannt. Durch
Nicht auszuschließen ist jedoch auch eine an- einen Datenbankvergleich kann man in diesen
dere Erklärungsmöglichkeit, die für das Vorkom- Fällen prüfen, wann und wo die zugehörigen Gene
men einiger Substanzen, z. B. der Chinolizidinalka- evolvierten. Dies soll am Beispiel der Strictosidin-
loide, in nicht verwandten Pflanzengruppen gelten synthase (STS), die einen spezifischen Schritt in
könnte. Möglicherweise entstanden die notwendi- der Biosynthese von Monoindolalkaloiden (MIA),
gen Biosynthesegene bereits früh in der Evolution, nämlich die Vereinigung von Tryptamin und Seco-
so dass alle späteren Pflanzen einen Grundbestand logamin, katalysiert, erläutert werden. MIA kom-
dieser Gene aufweisen. Jedoch werden diese Gene men besonders in den Apocynaceen und Rubiaceen
in den meisten Pflanzen nicht exprimiert und nur in vor. Das STS-Gen ist jedoch bei allen Pflanzen vor-
wenigen Gruppen, z. B. Leguminosen, angeschaltet; handen (. Abb. 4.50, also auch bei den Arten, die
hier finden wir außerdem noch eine Vielzahl von keine MIA produzieren, wie beispielsweise Ara-
sekundären Modifikationen im Alkaloidskelett, die bidopsis thaliana. Interessanterweise gibt es Gene
als spätere Entwicklung angesehen werden könnten. bei Bakterien und Tieren, die Proteine codieren,
Demnach dürften diese Alkaloide echte homologe die offenbar mit der STS ganz nah verwandt sind
Merkmale darstellen, die ein mosaikartiges Expres- und von einem gemeinsamen Vorläufer abstam-
sionsmuster zeigen. Als stringente taxonomische men (. Tab. 4.10). Eine ähnliche Situation gibt es
Marker sind sie damit aber nur von begrenzter Be- für weitere Alkaloid-Schlüsselgene, wie z. B. der
deutung. Ornithin-Decarboxylase, Tyrosin-Decarboxylase,
Man könnte nun aus Sicht der Chemotaxonomie Tryptophan-Decarboxylase, Phenylalanin-Ammo-
argumentieren, dass die Aussagekraft von Sekun- niumlyase, Chalcon-Synthase, Berberin-Brücke-
därstoffen weniger in der Großsystematik als in der nenzym und Codeinon-Reduktase (Wink 2008b).
Systematik innerhalb von Familien und Gattungen Diese Daten sprechen dafür, dass die Gene des
Gewicht besitzt. Wir wollen diese Frage am Beispiel pflanzlichen Sekundärstoffwechsels weit verbreitet
der Leguminosen erörtern, die mit 720 Gattungen vorkommen und vermutlich schon früh in der Evo-
und ca. 19.500 Arten zu den größten Pflanzenfami- lution entstanden und z. T. wohl durch HGT in das
lien zählen (EXKURS 4.6 Abschn. 4.3.3). Pflanzengenom gelangten (. Abb. 4.46). Es bleibt
Bei den hier angesprochenen Insekten handelt abzuwarten, zu welchen Erkenntnissen man ge-
es sich insbesondere um Schmetterlinge, Wanzen langt, wenn die kompletten Genome von Pflanzen
und Blattläuse, bei den Abwehrstoffen um Chinoli- aus allen taxonomischen Gruppen vorliegen. Erst
zidinalkaloide und Pyrrolizidinalkaloide (EXKURS dann wird man das Ausmaß von HGT erst richtig
4.7) und Herzglycoside (EXKURS 4.8), die bereits bewerten können.
in Abschn. 4.3.3 näher besprochen wurden. Zusammenfassend lässt sich demnach sagen,
Würde man die Sekundärstoffprofile kladis- dass das Vorkommen von Sekundärstoffen in den
tisch bewerten, so würde man zwar an einigen meisten Fällen eher etwas über die ökologische Be-
Stellen gute monophyletische Gruppen erkennen, deutung als chemische Abwehr- oder Signalstoffe
in vielen anderen Fällen dagegen para- und po- aussagt als über gemeinsame Evolution. Bedingt
lyphyletische Beziehungen. Demnach finden wir durch die Vielzahl von Ausnahmen sind Sekundär-
auch auf der Stufe der Familien, dass in einigen stoffe demnach für die Taxonomie von zweifelhaf-
Fällen das gemeinsame Vorkommen von Sekun- tem Wert, da sie adaptive Merkmale darstellen, die
därstoffen tatsächlich auf eine gemeinsame Phylo- der Selektion unterliegen (Wink 2003).
genie hindeutet; hier wären die Sekundärstoffe ein
guter Marker. Ihr gleichzeitiges Auftreten in nicht-
verwandten Gruppen schränkt diese Aussage aber
deutlich ein.
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 395

EXKURS 4.6

Verbreitung von Sekundärstoffen in Leguminosen


1
Innerhalb der Leguminosen finden wir als Sekun-
därstoffe Alkaloide, nicht-proteinogene Aminosäu-
nicht die ursprüngliche Gruppe der Leguminosen
dar, wie man früher aufgrund der nicht zygomorphen
2
ren, Amine, Flavonoide, Isoflavone, Cumarine, An- Blüten annahm. Das Merkmal der Zygomorphie ist
thrachinone, Cyanglycoside, Protease-Inhibitoren, offensichtlich ancestral und bereits in der Schwes- 3
Lektine und etliche Terpene, die als Schutz- oder tergruppe der Fabaceae, den Polygalaceae angelegt.
Signalsubstanzen eine funktionelle Rolle spielen. Betrachten wir zunächst das Vorkommen der 4
Zur Rekonstruktion der molekularen Phylogenie Alkaloide, so finden wir Chinolizidinalkaloide (QA)
der Leguminosen wurden Sequenzen des rbcL-Gens in nahezu allen Tribus der Sophoreae, Podalyrieae,
(. Abb. 3.18, . Abb. 4.13) herangezogen. Wie man Thermopsideae und Genisteae. Eine Ausnahme sind 5
den . Abb. 4.48a, b entnehmen kann, ist auf der mo- die Crotalarieae, in denen QA und Pyrrolizidinalka-
lekularen Ebene eine Unterteilung der Leguminosen loide (PA) vorkommen; im Genus Crotalaria finden 6
in drei bisher angenommene Unterfamilien nicht wir ausschließlich PA als Schutzsubstanzen, aber
erkennbar. Monophyletisch ist die Unterfamilie Pa-
pilionoideae, aber die Mimosoideae leiten sich aus
keine QA, während andere Gattungen der Tribus
noch QA aufweisen. Die plausibelste Erklärung ist,
7
den Caesalpinioidae ab, die damit als paraphyletisch dass die QA-Gene bei Crotalaria abgeschaltet und
erkannt werden. Die Mimosoideae stellen eindeutig PA-Biosynthesegene entweder angeschaltet oder 8

Canavanin
Einfache Indol-, Indolizidin-, 9
MP; Strict consensus MP; Strict consensus Harman-, Erythrina-Alkaloide
andere nicht-proteinogene Pyrrolizidinalkaloide
Aminosäuren
Anadenanthera
Chinolizidinalkaloide
Anadenanthera
10
Leucaena Leucaena
Acacia Acacia
Mimosa Mimosa Mimosoideae
Albizia
Pithecellobium
Delonix
Parkinsonia
Albizia
Pithecellobium
Delonix
Parkinsonia
11
Cassia Cassia Caesalpinioideae
Caesalpinia Caesalpinia
Gleditsia Gleditsia
Hardenbergia
Kennedia
Psoralea
Glycine
Hardenbergia
Kennedia
Psoralea
Glycine Phaseoleae
12
Phaseolus Phaseolus
Vigna Vigna
Erythrina Erythrina
Lathyrus
Pisum
Vicia
Lens
Lathyrus
Pisum
Vicia
Lens
Vicieae 13
Trifolium Trifolium
Medicago Medicago
Melilotus Melilotus Trifolieae
Ononis
Cicer
Astragalus
Swainsonia
Ononis
Cicer
Astragalus
Swainsonia
Cicereae 14
Caragana Galegeae
Caragana
Anthyllis Anthyllis
Coronilla
15
Coronilla Loteae/Coronilleae
Dorynium Dorycnium
Anagyris Anagyris
Piptanthus Piptanthus Thermopsideae
Aspalathus Aspalathus
Crotalaria Crotalaria Crotalarieae
Lotononis Lotononis
Chamaecytisus
16
Chamaecytisus
Cytisus Cytisus
Genista Genista
Teline Teline Genisteae
Lupinus Lupinus
Liparia Liparia
Podalyria Podalyria
Virgilia Podalyrieae
17
Virgilia
Sophora Sophora
Sophora Sophora Sophoreae
Baptisia Baptisia
Thermopsis Thermopsis Thermopsideae
Maackia Maackia
Sophora Sophora
Sophoreae

18
Castanospermum Castanospermum
Bauhinia Bauhinia Cercideae/
Cercis Cercis
Polygala Polygala Caesalpinioideae

.. Abb. 4.48  Molekulare Phylogenie der Leguminosen und Verbreitung von Alkaloiden (a) und nicht-proteinogenen
19
Aminosäuren (b). Die Stammbäume wurden über Nucleotidsequenzen der Chloroplasten-Gens rbcL rekonstruiert (nach
Wink et al. 2010) 20
7
396 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

  EXKURS 4.6 (Fortsetzung)
 EXKURS 4.6 
neu entwickelt wurden. Andere Alkaloide, wie die ter. Die Gruppe der Isoflavone, die phytoöstrogene
Erythrina-Alkaloide, findet man nur im Genus Eryth- und fungizide Eigenschaften aufweisen, findet man
rina, Indolizidinalkaloide nur bei ur­sprüng­lichen nur in der Unterfamilie Papilionoideae, während
Sophoreae und Astragalus-Arten (. Abb. 4.48b). die anderen Strukturen in allen Gruppen vorkom-
Bei den Pflanzengattungen ohne Alkaloide fin- men. Eine weite Verbreitung in vielen Gruppen der
den wir vermehrt nicht-proteinogene Aminosäuren Leguminosen findet man auch bei den terpenoiden
als chemische Schutzsubstanzen (. Abb. 4.48a), Verbindungen (eine ausführlichere Darstellung fin-
insbesondere bei baum- und strauchförmigen Cae- det sich in Wink et al. (2010).
salpinioideae und Mimosoideae. Ein ähnliches Mus- Selbst innerhalb von Gattungen ist der Aussage-
ter zeigen die Protease-Inhibitoren und Cyangluco- wert von Sekundärstoffprofilen beschränkt. In der
side. Diesen stickstoffhaltigen Sekundärstoffen ist großen Gattung Lupinus finden wir Chinolizidinalka-
gemeinsam, dass sie gegen Insekten und Verteb- loide (QA) als die wichtigsten chemischen Schutzsub-
raten giftig wirken. Sie werden meist den großen stanzen. Etwa 150 unterschiedliche QA sind bekannt.
Samen in hoher Konzentration mitgegeben, die Während man Lupanin und Spartein bei nahezu allen
reich an Speicherprotein sind. Im Samen dienen Arten antrifft, kommen andere QA-Subtypen unspo-
diese Sekundärstoffe sowohl zur chemischen Ver- radisch vor. Die stark giftigen α-Pyridone vom Cytisin-
teidigung als auch zur Speicherung von Stickstoff, Typ (die auch im Goldregen vorkommen) findet man
der später von den wachsenden Keimpflanzen ge- nur in einigen amerikanischen Lupinenarten, nicht
nutzt werden kann. Das Vorkommen dieser Schutz- jedoch bei den ursprünglicheren altweltlichen Arten.
substanzen ist wechselseitig exklusiv, d. h. Taxa, die Da auch ursprünglichere Gruppen der Genisteae und
Alkaloide produzieren, haben keine nicht-proteino- Thermopsideae diese α-Pyridone produzieren, liegt
genen Aminosäuren und umgekehrt. der Verdacht nahe, dass die zugehörigen Biosynthe-
Unter den nicht-stickstoffhaltigen Sekundär- segene überall vorhanden, aber bei den altweltlichen
stoffen zeigen die Flavonoide ein auffälliges Mus- und vielen neuweltlichen Arten abgeschaltet sind.

Anpassung der Spezialisten


Vermeidung toxischer Pflanzen;
Zerbeißen von Milchröhren und Harzkanälen
Nicht-Resorption und/oder schnelle Darmpassage
Resorption gefolgt von Detoxifizierung und Elimination (Faeces, Urin)
Hydroxylierung
Konjugation
Elimination
Pflanzenfresser Hochregulation von Multiple-drug-resistance (MDR)-Proteinen
Resorption und Akkumulation
Lagerung in spezifischen Speicherkompartimenten/-Zellen
Evolution einer Gifttoleranz
Nutzung der aufgenommen Sekundärstoffe
Schutz vor Prädatoren (z.B. Herzglycoside, Iridoidglycoside,
Cyanoglycoside, Pyrrolizidin- und Chinolizidinalkaloide)
Einsatz als Signalmoleküle: Pheromone (z.B. Pyrrolizidinalkaloide)
Einsatz als Morphogene (z.B. Pyrrolizidinalkaloide)
Anlockung von Prädatoren für die Herbivoren

phytopathogene Inaktivierung der Sekundärstoffe


Entwicklung einer Gifttoleranz
Bakterien/Pilze
.. Abb. 4.49  Anpassungen von spezialisierten Insekten an die Sekundärstoffe ihrer Wirtspflanzen
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 397

Koevolution zwischen Insekten gen. Durch diese Duftstoffe werden Parasiten und
und Pflanzen Prädatoren der herbivoren Insekten angelockt. Die 1
Samenpflanzen waren vermutlich schon vor Duftmuster sind häufig sehr spezifisch und hängen
200 Mio. Jahren in der Lage, Sekundärstoffe zu bil- von den Fraßfeinden ab. Salopp ausgedrückt: einige 2
den (. Abb. 4.45). Da zu diesem Zeitpunkt bereits Pflanzen rufen um Hilfe, wenn sie angegriffen wer-
viele der herbivoren Insektenordnungen entstanden den. Dies ist ein weiteres Indiz für Koevolution und
waren, musste es zu einem engen Zusammenspiel Kooperation. 3
zwischen der Wehrchemie der Pflanzen und Anpas- Viele Insekten beherbergen in ihrem Darm und
sungen auf Seiten der Insekten kommen. Bei den z. T. auch in speziellen Organen (in Mycetomen) 4
Pflanzen erfolgte in den letzten 130  Mio. Jahren kommensalische und symbiotische Bakterien, die
eine große Diversifizierung der Blütenpflanzen, die in der Lage sind, pflanzliche Abwehrstoffe zu me-
insbesondere auf Insekten zur Bestäubung angewie- tabolisieren. Viele Pflanzen leben mit Pilzen (z. B.
5
sen sind. Parallel zur Evolution der höheren Pflan- Endophyten, Mycorrhizen) zusammen, die Sekun-
zen erlangten die Insekten vermutlich koevolutiv därstoffe produzieren und damit ihren Wirtspflan- 6
eine besonders umfassende Diversität. Den über zen nutzen. Ein gut untersuchtes Beispiel betrifft
350.000 Pflanzenarten stehen vermutlich mehrere den Mutterkornpilz (Claviceps purpureus), der auf 7
Millionen Insektenarten gegenüber, von denen die Ähren von Roggen lebt und früher als Parasit ange-
vielen mono- oder oligophagen Arten besonders sehen wurde. Von der Pflanze erhält er Nährstoffe.
eng an die Chemie ihrer Wirtspflanzen angepasst Im Gegenzug produziert er giftige Indolalkaloide 8
sein müssen (. Abb. 4.49). Die Entwicklung dieser (Mutterkornalkaloide), die als spezifische Nerven-
wechselseitigen Beeinflussungen wird als Koevolu- gifte mit Neurorezeptoren (Serotonin-, Dopamin- 9
tion angesehen. und Noradrenalin-Rezeptoren) in Herbivoren in-
Ein Pflanzenfresser, der erfolgreich überleben teragieren können. Es konnte experimentell gezeigt
will, muss sich in vielfältiger Hinsicht mit der Wehr- werden, dass Gräser mit Mutterkornpilz (oder
10
chemie seiner Futterpflanze auseinandersetzen. In ähnlichen Pilzen) deutlich weniger von Herbivoren
diesem Abschnitt konzentrieren wir uns auf pflan- heimgesucht werden als pilzfreie Gräser (Wink 11
zenfressende Insekten, denen es nicht nur gelun- 2008b).
gen ist, die Abwehrstoffe ihrer Wirtspflanzen zu Viele marine Organismen (z. B. Schwämme) 12
tolerieren, sondern die auch in der Lage sind, diese produzieren toxische Sekundärstoffe gegen Prä-
Abwehrsubstanzen für die eigene Fitness zu nut- datoren; in vielen Fällen werden die Toxine aber
zen. Viele Insekten verwenden pflanzliche Sekun- nicht von den Tieren selbst, sondern von Mikroor- 13
därstoffe als Verteidigungs- und Signalsubstanzen, ganismen gebildet, die mit den Tieren eng zusam-
seltener als Morphogene, welche die Genexpression menleben. Solche mikrobiellen Gifte können in der 14
bzw. Entwicklung bestimmter Organe modulieren Nahrungskette weitergegeben werden. Ein Beispiel
können. Es fand offenbar in der Evolution ein stän- sind die Gifte der Baumsteigerfrösche („Pfeilgift-
diges Wettrüsten (arms race) zwischen Pflanzen frösche“), z. B. Pumiliotoxin bei Dendrobates und
15
und ihren Giften und Pflanzenfressern statt, die Batrachotoxin bei Phyllobates, die die Frösche von
sich an die jeweilige Verteidigungsstrategie anpas- ihren Nahrungstieren übernehmen. Diese Interak- 16
sen konnten; dieses Phänomen wird auch als Red tion von Mikroorganismen, ihren Giften und Wir-
Queen Hypothesis bezeichnet (Die Rote-Königin- ten ist vermutlich koevolutiv entstanden. 17
Hypothese [aus Lewis Carrolls „Alice hinter den
Spiegeln“ abgeleitet] wird auch bei Entwicklung der
Sexualität diskutiert). 18
Die Koevolution zwischen Pflanzen und Pflan-
zenfressern umfasst nicht nur die Interaktionsebene, 19
welche auf den letzten Seiten beschrieben wurde.
Einige Pflanzen produzieren Duftstoffe, wenn
Insekten sie fressen oder ihre Eier auf ihnen able-
20
398

.. Tab. 4.10 Sequenz-Alignment (Aminosäuren) der Strictosidinsynthase (STS) ausgewählter Pflanzen, Tiere und Bakterien. Konservierte Positionen sind mit „x“ gekennzeichnet,
Arten die STS funktionell exprimieren sind fett gedruckt
Ophiorrhiza_pumila AMVVSILCAL FLSSSLSFFE FIEAPSYGPN AAFDSDGLYA SVEDGRIIKY DPSNLKPLCG RVYDFGFHYE TRLYIADCYF
T.ALFTVFL. ....LA.KEI L......A.. ST...TNF.T ..Q...V... E.NSKR.... .T..ISYNLQ NQ...V...Y
T.ALFTVFL. ....LA.KEI L......A.. ST...TNF.T ..Q...V... E.NSKR.... .T..ISYNLQ NQ...V...Y
Medicago_truncatula MV.SV..L.I ..LCPSVNKL QLPP.LT..E S...RN.P.V TSS....F.. VSNEVQAI.. .PLGL..NHQ .D..V..A..
Arabidopsis_thaliana LAKIFLVF.I YCAIPFHSEI RFLNEVQ..E S...PQ.P.T G.A....LFW NGTRKEDI.. .PLGLR.DKK ND.....A.L
Solanum_esculentum ILLLI.VVQ. VSVNAFKSKI IHLNG.I..E S...PN.P.I G.A....L.L QG..KEHI.. .PLGLR. E.....A.L
DTK.
Oryza_sativa HLFFAA.ALA L.LTPFLGRL EFVGEVF..E SE..RH.P.. GLA...VVRW MEDAEERR.. .PLGLR..G. .E..V..A.Y
Brassica_napus VLCIIA.SVV .IAIPFMGKL EFVDRVF..E SE..GL.P.T GLA...VVRW MEAVKEK... .PLGLR.VK. .N.....A.Y
Triticum_aestivum HLFIAA.ALA LVLMPFLGRL EFVNEVF..E SE..RQ.P.. GLA...VVRW MDKAGEQW.. .PLGLR..R. .E.F...A.Y
Zea_mays HLFFAA.ALA L.VAPFLGRL EFVGEVF..E SE..LQ.P.. GLA...VVRW MEEAEEEF.. .PLGLR..G. .E..V..A.Y
Danio_rerio SGK.FRVTL. TMVAL.LAER LF.ERLV..E SLANIGDF.T GTA..K.V.I ERNIEEHT.. .PLGIRVGPN GT.FV..A.L
Homo_sapiens_BSCv SGR.FRVTF. M.AVTVLAER LF.NQLV..E SIAHIGDMFT GTA...VV.L EGEIDE.V.. .PLGIRAGPN GT.FV..A.K
Marinobacter_aquaeolei WLL..L.VVF L.LGF.LADL LARGEV...E DTTIGPD..S GTQ..W.VRV HDGTHLETG. .PLGLV.DSN GN.IV..AWK
Pseudomonas_aeruginosa KLSGI.VLL. AGAAY.LAEL LGQGQLH..E DTAVDSQV.. GLA...VVRL .SGKTVDTG. .PLGMD.DAA GN.IL..AWK
Konservierte Positionen x xx x x x x
Konservierte Positionen x xx x xxx xx x xx x x

Ophiorrhiza_pumila GLGFVGPDGG HAIQLATSGE FKWLYALAID QQFVYVTDVS TKYDDRGVQD RINDTTGRLI KYDPSTEEVT VLMKGLNIPG


H.SV..SE.. ..T.....VP ......VTV. .RI..F.... .L.......Q DTS.K..... ......K.T. L.L.E.HV..
H.SV..SE.. ..T.....VP ......VTV. .RI..F.... .L.......Q DTS.K..... ......K.T. L.L.E.HV..
Medicago_truncatula ..VK...N.. N.T..VGPTS TMFADG.DV. PDI..F..A. .N.KLKDF.T ASG.NS...L R.....NQT. ..LRN.T..S
Arabidopsis_thaliana .IMK...E.. L.TS.TNEAP LRFTND.D.. DEN..F..S. SFFQR.KFML VSGEDS..VL ..N.K.K.T. T.VRN.QF.N
Solanum_esculentum ..QV...K.. L.TP.VQKFP LVFTNDVD.. DDVI.F..T. ...QRWQFLT SSG......M ...K..KK ....LGD.
AFAN
Oryza_sativa ..MS...N.. V.TS..REVP VNFAND.D.H RNS.FF..T. .R.NRKDHLN LEGEG....L R...E.KAAH .VLS..VF.N
Brassica_napus ..LV...E.. V.TP...HVP ILFAND.D.H RNSIFF..T. KR..RANHFF LEGES....L R...P.KTTH IVQE..AF.N
Triticum_aestivum ..MA..ES.. V.TS..REAP VHFAND.D.H MNSIFF..T. .R.SRKDHLN LEGEG....L R..RE.GA.H .VLN..VF.N
Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

Zea_mays ..MV..QS.. V.SSV.REAP IRFAND.DVH RNS.FF..T. MR.SRKDHLN LEGEG....L R...E.SG.H .VL...VF.N


.. Tab. 4.10 (Fortsetzung)Sequenz-Alignment (Aminosäuren) der Strictosidinsynthase (STS) ausgewählter Pflanzen, Tiere und Bakterien. Konservierte Positionen sind mit „x“
gekennzeichnet, Arten die STS funktionell exprimieren sind fett gedruckt

Danio_rerio ..FE.N.VT. EVKS.VSTER LGFVND.DVT .DK..F..S. SRWQR.DFMH L.MTAD..VL E..TE.K..N .M.EN.RF.N


Homo_sapiens_BSCv ..FE.N.WKR EVKL.LS.EN MSFVND.TVT .DKI.F..S. S.WQR.DYLL LVMTDD...L E..TV.R..K ..LDQ.RF.N
Marinobacter_aquaeolei ..LSIT.Q.D ITVLTREAEP .RFTDDVV.A PDRI.F..A. SRFQQPDYVL DLLRPH...L R.N.K.RKTE ..LGN.HFAN
Pseudomonas_aeruginosa ..LRID.Q.K VETLATEADP .AFTDD.D.A SDRI.F..A. S.FHQPDYIL DLLRPH...L R.....GKTE ..L.D.YFAN
Konservierte Positionen x xx x xx x x
Konservierte Positionen x xx xx x x xx x xx x x

Ophiorrhiza_pumila GTEVSKDGSF VLVGEFASHR ILKYWLKGPK ANTSEFLLKV RGPGNIKRTK DGDFWVASSD NGITVTRGIR FDEFGNILEV


.A...A.S.. ...A..L..Q .V....E... KG.A.V.V.I PN......NA ..H...S..E. .HGR.DK..K ..........
.A...A.S.. ...A..L..Q .V....E... KG.A.V.V.I PN......NA ..H...S..E .HGR.DK..K ..........
Medicago_truncatula .VA...E... ...S.YLAN. .QRV.....R ..S..LFMLL A..D....NS G.Q..ISV.S S.CSTLS.V. VN.N.LV.QI
Arabidopsis_thaliana .LSLG..... FIFC.GSIG. LR......E. .G...VVALL H..D..RTN. .......VHC Q.GWPHVAVK YS.E.KV.K.
Solanum_esculentum .VAL..NK.. ...T.TTNF. ..R......L VG.HDVFVEL P..D..RINP K......LQA GDGELHTALK LS.D.RV...
Oryza_sativa .VQI.D.QQ. L.FS.TTNC. .MR...E..R .GQV.VFADL P..D.VRLSS G.R....IDC MSMRMHLVAL L.GE.DVV..
Brassica_napus .IQL...Q.. L.FT.TTNC. LV....E.A. TGEV.VVVDL P..D.VRMN. K.E....IDC A.MKMYVIS. ..AD.EV...
Triticum_aestivum .VQI.Q.QQ. L.FS.TTNC. .MR...E..R .GQV.VFANL P..D.VRLNS K.Q....IDC MSMKMYLLAL L.GE..VV..
Zea_mays .VQI.E.HQ. L.FS.TTNC. .MR...E..R .GEV.VFANL P..D.VRSNG R.Q....IDC KARRMHVLAL L.GE.RVV..
Danio_rerio .IQLFP.EES ...A.TTMA. .KRVHVS.LN KGGMDTFIEL P..D..R.SS S.GY...M.A KVPRYSLVVE LQSD.TCVRS
Homo_sapiens_BSCv .VQL.PAED. ...A.TTMA. .RRVYVS.LM KGGADLFVEM P..D..RPSS S.GY..GM.T KVPRYSLVLE LSDS.AFRRS
Marinobacter_aquaeolei .VA..PQ.DY ...N.TWKY. ..R..IS... .GRA.VFADL P..D.LAVDG G.RY...FPT KPQNYGLVVA ..RK.RM.TS
Pseudomonas_aeruginosa .VAL.ANED. ...N.TYRY. .TR. . . . . E .GQH.VFIDL P..D.LQGDR K.T....LPT KPTAYGLV.A I..Q.K.VRS
Konservierte Positionen x x x x x xx x
Konservierte Positionen x x xx x x x x xx x
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse
399

9
8
7
6
5
4
3
2
1

20
19
18
17
16
15
14
13
12
11
10
400 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

STS

STS Arabidopsis thaliana NP 563818


100
Arabidopsis thaliana AAF22901
76 Oryza sativa AAR87254
93 Lycopersicon esculentum
Brassica napus Pflanzen
Zea mays
100 100
100 Oryza sativa NP 001049635
87 Triticum aestivum
Medicago truncatula
Ophiorrhiza pumila
96
100 Rauvolfia serpentina
100 Rauvolfia mannii
100 Drosophila melanogaster AAC47118
100 Drosophila pseudoobscura
Anopheles gambiae
98 Xenopus tropicalis
Danio rerio
86
Gallus gallus
Tiere
100
Rattus norvegicus
100
Bos taurus
100 Canis lupus f. domestica
87
96 Homo sapiens
100 Pan troglodytes

100 Mesorhizobium loti


Bradyrhizobium japonicum
100 Pseudomonas mendocina
100
94 Pseudomonas aeruginosa Bacteria
Marinobacter aquaeolei
81 Solibacter usitatus
51 Alcanivorax borkumensis
84 Deinococcus geothermalis

0.1

.. Abb. 4.50  Phylogenie der Strictosidinsynthase (STS) aufgrund von Aminosäuresequenzen, die von DNA-Sequenzen abge-
leitet wurden
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 401

  EXKURS 4.7  

Alkaloide
1
Chinolizidinalkaloide (QA)
Viele Schmetterlingsblütler (Leguminosen; Familie
gleichen Platz stehenden Bitterlupinen unbelästigt
bleiben (. Abb. 4.51).
2
Fabaceae) bilden QA als charakteristische Inhalts- Keine auch noch so gute chemische Verteidi-
stoffe, die sich durch eine breite biologische Wirkung gung ist sakrosankt. Fast immer ist es einigen Her- 3
auszeichnen: Neben allelopathischen, antiviralen, bivoren gelungen, in diese „ökologische Nische“
antibakteriellen und antifungalen Aktivitäten wirken
sie auf viele Herbivoren fraßabschreckend. Zugleich
einzudringen, indem sie nicht nur die Alkaloide 4
tolerieren, sondern diese speichern und sie zur ei-
sind QA für die meisten Insekten und Vertebraten to- genen chemischen Verteidigung gegen Prädatoren
xisch. Zellulär wurden mehrere Wirkorte erkannt: So einsetzen. Gut untersuchte Beispiele für QA-Nutzer 5
hemmen QA insbesondere Na+- und K+-Kanäle und sind einige Blattlausarten, wie Macrosiphum albi-
aktivieren muscarinische und nicotinische Acetylcho- frons, die auf Lupinen lebt, oder Aphis cytisorum 6
linrezeptoren. Beide Wirkungen führen zu gravieren- und A. genistae auf Goldregen und Ginster. Diese
den Störungen der neuronalen Erregungsleitung bei
Tieren. Als Langzeitwirkung wurden füwr einige QA,
Blattläuse zeichnen sich dadurch aus, dass sie die
Alkaloide der Wirtspflanze aus dem Phloem auf-
7
wie Anagyrin, mutagene Effekte beschrieben, die bei nehmen und speichern. Für Macrosiphum albifrons
neugeborenen Tieren zu verkrüppelten Gliedmaßen konnte experimentell gezeigt werden, dass insek- 8
(crooked calf disease) führen. tenfressende Käfer und deren Larven, wie Laufkäfer
Aufgrund ihrer Giftigkeit (und ihres bitteren Ge-
schmacks) werden QA-Pflanzen, wie Lupinen, Gins-
und Marienkäfer gelähmt oder sogar tödlich vergif- 9
tet wurden, nachdem sie alkaloidhaltige Blattläuse
ter und Goldregen, von Pflanzenfressern weitge- gefressen hatten. Nur diese adaptierten Blattlaus-
hend gemieden. An vielen Stellen in Mitteleuropa arten tolerieren die Alkaloide ihrer Wirtspflanzen;
10
kann man beobachten, dass sich diese Pflanzen, alle anderen Blattlausarten werden durch QA abge-
insbesondere der Besenginster (Cytisus scoparius) schreckt oder vergiftet. Man könnte diese Alkaloide 11
und die vielblättrige Lupine (Lupinus polyphyllus), deshalb auch als natürliche Insektizide einsetzen;
gut behaupten und sich als Pionierpflanzen häufig
durchsetzen. Die Bedeutung der QA als chemische
sie sind sog. biorationale Pestizide.
Ebenfalls gut ist eine Schmetterlingsart, Uresiphita
12
Abwehrsubstanzen konnte im Freiland getestet und reversalis (Pyralidae), untersucht, deren Larven auf QA-
bestätigt werden: Da Lupinen von Natur aus sehr Pflanzen (Teline monspessulana) leben. Die Raupen 13
alkaloidreich sind, gleichzeitig aber proteinreiche nehmen Alkaloide vom besonders toxischen Cytisin-
Samen aufweisen, die ernährungsphysiologisch
denen der Sojabohne nicht nachstehen, haben
Typ selektiv aus ihrer Nahrung auf und speichern sie 14
in ihrer Haut. Die Alkaloidaufnahme erfolgt aktiv unter
Pflanzenzüchter versucht, den Alkaloidgehalt der Beteiligung eines Transportsystems, das offensichtlich
Lupinen zu senken. Es ist inzwischen gelungen, nur bei QA-speichernden Insekten vorkommt. Bevor
15
fast alkaloidfreie Mutanten von mehreren Lupinen- sich die Larve verpuppt, stellt sie sich einen mecha-
arten zu züchten, die als „Süßlupinen“ den wilden nisch stabilen Kokon her, den sie zusätzlich chemisch 16
„Bitterlupinen“ gegenübergestellt werden. Pflanzt schützt, indem sie die in ihren Geweben gespeicher-
man Süß- und Bitterlupinen, die sich nur in ihrem
Alkaloidgehalt unterscheiden, nebeneinander an
ten Alkaloide in seine Wand transferiert. Die Puppe
und der schlüpfende Falter enthalten keine Alkaloide
17
und verzichtet auf Zäune und chemische Pflan- mehr. Fressfeinde können offensichtlich erkennen,
zenschutzmittel, verschwinden die alkaloidarmen welche Raupen Alkaloide speichern und verschmähen 18
Süßlupinen sehr schnell, da sie von Kaninchen und diese im Wahlversuch. Das unterschiedliche Alkaloid-
Hasen selektiv gefressen und von verschiedenen speicherverhalten von Larven, Puppen und Imagines 19
Insekten (Pfirsich- und Erbsenblattläusen, Minier- spiegelt sich auch im Verhalten und Aussehen der
fliegen usw.) befallen werden, während die am Tiere wider: Während die alkaloidreichen Raupen
20
7
402 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

 EXKURS 4.7 (Fortsetzung) 

.. Abb. 4.51  Bedeutung der Lupinenalkaloide als chemische Schutzsubstanzen gegen Herbivore

bunt, auffällig gefärbt (aposematische Färbung) und das Jakobskreuzkraut (Senecio jacobaea) meist noch
tagaktiv sind, haben die Falter eine Tarnfärbung und unberührt stehen (. Abb. 4.52a). Es gibt jedoch
leben versteckt und nachtaktiv. Spezialisten, die Pflanzen mit PA nutzen können. So
lebt auf dem Jakobskreuzkraut der Karminbär (Ty-
Pyrrolizidinalkaloide (PA) ria jacobaeae), der PA speichert und dessen Raupen
Über 200 unterschiedliche Pyrrolizidinalkaloide durch schwarzgelbe Warnfärbung ihre Ungenieß-
kommen insbesondere bei Korbblütlern (Astera- barkeit signalisieren. Die giftigen Falter tragen eine
ceae) und Raublattgewächsen (Boraginaceae) vor. karminfarbene Warnfärbung (. Abb. 4.52b).
Neben einer Modulation von Neurorezeptoren Ein anderes Beispiel für Insekten, die auf PA-
sind es mutagene und karzinogene Effekte, die Pflanzen spezialisiert sind und die Alkaloide in viel-
diese Alkaloide als chemische Abwehrsubstanzen fältiger Weise nutzen, ist der südostasiatische Bä-
auszeichnen. Die letztgenannten Eigenschaften renspinner, Creatonotos transiens, dessen chemische
kommen erst dadurch zustande, dass die PA in der Ökologie gut untersucht wurde. Einige der im Zu-
Vertebratenleber „entgiftet“ werden. Erst durch die sammenhang mit der PA-Nutzung wichtigen bio-
dabei ablaufenden biochemischen Reaktionen ent- chemischen und biologischen Prozesse sind in
steht ein Pyrrolderivat, das DNA alkylieren und da- . Abb. 4.53 illustriert. Beim Weibchen wird kurz vor
mit mutagene und karzinogene Effekte verursachen dem Schlüpfen ein Teil der Alkaloide aus dem Inte-
kann. Als Verteidigungskonzept scheint dieses Prin- gument mobilisiert und in das Ovar bzw. in die Eier
zip gut zu wirken, da PA-haltige Pflanzen von den transferiert. Das schließlich produzierte Gelege ist
meisten Pflanzenfressern gemieden werden. Dies damit stark alkaloidhaltig (4–6 mg PA je g Frischge-
ist auf Viehweiden leicht zu beobachten. Wenn alles wicht) und erhält damit einen chemischen Schutz
andere bereits gefressen ist, bleiben PA-Pflanzen wie vor Eiräubern. Die Männchen transferieren einen
7
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 403

 EXKURS 4–7 (Fortsetzung) 
4.7 (Fortsetzung) 
1
2
3
4
5
6
7
.. Abb. 4.52 a, b  a Alkaloid-haltige Senecio-Pflanzen (gelb blühend) werden vom Vieh verschmäht; b warnfarbene 8
Raupe und Falter von Tyria jacobaea (diese speichern PAs)

Teil der Alkaloide in ihre Spermatophore, die bei der tragen Weibchen und Männchen zur chemischen
9
Kopulation auf das Weibchen übertragen wird. Die- Verteidigung ihrer Nachkommen bei, indem sie Al-
ses erhält so mit den Alkaloiden ein „Brautge- kaloide aus ihren Futterpflanzen verarbeiten und 10
schenk“, das jedoch auf die Eier übergeht, die somit weitergeben. Auf welche Weise PA die Entwick-
auch einen chemischen Schutz vom Vater mitbe- lungsgene für die Coremata aktivieren, ist nicht
11
kommen. Für das Weibchen sollte es deshalb wich- bekannt. Das Creatonotos-Beispiel illustriert bereits
tig sein, einen Partner mit möglichst viel PA zu fin- die Komplexität der möglichen Spezialisierungen,
den. Inzwischen ahnt man, wie dies möglich ist: Von mit denen wir zu rechnen haben. 12
Dietrich Schneider und Michael Boppré wurde be- Die Fähigkeit, PA zu speichern und zu nutzen,
reits 1982 gezeigt, dass nur männliche Raupen, die findet man bei verschiedenen Schmetterlingsgrup- 13
als Larve PA gefressen haben, als Falter große pen (insbesondere in den Familien Nymphalidae
schlauchförmige Duftorgane (Coremata) an ihrem
Abdomen ausbilden, die während der Balz aufge-
und den Arctiidae) und anderen Insekten (wie z. B.
Blattkäfern der Gattung Oreina). Die Fähigkeit der
14
blasen werden (. Abb. 4.54). PA-frei aufgezogene PA-Speicherung ist bei diesen Insekten offenbar
Tiere haben dagegen nur kümmerliche Coremata. nicht nur einmal oder sondern mehrmals durch pa- 15
Diese stark behaarten Duftorgane enthalten Phero- rallele Evolution entstanden (. Abb. 4.55). Inner-
mone, die sich biogenetisch von den gefressenen halb der Arctiidae sind die Callimorphinae und Arc- 16
Alkaloiden ableiten, nämlich von 7R-Hydroxydanai- tiinae in der Regel PA-Speicherer. Nicht alle Arctiinae
dal. Die Menge an Pheromon scheint mit der Menge sind obligate PA-Speicherer; die meisten nutzen
an gespeichertem PA korreliert zu sein, d. h. je inten- diese Substanzen eher opportunistisch. Damit er- 17
siver so ein Bärenspinnermännchen duftet, desto gibt sich für die PA-Verteilung bei den Insekten ein
mehr PA hat es gespeichert, die es an seine Nach- ähnlich heterogenes Bild wie für die PA-Produzenten 18
kommen weitergeben kann. Die Weibchen besitzen bei den Pflanzen (vgl. . Abb. 4.47). Es handelt sich
Chemorezeptoren auf ihren Antennen, mit denen
sie Hydroxydanaidal riechen und damit ein PA-rei-
offensichtlich um ein adaptives Merkmal, das mehr
über die Ökologie der Arten aussagt als über ihre
19
ches Männchen erkennen können. Auf diese Weise gemeinsame Phylogenie.
20
7
404 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

 EXKURS 4.7 (Fortsetzung) 

.. Abb. 4.53  Verarbeitung von pflanzlichen Pyrrolizidinalkaloiden (PAs) in Insekten, hier am Beispiel eines Arctiiden,
Creatonotus transiens

.. Abb. 4.54  Größe der Coremata von Creatonotos-gangis-Männchen, die im Larvalstadium PA über die Nahrung erhiel-
ten (links und Mitte) oder PA-frei (rechts) aufgezogen wurden. Nach Schneider et al. (1982, Bildrechte liegen bei AAAS)

7
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 405

 EXKURS 4.7 (Fortsetzung) 
.. Abb. 4.55 Phylogenie
von PA-speichernden und
1
PA-freien Schmetterlingen
(vier Unterfamilien der 2
Arctiidae und Nymphalidae),
rekonstruiert über
Nucleotidsequenzen der 16S 3
rRNA (nach Wink et al. 1998)

4
5
6
7
8
9
10
11
12
13

EXKURS 4.8 14
Herzglycoside (HG) 15
Während Herzglycoside, richtig dosiert, wertvolle aufgenommenen Herzglycoside zu speichern, die
Arzneimittel in der Herztherapie (von Withering
1785 entdeckt) darstellen, wirken sie in höherer
ihnen dann wiederum Schutz vor Prädatoren ge-
währen. Die meisten HG-speichernden Insekten
16
Konzentration als starke Gifte, sowohl in Verte- sind auffällig gefärbt (aposematische Färbung) und
braten als auch in Insekten. Herzglycoside hem- signalisieren bereits damit ihr chemisches Arsenal. 17
men die physiologisch wichtige Na+-K+-ATPase Ein klassisches Beispiel der Chemischen Ökologie
(. Abb. 4.41). ist der nordamerikanische Monarchfalter (Danaus 18
Während die meisten Herbivoren Herzglycosid- plexippus) (. Abb. 4.56a), der von Blauhähern ge-
führende Pflanzen meiden, haben sich einige Insek- mieden wird, sobald die Vögel einmal schlechte Er-
ten geradezu auf diese Wirtspflanzen spezialisiert. fahrung gemacht haben (d. h. wenn sie nach dem
19
Die Larven sind in der Lage, die mit der Nahrung Fressen von einem Falter stark erbrechen mussten).
20
7
406 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

 EXKURS 4.8 (Fortsetzung) 

a Danaus plexippus

b Bindungsstelle
für Herzglycoside
Transmembranbereiche
Position Position
111 122
extrazellulär

2 3 4 5 6 7 8 Biomembran

intrazellulär
COOH
NH2

c
Herzglycosid-sensitive Na+,K+-ATPasen
111 115 120 122
Homo sapiens Gln Ala Ala Thr Glu Glu Glu Pro Gln Asn Asp Asn
Drosophila Gln Ala Ser Thr Ser Glu Glu Pro Ala Asp Asp Asn
Manduca sexta Gln Ala Ser Thr Val Glu Glu Pro Ser Asp Asp Asn
Creatonotos transiens Gln Ala Ser Thr Val Glu Glu Pro Ala Asp Asp Asn
Amata mogadorensis Gln Ala Ser Thr Val Glu Glu Pro Ala Asp Asp Asn

Unempfindliche Na , K -ATPasen
+ +

111 115 120 122


Rattus Arg Ser Ala Thr Glu Glu Glu Pro Pro Asn Asp Asp
Bufo marinus Arg Lys Ala Ser Asp Leu Glu Pro Asp Asn Asp Asn
Danaus plexippus Gln Ala Ser Thr Val Glu Glu Pro Ser Asp Asp His
Danaus gilippus Gln Ala Ser Thr Val Glu Glu Pro Ser Asp Asp Asn
Syntomeida epilais Gln Ala Ser Thr Glu Glu Glu Pro Ser Asp Asp Asn

.. Abb. 4.56 a–c. a Raupen des Monarchfalters fressen auf Asclepias und nehmen Herzglycoside auf; die Herzglycosi-
de werden in den folgenden Entwicklungsstadien, d. h. Puppe und Imago gespeichert und dienen der Abwehr von
Fraßfeinden. b Struktur der Na+-K+-ATPase und die Lage der Herzglycosidbindungsstelle. Die Ziffern in den Transmem-
branregionen weisen auf H1, H2 usw. hin. c Von den Nucleotidsequenzen abgeleitete Aminosäuresequenz der
Ouabain-Bindungsstelle von Herzglycosid-sensitiven und -insensitiven Organismen

7
4.3  •  Merkmalsevolution: Erkennung konvergenter Evolutionsprozesse 407

 EXKURS 4.8 (Fortsetzung) 
In der Mimikryforschung spielen Schmetterlinge, Toleranz durch eine Insensibilität der Na+-K+-AT- 1
die dem Monarchen sehr ähnlich sehen und damit Pase des Monarchen: So zeigen In-vitro-Versuche
dessen chemischen Schutz mitnutzen, ohne selbst mit Raupenhomogenaten, dass die Na+-K+-ATPase 2
Herzglycoside speichern zu müssen, eine erhebli- des Monarchen gegen Ouabaineinwirkung bis zu
che Rolle.
Unter Mimikry versteht man die morphologi-
300-fach weniger sensitiv ist als bei HG-sensitiven
Faltern.
3
sche Nachahmung einer anderen meist toxischen Die Na+-K+-ATPase besteht aus zwei Polypepti-
Art durch eine ungiftige Art, die von Fraßfeinden den, einer katalytischen α-Untereinheit mit 1016 4
dann ebenfalls gemieden wird (Bates’sche Mimi- Aminosäuren und einer β-Untereinheit mit 302
kry). Unter Müller’scher Mimikry versteht man das Aminosäuren bisher unbekannter Funktion 5
Phänomen, dass nicht verwandte Arten ähnliche (. Abb. 4.56b). Die extrazelluläre Domäne der
Warntrachten entwickeln (s. . Abb. 4.55). Wenn α-Untereinheit zwischen den Proteindomänen H1
ein Fraßfeind mit einer Art schlechte Erfahrung und H2 bezeichnet man als „Ouabain-Bindungs- 6
gemacht hat, wird er zukünftig auch ähnliche ge- stelle“ (Ouabain ist ein Herzglycosid). Die Sequenz
färbte andere Arten vermeiden. Eine Sonderform der 12 Aminosäuren umfassenden Ouabain-Bin- 7
ist die Peckham’sche Mimikry (oder aggressive dungsstelle stimmt bei den HG-sensitiven Tieren
Mimikry), bei der andere Arten durch Täuschung
angelockt werden. Beispiele sind Orchideen der
(wie Torpedo und Drosophila) aber auch beim Men-
schen überein (. Abb. 4.56c). Die Unempfindlich-
8
Gattung Ophrys, deren Blüten so aussehen wie keit von Danaus plexippus gegenüber Herzglycosi-
weibliche Solitärbienen (. Abb. 1.30) und die zu- den wird offensichtlich durch eine Punktmutation 9
sätzlich Pheromone produzieren, die von männ- hervorgerufen: Anstelle eines Asparagin-Restes hat
lichen Solitärbienen erkannt werden. Die Bie- der Monarch einen Histidinrest in Position 122 10
nenmännchen versuchen, sich mit den Blüten zu (. Abb. 4.56c) der Ouabain-Bindungsstelle. Es liegt
paaren und verbreiten so Pollen. nahe, dass diese „Targetsite“-Modifikation dazu
Die aposematisch gefärbte Ctenuchidenart führt, dass Ouabain nicht mehr gebunden wird und 11
Syntomeida epilais lebt als Larve nahezu ausschließ- dem Monarch eine Toleranz gegen sein Wehrgift
lich auf dem HG-reichen Oleander (Nerium olean- vermittelt. Diese Vermutung konnte experimentell 12
der). Seine giftigen Cardenolide werden durch ein bestätigt werden (Holzinger u. Wink 1996): Durch
spezifisches Transportsystem in die Darmzellen der
Larven aufgenommen, d. h. die Resorption erfolgt
eine ortsspezifische Mutation (Einführung eines
Histidinrestes in Position 122) konnte die Ouabain-
13
nicht durch freie Diffusion. Diese Anpassung ist empfindliche Na+-K+-ATPase aus Drosophila gegen-
offensichtlich nur bei den HG-speichernden Arten über Ouabain unempfindlich gemacht werden. 14
entwickelt, nicht aber bei den übrigen Arten, die Ebenso wie bei den PA können wir uns fragen,
keine HG akkumulieren, selbst wenn man sie ihnen ob die Herzglycosidspeicherung bei Insekten durch 15
über die Nahrung verabreicht. Sowohl die Larven konvergente Evolution zustande gekommen ist
als auch die fertigen Falter von Syntomeida epilais und ob die Unempfindlichkeit auf demselben Prin-
speichern die Herzglycoside, besonders in ihrem In- zip wie beim Monarch beruht. Betrachten wir den 16
tegument. Beide Formen sind auffällig gezeichnet molekularen Stammbaum in . Abb. 4.55, so erken-
und tagaktiv. Ebenso wie die Monarchfalter werden nen wir, dass viele Vertreter der Danainae (einer 17
sie von Vögeln weitgehend verschmäht. Untergruppe der Nymphalidae), aber auch einige
Obwohl der natürliche Herzglycosidgehalt
eines Monarchfalters über 8 mg pro g Trockenge-
nicht näher verwandte Arctiiden, Herzglycoside zur
Verteidigung nutzen. Die molekulare Analyse der
18
wicht betragen kann, scheint dies für ihn selbst kei- Ouabain-Bindungsstelle von weiteren HG-unemp-
nerlei Bedrohung darzustellen. Danaus plexippus findlichen Schmetterlingen zeigte (. Abb. 4.56), 19
ist, ähnlich wie andere HG-Speicherer, gegenüber dass nur der Monarch die Punktmutation an der
giftigen Herzglycosiden resistent. Erklärt wird die Position 122 aufweist, nicht aber die anderen Arten, 20
7
408 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

 EXKURS 4.8 (Fortsetzung) 
ja nicht einmal D. gilippus, der immerhin zur Gat- erworben, solche Ultraschalllaute zu erkennen und
tung Danaus zählt. Diese Befunde sprechen für reagieren darauf, indem sie Sturzflüge oder andere
eine unabhängige Entwicklung der Resistenzme- Flugmanöver ausführen. Zusätzlich produzieren ei-
chanismen und für eine konvergente Evolution all nige der Nachtfalter eigene Laute, die das Sonar-
dieser Merkmale. system der Fledermäuse stören und zusätzlich die
Eine interessante Koevolution hat sich zwi- Information tragen, dass die betreffenden Falter
schen den chemischen geschützten Nachtfaltern chemisch geschützt sind; d. h. diese Warnlaute er-
und Fledermäusen herausgebildet. Fledermäuse gänzen die aposematischen Warnfarben, die von
setzen bekanntlich Ultraschalllaute ein, um ihre den Fledermäuse nicht gesehen werden können
Beute zu orten. Die Nachtfalter haben die Fähigkeit (Conner u. Corcoran 2012).

4.4.1 Grundlagen
4.4 Phylogeographie der Phylogeographie

Die Organismen unserer Erde zeigen im Allgemei-


nen definierte Verbreitungsmuster und nur wenige
|
Übersicht              | Arten sind kosmopolitisch verbreitet. Die heutige
Verbreitung hängt von verschiedensten Faktoren
Durch genetische Analysen, insbesondere durch
ab, u. a. vom Ort, wo eine Gruppe ursprünglich ent-
Phylogenierekonstruktionen und durch Ermitt-
stand, von ihrer Mobilität, von erdgeschichtlichen
lung der Divergenzzeiten anhand von DNA-Se-
Ereignissen, wie Plattentektonik, Meteoritenein-
quenzen, lässt sich die Verbreitungsgeschichte
schlägen, Eiszeiten, Trockenzeiten oder Vulkanaus-
vieler Organismen rekonstruieren. Kommen
brüchen, oder von Zufallsereignissen (Verdriftung
verwandte Taxa auf mehreren Erdteilen vor, so
durch Meeresströmung oder Wirbelstürme).
waren die Stammarten entweder bereits auf
Die räumliche Veränderung einer Art vom Ur-
den Urkontinenten vorhanden und gelangten
sprungszentrum (center of origin) aus wird als Dis-
mit der Kontinentaldrift zur heutigen Verbrei-
persion (dispersal) bezeichnet. Man unterscheidet
tung; oder aber die Taxa entwickelten sich auf
zwischen Dispersion über Korridore (Erdteile, die
einem Erdteil und erreichten Inseln und andere
durch Landbrücken verbunden sind), temporäre
Erdteile in Zeiten, als Landbrücken bestanden.
Brücken (z. B. die Beringstraße oder die Landenge
Ebenso wichtig ist die Ausbreitung durch Lang-
von Panama), die zeitweise Kontinente durch Land-
streckendispersion (long-distance dispersal),
brücken verbunden haben oder durch Zufallsereig-
indem Organismen durch Wirbelstürme oder
nisse („Lotterie“).
Meeresströmungen verdriftet wurden. Als Bei-
Für flugfähige Tiere (Vögel, Fledermäuse, Insek-
spiele werden die Verbreitung der Lupinen und
ten) stellen selbst große Entfernungen keine allzu
der flugunfähigen Laufvögel angeführt. Auch
großen Hindernisse dar, und Dispersion über Meere
weniger weit zurückliegende Ereignisse, bei-
tritt vermutlich regelmäßig auf, man denke nur an
spielsweise die Auswirkungen der Eiszeiten in
das regelmäßige Auftreten des nordamerikanischen
Mitteleuropa auf die aktuelle Verbreitung, las-
Monarchfalters (Danaus plexippus) in Europa und
sen sich über DNA-Marker rekonstruieren, wie
Nordafrika oder die Besiedlung ozeanischer Vulka-
am Beispiel der Verbreitung der Europäischen
ninseln durch Insekten und Vögel.
Sumpfschildkröte erläutert wird.
Zufallsereignisse können Wirbelstürme sein,
die Pflanzensamen in die Stratosphäre aufwirbeln
und Tausende Kilometer weiter wieder ablagern,
oder Meeresströme, die Organismen weit verdrif-
ten. Für Pflanzen (insbesondere Samen) ist eine
4.4  •  Phylogeographie 409

solche Langstreckendispersion ein realistisches richtung wird nach John Avise et al. (1987) Phylo-
Szenario und wurde bereits von Charles Darwin geographie genannt. 1
experimentell untersucht. Er konnte zeigen, dass
viele Samen auch nach längerem Aufenthalt im 2
Meerwasser ihre Keimfähigkeit beibehalten. Bei 4.4.2 Disjunktion zwischen Alter
Wirbelstürmen und Tsunamis werden sogar grö- und Neuer Welt
ßere Bäume entwurzelt, ins Meer gespült und dabei 3
anschließend verdriftet. Sie können als Flöße die- Die Erdgeschichte selbst hat sich auf die globale
nen, auf denen sich Tiere, wie Reptilien, Spinnen Verbreitung vieler Organismen stark ausgewirkt. 4
oder Insekten, festklammern. Meist werden diese Wie in Kap. 2 dargestellt, kann man davon ausgehen,
Verdriftungen mit dem Tod der blinden Passagiere dass vor rund 200 Mio. Jahren zwei große Erdteile,
enden. Aber es reicht schon aus, wenn ein solcher Laurasia und Gondwana, existierten. Durch Plat-
5
Transport alle 100.000 oder Millionen Jahre er- tentektonik wurden nach und nach die Süd- und
folgreich ist, um die Besiedlung einer Insel oder Nordkontinente sowie Alte und Neue Welt getrennt. 6
eines anderen Erdteils einzuleiten. In der Karibik Vor ca. 60–80 Mio. Jahren lagen die heutigen Konti-
beispielsweise wurden Flöße mit mehreren Legu- nente schon weitgehend getrennt vor. Wenn rezente 7
anen gesichtet, die über Hunderte von Kilometern Organismen einer evolutionären Entwicklungslinie
in eine neue Heimat verdriftet wurden. Die auf den auf verschiedenen Erdteilen vorkommen, kann dies
Galapagosinseln lebenden Landschildkröten haben auf die Kontinentalverschiebung zurückgehen. Dass 8
diese Inseln vermutlich driftend erreicht. Eine Be- dies nicht immer der Fall sein muss, soll ein Beispiel
siedlung durch Dispersion kann in relativ kurzen erläutern. 9
Zeiträumen erfolgen, wie man dies in der Besied-
lung von Vulkaninseln sehen kann. Als 1883 das Evolution der Lupinen
Leben auf der indonesischen Insel Krakatau durch Lupinen (Familie Fabaceae; Gattung Lupinus) tre-
10
einen Vulkanausbruch vernichtet worden war, er- ten in großer Artenzahl in der Neuen Welt (ca. 150
folgte die Rekolonisierung vergleichsweise schnell. Arten in Nord- und Mittelamerika, ca. 300 Arten 11
1930 wuchs bereits wieder tropischer Regenwald in Südamerika) und mit 12 Arten in der Alten Welt
auf Krakatau und man fand dort 270 Pflanzen- und auf. Es wurde bislang angenommen, dass die neu- 12
31 Vogelarten. Ein weiteres Beispiel für die Vulka- und altweltlichen Lupinen auf einem Urkontinent
ninseln ist die Besiedlung der Makaronesischen entstanden und später durch Kontinentalverschie-
Inseln, die im Abschn. 3.5.6 bereits kurz angespro- bung getrennt wurden und daher aktuell sowohl die 13
chen wurde. Neue als auch die Alte Welt besiedeln.
Am Beispiel der Malpighiaceae konnte gezeigt Die Analyse der rbcL-Gens und der ITS-Re- 14
werden, dass neben der Langstreckendispersion und gion der rDNA (. Abb. 4.13) zeigte jedoch, dass
der Plattentektonik noch eine weitere Erklärung die genetische Distanz zwischen Alt- und Neu-
für die Großdisjunktion in Frage kommt, nämlich weltlupinen relativ klein ist und bestenfalls eine
15
die Migration über nordatlantische Landbrücken Divergenzzeit von 10–15 Mio. Jahren erlaubt. Also
(Davis et al. 2002). Ähnliches gilt für diverse Tier- erfolgte die Disjunktion zu einem Zeitpunkt, als 16
gruppen, die in den Ölschiefern der Grube Messel die Kontinente schon lange getrennt waren. Die
(s. Abschn. 2.4.1) nachgewiesen wurden. entsprechenden Phylogramme (. Abb. 4.57) zei- 17
Warm-, Trocken- und Eiszeiten haben die Tier- gen außerdem, dass die Neuweltlupinen sich in
und Pflanzenverbreitung maßgeblich geprägt. Auf zwei getrennte Evolutionslinien aufspalten. Eine
eine Arealverbreitung bei günstigem Klima folgte ist im atlantischen Bereich Südamerikas zu Hause, 18
häufig ein Rückzug in Refugialräume in schlechten die andere ist über Nord- und Mittelamerika bis in
Zeiten, oder aber die Art starb gänzlich aus. Durch den Andenbereich von Südamerika (. Abb. 4.57) 19
Analyse der DNA-Sequenzen von Markergenen verbreitet. Die südamerikanischen Lupinen mit
lassen sich diese Ereignisse auch heute noch in ge- atlantischer Verbreitung clustern im molekularen
wissem Maße rekonstruieren. Diese Forschungs- Stammbaum als Schwestergruppe zu den Altwelt-
20
410 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

arten mit rauer Samenschale (. Abb. 4.57). Weil Evolution der Laufvögel


die Astlängen der nordamerikanischen Lupinen In Südamerika, Afrika, Australien, Neuguinea
im Phylogramm kurz, die der Altweltarten relativ und Neuseeland leben flugunfähige Laufvögel, wie
lang sind, muss man folgern, dass die Altweltlupi- Nandus, Strauße, Emus, Kasuare und Kiwis. Da ihr
nen früher entstanden als die nordamerikanischen Brustbein kein Sternum aufweist, hat man diese
Arten. Dieses Argument wird durch die Chromoso- Vogelgruppe als Laufvögel (Struthioniformes) zu-
menanalyse gestützt, denn die Chromosomenzahl sammengefasst. Die gemeinsame Phylogenie dieser
ist bei den nordamerikanischen Arten weitgehend Gruppe wurde durch immunologische Analysen
konstant, während sie bei den Altweltarten größere des Transferrins, durch DNA-DNA-Hybridisierung
Variationen aufzeigt. und durch Sequenzanalysen der mtDNA belegt.
Legt man die genetischen Daten zugrunde, so Man nimmt an, dass es sich um eine ursprüngliche
lag der Ursprung der Lupinen offenbar in der Alten Vogelgruppe handelt, die sich bereits vor 80 Mio.
Welt im Mittelmeerraum (in dem auch die meisten Jahren, also vor einem Auseinanderdriften der heu-
anderen Genisteae vorkommen, die mit den Lu- tigen Kontinente entwickelt haben müsste. Zum
pinen eine monophyletische Gruppe bilden). Aus damaligen Zeitpunkte waren die Südkontinente
der Alten Welt wurden Samen der rauschaligen noch als Gondwanakontinent, dem Antarktika an-
Lupinen vermutlich nach Südamerika verdriftet gehörte, miteinander verbunden. Wären die Arten
(vielleicht durch Wirbelstürme; auch heute noch wesentlich jünger, so hätte man Schwierigkeiten,
transportieren kräftige Stürme Saharastaub bis ins die heutige Verbreitung zu erklären, denn ein long-
Amazonasgebiet), andere wie die Samen von glatt- distance dispersal ist kaum vorstellbar, es sei denn,
schaligen Lupinen, z. B. Lupinus angustifolius, ge- die Vorfahren der Laufvögel wären flugfähig gewe-
langten möglicherweise durch Wirbelstürme nach sen. Über mtDNA wurde auch die DNA neuseelän-
Nordamerika, von dort erfolgte über den Isthmus discher Moas (Dinornis, Emeus) untersucht, die im
von Panama (der vor 3 Mio. Jahren entstand) die 19. Jahrhundert ausgestorben sind. Sie bilden eine
Besiedlung Südamerikas im Andenbereich. Dem- Schwestergruppe zu den heute lebenden Laufvögel.
nach wurde die Neue Welt durch long-distance dis-
persal vermutlich auf zwei Wegen erreicht; einmal Einfluss der Eiszeiten in Europa
über das östliche Südamerika und zum zweiten Mal Bedingt durch die pleistozänen Eiszeiten in der
über Nordamerika mit sekundärer Ausbreitung nördlichen Hemisphäre (s. Abschn. 2.4.2) kam es
nach Mittel- und Südamerika im Andenbereich. zu erheblichen zyklischen Veränderungen in der
So besteht über die molekularen Analysen heute Verbreitung von Pflanzen und Tieren. Zwischen
die Möglichkeit, die vielen in der Literatur genann- den Eiszeiten gab es jeweils längere Perioden von
ten Hypothesen zur Biogeographie zu testen. Für etlichen tausend Jahren, in denen in Europa ein
einige Pflanzen- und Tiergruppen mit Verbreitung gemäßigtes bis warmes Klima herrschte (s. Ab-
in Amerika, Afrika und Australien hat man einen schn. 2.4.2). In diesen Perioden haben sich die
gemeinsamen Ursprung auf dem Urkontinent Organismen, soweit sie nicht von der vorangegan-
Gondwana vermutet. Selbst bei Paradearten mit genen Eiszeit ausgelöscht worden waren, aus südli-
Gondwanaverbreitung, wie beispielsweise die Süd- chen Refugialräumen heraus wieder verbreitet und
buchen der Gattung Nothofagus, die in Südamerika, dabei große Bereiche neu besiedelt. In . Abb. 4.58
Australien, Neukaledonien, Neuguinea und Neu- ist die Ausdehnung der eiszeitlichen Eismassen auf
seeland vorkommen, weiß man heute, dass Neusee- der Nordhemisphäre dargestellt. Bei einigen Pflan-
land offenbar erst im Tertiär durch Langstreckendis­ zen- und Tierarten kann man über die genetische
persion besiedelt wurde. Viele Verbreitungsmuster, Analyse der heutigen Arten ein solches Szenario
für die heute noch die kontinentale Drift als Ursache rekonstruieren. Dies soll am Beispiel der Europä-
angesehen wird, dürften auf erratische Dispersions- ischen Sumpfschildkröte erläutert werden.
ereignisse zurückgehen (also ein Lotteriespiel der Die Europäische Sumpfschildkröte (Emys or-
Erdgeschichte) (vgl. Sanderson et al. 2004; de Quei- bicularis) hat sich vor ca. 10 Mio. Jahren von ge-
roz 2005; Green u. Figuerola 2005). meinsamen Vorfahren, die heute in Nordamerika
4.4  •  Phylogeographie 411

Maximum parsimony
ITS I & II Lupinus polyphyllus 1
Lupinus elegans
Lupinus mexicanus
2
Lupinus arboreus
Lupinus arcticus
Lupinus Lupinus argenteus
Lupinus perennis
3
Lupinus nanus
Lupinus polycarpus
Lupinus mutabilis 4
Lupinus albus
Lupinus micranthus
Lupinus angustifolius
Lupinus hispanicus
altweltliche Lupinen 5
Lupinus luteus
Lupinus aureonitens
Lupinus albescens
6
Lupinus paraguariensis
Lupinus atlanticus
Lupinus digitatus 7
Lupinus princei altweltliche Lupinen
Lupinus pilosus
Lupinus cosentinii
Chamaecytisus purpureus
8
Cytisus scoparius
Laburnum anagyroides
Petteria ramentacea
9
Spartium junceum Genisteae
Retama raetam
Genista cinerea 10
Teline canariensis
Ulex europaeus
Crotalaria capensis
Liparia splendens
11
Podalyria biflora
Podalyrieae
Virgilia divaricata
Cyclopia genistoides
12
Baptisia tinctoria
Thermopsis fabacea
Anagyris foetida Thermopsideae 13
Piptanthus nepalensis
Sophora flavescens
Maackia amurensis 14
Sophora secundiflora Sophoreae
Styphnolobium japonicum
5 Merkmalsänderungen
15
altweltliche Arten 16
neuweltliche Arten (Fettdruck)

.. Abb. 4.57  Molekulare Phylogenie und Phylogeographie der Lupinen, rekonstruiert über Sequenzen der ITS 1+2-Bereiche
17
der ncDNA. Analyse mittels Maximum Parsimony; Darstellung als Phylogramm; Astlängen korrelieren mit der Anzahl von Merk-
malsänderungen. Äste der neuweltlichen Leguminosen im Fettdruck (nach Käss u. Wink1997) 18
19
20
412 Kapitel 4  •  Molekulare Evolutionsforschung: Methoden, Phylogenie, Merkmalsevolution und Phylogeographie

.. Abb. 4.58  Vereisung der Land-


massen Nordhemisphäre während der
letzten Eiszeit

zu Hause sind, getrennt (. Abb. 4.59) und besie- (Haplotyp IIb), die mit den osteuropäischen Popu-
delt Europa von Portugal bis zum Kaspischen Meer lationen in Zusammenhang stehen. An den meisten
(. Abb. 4.60). Aufgrund von morphologischen anderen Standorten findet man Tiere mit fremder
Merk­malen werden einige Unterarten unterschie- Herkunft, so z. B. im Enkheimer Ried bei Frankfurt.
den, die aber bislang alle zu einer Art gerechnet Die genetische Analyse der Tiere ergab jedoch, dass
werden. ihre Haplotypen denen der mediterranen Sumpf-
Von über 900 Sumpfschildkröten aus dem ge- schildkröten entsprechen, die aber in Deutschland
samten Verbreitungsbereich wurden Blutproben natürlicherweise nicht vorkommen. D.h. die Sumpf-
entnommen und ihre mitochondriale DNA ana- schildkröten im Enkheimer Ried wurden mit großer
lysiert. Die Sequenzanalyse zeigt eine starke inne- Wahrscheinlichkeit aus einem Mittelmeerurlaub
rartliche Differenzierung (. Abb. 4.59). Wenigs- mitgebracht und später ausgesetzt. Während man in
tens sieben Hauptgruppen von Haplotypen lassen Westdeutschland Sumpfschildkröten findet, die vor
sich erkennen, die z. T. mit bekannten Unterarten allem aus dem Mittelmeergebiet stammen, wurden
identisch sind. . Abbildung 4.59b zeigt eine Netz- in Ostdeutschland vermehrt Tiere aus Ungarn und
werkanalyse (minimum spanning network), die auf dem Schwarzen Meer nachgewiesen. Diese Vertei-
Populationsebene eine Phylogenie besser wiedergibt lung spiegelt das Urlaubsverhalten der Deutschen in
als kladistische Stammbäume. der früheren DDR bzw. in Westdeutschland wider.
Die Verteilung der Haplotypen zeigt ein klares Mit der genetischen Analyse kann man die für den
geographisches Muster (. Abb. 4.60). So ist Haplo- Naturschutz wichtige Frage, ob Sumpfschildkröten
typ V auf das westliche Mittelmeergebiet beschränkt, an einer Stelle autochthon (also ursprünglich) oder
während Typ I im östlichen Mittelmeer bis hin allochthon (also eingeführt) sind, eindeutig beant-
zum Schwarzen Meer vorkommt. In Deutschland worten. Bei den vielerorts durchgeführten offiziellen
gibt es nur noch wenige Vorkommen der Sumpf- Wiederansiedlungsprojekten werden nur Sumpf-
schildkröte. In den Brandenburger Gewässern le- schildkröten freigesetzt, die den für Mitteleuropa
ben offenbar noch autochthone Sumpfschildkröten typischen Haplotyp aufweisen.
4.4  •  Phylogeographie 413

1
2
3
4
5
6
7
.. Abb. 4.59 a, b  Molekulare Phylogenie der Europäischen Sumpfschildkröte und Aufspaltung der geographischen Haploty- 8
pen auf Grundlage des Cytochrom-b-Gens. Nach Lenk et al. (1999). a Analyse mittels Maximum Likelihood; Darstellung als Phy-
logramm (Astlängen proportional zur evolutiven Distanz). b Minimum spanning network der Haplotypen von Emys orbicularis.
Jede Linie repräsentiert eine Basensubstitution im Cytochrom-b-Gen. Hypothetische ancestrale Haplotypen, die bisher noch bei 9
keinem Tier gefunden wurden, sind durch einen Kreis angedeutet. Haplotypen, die mit * markiert sind, wurden bislang nur bei
einem einzigen Tier gefunden
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
.. Abb. 4.60  Verbreitung der Sumpfschildkröte (Emys orbicularis) und ihrer Haplotypen in Europa (nach Lenk et al. 1999,
Bildrechte liegen bei Molecular Ecology). Die Bezeichnung und Zuordnung der Haplotypen erfolgte entweder über Sequenz-
analysen. Zahlen an den Haplotypsymbolen geben ihre jeweilige Häufigkeit wieder 20
414 Literatur

Wenn man annimmt, dass sich die Sumpfschild- Cavalier-Smith T (2012) Kingdom protozoa and chro-
kröte in der letzten Eiszeit in wärmere Refugialge- mista and the eozoan root oft he eukaryotic tree. Biol
biete des Mittelmeerraumes zurückziehen konnte Lett 6: 342–345
Cavalli-Sforza IL, Menozzi P, Piazza A (1994) The history
und sich mit der Klimaerwärmung wieder nach and geography of human genes. Princeton Univ Press,
Norden ausbreitete, so kann man das heutige Ver- Princeton/NJ
breitungsmuster plausibel erklären. Legt man eine Chase MW, Soltis DE, Olmstead RG et al (1993) Phylo-
molekulare Uhr mit einer Kalibrierung von 1–2 % genetics of seed plants: An analysis of nucleotide se-
Nucleotidsubstitution = 1 Mio. Jahre Divergenz zu- quences from the plastid gene rbcL. Ann Missouri Bot
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grunde, so sind manche Populationen bereits seit Ciccarelli FD, Doerks T, von Mehring C, Creevey CJ, Snel
3–4 Mio. Jahren getrennt. Da sich die verschiede- B, Bork P (2006) Toward automatic reconstruction of
nen, häufig para- und allopatrischen Populationen a highly resolved tree of life. Science 311: 1283–1286
sowohl auf der morphologischen als auch auf der Conner WE, Corcoran AJ (2012) Sound strategies: The
Ebene der Sequenzen von Cytochrom-b unterschei- 65-million-year-old battele between bats and insects.
Annu Rev Entomol 57: 21–39
den, stellt sich die Frage, ob es sich bei der Sumpf- Crane PR, Herendeen P, Friis EM (2004) Fossils and plant
schildkröte noch um eine Art oder bereits um meh- phylogeny. Amer J Bot 91: 1683–1699
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5 Evolution des Menschen und
seiner nächsten Verwandten,
der nicht-humanen Primaten
V. Storch, U. Welsch, M. Wink, Evolutionsbiologie,
DOI 10.1007/978-3-642-32836-7_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
418 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

|
Übersicht              |
Der Mensch gehört der sehr vielgestaltigen Südostasien gefunden wurden, werden als
Säugetierordnung Primates an. Er nimmt hier Homo erectus bezeichnet; sie hatten ein Hirn-
einen Platz in der Primatenfamilie Hominidae volumen von ca. 900–1100 cm3 und überleb-
ein, zusammen mit den großen Menschen- ten wahrscheinlich in Südostasien bis vor ca.
affen Afrikas und Südostasiens, mit denen 35.000–40.000 Jahren.
er den allergrößten Teil seines Genoms und Der Flores-Mensch, eine eigentümliche
dementsprechend wichtige anatomische und Zwergform, starb erst vor ca. 12.000 Jahren aus.
physiologische Übereinstimmungen teilt. Die In Nordwestafrika, im Nahen Osten und Europa
meisten Übereinstimmungen besitzt er mit dem sind deutlich über 1 Mio. Jahre alte Spuren des
Schimpansen, von dem er sich nur um ca. 1,6 % Menschen nachgewiesen, die schwer einzu­
der Gesamt-DNA unterscheidet, was auf einen schätzen sind (Homo antecessor?). Ab gut
letzten gemeinsamen Vorfahren vor ca. 6 Mio. 500.000 vor heute ist Homo heidelbergensis an
Jahren schließen lässt. In der Fossilgeschichte verschiedenen Stellen Süd- und Mitteleuropas
tauchen Vormenschen vor gut 4 Mio. Jahren nachzuweisen. Er hatte ein Hirnvolumen von
in Ost- und Nordostafrika mit den Gattungen ca. 1150–1200 cm3. Aus ihm hat sich vermut-
Ardipithecus und Australopithecus auf, die anato- lich Homo neanderthalensis entwickelt, der
misch zunehmend verbesserte Anpassungen an möglicher­weise vor ca. 250.000 Jahren entstand
den aufrechten Gang ausbildeten, aber noch re- und große Teile West-, Süd-, Mittel- und Ost-
lativ kleine Gehirne (ca. 300–350 [Ardipithecus] europas sowie Westasien bis hin nach Zentral­
oder ca. 450–530 [Australopithecus] cm3) hatten. asien in den nördlichen Irak und nach Israel
Verschiedene Australopithecinen lebten bis besiedelte. Hirnvolumen ca. 1400–1500 cm3.
vor ca. 1 Mio. Jahren in Afrika. Aus der Gattung Er starb wohl vor ca. 40.000 Jahren aus. Unsere
Aus­tralopithecus entwickelte sich die Gattung eigene Art, Homo sapiens, lebte schon vor ca.
Homo, die mit Homo habilis und möglicherweise 190.000 Jahren in Äthiopien und geht auf ältere
auch Homo rudolfensis vor ca. 2,5 Mio. Jahren afrikanische Formen zurück, die H. heidelbergen-
in Afrika auftauchte und die insbesondere sis ähneln. Während Homo sapiens zunächst eine
durch eine moderne Fußanatomie, relativ große relativ bescheidene Rolle spielte, entfaltete er
Hirnvolumina (gut 750–775 cm3) und erste sich mit dem Beginn des Neolithikums vor gut
Werkzeugkulturen gekennzeichnet war. Eine 10.000 Jahren mit zunehmend rasanter werden-
Schlüsselstellung nimmt vermutlich Homo er- der Geschwindigkeit und beherrscht heute die
gaster (Hirnvolumen ca. 750–1000 cm3) ein, der Erde. Er vollbringt diese Leistung in Wissenschaft,
vor ca. 2 Mio. Jahren in Ostafrika entstand und Technik und Kunst mit einem durchschnittlichen
möglicherweise als erster Mensch Afrika verließ. Gehirnvolumen von 1250–­1350 cm3, was ihn
Wahrscheinlich erreichte er verhältnismäßig einerseits zu großen kulturellen Leistungen be-
rasch Süd-, West- und Ost- sowie Südostasien. fähigt, ihn aber andererseits nicht vor gravieren-
Die ersten fossilen Menschen, die in Ost- und den Fehlentwicklungen schützt.
5.1  •  Evolution des Menschen – Allgemeine Einführung 419

5.1 Evolution des Menschen Anstands usw. zu bewältigen helfen, muss jeder für
– Allgemeine Einführung sich selbst entscheiden; aber auch hier gibt es in- 1
zwischen vorsichtige evolutionsbiologische Erklä-
Die Fragen nach seiner eigenen Herkunft beschäf- rungsansätze (z. B. Voland 2007; Sommer 2010). 2
tigen den Menschen seit Jahrtausenden. An ver- Das Wesen der Wissenschaft liegt in ihrem Metho-
schiedenen Stellen der Erde hat er ganz verschie- denbewusstsein, im Bewusstsein ihrer Grenzen,
denartige Antworten gefunden. In der westlichen ihrer Widerlegbarkeit, ihrer Revidierbarkeit und 3
Welt steht seit geraumer Zeit die Diskussion über im vorläufigen Charakter ihrer Ergebnisse (Falsifi-
die Herkunft des Menschen im Spannungsfeld zwi- zierbarkeit). 4
schen wissenschaftlicher Forschung und christli- Wichtige Beiträge zum Verständnis des Verhal-
chen Glaubensaussagen. Das Verhältnis zwischen tens des Menschen und generell der conditio hu-
Wissenschaft und Glauben kann dabei sehr unter- mana hat die Soziobiologie geleistet. Sie ist ein zu-
5
schiedlich gestaltet werden. Im Rahmen des na- nehmend bedeutsamer Teil der Verhaltensforschung
turwissenschaftlichen Denkens ist der Mensch ein (Ethologie) geworden. An ihrer Entwicklung waren 6
Produkt der Evolution, ein Produkt von Zufall und und sind eine ganze Reihe von Verhaltensbiologen
Notwendigkeit, wie Jacques Monod, der französi- beteiligt, z. B. R. L. Trivers mit Untersuchungen zu 7
sche Nobelpreisträger 1967 formulierte. Dabei steht den Investitionen von Eltern in ihre Nachkommen-
„Zufall“ für Mutationen und „Notwendigkeit“ für schaft und zum evolutionsbiologischen Konflikt
natürliche Auslese unter den Bedingungen der che- zwischen Eltern und ihren Nachkommen, D.  W. 8
mischen, physikalischen und biologischen Umwelt. Hamilton mit seinen Untersuchungen zu Egoismus
In der modernen Biologie existieren unter- und Altruismus sowie zum Verhältnis von Kosten 9
schiedlich differenzierte Konzepte vom Menschen. und Nutzen bei jedem Verhalten, J. Maynard-Smith
Dabei besteht einerseits die Gefahr extremer Über- mit seinen Studien zur Verwandtenselektion (kin se-
bewertung – Julian Huxley stellt ihn in einen eige- lection), E. O. Wilson mit seinen Untersuchungen
10
nen Stamm, die „Psychozoa“ – oder der Unterbe- zum Verhalten von Ameisen und seinem erfolgrei-
wertung – Jared Diamond sieht ihn nur als dritte chen Konzept zur Popularisierung der Soziobiologie 11
Schimpansenart. Außerdem besteht bei einigen und R. Dawkins mit seinen Untersuchungen und
Biologen die Tendenz, die methodischen Grenzen Erörterungen zum Verhältnis zwischen Genen und 12
der Naturwissenschaften zu überschreiten und na- Individuen und seinem plakativen Begriff von den
turwissenschaftliches Denken vorschnell auf alle egoistischen Genen, der leider manchmal missver-
Lebensbereiche auszudehnen und selbst Fragen standen wird. Im deutschen Sprachraum dürfen 13
wie die nach dem Sinn des Lebens verbindlich be- hier u. a. Chr. Vogel, E. Voland, V. Sommer, E. Cu-
antworten zu wollen. Auf der anderen Seite gibt es rio, J. Ganzhorn, A. Paul und P. Kappeler genannt 14
naturwissenschaftlich verbrämten religiösen Fun- werden, die überwiegend Primatologen sind. Sozio-
damentalismus, den Kreationismus und in neu- biologie ist die Wissenschaft von der biologischen
erer Metamorphose, die Weltsicht des intelligent Angepasstheit des tierlichen und menschlichen
15
design. Beiden liegen anachronistische Ansichten Sozialverhaltens (Voland 2007). Im Rahmen des
zugrunde, die auch in der seriösen modernen Theo- Sozialverhaltens lassen sich verschiedene wesent- 16
logie keinen Platz mehr haben (z. B. Lehmann 2003 liche Verhaltensweisen, z. B. sexuelle Selektion,
Ratzinger 2007). Nahrungserwerb, Positionierung in einer Gruppe, 17
Die moderne Biologie hat in den letzten Jahr- Strategien sozialer Konkurrenz, Verhaltensweisen
zehnten insbesondere in Molekularbiologie und der Kooperation, des Altruismus und auch der So-
Neurobiologie außerordentliche Erkenntnisfort- lidarität differenzieren, die einerseits alle wesent- 18
schritte erzielt, die immer näher an viele Aspekte lich für die Selbsterhaltung und andererseits den
des Ursprungs des Lebens und auch des Menschen Mechanismen der Evolution unterworfen sind. Die 19
heranführen. Inwieweit jedoch Erkenntnisse in der Soziobiologie versucht, die naturwissenschaftlichen
Naturwissenschaft Fragen der Humanität, des Mit- Ursachen für soziale Verhaltensweisen und ihre Dy-
leids, der Sinnfindung, des Gewissens, des täglichen namik zu erkennen. Sie bezieht dabei ausdrücklich
20
420 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

den Menschen mit ein. Ihre Sprache ist direkt und ben, müssen immer sorgfältig durchdacht werden;
ähnelt der Sprache der Wirtschaftswissenschaften, aber wissenschaftlich fundierte Ergebnisse dürfen
der Politik oder der Psychologie des Menschen. nicht einfach abgewiesen werden, weil sie nicht in
Wenn diese eingängige, pragmatische und gut ver- ein überkommenes und lieb gewonnenes Weltbild
ständliche Sprache gebraucht wird, so sind ihre passen. So eine Zurückweisung kann verschiedens-
Aussagen, wenn sie Tiere betreffen, als analog zu ten, auch politisch gefährlichen Ideologien Vor-
entsprechenden Aussagen zum Verhalten des Men- schub leisten (Goethe: „… Verachte nur Vernunft
schen gemeint. Wenn gesagt wird: „Brüllaffen ver- und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft
folgen eine Politik der Ausweitung ihrer Reviergren- …“). Andererseits besteht auch immer die Gefahr,
zen“, so soll das heißen, ihr Verhalten ist so gestaltet, biologisch komplexe und manchmal nicht einfach
„als ob“ sie eine Politik verfolgten. zu verstehende Befunde aus einem Gesamtzusam-
Die Einbeziehung des Verhaltens des Menschen menhang zu lösen, umzudeuten und in Ideologien
in soziobiologische Untersuchungen stößt noch oft einzubeziehen, so dass diesen der Anstrich der Se-
auf Ablehnung. Wissenschaftlich besteht jedoch riosität verliehen wird.
kein Grund, das Sozialverhalten des Menschen bei Auch die Theologie ist seit mehreren Jahrzehn-
soziobiologischen Untersuchungen auszuklam- ten deutlich in Bewegung geraten. Moderne Theo-
mern. Bei Untersuchungen zur Leberfunktion ist es logen beginnen, die Bibel im Kontext der wissen-
selbstverständlich, Befunde, die an der Leber von schaftlichen Weltanschauung so auszulegen, dass
Schwein und Ratte erhoben wurden, mit Befunden damit die christliche Botschaft in der Gegenwart
der Leber des Menschen zu vergleichen, so dass z. B. relevant bleibt. Diese Theologie ist dem Evoluti-
Studien zur Transplantation dieses Organs beim onsgedanken gegenüber durchaus aufgeschlossen.
Menschen experimentell untersucht werden kön- „Warum soll nicht gerade scheinbar Zwecklos-Zu-
nen. Beim Sozialverhalten gibt es dagegen immer fälliges, Ephemeres, Veränderliches etwas mit Gott
noch Vorbehalte, obwohl die Soziobiologie inzwi- zu tun haben?“
schen viele gesicherte Befunde vorgelegt hat, dass es Es bleibt die Frage, ob es gegenseitiges Anerken-
keine grundsätzliche Sonderstellung des Menschen nen von Glauben und Wissenschaft gibt. Vielleicht
in der Klasse der Säugetiere gibt. gibt es die Möglichkeit des kritischen Dialogs, der
Wichtig ist, dass die Soziobiologie die geneti- die jeweils andere Art des Umgangs mit der Wirk-
sche Ebene ausdrücklich einbezieht. Sie ist also lichkeit anerkennt. Beiden Bereichen, Glauben und
eine genetische Theorie des Verhaltens (Voland Wissenschaft, ist gemeinsam, dass sie – auf unter-
2000). Ein Vorwurf gegen das Konzept der „ego- schiedliche Weise – in einem Spannungsfeld von
istischen Gene“ lautet, dass dieses beim Menschen Gewissheit und Zweifel stehen. Auf diesem Boden
gesellschaftliche und wirtschaftliche Gegebenheiten kann eine sinnvolle Auseinandersetzung entstehen.
vernachlässige. Dieser Vorwurf nimmt fälschlicher- Im vorliegenden Text wird die Evolution des
weise an, dass Gene biologische Gegebenheiten und Menschen auf der Basis paläontologischer Funde
damit auch das Verhalten unabhängig von Umwelt- und naturwissenschaftlicher Konzepte dargestellt.
faktoren bestimmen. Es ist jedoch seit Jahrzehnten Dabei wird einerseits deutlich, wie viel wir schon
bekannt, dass phänotypische Merkmale im Wech- zur Evolution des Menschen wissen, andererseits
selspiel zwischen Genen und Umwelt entstehen. Die erfolgt die Interpretation des Tatsachenmaterials
Gene legen die Reaktionsnorm fest, die für einzelne z. T. sehr kontrovers, wie das bei einer lebendigen
Merkmale verschieden ist. Wissenschaft öfter der Fall ist und was darauf hin-
Besonders heftigen Widerstand rief in manchen deutet, dass auch hier oft Emotionen im Spiel sind.
Kreisen die Einbeziehung von Kultur, Moral, meta-
physischem Denken, Erkenntnisvermögen und der
Religion des Menschen in soziobiologische Über-
legungen hervor. Die Probleme, die sich aus der
Anwendung evolutionsbiologischer Prinzipien auf
das menschliche Verhalten und seine Kultur erge-
5.2  •  Primaten 421

5.2 Primaten visuelle System); innere Digiti (Daumen bzw. Ze-


hen) zumindest an einer Extremität opponierbar; 1
5.2.1 Strukturelle gut ausgebildeter Blinddarm; hängender Penis; Ho-
und funktionelle den im Scrotum (Hodensack); zwei brustständige 2
Kennzeichen der Primaten Milchdrüsen.
Andere Darstellungen erweitern die Liste und
Das folgende Kapitel schildert Anatomie, typische weisen u. a. auf folgende Merkmale und Entwick- 3
Entwicklungstendenzen und Biologie der Primaten, lungstendenzen hin: Beibehaltung der ursprüngli-
der Säugetierordnung, welcher der Mensch zuge- chen Fünfstrahligkeit der Hände und Füße; zuneh- 4
hört. Sowohl allgemeine, grundlegende als auch mende Eigenbeweglichkeit des Daumens und der
spezielle Übereinstimmungen begründen die Zu- großen Zehe. Besonders tastempfindliche Endglie-
ordnung des Menschen zu den Primaten. Besondere der von Fingern und Zehen mit Nägeln (Ausnahme
5
Merkmale der Primaten betreffen z. B. Hand, Auge sind die Krallen südamerikanischer Krallenäffchen,
und Gehirn. die nur auf der Großzehe einen Nagel tragen, und 6
Nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis wird die Putzkrallen der Lemuren und Loris); bemer-
der Mensch seit Carl von Linné zur Säugetierord- kenswerte Tendenz zur aufrechten Körperhaltung, 7
nung der Primaten gezählt, die Halbaffen, Affen und dies kann beim Sitzen, Stehen und zeitweiligen
Menschen umfasst und heute schwerpunktmäßig in (beim Menschen obligatorischen) aufrechten Gang
tropischen und subtropischen Regionen vorkommt beobachtet werden; außerdem zunehmende Ver- 8
(. Abb. 5.1) und heute 15 oder 16 Familien, 66 kürzung der Schnauzenpartie; Rückbildung des
Gattungen und ca. 450 Arten enthält (Groves 2001; Riechapparates; Entwicklung eines zunehmend 9
Geissmann 2003). Die nicht-menschlichen Prima- perfekten Sehapparates mit Wanderung der Augen
ten werden auch Tierprimaten genannt. Die Pri- nach frontal, so dass ein hoch entwickeltes binoku-
maten sind sehr vielgestaltig und befinden sich auf lares Sehen entsteht; progressive Entwicklung des
10
unterschiedlichen Entwicklungsniveaus, man denke Endhirns, speziell seiner Rinde; vier Zahntypen (In-
nur an kleine, siebenschläfergroße madagassische zisiven, Canini, Prämolaren, Molaren) und Rück- 11
Mausmakis und den großen Gorilla. Es ist kaum bildung der Zahnzahl (ursprüngliche Zahnzahl bei
möglich, Primaten schlagwortartig mit wenigen Säugetieren: 44; Zahnzahl bei heutigen Altweltaf- 12
anatomischen Merkmalen zu kennzeichnen, so wie fen, einschließlich Mensch: 32); Beibehaltung eines
das z. B. für Paarhufer oder Nagetiere möglich ist. recht ursprünglichen Höckermusters der Molaren;
Eine Kombination von Merkmalen, wie sie weiter auffallend und in unterschiedlicher Art und Weise 13
unten aufgeführt werden, und typische Entwick- spezialisierter Kehlkopf; hoch entwickelte mimi-
lungstrends innerhalb der Ordnung erlauben aber, sche Muskulatur, die im Verhaltensrepertoire eine 14
einen Primaten sicher zu erkennen. Typisch ist, dass große Rolle spielt; progressive Entwicklung von
starke Spezialisierungen, wie sie z. B. im Fußskelett Plazentastrukturen; Verlängerung der postnatalen
der Huftiere vorkommen, bei Primaten fehlen. Lebensperioden; die Lebensweise ist ursprünglich
15
Eine vielfach verwendete, auf anatomischen baumlebend (arboricol).
Merkmalen begründete Definition der Primaten Bei der Interpretation der morphologischen 16
geht auf den englischen Zoologen St. George Mi- Daten ist jedoch zu berücksichtigen, dass Primaten
vart (1817 bis 1900) zurück und lautet: plazentale aufgrund ihrer ungewöhnlichen Intelligenz und 17
Säugetiere, Nägel an den Fingern und Zehen; Cla- Plastizität des Verhaltens (einschließlich der Er-
vicula (Schlüsselbein) vorhanden; Augenhöhle von nährung) anatomische Strukturen manchmal viel-
Knochenelementen umgeben; Endhirn (Telence- seitiger einsetzen können als die bloße Betrachtung 18
phalon) mit Temporallappen; Occipitallappen des von z. B. Knochen und Muskeln zunächst vermuten
Endhirns mit Fissura calcarina (wesentlich für das lässt. (s. EXKURS 5.1) 19
20
422 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.1  Verbreitung der Primaten. Schwarz: rezente Primaten (außer Mensch). Fossile Primaten sind ebenfalls in den
schwarz gezeichneten Regionen gefunden worden, darüber hinaus aber auch in den gerasterten Arealen

  EXKURS 5.1  

Intelligenz
Warum sind Primaten so intelligent? Welche Fak- sozialen Gruppen bedeutet endlose Konflikte und
toren förderten die Evolution großer Gehirne und ständige Konkurrenz – Sachverhalte, mit denen er-
herausragender kognitiver Fähigkeiten? Zwei Hy- folgreich fertig zu werden erhebliche Intelligenz er-
pothesen versuchen auf diese Fragen eine Antwort fordert. Um die Vorteile, die das Sozialleben bietet,
zu geben: wahrnehmen zu können, sind besondere intellektu-
Hypothese 1 geht davon aus, dass sich die In- elle Fähigkeiten erforderlich, die sowohl die eigene
telligenz der Primaten in Zusammenhang mit der Position zufriedenstellend festigen oder verbessern
Lösung ökologischer Probleme entwickelte. Hier und auch das Ausmanövriert-Werden durch andere
kommt insbesondere die Suche nach unregelmä- verhindern. Das erfolgreiche Überleben im Sozial-
ßig verbreiteter und nur zeitweise zu Verfügung system erfordert das richtige Einschätzen der vari-
stehender Nahrung in Betracht. Weiterhin ist die ablen Absichten anderer, das Sich-Hineinversetzen-
Nahrung z. T. schwer erreichbar, z. B. an schwer zu- Können in andere (Empathie), mit Provokationen
gänglichen Zweigen (Früchte) oder im Boden (Wur- umgehen zu können usw.
zeln, Knollen), oder sie muss aus Schoten, Nüssen Beide Hypothesen stehen nicht unbedingt im Wi-
u.Ä. oder versteckten Plätzen extrahiert werden. derspruch zueinander, sie können beide gleichzeitig
Manche Affen sind z. B. in der Lage, Eier zu punk- zutreffen. Einige Forscher sehen eine positive Korre-
tieren, um an den Inhalt heranzukommen. lation zwischen der Größe des Neocortex und dem
Zufolge Hypothese 2 entwickelte sich die In- komplexen Sozialverhalten und dem sehr differenzier-
telligenz der Primaten im Zusammenhang mit der ten Nahrungserwerb bei Primaten.
Lösung sozialer Herausforderungen. Das Leben in
5.2  •  Primaten 423

.. Abb. 5.2  Hände (links)


und Füße (rechts) von Men-
schenaffen und Mensch.
1
Nach Schultz (1961)
2
3
4
5
6
7
8
Die im Prinzip ursprüngliche Anatomie des aufgesetzt). Der Orang-Utan setzt beim Gehen 9
Bewegungsapparates (z. B. Pentadaktylie – Fünf- mit der Handfläche oder der Außenseite der
gliedrigkeit – der Hände und Füße, zahlreiche zur Faust geballten Hand auf dem Boden auf
10
-
Hand- und Fußwurzelknochen, Radius und Ulna (fist walker).
bleiben getrennte Knochen) erlaubt eine erstaun- Aufrechter, bipeder Gang des Menschen.
liche Vielfalt an ganz verschiedenen Bewegungs- 11
möglichkeiten: Klettern, Springen, Hangeln, Laufen Mit der ursprünglich baumlebenden Lebensweise
und zum Teil Schwimmen. Auch bei überwiegender hängt die Entwicklung der typischen Greifhand der 12
Anpassung an einen bestimmten Lebensraum sind Primaten zusammen, deren Höhepunkt beim nicht
geschickte Bewegungen in einem anderen Lebens- mehr baumlebenden Menschen erreicht wird mit
raum durchaus möglich, z. B. können Paviane, die der Herausbildung einer Hand (. Abb. 5.2), die fein 13
zumeist am Boden leben, bei Gefahr oder für die abgestufte Bewegungen ermöglicht und Grundlage
Nacht behände auf Bäume klettern. Im Einzelnen zahlreicher Tätigkeiten und auch der Gestik ist. Als 14
lassen sich bei den Primaten folgende Lokomotions- erster Entwicklungsschritt wird der erste Rand-

-
typen unterscheiden: strahl der Hand, der Daumen, bzw. des Fußes, die
quadrupeder (vierfüßiger), arboricoler (baum- Großzehe, den übrigen Strahlen von Hand und Fuß
15

-
lebender) Typ (z. B. Aotus, Callitrichidae), gegenübergestellt. Das ermöglicht einen Klammer-
quadrupeder, terrestrischer (bodenlebender) griff. Greifhand und Greiffuß sind bei den einzelnen 16

-
Typ (z. B. Paviane), Primaten unterschiedlich gebaut, bei den Loris wird
arboricole, vertikale Kletterer, im Allgemeinen z. B. der zweite Finger reduziert, bei Krallenäffchen 17
mit erheblichem Sprungvermögen (Tarsius, und Tarsius geht die Abspreizbarkeit des Daumens

-
Galago, Indri, Propithecus), wieder verloren. Echte Opponierbarkeit des Dau-
Brachiatoren (Hangler, Schwinghangler, entwi- mens (mit Abduktion, Adduktion und Rotation 18
ckeln lange Arme, z. B. Gibbons, Schimpansen, des ganzen ersten Strahles einschließlich des ersten

- 19
Orang-Utan), Mittelhandknochens) gibt es nur bei den Catarrhini,
Knöchelgang der afrikanischen Menschenaffen d. h. den Altweltaffen. Die Großzehe ist stets nur ab-
(Mittel- und Endglieder der Finger werden spreizbar, eine echte Rotation fehlt ihr. Bei Gibbons
einwärts gekrümmt und so auf dem Boden ist die Großzehe weitgehend frei (einschließlich
20
424 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

ihres Metatarsale), was ihren Greifraum erheblich nächst glatt, bildet dann aber Windungen und Fur-
erweitert. Beim Menschen ist die Ab- und Adduk- chen aus. Die Assoziationsgebiete des Neopalliums
tionsfähigkeit der Großzehe verloren gegangen, dehnen sich viel stärker aus als die Primärgebiete
diese rückt in eine Reihe mit den übrigen Zehen, (s. Abschn. 5.3.3) und machen beim Menschen den
die Anordnung der Muskulatur lässt aber noch die bei weitem größten Teil des Neopalliums aus.
ursprüngliche Eigenbeweglichkeit erkennen. Der Die nächsten Verwandten der Primaten sind zu-
sehr spezialisierte Fuß des Menschen ist am ehesten folge anatomischer und molekularbiologischer Be-
vom Fuß eines quadrupeden Menschenaffen, der funde die Dermoptera (die Pelzflatterer SO-Asiens)
sowohl am Boden als auch in Bäumen lebte, abzu- und die Scandentia (die Spitzhörnchen SO-Asiens).
leiten. Wichtig ist die zunehmende Repräsentation
der Hand und speziell von Daumen und Zeigefinger
im Großhirn, was auf komplexe, neuronale Steue- 5.2.2 Sozialsysteme der Primaten
rung und Kontrolle gerade dieser Gebilde hinweist.
Gekoppelt an die Entstehung der Greifhand im Bei den Sozialsystemen gilt es zwischen drei Ebenen

--
dreidimensionalen Raum von Ästen und Zweigen zu unterscheiden:
ist die Entwicklung des binokularen, räumlichen demographischer Struktur,
Sehens, das den komplexen Raum erfasst und ver- sozialer Organisation = Muster der sozialen

-
steht. Die Augen wandern aus seitlicher Lage nach Bindungen und Beziehungen,
vorn, wobei es zu Überlappung der Sehfelder und Paarungssystem = wer paart sich mit wem?
zu Rückbildung der Schnauze und des Riechsinnes
kommt. Die große Schnauze von Pavianen ent- Die beiden ersten werden auch als „Sozialsystem“
stand erst wieder sekundär und steht wohl in Zu- zusammengefasst. Primaten besitzen verschiedenar-
sammenhang mit der Verankerung der sehr großen tige Sozialsysteme, die sich schematisch in sechs Ty-
Eckzähne, die in ihrem Verhaltensrepertoire eine pen einordnen lassen. Es ist dabei hervorzuheben,
wichtige Rolle spielen. dass bei einer Primatenart in Abhängigkeit von den
Die höheren Affen sind fast alle tagaktiv, die ökologischen Bedingungen mehr als ein soziales
Halbaffen dagegen meist nachtaktiv. Zweimal ist System vorkommen kann und dass Einzelkompo-
bei letzteren unabhängig voneinander Tagaktivität nenten eines bestimmten Systems einem anderen
entstanden, bei Indriidae und Lemuridae. Lemu- zugefügt werden können. Bei vielen Arten gibt es
ren der Gattung Eulemur und Hapalemur gehören in Hinsicht auf das Sozialsystem noch erheblichen

-
ebenso wie Aotus azarae zu den wenigen Primaten Forschungsbedarf.
mit kathemeraler Aktivität, d. h. sie können bei Tag Gruppen mit einem Männchen und mehreren
und bei Nacht aktiv sein. In der Nähe menschlicher Weibchen (one male, multifemale groups, Ein-
Siedlungen können einige Populationen von Affen, Männchen-Gruppen, Haremsgruppen). Diese
z. B. bei Erythrocebus patas, auch nächtliche Le- Gruppen bestehen aus einem erwachsenen
bensweisen annehmen, um dem Verfolgungsdruck Männchen, mehreren erwachsenen Weibchen
durch den Menschen auszuweichen. und ihren Jungen. Das Männchen dominiert
Innerhalb der Primaten lassen sich unterschied- die Weibchen, da es wesentlich größer als sie
lich hoch entwickelte Gehirne erkennen. Besonders ist (Sexualdimorphismus), und verpaart sich in
deutlich ist dies am Endhirn (Telencephalon) zu der Regel mit allen von ihnen, ist also poly-
beobachten, das sich immer weiter ausdehnt. Zwei gyn. Dieses Sozialsystem kommt vor allem bei
phylogenetisch alte Endhirnbereiche, das Paläopal- Catarrhini, z. B. bei Gorillas, Mantelpavianen,
lium (Riechhirn) und das Archipallium, werden Dscheladas, Drills, Mandrills, Husarenaffen,
vom sich sehr progressiv entfaltenden Neopallium einigen Languren und Brüllaffen vor. Es wurde
zunehmend zurückgedrängt. Paläo-, Archi- und auch bei baumlebenden Meerkatzen beschrie-
Neopallium besitzen jeweils eine eigene Struktur ben. Beim Dschelada und Mantelpavian kön-
ihrer Rinde (= ihres Cortex). Alle Lappen des End- nen diese Gruppen verschmelzen und Groß-
hirns dehnen sich stark aus. Die Oberfläche ist zu- verbände bilden, die sich dann wieder auflösen.
5.2  •  Primaten 425

Beim Husarenaffen spielt das Männchen keine chen kehren in sie zurück, wenn sie aus einer
dominante Rolle in der Gruppe, sondern die gemischt-geschlechtlichen Gruppe vertrieben 1
Weibchen entscheiden über viele der sozialen werden. All-Männchen-Gruppen existieren
Aktivitäten. Sie spielen auch die Hauptrolle bei neben Gruppen mit einem Männchen und 2
-
der Verteidigung gegen Feinde, z. B. Leoparden. mehreren Weibchen (z. B. bei Hanuman-Lan-
Gruppen mit einem Weibchen und mehreren guren und Husarenaffen). Beim Husarenaffen
Männchen (one female, multimale groups). Ein können zur Fortpflanzungszeit männliche 3
erwachsenes Weibchen paart sich mit meh- Tiere aus einer All-Männchen-Gruppe in eine
reren erwachsenen Männchen, es ist polyan- Haremsgruppe einbrechen, und es entsteht 4

-
drisch. Die Männchen beteiligen sich an der heftiger Konkurrenzkampf um die Weibchen.
Aufzucht der Jungen (kooperative Polyandrie). Gruppen, die aus einem Männchen und einem
5
-
Kommt nur bei einigen Neuweltaffen vor. Weibchen bestehen (one male, one female
Gruppen mit mehreren Weibchen und groups). Solche Gruppen sind Familien mit
mehreren Männchen (multimale, multife- Vater, Mutter und nicht-erwachsenen Kindern. 6
male groups). Solche Gruppen bestehen aus Die sexuelle Beziehung zwischen dem erwach-
mehreren erwachsenen Männchen, mehreren senen Männchen und dem dazugehörigen 7
erwachsenen Weibchen und ihren Jungen. Weibchen soll im Prinzip monogam sein. Hier-
Da sich jedes Männchen und jedes Weibchen her gehören, nach traditioneller Auffassung,
mit mehreren Mitgliedern des anderen Ge- die Gibbons, manche Halbaffen, darunter eine 8
schlechts verpaart, liegt hier ein promiskuitives Reihe von Lemuren und Tarsius, Aotus und
oder polygames Paarungssystem vor. Es ist bei Callicebus sowie unter den Languren Simias 9
verschiedenen Arten mit diesem Sozialsystem concolor und Presbytis potenziani. Molekular-
beobachtet worden, dass ein Männchen oder biologische Daten und Freilandbeobachtun-
ein Weibchen zur Fortpflanzung in eine andere gen haben dieses festgefügte Bild ins Wanken
10
Gruppe geht, was negative genetische Folgen gebracht. Vaterschaftsnachweise haben z. B. bei
durch Inzucht vermeiden hilft. Es kann sich den Fettschwanzmakis Madagaskars gezeigt, 11
hier um Abwanderungen geschlechtsreifer dass die Weibchen nicht selten „fremdgehen“
Tiere aus ihrer Geburtsgruppe (dispersal) oder und dass die sozialen Väter nicht immer auch 12
kurzfristige „Safaris“ eigentlich residenter die biologischen Väter der Jungen sind. Bei den
Tiere handeln. Multimale, multifemale groups Gibbons haben langjährige Freilandbeobach-
finden sich bei vielen Altweltaffen (Makaken, tungen (Sommer u. Reichard 2000) gezeigt, 13
Mangaben, Savannenpavianen, manchen dass die bisherige Auffassung eines einfachen
Meerkatzen), einigen Neuweltaffen (z. B. viele monogamen Sozialsystems nicht richtig ist. Das 14
Cebidae) sowie Schimpansen und Bonobos. Sozialsystem der Gibbons ist vielmehr flexibel,
Solche Gruppierungen kommen – neben den nicht nur in Bezug auf die Zusammensetzung
Sozialsystemen mit einem Männchen und der Gruppe, sondern auch auf das Paarungsver-
15
mehreren Weibchen – auch bei Mantelpavia- halten. Monogames Verhalten gibt es zwar über
nen und Mandrills vor. Bei Schimpansen und Jahre hinweg, es ist aber keineswegs obligat. 16
Bonobo kommt es oft zu temporärer Ver- Zwar besteht zu einem bestimmten Zeitpunkt

- 17
schmelzung und Spaltung von Gruppen. die Mehrzahl der Gruppen nur aus einem
Gruppen, die nur aus Männchen bestehen (all erwachsenen Männchen und einem erwachse-
male groups). Bei manchen Arten leben die nen Weibchen, aber ungefähr ein Viertel aller
männlichen Tiere in reinen Männchengrup- Gruppen besteht aus zwei nicht verwandten 18
pen, bevor sie sich einer gemischt-geschlecht- erwachsenen Männchen und einem erwachse-
lichen Gruppe anschließen oder eine solche nen Weibchen (Gruppen-Polyandrie). Polygyne 19
aufbauen, in der sie sich fortpflanzen. Für viele und polygynandrische Gruppen sind selten.
Männchen ist das Leben in einer All-Männ- Partnerwechsel ist sehr häufig, lebenslange
chen-Gruppe temporär, aber manche Männ- Monogamie gibt es wahrscheinlich nicht.
20
426 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

- Solitäre Primaten (one adult systems). Zu


diesen Primaten zählt man insbesondere
Arten, bei denen Männchen und Weibchen
mit denen der nicht-humanen Primaten zu
vergleichen.

weitgehend allein leben, die Weibchen jedoch


oft zusammen mit ihren Jungen. Relativ viele 5.2.3 Fortpflanzungsstrategien
dieser Arten bilden aber Schlafgruppen, die männlicher Primaten
hauptsächlich aus (verwandten?) Weibchen
bestehen. Erwachsene Männchen und Weib- Sexuelle Selektion ist eine Form der Auslese, die
chen treffen sich im Allgemeinen nur zum auf den Fortpflanzungserfolg abzielt. Intrasexu-
Zweck der Fortpflanzung und können ver- elle Selektion betrifft die Angehörigen eines Ge-
schiedene Geschlechtspartner haben. Hierher schlechts. Am häufigsten unterliegen die Merk-

-
zählen viele Halbaffen und der Orang-Utan. male der Selektion, die Männchen den Kampf um
Die Sozialstruktur des Menschen ist unge- den Zugang zu den Weibchen erleichtern. Dies
wöhnlich variabel, so dass eine typische Sozial- führt zur Herausbildung von kräftigen Körpern
struktur bisher nicht erkennbar ist. Häufig sind und großen Eckzähnen, wobei am Ende ein Se-
monogame Familiengruppen und Einmann- xualdimorphismus entsteht. Beispiele für ausge-
gruppen mit mehreren Frauen. Es gibt aber prägten Sexualdimorphismus finden sich z. B. bei
auch Polyandrie (eine Frau mit mehreren Pavianen, Gorillas und Brüllaffen. Eine weitere
Männern) und komplexe Mehrmänner-Mehr- Strategie, sich erfolgreich fortzupflanzen, hat zur
frauengruppen. Kulturelle Einflüsse machen Erscheinung des Infantizids, also zum Töten von
es schwer, die menschlichen Sozialstrukturen Kindern, geführt.

  EXKURS 5.2  

Infantizid
Besonderes Interesse hat das Phänomen des In- vor. Interessanterweise verlassen aber Weibchen
fantizids (Kindstötung) bei Primaten gefunden, ein mit abhängigen Jungen manchmal die Gruppe
Phänomen, das aber nicht auf Primaten beschränkt mit dem Verlierer, d. h. dem wahrscheinlichen Va-
ist. Regelmäßig kommt Kindstötung offenbar beim ter ihres Jungen.
Hanuman (Hulman, Semnopithecus entellus) vor, Infantizid wurde bei verschiedenen Wirbeltie-
der eine bedeutsame Rolle in der hinduistischen ren beobachtet, z. B. bei Carnivoren (Löwen, Bären),
Mythologie spielt und daher an indischen Tempeln Rodentiern, Delphinen, einigen Vogelarten und ei-
geduldet und gefüttert wird. Das dominante Männ- nigen Knochenfischen (z. B. Maulbrütern).
chen einer Gruppe wird von einem eindringenden Dem Infantizid liegen also folgende Annahmen

--
Junggesellen abgelöst, und der neue Chef tötet zugrunde:
alle nicht entwöhnten Kinder der Gruppe; träch- Männchen töten nur fremde Kinder.
tige Weibchen werden so lange gehetzt, bis es zum Betroffene Weibchen werden dadurch schneller
Abortus kommt. Die Verdrängung des dominanten wieder empfängnisbereit (Abbruch der Laktati-

-
Gruppenmännchens erfolgt beim Hanuman alle onsamenorrhoe).
zweieinviertel Jahre. Die betroffenen Weibchen „Killer-Männchen“ haben eine sehr hohe Wahr-
stellen ihren Reproduktionszyklus sofort um. scheinlichkeit, das nächste Junge der betroffe-
Weitere gut dokumentierte Beispiele für In- nen Weibchen zu zeugen.
fantizid finden sich bei anderen haremsbildenden
Colobiden, Gorillas und Brüllaffen. Beim Gorilla Alle drei Annahmen wurden bislang nur bei Hanu-
kommt dieses Verhalten wie bei Hanumanlanguren mans mit eindeutigen Daten (Verwandtschaftsana-
nur im Zusammenhang mit Gruppenübernahmen lysen) bestätigt.
5.2  •  Primaten 427

Auch andere Verhaltensmuster wie Aggres- tisch verwandte Tiere kooperieren, z. B. bei der Auf-
sivität, Beißen, Jagen, Kämpfen oder Belästigen zucht der Jungen (viele Krallenäffchen). Weibliche 1
stehen im Zusammenhang mit Reproduktionsstra- Tiere bleiben im Allgemeinen in der Gruppe, in die
tegien. Es können sich Rangordnungen mit einer sie hineingeboren wurden (weibliche Philopatrie), 2
Dominanzhierarchie herausbilden, um Zugang zu während männliche Tiere die Gruppe verlassen
empfängnisbereiten Weibchen zu regeln. Domi- (bei Schimpansen gibt es männliche Philopatrie).
nanz bezeichnet die Fähigkeit eines Individuums, Das gegenseitige Helfen war offenbar bei Weibchen, 3
ein anderes im Rahmen aggressiver oder kompe- welche die Last von Tragzeit, Laktation und Jungen-
titiver Verhaltensweisen einzuschüchtern oder zu aufzucht tragen, ein evolutionärer Vorteil. 4
unterdrücken. Dominanzbeziehungen sind nicht Altruismus und Bevorzugung von genetisch
immer linear, es können sich freundliche Allianzen verwandten Tieren ist bei Primaten verbreitet. Als
zwischen zwei Individuen herausbilden, die gegen Altruismus wird schon das Teilen der Nahrung und
5
ein dominantes Tier gerichtet sind. Weiterhin wird die Fellpflege bei anderen Individuen bezeichnet.
vermutet, dass auch großes Hodenvolumen und Bei Primaten wurde aber oft auch altruistisches Ver- 6
hohe Spermienzahl einen Selektionsvorteil in poly- halten gegenüber nicht verwandten Tieren beobach-
gamen Paarungssystemen bieten können. Bei Pri- tet nach dem Motto „eine Hand wäscht die andere“ 7
maten, deren Sozialverbände aus einem Männchen (reziproker Altruismus).
und einem Weibchen bestehen, sind die äußeren Wir lernen heute immer erstaunlichere De-
Geschlechtsunterschiede im Allgemeinen gering; tails des Soziallebens der nicht-humanen Primaten 8
bei ihnen wird wohl oft die Stimme eingesetzt, um kennen, die enge Übereinstimmungen mit dem
das Territorium des Paares gegen Eindringlinge zu Sozialverhalten des Menschen aufweisen. Die Ver- 9
verteidigen. haltensforscher scheuen sich daher oft nicht mehr,
Begriffe aus dem menschlichen Sozialleben wie Po-
litik, Machtpolitik, Taktik, Strategie, Fremdgehen
10
5.2.4 Fortpflanzungsstrategien usw. auch bei Analysen des Soziallebens der nicht-
weiblicher Primaten humanen Primaten anzuwenden, so z. B. Jones 11
(2000) in einer Untersuchung der Machtpolitik
Weibliche Tiere bilden in einer Gruppe oft eine bei Alouatta palliata, einem lateinamerikanischen 12
stabile Rangordnung aus, die den höherrangigen Brüllaffen.
Tieren bevorzugten Zugang zu Nahrungsressour-
cen ermöglicht, wodurch ihr Gesundheitszustand 13
gesichert wird. Dies erhöht dann auch den Fort- 5.2.5 Systematische Gliederung
pflanzungserfolg höherrangiger Weibchen. Solche der Primaten 14
Rangordnung der Weibchen ist z. B. bei Makaken,
Pavianen, Mangaben und Meerkatzenarten be- Die heutige Ordnung der Primaten umfasst ca. 450
schrieben worden. Weibliche Tiere können Ein- Arten (Groves 2001; Geissmann 2003), die in fünf
15
fluss auf die Wahl des Vaters für ihre Nachkommen Unterordnungen gegliedert werden (. Abb. 5.3)
nehmen. Damit beeinflussen sie die Qualität der und schwerpunktmäßig in tropischen und subtro- 16
Nachkommen, in die sie ja mehr investieren als die pischen Regionen vorkommen (. Abb. 5.1).
Männchen. Es gibt eine intersexuelle Selektion von 1. Lorisiformes: nachtlebende, meist kleine Pri- 17
Merkmalen bei einem Geschlecht, die vom anderen maten Afrikas und Süd- sowie Südostasiens. Sie

-
Geschlecht bevorzugt werden. Diese Selektion geht umfassen
meist von den Weibchen aus, wobei ganz verschie- die langschwänzigen Galagidae mit besonde- 18
dene Eigenschaften ausgewählt werden können, rem Sprungvermögen (Buschbabies, Wald-
z. B. hoher Rang des Männchens, Verträglichkeit und Savannengebiete Afrikas von Senegal bis 19

-
des Männchens und physische Attraktivität, die Südafrika) und
ihrerseits „gute Gene“ anzeigen. In Gruppen mit die kurzschwänzigen bzw. schwanzlosen Lo-
mehreren Männchen und Weibchen können gene- risidae mit auffallend langsamen Bewegungen
20
428 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.3  Stammbaum der Primaten, vor allem auf morphologischen und molekularbiologischen Befunden beruhend. + =
ausgestorben
5.2  •  Primaten 429

(Potto und Bärenmaki, Regenwälder Afrikas, Propithecus (. Abb. 5.4c, kann ausnahmsweise


sowie Loris, Regenwälder Südindiens, Sri Lan- am Boden biped aufrecht laufen), Wollmakis. 1
kas und Südostasiens).
Die Lemuriformes ernähren sich von Früchten, 2
Die größeren Arten, z. B. der Potto und große Blüten, Blättern und Insekten. In den Gruppen
Buschbabyarten, ernähren sich von Früchten, die der Lemuridae dominieren die Weibchen über die
kleineren Arten überwiegend von Insekten. Euoti- Männchen. 3
cus (Gabun, Kamerun) lebt von Rindensäften und Aus dem Holozän Madagaskars ist eine reiche
harzhaltigen Bestandteilen der Baumrinde. Fauna z. T. erst vor ca. 1000 Jahren ausgestorbener 4
Die unteren Schneidezähne (Inzisiven) bilden, Lemuriformes bekannt geworden. Das Aussterben
wie bei Lemuriformes, oft zusammen mit den un- korreliert mit der Besiedelung Madagaskars durch
teren Eckzähnen einen „Kamm“, d. h. die schlan- den Menschen, d. h. diese Halbaffen wurden ausge-
5
ken, spitzen unteren Schneidezähne und Eckzähne rottet. Unter ihnen fanden sich sowohl Lemuridae
sind weit nach vorn geneigt und werden intensiv als auch in besonders reichem Maß Indriidae. Zum 6
bei der Fellpflege eingesetzt. Dieser Kamm wird Teil waren diese Formen so groß wie Gorillas und
von der großen, gefransten Unterzunge von Haa- erreichten das Evolutionsniveau von Affen (Schädel, 7
ren und Epithelresten gereinigt. Trotz zahlreicher Gehirn, Orbita). Es gab eine Reihe bodenlebender
Eigenmerkmale spricht die Gesamtanalyse der vor- Arten (Archaeolemur, Hadropithecus, wahrschein-
liegenden morphologischen, molekularbiologischen lich Archaeoindris), welche die ökologische Stelle 8
und biogeographischen Befunde dafür, dass Lorisi- der Makaken und Paviane einnahmen, habituell
formes und die im Folgenden knapp dargestellten bärenähnliche Formen (Megaladapis, vermutlich 9
Lemuriformes eine gemeinsame Wurzel in Afrika baum- und bodenlebend) und Formen, die sich
haben und Schwestergruppen sind. wohl wie Faultiere entlang größerer Zweige beweg-
2. Chiromyiformes: hierher wird die madagassi- ten (Palaeopropithecus). Das biologische und ethi-
10
sche Daubentonia madagascariensis, das Fin- sche Desaster der Ausrottung dieser Primaten zeigt
gertier, gestellt. Daubentonia lebt nächtlich, uns, wie wertvoll und gefährdet die überlebenden 11
versteckt, unauffällig und allein, ernährt sich Lemuriformes auf Madagaskar sind.
von Früchten und Insektenlarven und besitzt 4. Tarsiiformes: Inselwelt Südostasiens; vier oder 12
so viele anatomische Besonderheiten, z. B. fünf Arten der Gattung Tarsius (Gespenstmakis
Nagegebiss und leistenständige Milchdrüsen, = Koboldmakis, . Abb. 5.4d). Kleine nachtak-
dass für sie eine eigene Unterordnung errichtet tive Waldbewohner mit außergewöhnlich großen 13
wurde. Augen und an spezielles Sprungvermögen ange-
3. Lemuriformes: nur auf dem ökologisch sehr passtem Bewegungsapparat der Beine und Füße. 14
vielfältigen Madagaskar. Dort sind sie – abgese- Sie leben paarweise und ernähren sich von Insek-
hen vom Menschen, der erst vor ca. 1500 Jahren ten und kleinen Wirbeltieren, z. B. Eidechsen.
auf diese Insel aus Indonesien eingewandert ist 5. Simiiformes (Simiae, Anthropoidea): alle höhe-
15
– die einzigen Primaten. Ihnen werden zuge- ren Affen; umfassen zwei Gruppen, die Platyr-

-
zählt: rhini und die Catarrhini. 16
die Cheirogaleidae (Katzenmakis, z. B. mit a. Platyrrhini, Neuweltaffen (= Breitnasen-
Microcebus (. Abb. 5.4a), dem Mausmaki, affen): Zentral- und Südamerika, Anzahl 17
-
Cheirogaleus, Mirza, Allocebus und Phaner); der Familien umstritten, was an der un-
die Lemuridae (echte Lemuren, . Abb. 5.4b terschiedlichen Bewertung der Merkmale
mit den Gattungen Lemur, Hapalemur, Varecia der zahlreichen Gattungen liegt. In den 18

-
und Eulemur); vergangenen Jahrzehnten wurden oft nur
die Lepilemuridae (mit Lepilemur, dem Wiesel- zwei Familien anerkannt (Cebidae und Cal- 19

-
maki); litrichidae), andere Klassifikationen schufen
die Indriidae (Indris und Sifakas, Vertikalklet- dagegen sechs oder sieben Familien für die
terer mit ausgezeichnetem Sprungvermögen, ca. 130 südamerikanischen Primatenarten.
20
430 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.4 a–i.  Eine Auswahl rezenter Primaten: a Microcebus (Madagaskar), b Lemur (Madagaskar), c Sifaka (Madagaskar),
d Tarsius (Südostasien), e Saimiri (Südamerika), f Colobus (Afrika), g Macaca (Hutaffe, Indien), h Orang-Utan (Borneo), i Gorilla
(Afrika)
5.2  •  Primaten 431

Es wird noch lange umstritten bleiben, ob einer schaft). Lediglich in der Fortpflanzungszeit gibt es
Gruppe der Rang einer Familie (z. B. Pitheciidae) bei diesen friedfertigen Tieren Auseinandersetzun- 1
oder Unterfamilie (Pitheciinae) zugebilligt wird, gen und Streit.
und bei den südamerikanischen Affen ist die Bewer- Anatomische Spezialisierungen weisen z. B. die 2
tung und Einordnung der Krallenäffchen besonders Brüllaffen mit ihrem einzigartigen großen Zungen-
umstritten. Auch die Zahl der südamerikanischen bein- und Kehlkopfapparat auf, wobei sie ande-
Affenarten sowie die Bewertung der Gattungen Ao- rerseits recht primitiv strukturierte Molaren und 3
tus, Callicebus, Alouatta und anderer sind kontro- Prämolaren besitzen, oder die Klammer- und Spin-
vers. Hier liegt noch erheblicher Forschungsbedarf nenaffen mit ihren langen Extremitäten und einer 4
vor. Im Folgenden werden die südamerikanischen Hakenhand mit rückgebildetem Daumen. Die Ateli-
Affen in sechs Gruppen eingeteilt, jeweils mit dem dae besitzen einen echten Greifschwanz mit großem
5
-
Rang einer eigenen Familie. motorischen und sensorischen Repräsentationsfeld
Cebidae (Kapuzineraffen [Cebus], Toten- in der Großhirnrinde. Bei Pithecia, Cacajao und

-
kopfaffen [Saimiri]) . Abb. 5.4e; Chiropotes bilden die oberen und unteren schlanken 6
Callitrichidae (Springtamarins mit der Gat- Schneidezähne ein „Pinzettengebiss“, sie ernähren
tung Callimico, und Krallenäffchen mit den sich von Samen und oft harten Früchten. Aotidae 7
Gattungen Callithrix, Leontopithecus, Mico, und Callicebidae weisen viele ursprüngliche Merk-

--
Cebuella und Saguinus); male auf, wobei Callicebus die primitivere Gattung
Aotidae (Nachtaffen [Aotus]); ist, vor allem in Hinsicht auf die Zahnmorphologie. 8

-
Callicebidae (Springaffen [Callicebus]); Aotus ist wohl sekundär z. T. nachtaktiv. Sowohl Ao-
Pitheciidae (Uakaris [Cacajao], Satansaffen tus als auch Callicebus leben monogam. 9

-
[Chiropotes], Sakis [Pithecia]); Besonders umstritten ist bis heute die Bewer-
Atelidae (Wollaffen [Lagothrix], Spinnenaffen tung der kleinen Callitrichiden. Sind sie ursprüng-
[Brachyteles], Klammeraffen [Ateles], Brüllaf- liche oder sekundär verkleinerte Formen, die sich
10
fen [Alouatta]). vermutlich aus Cebus-ähnlichen Arten entwickelt
haben? Sie werden in manchen Klassifikationen nur 11
Cebus (Kapuzineraffen) zeigt viele Besonderhei- als Unterfamilie der Cebidae geführt. Vermutlich
ten, die vermuten lassen, dass diese Gattung eine sind ihre Krallen, die auch Tegulae genannt wer- 12
lange Eigenentwicklung hinter sich hat; z. B. ist das den, eine sekundäre Entwicklung, die auf Nägel
Muster der Hirnwindungen recht ursprünglich, an- zurückgeht. Die Callitrichidae tragen diese Krallen
dererseits sind Kapuzineraffen sehr intelligent und auf fast allen Zehen, nur auf der Großzehe findet 13
geschickt und gebrauchen nicht selten Werkzeuge. sich ein Nagel. Die Krallen sind eine Anpassung an
Cebus besitzt einen Greifschwanz, der aber anders das Leben an Stämmen und auf Ästen. Abgeleitet 14
strukturiert ist als der der Atelidae und wohl eine ist der Besitz von lediglich zwei Molaren in jeder
Eigenentwicklung darstellt. Adulte Totenkopfäff- Kieferhälfte (nur Callimico hat drei Molaren). Ihre
chen besitzen keinen Greifschwanz, junge Tiere Nahrung besteht aus Früchten, Blüten, Insekten
15
zeigen noch eine Andeutung davon. Das bekannte (enthalten viel Phosphor), Nektar und Pflanzen-
Totenkopfäffchen (Saimiri, . Abb. 5.4e, Systematik säften (enthalten viel Calcium) aus der Rinde von 16
sehr umstritten: zwei bis sieben Arten) lebt oft in Bäumen. Callithrix reißt Löcher in die Rinde, um an
Gruppen von 25–50 Tieren, z. T. wurden Groß- diese Pflanzensäfte zu gelangen. Interessant ist das 17
gruppen von einigen Hundert Tieren beobachtet. variable Sozialleben der Krallenäffchen. Die Grup-
Die Gruppen umfassen viele Männchen und viele pengröße schwankt oft zwischen fünf und fünfzehn
Weibchen, die Tiere sind wahrscheinlich polygam. Tieren, und im Prinzip handelt es sich meist um 18
Die Männchen sind im Allgemeinen größer als die Gruppen mit mehreren Männchen und mehreren
Weibchen und werden vor der Fortpflanzungszeit Weibchen. Es wurde Polyandrie, Polygynie, Pro- 19
auffallend fett; sie betreuen die Jungtiere nicht. Auf- miskuität, aber auch Monogamie beschrieben. In
fallend ist, dass Saimiri kaum Aggressivität gegen einer Gruppe hat im Allgemeinen nur ein Weibchen
andere Gruppenmitglieder zeigt („egalitäre“ Gesell- Junge und zwar Zwillinge. Eine Menstruation fehlt,
20
432 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

der weibliche Zyklus dauert gut zwei Wochen, die Männchen besonders attraktiv und fordern
Tragzeit währt 4–5 Monate. Bei der Aufzucht hel- aktiv zur Kopulation auf.
fen nicht nur ältere Geschwister, sondern auch die
Männchen und die nicht am Fortpflanzungsgeschäft Den Hominoidea werden zwei Familien mit rezen-
beteiligten Weibchen (communal rearing system). ten Formen zugezählt, die in Abschn. 5.3 ausführli-

--
b. Catarrhini, Altweltaffen (= Schmalnasenaf- cher dargestellt werden:
fen), Afrika, Asien, Europa (heute nur der Mensch). die Hylobatidae (Gibbons),
Zwei Überfamilien: Cercopithecoidea (= Cynomor- die Hominidae (große Menschenaffen [Orang-
pha, Hundsaffen, Meerkatzenverwandte) und Ho- Utan, Gorilla, Schimpanse und Bonobo] und
minoidea (= Anthropomorpha, Menschenaffen und Mensch).
Mensch).
Die Cercopithecoidea sind morphologisch und Interessant ist, dass die heutigen Hominoidea recht
proteinbiochemisch eine recht homogene Gruppe unterschiedliche Lokomotionsmodi aufweisen (s.
und umfassen die Familie der Cercopithecidae, die unten). Die Übereinstimmungen zwischen den
aus zwei großen Unterfamilien besteht, den Cer- großen Menschenaffen und dem Menschen sind
copithecinae und den Colobinae, die sich vor ca. zahlreich und gehen bis in Details wie z. B. ein

-
14 Mio. Jahren getrennt haben: freies Sigma (Endabschnitt des Dickdarms) und die
die Colobinae (Stummel- und Schlankaffen Ausbildung eines Appendix vermiformis, also des
[Languren], mit den Gattungen Colobus Wurmfortsatzes am Blinddarm.
(. Abb. 5.4f), Piliocolobus, Procolobus, Pres- Es wurde immer wieder versucht, für die ge-
bytis, Trachypithecus, Semnopithecus, Nasalis, nannten fünf großen Primatengruppen noch
Simias, Pygathrix, Rhinopithecus; vor allem in übergeordnete systematische Kategorien zu fin-
Süd- und Südostasien, in Afrika nur die Gat- den. So werden Lemuriformes, Chiromyiformes,
tung Colobus, Piliocolobus und Procolobus). Sie Lorisiformes und Tarsiiformes oft als Halbaffen
ernähren sich im Wesentlichen von Blättern (Prosimiae) zusammengefasst. Diese entsprechen
und besitzen einen komplizierten Magen mit aber keiner echten systematischen Einheit, son-
einer besonderen Kammer, in der Bakterien dern nur einem gemeinsamen, z. T. relativ nied-
leben, die Zellulose abbauen und damit die rigen Entwicklungsniveau. Verbreitet wird eine

-
Ausbeute an Nährstoffen verbessern. Zweiteilung der Primaten in Strepsirrhini und
die Cercopithecinae (Meerkatzen, Makaken, Haplorrhini vorgenommen. Erstere umfassen Lo-
Mangaben und Paviane mit den Gattungen risi-, Chiromyi- und Lemuriformes und sind u. a.
Cercopithecus, Erythrocebus, Micropithecus, durch die Struktur der Nase mit Rhinarium (un-
Allenopithecus, Cercocebus, Papio, Mand- behaarte Nasenspitze mit feuchter Schleimhaut,
rillus, Theropithecus in Afrika und Macaca die sich in Form eines Streifens bis zum oberen
(. Abb. 5.4g) mit einer Art in Nordafrika Rand des Mundes ausdehnt) und relativ unbeweg-
und mit zahlreichen Arten in Süd-, Ost- und liche feste Oberlippe geeint. Gemeinsam ist ihnen
Südostasien). Macaca sylvanus lebt in Ma- weiterhin, dass ihre Augen ein Tapetum lucidum
rokko, Algerien und auf Gibraltar, hier erst seit besitzen, was dafür spricht, dass der gemeinsame
den Zeiten der Römer; in den Warmzeiten des Vorfahr nachtaktiv war. Ihnen stehen die Haplor-
Pleistozän kam diese oder eine unmittelbar rhini gegenüber, die u. a. durch trockene, behaarte
verwandte Art auch in Deutschland vor. Die Nasenspitze, behaarte, bewegliche Oberlippe,
Cercopitheciden besitzen einfach gebaute Mä- Anatomie intracranieller Blutgefäße, Muster der
gen, sie speichern Nahrung oft in ihren großen Craniogenese, reduzierte Bulbi olfactorii, verzö-
Backentaschen. Bei Pavianen und Makaken gerte Pubertät und hämochoriale Plazentastruktur
entwickelten die Weibchen im Genitalbereich und viele molekularbiologische Daten geeint sind
bis hin zum After die so genannte Genitalhaut, (Yoder 2003). Die Fovea centralis spricht dafür,
die zum Zeitpunkt der Ovulation besonders dass der gemeinsame Vorfahr tagaktiv war. Den
stark anschwillt. Die Weibchen sind dann für Haplorrhini werden Tarsier, Neu- und Altweltaffen
5.2  •  Primaten 433

(einschließlich Mensch) zugerechnet. Während Molekulare Daten sind außerordentlich nütz-


die Haplorrhini als phylogenetische Einheit auch lich, weil sie eine große Anzahl von Merkmalen 1
heute meist anerkannt werden, blieb die Bewer- zur Verfügung stellen, die leicht zu vergleichen
tung der Strepsirrhini umstritten. Speziell moleku- sind. Ihre Bearbeitung kann mit Hilfe von Com- 2
larbiologische Analysen der letzten Jahre und auch puterprogrammen erfolgen. Überdies erlauben sie,
Neubewertung morphologischer Daten lassen es mit bestimmter Methodik, die genetische Distanz
aber derzeit als wahrscheinlich erscheinen, dass zwischen den Arten zu berechnen. Eine sehr wich- 3
die Strepsirrhini doch eine Einheit bilden. tige Methode ist in diesem Zusammenhang die
Erwähnt werden müssen an dieser Stelle die DNA-Sequenzierungstechnik (s. Abschn. 4.1). Je 4
Spitzhörnchen (Scandentia), die zeitweise den kleiner die genetische Distanz (d. h. je größer die
Primaten als ursprüngliche Formen zugezählt DNA-Übereinstimmung), desto enger ist die Ver-
wurden, wohingegen sie heute meist als eigene wandtschaft zwischen zwei Arten. Es wird im All-
5
Ordnung neben die Primaten gestellt werden. Sie gemeinen angenommen, dass die Geschwindigkeit,
sind baumlebend und kommen in Südostasien vor. mit der sich die genetische Distanz innerhalb einer 6
Sie ähneln habituell entfernt Eichhörnchen und be- Verwandtschaftsgruppe ändert, ziemlich konstant
sitzen ein Mosaik von Merkmalen: ursprüngliche, ist. Wenn die Daten der genetischen Distanz mit 7
die sie mit Primaten teilen, und abgeleitete eigene. gut datiertem Fossilmaterial in Beziehung gesetzt
Die Übereinstimmungen mit Primaten beruhen werden, lässt sich berechnen, vor wie vielen Jahren
vermutlich auf gemeinsamen Vorfahren und auf sich zwei verglichene Arten vom letzten gemeinsa- 8
primär ähnlicher Lebensweise und ähnlichem Le- men Vorfahren getrennt haben (molekulare Uhr,
bensraum. s. Abschn. 4.1.2). In die Dimension der Zeit umge- 9
Im Allgemeinen wird vermutet, dass die Prima- rechnet, ergibt z. B. der DNA-Vergleich von Schim-
ten noch in der Kreidezeit entstanden. Zusammen panse und Mensch, dass sich diese zwei Taxa vor
mit den Pelzflatterern, den Spitzhörnchen und viel- ca. 6,6 Mio. Jahren getrennt haben. Der letzte ge-
10
leicht den Fledermäusen bilden sie die große Ver- meinsame Vorfahr von Mensch und Gorilla lebte
wandtschaftsgruppe der Archonta. vor ca. 9 Mio. Jahren, der von Mensch und Orang- 11
Utan vor ca. 15 Mio. Jahren. Unsere Gesamt-DNA
unterscheidet sich auf Sequenzebene nur um ca. 12
5.2.6 Verwandtschaftsforschung 1,6 % von der Gesamt-DNA des Schimpansen. Das
in der Ordnung Erbgut des Rhesusaffen (Macaca mulatta) stimmt zu
der Primaten mit Hilfe ca. 90,1 % mit dem des Menschen überein. 13
von Biochemie Phylogenie-Rekonstruktionen, die auf Verglei-
und Molekularbiologie chen der DNA, darunter dem Cytochrom-b-Gen, 14
und von Proteinen basieren, zeigen, dass Schim-
Vergleichen und Bewerten sind die grundlegenden pansen die nächsten Verwandten von Homo sapiens
Tätigkeiten eines Systematikers und Phylogeneti- sind (. Abb. 5.5). Dann folgen Gorilla (mit vier For-
15
kers. In der Vergangenheit beruhte die Systematik men in Afrika) und Orang-Utan (mit zwei heute als
der Primaten weitgehend auf morphologischen Arten angesehenen Populationen auf Borneo und 16
Merkmalen fossiler und rezenter Arten. Dabei wur- Sumatra).
den und werden auch physiologische oder etholo- Die geringen genetischen Unterschiede zwi- 17
gische Merkmale berücksichtigt. Heute wird das schen Mensch und Menschenaffen müssten eigent-
Spektrum der Merkmale durch molekulare Daten lich taxonomische Konsequenzen haben. Mehrfach
erweitert, z. B. Analysen der Sequenz von Marker- wurde gefordert, zumindest Mensch und Schim- 18
genen und ganzen Genomen. Molekulare und mor- panse/Bonobo in eine gemeinsame Gattung zu
phologische Daten sind keine Gegensätze, sondern stellen (Diamond 1999). 19
sie ergänzen einander; Widersprüche, die häufig DNA-Daten und Sequenzanalysen von Protei-
aufgrund konvergenter Evolution beruhen, sind nen weisen im Allgemeinen gute Übereinstimmung
Anreiz zu verstärkter Forschung. auf. So machen die vergleichenden proteinchemi-
20
434 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.5  Molekularer Stammbaum der Primaten auf der Grundlage der Analyse des Cytochrom-b-Gens. Nach anderen
molekularbiologischen Daten gehört Tarsius zu den Haplorrhini
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 435

.. Abb. 5.6  Molekularer Stammbaum


der Hominoidea 1
2
3
4
5
6
7

schen Daten (Bauer u. Schreiber 1995) wahrschein- 5.3 Menschenaffen 8


lich, dass sich Mensch und Schimpansen vor ca. und Mensch (Hominoidea)
5,2 Mio. Jahren getrennt haben. Kurz zuvor, vor ca. 9
7,4 Mio. Jahren, trennte sich der Gorilla von der Li- Mensch und Menschenaffen sind eng verwandt
nie Schimpanse/Mensch, während der Orang-Utan (. Abb. 5.6). In diesem Kapitel sollen daher die
vermutlich bereits seit ca. 16 Mio. Jahren einen Ei- Menschenaffen besonders herausgestellt werden.
10
genweg verfolgt. Entsprechenden vergleichenden Die Kenntnis ihrer Morphologie, Physiologie und
proteinchemischen Befunden zufolge, haben sich Lebensweise hilft auch dem Verständnis der biolo- 11
die Gibbons nur unwesentlich früher (vor 20,3 Mio. gischen Besonderheiten des Menschen. Diese hoch
Jahren) von letzten gemeinsamen Vorfahren mit differenzierten, engsten Verwandten des Menschen 12
dem Menschen getrennt. Nach anderen molekular- sind alle von der Ausrottung durch eben diesen
biologischen Befunden sind die Gibbons zwischen Menschen bedroht. Je mehr wir über sie wissen,
16 und 20 Mio. Jahre von der Linie zum Menschen desto leichter sollte es uns fallen, die letzten Be- 13
getrennt. Diese Daten verankern zwar die Gibbons stände dieser Tierarten zu schützen.
in den Hominoidea, der Zeitpunkt der Trennung 14
vom letzten gemeinsamen Vorfahren mit dem Men-
schen bedarf aber der Bestätigung durch andere 5.3.1 Gibbons 15
Zweige der Wissenschaft.
Die folgenden Daten geben den Zeitpunkt der Die Gibbons (Hylobatidae, . Abb. 5.7a) bilden die
Trennung von Homo und nicht-hominoiden Prima- erste Familie der Hominoidea und sind heute auf 16
ten aufgrund von Berechnungen an, die auf protein- Südostasien beschränkt. In China sind sie im Laufe
biochemischen Befunden beruhen (berücksichtigt der letzten 2000 Jahre bis auf einen Restbestand auf 17
wurden 69 Proteine, nach Bauer u. Schreiber 1995): Hainan ausgerottet. Überall sind sie durch Habitat-
Trennung von Homo und Papio/Macaca (Pa- zerstörung und Jagd bedroht. Ihre Fossilgeschichte
viane/Makaken) vor 31,4 Mio. Jahren, von Homo ist kaum bekannt, möglicherweise sind die miozä- 18
und Cebus (südamerikanischer Kapuzineraffe) vor nen Formen Dionysopithecus (China) und Micro-
52,5 Mio. Jahren, von Homo und Lemur (madagas- pithecus (Ostafrika) „Proto-Hylobatiden“. Sie sind 19
sischer Halbaffe) vor 67,0 Mio. Jahren, von Homo die „kleinen“ Menschenaffen und umfassen heute
und Galago (afrikanische Buschbabys) vor 73,3 Mio. 12–13 Arten, die in den Gattungen Hylobates, Sym-
Jahren. phalangus, Nomascus und Hoolock (Bunopithecus)
20
436 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

sie zwar über Jahre in monogamen Kleinfamilien le-


ben können, dass aber das Sozialsystem der Gibbons
flexibel ist (s. oben) und dass Partnerwechsel recht
häufig vorkommen (Geissmann 2003). Die Gibbons
geben vor allem morgens weit hörbare Lautäuße-
rungen von sich; dadurch sollen Territorien ver-
teidigt werden. Die Gesänge erfolgen oft im Duett,
wobei das Weibchen den Hauptteil übernimmt. Der
Duettgesang ist beim Siamang besonders hoch dif-
ferenziert und soll auch die Paarbindung intensi-
vieren. Bei den meisten Gibbons singen Männchen
auch „solo“, insbesondere in der Morgendämme-
rung. Analysen von Sommer u. Reichard (2000)
zeigen, dass der biologische Sinn der Gesänge ver-
mutlich darin besteht, die Gesamtfitness der Partner
zu testen. Die Gesänge haben einen deutlichen Be-
zug zur Attraktivität des Partners; manche Gibbons
haben Kehlsäcke, die beim Siamang besonders groß
sind und die den Gesängen eine recht raue Note ver-
leihen. Die Dauer des weiblichen Zyklus beträgt ca.
28 Tage, die Schwangerschaft ca. 210 Tage, es wird
ein Junges geboren, das mit ca. 1,5–2 Jahren ent-
wöhnt wird. Geschlechtsreife erfolgt mit 7 Jahren.

.. Abb. 5.7 a–f.  Rezente Hominoidea. a Gibbons, b Orang- 5.3.2 Die großen, höheren


Utan, c Gorilla, d Schimpanse, e Bonobo, f Mensch Menschenaffen

zusammengefasst werden. Sie sind in vieler Hin- Die großen Menschenaffen (Orang-Utan, Gorilla,
sicht sehr spezialisierte, baumlebende, langarmige, Schimpanse/Bonobo) und der Mensch bilden die
schlanke Tiere ohne Schwanz. Als Schwinghangler zweite Familie der Hominoidea, die Hominidae.
können sie im freien Schwingflug bis zu 10 m über- Diese lässt sich in die Unterfamilien Ponginae
winden, am Boden bewegen sie sich oft biped fort, (Orang-Utan und verwandte Fossilformen) und
wobei sie gelegentlich die Arme über den Kopf hal- Homininae (die afrikanischen Menschenaffen,
ten. Die Durchsicht größeren Skelettmaterials hat Mensch und verwandte Fossilformen) gliedern.
gezeigt, dass bei vielen Tieren verheilte Knochen- Die hier vorgenommene, systematische Gliederung
brüche vorliegen, so dass man annehmen kann, dass der Hominidae ist sicher nicht die einzig mögliche;
öfter Stürze vorkommen. Daumen und Großzehe v. a. in älteren Texten wird der Mensch gern allein
sind weit abspreizbar und opponierbar (. Abb. 5.2). in die Familie der Hominidae eingeordnet und die
An den Sitzbeinen kommen wie bei Cercopitheci- drei großen Menschenaffen werden ebenfalls in ei-
den Sitzschwielen vor. Beide Geschlechter haben ner eigenen Familie, den Pongidae, untergebracht,
große Eckzähne. Das Gehirn ist nicht besonders was aber die verwandtschaftliche Nähe der vier in
hoch entwickelt. Frage stehenden Gattungen (Pongo, Gorilla, Pan
Gibbons ernähren sich von Früchten, Blüten und Homo) nicht korrekt widerspiegelt. Interessant
und Blättern, aber auch von Eiern, Vögeln und In- ist, dass alle großen Menschenaffen paarig angelegte
sekten. Sie bauen keine Schlafnester. – später z. T. median verschmelzende – Kehlsäcke
Gibbons galten bis vor wenigen Jahren als Mus- ausbilden, die Lautverstärker und Resonatoren sind.
terbeispiele für Monogamie. Heute ist bekannt, dass Allen gemeinsam ist auch der Besitz eines kleinen
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 437

.. Tab. 5.1  Hirngewicht der großen Menschenaffen und des Menschen (nach Schultz 1969)

Art Geschlecht durchschnittliches Hirngewicht Minimum–Maximum


1
Orang-Utan Männlich 416 g 334–502 g
2
Weiblich 338 g 276–425 g

Schimpanse Männlich 381 g 292–454 g


3
Weiblich 350 g 282–415 g

Gorilla Männlich 535 g 412–752 g 4


Weiblich 443 g 350–532 g

Mensch Männlich 1350 g 5


} 1000–2000 g
Weiblich 1250 g
6
Baculums (Penisknochens). Sie besitzen hoch ent- besteht kein Grund, die geistigen Leistungen von
wickelte Gehirne (. Tab. 5.1). Menschenaffen, die ja wie bei uns Leistungen des 7
Die hoch entwickelten Gehirne der großen Gehirns sind, nicht als Vergleich mit entsprechen-
Menschenaffen erbringen Leistungen, die die den Leistungen des Menschen zuzulassen. Auf
Grenze zu den Leistungen des Gehirns des Men- ihnen aufbauend haben sich langsam die höchst 8
schen sehr unscharf werden lassen. Verschiedene komplexen Leistungen (mit extrem differenzierter
Primatologen (z. B. de Waal 2006, 2011; Sommer Sprache, Technik, Mathematik, Kultur, Musik usw.) 9
2009, 2010; Boesch 2009) konnten nachweisen, des Gehirns des modernen Menschen entwickelt.
dass bei den großen Menschenaffen, speziell beim Möglicherweise spiegelt sich diese Entwicklung in
am besten untersuchten Schimpansen, hohe kogni- quantitativen Unterschieden des Hirnvolumens spe-
10
tive Leistungen und hoch differenzierte kulturelle ziell des Frontallappens des Großhirns wider.
und komplexe emotionale Reaktionen nachweisbar Die großen Menschenaffen können lokal unter- 11
sind, dass sprachähnliche Leistungen zu erkennen schiedliche kulturelle Traditionen entwickeln, was
sind, dass Planung in die Zukunft möglich ist, dass oft eine ökologische Ursache hat und wiederum am 12
sie sich in andere hineinversetzen, dass sie diffe- besten vom Schimpansen bekannt ist. Tiere, die im
renziert und sinnreich handeln können (z. B. bei tropischen Regenwald leben sind besonders sozial
Durchfallerkrankungen können sie bestimmte raue eingestellt („pro-sozial“) und zeigen oft besonders 13
Blätter sammeln, die sie zusammenfalten und un- differenzierte kulturelle Verhaltensweisen und ver-
zerkaut schlucken, was effektiv zur Ausscheidung halten sich in manch anderer Hinsicht, z. B. Jagd- 14
von Darmparasiten führt, es werden auch gezielt strategien, anders als Tiere im Trockenwald oder im
„Heilpflanzen“ mit antimikrobiellen Inhaltsstoffen Savannen-Waldland (Boesch 2009).
verzehrt) u. a. Beim Schimpansen konnte beobach-
15
tet werden, dass sie sogar Nahrung miteinander Orang-Utan
teilen können (de Waal 2011). Es gibt also viele Der Orang-Utan (malaiisch und indonesisch: Wald- 16
Hinweise, dass sich die mentalen Welten (Sommer mensch, . Abb. 5.4h, . Abb. 5.7b), einst weit über
2009) von Menschenaffen und Menschen ähneln. Südostasien verbreitet, kommt heute nur noch in 17
Hierbei dürfte es sich angesichts sehr weitgehender zwei Arten auf Borneo und Sumatra vor. Auf Bor-
DNA-Übereinstimmungen und morphologischer neo lebt Pongo pygmaeus, auf Sumatra der nah ver-
Ähnlichkeit der Gehirne nicht um Analogien han- wandte Pongo abellii. Seine Zahl hat durch die rück- 18
deln, sondern im Prinzip um Homologien, also auf sichtslose Zerstörung seines Lebensraumes und die
Übereinstimmungen, die auf gemeinsamer Abstam- Verfolgung durch den Menschen so abgenommen, 19
mung beruhen. Wenn auch der moderne Schim- dass sein Aussterben befürchtet wird. Im Norden
panse nicht dem gemeinsamen letzten Vorfahren Sumatras, v. a. im Gunung-Leuser-Nationalpark, le-
von Homo und Pan gleichgesetzt werden darf, so ben derzeit nur noch ca. 8000, auf Borneo ca. 10.000
20
438 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

bis 14.000 Tiere. Eine ganze Reihe von Populationen Schutzgebieten können sich Orang-Utans mit vom
steht kurz vor der Ausrottung; allein zwischen 1985 Menschen eingeschleppten Krankheiten (Hepatitis,
und 1995 gingen für den Orang-Utan ca. 40–50 % Malaria, Cholera, Tuberkulose u. a.) anstecken.
seines Lebensraumes verloren. Öfter werden Mütter Anatomisch weist der Orang-Utan ursprüng-
von Kleinkindern getötet, und das „niedliche“ Kind liche und abgeleitete Merkmale auf. Ursprünglich
wird dann eine Zeit lang – bis es lästig wird – von sind Züge der Muskulatur und die Zahl der Fußwur-
wohlhabenden Menschen gehalten. zelknochen (acht statt sieben). Abgeleitet sind die
Männliche Tiere werden gut 135 cm groß, weib- Extremitäten, der weit hinten stehende große Zeh,
liche 115 cm. Beide Geschlechter sind durch ein der kleine Daumen, die fast in gleicher Ebene liegen-
rötliches, langes, raues, aber spärliches Haarkleid den Augen und die schmale Zwischenaugenregion.
gekennzeichnet. Die Männchen mit einem Territo-
rium besitzen kennzeichnende große Backenwülste Gorilla
und Kehlsäcke, die ihre lauten Rufe verstärken. Der Der Gorilla, heute der Riese unter den Primaten
Orang-Utan ist ein Baumbewohner und lebt zu- (. Abb. 5.4i, . Abb. 5.7c), ist in den Proportionen
meist als Einzelgänger. Nach neuer Auffassung gibt der Gliedmaßen, seinem breiten Becken, im Bau
es jedoch lockere Verbände mit weit auseinander von Händen und Füßen (. Abb. 5.2) und hinsicht-
lebenden Weibchen und ihrem Kind sowie einem lich der mimischen Muskulatur dem Menschen
dominanten Männchen, dem mehrere Weibchen- ähnlicher als andere Menschenaffen. Er entfernt
territorien zugeordnet sind. Orang-Utans sind tag- sich von diesem jedoch durch seine Größe und die
aktive Tiere, die für die Nacht ein Nest bauen; sie le- Verlängerung seiner Gesichtspartie einschließlich
ben in Mangroven-, Regen- und Bergwäldern bis in der Nasenbeine und zeigt im Übrigen viele ur-
eine Höhe von ca. 1000 m. Sie wandern am Tag bis sprüngliche Züge. Er lebt heute in vier räumlich
1000 m weit, wobei die Männchen weitere Streifzüge getrennten Formen in Zentralafrika, wobei um-
machen als die Weibchen. Der schmale Fuß wird stritten ist, ob es sich um vier Unterarten einer Art
meist in leichter Supinationshaltung aufgesetzt. Sie oder um zwei Arten handelt, die jeweils aus zwei
fressen vorwiegend Früchte und andere pflanzliche Unterarten bestehen. Im ersten Fall würde die sys-
Nahrung. Der weibliche Zyklus dauert 28 Tage, die tematische Gliederung so aussehen, dass die eine
Schwangerschaft um 245–250 Tage. Meist wird ein Art Gorilla gorilla vier Unterarten bildet: G. go-
Kind geboren, das im Alter von 3,5–4 Jahren ent- rilla gorilla (Flachlandgorilla, Zentralafrikanische
wöhnt wird und sich nach 5–8 Jahren zunehmend Republik, Kamerun, Äquatorial-Guinea, Nigeria,
von der Mutter trennt. Im Freien werden Orang- Gabun, Kongo-Brazzaville), G. gorilla diehli (Cross
Utans vermutlich 40–50 Jahre alt. River, Grenze Nigeria-Kamerun), G. gorilla grau-
Weibchen werden im Alter von 7  Jahren ge- eri (Osten der Demokratischen Republik Kongo)
schlechtsreif, Männchen variabel im Alter von und G. gorilla beringei (Berggorilla, Grenzregionen
8–15  Jahren. Das erste Junge haben Weibchen Uganda, Ruanda, Demokratische Republik Kongo).
meistens im Alter von 12 Jahren. Die Männchen Im zweiten Falle würde Gorilla gorilla die Unterar-
streifen nach Eintritt der Geschlechtsreife umher, ten G. gorilla gorilla und G. gorilla diehli umfassen,
sie sind zeugungsfähig und können Kopulationen während die beiden östlichen Formen als Unterar-
erzwingen, unterscheiden sich aber äußerlich kaum ten einer Art Gorilla beringei aufzufassen sind. Der
von den Weibchen. Die typischen sekundären Ge- Gorilla ist in sehr hohem Maße durch Vordringen
schlechtsmerkmale der Männchen, z. B. die Ba- des Menschen, Folgen politischer Wirren und Zer-
ckenwülste, treten erst viel später, im Alter von störung seines Lebensraumes gefährdet. Vom Berg-
15–20 Jahren auf, und zwar ziemlich schnell dann, gorilla existieren noch ca. 600 Tiere, von G. gorilla
wenn ein Männchen ein eigenes Revier besitzt oder graueri einige Tausend Tiere, vom Flachlandgorilla
wenn andere Männchen fehlen. Ein Weibchen hat vielleicht noch einige Zehntausend Tiere. Jagd und
im Laufe seines Lebens zwei bis drei Junge, die Re- Tötung des Gorillas (und anderer Primaten) zur Er-
produktionsrate ist also sehr niedrig. Männchen nährung von Menschen zeigt einen ethischen Tief-
beteiligen sich nicht an der Aufzucht der Jungen. In stand der Zivilisation des Menschen an.
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 439

Gorillas werden ca. 140 cm (Weibchen) bis Der Schimpanse ist abgeleitet in Merkmalen, die mit
160 cm (Männchen) groß. Männliche Tiere kön- seinem gut entwickelten Sprungvermögen und dem 1
nen im Freiland bis 260 kg, weibliche Tiere bis Schwinghangeln zusammenhängen, z. B. hinsicht-
95 kg schwer werden. In Zoos sind die Tiere oft lich Bau des Beckens, der langen Arme und Ver- 2
pathologisch adipös. Die westliche Flachlandform längerung der Finger, die eine Hakenhand bilden.
hat ein braungraues, die östlichen Formen besitzen Die genannten und andere Merkmale deuten darauf
ein schwarzes Fell. Ausgewachsene Männchen ha- hin, dass er eine primär ans Baum- und Waldleben 3
ben einen silbergrauen Rückensattel. Die Gorillas angepasste Art ist, mit einer ca. 6 Mio. Jahre langen
sind tagaktiv und bauen Tages- und Nachtnester. Eigenentwicklung. Zumindest hinsichtlich seines 4
Besonders der Berggorilla ist weitgehend Boden- Bewegungsapparates entspricht er nicht dem letz-
bewohner, der Flachlandgorilla kann z. T. auch auf ten gemeinsamen Vorfahren von Pan und Homo
Bäumen leben. Es werden ganz unterschiedliche (s. auch Ardipithecus, Abschn. 5.6.1). Er lebt in vier
5
Waldformationen bis hin zu Wiesen- und Strauch- heute weit voneinander getrennten Unterarten von
landschaften bewohnt. Die Tiere durchstreifen Guinea bis zum Tanganjika-See: Pan troglodytes 6
langsam ihr Wohngebiet, wobei sie sich auf allen verus (westafrikanischer Schimpanse, nur noch
Vieren fortbewegen. Die Füße setzen mit der Sohle Restbestände an der Elfenbeinküste, in Guinea, Si- 7
auf, die gebeugten Finger werden mit den Knöcheln erra Leone, Liberia, Mali und Ghana), P. troglodytes
aufgesetzt. Alle Gorillas sind Pflanzenfresser, tieri- troglodytes (zentralafrikanischer Schimpanse, wohl
sche Nahrung macht weniger als 1 % aus (v. a. Insek- noch ca. 60.000 Tiere in Gabun, Kamerun, Kongo- 8
ten). Sozial sind sie in Haremsgruppen organisiert. Brazzaville, Äquatorial-Guinea), P. troglodytes
Diese umfassen oft ca. zehn Tiere mit einem voll vellerosus, (Westnigeria und Grenzgebiet Nigeria- 9
ausgewachsenen männlichen Tier (Silberrücken), Kamerun), P. troglodytes schweinfurthii (ostafrikani-
vier bis fünf Jungtieren und fünf anderen adulten scher Schimpanse, noch ca. 10.000 Tiere im Norden
Tieren, überwiegend Weibchen. Es kommen aber und Osten der Demokratischen Republik Kongo,
10
auch Gruppen mit mehreren adulten Männchen nördlich und östlich des Kongoflusses, bis zum Tan-
vor, vereinzelt auch Männergruppen. Ein alter Ha- ganjikasee, Restbestände in Burundi, Ruanda und 11
remsboss kann vertrieben werden und wird dann Uganda). Das ehemalige Verbreitungsgebiet wird
oft durch einen Sohn ersetzt. Es wurde beobachtet, immer weiter eingeengt und fragmentiert. Auch 12
dass der neue Anführer des Harems die Kinder sei- Schimpansen werden von Menschen abgeschossen
nes Vorgängers tötet (Infantizid, s. EXKURS 5.2 Ab- und gegessen. Natürliche Feinde sind am ehesten
schn. 5.2.3), die weiblichen Tiere werden beim Leopard und Löwe. 13
Gorilla verschont. Männliche Gorillas imponieren Das Gesicht der Adulten ist bei den einzelnen
durch Aufrichten, Brusttrommeln und Herumlau- Unterarten unterschiedlich pigmentiert, bei den 14
fen in aufgerichteter Haltung. westafrikanischen Schimpansen ist es stets rela-
Der weibliche Zyklus dauert 28  Tage, die tiv dunkel, bei den zentral- und ostafrikanischen
Schwangerschaft um 260  Tage, im Allgemeinen dagegen im Allgemeinen zunächst hell, wird aber
15
wird ein Kind geboren, das mit 2–4  Jahren ent- mit dem Alter dunkler und ist dann oft fleckig ge-
wöhnt wird. Geburtenabstand in ungestörten Re- zeichnet. Das Fell ist schwarz, wird aber im Alter 16
gionen 4–5 Jahre. In Freiheit können Gorillas ca. im Lumbalbereich grau und am Kinn weißlich.
35–40 Jahre alt werden. Alte Tiere, besonders bei der zentralafrikanischen 17
Unterart, neigen zu Glatzenbildung. Männchen
Schimpanse werden ca. 120 cm, Weibchen 110 cm groß, das
Der Schimpanse (Pan troglodytes, . Abb. 5.7d) ist Körpergewicht beträgt 40–45 kg. Schimpansen 18
in vielen anatomischen, biochemischen und auch sind tagaktiv und bauen Tag- und Nachtnester, sie
ethologischen Merkmalen besonders menschen- leben oft die Hälfte der Zeit am Boden, die andere 19
ähnlich; Beispiele sind zeitiger Verschluss der in Bäumen. Ihre Habitatansprüche sind relativ fle-
Zwischenkiefernaht sowie die Morphologie der xibel, wobei wahrscheinlich ist, dass Pan primär ans
Schneide- und Backenzähne und des Brustbeins. Baumleben angepasst ist. Sie kommen in dichten
20
440 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

Regenwäldern, aber auch in Savanne und Grasland zum Insektenfang, Hammer und Amboss (aus
vor und durchstreifen ihre Wohngebiete. Am Bo- Stein) zum Nüsseknacken; einzelne Gruppen kön-
den bewegen sie sich meist auf allen Vieren fort, nen jeweils eigene Traditionen (Kulturen) entwi-
wobei wie beim Gorilla die Füße flach aufgesetzt ckeln. Haufen mit Steinen, die wahrscheinlich von
werden und die Hände mit den Knöcheln den Bo- Schimpansen als Werkzeuge benutzt wurden, wur-
den berühren. Sie richten sich oft auf und stehen den an verschiedenen Stellen gefunden. An der Jagd
dann auf zwei Beinen, um die Umgebung zu beob- beteiligen sich vor allem Männchen, am Sammeln
achten. Der Daumen ist wie bei Gorilla und Orang- vor allem Weibchen; die Nahrung wird oft geteilt.
Utan opponierbar, ist jedoch relativ klein und wird Bei der Jagd können mehrere Männchen, z. T. mit
seltener als beim Gorilla zum Manipulieren von einem Stock bewaffnet, geschickt zusammenwirken,
Gegenständen gebraucht. Zweiter bis vierter Fin- bis das Beutetier getötet ist. Schimpansen fressen
ger sind lang und bilden einen Haken, der beim „Heilpflanzen“, wenn sie krank sind.
Hangeln im Geäst eingesetzt wird. Benachbarte Gruppen können sich bekämpfen
Schimpansen ernähren sich weitgehend von (Proto-Krieg) bis hin zur Ausrottung einer ganzen
Pflanzen, nehmen aber regelmäßig auch tierische Gruppe. Paare gehen unterschiedlich feste Bin-
Nahrung zu sich, indem sie z. B. kleinere Affen, u. a. dungen ein, vielfach herrscht Promiskuität. Die
Piliocolobus badius, und kleinere Antilopen erlegen Aufforderung zur Paarung kann vom Weibchen
oder auch verschiedene Insekten zu sich nehmen. oder vom Männchen ausgehen. Ein Weibchen im
Es wurde auch Kannibalismus beobachtet. Sie leben Östrus besitzt auffällige rosafarbene ano-genitale
in größeren Gruppen, die sich aber leicht in Un- Schwellungen und kann nacheinander von bis zu
tergruppen (parties) auflösen. Weibchen gehen oft sieben Männchen begattet werden. Es gibt aber of-
allein oder mit Kindern auf Nahrungssuche. Ständig fensichtlich auch Paarbindung. Aus solchen festen
gibt es intensive Auseinandersetzungen, besonders Bindungen sollen mehr Kinder entstehen als aus
zwischen Männchen, die oft Halbbrüder sind. Oft promiskuitivem Geschlechtsverkehr. Der weibliche
entwickelt sich ein Männchen zum Gruppenführer. Zyklus dauert ca. 33 Tage, die Schwangerschaft ca.
Schimpansen sind stimmfreudig und besitzen aus- 230 Tage. Meist wird ein Kind geboren. Entwöh-
gedehnte laryngeale Luftsäcke. Sie können einfache nung mit 4 Jahren, jedoch bleiben Kinder oft noch
Werkzeuge herstellen und nutzen: z. B. Holzstäbe Jahre bei der Mutter. Zum Gehirn s. EXKURS 5.3.

  EXKURS 5.3  

Das Gehirn des Schimpansen: ein kleines Menschenhirn?


Karl Zilles (Jülich)

Die Genome des Gemeinen Schimpansen, Pan tro- die Von-Economo-Spindelzelle. Sie kommt nur bei
glodytes, und des Zwergschimpansen oder Bono- Menschenaffen und dem Menschen im vorderen
bos, Pan paniscus, stimmen zu 98 % mit dem des insulären Cortex vor. Dieser Hirnteil ist bei zahlrei-
Menschen überein. Die Ähnlichkeiten ihrer Gehirne chen kognitiven Funktionen des Menschen aktiv.
mit dem des Menschen sind größer als bei anderen Daneben werden jedoch auch deutliche quantita-
Menschenaffen. Ist das Gehirn des Schimpansen tive und strukturelle Unterschiede gefunden, die
daher ein „miniaturisiertes“ Menschenhirn? auf einen funktionellen Umbau schließen lassen.
Viele morphologische Ähnlichkeiten Sowohl das gesamte Gehirn als auch das Kleinhirn
(. Abb. 5.8 a-d) in der Hirnform, Furchenbildung, beider Schimpansenarten sind ca. drei- bis viermal
Aufbau der prinzipiellen funktionellen Systeme kleiner als das des Menschen, während die Hirn-
und Nervenzelltypen sind erkennbar. Erst jüngst größe sich zwischen Pan troglodytes und Pan panis-
wurde ein besonderer Nervenzelltyp identifiziert, cus nicht signifikant unterscheidet. Das Ge-
7
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 441

 EXKURS 5.3 (Fortsetzung) 
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
.. Abb. 5.8  Das Endhirn des Bonobos (a Lateral- und b Ventralansicht) und das des Menschen (c Lateral- und d
Ventralansicht) ähneln sich makroskopisch trotz differenzierterer Furchenbildung beim Menschen sehr stark.
Vergrößert man jedoch in einer Computersimulation das Bonobogehirn proportional bis es die Größe des 16
menschlichen Gehirns erreicht hat und bestimmt dann durch morphologische Transformation (warping) an jeder
Stelle der Hirnrindenoberfläche den Abstand zwischen den Gehirnen beider Spezies, sind deutliche, regional
spezifische Wachstumszonen auf der menschlichen Cortexoberfläche erkennbar (e-f). Rot und Gelb zeigen Bereiche 17
mit starkem, Blau und Grün mit geringem Wachstum. c: Sulcus centralis, Cbl: Kleinhirn, DLPFC: dorsolateraler
präfrontaler Cortex, fi: Sulcus frontalis inferior, fo: Sulcus frontoorbitalis, fs: Sulcus frontalis superior, io: Sulcus orbitalis
inferior, ip: Sulcus intraparietalis, l: Sulcus lunatus, OC: okzipitaler Cortex, OFC: orbitfrontaler Cortex, PaC: parietaler
18
Cortex, PHC: parahippocampaler Cortex, poc: Sulcus postcentralis, prc: Sulcus praecentralis, PrFC: präfrontaler Cortex,
TC: temporaler Cortex, tm: Sulcus temporalis medius, ts: Sulcus temporalis superior, VC: visueller Cortex, W: Wernicke
Sprachregion, 44 und 45: Areale 44 und 45 der Broca-Sprachregion. Die gelbe gewundene Linie vor dem Gyrus
19
praecentralis auf den Abbildungen a und c weist auf den Größenunterschied des praefrontalen Cortex (PrFC) bei Pan
(a) und Homo (c) hin 20
7
442 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.3 (Fortsetzung) 
samthirnvolumen beträgt bei ihnen ca. 325 cm3
(265–445 cm3), das Kleinhirnvolumen ca. 47 cm3
(28–57 cm3). Diese Größenunterschiede sagen
allerdings nichts über eventuelle Unterschiede
in der Differenzierung verschiedener neuronaler
Systeme und Zelltypen innerhalb der Gehirne
verschiedener Spezies aus.
Da interspezifische Unterschiede in der
Größe des Gesamthirns und seiner verschiede-
nen Systeme durch Differenzen in der Körper-
größe bedingt sein können, müssen absolute
Unterschiede mit der Methode der Allometrie
bewertet werden. Diese erlaubt eine Analyse
des Verhältnisses zwischen Hirngröße und Kör-
pergröße, bzw. Körpergewicht. Aus dieser Be-
ziehung kann ein Progressionsindex abgeleitet
werden, der sagt, wievielmal so groß das Gehirn
oder eine Hirnstruktur einer Spezies im Vergleich
zur selben Hirnstruktur einer anderen Spezies
ist, wenn beide die gleiche Körpergröße hätten.
Beim allometrischen Vergleich zeigt sich, dass
der Neocortex des Menschen 2,7-mal größer ist
als es der eines Schimpansen (Pan troglodytes)
bei gleicher Körpergröße wäre. Da der primäre
visuelle Cortex, die Area striata, beim Menschen
nur 1,2-mal größer als bei einem Schimpansen
ist, kann das Gehirn des Schimpansen nicht ein-
fach ein „miniaturisiertes Menschenhirn“ sein,
sondern es ist zwischen Schimpanse und Mensch
zu einer divergenten Größenentwicklung der
verschiedenen funktionellen Systeme gekom-
men. Assoziationsregionen im präfrontalen und
orbitofrontalen (Impulskontrolle), temporalen
und okzipitalen (Sprachregionen, Gesichter- und .. Abb. 5.9  Primärer visueller und motorischer Cortex bei
Bonobo und Mensch
Objekterkennung) sowie parietalen (Aufmerksam-
keit, Handlungsplanung) Neocortex des Menschen
sind überproportional größer geworden, während Cortex des Menschen einen deutlich höheres Neu-
primäre sensorische Neocortexgebiete wie der pri- ropilvolumen (. Abb. 5.8). Da das Neuropil zum
märe visuelle Cortex sich nur gering vergrößert ha- größten Teil aus Dendriten, Axonen und Synapsen
ben. Dies drückt sich auch in der mikroskopischen besteht, bedeutet eine Neuropilvergrößerung eine
Organisation aus. Während das Verhältnis zwischen Zunahme der Konnektivität, d. h. eine Veränderung
dem von Zellkörpern besetzten Volumenanteil des der cortikalen Organisation.
Hirngewebes und dem Anteil zwischen den Zell- Die Gehirne von Schimpansen und Mensch un-
körpern, Neuropil, im primären visuellen Cortex bei terscheiden sich aber nicht nur hinsichtlich struk-
Schimpanse und Mensch sich kaum unterscheidet tureller Größen, sondern auch funktionell. In der
(. Abb. 5.8), findet man im primären motorischen Positronenemissionstomographie (PET) zeigt sich,
7
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 443

 EXKURS 5.3 (Fortsetzung) 
1
dass das regional-spezifische Aktivitätsmuster in tion des Gehirns davon ausgehen, dass auch beim
der Hirnrinde des Schimpansen ohne Stimulation Schimpansen diese kognitiven und mentalen Hirn-
durch spezifische Reize oder Aufgaben, sog. resting leistungen stattfinden. Im Gegensatz zum Men-
2
state, dem des Menschen weitgehend ähnlich ist, schen zeigt jedoch das Schimpansengehirn keine
aber auch Unterschiede zu erkennen sind. So fin- Lateralisation des Volumens, der Zellanzahl und 3
den sich beim Schimpansen besonders aktive Hirn- -packungsdichte in der Broca-Region, sowie im res-
bereiche im retrosplenialen, cingulären und medi-
alen präfrontalen Cortex, sowie im lateralen
ting state keine deutliche Lateralisation der Aktivi-
tät in der linken Hemisphäre und keine Aktivität in
4
präfrontalen Cortex unterhalb des Sulcus frontalis der Broca- und Wernicke-Region sowie im Gyrus
inferior (. Abb. 5.9). Diese Regionen sind bei der angularis des hinteren parietalen Cortex. Diese Re- 5
Erinnerung autobiographischer Ereignisse und der gionen sind für das Sprachvermögen und konzep-
Vorstellung auf die eigene Person bezogener ver- tuelles Denken beim Menschen notwendig. 6
gangener und zukünftiger Ereignisse, bei emotio- Bei aller Ähnlichkeit der Gehirne von Schim-
nal gesteuerten Entscheidungsprozessen und pansen und Menschen weisen die Vergleiche auf
eventuell sogar bei der Reflexion mentaler Zu- eine deutliche Differenzierung in Richtung eines
7
stände bei anderen Personen im menschlichen Ausbaus kognitiver Funktionen in der Evolution
Gehirn aktiv. Man kann daher wegen der sehr ähn- des Menschen hin. 8
lichen Aktivitätsmuster und regionalen Organisa-
9

Bonobo xuelle Kontakte (mit Bauch-zu-Bauch-Paarungen),


10
Der Bonobo (Zwergschimpanse, Pan paniscus, homosexuelle Kontakte (zwischen Männchen mit
. Abb. 5.7e) lebt im Waldgebiet südlich des gro- „Penis-Fechten“ und zwischen Weibchen mit ge- 11
ßen Kongobogens in der Demokratischen Repub- nito-genitalem Reiben der Clitoris) und Kontakte
lik Kongo, wobei die Mehrzahl der Tiere (genaue zwischen Adulten und Kindern vor. Verbreitet ist 12
Zahlen sind nicht bekannt, vielleicht nur noch ei- auch autosexuelles Verhalten. Es existieren Ver-
nige Tausend, der Bestand reduziert sich rapide) im bindungen von Weibchen, die häufig miteinander
ca. 3000 km2 großen Gebiet zwischen den Flüssen sexuelle Kontakte pflegen und die gegenüber männ- 13
Yekokora und Lomako lebt. Der Bonobo ist etwas lichen Tieren dominant sind. Es sind aber auch feste
graziler und hat längere Hände und Füße, ähnelt Einzelpaare beobachtet worden. Kaum Werkzeug- 14
jedoch ansonsten den Schimpansen. Männchen herstellung, weniger aggressives Verhalten als bei
werden ca. 120 cm, Weibchen ca. 110 cm groß. Schimpansen. Weiblicher Zyklus und Fortpflanzung
Das Gesicht ist stets dunkel, die sehr beweglichen im Prinzip ähnlich wie beim Schimpansen, der Zyk-
15
Lippen sind im Allgemeinen blassrötlich. Bonobos lus soll aber im Freiland ca. 45 Tage dauern.
sind tagaktiv, bauen Tag- und Nachtnester, leben 16
die meiste Zeit auf Bäumen und ernähren sich ganz
überwiegend von Pflanzen. Tiernahrung macht nur 5.3.3 Mensch 17
ca. 0,1 % der Nahrung aus (Insekten, kleine Säuger,
Reptilien u. a.). Sie scheinen Säugetiere nicht aktiv Der Mensch (Homo sapiens) besiedelt heute mit
zu jagen; die Nahrungsaufnahme kann auch am über 7 Mrd. Individuen alle Kontinente mit Aus- 18
Boden erfolgen (Geissmann 2003). Sie leben in nahme von Antarktika, seine Zahl erhöht sich rasant
lockeren Gruppen und streifen langsam durch ihr und dramatisch, was mit Abstand die größte Gefahr 19
Wohngebiet. Das Sozialleben wird stark von den für den Lebensraum Erde darstellt (s. Abschn. 5.9).
Weibchen geprägt. Viel Interesse hat das Sexualle- Die wesentlichen biologischen Besonderheiten des
ben der Bonobos gefunden. Es kommen heterose- Menschen stehen im Zusammenhang
20
444 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

1. mit der Aufrichtung des Körpers und der Fähig- In der Vergangenheit, bis hin zu Darwin, stand
keit zu bipedem Stehen und Gehen sowie folgende Vermutung im Vordergrund: „Befreiung“
2. mit der mächtigen Entfaltung der Endhirnhe- der Hände von Aufgaben der Fortbewegung und da-
misphären. mit Erwerb neuer Funktionen der Hände wie Werk-
zeugherstellung und Nutzen von Werkzeugen. Aber
Anatomische Besonderheiten, die wir wissen heute, dass der bipede Gang älter als die
den Menschen unter den Primaten systematische Werkzeugherstellung ist. Heute wird
kennzeichnen mehrheitlich eine Korrelation mit Klimaverände-
Bewegungsapparat. Der moderne Mensch zeich- rungen im späten Miozän und im Pliozän gesehen.
net sich innerhalb der Primaten primär durch eine Es wurde im Osten und Nordosten Afrikas kühler
einzigartige Art der Fortbewegung, nämlich (nach und trockener, vor allem östlich des afrikanischen
den ersten 1–2 Lebensjahren) durch die Fähigkeit Grabens, und dort liegt nach derzeitigem Wissen der
zu permanentem bipeden Gehen und Laufen, aus. Ursprung des Menschen. Es entstand die Savanne,
Der damit verbundene Umbau von Skelett- und ein Mosaik aus offenem Grasland, Buschland, Au-
Muskelapparat sowie dem motorischen und prop- wald und offenem Waldland. Die Analyse der Le-
riozeptiven Anteil des Nervensystems bezieht sich benswelt von Ardipithecus ramidus (lebte vor ca.
auf sämtliche Bereiche des Bewegungsapparats, den 4,4 Mio. Jahren in der Afar-Region Äthiopiens) lässt
Kopf und seine Verbindung mit den Halswirbeln, allerdings vermuten, dass die ersten Anpassungen
das Schultergelenk, die doppelt S-förmige Wirbel- des aufrechten Ganges noch bei überwiegend baum-
säule, die Hand, das Hüftgelenk, die Verlängerung lebender (arboricoler) Lebensweise im Waldland
der Beine, das Knie- und Sprunggelenk sowie die entstanden. Durch die Ausbildung von Savannen
Anatomie des Fußes. Der gesamte Umbau vom Vier- kam es zu Veränderungen im Nahrungsangebot und
zum Zweibeiner erfolgte wohl insgesamt in einem zu Veränderungen der Art und Weise des Nahrungs-
Zeitraum von ca. 6 Mio. Jahren. Die Entwicklung erwerbs. Nutzung der Savanne zur Nahrungssuche
eines spezifischen Bewegungsapparates, der durch brachte zwangsläufig eine terrestrische Lebensweise
den obligat bipeden Gang, die Aufrichtung des mit sich und die begünstigte die Bipedie. Einzelnen
Rumpfes und Befreiung der Arme und Hände von Wissenschaftlern zufolge waren Nahrungserwerb
Aufgaben der Fortbewegung gekennzeichnet ist, ist (u. U. auch Aas) und Nahrungstransport durch
also das primär dominante Merkmal des Menschen. Männchen in der Savanne der antreibende Selekti-
Es sei aber betont, dass diese Besonderheiten in ei- onsdruck für den bipeden Gang am Boden. Andere
nem Rahmen bleiben, der nicht über die speziellen Wissenschaftler vermuten, dass die Entstehung des
Anpassungen, z. B. von Gibbons oder Orang-Utans, bipeden Ganges eher von den Frauen ausging, die
hinausgeht. Erst später kommen andere Merkmale Arme und Hände frei haben mussten, um Kinder,
hinzu, vor allem die mächtige Entwicklung des Te- Geräte und Werkzeuge, Grabinstrumente und ge-
lencephalons (= Endhirns = Großhirns), mit der sammelte Pflanzennahrung tragen zu können.
einzigartigen Ausdehnung seiner Rinde, womit die Vielleicht waren auch Mütter und Frauen ur-
Möglichkeit für eindrucksvolle Leistungen auf den sprünglich Pflanzensammlerinnen, die ständig
Feldern von praktischer Intelligenz und geistig- unterwegs waren. Die sozialen Gruppen bestan-
kulturellen Leistungen gegeben war. den möglicherweise im Kern aus einer alten Mut-
Auf die Frage, was zum bipeden Gang des Men- ter, einer erwachsenen Tochter (oder mehreren
schen mit all seinen spezifischen Änderungen des Töchtern) und deren Kind(ern). Ab und zu trafen
Bewegungsapparates geführt haben könnte, gibt es sich vielleicht solche kleinen Gruppen, die es auch
verschiedene Antworten, die aber alle nicht unum- bei anderen Primaten gibt, und die vielleicht von
stritten sind. Aus allgemein evolutionsbiologischen Schwestern angeführt wurden und lagerten zusam-
Gründen ist auch im Falle des bipeden Ganges zu men oder besuchten gemeinsam Quellen. Männer
vermuten, dass es zuerst zu einer Veränderung des waren zufolge dieses Szenarios den ganzen Tag auf
Verhaltens kam, der dann rasch anatomische An- der Jagd, jedenfalls sehr mobil. Eine solche effektive
passungen folgten (Mayr 1967, 1991). Arbeitsteilung war vermutlich in Hinsicht auf das
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 445

Überleben der Gruppe und die Aufzucht der Kinder phase ab. Die Standphase beginnt mit Aufsetzen des
ein evolutionärer Vorteil. Die Effizienz des aufrech- Hackens am Boden; das Knie ist dabei gestreckt und 1
ten Ganges zeigen noch heute Völker wie die San der Fuß nach dorsal gerichtet. Dann beugt sich der
(Buschmänner), die z. T. noch einer Lebensweise als Fuß (d. h. er führt eine Plantarflexion aus), wobei 2
Jäger und Sammler nachgehen und die über viele die Kraft entlang der Außenkante des Fußes auf
Stunden ausdauernd laufen und gehen können, um den Boden übertragen wird. Weiter vorn wandert
ein Zebra oder eine Antilope zu verfolgen, bis diese der Kraftpunkt nach medial (innen) zum Ballen 3
tot zusammenbrechen. des großen Zehs. Jetzt kontrahieren sich die Mus-
Der Anthropologe Niemitz (2004) brachte fol- keln, die die Gruppe der Plantarflexoren bilden und 4
genden Gedanken ins Spiel: die Bipedie entstand in drücken den Ballen gegen den Boden. Dann hebt
Überflutungslandschaften mit Galeriewäldern. In sich der Fuß – währenddessen sich der Körper wei-
den seichten Lagunen herrschte vermutlich ein rei- terbewegt – und schließlich stoßen die Endglieder
5
ches Nahrungsangebot an aquatischen Tieren, des- des ersten und zweiten Zehs den Fuß vom Boden
sen Erbeutung das Waten im Wasser bei aufrechtem ab. Das Bein schwebt jetzt über dem Boden und 6
Gang begünstigt habe. tritt in die Schwungphase ein, während Knie- und
Auf alle Fälle war wohl die Verhaltensanpas- Hüftgelenk gebeugt sind. Das Bein schwingt nach 7
sungsfähigkeit angesichts der sich häufig ändern- vorn, streckt sich wieder und die nächste Stand-
den Umweltveränderungen ein positiver Selekti- phase kann beginnen. Wenn Schimpansen biped
onsfaktor. Der bipede Gang eröffnete zunehmend gehen, bleiben Knie- und Hüftgelenk auch in der 8
die Möglichkeit, schnell neue Lebensräume kennen- Standphase gebeugt, und der Fuß ist viel weniger
zulernen, sich mit neuen Feinden auseinanderzu- nach dorsal gestreckt, wenn der Hacken am Boden 9
setzen und neue Strategien des Nahrungserwerbs aufsetzt.
zu entwickeln. Natürlich war der Übergang vom Eine Besonderheit des Menschen ist, dass er zu
Leben auf den Bäumen zum Leben am Boden gra- kurzen schnellen „Sprints“ fähig ist; dabei setzt er
10
duell. Eine gewisse Prädisposition, auch am Boden den Fuß nur mit dem Ballen auf und erreicht Ge-
leben und so spezielle Ressourcen nutzen zu kön- schwindigkeiten bis ca. 45 km/h. 11
nen, ist bei vielen Primaten zu beobachten. Paviane Besonders tiefgreifende Anpassungen an den
und viele Makaken leben überwiegend am Boden, bipeden Gang weisen Becken und untere Extremi- 12
auch Schimpansen, Gorillas und viele andere Pri- täten auf. Die Umgestaltung dieser anatomischen
maten, auch Halbaffen wie die Lemuren, können Strukturen zielen darauf ab, den aufgerichteten
sich lange Zeit am Boden aufhalten. Dabei können Rumpf und den Kopf beim Gehen, Laufen und auch 13
solche Primaten auch aufrecht sitzen, stehen und beim Stehen in dynamischer Balance zu halten. Da-
sogar aufrecht gehen, meist laufen sie aber auf al- bei soll besonders die Hin- und Herverlagerung des 14
len Vieren. Nicht immer spiegelt der Skelettbau alle Rumpfes nach lateral minimiert werden, so dass der
funktionellen Möglichkeiten wider. Schwerpunkt über dem Standbein bleibt und der
Wahrscheinlich war es nicht ein Aspekt allein, muskuläre Energieverbrauch in Grenzen gehalten
15
der den Wechsel in der Körperhaltung bedingte, werden kann.
sondern eine ganze Reihe von Faktoren bewirkte Becken. Die Darmbeinschaufeln sind breit und 16
in Kombination den aufrechten bipeden Gang, der relativ flach, das Sitzbein weist nach hinten unten,
in evolutionärer Hinsicht letztlich sehr erfolgreich das Kreuzbein (Sacrum) ist breit. All dies erleichtert 17
war und ist. die Unterstützung des aufrechten Rumpfes, bringt
Biologisch interessant ist, dass Bipedie auch bei dessen Schwerpunkt in die Nähe der Hüftgelenke
anderen Tiergruppen entstanden ist, wenn auch und ermöglicht die laterale Platzierung der kleine- 18
im Detail nicht zu vergleichen mit der Bipedie des ren Glutealmuskeln am Becken. Letzteres ist wich-
Menschen, z. B. bei Vögeln, einigen Sauriern und tig, da die Kontraktion dieser Muskeln den Rumpf 19
bei Kängurus. beim Gehen jeweils an das Bein zieht, das mit dem
Der Gang des Menschen läuft zyklisch mit dem Boden in Berührung ist, so dass der Körper in sta-
regelmäßigen Wechsel von Stand- und Schwung- biler Balance bleibt.
20
446 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

Linkes und rechtes Darmbein (Os ilium), wel- laterale ist, was wiederum zur Folge hat, dass die
che jederseits eine breite Schaufel bilden, sind mit Ebene der Kniegelenke horizontal verläuft. Die
der Sakralwirbelsäule fest verbunden. Formal ist Krümmung der Kondylen hat einen spiraligen Ver-
diese Verbindung ein Gelenk, aber ein Gelenk, das lauf, mit relativ breiter Auflagefläche beim Stehen.
kaum eine Bewegung zulässt und relativ fest mit der Kniegelenk. Auch das Kniegelenk zeigt beim
Sakralwirbelsäule verbunden ist (lIiosakralgelenk), Menschen mehrere Merkmale, die mit einem si-
es kann Sprünge hinreichend abfedern. cheren aufrechten Gang korreliert sind. Es ist das
Die Hüftgelenkpfanne, das Acetabulum, des größte Gelenk des Körpers und wird nicht nur
Menschen ist groß und tief und bietet dem großen durch eine kräftige Kapsel und laterale Bänder,
Femurkopf ein stabiles Widerlager. Hüft-, Knie- und sondern auch durch die eigenartigen Kreuzbänder
oberes Sprunggelenk liegen auf einer Linie. Dies ist gesichert, die primär auch Bänder der Gelenkkapsel
auch eine Anpassung an das zunehmende Körper- sind. Sie stabilisieren das Kniegelenk und verhin-
gewicht, das bei der Fortbewegung Hüft-, Knie- und dern ein Abgleiten der Femurkondylen vom Kopf
Sprunggelenk belastet. der Tibia. Dazu kommen die kräftigen halbmond-
Beine. Die Beine als Fortbewegungsorgane sind förmigen Menisken, die sich am Tragen der Last des
beim Menschen deutlich länger als die Arme, wobei Rumpfes beteiligen.
interessant ist, dass die Arme beim Kleinkind noch Das Kniegelenk des Menschen wird auch „Val-
relativ lang, die Beine jedoch relativ kurz sind, was gus-Knie“ genannt. Dies beruht darauf, dass der
an die Verhältnisse bei den großen Menschenaffen Femurschaft schräg einwärts verläuft und die Ti-
erinnert, bei denen die Arme relativ länger und die bia dann senkrecht nach unten (s. oben). Bei den
Beine relativ kürzer sind, was beim Orang-Utan am Menschenaffen liegt ein „Varus-Knie“ vor, so dass
stärksten ausgeprägt ist. Beine und Füße ermöglichen die untere Extremität insgesamt leicht nach außen
nicht nur bipedes Gehen und Laufen, sondern auch gebogen ist. In der Medizin werden nur pathologi-
Sprünge (bis 9 m) und Schwimmen sowie Tauchen. sche Stellungen des Knies mit Varus (O-Bein) und
Femur. Das menschliche Femur besitzt eine ei- Valgus (X-Bein) bezeichnet. Diese nicht seltenen
genartige Form. Sein Kopf ist groß und sitzt tief in Fehlstellungen deuten wie die oben genannten Dys-
seiner Gelenkpfanne, was dazu beiträgt, dem auf- plasien des Hüftgelenks (und des Fußes, s. unten)
rechten Gang Stabilität zu verleihen. Der Hals des auf ein junges phylogenetisches Alter.
Femurs ist relativ lang, er bildet mit dem Femur- Oberes Sprunggelenk. Auch das obere Sprung-
schaft einen Winkel von 127°. Bei Kleinkind (und gelenk ist an sicheres bipedes Gehen angepasst, die
beim Schimpansen) ist dieser Winkel kleiner. Auf Gelenkachse des Talus ist senkrecht zur Längsachse
ein relativ junges evolutionäres Alter der jetzigen der Tibia angeordnet. Dadurch wird das Körperge-
Verhältnisse des beim Menschen besonders belaste- wicht besonders effektiv auf den Fuß übertragen.
ten Hüftgelenks und Femurhalses deuten die nicht Die Fibula beteiligt sich nicht am Kniegelenk, ist
selten angeborenen Fehlbildungen des Hüftgelenks aber für die Führung des oberen Sprunggelenks
(Hüftgelenksdysplasie) und pathologische Winkel wichtig (Außenknöchel).
zwischen Femurhals und Femurschaft. Der Femur- Fuß. Der Fuß des heutigen Menschen ist in be-
schaft verläuft ab dem Trochanter major schräg sonders hohem Maß an die Bedürfnisse des bipeden
nach einwärts. Die Schaftachsen von Femur und Ganges angepasst. Bei den Menschenaffen ist er zu
Tibia bilden einen nach außen offenen Winkel von einem erheblichen Teil noch ein Greiforgan mit ab-
ca. 175° (Femur-Tibial-Winkel). Diese Form des spreizbarem ersten Zeh. Beim Menschen hat er eine
Femurs bildet sich rasch im Laufe der frühen Kind- flexible lang ovale Form und treibt die Fortbewe-
heit aus. Das hat zur Folge, dass die Kniegelenke gung an. Dem dienen viele nur beim Menschen vor-
viel näher an der Mittellinie liegen als die Hüftge- kommende anatomische Anpassungen: der große
lenke. Dadurch werden laterale Verlagerungen des Zeh rückt in eine Reihe mit den übrigen Zehen, alle
Körpergewichts beim Gehen verhindert. Verbunden Zehen sind relativ kurz und gerade, der Tarsus (die
mit dem schräg einwärts verlaufenden Femurschaft Fußwurzel) ist länger als bei nicht-humanen Prima-
ist, dass der mediale Femurkondylus größer als der ten mit recht langem Tuber calcanei (Hacken), ein
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 447

ausgeprägtes Längsgewölbe des Fußes, das durch Ferne zu blicken, was ihm vor allem am Boden ent-
ein komplexes System aus plantaren Ligamenten, scheidende Vorteile verschafft. Auffällig ist der beim 1
Sehnen und Muskeln gesichert ist, zusätzlich exis- heutigen Menschen stark ausgeprägte und seitlich-
tiert ein Quergewölbe des Fußes. unten am Kopf gelegene Knochenfortsatz, der Pro- 2
Wichtig für die Entstehung des Längsgewölbes cessus mastoideus, mit dem daran ansetzenden
ist, dass das Fersenbein (Calcaneus) eine Schrägstel- Musculus sternocleidomastoideus, der einerseits
lung einnimmt und nur mit seinem Endpunkt (dem den Kopf mithält, aber auch für seine Beweglich- 3
Hacken) am Boden aufsetzt. keit sorgt. Der Processus mastoideus ist bei Prima-
Das Längsgewölbe ist bei den großen Men- ten und auch bei frühen fossilen Menschenarten 4
schenaffen kaum angedeutet, der Mittelfuß trägt bei weitem nicht so ausgeprägt wie beim heutigen
bei ihnen das Körpergewicht unter Beteiligung ei- Menschen.
nes kräftigen Fortsatzes des Os naviculare (Kahn- Wirbelsäule. Die Verlagerung des Foramen ma-
5
bein). Die Konstruktion des Fußes des Menschen gnum nach vorn spiegelt die im Prinzip vertikale
macht ihn auch zu einem Stoßdämpfer, z. B. beim Ausrichtung, speziell die doppelt S-förmige Gestalt 6
Springen, und hält ihn während der Gewichtsüber- der Wirbelsäule wider. Die Lendenwirbelsäule des
tragung auf den Boden stabil. Menschen ist relativ lang, sie besteht aus fünf Len- 7
Dass die Struktur des menschlichen Fußes jün- denwirbeln, beim Orang-Utan aus vier und bei Pan
geren Datums ist, zeigen häufige Fehlbildungen, und Gorilla aus drei bis vier. Beim Menschen weist
z. B. Senk- und Knickfuß. In manchen Kulturen die Wirbelsäule am Übergang von der Lenden- zur 8
und Subkulturen findet übrigens die Längswölbung Sakralwirbelsäule einen auffallenden, nach hinten
besondere Beachtung und wird durch Schuhmode (dorsal) gerichteten Knick auf, wodurch das Pro- 9
künstlich noch mehr hervorgehoben. montorium der Wirbelsäule entsteht. Auch bei nicht
Unter den großen Menschenaffen ist es der humanen Primaten existiert so ein nach dorsal ge-
Gorilla, dessen Fußskelett am ehesten mit dem des richteter Knick, er ist aber viel geringer als beim
10
Menschen zu vergleichen ist. Menschen. Beim Menschen entwickelt sich das sehr
Die Analyse des Fußskelettes der fossilen Aus- prominente Promontorium erst im Laufe der Kind- 11
tralopithecinen und der fossilen Menschenformen heit. Bei Pongo, Pan und Gorilla beträgt der nach
hat neben dem generellen Trend von fakultativer dorsal gerichtete Winkel zwischen Lenden- und Sa- 12
zu obligater Bipedie im Detail ergeben, dass wahr- kralwirbelsäule ca. 30–35°, beim erwachsenen Men-
scheinlich eine gewisse Diversität der Bipedie oder schen 60–64°, beim Neugeborenen nur 20° (Schultz
der Fortbewegungsweise existiert hat. Solcherlei 1969). Hier wiederholt wahrscheinlich die individu- 13
Feinanpassungen sind bei nahe verwandten Arten elle Entwicklung die phylogenetische Entwicklung.
nicht selten, ein Beispiel bietet die unterschiedliche Die Sakralwirbelsäule des Menschen ist rela- 14
Körperhaltung bei näher verwandten Singvögeln, tiv groß und besonders fest mit dem Beckengürtel
z. B. den Steinschmätzern und Meisen. verbunden. Ihre fünf Wirbel sind miteinander ver-
Kopf. Auch im Bereich des menschlichen Kopfes wachsen. Das spezialisierte Promontorium mit der
15
mit seinen wichtigen Fernsinnesorganen ist es zu scharf nach dorsal gerichteten Sakralwirbelsäule ist
ganz speziellen Veränderungen gekommen. Das eine mit Risiken behaftete mechanische Konstruk- 16
Foramen magnum, das den Übergang vom Gehirn tion, da das Gewicht, das auf den Lendenwirbeln
zum Rückenmark markiert, liegt beim normalen ruht, nicht geradlinig auf das Sakrum übertragen 17
Säugetier auf der Hinterseite des Schädels, beim wird. Dadurch können der letzte der fünf Lenden-
Menschen ist es auf die Unterseite gewandert. Der wirbel und speziell die Bandscheibe zwischen dem
Kopf wird zwar von der Halswirbelsäule getragen, fünften Lendenwirbel und dem ersten Sakralwirbel 18
aber im Vergleich zu anderen Säugetieren ist die sich nach vorn verlagern: Bandscheibenvorfall. Das
Muskulatur relativ schwach ausgeprägt, was aber wurde so gut wie nie bei den großen Menschenaf- 19
wiederum die hohe Beweglichkeit des menschlichen fen beobachtet, kommt aber beim Menschen nicht
Kopfes bewirkt. Damit ist der Mensch zusammen selten vor und wurde in der Vergangenheit beson-
mit dem aufrechten Gang in der Lage, weit in die ders häufig bei Eskimos beobachtet, die besonders
20
448 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

schweren körperlichen Belastungen ausgesetzt trägt. Die Hände und speziell die Finger beteiligen
waren. Die relative Instabilität der Wirbelsäule im sich an wesentlichen Ausdrucksbewegungen, z. B.
Bereich des Promontoriums deutet auf ein ver- Beten oder Drohen und können Sprache und Ge-
gleichsweise junges phylogenetisches Alter hin. sang Nachdruck verleihen. Die Tastfunktion beruht
Begünstigend für solche Vorfälle wirken natürlich auf einem hoch entwickelten Sinnesapparat in den
Übergewicht und auch die Größen- und Gewichts- Fingerbeeren der Endphalangen. Hiermit kann die
zunahme der Menschen der letzten 100 Jahre. dreidimensionale Form von Gegenständen erfasst
Obere Extremität, Hand. Die oberen Extremi- werden (stereognostische Fähigkeiten), was bis hin
täten stehen beim Menschen vor allem im Dienste zum Erfassen der Blindenschrift eingesetzt werden
des Greifens, Haltens und Tastens. Ausgeführt wer- kann. Im Großhirn sind die motorischen und die
den diese Funktionen von der Hand, es beteiligen sensiblen Funktionen der Finger in einem sehr gro-
sich daran aber auch Unter- und Oberarm sowie ßen Bereich repräsentiert.
der Schultergürtel. Der sehr bewegliche Schulter- Körpergewicht. Das Körpergewicht eines Er-
bereich schafft einen sehr großen „Verkehrsraum“, wachsenen beträgt im Allgemeinen um 70 kg, in
der für die vielen Tätigkeiten der Hand erforderlich heutigen westlichen Gesellschaften oft deutlich
ist. Die Hand des Menschen ist im Vergleich mit der mehr. Die durchschnittliche Körpergröße schwankt
der großen Menschenaffen relativ kurz (. Abb. 5.2), zwischen 142 cm (Pygmäen) und 190 cm (manche
wobei der Daumen aber verhältnismäßig lang ist. Niloten im südlichen Sudan). Der Geschlechtsun-
Unmittelbar verantwortlich für Greifen und Tasten terschied hinsichtlich Körpergröße ist beim Men-
sind die Finger, die funktionell zwei Gruppen bil- schen und Schimpansen sehr viel geringer als bei
den: a) den Daumen (I) und b) die restlichen Fin- Gorilla und Orang-Utan.
ger (lI–V). Beim Greifen nimmt der Daumen (er ist Haut. Die Haut des Menschen ist bis auf we-
größer und kräftiger als bei den großen Menschen- nige Regionen (Kopf) nur spärlich behaart, wobei
affen) meistens eine Oppositionsstellung gegen die die Haare an Extremitäten und am Rumpf sehr
übrigen Finger ein. Seine Opponierbarkeit beruht kurz sind. Die Haut enthält Schweiß-, Duft-, und
auf dem Gelenk seines Metacarpale (des ersten Mit- Talgdrüsen. Die Zahl der Schweißdrüsen ist hoch
telhandknochens) mit dem Os trapezium (einem (2–4 Mio.), am höchsten ist sie an den Fußsohlen
Handwurzelknochen, liegt radial in der distalen (ca. 600/cm²). Ihre Hauptfunktion ist die Wärme-
Reihe dieser Knochen). Dieses Gelenk wird Dau- regulierung durch Verdunstung des Schweißes; au-
mensattelgelenk (s. unten) genannt und ermöglicht ßerdem hat der Schweiß Schutzfunktion: er ist leicht
die verschiedenen Griffformen, die die Hand zu sauer und enthält antimikrobielle Substanzen. Auch
einem einzigartigen „Werkzeug“ macht: Spitzgriff die Milchdrüsen sind Hautdrüsen; eine Besonder-
(Kuppen von Daumen und Zeigefinger berühren heit ist, dass bei Frauen große Brüste permanente
sich), Schlüsselgriff (die Kuppe des Daumens liegt Strukturen sind, was auf eine Signalfunktion hin-
der radialen Seite der [meist] zweiten Phalanx des deutet.
zweiten Fingers an), Schreibgriff (hierbei arbeiten Duftdrüsen sind auf wenige Körperregionen
die Kuppen von Daumen und Zeigefinger sowie die beschränkt, z. B. auf die Achselhöhle, die Genital-
radiale Seite der zweiten oder ersten Phalanx des region, die Afterregion, Augenlider und den Hof
Mittelfingers zusammen), tridigitaler Fingerbeer- der Brustwarzen. Ihre Produkte, Pheromone, ha-
engriff, Grob(=Breit)-griff (dazu gehören die penta- ben eine Funktion im Rahmen sozialer Interaktio-
und tetradigitalen Kraftgriffe). Diese Griffformen nen. Die Talgdrüsen sondern Lipide ab, die auf der
erlauben zahlreiche Tätigkeiten bis hin zum Spielen Hautoberfläche einen schützenden Film bilden.
eines Musikinstruments. Das Zusammenspiel der Die Subcutis enthält im Allgemeinen viel Fett-
zwei sattelförmigen Gelenkflächen – die konvexe gewebe, insbesondere in Wohlstandsgesellschaften.
Seite der einen passt in die konkave der anderen, Das Fettgewebe ist überwiegend ein Speicher für
und umgekehrt – erlaubt, z. T. unter Aufgabe der Energie und ein Wärmeisolator, seine Menge variiert
engen Gelenkführung, besonders vielfältige Bewe- mit dem Ernährungszustand, seine Verteilung ist bei
gungen, wozu auch die Weite der Gelenkkapsel bei- den Geschlechtern unterschiedlich. An manchen
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 449

Stellen erfüllt es zusammen mit Bindegewebe struk- dem der Affen, jedoch ist die gewaltige Zunahme
turelle Aufgaben („Baufett“), z. B. an der Fußsohle. des Volumens der Großhirnrinde und der mit ihr 1
Schwangerschaft. Die Schwangerschaft beträgt in Beziehung stehenden anderen Hirnstrukturen
275–281 Tage, das Geburtsgewicht ist mit ca. 3 kg einmalig. Außerdem sind in der Großhirnrinde 2
recht hoch – beim Gorilla liegt es bei nur 1 kg. Die des Menschen Nervenzell- und Synapsendichte sehr
Geburt birgt für jede Mutter Gefahren in sich. Vor hoch und die Komplexität der Verbindungen ist un-
Entwicklungen der modernen Medizin starben überschaubar groß. Das spezifisch Menschliche in 3
recht viele Mütter bei der Geburt, was für Men- Bezug auf das Gehirn scheint also im Quantitativen
schenaffen kaum zutrifft. Unter „normalen“ Bedin- und in der extremen Komplexität zu liegen. Unser 4
gungen hat eine Frau alle 2–4 Jahre ein Kind, ein Gehirn enthält ca. 100 Mrd. Neurone, viele Millio-
Orang-Utan Weibchen alle 7–9 Jahre, eine Schim- nen Kilometer Axone und Dendriten sowie > 1015
pansin alle 4–7 Jahre (Schaik 2004). Die Menopause, Synapsen.
5
die letzte Regelblutung, befreit die Frau von diesen Das Gehirn ist primär das Organ, das uns Tag
Gefährdungen. Das relativ abrupte Ende der Fort- für Tag hilft zu überleben. Es passt z. B. Atmung 6
pflanzungsperiode und der lange postmenopausale und Kreislauf an die jeweiligen Bedürfnisse an. Es
Lebensabschnitt der Frau sind typisch für den Men- erkennt Gefahren; es steuert weite Teile des endo- 7
schen und versetzen Frauen in die Lage, Töchtern krinen Systems; es steuert Hunger und Nahrungs-
oder Geschwistern bei Aufzucht und Erziehung von aufnahme; es ermöglicht Orientierung und Sozial-
deren Kindern zu helfen oder besondere Aufgaben verhalten usw. 8
in der Gesellschaft zu erfüllen; all dies stellt auch Es ist Sitz der Kognition, es erkennt, bewertet
aus evolutionsbiologischer Sicht einen Vorteil dar. und veranlasst Handlungen. 9
Vergleichbares gibt es bei Elefanten, bei denen sogar Dann ist es Sitz des Bewusstseins, und das
die Gruppe regelmäßig von einem alten Weibchen wurde lange Zeit als besonderes Kennzeichen des
geführt wird (Matriarchat). Typisch für den Men- Menschen angesehen; aber auch wenn es spezifisch
10
schen ist, dass Kinder gemeinschaftlich aufgezogen menschliche Formen des Bewusstseins geben mag,
werden, und das über eine sehr lange Zeit. so ist es naheliegend, davon auszugehen, dass sich 11
Lebensalter. Kennzeichnend für den modernen diese im Rahmen eines Evolutionsprozesses heraus-
Menschen ist, dass er recht alt wird. Es wird vermu- gebildet haben. Es gibt keinen Grund, einem Schim- 12
tet, dass diese Verlängerung des Lebens erst vor ca. pansen kein Bewusstsein zuzuschreiben angesichts
40.000–50.000 Jahren einsetzte. Cro-Magnon-Men- einer DNA-Sequenzübereinstimmung von fast 99 %,
schen (Jungpaläolithiker) wurden wahrscheinlich einer großen Ähnlichkeit hinsichtlich des Sozialver- 13
bis zu 60 Jahre alt, wohingegen Neandertaler kaum haltens sowie hinsichtlich des makroskopisch und
älter als 40 wurden. Vor allem verbesserte Lebens- mikroskopisch sehr ähnlich gebauten Gehirns. Es ist 14
bedingungen durch den kulturellen Aufstieg waren unwahrscheinlich, dass Geist und Bewusstsein ein-
wohl die Ursache für das höhere Lebensalter. Alte fach „vom Himmel“ gefallen sind. Man kann davon
waren primär aufgrund ihrer Erfahrungen geachtet, ausgehen, dass sich Bewusstsein in verschiedenen
15
und es war vorteilhaft, Alte in der Gemeinschaft zu Ausprägungen im Laufe der Evolution der Wirbel-
haben. In jeder Gesellschaft sind natürlich soziale tiere und, für uns besonders interessant, im Laufe 16
und andere Lebenserfahrungen vieler älterer und der Primatenevolution entwickelt hat. Die „evoluti-
alter Menschen wesentlich und wertvoll. onäre Psychologie“ (EP) hat viele interessante Ein- 17
sichten zur Entwicklung unseres Sozialverhaltens,
Gehirn unserer Essgewohnheiten u.v. a. erarbeitet.
Das am schwersten zu verstehende Organ des Das Gehirngewicht schwankt üblicherweise 18
Menschen ist sein Gehirn. Es hat sich in gut 2 Mio. ungefähr zwischen 1250 und 1350 g (Extrema sind
Jahren stürmisch entwickelt und um das Vierfache 1000 und 2000 g). Es besteht innerhalb der nor- 19
vergrößert. Es ist die u. a. Basis aller höheren kogni- malen Variationsbreite keine Beziehung zwischen
tiven Leistungen. Das Gehirn des Menschen unter- Hirngewicht und Intelligenz. Das Hirngewicht
scheidet sich zwar in der Grundstruktur nicht von der Männer liegt im Durchschnitt bei 1350 g, das
20
450 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

der Frauen bei 1250 g und macht somit ca. 2 % des Volumen von 550–600 cm3 größer als das ganze
Körpergewichts (Normalgewicht) aus; das Gehirn Gehirn eines Schimpansen ist. Vermutlich ist diese
beansprucht jedoch ca. 20 % des Energie-Grundum- einzigartige Entfaltung sogar noch nicht einmal ab-
satzes. Im Gehirn wird ein gutes Drittel aller Gene geschlossen. Über den Selektionsdruck, der diese
exprimiert. ungewöhnliche Hirnentwicklung begünstigt hat,
Während der Ontogenese des Menschen erfährt wissen wir nichts Sicheres. Interessant sind aber
sein Gehirn einen sehr eindrucksvollen Größen- Spekulationen, die einen Zusammenhang zwischen
und Gewichtszuwachs. Bei der Geburt wiegt es ca. Hirnentwicklung einerseits sowie Komplexität des
350–400 g, im Alter von 5 Jahren ca. 1200 bis 1300 g; Sozial- und kommunikativen Verhaltens anderer-
zu diesem Zeitpunkt hat es ungefähr 90 % des End- seits postulieren. Die zahlreichen kommunikati-
gewichts, wie es bei jungen Erwachsenen vorliegt, ven Signale erstrecken sich auf den Zusammenhalt
erreicht. Das nachgeburtliche Wachstum des Ge- der Gruppe (kohäsive soziale Signale) und auf den
hirns beruht im Wesentlichen auf der zunehmenden Wettstreit der Gruppenmitglieder untereinander
Verzweigung, Myelinisierung und Verknüpfung der (agonistische soziale Signale). Meier und Ploog
Nervenzellfortsätze und auf Vermehrung der Glia. (1997) weisen darauf hin, dass es eine obere Grenze
In den ersten Lebensjahren entwickelt sich parallel der Gruppengröße gibt, die offenbar auch mit der
zu Hirnwachstum und -differenzierung auch das Informationsverarbeitungskapazität der betreffen-
unglaublich komplexe und an Varianten besonders den Art zusammenhängt. Diese Kapazität hängt von
reiche Verhalten des Menschen mit allen seinen der Größe der Großhirnrinde ab, die diese Verarbei-
Komponenten. Ab dem 50. Lebensjahr tritt eine tung leistet. Mit steigender Größe einer Gruppe, in
geringe (ca. 3 %) Abnahme des Hirnvolumens mit der jeder jeden kennt, nimmt die Zahl kohärenter
wahrscheinlich nur relativ geringem Rückgang der und agonistischer Verhaltensweisen zu, und dem-
Neuronenzahl ein. Die Abnahme des Hirnvolumens entsprechend muss eine immer größer werdende
beim biologischen Altern beruht möglicherweise Zahl von Signalen verarbeitet und ausgesendet
auf einem Rückgang der Zahl der synaptischen Ver- werden, um ein soziales Gleichgewicht zu erhalten.
knüpfungen, unterschiedlichen biochemischen Ver- Auch auf den Menschen lässt sich diese Regel über-
änderungen, mehr oder weniger stark ausgeprägten tragen, und auch bei ihm lässt sich eine Korrelation
Durchblutungsstörungen und weiteren, noch wenig zwischen der Komplexität der sozialen Organisa-
verstandenen Prozessen. Das Ausmaß und der Be- tion und der Größe der Großhirnrinde erkennen.
ginn solcher Altersveränderungen schwankt indi- Beim Menschen liegt die natürliche Gruppengröße
viduell sehr stark. wohl bei ca. 150 (100–200), beim Gorilla bei 30–35,
Da das Hirnvolumen bzw. -gewicht bei Fossil- beim Schimpansen bei maximal 50–60 Individuen.
formen in der Regel nicht bestimmt werden kann, Die gestiegene kognitiv-soziale Kompetenz wurde
wird bei diesen das Volumen des Schädelbinnen- dann wahrscheinlich auf den technisch machbaren
raums gemessen (Schädelkapazität). Die Messung Bereich übertragen, was zu enormer Steigerung
der Schädelkapazität ergibt einen höheren Wert als der technisch-kulturellen Leistungen führt (Vogel
die Bestimmung des Hirnvolumens, da das Gehirn 1989).
von Hirnhäuten mit dem unterschiedlich weiten Die Oberfläche der Großhirnrinde des Men-
Subarachnoidalraum und Gefäßen bzw. Sinus um- schen beträgt ca. 2,2–2,5 m2, was dadurch erreicht
geben wird. Im Allgemeinen ist das Hirnvolumen wird, dass sie in ca. 7 mm breite rundliche Wülste
um ca. 5 % kleiner als das Schädelvolumen. (Gyri) aufgeworfen wird, die durch schmale Fur-
Die progressive Entwicklung des Gehirns wird chen (Sulci) getrennt sind. Die Rindendicke beträgt
auch Encephalisation genannt. Als Maß für sie wird im Allgemeinen 4–5 mm.
das Verhältnis von Großhirnrindenvolumen zum In der Rinde (Cortex) des Großhirns ist – bei
Volumen des restlichen Gehirns bestimmt. Auf erheblicher individueller Variabilität – die unglaub-
das Gehirn des Menschen angewendet ergibt sich, lich große Zahl von ca. 20 Mrd. Nerven- und ähn-
dass seine Großhirnrinde um 30 % größer ist als lich vielen Gliazellen untergebracht. Jedes Neuron
die irgendeines anderen Primaten und mit einem kann 1000 und mehr Verknüpfungen eingehen.
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 451

Die Nervenzellen (Neurone) lassen sowohl eine aber dennoch eine Rolle spielen, sondern fünf große

--
Anordnung in sechs ganz überwiegend horizontale neuronale Netzwerke: 1
(oberflächenparallele) Schichten (I–VI) als auch in das perisylvische Netzwerk der Sprache,
vertikale Zellsäulen (Columnen, Module) erkennen. das parieto-frontale Netzwerk für Orientierung 2
-
Eingänge in diesen Cortex enden vorwiegend in im Raum, sowie für räumliche Erkenntnis,
Schicht IV, Ausgänge entspringen den Pyramiden- das occipito-temporale Netzwerk für das Er-

-
zellen der Schichten III und V. Der Name Pyrami- kennen von Gesichtern und Gegenständen, 3
denzellen leitet sich von der Gestalt der Zellkörper das limbische Netzwerk, das eng mit dem

- 4
dieser Nervenzellen ab. Sie nehmen über unzählige Gedächtnis verknüpft ist,
Synapsen an ihren unterschiedlich weit in die Um- das präfrontale Netzwerk für Aufmerksamkeit,
gebung ausstrahlenden Dendriten Informationen emotionale Kontrolle und Verhalten.
aus verschiedenen Cortexschichten auf. Die verti-
5
kale Gliederung ist im visuellen und somatosen- Mit modernen bildgebenden Verfahren lassen sich
sorischen Cortex besonders deutlich erkennbar. In funktionell charakterisierbare Rindenareale sichtbar 6
einer Columne, die sich über die ganze Cortexdicke machen und damit auch medizinisch hinsichtlich
erstreckt, steht eine Gruppe von Nervenzellen im ihrer Aktivität beurteilen (. Abb. 5.10). Oft besteht 7
Dienst relativ spezifischer Informationsverarbeitung eine Korrelation mit den Brodmann-Arealen.
und bildet eine funktionelle Einheit. Zwischen be- Im Cortex lassen sich primäre und assoziative
nachbarten Columnen gibt es randlich einen Über- Felder unterscheiden. Die primären Felder haben 8
lappungsbereich. Eine bestimmte Information wird direkte sensorische Eingänge und direkte motori-
in vielen Säulen parallel verarbeitet, was einen ho- sche Ausgänge. Die assoziativen Felder verarbeiten 9
hen Grad an Funktionssicherheit bietet. Ein kleiner auf unterschiedlichen Ebenen die Informationen
Cortexdefekt kann so im Allgemeinen kompensiert der primären Felder. Beim Menschen machen die
werden. Ein solches System schließt strenge Lokali- primären Felder 10 % des Cortexvolumens aus, bei
10
sation von Funktionen nicht aus, relativiert sie aber. der Ratte 90 %. Das heißt, beim Menschen besitzt
Aufgrund seiner besonderen Cortexgröße liegt im der Cortex zu ca. 90 % assoziative Funktionen; von 11
Gehirn des Menschen eine unglaublich große Zahl diesem Assoziationscortex dient mehr als die Hälfte
Columnen bzw. Module vor. Größere funktionelle der Verarbeitung von Informationen, die die Augen 12
Einheiten der Großhirnrinde bilden Netzwerke, die liefern.
vermutlich hierarchisch strukturiert sind. Zu den höheren Funktionen des assoziativen
In seinem Grundaufbau ist der gesamte Cortex Cortex gehören beim Menschen neben intellektu- 13
überraschend einförmig. Die Spezifität einzelner ellen Leistungen auch die Fähigkeit, soziale Nor-
Cortexareale ergibt sich aus unterschiedlichen af- men zu erkennen und diese in Handlungen zu 14
ferenten und efferenten Verbindungen und aus Va- integrieren. Regionen mit solchen höheren Funk-
riationen im quantitativen Verhältnis der einzelnen tionen liegen im frontalen, parietalen und tempo-
Nervenzelltypen. Daher lassen sich histologisch ver- ralen Cortex. Die größte derartige Region ist beim
15
schiedene Rindenareale unterscheiden. Schon 1905 Menschen der – im Stirnbereich gelegene – frontale
hat der Berliner Neurologe Korbinian Brodmann Assoziationscortex, der auch „präfrontaler“ Cortex 16
aufgrund histologischer Kriterien den Cortex in ca. genannt wird. Läsionen in diesem Gebiet führen
45 Bezirke aufgeteilt. zu Verflachung der Persönlichkeit, Distanzlosigkeit, 17
Eine neuere Theorie unterscheidet in der Hirn- Verlust des sozialen und beruflichen Engagements
rinde primär nicht die ca. 45 Brodmann-Areale, die usw.
18
19
20
452 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.10 a–c.  Nachweis funktionell aktiver Areale in der Großhirnrinde des Menschen mit Hilfe der funktionellen Ma-
gnetresonanztomographie (fMRT). Dargestellt sind Areale, deren Differenzierung und Größe für Primaten typisch sind: die
Repräsentationsfelder für die visuelle Wahrnehmung im Occipitalbereich des Großhirns und die Felder für die Bewegung einzel-
ner Finger. Farbig: aktive Zonen, die durch besonders intensive Durchblutung gekennzeichnet sind. a 3D-MRT-Oberflächen-
Rekonstruktion des Gehirns, links mit dreidimensionaler Darstellung der Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci), rechts technisch
„geglättete“ Oberfläche, Gyri hell, Sulci dunkel. Markiert ist das Gebiet, in dem die Fingerbewegungen repräsentiert sind.
b Repräsentation der Finger in der frontalen Hirnrinde (D1: Daumen, D2: Zeigefinger, D3: Mittelfinger, D4: Ringfinger, D5: Kleiner
Finger); oben: Darstellung des gesamten Cortexareals, in dem jeweils ein bestimmter Finger repräsentiert ist; unten: Darstel-
lung des Areals, in der die funktionelle Dominanz eines Fingers lokalisiert ist – die Dominanzareale existieren wohlgeordnet
(Finger-Somatotopie) im Bereich des Gyrus praecentralis. c Region der visuellen Informationsverarbeitung im Occipitalbereich
des Großhirns. 1. Primäre (median) und assoziative (lateral) Sehrinde. 2–5 Retinotope Organisation der primären Sehrinde.
2. Corticale Repräsentation der fovealen Anteile des Gesichtsfelds. 3. Corticale Repräsentation peripherer Anteile des Gesichts-
felds. 4. Corticale Repräsentation der linken oberen Anteile der Retina (rechtes unteres Gesichtsfeld). 5. Corticale Repräsentation
der rechten oberen Anteile der Retina (linkes unteres Gesichtsfeld). Aufnahmen J. Frahm, Göttingen
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 453

5.4  
  EXKURS 5.4

Asymmetrie des Gehirns


1
Anlass zu Spekulationen und Forschung war immer
wieder die vor allem funktionelle Asymmetrie der
analysiert; erst danach, nach 400 ms, analysiert das
Gehirn die Semantik (die Inhalte); nach ca. 600 ms
2
beiden Hemisphären des Großhirns (Telencepha- erfolgt die Integration der zwei Schritte (Friederici
lons) des Menschen. Linke und rechte Hemisphäre 2011). 3
sind zwar hinsichtlich ihres Volumens annähernd Die rechte Hemisphäre ist überlegen bei der
gleich, aber in den Schwerpunkten ihrer Leistungen Verarbeitung von Emotionen und hinsichtlich 4
nicht gleichwertig. Vor allem das Sprachvermögen, Musikalität; diese so genannte nicht-dominante
aber auch Abstraktionsfähigkeit, Logik, Bewusstsein, Hemisphäre ist aber auch im Erfassen räumlicher
kritisches Unterscheidungsvermögen, rechnerische Muster und in synthetischen Fähigkeiten der do- 5
Fähigkeiten u. a. sind an die dominante Hemisphäre minanten Hemisphäre überlegen. In der rechten
gebunden, die bei den meisten Menschen die linke Hälfte des Großhirns wird die Satzmelodie (Pros- 6
ist. odie) erarbeitet. Diese betrifft die Betonung wich-
Die evolutionsbiologische Bedeutung dieser
funktionellen Asymmetrie ist noch unklar. Die He-
tiger Wörter und auch die Abgrenzung einzelner
Teile im Satz, analog der Kommas in der Schrift-
7
misphäre, in der die Regionen liegen, die Sprache sprache (Friederici 2011). Die Satzmelodie ist für
hervorbringen und verstehen, wird die dominante das Verständnis, auch versteckter Andeutungen, 8
Hemisphäre genannt. der Sprache außerordentlich wichtig. Das Phäno-
Am Zustandekommen der Sprache sind weite men der Dominanz sollte aber nicht überbewertet 9
Teile der Großhirnrinde und viele in der Tiefe gelege- werden, die jeweiligen Hauptfunktionen sind links
nen Kerngebiete beteiligt; eine besonders wichtige und rechts aufeinander bezogen und angewiesen.
Schaltstelle ist die Broca-Region, das motorische Die beiden Hemisphären sind ja auch über massive
10
Sprachzentrum, das Teil der unteren Frontalwin- Nervenfaserbündel, vor allem den Balken (enthält
dung ist und im Wesentlichen die Brodmann-Areale ca. 250 Mio Nervenfasern), miteinander verbunden. 11
44 und 45 umfasst. Bei Schädigung dieser Region in Bei Kindern kann nach Schädigung der sprachdo-
der dominanten Hemisphäre, also zumeist der lin-
ken, sind Menschen nicht mehr fähig, verständliche
minanten Hemisphäre die Hemisphärendominanz
noch wechseln und so können sie sich von Sprach-
12
Worte und Sätze mit korrekter Syntax und Gramma- störungen erholen; nach der Pubertät ist das nicht
tik zu bilden und auszusprechen (motorische Apha- mehr möglich. Die Suche nach funktionellen Asym- 13
sie), obwohl die Muskulatur, die an der Erzeugung metrien im Gehirn von Affen steht erst am Anfang
der Sprache beteiligte ist, intakt ist und sie verste- (siehe EXKURS 5.5). Die Händigkeit ist kein siche- 14
hen, was andere sagen. res Indiz für die Dominanz der Hemisphäre auf der
Dem Verständnis der Sprache dient das sensor­ Gegenseite. Beim Rechtshänder ist in 95 % der Fälle
ische Sprachzentrum, das Wernicke-Zentrum, das die linke Hemisphäre dominant. Beim Linkshänder
15
im hinteren Bereich des Gyrus temporalis superior kann es die rechte, aber auch die linke sein. Bei
liegt und das das sekundäre Hörfeld ist; hier wird einigen Linkshändern liegt Dominanz beider He- 16
also Gehörtes analysiert und verstanden. Bei einer misphären vor.
Läsion wird die gesprochene Sprache der Mitmen-
schen nicht verstanden (sensorische Aphasie), Men-
Zwischen beiden Hirnhälften besteht ein sehr
intensiver Informationsaustausch. Nach Durchtren-
17
schen sind daher nicht in der Lage, sich verständlich nung der Hauptverbindungsbahnen der zwei End-
zu äußern. Die Leistungen von Broca- und Wernicke- hirnhälften, die im Balken (Corpus callosum) gebün- 18
Areal werden wahrscheinlich im hinteren Bereich delt sind, kommt es aber zu keinen Veränderungen
des Temporallappens integriert. Interessant ist der der Persönlichkeit oder der Intelligenz. Erst beson- 19
zeitliche Ablauf der Sprachverarbeitung; in einem dere Testverfahren machen diesen Ausfall (split
ersten Schritt wird in ca. 120 ms die Syntax (Satzbau) brain) erkennbar. Eine Bewegung eines Arms kann
20
7
454 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.4 (Fortsetzung) 
nicht vom gegenseitigen Arm wiederholt werden, können nur noch mit der linken Netzhauthälfte le-
denn die eine Hirnhälfte wurde nicht darüber infor- sen. Dinge, die sie mit der rechten Hälfte der Netz-
miert, welche Impulse von der anderen ausgesandt haut wahrnehmen, können sie nicht beim Namen
wurden. Rechtshänder mit durchtrennten Balken nennen.

Auch unser Bewusstsein ist eine Funktion der reticularis, des limbischen Systems und anderer
Großhirnrinde. Unter dem Begriff Bewusstsein wer- Regionen erforderlich, sondern auch hohe lokale
den verschiedene Einzelphänomene von allgemeiner Durchblutung und Stoffwechselaktivität. Moderne
Wachheit über Realitätsbewusstsein, Aufmerksam- bildgebende Verfahren, wie die funktionelle Kern-
keit usw. bis hin zum Selbstbewusstsein zusammen- spintomographie (fMRT) und die Positronen-
gefasst. All die verschiedenen Bewusstseinsformen Emissions-Tomographie (PET), können Regionen
können bei Schädigungen des Gehirns unabhängig mit hohem lokalen Blutfluss, hohem Stoffwechsel
voneinander gestört sein. Bewusstsein ist einerseits und hoher neuronaler Aktivität sichtbar machen
an frontale, parietale und temporale Großhirnrin- (. Abb. 5.10a–c).
denregionen mit assoziativen Funktionen gebun- Wird das Gehirn mit einer neuen Aufgabe kon-
den, andererseits ist es abhängig von subcorticalen frontiert, z. B. dem Erlernen eines neuen Klavier-
Regionen in der Tiefe des Gehirns wie den meisten stücks, ist lokal die neuronale Aktivität erheblich
Teilen des limbischen Systems (z. B. Amygdala und erhöht, es entstehen sogar neue Netzwerke funk-
Hippocampus), Regionen der Basalganglien, Kernen tionell zusammenarbeitender Neurone, wobei es
im Thalamus und der Formatio reticularis, die sich zu neuen synaptischen Verknüpfungen, Protein-
vom ventralen Mittelhirn bis weit in die Medulla synthese und anderen Phänomenen kommt. Wird
oblongata erstreckt. In diesen Regionen spielen un- das Gehirn mit einer bekannten Aufgabe konfron-
terschiedliche Transmittersysteme, z. B. Serotonin, tiert, z. B. dem Erkennen des Gesichtes eines guten
Noradrenalin und Acetylcholin, eine entscheidende Freundes, dann wird ohne größeren Stoffwech-
Rolle. Der Hippocampus spielt eine wichtige Rolle selaufwand ein vorhandenes neuronales Netzwerk
in der Organisation des Gedächtnisses. Störungen aktiviert.
der genannten subcorticalen Regionen haben je- Besonders interessant ist die Entdeckung von
weils ganz unterschiedliche Auswirkungen: Zerstö- „Spiegelneuronen“ bei Affen und Mensch. Solche
rung der Formatio reticularis führt zu allgemeiner Nervenzellen werden nicht nur aktiv, wenn eine
Bewusstlosigkeit (Koma); Ausfälle in den anderen zugehörige Muskelgruppe des eigenen Körpers
Regionen haben mehr oder minder schwere Stö- aktiviert und eine entsprechende Bewegung aus-
rungen kognitiver und emotionaler Funktionen zur geführt wird, sondern auch dann, wenn ein Affe
Folge, z. B. Aufmerksamkeitsstörungen oder Unfä- oder Mensch eine gleichartige Bewegung bei einem
higkeit, die Folgen des eigenen Handelns abzusehen. anderen Affen oder Menschen nur sieht, ohne sie
Typischerweise ist sich ein entsprechender Patient selbst auszuführen. Beim Menschen liegen solche
solcher Defizite nicht bewusst. Neurone im Bereich des Broca-Areals, und sie wer-
Die Aktivität der subcorticalen Regionen – und den schon aktiv, wenn ein Mensch sich eine Bewe-
auch der primären und sekundären Cortexareale gung oder Handlung nur vorstellt. Es ist denkbar,
–, die also Voraussetzung für die Entstehung von dass hier ein zelluläres Phänomen entdeckt wurde,
Bewusstsein sind, wird uns selbst bemerkenswer- das es uns ermöglicht, dass wir uns in andere Men-
terweise nie bewusst. Auch die Prozesse im asso- schen hineinversetzen können. Menschen – und
ziativen Cortex werden uns nur unter bestimmten Affen – können dadurch auch rasch gemeinsam
Bedingungen bewusst. handeln. Verhaltenspsychologen sehen hier auch
Für die Entstehung des Bewusstseins sind nicht eine Basis der Sprachentwicklung des Menschen.
nur die Aktivierung des assoziativen Cortex durch Sprache (s. unten) hat danach primär einen sozialen
sensorische Einflüsse, die Tätigkeit der Formatio „Gebrauchscharakter“.
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 455

Inwieweit bei den Tierprimaten ein Bewusst- dass bei Kindern, Männern und Frauen persönliche
sein, so wie wir es empfinden, vorliegt, wissen wir Beziehungen und Erfahrungen sowie soziale Akti- 1
nicht sicher. Zudem müsste im Einzelfall der Be- vitäten, wie z. B. der Urlaub, im Vordergrund der
griff „Bewusstsein“ definiert werden. Es besteht aber miteinander geführten Gespräche stehen. Auch das 2
gar kein Grund, pauschal anzunehmen, dass Men- gern geübte Sprechen über nicht anwesende Dritte
schenaffen, andere Primaten, Säugetiere und Tiere hat eine soziale Funktion, indem es das soziale Wis-
generell kein Bewusstsein haben. Die Berichte über sen vermehrt, Klarheit über die eigene Position in der 3
langjähriges Zusammenleben und Kommunikation Gruppe schafft und zum eigenen erfolgreichen Han-
mit Schimpansen (Fouts 1997) sprechen eindeutig deln beiträgt. Miteinander sprechen ist auch die Basis 4
für ein Bewusstsein bei Schimpansen, das dem des für soziale Kompetenz. Man lernt durch Gespräche
Menschen vergleichbar ist. Interessant ist, dass die auch, sich in andere hineinzuversetzen bis zu einem
großen Menschenaffen sich selbst im Spiegel erken- Grad, der es einem ermöglicht, andere zu betrügen.
5
nen (wie der Mensch) und offenbar eine Vorstellung Betrügereien sind übrigens auch von Schimpansen
von sich selbst haben. und anderen Affen bekannt (Sommer 1994). 6
Die Evolution geistiger Leistungen und des Die Sprache ist für den Menschen derart wesent-
Bewusstseins ist wohl korreliert mit zunehmend lich, dass die Frage, was den Menschen von anderen 7
komplexen Handlungen, Vorstellungen, Planungen Spezies unterscheidet, oft nur mit dem Satz: es ist
und sozialen Interaktionen. Affen scheinen im All- seine Sprachfähigkeit (Friederici 2011) beantwortet
gemeinen nicht weit in die Zukunft zu planen. Ihre wird; und diese verständliche Antwort kommt nicht 8
Handlungsplanung reicht meistens wohl nicht über nur von Philosophen und Sozialwissenschaftlern.
wenige Stunden hinaus. Aber sowohl Freiland- als Als innere Sprache ist sie Voraussetzung für das 9
auch Zoobeobachtungen (Boesch 2009) zeigen, dass Denken, gesprochen ist sie wesentliche Grundlage
Schimpansen weit in die Zukunft planen können. der Kommunikation und als Schrift kann sie Infor-
Sie können z. B. verschieden gestaltete Grabwerk- mationen über Jahrtausende bewahren.
10
zeuge und Honiglöffel herstellen, die sie je nach den Wiewohl unbestritten ist, dass eine differen-
äußeren Bedingungen (z. B. harter Boden, weicher zierte Sprache in Wort und Schrift ein essenzielles 11
Boden) einsetzen, um Erdhöhlen stachelloser Bie- Merkmal des modernen Menschen ist, so weisen
nen zu finden. Sie können auch Holzknüppel ab- Primatologen (z. B. Sommer 2009) darauf hin, dass 12
legen und bei Bedarf wieder verwenden. Für uns bei der Sprache ebenso wie beim Begriff „Kultur“
– und im Prinzip auf ähnliche Weise für die Tierpri- vieles definitionsabhängig ist und dass grundsätz-
maten – ist das Bewusstsein überlebensnotwendig lich keine Grenze besteht, wenn man „Sprache“ in 13
in einer sich ständig wandelnden sozialen und bio- einem etwas weiteren Sinn versteht. Menschenaffen,
logischen Welt, die kurz- und langfristige Planung die von Menschen aufgezogen werden, können ler- 14
und ständiges Abschätzen der Situation, in der wir nen, die Sprache von Menschen zu verstehen; sie
uns befinden, erfordert. können sich außerdem z. B. über eine Zeichenspra-
che und Mimik verständlich machen. Meerkatzen
15
Sprache und Sprechapparat können mittels differenzierter Laute ihrer Gruppe
Angesichts des Zusammenhangs zwischen hoch mitteilen, ob Gefahr durch einen Leoparden oder 16
entwickelter Encephalisation und hochkomplexem einen Kampfadler droht.
Sozialverhalten liegt es nahe zu vermuten, dass die Sprache und Sprechen sind zweifelsohne auch 17
Sprache die begrenzten Möglichkeiten der nicht- in genetischer Hinsicht sehr komplexe Phänomene;
sprachlichen Kommunikation in ungeahntem eins der wenigen Gene, das eine sichere, wenn auch
Ausmaß erweitert und daher vor allem eine sozi- noch unbekannte Rolle bei der Sprachentwicklung 18
ale Funktion hat. Es liegt sicher eine Co-Evolution spielt, ist ein eigenes FOXP2-Gen. Dieses Gen ist
der Bereiche Gehirn – Bewusstsein – Sprache vor. bei Säugern weitverbreitet, sein Protein besitzt aber 19
Sprache enthält wie Gene Information. Die Evolu- beim Menschen zwei eigene Aminosäuresubstitu-
tion wird durch Sprache auf eine neue Stufe geho- tionen: Threonin wird durch Asparaginsäure und
ben. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, Arginin durch Serin ersetzt. Interessant ist, dass
20
456 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

auch der Neandertaler dieses besondere FOXP2- ventral vor die Speisewege verlegt werden. An der
Gen besaß (Krause et. al 2007a) Überkreuzungsstelle entsteht der Kehlkopf (La-
Im Gegensatz zu den meist angeborenen Verhal- rynx) primär als Sicherung der unteren Atemwege
tensmustern und Lauten in den Kommunikations- gegen das Eindringen von Nahrungsbestand-
systemen der Tiere besitzt der Mensch eine große teilen. Sekundär übernimmt der Kehlkopf die
Freiheit und einen breiten Spielraum der Lautzei- Funktion der Lauterzeugung. Der Kehlkopf des
chen, was Voraussetzung für die historische Ent- Menschen besteht aus Schild-, Ring- und Stell-
wicklung von Sprachen und deren große Vielfalt ist. knorpeln, die im Alter teilweise verknöchern. Ein
Man schätzt, dass es derzeit noch ca. 6000 Sprachen Bandapparat und eine komplizierte, vom Nervus
gibt, darunter ca. 1000 auf Neuguinea. Viele Spra- laryngeus superior und N. recurrens, Ästen des
chen in Amerika, Afrika und Asien wurden durch Nervus vagus, motorisch innervierte Muskulatur
die indogermanischen Sprachen der Kolonisatoren, verbindet die Skelettelemente. Für die Lauterzeu-
v. a. Spanisch, Portugiesisch, Französisch und Eng- gung ist die Ausbildung der zwei sagittal gestell-
lisch, verdrängt. Ein Vergleich von auf genetischer ten schwingungsfähigen Stimmfalten im Kehlkopf
Basis beruhenden chemischen Merkmalen in ver- wichtig. Sie enthalten das Stimmband aus über-
schiedenen Populationen heutiger Menschen ergab wiegend elastischen Fasern und den quergestreif-
z. T. erstaunliche Parallelen zu Befunden der ver- ten Stimmmuskel (Musculus vocalis). Sie werden
gleichenden Sprachforschung. Den Kaukasiern (Eu- durch die aus Bronchien und Trachea strömende
ropiden s. Abschn. 5.7) entsprechen beispielsweise Luft in Schwingungen versetzt und nähern sich
im Wesentlichen die indo-europäischen, aber auch einander bei der Stimmbildung.
afro-asiatische (Südwestasiaten, Berber, Äthiopier) Anatomisch-topographisch und mikrosko-
und dravidische (Südostinder) Sprachen. pisch-anatomisch bestehen zwischen dem Kehlkopf
Atem- und Speisewege zeigen bei Säugetier des Menschen und dem der Menschenaffen keine
und Mensch eigenartige anatomische Beziehun- großen und schon gar keine grundsätzlichen Unter-
gen zueinander. Die Atemwege beginnen mit Nase schiede. Im Vergleich zu dem hoch spezialisierten
und Nasenhöhle, die Speisewege mit Mund und Apparat aus Zungenbein und Kehlkopf z. B. von
Mundhöhle. Es kommt im Rachen zu einer Über- Brüllaffen, speziell bei männlichen Alouatta seni-
kreuzung, an der die tiefer gelegenen Atemwege culus, wirkt der Kehlkopf des Menschen bemerkens-
(Kehlkopf, Trachea, Bronchien) nach vorn bzw. wert unspezialisiert.

  EXKURS 5.5  

Sprache
Uwe Jürgens (Göttingen)

Sprache im engeren Sinn, d. h. ein erlerntes Kom- der Lage sind, das komplette Repertoire arteigener
munikationssystem, bei dem bestimmte Laute Laute zu produzieren. Die Laute müssen also nicht
oder Zeichen willkürlich mit bestimmten Bedeu- erst wie Wörter durch Anhören und Nachahmen er-
tungen belegt werden und zu längeren Aussagen lernt werden, sondern es besteht ein angeborenes
nach syntaktischen und grammatikalischen Regeln Wissen darüber, wie diese Laute zu klingen haben.
verbunden werden, existiert nur beim Menschen. Die Laute nicht-menschlicher Primaten sind darin
Zwar gibt es auch bei anderen Spezies Kommuni- den nicht-verbalen emotionalen Lautäußerungen
kationssysteme, diese sind jedoch im Gegensatz des Menschen wie Lachen, Weinen, Schreien, Stöh-
zu unserer Sprache stark genetisch determiniert. nen, Jauchzen, vergleichbar, die ebenfalls sowohl
So haben z. B. Kaspar-Hauser-Versuche an Toten- in ihrer Struktur als auch im auslösenden Kontext
kopfaffen gezeigt, dass Tiere, die niemals Gelegen- stark genetisch bestimmt sind.
heit hatten, arteigene Laute zu hören, trotzdem in
7
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 457

 EXKURS 5.5 (Fortsetzung) 
Es stellt sich die Frage, wann im Laufe der Stam- beim Schimpansen nur durch Bewegungen im 1
mesgeschichte Sprache entstanden ist, und über Mundbereich variieren, und das schränkt den
welche Zwischenstufen sich die Entwicklung von Umfang möglicher Laute ein. Wenn man die 2
Affenlauten zur gesprochenen Sprache, wie wir Schädelbasisprofile verschiedener Homininen mit
sie heute kennen, vollzogen hat. Aus der Tatsache, denen des Schimpansen einerseits und denen des
dass keine der dem Menschen am nächsten stehen- heutigen Menschen andererseits vergleicht, findet
3
den Arten, d. h. Schimpanse, Bonobo, Gorilla und man, dass ein Schädelprofil, das dem des rezenten
Orang-Utan, eine Sprache entwickelt hat, können Menschen entspricht, erst vor rund 300.000 Jahren, 4
wir schließen, dass Sprache erst nach der Abzwei- d. h. mit dem archaischen Homo sapiens, auftritt.
gung der Homininen von den Entwicklungslinien, Die Schädelfunde legen also den Schluss nahe,
5
die zu den heutigen Menschenaffen geführt haben, dass ein dem heutigen vergleichbarer Vokaltrakt
entstanden ist, d. h. jünger als 5 Mio. Jahre ist. Das erst vor etwa 300.000 Jahren entstand.
andere verlässliche Eckdatum, das wir zur Eingren- Zu 2): Wenn man sich die Hirngrößen der Ho- 6
zung der Entstehungszeit von Sprache besitzen, ist mininen der letzten gut 3 Mio. Jahre anschaut, so
das Auftreten von Schrift. Schrift setzt Sprache vo- findet man, dass sich die Hirngröße der Australopi- 7
raus. Die ältesten Schriftzeichen, die der Sumerer, thecinen (400–530 cm3) nicht signifikant von der
sind etwa 5000 Jahre alt. Sprache ist also mindes-
tens 5000, höchstens 5 Mio. Jahre alt. Wenn wir den
heutiger Menschenaffen unterscheidet. Erst mit
dem Auftreten von Homo habilis und Homo rudol-
8
Zeitraum der Entstehung weiter eingrenzen wollen, fensis vor 2–2,5 Mio. Jahren werden Werte (509–
sind wir auf indirekte Schlüsse angewiesen. Drei 752 cm3) erreicht, die leicht über denen der heuti- 9
Kriterien bieten sich hier an: gen Menschenaffen liegen. Bei der Nachfolgeart
1. Die Veränderung des Vokaltraktes im Laufe der Homo erectus bzw. Homo ergaster findet man ge- 10
Stammesgeschichte. genüber Homo habilis/rudolfensis ein wiederum
2. Die Entwicklung des Gehirns als Kontrollorgan etwas erhöhtes Hirnvolumen, das sich jedoch über
der Sprache. einen Zeitraum von 1 Mio. Jahren nur wenig ändert. 11
3. Die kulturelle Entwicklung innerhalb der Homi- Erst in der Spätphase von Homo erectus/heidelber-
ninen; d. h. man kann sich fragen, welche kul- gensis beginnt das Hirnvolumen dann exponentiell 12
turellen Leistungen der Frühmenschen Sprache zuzunehmen, bis es vor etwa 130.000 Jahren, d. h.
voraussetzte. bei der archaischen Form des Homo sapiens, das
heutige Volumen von im Durchschnitt etwa
13
Zu 1): Fossil sind vom Vokaltrakt nur Gaumen, 1300 cm3 erreicht.
Schädelbasis und Unterkiefer erhalten. Von einem Da einige größere Blutgefäße an der Hirnober- 14
einzigen Neandertalerskelett ist auch ein Zungen- fläche, die bestimmten Hirnfurchen folgen, sich
bein erhalten. Vom Kehlkopfskelett selbst und den als Abdruck auf der Schädelinnenseite von fossi- 15
Weichteilen des Vokaltraktes ist dagegen nichts len Schädeln erhalten haben, lässt sich das Win-
mehr erhalten. Vergleicht man einen rezenten dungsmuster für einige Homininenfunde teilweise
Menschen mit einem Schimpansen, dann fällt rekonstruieren. Vergleicht man das Windungsmus- 16
beim Schimpansen einerseits die starke Progna- ter zwischen rezentem Menschen und Schimpan-
thie (Schnauzenbildung) auf, anderseits der hohe sen in dem Bereich, der für die Sprachfunktion von 17
Sitz der Stimmritze: Während beim Menschen die Interesse ist, so fällt auf, dass beim Schimpansen
Stimmritze sehr viel tiefer liegt als das Zungenbein,
liegen beim Schimpansen beide etwa auf gleicher
die Hirnfurche, welche die Cortexfelder 44 und
45 (entspricht dem Broca’schen Sprachzentrum
18
Höhe. Dadurch entfällt beim Schimpansen die beim Menschen) von dem darüber liegenden
Möglichkeit, die Resonanzfrequenzen im Rachen Präfrontalcortex trennt, fehlt; der Schimpanse hat 19
durch entsprechende Zungenbewegungen zu also nur zwei Stirnhirnwindungen, der Mensch
variieren. Die Resonanzfrequenzen lassen sich jedoch drei. Was das Wernicke-Sprachzentrum 20
7
458 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.5 (Fortsetzung) 
betrifft, so lassen sich beim Menschen ein Gyrus Endpunkt als rechts. Unsere Schlüsse zur Sprachfä-
supramarginalis am hinteren Ende der Seitenfur- higkeit von Homininengehirnen müssen also sehr
che und ein dahinter liegender Gyrus angularis allgemein bleiben. Wir können lediglich sagen: Je
unterscheiden, während beim Schimpansen nur ähnlicher ein Gehirn dem des rezenten Menschen,
eine Windung in diesem Bereich zu identifizieren desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es
ist. Dass sich bei Homininen eine Differenzierung sprachfähig ist. Ein dem heutigen menschlichen
in Gyrus supramarginalis und angularis findet und Gehirn weitgehend vergleichbares Gehirn findet
eine Abgrenzung der Broca-Areale von den dorsal man seit etwa 130.000 Jahren; ein Gehirn, das sich
angrenzenden Gebieten, das tritt zum ersten Mal zumindest etwas von dem heutiger Menschenaf-
bei Homo habilis auf – wogegen Australopithecus fen in Richtung Mensch absetzt, findet sich bereits
noch das Schimpansen-ähnliche Windungsmus- bei Homo habilis vor etwa 2 Mio. Jahren.
ter aufweist. Das heißt jedoch nicht zwangsläufig, Eine Übersicht über die wichtigsten beim rezen-
dass Homo habilis bereits eine Sprache hatte. De ten Menschen an der Sprachproduktion beteiligten
facto kennen wir kein einziges morphologisches Strukturen gibt . Abb. 5.11. Diese sind, neben dem
Merkmal, anhand dessen wir einem Gehirn an- Broca-Areal, das für die motorische Planung von
sehen können, ob es sprachfähig ist. Die abso- Wortsequenzen zuständig ist, und dem Wernicke-
lute Größe ist auch kein brauchbares Kriterium, Areal, das der De- und Encodierung von Wortbe-
gibt es doch mikrocephale Menschen mit einem deutungen dient, auch der untere Abschnitt des
Hirnvolumen unter 700 cm3, also einem Hirnvo- primären motorischen Cortex (MI), welcher der un-
lumen wie es auch bei großen Gorillamännchen mittelbaren motorischen Kontrolle des Sprechap-
vorkommt, die dennoch sprechen können. Zudem parates dient. Weiter gehört dazu der untere Ab-
existieren nicht-menschliche Arten mit einem grö- schnitt des primären somatosensorischen Cortex
ßeren Hirnvolumen als dem des Menschen (z. B. (SI), über den der primäre motorische Cortex die für
Elefanten und Wale), die keine Sprache besitzen. die Sprechkontrolle nötigen propriozeptiven Rück-
Auch das relative Hirngewicht ist kein brauchbares meldungen aus dem Sprechapparat erhält. Einen
Kriterium. So gibt es verschiedene Affenarten, wie direkten Input erhält der primäre motorische Cortex
z. B. den Kapuzineraffen oder den Totenkopfaffen, auch vom supplementär-motorischen Areal (SMA),
die einen höheren Hirngewicht-Körpergewicht- über welches die Bereitschaft sich sprachlich auszu-
Quotienten besitzen als der Mensch – und trotz- drücken, gesteuert wird. Der Output des primären
dem nicht sprechen können. Die Tatsache, dass motorischen Cortex durchläuft zunächst eine Verar-
sich beim Schimpansen die Cortexfelder 44 und beitungsschleife, die über Putamen (Put, Teil der
45 cytoarchitektonisch von den umgebenden Fel- Basalganglien) und ventrolateralen Thalamus (VL,
dern unterscheiden lassen, bedeutet, dass auch Teil des Zwischenhirns) – mit einem zusätzlichen
das Vorhandensein eines cytoarchitektonisch Input vom Kleinhirn (Cb) – zurück zum primären
identifizierbaren Broca-Areals kein brauchbarer motorischen Cortex führt und von hier über die cor-
Indikator für Sprachfähigkeit ist. Auch die Tatsa- ticobulbäre Bahn in die Formatio reticularis (RF) des
che, dass beim rezenten Menschen der Endpunkt unteren Hirnstamms absteigt. Die Formatio reticu-
der Seitenfurche links tiefer liegt als rechts, eine laris ist mit sämtlichen an der Stimmgebung betei-
Beobachtung, die von manchen Autoren mit der ligten Motorneuronen verbunden und dient der
linksseitigen Dominanz der Sprachfunktion in Ver- motorischen Integration von Stimmlippenbewe-
bindung gebracht wurde, kann nicht als Hinweis gungen, Atembewegungen und Artikulation. Mit
auf Sprachfähigkeit dienen, denn die Hälfte der Ausnahme von Formatio reticularis und den an der
bisher untersuchten Schimpansen hat ebenfalls Stimmgebung beteiligten Motorneuronen sind
einen links tiefer liegenden Seitenfurchenend- sämtliche genannten Strukturen für die Produktion
punkt als rechts. Beim Orang-Utan haben sogar von Affenlauten und nicht-verbalen emotionalen
10 von 12 untersuchten Tieren links einen tieferen Lautäußerungen des Menschen entbehrlich; sie
7
5.3  •  Menschenaffen und Mensch (Hominoidea) 459

 EXKURS 5.5 (Fortsetzung) 

.. Abb. 5.11  Seitenansicht eines rezenten mensch-


1
lichen Gehirns mit Angabe einiger für die Sprach-
produktion unentbehrlicher Strukturen. Die Pfeile
geben anatomische Verbindungen zwischen den
2
Strukturen an, soweit sie für das Sprechvermögen
von Relevanz sind. Broca: Broca-Areal; Cb: Kleinhirn;
MI: primärer motorischer Cortex; Put: Putamen; RF:
3
Formatio reticularis; SI: primärer somatosensorischer
Cortex; SMA: supplementär-motorische Area; VL: 4
ventrolateraler Thalamus; Wernicke: Wernicke-Area

5
6

sind also nur für die Produktion erlernter stimmli- ten, hochseetaugliche Boote zu bauen und zu navi-
7
cher Lautäußerungen nötig. gieren – was zweifellos Sprache voraussetzte.
Zu 3): Wenn man sich die kulturelle Entwicklung Die hier aufgeführten Fakten zusammenge- 8
anschaut, so tritt die erste kulturelle Leistung, die nommen sprechen dafür, dass die Entstehung der
über die heutiger Menschenaffen hinausgeht, vor
etwa 2,5 Mio. Jahren mit der Herstellung von Stein-
Sprache mehr als 50.000  Jahre, aber weniger als 9
2,5 Mio. Jahre zurückliegt. Wir können außerdem
werkzeugen auf. Schimpansen verwenden zwar davon ausgehen, dass die Entwicklung vom Affen-
auch Steine als Werkzeuge, z. B. beim Öffnen von laut zur gesprochenen Sprache, wie wir sie heute
10
Nüssen; die Steine sind jedoch unbearbeitet. Bear- kennen, ein zigtausend, wenn nicht sogar hundert-
beitete Werkzeuge existieren nur aus Holz (Stöcke tausend Jahre dauernder Prozess war. Wie bereits 11
zum Öffnen von Termitenbauten, Zweige zum Ter- erwähnt, sind Affenlaute stark genetisch bestimmt
mitenangeln) oder Blättern (Verwendung zerkauter
Blätter als Schwamm zum Wasseraufsaugen aus mit
in ihrer Struktur und ihrer Bedeutungszuordnung.
12
Der erste Schritt in Richtung Sprache war zunächst
dem Mund schwer zugänglichen Wasserkuhlen). einmal die Entwicklung einer differenzierten Will-
Einen wesentlichen Schritt nach vorn macht die kul- kürkontrolle über den Stimmapparat, die Affen 13
turelle Entwicklung unter Homo erectus. Aus den in fehlt. Diese Willkürkontrolle ist Voraussetzung da-
ihrer Form durch Zufall bestimmten Steinwerkzeu- für, dass gehörte Lautäußerungen imitiert werden 14
gen des Homo habilis, H. rudolfensis und H. ergaster können, dass also vokalmotorisches Lernen statt-
werden unter Homo erectus standardisierte Werk-
zeuge, wie der klassische Faustkeil, der eine symme-
findet und damit Wörter im eigentlichen Sinn ge-
bildet werden können. Wir können davon ausge-
15
trische Form aufweist, hergestellt. Unter Homo erec- hen, dass die ersten Wörter onomatopoetischen,
tus/heidelbergensis wird auch der Speer erfunden d. h. lautmalerischen Charakter hatten; nur so konn- 16
und es findet sich auch der kontrollierte Gebrauch ten sie von Gruppengenossen spontan verstanden
des Feuers. Eine kulturelle Leistung, die sich von der werden. Möglicherweise gehörten Imitationen von 17
des Homo erectus noch einmal deutlich abhebt, ist Tierstimmen zum Anlocken von Jagdwild zu den
die Kolonisierung Australiens vor etwa 50.000 Jah-
ren durch Homo sapiens sapiens. Damals hing Aust-
ersten Wörtern. Die Wörter waren anfangs noch
nicht phonematisiert, d. h. aus standardisierten ar-
18
ralien, das zusammen mit Tasmanien und Neugui- tikulatorischen Elementen zusammengesetzt, son-
nea einen Kontinent bildete (Sahul), nicht mit dem dern wurden als ganzheitliche Lautgestalten in von 19
asiatischen Festland zusammen, so dass die Men- Individuum zu Individuum stark variierender Form
schen für seine Kolonisierung in der Lage sein muss- produziert. Ein Großteil der Wörter war wahrschein- 20
7
460 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.5 (Fortsetzung) 
lich nicht nur lautlicher Art, sondern war von mimi- sierung der Wörter, auch aus einer relativ geringen
schen und gestischen Verhaltensweisen pantomi- Anzahl von phonetischen Elementen eine große
mischen Charakters oder in Form von Zahl von Wörtern zu bilden – ohne Einbuße in der
Intentionsbewegungen begleitet. Die Wortbedeu- Decodierbarkeit der Wörter. Dementsprechend
tung war noch wenig differenziert, d. h. jedes Wort kommt es in dieser Phase zu einer starken Zunahme
stand für einen komplexen Sachverhalt und war des Wortschatzes. Aus Ein- und Zweiwortsätzen
dementsprechend mehrdeutig. Das Lexikon war werden Mehrwortsätze, wenn auch zunächst noch
zunächst klein. Sätze bestanden anfangs, ähnlich ohne syntaktische und grammatikalische Struktur.
wie beim heutigen Kleinkind, aus nicht mehr als ein Die Äußerungen beziehen sich auf gegenwärtige
bis zwei Wörtern. Sachverhalte konkreter Natur.
Dieser ersten Phase folgte eine Phase der In der Endphase der Sprachentwicklung wird
Lautstandardisierung. Das heißt, im Laufe der Zeit durch Einführung syntaktischer und grammatika-
kommt es zu einer Anpassung der Lautäußerun- lischer Regeln die Spezifität der Aussage erhöht
gen verschiedener Individuen einer Gruppe in – ohne dass dafür der Wortschatz weiter erhöht
dem Sinn, dass für einen bestimmten Sachverhalt werden muss. Die höhere Spezifität der Aussage
der gleiche Laut verwendet wird. Dieser Vorgang macht die sprechbegleitende Gestik weitgehend
wurde unterstützt durch eine zunehmende Pho- überflüssig. Die zunehmende Differenzierung der
nematisierung der Wörter, d. h. eine Umwandlung Ausdrucksmöglichkeiten führt zu einer Zunahme
ganzheitlicher Lautgestalten in Aufeinanderfolgen abstrakter Begriffe und einer Erweiterung der Aus-
standardisierter Artikulationsbewegungen. Die sagen über die Gegenwart hinaus in die Zukunft
Phonematisierung erlaubt, außer der Standardi- und die Vergangenheit.

Zähne und Gebiss die Konsistenz der Nahrung (z. B. Früchte, harte
Auch Zähne und Gebiss zeigen beim Menschen Gräser oder Blätter hinterlassen verschiedene Ab-
Spezialisierungen (. Abb. 5.12). In Korrelation mit schliffmuster) zu; das Isotopenmuster (Strontium,
der Vergrößerung des Gehirns haben sich Gesichts- Calcium u. a.) lässt Nahrungswechsel, Wanderbe-
schädel und Zähne beim Menschen zurückgebildet. wegungen und geographische Herkunft eines Indi-
Die Rückbildung der Zähne dauert an; so fehlen viduums erkennen.
beim heutigen Menschen schon relativ häufig die
letzten Molaren („Weisheitszähne“), die oberen äu-
ßeren Schneidezähne und ein Prämolar. Der letzte 5.4 Fossilgeschichte
Molar brach auch bei H. erectus nicht immer durch der Tierprimaten
und war bei ihm z. T. sogar nicht einmal angelegt.
Die Eckzähne des Menschen sind niedrig, und ihre Der Zeitpunkt des Auftretens der Primaten in der
Krone besitzt eine charakteristische Gestalt, wie sie Fossilgeschichte ist umstritten. Als älteste Primaten
bei keinem anderen rezenten Primaten vorkommt, wurden in der Vergangenheit oft die Plesiadapifor-
mit hohem Basisteil und flacher Spitze (Remane mes angesehen. Sie lebten im Paleozän und starben
1960; . Abb. 5.12). im Eozän aus. Heute werden sie unter anderem
Zähne sind eine ergiebige Quelle von Infor- wegen ihrer nagetierähnlichen Kiefer- und Zahn-
mationen über die Lebensweise, speziell über die spezialisierungen eher als Schwesterngruppe der
Ernährung eines Individuums; das trifft in unter- Primaten angesehen.
schiedlichem Ausmaß für rezente, subfossile und Trotz des bisherigen Fehlens überzeugender
fossile Zähne zu und wird von der Dentalanthropo- paleozäner Fossilformen ist theoretisch davon aus-
logie erforscht. Im Schmelz kann man u. a. Phasen zugehen, dass die Wurzel der Primaten im frühen
von Mangelernährung erkennen; die Abkauungs- Paleozän oder noch wahrscheinlicher in der späten
spuren auf der Kaufläche lassen Rückschlüsse auf Kreide zu suchen ist. Die rechnerische Analyse mo-
5.4  •  Fossilgeschichte der Tierprimaten 461

lekulargenetischer Daten lässt vermuten, dass die


ersten Primaten theoretisch 84 Mio. Jahre alt sind. 1
Auffällig ist eine Parallele zwischen der Evolution
der (arboricolen) Primaten und der Entfaltung der 2
Angiospermen.
Die ältesten unumstrittenen Primaten erschie-
nen vor ca. 55  Mio. Jahren im frühen Eozän. Es 3
handelt sich um verschiedenartige Formen der Ad-
apiformes und der Tarsiiformes (Omomyiformes). 4
Fossile Strepsirrhini. Den Adapiformes gehörte
die Familie Adapidae an. Eine frühe Form aus Eu-
ropa ist Donrussellia, andere Gattungen sind z. B.
5
Adapis, Notharctus und Cantius; Darwinius ist ein
Beispiel aus den eozänen Ablagerungen der Grube 6
Messel. Die meisten Funde stammen aus Nord-
amerika und Westeuropa. Adapis parisiensis wurde 7
schon 1822 von Cuvier entdeckt, der allerdings nicht
erkannte, dass es sich um einen frühen Primaten
handelte. Die Adapidae umfassen verschiedenartige, 8
meist baumlebende Formen. Fossilie Lorisiformes
wurden in mitteleozänen Ablagerungen Lybiens 9
und Algeriens gefunden (Algeripithecus, Karanisia).
.. Abb. 5.12 a, b.  a Höcker, Leisten und Furchen an oberen
Viele dieser strepsirrhinen Formen ernährten sich
– der Zahnmorphologie zufolge – wahrscheinlich
(a–c) und unteren (d–f) Molaren. a Primitiver oberer Prima- 10
tenmolar mit drei Höckern (Paraconus: Pa, Metaconus: Me,
von Früchten, Blättern und Samen, aber z. T. wohl Protoconus: Pr). b Oberer Molar eines Gorillas, der typisch
auch noch von Insekten. Sie besaßen eine postor- für die Menschenaffen ist; vier Höcker (Hypoconus: Hy) und 11
bitale Augenspange und lassen eine Verkürzung deutliche Crista obliqua (Cr. ob). c oberer Molar einer Meer-
katze (Cercopithecus) mit zwei Querjochen (bilophodonter
der Schnauze und eine Verlagerung der Augen
Zahn). d Unterer primitiver Primatenmolar mit drei vorderen 12
nach vorn erkennen. Sie hatten Greifhände und Höckern (Paraconid: Pad, Metaconid: Med, Protoconid: Prd)
Greiffüße. Radius und Ulna blieben getrennt und
erlaubten Pronation und Supination, was, ebenso
und drei hinteren Höckern (Endoconid: Ed, Hypoconid: Hyd,
Hypoconulid: Hypud). Die drei vorderen Höcker bilden das 13
wie ein verbessertes stereoskopisches Sehen und Trigonid, die drei hinteren das Talonid. e Unterer Molar eines
ein verbesserter Gleichgewichtssinn, beim sicheren
Menschenaffen mit typischem Leisten- und Furchenmus-
ter (Dryopithecus-Muster), Paraconid fehlt. f Unterer Molar
14
Ergreifen von Ästen wichtig ist. Finger und Zehen eines Colobiden (Colobus) mit vier Haupthöckern und zwei
trugen Nägel.
Die fossilen Tarsiiformes waren relativ kleine,
Querjochen (ähnlich wie obere Molaren: c). b Unterer linker
Eckzahn von Schimpansenweibchen (a, b), Australopithecus
15
vermutlich nachtaktive Formen mit großen Au- (c), Homo erectus (d) und rezenten Menschen (e, f); beachte
gen, insekti-frugivorer Ernährung und springen-
die Vergrößerung des Basisteils der Eckzähne. Nach Remane
(1960, Bildrechte liegen bei Karger)
16
der Fortbewegungsweise. Sie sind eine vielgestal-
tige Gruppe; der konkrete Zusammenhang fossiler 17
Tarsiiformes mit den modernen Tarsiern ist um- Nordamerika waren sie noch im Oligozän verbrei-
stritten. Sie besitzen generell ursprünglich gebaute tet, vereinzelt überlebten sie bis ins Miozän. Be-
Molaren und Prämolaren, was die Beurteilung ihrer kannte Gattungen sind: Necrolemur, Pseudoloris, 18
spezifischen phylogenetischen Stellung erschwert. Washakius, Ouraya, Shoshonius, Dyseolemur, Teto-
Die große Mehrheit der fossilen Tarsiiformes wird nius, Anaptomorphus, Omomys und Rooneya. Xan- 19
in der Familie der Omomyidae zusammengefasst. thorhysis aus dem Eozän Chinas wird z. T. in eine
Omomyidae sind in Ablagerungen aus dem Eozän eigene Familie der Tarsiiformes gestellt und ähnelt
Europas und Nordamerikas gefunden worden. In z. T. dem ursprünglichen Simier Eosimias. Sogar
20
462 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

Tiere waren tagaktiv und lebten auf Bäumen, wo sie


sich überwiegend auf allen Vieren fortbewegten.
Fossile Simiae in der Oase Fayum. Aus Ablage-
rungen des späten Eozän und des frühen Oligozän
der Oase Fayum (südwestlich von Kairo) stammen
zahlreiche Fossilfunde von frühen Simiae, die über-
wiegend auf drei Familien verteilt werden:
1. Die ältesten (späteozänen) Funde mit den Gat-
tungen Apidium, Parapithecus, Proteopithecus,
Qatrania und Biretia werden in der Familie
Parapithecidae zusammengefasst. Sie ähneln
den fossilen Primaten aus dem mittleren Eo-
zän Chinas und Burmas, repräsentieren wie
diese frühe Simiae und stehen vermutlich der
gemeinsamen Wurzel von Platyrrhini und Ca-
tarrhini nahe. Ihre Zahnformel war 2.1.3.3. Sie
besitzen Merkmale der Neuweltaffen (z. B. drei
.. Abb. 5.13  Darstellung des eozänen primitiven Simiers Prämolaren) und der Altweltaffen. Parapithecus
Eosimias aus China. Nach Beard et al. (1994)
besaß leicht angedeutet bilophodonte untere
Molaren, was eine Anpassung an härtere Pflan-
ein Tarsius eocaenus wurde aus China beschrieben. zennahrung sein könnte. Bei Parapithecus waren
Die modernen Tarsiidae überlebten im Refugium wahrscheinlich auch die unteren Schneidezähne
südostasiatischer Inseln (Philippinen bis Bangka, zum Teil oder ganz reduziert. Solche Speziali-
Sumatra und Sulawesi. sierungen sind bei allen an einen bestimmten
Die Simiae (Simiiformes = Anthropoidea) Lebensraum angepassten Tieren vorhanden und
umfassen alle höheren Affen, also Neuwelt- (Pla- schließen sie natürlich nicht generell aus der
tyrrhini) und Altweltaffen (Catarrhini). Letzteren Diskussion um phylogenetische Entwicklungsli-
gehören die Cercopithecoidea (Languren, Meer- nien aus. Die Orbita der Parapithecidae war wie
katzen, Makaken, Paviane u. a.) und die Homi- bei allen höheren Affen seitlich und hinten ge-
noidea (Gibbons, die großen Menschenaffen und schlossen, die schmalen Frontalia waren wie bei
der Mensch) an. Als Ursprungsregion der Simiae allen höheren Affen verschmolzen, der visuelle
werden einerseits Afrika oder ein anderer Bereich Sinn war stark entwickelt. Vermutlich besaßen
Gondwanas (Kreidezeit) oder andererseits Asien sie ein gut entwickeltes Sprungvermögen.
(frühes Känozoikum) vermutet. 2. Die Propliopithecidae bilden eine zweite
Formen, die wahrscheinlich den frühen Simiae Gruppe der Fayum-Primaten. Ihnen gehören
zugezählt werden können, wurden im mittleren Eo- die Gattungen Propliopithecus, Aegyptopithe-
zän gefunden und zwar in 1. Nordafrika, insbeson- cus und Moeripithecus an. Ihre Zahnformel ist
dere Zentrallybien und Ägypten, mit Formen wie 2.1.2.3, also so wie bei allen Altweltaffen: pro
Biretia, Tabelia, Afrotarsius (umstritten) und Talah- Kieferhälfte 2 Inzisiven, 1 Caninus, 2 Prämola-
pithecus, 2. Ostchina mit einer Form wie Eosimias, ren und 3 Molaren. Diese Formen stehen wohl
3. Birma (Myanmar) mit Formen wie Pondaungia, an der Basis aller Altweltaffen, also sowohl der
Amphipithecus und Bahinia und 4. Thailand mit Cercopithecoidea als auch der Hominoidea.
einer Form wie Siamopithecus. Es waren oft kleine Zum Teil werden sie allein an die Basis der Ho-
Formen, von denen vor allem Zähne und Kiefer- minidae (Menschenaffen und Mensch) gestellt.
fragmente vorliegen. Vom daumengroßen Eosimias Sie waren größer als die Parapithecidae und ihr
(. Abb. 5.13) gibt es auch einige Fußskelettreste. Gebiss zeigte einen Sexualdimorphismus. Die
Die Molaren besitzen flache Höcker, was dafür Molaren waren relativ groß. Die meisten Funde
spricht, dass sie sich von Früchten ernährten. Diese liegen von Aegyptopithecus vor, der arboreal/
5.4  •  Fossilgeschichte der Tierprimaten 463

quadruped lebte und ca. 4,5 kg gewogen hat. kanische Primaten besitzen auffallende Überein-
Er hat sich wohl ähnlich fortbewegt wie heute stimmungen im Gebiss. Möglicherweise standen die 1
Brüllaffen. Ihm kommt eine besondere Bedeu- eozänen Formen aus China und Burma (s. oben)
tung zu, da sich an ihn nicht nur die Cercopithe- und die Parapithecidae der Wurzel der südameri- 2
coidea, sondern auch Formen wie Proconsul an kanischen Affen nahe.
der Basis der Hominoidea anschließen lassen. Es gibt eine alternative Hypothese zur Herkunft
3. Die Oligopithecidae umfassen die Gattungen der südamerikanischen Primaten, derzufolge Om- 3
Oligopithecus und Catopithecus. Sie stammen omyiden aus Nordamerika über Landbrücken oder
noch aus eozänen Ablagerungen. Sie besaßen Inselketten im Eozän nach Südamerika gelangt sind 4
ungefähr die Größe eines Totenkopfaffen und und hier parallel zu den Altweltaffen eine Höherent-
ernährten sich von Früchten und Insekten. Ihre wicklung erfahren haben. Da mit den Parapitheci-
Anatomie weist ursprüngliche und abgeleitete den und anderen Formen aber mittel- und späteo-
5
Merkmale auf. Sie sind daher schwer einzuord- zäne höhere Primaten in Afrika vorhanden waren,
nen und repräsentieren vielleicht eine eigene deren Morphologie Anklänge sowohl an neu- als 6
Entwicklungslinie. auch altweltliche höhere Primaten (Simiae) zeigt,
4. Außer den genannten Gruppen gibt es Einzel- ist es plausibler, diese Formen als Ausgangsgruppe 7
funde aus dem späten Eozän Fayums, die den der südamerikanischen Affen zu betrachten, als eine
genannten Gruppen nicht sicher zugeordnet lange Parallelentwicklung von Halbaffen aus zu pos-
werden können: Serapia, Arsinoea, Simonsius tulieren. Auch der Vergleich biochemischer Para- 8
und Proteopithecus. Letzterer ähnelt im postcra- meter deutet auf längere gemeinsame Entwicklung
nialen Skelett z. T. südamerikanischen Primaten. von Neu- und Altweltaffen. 9
Branisella ist die bisher älteste in oligozänen
Frühe Simiae stammen also sowohl aus Asien als Ablagerungen gefundene Primatenform Südameri-
auch aus Afrika. Zu berücksichtigen ist, dass im kas und stammt aus Bolivien. Im Gebiss zeigen sich
10
mittleren und späten Eozän Afrika noch mit Ara- Ähnlichkeiten mit Proteopithecus (spätes Eozän,
bien verbunden, aber von Asien durch eine breite Fayum). Chilecebus wurde in miozänen Ablagerun- 11
Meeresstraße getrennt war. Indien war noch eine gen der chilenischen Anden gefunden. Molaren-
isolierte große Insel und auch Europa sah deutlich morphologie und Anatomie der Ohrregion ähneln 12
anders aus als heute. wieder denen von Fayum-Primaten. Tremacebus
Ursprung der Neuweltaffen. Die ältesten bis- und Dolichocebus wurden in spätoligozänen und
her bekannt gewordenen Fossilfunde neuweltlicher frühmiozänen Ablagerungen Argentiniens gefun- 13
Primaten stammen aus dem Oligozän und sind ca. den. Eine Zuordnung der oligo- und miozänen
30–25 Mio. Jahre alt. Wie die Primaten nach Süd- neuweltlichen Primaten zu einer der modernen 14
amerika gekommen sind, ist noch nicht geklärt. südamerikanischen Affenfamilien ist bisher nicht
Vermutlich sind sie zufällig auf „Flößen“ aus ins überzeugend gelungen.
Meer gespülten Bäumen von Afrika aus in die neue Aus dem mittleren Miozän Kolumbiens stammt
15
Welt gelangt. Südamerika war zu Beginn der Kreide eine ganze Reihe fossiler Primatengattungen, die
noch Teil des Südkontinents Gondwana, der dann schon den modernen Platyrrhini zuzuordnen sind, 16
in mehrere Landmassen zerfiel. Ab Mitte der Kreide z. B. Neosaimiri (den Totenkopfaffen), Cebupithecia
war Südamerika von Nordamerika und Afrika über (den Pitheciidae), Stirtonia (den Brüllaffen) und La- 17
einige Hundert Kilometer durch Wasser getrennt. gonimico (den Krallenäffchen).
Am Ende der Kreide war Südamerika im Süden Im Quartär kamen Primaten auch auf Kuba
über gut 3000 und im Norden über ca. 450 km von (Paraloutta), Hispaniola (Antillothrix) und Jamaika 18
Afrika entfernt. Vermutlich waren bei relativ nied- (Xenothrix) vor. Diese Formen sind erst vor kurzem,
rigem Wasserspiegel im Oligozän zwischen Afrika Xenothrix z. B. vor ca. 300 Jahren, ausgestorben. 19
und Südamerika Inselgruppen vorhanden, die die Ursprung der Cercopithecoidea. Die ältesten
Besiedelung Südamerikas durch die Primaten er- Cercopithecoidea wurden im frühen Miozän Afri-
leichterten. Oligozäne afrikanische und südameri- kas gefunden und werden der rein fossilen Familie
20
464 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

des Victoriapithecidae zugeordnet. Man unter- gyptopithecus) anschließen. In Afrika nimmt dann
scheidet zwei Gattungen: Prohylobates (Libyen, die Zahl der Funde im Laufe des Miozän stetig ab
Ägypten) und Victoriapithecus (Kenia). Diese mit- und in Ablagerungen des späten Miozän fehlen sie
telgroßen Formen (3,5–5 kg) ähneln schon deutlich hier. Sie tauchen am Beginn des mittleren Miozän
den heutigen Cercopithecidae. Die spezielle Mor- auch in Europa und Asien auf, wo sie vermutlich
phologie der bilophodonten Molaren deutet auf eine ein bedeutendes Faunenelement darstellten. Sie sind
Ernährung mit Samen, harten Früchten und harten aber auch hier in der Fossilgeschichte ab dem Ende
Blättern hin. Vermutlich lebten sie am Boden. des Miozän fast nicht mehr nachweisbar, bis auf den
Fossile Cercopithecidae. Mesopithecus (Europa pleistozänen (und spätmiozänen) süd- und ostasi-
und Afghanistan), Lybipithecus (Ägypten) und Doli- atischen Gigantopithecus sowie die afrikanischen
chopithecus (Europa) waren spät-miozäne und plio- Sahelanthropus und Orrorin.
zäne Colobinae. Auch Cercopithecinae sind schon Das Verschwinden der Menschenaffen in Eu-
aus dem späten Miozän bekannt. Macaca wurde rasien wird oft mit Klimaveränderungen am Ende
schon im späten Miozän Nordafrikas gefunden des Miozän in Verbindung gebracht. Im mittleren
und war noch im Pleistozän Bewohner West- und Miozän herrschte subtropisches Klima. Am Ende
Mitteleuropas. Die häufigste Primatengattung vieler des Miozän falteten sich Alpen, Himalaja und ostaf-
plio-pleistozäner Fundstätten Afrikas war Theropi- rikanische Gebirge auf, Ozeanströmungen änderten
thecus mit z. T. recht großen Arten. Dieser Gattung sich, Ostafrika wurde trockener, in Europa entstand
gehört heute nur noch der Blutbrustpavian (Dsche- gemäßigtes Klima.
lada) im Hochland Äthiopiens an. Auch Parapapio Die Geschichte der Menschenaffen ist auch
war ein verbreiteter großer Pavian des Plio- und deswegen von Interesse, weil unter ihnen auch die
Pleistozäns Afrikas. Stammform des Menschen zu suchen ist. Fossilf-
Ursprung der Hominoidea. Die Hominoidea unde, die wahrscheinlich dem Menschen und der
(Menschenaffen und Mensch) tauchen im Miozän nächsten Verwandtschaft des Menschen zuzuord-
auf. Die Epoche des Miozän begann vor 23 Mio. Jah- nen sind, tauchen im frühen Pliozän Afrikas auf
ren und ging vor ca. 5,3 Mio. Jahren zu Ende. Insge- (Orrorin und Ardipithecus).
samt wurde im Miozän eine erstaunliche Vielfalt an Zwei miozäne Familien der Hominoidea, die
Hominoidea gefunden, die alle als Menschenaffen recht isoliert stehen, sind die Pliopithecidae und
(englisch apes) zu bezeichnen sind. Aus dieser Epo- Oreopithecidae.
che sind bisher ca. 40 Gattungen und gut 100 Arten Die Pliopithecidae sind in ihrer Bewertung
aus Afrika, Europa und Asien beschrieben worden. umstritten; neben hominoiden besitzen sie auch
Dieser Vielfalt, die in Wirklichkeit noch viel größer primitive catarrhine Merkmale. Erste Fossilfunde
gewesen sein dürfte, steht heute nur noch ein klei- wurden schon 1837 in Südfrankreich gemacht. Frü-
ner, überwiegend von Ausrottung bedrohter Rest her wurden sie im Allgemeinen den Gibbons zuge-
an Menschenaffen mit wenigen Gibbon-, Schim- ordnet. Sie wurden im mittleren und späten Miozän
pansen-, Orang-Utan- und Gorillaarten gegenüber. Europas (z. B. in der Tschechischen Republik und
Ein durchgehendes Merkmal, das die Homino- in Deutschland bei Eppelsheim, Paidopithex) und
idea kennzeichnet, sind die Morphologie der obe- vermutlich auch in Westchina gefunden (Laccopi-
ren und unteren Molaren (Dryopithecus-Muster, thecus). Sie besaßen einen kräftigen Kauapparat und
. Abb. 5.12) und der rückgebildete Schwanz. Ur- waren wohl Blattfresser. Recht gut erhaltenes Ske-
sprünglich waren sie vermutlich quadrupede Baum- lettmaterial stammt aus der Tschechischen Republik
bewohner und Früchtefresser. Sie entwickelten und erlaubt den Schluss, dass Pliopithecus sich auf
rasch eine größere Vielfalt in Hinsicht auf Ernäh- Bäumen quadruped fortbewegte, aber vermutlich
rungs- und Fortbewegungsweise. Viele hielten sich auch Schwinghangler war. Er ernährte sich wahr-
wahrscheinlich vorübergehend auch am Boden auf. scheinlich von Blättern.
Die ältesten Menschenaffen stammen aus dem Die Oreopithecidae aus den Sumpfwäldern des
frühen Miozän Afrikas. Sie lassen sich gut an die oli- späten Miozän der Toskana und Sardiniens (sie leb-
gozänen Propliopithecidae aus der Oase Fayum (Ae- ten vor ca. 9–7 Mio. Jahren) haben in den letzten
5.4  •  Fossilgeschichte der Tierprimaten 465

1
2
3
4
5
6
.. Abb. 5.14 a, b.   Proconsul africanus. a Skelett, b Rekonstruktion eines lebenden Tieres. Nach Walker u. Teaford (1984)

7
Jahrzehnten eine sehr unterschiedliche Bewertung härtere Nahrung hindeutet und auch für Austra-
gefunden, meist ging es hin und her zwischen einer lopithecinen und den Menschen typisch ist. Eine
Einordnung in die Cercopithecoiden und die Ho- verwandte Form aus dem Miozän Saudi-Arabiens 8
minoiden. Die Backenzähne bilden eigentümliche ist Heliopithecus. Weitere ostafrikanische Formen
Querjoche aus, was an Cercopithecoiden erinnert; sind Turkanopithecus, Nyanzapithecus (ihre typi- 9
viele Skelettmerkmale sind hominoid. Oreopithe- sche Molarenmorphologie spricht für Ernährung
cus hatte, wie der Orang-Utan, sehr lange Arme mit Blättern), Rangwapithecus und Micropithecus
und war vermutlich Brachiator (Schwinghangler). (gibbongroß). Limnopithecus aus dem frühen bis
10
Sein eigenartiges Fußskelett erlaubte vermutlich mittleren Miozän war vermutlich relativ klein und
zweibeiniges Stehen und watschelnden Gang am wog nur 5 kg. Er lebte auf Bäumen, ernährte sich 11
Boden und von hier aus Ergreifen von pflanzlicher wahrscheinlich von Früchten und bewegte sich
Nahrung aus niedrigen Zweigen. Neuerdings wird wohl überwiegend quadruped fort. 12
vermutet, dass Oreopithecus Allesfresser war. Menschenaffen aus dem mittleren und späten
Frühmiozäne afrikanische Menschenaffen, Pro- Miozän Afrikas. Die im Folgenden kurz charakte-
consulidae. Die Proconsuliden repräsentieren ins- risierten miozänen Menschenaffen zeigen manche 13
besondere mit der Gattung Proconsul (. Abb. 5.14) Eigenmerkmale und sind meistens nicht eindeutig
die frühen miozänen Menschenaffen; der älteste den Proconsulidae oder Hominidae zuzuordnen, 14
Fund stammt aus dem oberen Oligozän Kenias. Sie stehen aber in deren Nähe. Die Menschenaffen des
schließen an Formen wie Aegyptopithecus an. Pro- afrikanischen mittleren und späten Miozän sind
consul wurde mit verschiedenen Arten vor allem durchweg höher entwickelt als die frühmiozänen
15
in Ostafrika gefunden. Er umfasst kleinere (Pro- Formen und zeigen manche Ähnlichkeiten mit den
consul heseloni, Proconsul africanus) und größere gleichzeitig und später lebenden Menschenaffen 16
Arten (Proconsul major wog vermutlich 80 kg). Der Europas und Asiens. Eine relativ gut bekannte Art
Schädel war relativ leicht gebaut, die Anatomie, z. B. ist Kenyapithecus wickeri (Alter 14–15 Mio. Jahre). 17
des Extremitätenskeletts, zeigt noch eine Mischung Kenyapithecus besaß dickere Schmelzkappen auf
aus Merkmalen, wie sie für Cercopithecoidea und seinen Zähnen als Proconsul, lebte vermutlich in
heutige Menschenaffen typisch sind. Sie lebten auf Bäumen und bewegte sich hier noch überwiegend 18
Bäumen und bewegten sich hier auf allen Vieren quadruped fort. Wahrscheinlich konnte er aber
fort. Dendropithecus und Similous waren wohl schon auch vertikal klettern und hangeln und hielt sich 19
zu schwinghangelnder Fortbewegungsweise fähig. wohl auch am Boden auf. In der Türkei wurden
Afropithecus war gut schimpansengroß und besaß auch 14–15  Mio. Jahre alte Fossilfunde gemacht,
Zähne mit relativ dicker Schmelzkappe, was auf die Kenyapithecus ähneln. Ihre Zuordnung zu Ke-
20
466 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

nyapithecus wird aber nicht allgemein akzeptiert. Fossile miozäne eurasische Menschenaffen,
Vielleicht war Kenyapithecus die Menschenaffen- Hominidae. Die folgenden miozänen Formen las-
form von der eine Menschenaffenradiation in Eu- sen sich in die Familie der Hominidae einordnen.
rasien ausging. Das Fundmaterial stammt aus Fort Diese umfasst zwei größere rein fossile Unterfami-
Ternan (Kenia) und ist 14 Mio. Jahre alt. Equatorius lien, die Dryopithecinae und die Sivapithecinae, die
(Fundort Tugen-Bergland, Kenia) war paviangroß sich wahrscheinlich vor gut 10 Mio. Jahren getrennt
und besaß annähernd gleichlange Arme und Beine, haben. Die Dryopithecinae sind eng mit den Ho-
was für quadrupede Fortbewegungsweise spricht; mininae (heute Gorilla, Pan, Homo) verwandt, die
auch er lebte möglicherweise zum Teil am Boden. Sivapithecinae sind wahrscheinlich mit den Pongi-
Zahn- und Kieferreste eines miozänen Menschenaf- nae (heute mit Pongo, dem Orang-Utan) verwandt.
fen aus Namibia wurden Otavipithecus zugeschrie- Dryopithecinae. Den Dryopithecinae (manch-
ben. Ihre genaue Zuordnung zu anderen miozänen mal auch als Dryopithecidae eingestuft) lassen sich
afrikanischen Menschenaffen ist umstritten. Er war mehrere Funde aus Europa zuordnen. Eine mittel-
ca. 14–20 kg schwer und ernährte sich von Blättern, miozäne Menschenaffengattung, deren spärliche
Beeren, Samen, Knospen und Blüten. Nacholapithe- Reste in Deutschland, Österreich und der Türkei
cus war ein miozäner Menschenaffe, dessen Reste gefunden wurden, war Griphopithecus, der relativ
in Kenia gefunden wurden und der möglicherweise dicke Schmelzkappen auf seinen Zähnen besaß, was
vertikal in Bäumen klettern konnte; dafür spricht an Kenya- und Afropithecus sowie Australopithecus
ein robustes Armskelett. und Homo erinnert.
Morotopithecus bishopi (. Abb. 5.15a,b) war ein Dryopithecus wurde in Ablagerungen des späten
Menschenaffe, der vor ca. 20 Mio. Jahren in Ost- Miozän Europas und Asiens gefunden und wird von
afrika lebte. Schädel- und postcraniale Skelettreste manchen Autoren sogar den Homininae zugeord-
dieser Art wurden 1997 in Uganda gefunden. Mo- net. 1999 wurde ein Schädelfragment in Ungarn ge-
rotopithecus wog vermutlich 50 kg. Eine Analyse funden, das diese Vermutung stützt. Dryopithecus
der Wirbel deutet darauf hin, dass diese Form gut war ein relativ großer Menschenaffe, mit Zähnen,
vertikal klettern konnte. Die Gesamtanalyse der die sehr an die des Gorillas erinnern. Er ernährte
Skelettanatomie weist eine ganze Reihe deutlicher sich vermutlich von eher weichen reifen Früchten,
Gemeinsamkeiten mit den großen rezenten afrika- Knospen und Blättern. Sein Gehirn hatte die gleiche
nischen Menschenaffen auf. Es ist daher denkbar, Größe wie das eines Schimpansen. Wie moderne
dass Morotopithecus in der Vorfahrenlinie dieser und andere miozäne Menschenaffen bewegte er sich
Gruppierung steht. Aufgrund des hohen Alters wahrscheinlich hangelnd durch das Geäst größerer
und der Anatomie ist auch vermutet worden, dass Bäume. Wahrscheinlich gab es mehrere Arten, die
Morotopithecus an der Basis aller Hominidae steht. von Spanien bis in die Türkei und Georgien sowie
Hylobatidae (Gibbons). Über die Fossilge- bis China und Indien verbreitet waren. Funde in
schichte der Gibbons ist, bis auf einige pleistozäne Spanien erhielten z. T. die Bezeichnung Hispanopi-
Zähne aus Südostasien, nichts wirklich Gesichertes thecus. Auch in Deutschland wurden Dryopithecus-
bekannt. Aufgrund von Zahn-, Kiefer- und Schädel- Zähne gefunden.
merkmalen wurden einige relativ kleine frühmio- Eine Reihe spätmiozäner Formen stammt aus
zäne Menschenaffenfunde aus Ostafrika und China SO-Europa und der Türkei; Graecopithecus wurde in
in die Nähe der Gibbons gestellt, was jedoch immer Attika gefunden; Ankarapithecus (möglicherweise
umstritten blieb. Zu nennen sind hier vor allem ein Sivapithecine) stammt aus 9,9–9,6 Mio. Jahre
Micropithecus (Miozän Ugandas) und der ähnliche alten Schichten Anatoliens; Ouranopithecus, wahr-
Dionysopithecus (Miozän Chinas) sowie Krishna- scheinlich mit zwei bis drei Arten, wurde in Ma-
pithecus (Miozän Indiens). Falls diese Formen als zedonien, N-Griechenland, Kleinasien, Bulgarien
„Proto-Hylobatiden“ angesehen werden, hätten die und möglicherweise in Georgien gefunden. Aus
Hylobatiden seit 17–19 Mio. Jahren einen Eigenweg Bulgarien (Azmaka) stammen die (derzeit) letzten
eingeschlagen, was mit molekularbiologischen Be- bekannten, ca. 7  Mio. alten Menschenaffenfunde
funden vereinbar ist. (Ouranopithecus sp.) Europas; diese Tiere lebten
5.4  •  Fossilgeschichte der Tierprimaten 467

wohl in offenen vegetationsreichen Landschaften


mit Waldland und Savannengebieten. 1
Pierolapithecus catalaunicus ist ein Menschen-
affe, der vor ca. 13 Mio. Jahren gelebt hat. Die 2004 2
bei Barcelona gefundenen Reste umfassen einen
recht gut erhaltenen Schädel (. Abb. 5.15c,d),
Zähne und postcraniale Skelettanteile. Finger und 3
Zehen waren relativ kurz. Vermutlich war dieser
ca. 40 kg schwere Affe ein geschickter Kletterer. 4
Sein Gesicht war flach, seine Nasenregion flach und
weit, ähnlich wie bei Schimpansen. Vermutlich lag
ein ausgeprägter Sexualdimorphismus vor. Die Ent-
5
decker dieser fossilen Art halten es für möglich, dass
Pierolapithecus in der Vorfahrenlinie zur Gruppe 6
Gorilla – Pan – Homo liegt.
Sivapithecinae. Sivapithecus (vermutlich meh- 7
rere Arten, Ende des mittleren Miozän, die meisten
Funde stammen aus den Siwalik-Bergen Pakistans
und Nordindiens) gehört wahrscheinlich in die
.. Abb. 5.15 a–d.  Miozäne Menschenaffen. a, b Morotopi- 8
thecus. a Oberkieferfragment von vorn und b von der Seite.
Stammlinie des modernen Orang-Utan (Pongo) und Nach Young u. MacLatchy (2004). c, d Pierolapithecus. c Schä-
dessen fossiler Verwandten (Lufengpithecus, Gigan- delfragment von vorn und d von der Seite. Nach Moya-Sola 9
topithecus). Dafür spricht besonders die Morpho- (2004)
logie des Gesichtsschädels. Die Zähne zeigen aber
noch eine ursprüngliche Struktur, von der aus sich Zähne ähnelt stark dem der Zähne des Orang-Utan,
10
die eigenartigen Zähne des Orang-Utan entwickelt so dass an einer Verwandtschaft der beiden nicht
haben. Funde von Sivapithecus oder verwandten zu zweifeln ist. Die Tiere ernährten sich vermutlich 11
Formen wurden in Indien, Nepal, China (Lufeng- von Bambusblättern (ähnlich wie der Große Panda).
pithecus), Südostasien und vielleicht der Türkei Funde von Gigantopithecus aus dem frühen und 12
gemacht. Einige Sivapithecus-Funde wurden ur- mittleren Pleistozän Chinas und Vietnams wurden
sprünglich mit dem Gattungsnamen Ramapithecus z. T. zusammen mit Homo-erectus-Funden gemacht,
versehen. Die unter diesem Namen beschriebenen so dass diese zwei höheren Primaten gemeinsam in 13
Funde repräsentieren nach heutigem Kenntnisstand einem Lebensraum vorkamen. Vielleicht hat H.
eher weibliche Tiere von Sivapithecus oder eine erectus sogar zum Aussterben von G. blacki im mitt- 14
kleine Sivapithecus-Art. Sivapithecus konnte sich leren bis späten Pleistozän beigetragen. Die großen
vermutlich quadruped und hangelnd fortbewegen. Zähne von G. blacki wurden in chinesischen Apo-
Die Molarenmorphologie der ältesten Sivapitheci- theken als „Drachenzähne“ verkauft und wurden in
15
nae ähnelt noch der der Dryopithecinae. einer solchen in Hong Kong 1935 von Gustav H. R.
Gigantopithecus. Der Gattung Gigantopithe- v. Koenigswald (1903 bis 1982) für die Wissenschaft 16
cus werden zwei Arten zugeschrieben: G. giganteus entdeckt.
aus dem späten Miozän Nordindiens und G. bla- Fragliche frühe Hominini. In den letzten Jahren 17
cki aus dem Pleistozän Chinas und Vietnams. An sind in Ost- und Zentralafrika interessante Funde
Fundmaterial liegen Unterkieferfragmente und (Sahelanthropus, Orrorin) gemacht worden, die
viele hundert Zähne vor. Die Zähne und die Man- 7–6 Mio. Jahre alt sind, also noch aus dem Miozän 18
dibeln sind ungewöhnlich groß, so dass G. blacki bzw. frühen Pliozän stammen. Ihre Deutung ist sehr
wohl ein außerordentlich großer, wahrscheinlich umstritten, sie werden aber von ihren Entdeckern 19
bodenlebender Primat war, dessen Größe auf bis zu und anderen Wissenschaftlern als frühe Hominini
3 m und dessen Gewicht auf 150–230 kg geschätzt eingestuft. Diese Formen haben u. a. ein menschen-
wird. Das Höcker- und Leistenmuster seiner großen ähnliches Gebiss mit kleineren, weniger prominen-
20
468 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

Orrorin tugenensis (. Abb. 5.16). Im Jahre 2000


wurden in Kapsomin (Kenia) spärliche Skelettfunde
(proximale Teile zweier Femora, Unterkieferfrag-
mente und Zähne) gemacht, die einem Homininen
zugeschrieben wurden, der Orrorin tugenensis ge-
nannt wurde. Das Alter dieser Funde wird auf ca.
6  Mio. Jahre datiert. Manches (z. B. Femurkopf,
Zähne, dicke Schmelzkappen) spricht dafür, dass
es sich um eine Form handelt, die in den Kreis der
Vorläufer von Australopithecus/Homo gehört. Die
Anatomie des Femurs lässt vermuten, dass Orrorin
sich biped und aufrecht fortbewegen konnte.

5.5 Fossilgeschichte
der Hominini (Menschen
und Vormenschen)
.. Abb. 5.16  Oberschenkelknochen (Femur) von Orrorin
mit Hüftgelenkskopf. Die Anatomie dieses Knochens ist gut
vereinbar mit der Annahme, dass Orrorin biped aufrecht ging. Man fand 1856 beim Abbau von Kalkstein die erste
Nach Pickford u. Senut (2000) fossile Menschenform in der Kleinen Feldhofer
Grotte im Neandertal (damals: Neanderthal), einem
ten Eckzähnen und ein weit nach vorn-ventral ge- Abschnitt im Tal der Düssel, das nach dem Kirchen-
legenes Foramen magnum, was vielleicht auf einen liederdichter Joachim Neander (Neumann) benannt
bipeden Gang hindeutet. ist. Die Veröffentlichung des Fundes entfachte sofort
Sahelanthropus.  2001 wurde im Tschad, einen lebhaften Streit. Der Fund war dem Vorsit-
2500 km westlich des afrikanischen Grabens, ein zenden des Naturwissenschaftlichen Vereins für
miozäner 6–7 Mio. Jahre alter Schädel gefunden, Elberfeld, dem Gymnasiallehrer Dr. Johann-Carl
der möglicherweise einen Homininen repräsen- Fuhlrott, überlassen worden, der das hohe Alter
tiert Er erhielt auch die (nicht wissenschaftliche) der Skelettteile erkannte und den Neandertaler für
Bezeichnung „Toumai“. Das Gesicht war kurz und einen Repräsentanten einer in den Eiszeiten ausge-
flach, über den Augen befand sich ein sehr kräftiger storbenen urtümlichen Menschenrasse hielt. Der
knöcherner Supraorbitalwulst. Postorbital war der Bonner Anatom August Friedrich Mayer hielt die
Schädel relativ stark eingeschnürt und besaß eine Funde für Reste eines in den Befreiungskriegen um-
kräftige Nackenleiste (Crista nuchalis). Der Zahn- gekommenen mongolischen Kosaken, der einfluss-
bogen wies, wie der des Menschen, keine Lücken reiche Pathologe Rudolph Virchow war dagegen
auf. Das Schädelvolumen betrug ca. 360 370 cm3. der Ansicht, dass es sich bei dem Fund um Reste
Die Dicke der Schmelzkappen der Molaren lag zwi- eines pathologisch veränderten modernen Men-
schen der von Pan und Australopithecus. Verwertba- schen handelte. Unterstützung erhielt Fuhlrott aus
res postcraniales Skelettmaterial wurde bisher nicht England (Charles Lyell, Thomas Henry Huxley, Wil-
gefunden. Dieser Fund ist schwer einzuordnen. Ob liam King; letzterer schuf die Bezeichnung Homo
er, wie z. T. behauptet wird und wie der Gattungs- neanderthalensis) und von dem Bonner Anatomen
name suggeriert, in der Vorfahrenlinie des Men- Hermann Schaaffhausen.
schen steht, ist offen solange kein Skelettmaterial, 1891 wurden unter Leitung des holländischen
z. B. von Fuß-, Bein- oder Beckenknochen vorliegt. Militärarztes Eugene Dubois auf Java Funde men-
Sahelanthropus lebte am Rand von Gewässern, dies schenähnlicher Wesen – seinerzeit mit dem Namen
legen Begleitfunde (Krokodile und Süßwasserwelse) Pithecanthropus belegt – gemacht; dies war der
nahe. zweite wesentliche und psychologisch wichtige Mei-
5.5  •  Fossilgeschichte der Hominini (Menschen und Vormenschen) 469

lenstein in der Entwicklung der Paläoanthropologie. heute verbreitet finden; am häufigsten werden Fund-
Wir wissen heute, dass der „Affenmensch“ (Pithecan- stücke überinterpretiert und die Variationsbreite von 1
thropus) von Java ein echter, wenngleich ursprüngli- Merkmalen nicht einbezogen.
cher Mensch gewesen ist, der heute als Homo erectus Inzwischen liegen derart viele Funde vor, dass 2
bezeichnet wird. Dubois hatte Schriften von Ernst sich eine in vielen Einzelheiten gesicherte Dar-
Haeckel gelesen, der den Namen Pithecanthropus stellung der speziellen phylogenetischen Abstam-
für eine noch theoretische Zwischenform zwischen mungsgeschichte des Menschen entwerfen lässt. 3
Menschenaffen und Mensch geschaffen hatte, und Dennoch sei hervorgehoben, dass auch weiterhin
war entschlossen, diese Zwischenform zu finden. viele wichtige Fragen ungeklärt bleiben und dass in- 4
Er begann am Hang des Flusses Solo bei Trinil in folge des reichen Fundmaterials auch viele neue Fra-
Ostjava zu suchen (. Abb. 5.25). Diese Stelle war gen entstanden sind. Kein Autor kann heute für sich
seit altersher als besonders fossilienreich bekannt. in Anspruch nehmen, dass er den korrekten Ablauf
5
1894 veröffentlichte er seine Schrift: „Pithecanthro- der Evolution des Menschen kennt. Dies soll jedoch
pus erectus, eine menschenähnliche Übergangsform nicht bedeuten, dass die Entwicklung des Menschen 6
von Java“. Wie viele Forscher und Entdecker stand innerhalb der Primaten aus mio- oder pliozänen
Dubois seinen Funden sehr gefühlsbetont und rela- Hominoiden oder Hominiden im Grundsatz frag- 7
tiv unkritisch gegenüber und verschloss sich später lich ist. Die Entwicklung der Menschen spielt sich
(er starb 1940) einer sachlichen wissenschaftlichen im Pliozän (begann vor ca. 5 Mio. Jahren und endete
Diskussion. Er lehnte die Verwandtschaft seines Pi- vor ca. 2,6 Mio. Jahren) und im Quartär (Beginn 8
thecanthropus mit dem später gefundenen Sinanth- vor ca. 2,6 Mio. Jahren) ab und dauert bis heute an.
ropus (heute beide Homo erectus, s. Abschn. 5.6.4) Seine strukturellen Besonderheiten sind vor allem 9
ab, behauptete dann, sein Fund sei ein Riesengib- bestimmt durch den aufrechten Gang (Fuß, Be-
bon; neue Funde von altertümlichen Menschen aus cken, Wirbelsäule), die enorme Vergrößerung des
Ostjava (Sangiran) bezeichnete er als Fälschungen. Gehirns und die Reduktion des Gesichtsschädels
10
Beispiele für den unwissenschaftlichen Umgang mit sowie des Gebisses.
fossilen Menschenfunden lassen sich auch noch 11
12
  EXKURS 5.6  
13
Fundstellen fossiler Vormenschen und Menschen
Java (. Abb. 5.17). Hier haben sechs Fundstellen China (. Abb. 5.17). Zunehmende Zahl an 14
wichtige mittel- und auch spätpleistozäne Funde Fundstellen, u. a. Zhoukoudian (Choukoutien), in
von fossilen Menschen erbracht, sie liegen alle im der Nähe von Peking (= Beijing), reichste Fundstelle;
östlichen Java zwischen Solo (Surakarta) und Su- Lantian (bei Xian), Dali (bei Xian), Hexian (Provinz 15
rabaya: Trinil, Kedungbrubus, Sangiran, Perning Anhui), Yuanmou (Yunnan), Jinniushan.
(Mojokerto), Ngandong, Sambungmacan. Die Da- Afrika (. Abb. 5.18). Die Mehrzahl der Fund- 16
tierung der Funde ist schwierig, wahrscheinlich lie- stellen liegt in Süd-, Ost-, Nordost- und Nordwest-
gen auch frühpleistozäne Funde vor. Sangiran (bei
Solo) ist besonders wichtig, hier wird bis heute aktiv
afrika. Pliozän, frühes Pleistozän: Lothagam, süd-
westlich des Turkana-Sees (früher Rudolf-See), hier
17
geforscht und ein Museum bietet einen Überblick; Funde, die gut 4 Mio. Jahre alt sind; Laetoli (Tansa-
in Trinil am Fluss Solo (Bengawan Solo) am Fuße des nia), Hadar Aramis, Middle Awash (Afar-Region, 18
Gunung Lawu hat Eugene Dubois 1891 seine ersten nördliches Äthiopien); Omo (Formationen am Omo-
fossilen Menschen gefunden; ein Museum mit einer Fluss, südliches Äthiopien, nördlicher Turkana-See); 19
Nachbildung des Elefanten Stegodon am Eingang Koobi Fora (Ostufer des Turkana-Sees, besonders
erinnert daran. wichtige Fundstelle); Westuferregion des Turkana-
20
7
470 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.6 (Fortsetzung) 
Sees (Kenia); weitere Stätten in Kenia. Olduvai- ches Äthiopien); Yayo (Tschad); Kabwe (früher Bro-
Schlucht (Tansania). Malema und Uraha in Malawi. ken Hill, Sambia [früher Nord-Rhodesien]). Mehrere
Südafrika: Taung, Sterkfontein, Kromdraai, Drimu- nordwestafrikanische Fundstätten in Marokko und
len, Swartkrans, Makapansgat, alle unweit von Jo- Algerien. Südafrikanische Fundorte: u. a. Saldanha,
hannesburg, hier wurden bereits in den 20er-, 30er- Florisbad.
und 40er-Jahren des 20.  Jahrhunderts wichtige Naher bzw. Mittlerer Osten und Zentralasien.
Funde gemacht, v. a. von Australopithecinen. Mitt- Palästina bzw. Israel (Skhul, Tabun, Kebara, Amud,
leres und späteres Pleistozän. Ndutu-See (Tansania); Qafzeh); Usbekistan (Teshik-Tash, bei Samarkand);
Laetoli (Tansania); Bodo (Äthiopien); Omo (südli- Georgien (Dmanisi); Irak (Shanidar).

.. Abb. 5.17  Fundstellen fossiler Menschen in Ost- und Südostasien

7
5.5  •  Fossilgeschichte der Hominini (Menschen und Vormenschen) 471

 EXKURS 5.6 (Fortsetzung) 
5–6 (Fortsetzung) 

Europa (. Abb. 5.19). Höhlen in der Sierra Ata- land); Swanscombe (Kent, England); Neandertaler- 1
puerca (Nordwestspanien); Mauer (bei Heidelberg, fundstätten: Spanien, Frankreich, Belgien, England,
Baden-Württemberg); Bilzingsleben und Ehrings- Deutschland, Italien, Kroatien, Tschechien, Slowa- 2
dorf-Weimar (Thüringen); Steinheim an der Murr kei, Ukraine, bis hin zum Altai-Gebirge.
(Baden-Württemberg); Vertesszöllös (Ungarn);
Arago (bei Perpignan, Südfrankreich); Ceprano (bei
3
Rom); Petralona (bei Saloniki); Boxgrove (Südeng-
4
5
6
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19
.. Abb. 5.18  Fossilfundstellen von Australopithecus und Homo in Afrika und im Nahen Osten
20
7
472 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.6 (Fortsetzung) 

.. Abb. 5.19  Fossilfundstellen der Gattung Homo in Nordafrika und Europa


5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 473

  EXKURS 5.7  

Systematische Gliederung der Verwandtschaft des Menschen


1
Da die systematischen Begriffe, die die nähere und
weitere Verwandtschaft des Menschen kennzeich-
Unterfamilie: Homininae (afrikanische Men-
schenaffen und Mensch)
2
nen, z. T. falsch gebraucht werden und ähnlich Tribus: Hominini (fossile und rezente Angehö-
klingen, soll hier kurz die korrekte Terminologie rige der näheren Verwandtschaft des Menschen, 3
genannt werden: insbesondere Taxa der Gattungen Ardipithecus,
Überfamilie: Hominoidea (Gibbons, alle großen Australopithecus und Homo) 4
Menschenaffen, Menschen) Gattung: Homo (alle fossilen und rezenten
Familie: Hylobatidae (Gibbons) Menschenarten)
Familie: Hominidae (Orang-Utan, afrikanische Art: Homo sapiens (wissenschaftliche Bezeich- 5
Menschenaffen [Gorilla, Schimpanse, Bonobo] und nung aller fossilen und rezenten Angehörigen des
Mensch) modernen Menschen) 6
Unterfamilie: Ponginae (Orang-Utan) Unterart Homo sapiens sapiens (alle rezenten
Menschen seit dem späten Pleistozän)
7
8
5.6 Fossile Hominini (Menschen Entstehung des bipeden aufrechten Ganges, später 9
und Vormenschen) kommen die Verkleinerung des Kieferapparates und
die eindrucksvolle Gehirnentwicklung dazu.
Heute kennt man eine Fülle fossiler Menschen-
10
formen, die insbesondere in Afrika, Europa, dem
Nahen Osten sowie in Ost- und Südostasien ge- 5.6.1 Ardipithecus 11
funden wurden und über deren Zugehörigkeit zur
engeren Verwandtschaft des modernen Menschen Eine bedeutsame pliozäne Form, deren Einordnung 12
Übereinstimmung herrscht. Im Einzelnen ist die in die Hominini wenig umstritten ist, ist Ardipithe-
Bewertung jedoch kontrovers, die Zahl der Arten cus, von dem seit 1994 informative Reste von zahl-
und ihre Stellung im Stammbaum des Menschen reichen Individuen in und nördlich von Aramis in 13
sind umstritten, was vor allem am meistens unvoll- der Afar-Senke im Norden Äthiopiens gefunden
ständigen Fundmaterial und unserer mangelnden wurden. Die umfangreiche Forschergruppe wird 14
Kenntnis über die Variationsbreite anatomischer von T. White geleitet.
Merkmale bei den Fossilformen liegt. Man halte sich Es werden zwei Arten unterschieden, Ardipi-
nur einmal die unterschiedliche Körpergröße heuti- thecus ramidus (ca. 4,4 Mio Jahre alt) und Ardi-
15
ger Menschen vor Augen, um sich dieses Problems pithecus kadabba (5,2–5,8 Mio. Jahre alt). Von A.
bewusst zu werden. Dennoch zeichnet sich ein Bild ramidus konnte inzwischen das gesamte Skelett 16
der Entwicklungslinien, die zum modernen Men- rekonstruiert werden. Es zeigt ein interessan-
schen führten, ab, das in seinen Umrissen allgemein tes Mosaik aus Merkmalen von Menschenaffen 17
anerkannt wird und das die Fossilgeschichte recht und Mensch und veranschaulicht recht gut die
gut wiedergibt (. Abb. 5.20). Die ältesten Fundstü- Ausgangsform von Australopithecus und Homo.
cke sind gut 5 Mio. Jahre alt (Ardipithecus). Die äl- Dadurch wird auch deutlich, wie viele morpho- 18
testen Australopithecus-Funde sind gut 4 Mio. Jahre, logische Eigenmerkmale Schimpansen aufweisen.
die ältesten Funde der Gattung Homo wahrschein- Ardipithecus weist zum erheblichen Teil primi- 19
lich ca. 2,4 Mio. Jahre alt. Wesentliches Merkmal tivere Merkmale auf als Pan. Er war ca. 1,20 m
dieser Formen, wodurch sie sich grundsätzlich von groß und wog ca. 50 kg; das Volumen des Gehirns
den Menschenaffen unterscheiden, ist zuerst die betrug ca. 300–350 cm3. Ardipithecus lebte in ei-
20
474 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.20  Zeitliches Auftreten und hypothetische Verwandtschaftsbeziehungen der Gattungen Sahelanthropus, Orrorin, Ardipi-
thecus, Australopithecus, Kenyanthropus und Homo. Nach McKee et al., verändert (2005, Bildrechte liegen bei Pearson Prentice Hall)

ner von vermutlich lichtem Wald bedeckten Re- die Gattung Homo entwickelte und gingen mögli-
gion. Die Rekonstruktion von Fuß, Beinen und cherweise aus einer Form wie Ardipithecus hervor.
Becken führte zur Vermutung, dass Ardipithecus Sie wurden bisher nur in Äthiopien, in Ost- und
geschickter Kletterer war, sich aber auch biped Südafrika sowie im Tschad nachgewiesen.
und aufrecht am Boden fortbewegen konnte. Der Die Knochen des Beckens, der unteren Extre-
aufrechte Gang entstand also wahrscheinlich im mitäten und der Wirbelsäule belegen, dass die Aus-
Waldland. Er hatte lange Arme und einen oppo- tralopithecinen aufrecht gingen. Die Arme waren
nierbaren großen Zeh. Der Zahnbogen war ge- noch länger als beim Menschen und die Großzehe
schlossen, der Sexualdimorphismus (Canini!) war war noch abspreizbar; ob diese Zehe aber echt op-
relativ gering, viel geringer als beim Schimpansen. ponierbar war, ist umstritten.
Der Zahnschmelz war dicker als bei Schimpansen, Der Fuß war noch nicht so hoch spezialisiert
aber noch nicht so dick wie bei Australopithecus. wie der des Menschen, aber es ist sehr schwer,
Vermutlich war Ardipithecus omnivor. Anatomie und Bewegungsmöglichkeiten des Fu-
ßes einer fossilen Art aus einzelnen Knochen (ohne
Knorpel an den Gelenkflächen, ohne genaue Kennt-
5.6.2 Australopithecus nis von Muskeln und Sehnen) exakt zu rekonstruie-
ren. Die ca. 3,5 Mio. Jahre alten Fußabdrücke von
Verschiedene Arten der Gattung Australopithecus Laetoli (Tansania) lassen keinen Zweifel, dass der
werden (manchmal zusammen mit Ardipithecus) Fuß schon ein Längsgewölbe besaß. Das Gesicht
unter dem Begriff der Australopithecinen zusam- zeigt noch Anklänge an das der Menschenaffen.
mengefasst und manchmal auch Vormenschen Die Schädelkapazität betrug zwischen ca. 400 und
genannt. Sie bilden die Grundgruppe, aus der sich 550 cm3. Ihr Gewicht lag bei ca. 30–40 kg (Australo-
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 475

pithecus africanus), es lag ein ausgeprägter Sexual- Die ersten Spuren der Gattung Australopithecus
dimorphismus vor. Knöchernes Labyrinth, Details sind gut 4 Mio. Jahre alt. Man fand sie am Turkana- 1
des Handskeletts u. a. sind (noch) menschenaffen- See in Ostafrika. Ihre letzten Spuren verlieren sich
ähnlich. Die Individualentwicklung verlief recht vor ca. 1,4 Mio. Jahren. Einige Australopithecinen 2
rasch und ähnelte der der heutigen afrikanischen mit auffallend robust strukturierten Gesichtsschä-
Menschenaffen. deln und kräftigem Kauapparat werden oft in eine
Zur Lebensweise gibt es mehrere verschiedene eigene Gattung, Paranthropus, gestellt. Die Berech- 3
Vorstellungen. Seit langem wird die Savannenthe- tigung dieser Gattung ist aber sehr umstritten, ins-
orie vertreten, derzufolge die Australopithecinen besondere, weil es Hinweise dafür gibt, dass sich 4
in der offenen Savanne lebten. Der aufrechte Gang das Merkmal „robust“ bei verschiedenen Aust-
entstand offenbar noch im Waldland (s. Ardipithe- ralopithecus-Arten wohl konvergent entwickelt
cus) und vervollkommnete sich in Korrelation mit hat, gerade der Kauapparat ist für Konvergenzen
5
dem Lebensraum Savanne. In Übereinstimmung „anfällig“, wie Beispiele anderer Wirbeltiere zei-
mit dieser Theorie steht die Tatsache, dass es vor gen. Den Australopithecinen wird auch der 2001 6
ca. 3,5 Mio. Jahren in Ost-Afrika trockener wurde beschriebene Kenyanthropus zugeordnet. Die fol-
und sich die Wälder zurückzogen. Neuerdings genden fünf Australopithecinen werden als grazile 7
wird eher vermutet, dass die Australopithecinen Australopithecinen bezeichnet; ihnen fehlen die
in flussbegleitenden Galeriewäldern lebten und kräftigen Schädelspezialisierungen der robusten
von hier aus Vorstöße in die Savanne machten. Sie Formen. 8
konnten sich sowohl biped am Boden fortbewegen
als auch in Bäumen klettern. Vermutlich waren sie Australopithecus anamensis 9
in der Lage, gut in verschiedenen wechselnden Le- Die älteste Australopithecus-Art wird Australopithe-
bensräumen, die aber immer Waldland umfassten, cus anamensis genannt (anam = See in der Turkana-
zurechtzukommen. Erwähnt sei auch die provo- sprache, weil die ersten Funde in der Nähe des Ufers
10
kante Hypothese, dass der aufrechte Gang eine An- des Turkana-Sees gemacht wurden). Die Fundstät-
passung an den Aufenthalt im flachen Wasser ist. ten befinden sich bei Allia Bay und Kanapoi in Ke- 11
Australopithecinen waren wahrscheinlich Vegeta- nia. Außerdem sind Skelett- und Zahnreste dieser
rier und ernährten sich von Blättern, Rhizomen, Art auch im Norden Äthiopiens gefunden worden. 12
Samen, Früchten, Wurzeln und z. T. (A. boisei) Das beschriebene Fundmaterial (mehrere Oberkie-
wohl auch Gras. Vielleicht verhielten sie sich bei fer, Schädelfragmente, Zähne, Fragmente des Arm-
primärer Pflanzennahrung opportunistisch und und Beinskeletts) ist ca. 4,2 Mio. Jahre (Kanapoi) 13
nahmen auch tierische Nahrung, darunter Aas, zu bzw. 3,9 Mio. Jahre (Allia Bay) alt. Die Reihen der
sich. Ob sie schon Werkzeuge (Steine, Knochen, Molaren und Prämolaren verlaufen noch, wie bei 14
Hörner, Zähne, Baumzweige) gebrauchten, ist Menschenaffen, annähernd parallel, der enge äu-
nicht sicher bekannt, aber wahrscheinlich. Eine in- ßere Gehörgang ist ein weiteres ursprüngliches
teressante Facette hinsichtlich des Sozialverhaltens Merkmal. Andere Merkmale erreichen ein höheres
15
der Australopithecinen ergaben Untersuchungen Niveau und platzieren A. anamensis an die Basis der
zur Verteilung von Strontiumisotopen im Zahn- Australopithecinen. Das flache, gut ausgeprägte Ti- 16
schmelz: danach verließen die Frauen die Gruppe, biaplateau (die proximale Gelenkfläche des Schien-
in der sie geboren worden waren, und schlossen beins) deutet z. B. eindeutig auf bipeden Gang hin; 17
sich dann einer anderen Sippe an. Vermutlich bot dennoch dürfte A. anamensis wie A. africanus und
der Lebensraum der Australopithecinen, der auf A. afarensis auch in der Lage gewesen sein, in Bäu-
alle Fälle die Savanne wesentlich mit einschloss, men zu klettern. Die Begleitfunde (z. B. Kudus, Im- 18
ihrem Lebensformtyp nur wenige Konkurrenten. palas, der Pavian Parapapio, einzelne Colobinae, die
Eine starke Aufspaltung in lokale Gruppen und Elefanten Elephas und Loxodonta) lassen vermuten, 19
demgemäß Aufgliederung in durchschnittlich ver- dass A. anamensis in offenem Wald- und Buschland
schiedene Formtypen ist wahrscheinlich (Remane lebte, das von Flüssen mit Galeriewäldern durch-
1954). zogen war.
20
476 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.21 a–d.  Schädel von Australopithecinen. a Australopithecus afarensis, b Australopithecus africanus, c Australopithecus


garhi, d Australopithecus boisei. Maßstab unterschiedlich

Australopithecus afarensis Von A. afarensis liegen zahlreiche Funde vor, die


Die Anatomie dieser Australopithecinenart ist recht aus der Zeit zwischen 3,9 und knapp 3 Mio. Jahren
gut bekannt. Der Schädel war insgesamt noch re- vor heute stammen. Fundstellen liegen in Äthiopien
lativ schimpansenähnlich (. Abb. 5.21a), jedoch und Tansania. Zu den recht gut erhaltenen Fund-
ähneln Zähne und Gebiss den entsprechenden stücken gehört auch das Skelett eines Individuums,
Strukturen der Menschen, z. B. ist der Eckzahn re- das den Namen Lucy erhielt. Weiteres Fundmaterial
duziert und die Form des Zahnbogens verhält sich aus der Region Hadar in Äthiopien umfasst ca. 13
intermediär zwischen der fast rechteckigen Form Individuen, darunter ein Kleinkind. Diese Gruppe
der Menschenaffen und der parabolischen Form ist vermutlich bei einer Katastrophe ums Leben ge-
des Menschen. Die Schneidezähne sind nach au- kommen. In Dikika (Äthiopien) wurde das 3,3 Mio.
ßen geneigt, so dass der vordere Kieferbereich pro- Jahre alte Skelett eines ca. drei Jahre alten Mädchens
gnath erscheint, was auch für A. africanus zutrifft. von A. afarensis gefunden, das außerordentlich gut
Die Schädelkapazität variierte zwischen 400 und erhalten ist. In der Region von Laetoli wurden Fuß-
550 cm3 (Mittelwert ca. 445 cm3). Auch das Innen- spuren von A. afarensis entdeckt, die unmittelbar
ohr war noch eher wie bei Menschenaffen aufge- zeigen, dass er aufrecht ging. Sein Lebensraum war
baut. Ein menschenähnliches Innenohr finden wir vermutlich lichter Wald.
erst ab Homo erectus. Becken und Skelett der un- Etwa 2500 km westlich des ostafrikanischen
teren Extremitäten ähneln denen moderner Men- Grabens wurden in Bahr el Gazal im Tschad
schen und beweisen die Fähigkeit zum aufrechten 3,5–3 Mio. Jahre alte Skelettreste (vorderer Unter-
bipeden Gang. Dennoch sprechen Details von Fuß- kiefer mit Zähnen, ein oberer Prämolar) eines Aus-
und auch Handskelett für die (zusätzliche) Fähig- tralopithecinen gefunden. Diese Kieferreste und
keit, in Bäumen zu klettern. Der Knochenbau war Zähne sind von denen von A. afarensis kaum zu
generell kräftig. Es lag deutlicher Sexualdimorphis- unterscheiden, wurden aber von ihren Entdeckern
mus vor, die Körperhöhe variierte zwischen ca. 105 einer eigenen Art, Australopithecus bahrelghazali,
und 150 cm. zugeordnet.
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 477

Australopithecus garhi bewegte sich biped am Boden fort, konnte aber


Etwa 2,5  Mio. Jahre alt sind die 1999 beschriebe- wohl auch gut in Bäumen klettern. Ein 1995 be- 1
nen Funde von Australopithecus garhi (garhi heißt schriebenes Fußskelett („Littlefoot“) zeigt proximal
in der Afar-Sprache: Überraschung) (. Abb. 5.21c), eine menschenähnliche Anatomie, distal aber eine 2
die in der Bouri-Formation im mittleren Abschnitt menschenaffenähnliche mit abspreizbarer großer
des Awash-Flusses (Middle Awash) in Äthiopien Zehe, was ein spezifischer Hinweis dafür ist, dass
entdeckt wurden. A. garhi werden mehrere Schä- A. africanus tatsächlich in Bäumen klettern konnte. 3
delbruchstücke und Zähne, aber – unter gewissem Das Körpergewicht variierte zwischen 30 und 41 kg.
Vorbehalt – auch in der Nähe gefundene Extremi- Wie bei A. afarensis gab es einen deutlichen Sexual- 4
tätenknochen zugeordnet. Der Schädel besitzt eine dimorphismus. Männer von A. africanus waren ca.
Crista sagittalis, die Schädelkapazität ist ca. 450 cm3. 138 cm, Frauen ca. 115 cm groß. Das individuelle
Der Zahnbogen ist abgerundet und der Schmelz ist Lebensalter erreichte möglicherweise ca. 20 Jahre.
5
dicker als bei A. afarensis. Zwischen oberem Eck- Für manche Forscher ist A. africanus ein Kandidat
zahn und dem 2. oberen Schneidezahn besteht noch für den Vorfahren der Gattung Homo, für andere 6
ein primitives Diastema (für den unteren Eckzahn). entwickelt sich A. africanus zu den robusten Aust-
Wie bei A. afarensis sind Ober- und Unterarm ähn- ralopithecinen weiter. 7
lich lang. Das Femur dagegen war länger als bei A.
afarensis, was den Verhältnissen der Gattung Homo Australopithecus sediba
näherkommt. A. garhi repräsentiert vermutlich eine Seit August  2008 wurden in Malapa (Südafrika) 8
späte von A. afarensis ausgehende Entwicklungslinie, mehr als 200 Knochenreste von mindestens fünf
wurde aber auch – v. a. aus zeitlichen Gründen – von Individuen einer Australopithecinenart (Australopi- 9
einigen Paläoanthropologen als möglicher Vorfahr thecus sediba) entdeckt, die aufgrund ihrer Mosaik-
der Gattung Homo angesehen. Vielleicht hat A. garhi merkmale als mögliche Übergangsform zur Gattung
sogar schon einfache Steinwerkzeuge hergestellt. Homo interpretiert wurde. Besonders die postcrani-
10
ale Skelettanatomie, vor allem der menschenähnli-
Australopithecus africanus chen Hand, lässt die Wissenschaftler vermuten, dass 11
An verschiedenen Stellen Südafrikas (Sterkfontein, A. sediba vor ca. 2 Mio. Jahre durchaus in der Lage
Makapansgat, Taung) wurden Skelettreste von Aus- war, mit präzisen Handgriffen Stein- und andere 12
tralopithecus africanus (. Abb. 5.21b) gefunden. Werkzeuge zu fertigen und dabei immer noch eine
Allein in den Höhlen von Sterkfontein sind ca. 500 sehr gute Kletterfähigkeit behielt. Die Zähne waren
Einzelfundstücke geborgen worden. Der älteste relativ klein, die Mandibel relativ zart gebaut, was an 13
beschriebene Fund ist das „Kind von Taung“, ein Homo erinnert. Die übrigen Schädelmerkmale und
gut erhaltener Schädel eines kindlichen Australo- ein relativ kleines Gehirnvolumen von ca. 420 cm3 14
pithecus africanus, der schon 1924 (von Raymond rechtfertigt die Zuordnung zu Australopithecus und
Dart) beschrieben wurde. Dies war der erste Fund erlaubt den Schluss, dass A. sediba wahrscheinlich
eines Australopithecinen überhaupt. Das Alter all die Nachfahren von A. africanus darstellen.
15
dieser Funde beträgt 3,2–2,5 Mio. Jahre, vielleicht Robuste Australopithecinen. Die bisher auf-
sind Einzelfundstücke sogar noch älter. Die Schä- geführten Australopithecinen repräsentieren die 16
delkapazität variiert zwischen 425 und 510 cm3 (ein „grazilen“ Australopithecus-Arten, die folgenden
Einzelbefund liegt bei 560 cm3, Durchschnittswert drei fossilen Arten (A. robustus, A. aethiopicus, A. 17
462 cm3), als Erwachsener hätte das Kind von Taung boisei) sind durch kräftigen Gesichtsschädel, stark
vermutlich eine Schädelkapazität von ca. 540 cm3 entwickelten Kauapparat und sehr große postcanine
gehabt. Die Schädelkapazität ist also größer als bei Zähne (Megadontie) gekennzeichnet. Der übrige 18
dem älteren A. afarensis. Auch das Gebiss war etwas Körper ähnelt weitgehend dem der „grazilen“ Aust-
moderner und menschenähnlicher als bei A. afaren- ralopithecinen. Sie werden wegen des kräftigen Kau- 19
sis, z. B. waren die Eckzähne verkleinert. Die Extre- apparates und des markanten knöchernen Gesichts
mitätenproportionen waren noch relativ primitiv, auch als „robuste“ Australopithecinen bezeichnet
die Arme waren also noch recht lang. A. africanus und werden nicht selten in einer eigenen Gattung,
20
478 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

Paranthropus, zusammengefasst. Da aber nicht si- (vielleicht aßen sie z. T. sogar Raupen, Puppen und
cher ist, dass sie eine genetische Einheit sind und adulte Insekten, wie heute z. T. die Schimpansen, so-
das Merkmal „robust“ möglicherweise konvergent wie möglicherweise sogar Krebse und Schnecken).
entstanden ist, werden die robusten Formen hier der Begleitfunde sprechen dafür, dass sie in offenen,
Gattung Australopithecus zugeordnet. A. aethiopicus baumbestandenen Savannen, in Graslandschaft und
ist deutlich älter als die anderen Formen und nimmt wohl auch an Ufern von Seen und Flüssen lebten.
eine gewisse Sonderstellung ein. Er weist einerseits
einige Übereinstimmungen mit A. afarensis auf und Australopithecus robustus
andererseits könnte sich aus ihm der „hyperrobuste“ A. robustus lebte in der Zeit zwischen gut 1,8 und
A. boisei entwickelt haben. A. robustus besitzt man- 1,5 Mio. Jahren vor heute. Fundstellen liegen in Süd-
che Ähnlichkeiten mit A. africanus. afrika (Kromdraai, Drimulen, Swartkrans). Mit dem
Der mächtig entwickelte Musculus (M.) tempo- robusten Gesichtsschädel kontrastiert ein postcra-
ralis, ein paariger Kaumuskel, der den Unterkiefer niales Skelett, das dem des „grazilen“ A. africanus
hebt und auch nach hinten zieht, dehnt seine Ur- entspricht. Die Schädelkapazität lag im Mittelwert
sprungsfläche an den Schädelseiten nach oben aus, bei ca. 530 cm3. Australopithecus robustus wurde ca.
was zur Bildung eines Knochenkamms, der Crista 132 (Männer) bzw. 110 (Frauen) cm groß und wog
sagittalis, in der Mitte des Schädeldaches führt. Die bis ca. 40 kg. Vermutlich hat er Knochen, Steine und
kräftigen Jochbögen stehen seitlich recht weit ab Äste als Werkzeuge gebraucht und möglicherweise
und schaffen damit Platz für den großen M. tem- auch bearbeitet.
poralis. Der kräftige Überaugenwulst absorbiert
die Kräfte, die beim Kauen die Supraorbitalregion Australopithecus aethiopicus
belasten. A. boisei bildet hinten am Schädel zusätz- A. aethiopicus ist im Zeitraum zwischen 2,6 und
lich eine Crista nuchalis aus, an der eine kräftige 2,3 Mio. Jahren vor heute nachgewiesen, er ist also
Nackenmuskulatur ansetzte. Die Molaren und Prä- älter als die anderen robusten Australopithecinen.
molaren vergrößern ihre Kaufläche. Die Oberfläche Fundmaterial: ein gut erhaltenes Calvarium (black
dieser Zähne ist relativ flach, der Schmelz ist sehr skull), ein Unterkiefer, einige craniodentale Frag-
dick, bei A. boisei so dick wie bei keinem anderen mente. Seine Schädelkapazität betrug ca. 420 cm3,
Homininen Die Zähne des Vordergebisses stehen war also relativ klein. Viele anatomische Merkmale
steil (orthognath) und sind klein, so dass für die erinnern an A. afarensis; die sehr hohe Crista sagitta-
funktionell wichtigen vergrößerten Backenzähne im lis ähnelt der von A. boisei, der sich möglicherweise
Zahnbogen Platz bereitgestellt wird. Die Schädelka- aus A. aethiopicus entwickelt hat (Chronospecies). A.
pazität erreicht bei A. robustus und A. boisei 530– aethiopicus wurde in Äthiopien und Kenia gefunden.
545 cm3. Die Nahrung bestand generell zu einem
erheblichen Teil aus faserreicher Pflanzennahrung, Australopithecus boisei
darunter wohl auch Rhizome, Wurzeln, Samen, Der Schädel von A. boisei (. Abb. 5.21d) ist „hy-
Nüsse und vermutlich in variablem Ausmaß auch perrobust“. Es existierte nicht nur eine Crista sa-
Fleisch. A. boisei war vermutlich hinsichtlich seiner gittalis, sondern auch eine Crista nuchalis. Das
Ernährung zu einem beträchtlichen Teil auf eine aufgefundene Schädelmaterial ist auffallend vari-
C4-Biomasse, also Gräser und verwandte Pflanzen, abel (Geschlechtsdimorphismus, möglicherweise
spezialisiert. Seine Nahrungskonkurrenten waren verschiedene Unterarten). Das postcraniale Ske-
demzufolge vermutlich Zebras, Paarhufer und lett ist kaum bekannt. Die Schädelkapazität lag
Theropithecus. Überraschend ist, dass die Zähne ei- im Mittelwert bei ca. 490 cm3. Männer wurden ca.
nen niedrigen Gehalt an Strontium aufweisen. Dies 137 cm, Frauen ca. 124 cm groß. Er lebte im Zeit-
ist für Fleischfresser typisch (Pflanzen haben einen raum zwischen 2,3 und 1,4  Mio. Jahren vor der
deutlich höheren Gehalt an Strontium als Fleisch). Jetztzeit. Fundstellen liegen in Äthiopien, Malawi,
Dieser Befund deutet darauf hin, dass die robus- Kenia und Tansania. Mit A. boisei (und zeitgleich
ten Australopithecinen auch Fleisch aßen, wobei A. robustus) starben die Australopithecinen vor ca.
offen bleibt, welcher Art diese Fleischnahrung war 1,4 Mio. Jahren aus.
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 479

5.6.3 Kenyanthropus platyops H. habilis und H. rudolfensis hatten eine Schä-


delkapazität, die um ca. 630 cm3 (H. habilis) und ca. 1
Dieser Art liegt 2001 gefundenes, ca. 3,5 Mio. Jahre 780 cm3 (H. rudolfensis) variierte und größer war
altes Schädelmaterial (aus Kenia, Lomweki-Gebiet am als die von Australopithecus. Die Variationsbreite 2
Westufer des Turkana-Sees) zugrunde. Die anatomi- kann auf individuelle Variabilität, die es in noch
sche Analyse ergab ein eigentümliches Gemisch aus größerem Ausmaß beim heutigen Menschen gibt,
Merkmalen von Menschenaffen, Australopithecinen Geschlechtsdimorphismus oder lokale Populatio- 3
und auch frühen Menschen: enger und kurzer Gehör- nen mit unterschiedlicher Körpergröße hindeuten.
gang (wie bei A. anamensis und Pan), Backenzähne Es ist zu vermuten, dass schon die ersten Vertreter 4
mit recht dicker Schmelzkappe (ähnlich wie bei A. von Homo in komplexen Sozialsystemen lebten, was
anamensis und A. afarensis), relativ kleine postca- vermutlich die Weiterentwicklung der bisherigen
nine Zähne, kleine Schädelkapazität (wie generell bei Kommunikationslaute zu einer Sprache im heutigen
5
Australopithecinen), flacher großer Gesichtsschädel. Verständnis begünstigte.
Manche Merkmale, wie der flache Gesichtsschädel Da die Aussagemöglichkeiten der Paläoanth- 6
und andere Details, erinnern sogar an Homo rudol- ropologie nicht selten an Grenzen stoßen, soll hier
fensis und Homo habilis, was aber auf Konvergenz be- auch im Fall der Gattung Homo nicht der Anspruch 7
ruhen kann. Begleitfunde lassen vermuten, dass er in erhoben werden, dass die als Arten bezeichneten
baumreicher Umgebung lebte. Manche Autoren stel- fossilen Formen tatsächlich Arten im Sinne der bio-
len diesen Fund in die Gattung Australopithecus, u. a. logischen Artdefinition sind, sondern die Namen 8
weil sie der Ansicht sind, dass das Schädelmaterial sollen morphologisch und zeitlich charakterisierte
stark zerdrückt ist und die Eigenständigkeit speziell Formen kennzeichnen und eine Basis der Verstän- 9
des flachen Gesichts nur vorgetäuscht ist. digung bilden. In manchen Kontroversen bleibt
unklar, was genau mit dem Begriff Art gemeint ist
und ob von einem „Grade“ oder „Klade“ die Rede
10
5.6.4 Erste Angehörige ist (s. Henke u Rothe 1998). Gerade bei der Gat-
der Gattung Homo tung Homo drängt sich oft die Vermutung auf, dass 11
hier – wenn überhaupt – Arten durch einen kon-
Es bleibt umstritten, wie die erste Homo-Art mor- tinuierlichen Wandel (phyletischen Gradualismus) 12
phologisch, ökologisch und in Hinsicht auf ihre entstanden sind. Manche Autoren unterscheiden bei
Werkzeugkultur zu definieren ist. Auch die verbrei- Homo mindestens 15 Arten, andere wollten nur eine
tete Festlegung auf H. habilis und H. rudolfensis als Art gelten lassen. 13
erste Vertreter der Gattung Homo ist umstritten. Die Gattung Homo entstand vermutlich vor gut
Aus evolutionsbiologischer Sicht ist es verständlich, 2,5 Mio. Jahren in Ostafrika. Australopithecus se- 14
wenn Übergangsformen oder erste Vertreter einer diba könnte als Ursprungsart infrage kommen. Die
Gattung ein Mosaik an Merkmalen aufweisen, das Mehrzahl der Wissenschaftler vermutet aufgrund
die systematische Bewertung schwer macht. Neben von sorgfältigen morphologischen Vergleichen, dass
15
der weiteren Vervollkommnung des bipeden Gan- Homo monophyletisch entstand.
ges wird vor allem die Vergrößerung des Gehirns Vermutlich lebten in dem Zeitraum zwischen 2 16
und die damit verbundene Höherentwicklung der und 1,8 Mio. Jahren vor heute Arten der Gattungen
Kultur als entscheidendes Charakteristikum der Australopithecus und Homo nebeneinander in Ost- 17
Gattung Homo angesehen. afrika (A. aethiopicus, A. boisei, A. sediba, H. habilis,
Die Entstehung der Gattung Homo ist offenbar H. rudolfensis, H. ergaster).
korreliert mit klimatischen Veränderungen in Ost- Die frühesten Funde der Gattung Homo re- 18
afrika. Man kann außerdem davon ausgehen, dass präsentieren die erste Stufe eines neuen Entwick-
Homo von Anfang an nicht von einem einzigen spe- lungsniveaus „jenseits“ von Australopithecus mit 19
zifischen Lebensraum abhängig war und ein breites größerem Gehirn und der Fähigkeit, gezielt immer
Spektrum an Überlebensstrategien verwirklichen differenzierter werdende Werkzeuge herzustellen,
konnte. weit jenseits des Niveaus der nicht-menschlichen
20
480 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

Primaten, vor allem der Schimpansen. Älteste bis- Homo habilis


her gefundene Steinwerkzeuge sind ca. 2,3–2,6 Mio. Homo habilis ist die weithin anerkannte erste Art
Jahre alt (Gona, Lokalalei in Hadar, Äthiopien). der Gattung Homo. Er wurde im Zeitraum von 2,4–
Anatomisch fallen insbesondere Veränderungen 1,65 Mio. Jahren vor heute nachgewiesen. Funde
des Schädels auf: flacher, orthognather Gesichts- stammen aus Hadar (Äthiopien), weitere stammen
schädel, Entstehung einer Stirn, deren Ursache in aus der Olduvai-Schlucht Tansanias (zuletzt wurde
der Vergrößerung des Stirnhirns (Lobus frontalis hier 2003 ein ca. 1,8 Mio. Jahre altes Oberkieferfrag-
des Telencephalons) zu sehen ist. Die Schädelkapa- ment mit vollständigem Gebiss (OH65) beschrie-
zität hatte sich vergrößert (s. oben) und es gibt Hin- ben), aus Sterkfontein (Südafrika, vielleicht 2,2 Mio.
weise dafür, dass auch die Anatomie des Gehirns Jahre alt) und wahrscheinlich auch aus Koobi Fora
einen höheren Komplexitätsgrad erreicht hatte und (Kenia) am Turkana-See.
sich weiter ausdifferenzierte; so wurden von dem Homo habilis war ca. 140 cm groß und von rela-
südafrikanischen Anthropologen Phillip V. Tobias tiv grazilem Körperbau. Das Fußskelett unterschied
stärker ausgebildete Broca- und Wernicke-Areale sich nur wenig von dem heutiger Menschen. Der
beschrieben. Der Kieferapparat und die Zähne wa- große Zeh rückte mit den anderen Zehen in eine
ren kleiner als bei Australopithecus; die Krone des Reihe und war nicht mehr abspreizbar. Der Kau-
Eckzahns nahm eine typische Gestalt an, mit hohem apparat war schwächer als bei Australopithecus, der
Basis- und niedrigem Spitzenanteil. Der Zahnbogen dritte Molar etwas reduziert, der Zahnbogen war
wurde noch abgerundeter als bei Australopithecus. völlig geschlossen. Das Gesicht war relativ klein,
Die Beine waren länger als bei Australopithecus. Das eine Stirn schon vorhanden (. Abb. 5.22b). Die
Fußskelett näherte sich weiter dem des modernen Schädelkapazität variierte bei fünf vermessenen
Menschen an. Die Arme der ersten Homo-Art(en) Schädeln zwischen 580 und 687 cm3. Homo habilis
waren wahrscheinlich noch relativ lang. Im Hand- war Hersteller von Steinwerkzeugen. Die Werkzeug-
skelett verbesserte sich noch die Opponierbarkeit kultur (= -industrie), die ihm zugeordnet wird, wird
des Daumens, womit ein sicherer Präzisionsgriff Oldowan (A und B) genannt. Die Steinwerkzeuge
entstand. dieser Kultur sind von ca. 2,5 Mio. bis 700.000 Jahren
Wenn, was zu vermuten ist, schon Vertreter der vor heute nachweisbar. Die wesentlichen Werkzeuge
ersten Homo-Art(en) gemeinschaftlich auf die Jagd der Oldowan-Kultur sind mit wenigen Schlägen aus
gingen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass kom- Geröllsteinen gefertigte Werkzeuge (. Abb. 5.37a).
plexe Sozialsysteme entstanden. Es gibt die These, Unter letzteren unterscheidet man einfache pebble
dass die ersten Vertreter von Homo bis zu 30 % ihrer tools (aus gerundeten Kieseln oder Geschieben)
Nahrung von Aas bezogen, wobei sie sich die Car- und chopper- (einflächig behauen) sowie chopping
nivoren, die ein großes Beutetier ja nicht freiwillig (zweiflächig behauene) tools. Es gibt aber auch
aufgaben, gemeinsam vom Leib zu halten wussten. schon grobe und feine einfache Abschlaggeräte.
Ein zunehmend komplexes und flexibles Sozialle- Derlei Steinwerkzeuge werden – ebenso wie die
ben wird oft als positiver Selektionsfaktor für die Werkzeuge späterer Kulturen (= Industrien) auch
Hirnvergrößerung angesehen. In Hinsicht auf die „Artefakte“ genannt. Die differenzierte Oldowan-B-
Ernährung wird vermutet, dass Homo eine deutlich Kultur (ab etwa 1,5 Mio. Jahre vor heute) leitete zur
proteinreichere (also v. a. fleischreiche) Nahrung zu Faustkeilkultur über. Diese Oldowan-Werkzeuge
sich nahm als Australopithecus. Die Individualent- werden entweder mit einem Hammerstein (wird
wicklung verlief bei den fossilen Homo-Arten gene- wie ein Hammer genutzt) gewonnen, oder direkt
rell über deutlich längere Zeiträume als bei Austra- mit einem Hammerstein auf einem Ambossstein
lopithecinen. Nur bei den ältesten Homo-Arten war zugeschlagen. Vermutlich gab es bevorzugte Stel-
die Lebensdauer noch relativ niedrig und wohl mit len, an denen die Werkzeuge hergestellt wurden und
der der Australopithecinen vergleichbar. vermutlich konnten diese Werkzeuge „auf Halde“
gelagert werden. Über sprachliche Fähigkeiten las-
sen sich keine Aussagen machen, aber die Analyse
von Schädelausgüssen lässt vermuten, dass Broca-
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 481

1
2
3
4
5
6
7
8
.. Abb. 5.22 a–e.  Frühe Vertreter der Gattung Homo. a Homo habilis (KNM-ER 1813), b Homo rudolfensis (KNM-ER 1470),
c Homo ergaster (KNM-ER 3733), d Homo erectus (Java, Sangiran 17), e Homo erectus (China, Zhoukoudian) 9
und Wernicke-Areale vergrößert sind und dass das ist zu berücksichtigen, dass H. rudolfensis generell
Endhirn – wie beim modernen Menschen – Asym- größer und robuster als H. habilis war. Der Ence-
10
metrien zeigte, was auf gewisse Lateralisierung von phalisationsquotient von H. rudolfensis wird daher
Hirnfunktionen hinweist. auch etwas niedriger (3,0) angegeben als der von 11
H. habilis (3,5). Der Encephalisationsquotient wird
Homo rudolfensis aus verschiedenen Messungen des Schädels und des 12
Homo rudolfensis (. Abb. 5.22a) ist eine umstrittene übrigen Skeletts berechnet und ergibt einen Anhalt
frühe Homo-Form. Er weist viele Übereinstimmun- für die Hirngröße. Dieser Quotient liegt bei 1 bei
gen mit H. habilis auf und wird daher auch als etwas einem typischen Säugetier, z. B. der Katze. Je größer 13
robustere Variante der Art H. habilis zugezählt. Der dieser Quotient ist, desto größer ist das Gehirn.
besonders dicke Zahnschmelz, relativ große Mola- 14
ren und manche Skelettmerkmale erinnern noch an Homo ergaster und Homo erectus
Australopithecinen. Homo ergaster (. Abb. 5.22c, 5.24a) und Homo erec-
Fundstellen liegen am Ostufer des Turkana-Sees tus (. Abb. 5.22d,e, 5.24b) werden nicht von allen
15
(früher: Rudolf-See, Koobi Fora), im Omo-Gebiet Paläoanthropologen als zwei verschiedene Arten
(Südäthiopien) und am Malawi-See (Uraha). Der angesehen, sondern nur als eine, die dann oft H. 16
robuste vordere Unterkiefer vom Malawi-See ist der erectus genannt wird. Manche Autoren fassen H.
älteste H.-rudolfensis-Fund und ist 2,4 Mio. Jahre erectus sogar noch weiter und zählen ihm auch die 17
alt, wobei sich diese Einschätzung auf die Datierung hier unter H. heidelbergensis beschriebenen Formen
der Begleitfauna stützt. Der älteste H.-habilis-Fund zu; damit wird H. erectus zu einer catch all (alle ein-
ist praktisch gleich alt (2,33 Mio. Jahre, Äthiopien). schließenden) Art. Hier wird ein Grundproblem der 18
Etwas jüngere H. rudolfensis zugeschriebene Funde Paläontologie deutlich, dass nämlich kaum jemals
sind 1,8–1,9 Mio. Jahre (Koobi Fora) bzw. 2 Mio. sicher abzugrenzen ist: wo eine fossile Art „be- 19
Jahre alt (Omo). Die Schädelkapazität wird mit 752 ginnt“ und wo sie „aufhört“. Außerdem ist fast nie
und 824 cm3 (zwei Individuen) angegeben, liegt die morphologische Variationsbreite bekannt. Wir
also höher als beim „klassischen“ H. habilis. Dabei halten es beim derzeitigen Stand der Wissenschaft
20
482 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.23 Schematische
Darstellung der Theorie der multire-
gionalen Kontinuität (links) und der
„Replacement-Theorie“ in der Evolution
des Menschen (rechts). Nach Tattersall,
verändert (1995)

aus morphologischen und anderen im Folgenden kana-See gefunden, weiteres stammt aus Äthio-
genannten Gründen für sachdienlich und sinnvoll, pien und Tansania sowie vermutlich aus Südafrika
H. ergaster von H. erectus zu trennen und auch H. und Georgien. Möglicherweise gehört hierher auch
heidelbergensis als eigene Art beizubehalten. So wer- Schädelmaterial aus Eritrea (Buia), das ca. 1 Mio.
den Unterschiede und Details nicht verwischt. Jahre alt ist.
Es gibt also Wissenschaftler, die alle fossilen Eigenmerkmale von H. ergaster im Vergleich
Menschen oberhalb von H. habilis als H. erectus mit H. erectus (. Abb. 5.24a) sind: generell grazi-
bezeichnen, der in Afrika entstand, sich einerseits lerer Körperbau, längere und schmalere Molaren,
hier weiterentwickelte und andererseits von Afrika komplexe Wurzeln der Prämolaren, dünnere Schä-
aus ganz Asien und Europa besiedelte. Er hat sich delknochen, kein kielartiger Knochenwulst auf dem
zufolge dieser Auffassung an verschiedenen Stellen Schädel, schwächerer Überaugenwulst, schmalere
Afrikas, Asiens und Europas parallel – z. T. unter Schädelbasis, höhere Schädelwölbung (McKee et al.
genetischem Austausch – zu H. sapiens entwickelt 2005). Die Schädelkapazität betrug 750–850 cm3.
(Multiregionale Theorie der Entstehung des Men- Die nur ca. 1 Mio. Jahre alten „Daka“-Funde, die
schen = regional continuity model). Eine Mehrheit 2002 beschrieben wurden, hatten eine relativ große
von Wissenschaftlern sieht aber die Entwicklung Schädelkapazität (995 cm3) und wurden von den
zum modernen Menschen anders und hält es für Forschern, die diese Fossilien entdeckt haben, als
wahrscheinlich, dass im Laufe der Zeit mehrere Ar- Vertreter von H. erectus beschrieben, aber dieser
ten entstanden sind, die, bis auf den vor ca. 190.000– Interpretation ist auch nachdrücklich widerspro-
160.000 Jahren entstandenen H. sapiens, alle früher chen worden. Hier werden die „Daka“-Funde unter
oder später ausstarben (Replacement-Theorie der Vorbehalt H. ergaster zugeordnet.
Entstehung des modernen Menschen). . Abbil- Der gut erhaltene, ca. 1,6 Mio. Jahre alte Fund
dung 5.23 macht diese zwei Auffassungen in einem von Nariokotome (KNM-WT 15000) gehörte zu
Schema deutlich. einem ca. 162 cm großen Jugendlichen, der als
Homo ergaster ist eine afrikanische Art, die im Erwachsener möglicherweise 180 cm groß und
Zeitraum zwischen 1,9 und 1 Mio. Jahren vor heute 67 kg schwer geworden wäre. Es lag also ein gro-
nachgewiesen wurde. Die jüngsten, ca. 1 Mio. Jahre ßer schlanker Körperbau mit langen Beinen vor,
alten Funde stammen aus der Dakanihylo(„Daka“)- der weitgehend mit dem des modernen Menschen
Schicht aus der Bouri-Formation, Middle Awash vergleichbar ist. Das Becken des Jungen war relativ
im nördlichen Äthiopien. Besonders instruktives schmal; es erscheint zum Laufen und Gehen be-
Skelettmaterial wurde in Nariokotome am Tur- sonders geeignet gewesen zu sein. Die fraglichen
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 483

südafrikanischen Funde wurden zunächst als Tel-


anthropus capensis beschrieben; es handelt sich um 1
ein Schädelfragment aus Swartkrans (westlich von
Johannesburg), das heute meistens H. ergaster oder 2
manchmal auch H. habilis zugeordnet wird.
Vermutlich hat H. ergaster nicht nur eine noch
einfache Steinwerkzeugkultur (Oldowan und spä- 3
ter Acheuléen) – von eventuellen Werkzeugen aus
anderen Materialien ist nichts erhalten geblieben – .. Abb. 5.24 a, b.  Einfache Skizze der Schädel von Homo 4
geschaffen, sondern vielleicht auch schon das Feuer ergaster (a) und Homo erectus (b), um wichtige Unterschiede
beherrscht und genutzt. In Koobi Fora (Turkana- deutlich zu machen
See) fanden Wissenschaftler bei Steinwerkzeugen
5
eine ca. 1,6 Mio. Jahre alte Stelle mit auffallend ge- Osten hin. Außerdem gibt es bis zu ca. 1 Mio. Jahre
härteter („gebackener“) Erde, vermutlich eine Feu- (Übergang vom unteren zum mittleren Pleistozän) 6
erstelle. Er hat wohl auch schon mit seinen Stein- alte Funde in Spanien (Gran Dolina, Atapuerca)
werkzeugen größere Tiere getötet. und in Italien (Ceprano), die ähnlich alt sind wie 7
Die zwei Kulturen Oldowan und Acheuléen manche chinesischen H.-erectus-Funde (Lantian,
(s. Abschn. 5.8.1) überlappen sich zeitlich über ei- älteste Funde Zhoukoudian u. a.). Die Werkzeuge
nige hunderttausend Jahre. Die Acheuléen-Werk- dieser Menschen blieben relativ primitiv. Die hier 8
zeuge sind in Asien im Allgemeinen mit H. erectus genannten west- und südeuropäischen Menschen-
assoziiert, in Afrika mit H. ergaster. Die ältesten funde werden von manchen Paläoanthropologen H. 9
Acheuléen-Werkzeuge sind in Afrika ca. 1,5 Mio. antecessor (s. unten) oder H. erectus zugezählt.
Jahre alt. Die Funde von Dmanisi (Homo ergaster?,
Derzeit kann man H. ergaster eine herausgeho- „Homo georgicus“). Im Jahr 1991 entdeckten For-
10
bene Position zubilligen, indem er als Vorläufer von scher bei Grabungen in der mittelalterlichen Rui-
H. erectus und auch von H. antecessor und letztlich nenstadt Dmanisi (ca. 80 km südwestlich von Tiflis 11
aller weiteren Arten der Gattung Homo angesehen in Georgien) einen Unterkiefer, der zunächst Homo
wird. erectus zugeschrieben wurde und der aller Wahr- 12
Es wird vermutet, dass sich Homo ergaster von scheinlichkeit nach ein Alter von 1,8–1,7 Mio. Jahre
Afrika aus, vielleicht entlang des Niltals und der hat. Im Jahr 2000 wurden zwei ähnlich alte Schädel
Küste des Roten Meeres, in den Nahen Osten und und 2002 sowie 2005 weiteres Schädelmaterial ge- 13
von hier aus nach Georgien und dann sowohl nach funden. Damit war ein sehr früher Nachweis eines
Südwesteuropa als auch nach Ost- sowie Südost- Angehörigen der Gattung Homo außerhalb Afrikas 14
asien ausgebreitet hat, wo er sich vermutlich zu H. gelungen. Ein ähnliches Alter weisen auch frühe
erectus weiterentwickelt hat. Möglicherweise ist er noch „ergaster“-ähnliche Homo-erectus-Funde auf
auch über die Straße von Gibraltar nach Südwest- Java und in China auf, was darauf hindeutet, dass
15
europa gelangt. Frühpleistozäne einfache Werk- die Auswanderung aus Afrika und die Besied-
zeuge, ca. 1,8 Mio. Jahre alt, wurden in Ain Hanech lung Ost- und Südostasiens relativ rasch erfolgte. 16
(Nordostalgerien) und, ca. 1,6–1,7 Mio. Jahre alt, Die Schädel sind flach; einer, vermutlich der eines
in Südostspanien (Orce) gefunden. Sehr interessant männlichen Individuums, zeigt ausgeprägte Über- 17
sind auch Steinwerkzeuge aus Ubeidiya am Südrand augenwülste, die Schädelvolumina schwanken zwi-
des Sees Genezareth im Norden Israels, deren Alter schen ca. 650 cm3 und 780 cm3. Die Volumina des
auf bis zu 2 Mio. Jahre geschätzt wird. Dies kann Schädels von 2002 liegen bei ca. 600 cm3. Diese Zah- 18
als Hinweis auf Siedlungsspuren von H. ergaster im len liegen unter den typischen Werten von Homo
damals grünen Jordantal gedeutet werden. Stein- erectus (ca. 800–1200 cm3). Es wird vermutet, dass 19
werkzeuge vom Nordufer des Sees Genezareth sind diese Menschen ca. 1,50 m groß waren. Zusammen
ca. 780.000 Jahre alt und deuten auf einen weiteren mit dem Skelettmaterial wurden primitive Stein-
Vorstoß afrikanischer Populationen in den Nahen werkzeuge vom Typ der Oldowan-Kultur gefunden.
20
484 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.25  Solo-Fluss bei Trinil (Ostjava), in dessen Uferböschung Eugene Dubois 1891 Skelettreste von H. erectus entdeckte

Eine verbreitete Theorie geht davon aus, dass es schen H.-erectus-Funden stammen von Gustav H.
sich bei diesen Dmanisi-Funden noch um H.-er- R. von Koenigswald und in jüngerer Zeit von den in-
gaster-ähnliche, vielleicht sogar H.-habilis-ähnliche donesischen Wissenschaftlern T. Jacob und F. Aziz.
Formen handelte. Die Entdecker der Funde bezeich- Wie oben angedeutet, geht eine verbreitete The-
nen die in Georgien gefundenen Menschenformen orie davon aus, dass H. erectus sich in Ostasien ent-
auch als „Homo georgicus“. wickelt hat und sich von H. ergaster ableitet; es ist
Homo erectus wurde 1891 vom niederländi- daher anzunehmen, dass es Übergangsformen gab.
schen Militärarzt Eugene Dubois (ab 1899 Profes- Vermutlich erfolgte die Auswanderung der Vorform
sor für Mineralogie, Geologie und Paläontologie aus Afrika verhältnismäßig rasch, denn neuere Da-
in Amsterdam) in der Uferböschung des Soloflus- tierungen der H.-erectus-Funde aus China und Java
ses am Dorfrand von Trinil (bei Ngawi, Ostjava, deuten z. T. auf ein Alter von bis zu 1,9 Mio. Jahren
. Abb. 5.25) entdeckt. Die Funde wurden zunächst hin, die ältesten H.-ergaster-Funde in Afrika sind
als Pithecanthropus erectus bezeichnet. Wenige Jahr- nur wenig älter. Vielleicht war verstärkte vulkani-
zehnte später wurde Fundmaterial von H. erectus in sche Aktivität im ostafrikanischen Graben die Ur-
Zhoukoudian bei Peking entdeckt und hier zunächst sache für die Auswanderung. Zwischen Afrika und
mit der Bezeichnung Sinanthropus pekinensis ver- Ost- bzw. Südostasien wurden bisher keine sicheren
sehen. Um die Bearbeitung des bis ca. 1940 gefun- Skelettreste von H. erectus gefunden, jedoch gibt es
denen chinesischen Materials, das in den Wirren alte Steinwerkzeuge aus Israel (z. B. Ubeidiya am See
der japanischen Besetzung Chinas im 2. Weltkrieg Genezareth, 1,4 Mio. Jahre alt), Zentralsyrien (El
größtenteils verloren ging, hat sich insbesondere der Kowm, über 1 Mio. Jahre alte Siedlungsspuren, min-
Anatom Franz Weidenreich (1873 bis 1948) mit Ver- destens 500.000 Jahre alte Steinwerkzeuge von z. B.
öffentlichungen von 1936 bis 1943 verdient gemacht. erstaunlicher Ästhetik), Saudi-Arabien (600.000–
Wesentliche Erkenntnisfortschritte zu den javani- 900.000  Jahre alt), Indien (Isampur-Steinbruch,
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 485

400.000–600.000  Jahre alt) und aus Thailand her nur Schädelmaterial) ans Tageslicht gebracht;
(700.000 Jahre alt). die ältesten H.-erectus-Fossilien sind nach neuen 1
H. erectus hat einen relativ langen, niedrigen Datierungen ca. 1,8 Mio. Jahre alt (Schädelkapazi-
Schädel, dessen größte Breite ziemlich tief lag. Der tät gut 800 cm3), die meisten Funde entstammen der 2
Schädel trägt oft in der Mittellinie des Daches eine Bapang-Formation und sind ca. 1–1,5 Mio. Jahre alt.
Art flacher Kiel, der nichts mit dem Ursprung der Sie sind fortschrittlicher als die älteren Funde und
Kaumuskulatur zu tun hat. Über den Augen befin- hatten eine Schädelkapazität von ca. 900 cm3. Sie 3
det sich ein kräftiger Überaugenwulst. Postorbital entsprechen hinsichtlich Alter und Schädelkapazität
ist eine sehr deutliche Einschnürung des Schädels den H.-erectus-Funden, die Dubois in Trinil östlich 4
zu sehen. Die Schädelknochen sind fast doppelt so von Sangiran gemacht hatte. Ab einer Zeit von vor
dick wie beim modernen H. sapiens. Das Gebiss ist 800.000  Jahren sind im Sangirangebiet keine H.-
erkennbar kräftiger als beim heutigen Menschen. erectus-Fossilien mehr gefunden worden. Vielleicht
5
Die Molaren weisen eine eigentümliche Schmelz- hat sich H. erectus um diese Zeit aufgemacht und
runzelung auf. Das Kinn fehlt. Die Schädelkapazität Inseln östlich von Java besiedelt. Auf Flores wur- 6
der älteren und mittelpleistozänen Formen liegt bei den einerseits ca. 800.000 Jahre alte Steinwerkzeuge
ca. 800–1000 cm3, und bei jüngeren Funden (z. B. gefunden, und andererseits die rätselhaften viel jün- 7
Ngandong) werden ca. 1250 cm3 erreicht. geren ca. 13.000–95.000 Jahre alten Homo-Funde
Homo erectus auf Java. Die wichtigsten ja- (H. floresiensis), deren Deutung noch umstritten
vanischen Funde stammen aus dem Gebiet des ist. Erwähnenswert ist noch der Fund des Schädels 8
Sangiran-Domes, einer leichten Erhebung in einer eines Kindes aus Flussablagerungen bei Mojokerto
Senke des Soloflusses, ca. 15 km östlich von Solo un- (Ostjava bei Surabaya), dessen Alter auf 1,8 Mio. 9
mittelbar nördlich des Vulkans Gunung Lawi. Das Jahre berechnet wurde und das auch dem frühen
Gebiet ist zum Weltkulturerbe erklärt worden. Der H. erectus auf Java zugehört.
Name Sangiran bezieht sich auf das Dorf Sangiran. Die ältesten H.-erectus-Funde (noch H.-ergas-
10
Dort erinnert ein kleines Museum, das 1980 gebaut ter-ähnlich; s. oben) auf Java sind also ähnlich alt
wurde, an die Funde, die hier seit ca. 1935 (damals wie die von H. ergaster in Afrika. Homo erectus 11
von Gustav H. R. v. Koenigswald) bis heute gemacht könnte in 15.000 Jahren von Kenia nach Java ge-
wurden. Die Stratigraphie des Sangiran-Gebietes ist langt sein, wenn man eine Ausbreitung von 1 km/ 12
inzwischen recht gut bekannt. Die Schichten sind Jahr annimmt.
insgesamt gut 2 Mio. Jahre alt. Die ältesten Abla- Rätsel geben Homo-erectus-ähnliche spätpleis-
gerungen (Kalibeng) mit marinen oder Brackwas- tozäne Funde aus der Gegend um Ngandong (am 13
serorganismen, z. B. Turritella, Nassarius, Haien Solofluss, ca. 50 km östlich von Sangiran) und
und Krabben, sind gut 2 Mio. Jahre alt und noch aus Sambungmacan auf. Die Ngandong-Funde 14
im späten Pliozän anzusiedeln. Es folgen ab einer wurden zwischen 1931 und 1933 gemacht und
Zeit von vor ca. 1,9–1,8 Mio. Jahren Süßwasserab- sind nach neuen Altersbestimmungen wohl nur
lagerungen, wie sie für Ufer von Seen typisch sind 27.000–53.000  Jahre alt. Gefunden wurden 12
15
(Sangiran[= Pucungan]-Formationen). Hier lebten Schädelkalotten, die von Schädeln abgebrochen
u. a. Flusspferde, Nashörner, Stegodonten, Hirsche wurden und vielleicht als Wasserschalen dienten. 16
und Schweine, und hier siedelte auch schon Homo Die Kalotten gehörten zu Schädeln, deren Volumen
erectus; wobei interessant ist, dass diese frühen bei ca. 1010–1200 cm3 lag. Sie wurden zusammen 17
Vertreter noch deutliche Anklänge an H. ergaster mit Steinwerkzeugen und vielen Säugetierknochen
aufweisen sollen. Es folgen Ablagerungen aus Fluss- gefunden. Die Schädelkalotten sind z. T. sehr gut
landschaften, die einen Zeitraum zwischen 1,5 Mio. erhalten und ähneln in vieler Hinsicht denen von 18
und 800.000 Jahren vor heute umfassen (Bapang[= H. erectus, vermutlich sind sie letzte überlebende
Kabuh]-Formationen, sandige Konglomerate), die Reste dieser vielgestaltigen Menschenart. Die Über- 19
zahlreiche Homo-erectus-Funde lieferten. augenwülste waren sehr kräftig, und die Knochen
In Sangiran wurde also eine ganze Abfolge von der Schädelkalotten sind, wie bei H. erectus, sehr
H.-erectus-Funden (bisher ca. 100 Einzelfunde, bis- dick. Es wird auch vermutet, dass diese Funde eine
20
486 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

eigene Art (H. soloensis), die sich von H. erectus her- hat, die noch existieren. Leider sind viele der Origi-
leitet, repräsentieren. nalfunde in den Wirren nach dem Einmarsch der
Aus Sambungmacan wurden 2001 und 2003 japanischen Armee in China (1941) verloren gegan-
zwei recht gut erhaltene Schädel (SM3 und SM4) gen. Nach derzeitigem Kenntnisstand sind sie beim
von H. erectus mit einer Kapazität von 920 cm3 Transport in die USA im Pazifik versunken.
(SM3) bzw. 1006 cm3 (SM4) beschrieben. Bei SM3 Ähnliche, ca. 400.000–600.000  Jahre alte H.-
wurde Asymmetrie der Großhirnhemisphären und erectus-Funde wurden in der Jiangshi-Höhle
ein vergrößertes Broca-Areal links festgestellt, was (Provinz Hubei) mit Gigantopithecus-Resten und
als Hinweis auf erhöhte kognitive und differenzierte der Tham-Khuyen-Höhle in Vietnam (auch mit
Sprachfähigkeiten angesehen werden kann. Die Al- Gigantopithecus-Resten) gefunden. Außerdem
tersangaben der Sambungmacan-Funde schwanken stammen mittelpleistozäne H.-erectus-Funde aus
zwischen 300.000 und 800.000 Jahren. Hier gefun- Yiyuan, Shandong (ca. 450.000 Jahre alt), Tangshan
dene Steinwerkzeuge sollen auch um 800.000 Jahre bei Nanking (600.000 Jahre alt), Yunxian (Provinz
alt sein. Hubei, um 400.000 Jahre alt) und Hexian (Provinz
Eine im Kreis der javanischen Funde umstrit- Anhui, gut 400.000 Jahre alt). Die Hexian-Funde
tene ca. 1 Mio. Jahre alte Form ist „Meganthropus“. (Longtang-Höhle) repräsentieren mehrere Indivi-
Heute werden diese Schädelfragmente aus Sangiran duen und zeigen sowohl Merkmale von H. erectus
oft einer Unterart von H. erectus, H. erectus pala- als auch Anklänge an H. heidelbergensis.
eojavanicus, zugezählt. Sie deuten auf relativ große In dem großen Höhlensystem von Zhoukoudian
und schwere Menschen hin, was jedoch hypothe- wurden mehrheitlich kleinere Schädel- und Unter-
tisch ist und von wenigen Zahn-, Mandibel- und kieferfragmente gefunden, postcraniale Skelettteile
Schädelfragmenten extrapoliert wurde. fehlen weitgehend. Dies führte zur Vermutung,
Homo erectus in China. Ab ca. 1920 wurde in dass die H.-erectus-Funde Fraßreste der löwengro-
Zhoukoudian bei Peking eine große Zahl von Ske- ßen Hyäne Pachycrocuta brevirostris sind, die in
lettresten des H. erectus gefunden und einige jahr- den Höhlen gelebt hat. Auch rezente Tüpfelhyänen
zehntelang als H. pekinensis bezeichnet (es bleibt fressen Extremitätenknochen oft völlig auf, so dass
abzuwarten, ob man nicht auf diese Bezeichnung von ihnen keine Spuren bleiben. In einigen Höhlen
zurückkommen wird). Sie weisen durchaus eigene von Zhoukoudian hat aber wahrscheinlich auch H.
Merkmale auf und stammen aus Ablagerungen ei- erectus gelebt und hier Feuerstellen unterhalten. In
nes größeren Höhlenkomplexes aus dem mittleren entsprechenden Ascheschichten wurden auch Kno-
Pleistozän und sind 780.000 (älteste Schicht) bis ca. chen von kleinen Tieren (z. B. Igeln, Fröschen, Ro-
410.000 (jüngste Schicht) Jahre alt. Die Schädel- dentiern und Hasen) gefunden, die neben Großwild
kapazitäten variieren von 915–1225 cm3, sind also wahrscheinlich auf der Speisekarte standen. Auch
größer als die (älteren) javanischen Funde (Sangi- Reste von Straußeneiern wurden gefunden. Einfa-
ran, Trinil). Die Schädelknochen sind, wie die der che Steinwerkzeuge wurden in einigen Höhlen in
Java-Funde, sehr dick; auffallend sind ein kräftiger größerer Zahl nachgewiesen. Das Klima war ver-
Überaugenwulst, eine deutliche postorbitale Ein- mutlich gemäßigt und z. T. kalt.
schnürung, das fliehende Kinn und kräftige Zähne Sehr alte chinesische Funde von H. erectus aus

-
(. Abb. 5.22e). Insgesamt sind die Schädelstruktu- dem unteren Pleistozän stammen u. a. aus:
ren kräftiger als die javanischen Schädel. der Longgupo-Höhle am Yangtse-Fluss (östli-
Die ersten Funde in Zhoukoudian wurden 1929 ches Sechuan), Mandibel und spärliche Zähne,
von dem chinesischen Paläontologen Wenzhong Pei wahrscheinlich ca. 1,9 Mio. Jahre alt und somit
gemacht. Vor dem 2. Weltkrieg hat dann in Zhouk- aus dem frühesten Pleistozän, zeigt deutliche
oudian v. a. der kanadische Anatom Davidson Black Anklänge an H. ergaster, vielleicht sogar an H.
(1844 bis 1934) gegraben, das Material war insbeson- habilis. Der Fund wird mitunter auch als „Prä-
dere von dem aus politischen Gründen emigrierten Erectus“ bezeichnet. Steinwerkzeuge sind vom
deutschen Anatomen Franz Weidenreich bearbeitet Oldowan-Typ. In der gleichen Fundschicht
worden, der sehr gute Abgüsse der Funde gemacht wurden Zähne von Gigantopithecus gefunden.
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 487

- der Nihewan-Senke (Nordchina, Fundort u. a.


Xiangchangliang), hier nur sehr altertümliche
1

- 2
Steinwerkzeuge, ca. 1,36 Mio. Jahre alt.
Gongwangling und Chenjiawo in der Region
Lantian (Provinz Shansi), Schädelfragment,
ca. 1,15 Mio. Jahre alt. Schädelkapazität ca. 3

-
780 cm3.
Yuanmou (Provinz Yunnan), Zähne und Frag- 4
mente von Extremitätenknochen, ca. 1,7 Mio.

-
Jahre alt.
Noch älter, ca. 2,25 Mio. Jahre, sind vermutlich
5
Steinwerkzeuge aus Renzidong (Renzi-Höhle)
in der Provinz Anhui. 6
Jüngere chinesische H.-erectus-Funde stammen 7
-
u. a. aus: .. Abb. 5.26  Schädel des kleinen Flores-Menschen (Schädel-
Jinniushan, 280.000 oder 150.000 Jahre alt,
8
-
kapazität ca. 420 cm3)
Schädelkapazität ca. 1400 cm3.
Dali (Provinz Shansi), ca. 200.000 – vielleicht
auch nur 41.000–71.000 – Jahre alt. Wird mit- vollständiges, wohl weibliches Skelett. Der Kno- 9
unter einem „archaischen“ H. sapiens zugeord- chenbau wirkt robust, das Körpergewicht betrug

-
net. ca. 77 kg, die Schädelkapazität ca. 1300 cm3. Die
Maba (Provinz Guangdong), ca. 132.000 Jahre Stirn war noch relativ flach, die Überaugenwülste
10
alt, wiederholt wurde auf anatomische Ähn- kräftig. Die Altersangaben schwanken zwischen
lichkeiten mit den Neandertalern hingewie- 280.000 und 150.000  Jahren vor heute. An der 11
sen. Typische Neandertaler wurden auch in Fundstelle wurden Hinweise auf den Gebrauch von
Zentralasien (Okladnikov-Höhle) gefunden Feuer, verbrannte Tierknochen und Steinwerkzeuge 12
(Krause et al. 2007b), und aus dem Altaige- gefunden. Das Gesicht des Dali-Schädels war kurz,
birge (Denisovahöhle) stammt möglicherweise der Überaugenwulst kräftig, die Stirn flach, die
bis zu 300.000 Jahre altes menschliches Fund- Schädelknochen sind wie bei H. erectus sehr dick, 13
material („Denisovanern“), das an Neanderta- die Schädelkapazität lag bei ca. 1120 cm3. Insgesamt

- 14
ler erinnert (s. Abschn. 5.6.4). ähnelt dieser Schädel durchaus dem vom europäi-
Changyang (Provinz Hubei), ca. 195.000 Jahre schen H. heidelbergensis, manche Forscher weisen
alt. sogar auf einzelne Merkmale hin, die denen von
Neandertalern ähneln. Ähnlich sieht das Schädel-
15
Die jüngeren Funde von H. erectus stammen aus fragment von Maba aus.
der Zeit zwischen ca. 280.000 und 85.000 Jahren 16
vor heute. Sie werden unterschiedlich gedeutet, Homo floresiensis
z. T. als fortschrittlich entwickelte H. erectus. Seit Im Jahr 2003 fanden australische Paläoanthropolo- 17
einiger Zeit wird ihre Ähnlichkeit mit H. heidelber- gen in der Liang-Bua-Höhle auf Flores Skelettreste
gensis betont, z. T. werden sie als archaische H. sa- von auffallend kleinen Menschen, die nach derzei-
piens angesehen. Manche Forscher, speziell Anhän- tigem Kenntnisstand der Gattung Homo angehören 18
ger der multiregionalen Entstehung des modernen (. Abb. 5.26). Bisher kennt man Reste von sieben
Menschen, sehen sie als Übergangsform zwischen Individuen. Die ältesten Skelettfunde sind vermut- 19
H. erectus und H. sapiens in Ostasien. lich ca. 38.000 (vielleicht sogar älter), die jüngsten
Zu den 1984 gemachten Funden in Jinniushan wahrscheinlich 12.000 Jahre alt. Begleitende archäo-
(Provinz Liaoning, Nordostchina) gehört ein fast logische Funde (Steinwerkzeuge) sind ca. 13.000–
20
488 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

95.000 Jahre alt. Möglicherweise lebten diese klei- Zwergform von Homo erectus, die sich isoliert auf
nen Menschen sogar noch eine gewisse Zeit lang Flores herausgebildet hat und deren Vorfahren
zusammen mit den modernen Menschen auf Flores. vermutlich vor ca. 1  Mio. Jahren auf diese Insel
Ursachen für ihr Aussterben kennt man nicht (Vul- gelangten. Dass die Insel lange besiedelt ist, dafür
kanausbruch oder mangelnde Konkurrenzfähigkeit sprechen ca. 800.000 Jahre alte Steinwerkzeugfunde.
mit Homo sapiens?). Diese Menschen waren im Solche Zwergformen gibt es auf isolierten Inseln von
Erwachsenenalter ca. 106 cm groß, hatten also eine verschiedenen Säugetieren, z. B. die Zwergelefanten
ähnliche Größe wie A. afarensis und H. habilis. Die auf Malta und Kreta. Die oben genannte Auswer-
Auswertung aller Messbefunde am Skelett und der tung aller verfügbaren Skelettmerkmale ergab aber
Vergleich mit anderen frühen Menschenarten ergab keine spezifischen Übereinstimmungen mit H.
Folgendes: Die Schädelmerkmale ähneln am ehesten erectus. Nicht unwahrscheinlich ist, dass H. flore-
denen von Homo ergaster, z. T. sogar H. habilis die siensis schon vor ca. 2 Mio. Jahren von Afrika aus
übrigen Skelettmerkmale denen von Australopithe- Flores (und vermutlich andere Regionen Südostasi-
cus gahri, ein Kinn fehlt. Die Füße waren flach und ens) erreicht hat. Er geht möglicherweise auf eine
lang. Ein Endocranialausguss lässt ein Hirnvolumen relativ kleine Vorform zurück, die z. T. H. ergaster
von 380 – 410 cm3 vermuten. Bemerkenswert ist der und H. habilis ähnelte, aber im postcranialen Ske-
ausgedehnte präfrontale Cortex, ein heteromodaler lett noch Australopithecinen-Merkmale besaß. Es
Assoziationscortex, in dem Funktionen wie Kog- gibt übrigens noch heute auf Flores, Sumatra und
nition, Handlungsplanung und Verarbeitung von anderen südostasiatischen Inseln Sagen und Über-
Erfahrungen lokalisiert sind. Alles spricht derzeit lieferungen von sehr kleinen Menschen. Vielleicht
dafür, dass es sich um eine eigene Art (Homo flore- sind das Hinweise auf die ehemalige Existenz wei-
siensis, den Flores-Menschen) handelt. Begleitfunde terer Zwergformen des Menschen in der Inselwelt
lassen vermuten, dass Homo floresiensis Stein- und Indonesiens. Die Diskussion über H. floresiensis ist
Holzwerkzeuge benutzte, in Gemeinschaften Tiere keineswegs abgeschlossen.
bis hin zu Stegodon jagte und das Feuer beherrschte.
All dies ist angesichts des kleinen Hirnvolumens Homo antecessor und andere
sehr erstaunlich und rätselhaft. archaische Formen
Es gibt verschiedene Interpretationen dieser Frühe Funde der Gattung Homo in Europa. Ein be-
Funde. Die Auffassung einzelner Wissenschaftler, sonders schwieriges Kapitel ist die Bewertung der
dass es sich um pathologisch mikrocephale oder ältesten in Europa gemachten Funde der Gattung
debile moderne Menschen handele, wird von ver- Homo. Einem Konzept zufolge repräsentieren sie
gleichend morphologisch arbeitenden Experten die Art Homo antecessor, der sich aus Homo ergas-
abgelehnt. Derzeit werden verschiedene Überle- ter entwickelt hat.
gungen diskutiert. Vielleicht handelt sich um eine

  EXKURS 5.8  

Multiregionale und Out-of-Africa-Theorie


Unter der multiregionalen Theorie der Entstehung einem genetischen Zusammenhang. Zum Teil fin-
des modernen Menschen wird verstanden, dass det sich sogar die prononcierte Auffassung, dass
die heutigen Menschen getrennt an verschiede- alle modernen Menschen aus fossilen Populationen
nen Stellen der Erde entstanden sind, aber alle von des H. erectus (oder H. ergaster) an verschiedenen
einem ca. 1 Mio. Jahre alten Vorfahren abstammen. Stellen der Erde entstanden (. Abb. 5.23). Dies sei
Die verschiedenen Fossilfunde des Menschen aus mittels einer stetigen graduellen Höhenentwick-
den letzten 1 Mio. Jahren stellen also bestenfalls lung (Anagenese) erfolgt, in deren Verlauf sich eine
morphologisch unterscheidbare Populationen ei- (ältere) Art in eine neue (jüngere) Art umgewandelt
ner Art dar; alle diese Populationen blieben stets in habe.
7
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 489

 EXKURS 5.8 (Fortsetzung) 
Dagegen steht die Out-of-Africa-Theorie, der- tern“ in der Population, in der sich auch die mito- 1
zufolge alle Ethnien des modernen Menschen von chondriale Eva befand.
einem frühen H. sapiens aus Afrika abstammen. Die Die Mutationen in der mitochondrialen DNA 2
Out-of-Africa-Theorie ist vereinbar mit der Replace- erlauben, die Abstammung der Mitochondrien zu
ment-Hypothese, die besagt, dass es verschiedene rekonstruieren. Solche Rekonstruktionen werden
früh- und mittelpleistozäne Homo-Arten gab und manchmal Genbäume (gene trees) genannt und
3
dass vor ca. 150.000–200.000 Jahren in Afrika H. sa- ermöglichen auch, die Zeit zu berechnen, welche
piens entstand, der alle anderen noch existierenden die Mutanten trennt. Man kann berechnen, wann 4
Homo-Arten schließlich verdrängte bzw. „ersetzte“ die mitochondriale Eva gelebt hat; eine Korrelation
(replacement). mit der Entstehung der Art H. sapiens besteht nicht,
5
Die Out-of-Africa-Theorie wird durch bioche- vielleicht lebte sie lange nach Entstehung unserer
mische, molekularbiologische und morphologi- Art, vielleicht sogar früher.
sche Daten gestützt. Bei der genetischen Analyse Die Aussagekraft der mitochondrialen DNA- 6
des Menschen wurde 1983 zunächst die mito- Daten zur Phylogenie des Menschen wurde an-
chondriale DNA (mtDNA) aus unterschiedlichen fänglich von verschiedenen Wissenschaftlern aus 7
Populationen durch Restriktionsanalyse (s. Ab- verschiedenen Gründen angezweifelt. Aber die
schn. 4.1.2) bearbeitet. Es stellte sich heraus,
dass die Variation der mtDNA bei den rezenten
Analysen von nukleärer DNA des männlichen Y-
Chromosoms, des Dystrophiegens und verschie-
8
menschlichen Populationen vergleichsweise ge- dene Mikrosatellitenanalysen bestätigen die Out-
ring ist; die genetischen Distanzen deuteten auf of-Africa-Hypothese weitgehend. 9
einen gemeinsamen Ursprung vor ca. 200.000 Jah- Wahrscheinliche Zeitpunkte der Ausbreitung
ren hin. Innerhalb der untersuchten Populationen und der Beginn der kulturellen Evolution des mo- 10
weisen die afrikanischen Populationen die größte dernen Menschen sind in . Abb. 5.33a, b zusam-
genetische Variation auf. Dieser Befund macht mengefasst. Eine zusätzliche Analyse der mensch-
wahrscheinlich, dass die afrikanischen Populati- lichen Sprachen durch Cavalli-Sforza fand eine 11
onen älter sind als die übrigen menschlichen Po- erstaunliche Übereinstimmung zwischen den DNA-
pulationen und sich der moderne Homo sapiens Gruppierungen und der Struktur der Sprachen. 12
demnach von afrikanischen Vorfahren ableitet. Auch dieser Befund legt nahe, dass die Out-of-Af-
Auch die Sequenzierung des mitochondrialen
Genoms zeigt, dass die Sequenzen schwarzafrika-
rica-Hypothese stimmt, wohingegen die multiregi-
onale Evolutionshypothese nicht zutreffend ist.
13
nischer Individuen basal stehen und die größten Dennoch betonen Anhänger der multiregi-
genetischen Distanzen aufweisen. Die Auswan- onalen Evolution des modernen Menschen, dass 14
derung des modernen Menschen aus Afrika wird betreffs der tatsächlichen biologischen Eigenstän-
über die molekulare Uhr (s. Abschn. 4.1.2) auf die digkeit der verschiedenen beschriebenen fossilen 15
Zeit zwischen 100.000 und 60.000 Jahren datiert. Arten der Gattung Homo Unsicherheit herrsche und
Eine Zeitskala für die Evolution des modernen dass zumindest genetische Beiträge verschiedener
Menschen ist in . Abb. 5.33a gezeigt. ausgestorbener Formen zum modernen Menschen 16
Die Tatsache, dass die Mitochondrien praktisch nicht auszuschließen sind. Diese Beiträge könnten
nur von der Mutter vererbt werden, bedeutet, dass an verschiedenen Stellen der Erde unterschiedlich 17
die Mitochondrien aller lebender Menschen Kopien sein. Besonders hartnäckig hält sich die Auffassung,
eines Mitochondriums einer einzigen Frau in der
Vergangenheit des Menschen sind („mitochond-
dass speziell in Ostasien Mechanismen der multi-
regionalen Evolution am Werke waren. Das letzte
18
riale Eva“), ein etwas irreführender Name, da sie Wort zur Entstehung des modernen Menschen ist
nur die „Mutter“ unserer Mitochondrien ist; unsere also wohl noch nicht gesprochen. 19
chromosomalen Gene stammen von vielen „Müt-
7 20
490 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

Die H.-antecessor-Funde in Spanien sind ca. alt sind. In diesen Kreis gehören dann vermut-
780.000–790.000 Jahre alt und stammen aus dem lich auch weitere nordwestafrikanische Funde
frühen Pleistozän. Entdeckt wurden sie 1995 in aus Tanger (ca. 400.000 Jahre alt), dem Thomas-
der Gran-Dolina-Höhle in der Sierra Atapuerca Steinbruch bei Casablanca (400.000 Jahre alt) und
bei Burgos. Eine ausführliche Beschreibung er- von anderen Fundstellen (Rabat, Sal, Sidi Abder-
folgte 1997. Der Status von H. antecessor wird noch rahman). All diese nordwestafrikanischen Funde
sehr kontrovers diskutiert. Wenn es sich um eine wurden in der Vergangenheit auch „Atlanthropus
eigene Art handeln sollte, wäre H. antecessor ein mauritanicus“ genannt. Die Funde von Tanger
sehr früher Vertreter der Gattung Homo in Europa. und dem Thomas-Steinbruch werden allerdings
Seine Überreste wurden zusammen mit einfachen manchmal auch zu H. heidelbergensis gestellt, wie
Prä-Acheuléen-Steinwerkzeugen gefunden. Die übrigens auch der H. antecessor. Vereinzelt wird
Rekonstruktion des Skeletts hat ergeben, dass der auch der ganze Komplex der nordwestafrikani-
erwachsene H. antecessor ca. 175 cm groß war und schen Funde unter dem Namen H. mauritanicus
dass seine Schädelkapazität deutlich über 1000 cm3 zusammengefasst.
lag. Der Gesichtsschädel sowie Hände und Füße Es wird auf alle Fälle deutlich, dass ein engerer
sind modern, die Nase sprang deutlich vor. Ob ein Zusammenhang zwischen H. ergaster, H. erectus, H.
Kinn vorhanden war, ist nicht bekannt. Die Stirn antecessor und auch H. heidelbergensis sowie H. rho-
war wohl fliehend, die Überaugenwülste nicht sehr desiensis (s. unten) – und somit auch H. neandert-
stark ausgeprägt. halensis sowie H. sapiens – besteht. Von einzelnen
In Spanien wurden weitere schwer einzuord- Forschern wird dieser Zusammenhang dahinge-
nende, z. T. sehr alte Funde (Knochen und Werk- hend interpretiert, dass die genannten Arten keine
zeuge) gemacht. Ein wichtiger Fundort ist Orce getrennten Arten sind, sondern nur Varianten einer
(Andalusien), wo vielleicht sogar ca. 1,6 Mio. Jahre einzigen polytypischen Art.
alte Skelettreste und Steinwerkzeuge gefunden
wurden, die sogar mit H. ergaster in Verbindung Homo heidelbergensis
gebracht werden (s. Abschn. 5.6.4). Die Skelettreste Der Zeitraum, in dem H. heidelbergensis lebte, liegt
werden auch anderen Säugern, insbesondere Pfer- ungefähr zwischen ca. 600.000 und 200.000, viel-
den, zugeschrieben. leicht sogar noch vor weniger als 100.000 Jahren
Die Entdecker der Funde von H. antecessor vor unserer Zeit. In morphologischer Hinsicht ist
halten es für wahrscheinlich, dass H. antecessor H. heidelbergensis deutlich weiter entwickelt als H.
aus Afrika kommend (vielleicht sogar über die ergaster. Manche Merkmale erinnern aber noch H.
Meerenge von Gibraltar) ungefähr vor gut 1 Mio. ergaster, andere an frühe H. neanderthalensis, wie-
Jahren in Südeuropa auftauchte und sich von der andere sogar an H. sapiens. Die Gesichtszüge
H. ergaster herleitet. Weiterhin wird spekuliert, sind relativ robust mit z. T. kräftigem Überaugen-
dass sich aus H. antecessor einerseits H. sapiens wulst (. Abb. 5.27a). Der Schädel war aber trotz
und andererseits – über H. heidelbergensis – H. zum Teil noch relativ niedriger Stirn eher abgerun-
neanderthalensis entwickelt haben könnte. Homo det. Die Schädelknochen sind meist relativ dünn.
sapiens würde sich von einer afrikanischen H.- Die Kaumuskulatur war nicht auffallend prominent,
ergaster- bzw. H.-antecessor-Population herleiten. das Kinn fehlte. Die Schädelkapazität beträgt im
Eine solche Form wird vielleicht durch die ca. Durchschnitt 1100–1200 (bis 1400) cm3. Das heißt,
1,8 Mio. Jahre alten Werkzeugfunde in Ain Hanech dass die Kapazität im Durchschnitt deutlich größer
(Algerien) und die fragmentarischen Schädel- und war als bei H. ergaster und auch H. antecessor. Die
Werkzeugfunde (700.000 Jahre alt) von Tighenif Steinwerkzeuge sind noch relativ einfach (Acheu-
(Algerien) repräsentiert. Diese Gedanken sind in léen), aber die Speere, die in Schöningen bei Peine
hohem Maße hypothetisch. Zu der Vermutung, nahe Salzgitter gefunden wurden, zeigen, dass H.
dass vor ca. 1 Mio. Jahren eine erste Homo-Art in heidelbergensis schon sehr effektive und durch-
Südeuropa auftauchte, passen Funde fossiler Men- dachte Waffen bzw. Werkzeuge schaffen konnte. Die
schen aus Ceprano bei Rom, die ca. 800.000 Jahre Begleitfunde (Elefanten, Nashörner, Wildschweine,
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 491

.. Abb. 5.27 a–d. a. Schä-
del von Homo heidelbergen-
sis (Petralona, Chalkidike,
1
Nordgriechenland).
b Schädel von Homo rhode- 2
siensis (Broken Hill, Kabwe,
Sambia). c Unterkiefer von
Homo heidelbergensis, klas- 3
sischer Fund aus Mauer bei
Heidelberg. d Unterkiefer
des modernen Menschen, 4
beachte das Kinn und den
allgemein schlankeren Bau
5
6
7
8
9

Hirsche u. a.) zeigen, dass H. heidelbergensis Groß- Homo-heidelbergensis-ähnliche Funde in Af-


10
wildjäger war. Zum Teil sind Spuren organisierter rika (H. rhodesiensis), Indien, China und Indone-
Großwildjagd erkennbar. Das Klima in Europa war sien. Für die afrikanischen Formen, die H. heidel- 11
zu Zeiten des H. heidelbergensis, also im mittleren bergensis ähneln, wird manchmal die Bezeichnung
Pleistozän, generell wärmer als heute, es gab jedoch Homo rhodesiensis vorgeschlagen; oft werden diese 12
auch Kälteperioden. Bilzingsleben (Thüringen), schwer einzuschätzenden Formen auch „archai-
Terra Amata (bei Nizza) und Spuren in der Arago- scher Homo sapiens“ genannt. Sie sind auch deswe-
höhle (Pyrenäenausläufer) weisen darauf hin, dass gen schwer zu beurteilen, weil die Altersangaben 13
H. heidelbergensis schon feste Wohnplätze, vermut- oft unsicher sind und erheblich voneinander ab-
lich mit Feuerstelle, besaß. weichen. Dennoch sind gerade afrikanische For- 14
Es ist derzeit noch umstritten, wie H. heidel- men besonders interessant, weil unter ihnen sehr
bergensis zu definieren ist, und es ist schwer zu wahrscheinlich die unmittelbaren Vorläufer von H.
entscheiden, welche Funde dem H. heidelbergen- sapiens zu suchen sind.
15
sis zuzuordnen sind. Nach Auffassung einer Reihe Folgende Formen gehören zum Kreis von H.
von Paläoanthropologen ist H. heidelbergensis eine rhodesiensis: der schon 1931 gefundene Schädel von 16
rein europäische Art, die sich in Europa zu H. ne- Kabwe (Zambia, früher „Broken-Hill“ in Nordrho-
anderthalensis weiterentwickelte. Andere Auffas- desien, . Abb. 5.27b), dessen Altersdatierung sehr 17
sungen sehen ihn als Ausgangsart sowohl von H. unsicher ist, er ist wohl mindestens 130.000 Jahre
sapiens als auch von H. neanderthalensis und halten alt, könnte aber auch sogar 600.000 Jahre alt sein.
die Beschränkung auf Europa für nicht zwingend. Morphologisch wirkt der Schädel mit dem kräftigen 18
Wenn H. heidelbergensis auch außerhalb Europas Überaugenwulst und der flachen Stirn relativ alter-
vorkam, dann ergibt sich das Problem der Benen- tümlich und „robust“, und erinnert an H. erectus 19
nung der afrikanischen und asiatischen Formen, bzw. H. ergaster (s. Abschn. 5.6.4). Die Schädelka-
die hinsichtlich Alter und Struktur H. heidelber- pazität lag aber bei ca. 1300 cm3 und die Schädel-
gensis ähneln. knochen waren relativ dünn. Beides erinnert an
20
492 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

H. sapiens. Ein sehr ähnlich aussehender Schädel Die Begleitfunde sind sehr reichhaltig: Waldele-
aus Bodo (Äthiopien) wird auf ein Alter von ca. fant (Palaeoloxodon antiquus = Elephas antiquus),
600.000 Jahren geschätzt. Ein Schädelfragment aus Waldnashorn (Stephanorhinus hundsheimensis, ein
Florisbad, Südafrika, ist wohl ca. 250.000 Jahre alt. wärmeliebendes Nashorn, das mit dem rezenten
Schädelmaterial aus Saldanha (Südafrika) ähnelt Sumatranashorn verwandt ist), Equus mosbachensis
dem Kabwe-Schädel; das Alter ist unsicher, es be- (ein großes Wildpferd), Bison schoetensacki (Wald-
trägt vielleicht 500.000 Jahre. Die Schädelkapazität bison), Cervus elaphus (Rothirsch), Capreolus su-
lag bei 1300 cm3. All diese Formen könnten auf H. essenbornensis (ein Reh), Hippopotamus amphibius
ergaster zurückgehen. (Flusspferd, deutet auf milde Winter hin), Ursus
Auch aus Asien wurden Funde beschrieben, die arctos (Braunbär), Canis lupus (Wolf), Panthera leo
dem H. heidelbergensis ähneln. Aus Indien (vom (Löwe), Trogontherium cuvieri (Riesenbiber), Castor
Ufer des Flusses Narmada im Bundesstaat Madhya fiber (Biber).
Pradesh) liegt eine Schädelkalotte vor, deren Alter Sehr intensiv wird seit ca. 30 Jahren die schon
noch nicht bekannt ist. Die Schädelkapazität wurde länger bekannte Fundstelle Bilzingsleben in Thü-
auf ca. 1200 cm3 berechnet. Morphologisch beste- ringen erforscht. Es wurden hier Schädelfragmente,
hen Übereinstimmungen mit Schädeln des europäi- Zähne und vor kurzem ein Unterkieferfragment von
schen H. heidelbergensis. Auch die Funde von Ngan- mittelpleistozänen Menschen gefunden, die H. hei-
dong in Ostjava („H. soloensis“) werden mitunter delbergensis zugerechnet werden und die wohl min-
auf die Stufe von H. heidelbergensis gestellt, sie sind destens 280.000, vielleicht ca. 350.000 Jahre alt sind.
hier unter H. erectus dargestellt (s. Abschn. 5.6.4). Abgesehen von den spärlichen Skelettresten wurden
Schließlich sind hier einige Funde aus China zu hier zahllose Werkzeuge aus Stein, Knochen, Gewei-
nennen, die in diesem Text unter H. erectus darge- hen und Holz gefunden. Analysen von Jagdfauna,
stellt werden, nämlich die Funde von Jinniushan, Mollusken und Pollen lassen den Lebensraum die-
Maba, Chanyang, Dali u. a., deren Alter zwischen ca. ser Menschen lebendig werden. Die Zeit entsprach
280.000 und 70.000 Jahren vor heute liegen dürfte einer Warmzeit, und zwar der Holstein-Warmzeit
(s. Abschn. 5.6.4). (speziell einer Phase, die Wacken-Warmzeit ge-
Homo heidelbergensis in Europa. In Europa fin- nannt wird), mit Wäldern, in denen Eichen, Fichten,
det sich eine beträchtliche Anzahl an Fundstellen, Birken, Erlen, Ahorn und Pappeln sowie Haselnuss,
insbesondere Mauer (bei Heidelberg), Schöningen Faulbaum und Flieder vorkamen. Die Menschen
(bei Helmstedt), Bilzingsleben (Thüringen), Sima de jagten Waldelefanten, Wald- und Steppennashörner,
los Huesos (Atapuerca-Berge, Nordspanien), Tor- Wildpferde, Auerochsen, Rothirsche, Damhirsche,
ralba, Ambrona, Aridos u. a. (Spanien), Altamura Rehe und Wildschweine, außerdem kamen hier
(Italien), Swanscombe und Boxgrove (Südengland), Höhlenlöwen, Biber und Füchse vor. Auch Fische
Verteszölles (Ungarn), Petralona (Chalkidike, Grie- wurden verzehrt. Die Großwildjagd erfolgte ver-
chenland), Apidima (Peleponnes), Arago (bei Tau- mutlich vor allem mit Hilfe von Speeren. Die Re-
tavel, Südfrankreich), Biache (Frankreich) (Wagner konstruktion der frühmenschlichen Siedlung bei
et. al. 2007). Bilzingsleben ergibt die Existenz einfacher, runder
Der Unterkiefer von Mauer (. Abb. 5.27c) Hütten und von Feuerstellen am Ufer eines flachen
wurde 1907 von Daniel Hartmann in der Kiesgrube Sees. Ein runder, offenbar gepflasterter Platz im
Grafenrain entdeckt (das Museum im Rathaus von Zentrum der Siedlung diente vielleicht kultischen
Mauer erinnert daran). Die sandigen Ablagerun- Zwecken.
gen der Fundstelle stammen vom Ufer einer alten In Schöningen (bei Peine) wurden in einer
Neckarschleife. Der sehr kräftige Unterkiefer wird Braunkohleabbaustelle drei mindestens 380.000–
jetzt auf ein Alter von ca. 600.000 Jahren geschätzt. 400.000 Jahre alte, sehr gut erhaltene Speere gefun-
Diese Datierung stützt sich auf eine Reihe verschie- den. Es sind technisch hervorragende Wurfspeere
dener Methoden. Der Fund stammt wohl aus einer mit Schwerpunkt am vorderen Ende. Sie sind gut
Warmzeit des frühen Mittelpleistozän, einem Inter- 2 m lang und bestehen aus Fichtenholz. An der
glazial des Cromer-Komplexes (Mauerer Waldzeit). Fundstelle fanden sich außerordentlich viele Ske-
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 493

lettreste von Pferden, die wohl die Jagdbeute der kräftige Überaugenwülste. Auch auf der Peleponnes
Hersteller dieser Speere waren. (bei Apidima) wurde ca. 300.000 Jahre altes Skelett- 1
Der fast vollständige Skelettfund (1993) von material gefunden, das vermutlich H. heidelbergen-
Altamura (Südostitalien) ist ca. 400.000  Jahre alt sis angehört. 2
und zeigt schon morphologische Anklänge an den In der Arago-Höhle bei Tautavel (Südfrank-
Neandertaler. reich) wurden verschiedene Skelettreste, darunter
Besonders zahlreiche Funde (über 700 Einzel- ein recht gut erhaltener Vorderschädel, und Stein- 3
stücke) lieferten seit 1993 die Grabungen in der werkzeuge gefunden. Das Alter der Funde wird oft
Sima de los Huesos („Höhle der Knochen“) in den mit gut 400.000 Jahren angegeben. 4
Atapuerca-Bergen bei Burgos in Nordspanien. Bei Biache-St.-Vaast (Frankreich) gefun-
Diese Höhle liegt in Nachbarschaft der Gran-Do- dene Schädelfragmente sind wahrscheinlich ca.
lina-Höhle, in der H. antecessor gefunden wurde. 175.000 Jahre alt und zeigen überwiegend Merk-
5
Die Funde von Sima de los Huesos sind wahr- male von – noch frühen – Neandertalern.
scheinlich um 400.000 Jahre alt. Unter den Fund- 6
stücken sind auch drei gut erhaltene Schädel, deren Homo neanderthalensis
Kapazität bei 1390 cm3 liegt. Ein fast vollständiges Der Neandertaler wird heute von vielen Wissen- 7
Becken hat einen Geburtskanal, durch den ein schaftlern aus verschiedenen Gründen (Morpholo-
modernes Kind zur Welt kommen könnte. Die gie, DNA-Sequenzen, Kultur) als eigene Art, Homo
Deutung der Funde ist umstritten. Sie werden oft neanderthalensis, angesehen. In den letzten Deka- 8
H. heidelbergensis zugeordnet, manche morpholo- den war er dagegen meist nur als Unterart von H.
gische Merkmale (z. B. Zähne, Kiefer) erinnern an sapiens geführt worden. Auch Ende des 19. und in 9
Prä-Neandertaler. Einige Forscher interpretieren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der Ne-
diese Funde als Repräsentanten des „archaischen andertaler im Allgemeinen als eigene Art angesehen
H. sapiens“. worden, wobei er oft als besonders primitiv und bru-
10
Das Schädelfragment von Verteszölles (15 km tal dargestellt wurde. Eine solche abqualifizierende
westlich von Budapest, Ungarn) ist ca. 400.000 oder Einschätzung besitzt keinerlei wissenschaftliche 11
nach anderen Schätzungen 185.000–210.000 Jahre Basis. Seit erfolgreicher Analyse der mitochondria-
alt. Es stammt vermutlich aus einer Phase mit gemä- len und nukleären DNA aus Neandertalerknochen 12
ßigtem Klima im Mindel(Elster)-Glazial. und -zähnen hat das Interesse an dieser uns in vieler
Ein Schädelfragment aus Boxgrove (Sü- Hinsicht besonders nahestehenden Menschenform
dengland) ist wahrscheinlich relativ alt; Alters- sprunghaft zugenommen. Ein auf über 4 Mrd. Nu- 13
datierungen schwanken zwischen 515.000 und cleotiden von drei Individuen beruhender Entwurf
485.000 Jahren. Begleitfunde stammen von Pferden, des Neandertalergenoms wurde 2010 veröffentlicht. 14
Nashörnern, Elefanten, Hyänen, Hirschen, Bären Es ist interessant, dass es zu einem geringen, aber
und Wölfen. Über 100 Steinwerkzeuge wurden an eindeutigen Genfluss von späten Neandertalern zu
der Fundstelle geborgen. nicht-afrikanischen modernen Menschen gekom-
15
Swanscombe liegt bei London, hier wurden men ist (s. unten). Ob andererseits ein Genfluss von
in einer Kiesgrube drei Schädelknochen (Hinter- H. sapiens zu den Neandertalern erfolgte, ist noch 16
hauptsbein und zwei Scheitelbeine) gefunden. Das nicht bekannt. Der Vergleich der Genome von Ne-
Alter wurde auf 390.000 Jahre, die Schädelkapazität andertalern und modernen Vertretern von H. sapi- 17
auf ca. 1250 cm3 geschätzt. ens zeigte unter anderem, dass es bei H. sapiens zu
In der Petralona-Höhle (Chalkidike, Nord- einer positiven Selektion von Genen gekommen ist,
griechenland) wurde 1959 ein recht gut erhaltener die kognitive Fähigkeiten und die Schädelmorpho- 18
Schädel (. Abb. 5.27a) entdeckt, dessen Alter wahr- logie beeinflussen.
scheinlich bei ca. 200.000 Jahren liegt. Die Angaben Es gibt eine Reihe Skelettfunde, welche die 19
zur Schädelkapazität schwanken zwischen ca. 1155 Merkmale der typischen Neandertaler erst gering
und 1400 cm3. Der Schädel erinnert etwas an den ausgeprägt aufweisen und die Prä-Neandertaler
von Kabwe und hatte eine relativ flache Stirn und genannt werden. Hierher gehören z. B. die Funde
20
494 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

Prä-Neandertaler
Im Jahr 1913 wurde ein verhältnismäßig gut er-
haltener Schädel in Steinheim an der Murr (30 km
nördöstlich von Stuttgart) gefunden. Er stammt
wahrscheinlich aus einer Warmphase der Riss-
Vereisungsperiode und ist ca. 250.000  Jahre alt.
Zur Begleitfauna gehörten u. a. das Mercksche Nas-
horn (Dicerorhinus kirchbergensis), der Waldele-
fant Palaeoloxodon antiquus (= Elephas antiquus),
Riesenhirsch, Auerochs, Wisent und Wasserbüffel.
Der Schädel war relativ klein, seine Kapazität lag
bei 1150–1175 cm3. Das Hinterhaupt war wie beim
Schädel von Swanscombe relativ abgerundet, die
Stirn relativ steil. Dieser Schädel erfuhr verschie-
denartige Bewertungen, heute wird er oft in das Feld
.. Abb. 5.28  Schädel von Homo neanderthalensis (La Ferras- der Prä-Neandertaler gestellt.
sie 1, Frankreich) Aus der Region Weimar (Taubach, Ehringsdorf)
stammt recht reiches Fundmaterial, darunter Schä-
aus der Eem-Warmzeit in Kroatien (Krapina), delfragmente von Menschen und Werkzeuge ver-
Frankreich (Fontchevade), Italien (Saccopastore) mutlich aus der Eem-Warmzeit, die wohl auch den
und Deutschland (Weimar-Ehringsdorf). Den Prä- Prä-Neandertalern angehören.
neandertalern werden auch die ca. 250000 Jahre al- Den Prä-Neandertalern wird auch der unvoll-
ten Fundstücke aus der Pontnewyddhöhle in Wales ständige mittelpleistozäne Schädelfund (eine un-
zugeordnet. Nach Auffassung einiger Forscher sind vollständige Schädeldecke mit Parietalia, Occipitale,
zumindest einige dieser Präneandertaler noch An- Temporale; Kapazität 1430 ccm) aus Reilingen (obe-
gehörige von H. heidelbergensis. Die ältesten Über- rer Rheingraben, 25 km südlich von Mannheim) zu-
gangsformen zwischen H. heidelbergensis und H. gezählt. Dieser Fund wurde 1978 gemacht, ist wahr-
neanderthalensis werden auch „Ante-Neandertaler“ scheinlich ca. 125.000 Jahre alt und stammt wohl
genannt. Die vielen jüngeren „klassischen“ Nean- aus der Eem-Warmzeit. Ein Teil der Begleitfunde ist
dertalerfunde stammen aus dem Würm-Glazial. typisch für die Holstein-Warmzeit, was einem Alter
Homo neanderthalensis leitet sich also sehr von 250.000 Jahren gleichkäme.
wahrscheinlich von H. heidelbergensis her, der ihm Zu den Prä-Neandertalern werden u. a. Skelett-
zeitlich vorausgeht und dem er in mancher Hin- reste folgender weiterer Fundstätten gezählt: Sac-
sicht ähnelt. Der Zeitpunkt des ersten Auftretens copastore (Italien), Krapina (bei Zagreb, Kroatien),
der Neandertaler ist umstritten. Zum Teil wird Fontchevade (Frankreich), Zuttije (Israel). Aus der
angenommen, dass sie schon vor 400.000 Jahren Krapina-Höhle stammen ca. 800 Skelettteile, die
auftraten, z. T. wird vermutet, dass sie erst vor ca. von einer größeren Zahl von Neandertalern stam-
250.000 Jahren erschienen, eine andere Meinung men, die hier möglicherweise bestattet wurden.
hält es eher für wahrscheinlich, dass sie sich erst Interessant ist, dass die hier vorliegende Vielzahl
vor gut 120.000–150.000 Jahren aus H. heidelber- an Knochen und Knochenfragmenten Einblick in
gensis entwickelt haben. Nach molekularbiologi- die morphologische Variationsbreite von manchen
schen Berechnungen können sie sogar schon seit Skelettstrukturen gibt.
ca. 300.000–450.000 Jahren eine eigene Entwick-
lungslinie repräsentieren. Eine Reihe von Eigen- Klassische Neandertaler
merkmalen weisen die in Israel gefundenen Nean- Die klassischen Neandertaler waren untersetzt, sehr
dertaler auf. muskulös und hatten robuste Knochen sowie relativ
kurze Extremitäten, v. a. kurze Beine, so wie heutige
Bewohner arktischer Lebensräume. Ihr Schädel war
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 495

1
2
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4
5
6
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10
.. Abb. 5.29  Lebensbild der Neandertaler vor ihrer Wohnhöhle. Eine ältere Frau kaut Leder weich
11
verhältnismäßig flach, die Überaugenwülste deut- vermutlich wurden sie im Allgemeinen nur bis zu 12
lich (. Abb. 5.28). Ihre Schädelkapazität war im 30 oder höchstens 40 Jahre alt.
Durchschnitt etwas größer (1400–1500 cm3) als die Ihre Verbreitung erstreckte sich von Portugal
des modernen Menschen (ca. 1250–1450 cm3), was (z. B. Salemas, Figueira Brava und Columbeira), 13
u. U. mit der kräftigen Muskulatur zusammenhängt. Spanien (z. B. Los Casares, Zaffaraya und Gibraltar)
Der Sexualdimorphismus war hinsichtlich der und Italien (z. B. Monte Circeo) nach West- und Mit- 14
Schädelkapazität erheblich: Frauen: 1270–1350 cm3, teleuropa (Frankreich, England (Thetford, Norfolk,
Männer: 1550–1740 cm3. Kinder hatten meist grö- ca. 50.000 Jahre alt), Wales (Pontnnewydd-Höhle),
ßere Schädelkapazitäten als die Kinder des heuti- Belgien (Spy, Engis), Deutschland (40.000 Jahre al-
15
gen H. sapiens. Die Nase war vermutlich groß, die tes Fundmaterial aus der Kleinen Feldhofer Grotte
Kinnregion unterschiedlich ausgeprägt. Die kräftige im Neandertal bei Mettmann) und von hier bis auf 16
Konstruktion des Gesichtsschädels lässt vermuten, den Balkan (Kroatien mit Vindija, gut 40.000 Jahre
dass Kiefer und Zähne besonders belastet wurden alt), an das Nordufer des Schwarzen Meeres (Krim, 17
und nicht nur der Nahrungsaufnahme dienten, Georgien mit der Mezmaiskaya-Höhle, 60.000–
sondern auch bei anderen Tätigkeiten, z. B. beim 70.000  Jahre alt), in den Nordirak (Shanidar),
Festhalten von Geräten oder beim Weichkauen von bis nach Zentralasien (Teshik-Tash, Usbekistan, 18
Leder, eine Rolle spielten („Zähne-als-Werkzeuge- Okladnikov-Höhle, Altaigebirge; bisher östlichste
Hypothese“, . Abb. 5.29). Es gibt die Vermutung, Fundstelle). Sie erreichten auch den Nahen Os- 19
dass die Hände sehr muskulös waren, was vielleicht ten (Syrien, Israel). Besonders informationsreiche
ihre Geschicklichkeit etwas einschränkte. Zeichen Funde stammen vor allem aus Kroatien (Vindija),
von Verletzungen und Arthritis finden sich häufig, Südwestfrankreich (La Chapelle aux Saints, La Fer-
20
496 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

rassie u. a.), Israel (Kebara, Tabun und Amud), dem bis in die Zeit vor ca. 40.000 Jahren nachweisbar. Es
Irak (Shanidar) und Usbekistan (Teshik-Tash, bei handelt sich um verschiedenartige, z. T. sehr sorg-
Samarkand). fältig hergestellte Steinwerkzeuge, die Breitklingen-
Vermutlich waren die Neandertaler nie häufig, kultur, z. B. mit Schabern, Steinspitzen, die vielleicht
ihre Gesamtpopulation betrug zu einer bestimmten an Lanzen angebracht waren, und Messern. Bei den
Zeit wohl nie mehr als einige Zehntausend. jungen Neandertalfunden (35.000  Jahre alt), z. B.
Die klassischen Neandertaler lebten in der letz- in St. Césaire (Südwestfrankreich) und anderswo,
ten Eiszeit in einer unwirtlichen, oft kalten Umge- wurden Steinwerkzeuge der Châtelperronien-Kul-
bung, z. T. in der Nähe von Gletschern, und jagten tur gefunden. Es handelt sich um typische mes-
in Gruppen Wild, darunter Großwild wie Elch, serähnliche, zweiseitige Klingen unterschiedlicher
Wollnashorn und Mammut. Sie lebten aber auch Größe. Vielleicht war diese Kultur von H. sapiens
in Wärmeperioden. Vielleicht deuten die Funde in beeinflusst. An anderen Neandertal-Fundstellen
Israel auf ein Ausweichen vor vorrückenden Glet- (Arcy-sur-Cûre, Frankreich) fanden sich Schmuck-
schern hin. Ihre Fähigkeit, in kalten Klimaten zu gegenstände, z. B. Elfenbeinringe und durchbohrte
überleben, erforderte, dass sie Kleidung trugen. Wie Tierzähne (Halsketten), die sonst für H. sapiens ty-
diese im Detail aussah, ist umstritten. Nadeln und pisch sind und die vielleicht auch auf einen Einfluss
Nähtechniken kannten sie wohl noch nicht. von H. sapiens hinweisen.
Die seit 1997 von der Arbeitsgruppe von Svante Die Neandertaler waren wohl phasenweise
Pääbo veröffentlichten mitochondrialen und nuk- sesshaft, streiften aber auch umher. Manche Po-
leären DNA-Analysen aus Knochen und Zähnen pulationen waren nomadisch und folgten Rentier-
von Neandertalern (v. a. aus Vindija, Mezmaiskaya herden, von denen sie sich in erheblichem Ausmaß
und der Kleinen Feldhofer Grotte) legen eine Ei- ernährten. Besonders gut untersucht in Hinsicht auf
genentwicklung des Neandertalers seit ca. 300.000– das Sozialleben der Neandertaler sind die mehr als
450.000 Jahren nahe. 200 Fundplätze – meistens in Höhleneingangsbe-
Insgesamt war die genetische Variabilität der reichen – aus der Gegend von Les Eyzies in Süd-
klassischen Neandertaler (die Vindija-Funde sind westfrankreich. An verschiedenen Stellen finden
ca. 42.000 Jahre alt) recht gering, sehr viel geringer sich Hinweise dafür, dass die Neandertaler in der
als beim heutigen H. sapiens. Interessant ist, dass es Lage waren, Behausungen zu bauen, wobei sie u. a.
vor 80.000 bis vor 60.000 Jahren – vielleicht primär Holz, Felle und Mammutknochen verwendet haben
im Nahen Osten – in geringem Ausmaß zu Hybridi- (z. B. in Molodova in der Ukraine). Wahrschein-
sierungen zwischen H. sapiens und den klassischen lich reagierten die Neandertaler empfindlicher als
Neandertalern gekommen ist und dass insgesamt bisher gedacht auf Klimaveränderungen. Vor ca.
die Hybridisierung zwischen Neandertalern und 50.000 Jahren kam es in West- und Mitteleuropa
eurasischen H. sapiens erkennbar häufiger war (hier zu einem erheblichen Bevölkerungsrückgang, der
erfolgte zu 1–4 % ein Einstrom von Neandertalerge- durch einen besonders kalten Klimaschub ausgelöst
nen; betroffen ist insbesondere ein Genort auf dem wurde. Vermutlich wurden die leeren Landstriche
X-Chromosom) als zwischen Neandertalern und durch Einwanderer aus Osteuropa und Westasien
H. sapiens aus dem Sub-Sahara-Bereich Afrikas. Es langsam wieder aufgefüllt.
wird vermutet, dass zumindest ein Teil der Varianten Die Neandertaler lebten in Gruppen und hat-
der HLA Gene (verantworten Teile der Immunab- ten wahrscheinlich eine komplexe Sozialstruktur
wehr) des modernen Menschen (vor allem in Eura- (. Abb. 5.29), zu der vielleicht sogar gehörte, dass
sien) auf das Genom der Neandertaler zurückgeht. Gruppenangehörige sich um Kranke und Verwun-
Die Neandertaler besaßen eine recht hohe dete kümmerten, wofür z. B. abgeheilte große Schä-
Werkzeugkultur, die als Moustérien-Kultur bezeich- delverletzungen sprechen. Andererseits fanden sich
net wird. Le Moustier ist ein Dorf in Südwestfrank- Schädel mit Schnitt- und Kratzspuren, die vermuten
reich, wo die ersten typischen Werkzeuge der Ne- lassen, dass auch Kannibalismus möglich war (wie
andertaler gefunden wurden. Diese Kultur entstand auch bis in unsere Zeit hinein bei manchen Popula-
vor ca. 200.000 Jahren aus dem Acheuléen und ist tionen von H. sapiens).
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 497

Vermutlich haben die Neandertaler ihre Toten Neandertaler und H. sapiens im Nahen Osten.
bestattet. In manchen Fundstätten wurden mehr Die menschlichen Skelettreste, die im Nahen Osten 1
oder weniger vollständige Skelette gefunden, oft (Israel, Syrien, Irak) gefunden wurden, sind mor-
handelt es sich dabei um Kinder. In der Dederiyeh- phologisch nicht einheitlich. Die relativ alten Funde 2
Höhle in Syrien wurde z. B. ein 2 Jahre altes Nean- aus Qafzeh und es Skhul sind sehr wahrscheinlich
dertalerkind auf dem Rücken liegend, mit angewin- H. sapiens zuzuordnen (hohe Stirn, hoher Schädel,
kelten Knien und ausgestreckten Armen gefunden. abgerundetes Hinterhaupt), während die jüngeren 3
Auf ihm lag ein dreieckiger Feuerstein in Höhe des Funde (et Tabun und Shanidar) mehr den klassi-
Herzens und eine Steinplatte neben dem Kopf. In schen Neandertalern aus Westeuropa ähneln (kräf- 4
der Shanidar-Höhle im Irak fanden sich an einem tige Überaugenwülste, flache Stirn). Nur wenige
Skelett ungewöhnlich viele Pollenkörner, die acht Forscher sind dagegen der Ansicht, dass alle Funde
rezenten Arten von Blütenpflanzen zugerechnet im Nahen Osten eine eigene an wärmeres Klima
5
werden können. Vielleicht waren deren Blüten auf angepasste Population des Neandertalers repräsen-
den Toten gestreut worden. Einzelne Forscher sind tieren. 6
allerdings der Ansicht, dass die Pollen mit Nagern in Et Tabun und es Skhul befinden sich am Berg
die Höhle verschleppt wurden. In der Höhle von La Karmel. Das Fundmaterial der et-Tabun-Höhle ist 7
Ferrassie in Frankreich fanden sich nebeneinander z. T. ca. 53.000 Jahre und z. T. 70.000–80.000 Jahre
Skelette von zwei Erwachsenen und sechs Kindern, alt. Die 53.000 Jahre alte Frau von et Tabun hatte
alle in Ost-West-Richtung gelagert. Die vielen Ske- kräftige Überaugenwulste und einen recht flachen 8
lettfunde in der kroatischen Krapina-Höhle werden Schädel, ein Kinn fehlte; sie ähnelte also stark den
auch als Ausdruck eines Bestattungsritus der dor- mittel- und westeuropäischen Neandertalern. Ähn- 9
tigen Neandertalerpopulation angesehen. Falls es lich verhielt es sich mit den Funden aus Amud (Is-
sich bestätigen sollte, dass es rituelle Bestattungen rael) und Shanidar (Irak). In es Skhul wurden zehn
gegeben hat, würde es erlauben, auch den Neander- vermutlich bestattete Skelette gefunden, deren Alter
10
talern das Erreichen einer neuen Evolutionsstufe zufolge neuer Datierungen auf 80.000–100.000 Jahre
zuzubilligen, die durch Einsicht in die Begrenztheit geschätzt wurde. Die Schädelmorphologie ähnelt 11
des Lebens und Vorstellungen eines Jenseits zu cha- weitgehend der des H. sapiens, ein Kinn war vor-
rakterisieren wäre. handen. Der Gesichtsteil der Schädel war variabel 12
Wahrscheinlich stammen einige der gefunde- gestaltet und erinnert bei einzelnen Schädeln etwas
nen Überreste von Neandertalern, die an Hunger an frühe Neandertaler.
gestorben sind, was auf ihre vielfach schwierigen Le- In Jebel Qafzeh wurde Material (Schädel, Be- 13
bensverhältnisse in unwirtlichem Klima hindeutet. cken) gefunden, das H. sapiens zugeschrieben
Auf teilweise Mangelernährung weisen auch relativ wird (. Abb. 5.32b) und gut 100.000, vielleicht 14
häufige Defekte im Zahnschmelz hin. 120.000  Jahre alt sein dürfte. Die Funde (Schä-
Eine vielfach diskutierte Frage betrifft die del, Becken) aus der Kebara-Höhle sind dagegen
Sprachfähigkeit der Neandertaler. Angesichts ih- 52.000–62.000  Jahre alt und repräsentieren die
15
rer differenzierten Sozialstruktur, ihres großen ältesten Neandertaler in dieser Region. Die Beob-
Gehirns, ihrer hohen Werkzeugkultur u. a. ist es achtung, dass hier in Israel ältere Funde von H. 16
durchaus vorstellbar, dass sie schon eine Sprache sapiens als vom Neandertaler vorliegen, macht es
besessen haben. In diesem Zusammenhang ist von höchst unwahrscheinlich, dass sich H. neander­ 17
Interesse, dass sie dasselbe spezielle FOXP2-Gen thalensis zu H. sapiens weiterentwickelt hat. Wenn
besaßen wie Homo sapiens. Dieses Gen spielt eine die genannten Daten korrekt sind, dann lebten H.
essenzielle, aber noch unbekannte Rolle bei der sapiens und H. neanderthalensis im Nahen Osten 18
Sprachentwicklung des modernen Menschen. Die gut 50.000 Jahre getrennt nebeneinander und be-
Neandertaler haben keine großartigen Spuren einer wahrten über diese Zeit sehr weitgehend ihren ei- 19
Kunst hinterlassen, wie sie von den Cro-Magnon- genen Genbestand. Auch dies spricht stark für das
Menschen überliefert sind. Konzept, dass H. sapiens und H. neanderthalensis
getrennte Arten waren. Möglicherweise repräsen-
20
498 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

tieren diese frühen Funde von H. sapiens einen ei- letzte Funde sind hier ca. 33.000 Jahre alt). Vielleicht
genen Auswanderungsversuch aus Afrika, der aber wurden sie von den modernen Menschen (H. sa-
wohl nicht zu einer weiteren Besiedlung des Nahen piens) ausgerottet, was bei den Verhaltensweisen
Ostens geführt hat. dieser Spezies durchaus möglich erscheint (Bei-
Die Funde aus der Amud-Höhle (Israel) sind ca. spiele für Genozid sind seit mehreren Tausend Jah-
60.000 Jahre alt und repräsentieren Neandertaler, ren überliefert). Vielleicht brachten die modernen
darunter ein 10 Monate altes Kind. In Amud wurde Menschen auch Krankheitserreger mit, die zum
auch der größte fossile Angehörige der Gattung Aussterben der Neandertaler führten, so wie die
Homo, ein Neandertaler, gefunden, ein ca. 25-jäh- Windpocken der Europäer vielen Indianern zum
riger Mann, etwas größer als 1,80 m mit einer Schä- Verhängnis wurden, oder sie starben langsam aus,
delkapazität von 1740 cm3. weil sie nicht mit den modernen Menschen und ih-
In der Shanidar-Höhle (westliches Zagros-Ge- rer Kultur konkurrieren konnten. Es wird vermutet,
birge, Nordirak) wurden Skelette von sechs erwach- dass sich die Population des H. sapiens im Zeitraum
senen und einem kindlichen Neandertaler gefun- von vor 55.000 bis vor 35.000 Jahren in Europa ver-
den. Die Funde sind z. T. 46.000, z. T. 60.000 Jahre zehnfacht hat und so einen Verdrängungsprozess
alt. Das Hinterhaupt dieser Formen war, wie das in Gang gesetzt wurde, der zum Aussterben der
der Funde aus Israel, stärker abgerundet als bei den Neandertaler führte. Empfohlen wird ein Besuch
europäischen Funden. Die Mehrzahl der Skelette in des Neandertaler-Museums, Talstraße 300, 40822
Shanidar ist relativ alten Menschen (ca. 40 Jahre) Mettmann.
zuzuordnen. Auffällig ist, dass bei vier der sechs Der Fund in der Denisova-Höhle („Denisova-
Skelette recht schwere, aber ausgeheilte Knochen- ner“). Im Jahr 2008 wurden in der Denisova-Höhle
verletzungen vorlagen. Das weist zum einen auf die im Altai-Gebirge ein menschlicher Molar, ein Ze-
harten Lebensbedingungen, zum anderen aber auch henglied und ein Fingerknochen gefunden, die ca.
auf Hilfe und Versorgung von Verletzten hin. Zwei 40.000 Jahre alt sind und aus denen sich DNA ext-
der Shanidar-Schädel sind möglicherweise absicht- rahieren ließ. Die sehr aufwendige mitochondriale
lich deformiert, wie das auch von einigen Populati- und nukleäre DNA-Analyse zeigte eine beachtliche
onen des modernen H. sapiens bekannt ist. Eigenständigkeit dieser Menschen (Reich et  al.
Interessant ist der Fund (unvollständiger Schä- 2010); auch die Morphologie des beim modernen
del) aus der Zuttiyeh-Höhle in Israel; vielleicht ist Menschen sehr variabel gestalteten dritten oberen
er gut 125.000 Jahre alt und repräsentiert einen Prä- Molaren soll Eigenmerkmale aufweisen. Mögli-
Neandertaler. cherwiese hatten die „Denisovaner“ vor vielleicht
Offensichtlich haben im Nahen Osten Po- 300.000 Jahren einen gemeinsamen Vorfahren mit
pulationen von H. sapiens, die hier wohl vor gut den Neandertalern. Die genetische Distanz zum
100.000 Jahren aus Afrika kommend auftauchten, modernen H. sapiens ist größer, z. T. wird vermutet,
und von H. neanderthalensis über einige Jahrzehn- dass diese „Denisovaner“ eine Eigenentwicklung
tausende zusammengelebt, ohne sich nennenswert repräsentieren, die auf H. heidelbergensis zurück-
zu vermischen. Dieser Vorstoß von H. sapiens blieb gehen könnte. Es fanden sich bemerkenswerter-
vermutlich auf den Raum Palästina beschränkt. weise bei verschiedenen Populationen des heutigen
Homo sapiens taucht dann erst wieder vor ca. Menschen, z. B. auf den Philippinen, im östlichen
50.000 Jahren in Europa auf. Indonesien, auf Neuguinea, im Norden Australiens
Das Ende der Neandertaler. Die Ursache für das und auf einigen Inseln des südlichen Pazifik Spuren
Verschwinden der Neandertaler ist noch ungeklärt. der Gene von „Denisovanern“ (. Abb. 5.30). Die
Nachdem vor ca. 50.000 Jahren moderne Menschen „Denisovaner“ weisen darauf hin, dass in Zentral-,
in Europa auftauchten, bleiben Neandertaler nur Süd(?)- und SO-Asien lange Zeit im späten Pleisto-
noch für gut 10.000 Jahre nachweisbar. Die letzten zän eine eigene Menschengruppe lebte, die auch in
Spuren finden sich in Höhlen an der Küste Südspa- genetischen Austausch mit H. sapiens trat.
niens (Gibraltar, Zafarraya, wohl vor ca. 40.000 Jah-
ren; Wood et al. 2013) und auf dem Balkan (Vindija,
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 499

sind modern: hohe Stirn, lange gewölbte Schei-


telbeine, weiter Hirnschädel, Schädelkapazität ca. 1
1450 cm3 (Herto) bzw. ca. 1435 cm3 (Omo), flaches
Gesicht, Kinn. Die Skelettreste von Herto (zwei 2
Erwachsene, ein Kind) weisen Kratzspuren auf,
die vermuten lassen, dass von der frischen Leiche
das Muskelfleisch abgetrennt wurde. Dies ist mög- 3
licherweise ein Hinweis darauf, dass ein gewisser
Totenkult gepflegt wurde und nur das knöcherne 4
Skelett zur Ruhe gebettet wurde, es könnte sich aber
auch um Fraßspuren z. B. von Krokodilen handeln.
Interessant ist, dass heute in Äthiopien auch in mo-
5
lekulargenetischer Hinsicht einige besonders alte
Stämme leben. Die Herto- und Omofunde stützen 6
die Out-of-Africa-Theorie zur Herkunft des moder-
nen Menschen. Bisher älteste Funde von Werkzeu- 7
gen von H. sapiens außerhalb Afrikas wurden in
SO-Arabien gemacht, sie sind ca. 125.000 Jahre alt.
Fossile moderne Menschenformen. Nur wenig 8
jünger (100.000–130.000 Jahre) als die Funde von
.. Abb. 5.30  Kladogramm auf der Basis der Analysen auto-
somaler DNA Sequenzen zu den Verwandtschaftsbeziehun-
Herto und Omo sind Skelettreste, die in folgen- 9
den afrikanischen Fundstätten ans Licht kamen:
gen verschiedener Vertreter von H. sapiens, Neandertalern
Eyasi (Tansania), Laetoli (Tansania), Eliye Springs
und „Denisovanern“ nach Reich et al. (2010)
und Guomde (Kenia), Sings (Sudan), Yebel Irhoud
10
(Marokko), Mündung des Klasies River (Südafrika),
Homo sapiens Border Cave (Südafrika), Equus Cave (bei Taung, 11
Der moderne Mensch, Homo sapiens, entstand Südafrika), Langebaan-Lagune (Südafrika, Fußspu-
vermutlich vor ca. 190.000  Jahren in Afrika. Die ren), aus dem Abdur Reef Limestone (Eritrea) und 12
Analyse der mitochondrialen DNA (mtDNA) des – vielleicht 80.000–90.000 Jahre alt – aus Katanda
heutigen Menschen spricht für ein solches Alter. Die (Kongo). Erwähnt seien auch noch einmal die wohl
mtDNA aller heutigen Menschen weist einen recht gut 120.000  Jahre alten Funde von H. sapiens in 13
hohen Ähnlichkeitsgrad auf, so dass die Anhänger Quafzeh.
der Out-of-Africa-Hypothese nicht am einheitlichen Es ist anzunehmen, dass H. sapiens längere Zeit 14
Ursprung in Afrika zweifeln. Alle basalen Äste des auf einem noch relativ niedrigen kulturellen Ni-
mtDNA-Stammbaums des heutigen Menschen sind veau lebte, ähnlich wie die Neandertaler, und dass
afrikanisch. erst vor ca. 60.000–40.000 Jahren aus noch unbe-
15
Sehr frühe Fossilfunde (gut erhaltene Schädel), kannten Gründen ein deutlicher kultureller Ent-
die heute dem H. sapiens zugeordnet werden, wur- wicklungssprung erfolgte (. Abb. 5.33a), dessen 16
den 1997 bei Herto in der Region Middle Awash weitere Entwicklung noch anhält und heute sogar
220 km nordöstlich von Addis Abeba (. Abb. 5.31) eine für viele sehr beunruhigende Beschleunigung 17
gefunden und sind ca. 160.000 Jahre alt. Die Be- erfährt. Möglicherweise entstand in dem Zeitraum
schreibung der Funde erfolgte 2003. Das Fossilma- vor 60.000–40.000 Jahren die Fähigkeit zum kon-
terial von Herto wurde mit der Bezeichnung H. sa- kreten symbolischen Denken. Ein solches Denken 18
piens idaltu versehen, weil es sich hinreichend vom erlaubt Abstraktion, Analyse der Vergangenheit
heutigen H. sapiens sapiens unterscheidet. Idaltu und vorausschauende Planung der Zukunft. Das 19
bedeutet „älter“ in der Sprache der einheimischen symbolische Denken ist wohl auch die Vorausset-
Afar. Circa 190.000 Jahre alt sind ähnliche Schädel zung für die Entstehung der Kunst und einer diffe-
von Omo (südliches Äthiopien, . Abb. 5.32a). Sie renzierten Sprache. Zwischen Kultur und Symbo-
20
500 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

ten. Überall, wo der moderne Mensch auftauchte,


kam es zum Aussterben vieler Tierarten, v. a. der
Fauna der großen Tiere, z. B. auf Madagaskar und
Neuseeland.
Theorien zur Auswanderung des modernen
Menschen aus Afrika. Es ist weithin akzeptiert, dass
der moderne Mensch seit 190.000 Jahren in Afrika
nachweisbar ist. Zur Auswanderung aus Afrika und
zu den Wanderwegen in Eurasien (. Abb. 5.33) gibt
es verschiedene Ansichten, die im Allgemeinen auf
unterschiedlichen Methoden beruhen, z. B. auf der
Analyse von Skelettfunden und von Steinwerkzeu-
gen. Die meisten Aussagen beruhen auf (verschie-
denen) molekulargenetischen Methoden, z. B. auf
der Analyse mitochondrialer DNA-Daten (mtDNA-
Markern).
Derzeit wird von vielen Forschern vermu-
tet, dass der wichtigste Auswanderungsweg aus
Afrika über Bab el Mandeb war (vor mehr als
125.000  Jahren – war damals wohl nur 4–5 km
breit) nach Arabien (Fundstellen im östlichen Be-
reich der heutigen Emirate mit ca. 125.000 Jahre
alten Werkzeugen) erfolgte. Von hier aus ging es
vermutlich in den Süden des Mittleren Ostens
(vor ca. 70.000 Jahren), von wo aus, u. U. in Schü-
ben, 1) ein südlicher Wanderungsweg nach Indien
führte, über den auch Neuguinea und Australien
(vor ca. 60.000–50.000 Jahren) erreicht wurden;
2) ein weiter oben schon erwähnter Weg, der über
Kleinasien, nach Westen führte, über den vor ca.
.. Abb. 5.31  Homo sapiens idaltu, Nordäthiopien, Schädel 50.000–45.000 Jahre SO-, S- und Westeuropa be-
des ältesten bisher bekannten Homo sapiens siedelt wurde; und 3) ein Weg über den Zentrala-
sien und Nordchina vor ca. 40.000 Jahren erreicht
len besteht eine enge Beziehung. Alte australische wurden. Von NO-Asien aus wurde im Wesentli-
Felszeichnungen sind ca. 40.000 Jahre alt, ebenfalls chen die Neue Welt besiedelt, vor allem über die
40.000  Jahre alt sind Kulturgegenstände von ho- damals trockenliegende Beringstraße; gesicherte
hem künstlerischem Rang aus Höhlen der Schwä- Siedlungsspuren in N-Amerika sind ca. 15.000–
bischen Alb (z. B. Höhle bei Geissenklösterle und 19.000  Jahre, in S-Amerika ca. 13.000  Jahre alt.
Vogelherdhöhle, . Abb. 5.38). Die ältesten Höhlen- Viel spricht dafür, dass Europa in einer jüngeren
malereien in Südfrankreich und Nordspanien sind Wanderwelle (vor 30.000–20.000 Jahren) auch von
wohl bis ca. 32.000 Jahre alt. Der Höhepunkt die- Zentralasien, also von Osten aus, besiedelt wurde.
ser jungpaläolithischen Kunst lag im Zeitraum von Der Vorstoß vor gut ca. 120.000  Jahren wohl
22.500–9000 Jahren vor heute, was v. a. die Höhlen über das Niltal und den Sinai nach Palästina wird
von Altamira, Lascaux, Cougnac und viele andere heute z. T. eher als vereinzelter Auswanderungsvor-
bezeugen. Es ist jedoch auch ziemlich sicher, dass stoß angesehen, der keine weiterführenden Konse-
sich diese Menschen nicht nur durch kulturelle Leis- quenzen hatte.
tungen auszeichneten, sondern dass sie sich auch Im Detail gibt es zahlreiche kontroverse Unter-
schon gegenseitig töteten und ihre Umwelt zerstör- suchungen, z. B. zur Besiedlung Indiens, Tibets, der
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 501

1
2
3
4

.. Abb. 5.32 a–c.  Schädel von Homo sapiens. a Omo Kibish, b Qafzeh IX, c Cro-Magnon I
5
Sundainseln, N-Afrikas usw. Oft wird auch die Ana- nach Arabien gelangt. Vor ca. 45.000–50.000 Jah- 6
lyse von Sprachen als Beweismittel hinzugezogen. ren wanderten die modernen Menschen über Klein-
Manches, z. B. zur Besiedlung des Nahen Ostens asien in Europa ein (s. o., . Abb. 5.33b). Mit ihnen 7
und Europas, erfordert genaue Analysen des Klimas tauchte vielfacher technischer Fortschritt auf. Sie
in der Vergangenheit; so weiß man z. B. über die hatten z. B. die Fähigkeit, sichere Unterkünfte mit
Sahara, dass sie im Pleistozän unterschiedlichen kli- festen Feuerstellen einzurichten. Dies verschaffte ih- 8
matischen Bedingungen ausgesetzt war, was natür- nen auch die Möglichkeit, in kaltem Klima zu über-
lich auch Folgen für ihre Besiedlung durch den leben, was vorher nur die Neandertaler konnten. 9
Menschen hatte. Zu Beginn des Pleistozäns Dieser moderne Mensch wurde im 19. Jahrhundert
herrschte wohl ein regenreiches Klima; vor ca. von französischen Paläontologen „Cro-Magnon“
120.000 Jahren gab es große Süßwasserseen, vor ca. (. Abb. 5.32a) genannt, nach der 1868 entdeckten
10
100.000 Jahren war es dort dagegen extrem trocken; Halbhöhle Abri de Cro-Magnon bei der Ortschaft
vor ca. 30.000 Jahren gab es wieder Süßwasserseen Les Eyzies-de-Tayac im Tal der Vézère im Depar- 11
und eine geschlossene Vegetationsdecke; es gibt tement Dordogne in Südwestfrankreich, in dessen
Hinweise auf verschiedene Perioden mit Jägern oder Nähe unter einem Felsüberhang die ersten Funde 12
(in jüngerer Zeit, um ca. 5000 Jahren vor heute) Hir- gemacht wurden. Die Cro-Magnon-Menschen wa-
tenkulturen. ren die Träger der Aurignacien-Kultur (Aurigna-
Bedeutung für die Besiedlung Eurasiens, vor cien-Technokomplex; s. Abschn. 5.8.1) und haben 13
allem Süd- und Süd-Ostasiens sowie Südchinas, die oben genannten Höhlenmalereien in Nordspa-
wird auch dem größten Vulkanausbruch der letz- nien und Südfrankreich geschaffen. Sie waren groß 14
ten 2  Mio. Jahre (vor ca. 74.000  Jahren) auf der und besaßen lange, schmale Schädel, deren Ge-
Insel Sumatra zugeschrieben. Dort, wo jene Rie- sichtspartie relativ kurz und breit war. Das Schädel-
senkatastrophe stattfand, liegt heute der Toba-See. volumen lag etwas über den heutigen Mittelwerten.
15
Wahrscheinlich verschlechterten sich durch Tem- Cro-Magnon-ähnliche Skelette wurden auch aus
peraturschwankungen die Lebensbedingungen für dem oberen Paläolithikum Nordafrikas bekannt, 16
die Menschen über Hunderte von Jahren, so dass ihre Überaugenwülste waren etwas kräftiger als bei
zufolge einzelner Forscher vielleicht sogar ihre Exis- den europäischen Formen. Nach Ansicht mancher 17
tenz zumindest in einem Umkreis von einigen Tau- Anthropologen sind Züge dieser Menschen noch
send Kilometern gefährdet war. in Teilen der heutigen nordafrikanischen und sar-
Theorie zur Besiedlung des Nahen und Mittle- dischen Bevölkerung zu erkennen. Wahrscheinlich 18
ren Ostens sowie Europas. Älteste bisher gefundene wurde Europa in Schüben besiedelt. Ein späterer
Steinwerkzeuge von H. sapiens stammen von der Vorstoß erfolgte vor 20.000–30.000 Jahren aus Mit- 19
arabischen Halbinsel; sie sind ca. 125.000 Jahre alt telasien, also vom Osten her (s. o.).
und ähneln Werkzeugen aus O-Afrika, vermutlich Die derzeit ältesten bekannten Funde (zwei
sind diese frühen Siedler direkt über NO-Afrika Milchmolaren, Knochenwerkzeuge u. a., von ei-
20
502 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.33 a, b.  a Zeitliche und kulturelle Entwicklung von Homo sapiens. b Wahrscheinliche Wanderwege des modernen
Menschen aus Afrika nach Eurasien und Nord- sowie Südamerika. Wege und Zeitangaben sind hypothetisch und beruhen
insbesondere auf archäologischen Befunden und der Analyse von molekulargenetischen Daten (insbesondere Mustern der mi-
tochondrialen DNA) und von Sprachanalysen. Nicht selten gibt es Diskrepanzen zwischen mtDNA Daten und archäologischen
Befunden. Nach verschiedenen Autoren
5.6  •  Fossile Hominini (Menschen und Vormenschen) 503

ner Halskette stammende Molluskenschalen) des Nordinsel Neuseelands vor ca. 1000 Jahren. Auch
modernen H. sapiens in Europa stammen aus Madagaskar wurde von Polynesien aus vor gut 1
der Grotta del Cavallo (Süditalien) und sind ca. 1500 Jahren besiedelt. Die Menschen Polynesiens
45.000 Jahre alt. Die Kultur dieser Menschen aus zeigen viele DNA-Übereinstimmungen mit den Ur- 2
der Grotta del Cavallo wird als Uluzzian bezeich- einwohnern Taiwans, das vermutlich von Südchina
net. Etwas jüngere Funde stammen aus Rumänien aus besiedelt wurde.
(Pesteracu-Oase, 34.000–36.000 Jahre alt), Kroatien Ostsibirisches Fundmaterial (Makarovo, Var- 3
und der Tschechischen Republik (z. B. Predmosti, varina, Gora) ist ca. 40.000 Jahre alt. Hier wurden
Brno, Mladec, ca. 31.000 Jahre alt) sowie aus Bul- Stein-, Knochen- und Elfenbeinwerkzeuge gefunden. 4
garien, Russland und England. Die tschechischen Schon 1890 wurde Eugene Dubois Schädelm-
Funde waren z. T. in gebeugter Haltung (sog. Ho- aterial aus Wadjak (Mitteljava) übergeben, dessen
ckerbestattung) bestattet und mit Grabbeigaben Alter unsicher ist. Es ist aber vermutlich recht alt,
5
versehen. Zusammen mit den menschlichen Ske- vielleicht 40.000–50.000 Jahre, und ist modernen
lettresten wurden Werkzeuge des oberen Paläoli- Menschen zuzuordnen. 6
thikums und Knochen vieler Säugetiere, darunter Die Besiedlung Australiens. Die Besiedlung
z. T. sehr zahlreich Mammuts, gefunden. Die Schä- Australiens wird kontrovers diskutiert. Vieles spricht 7
delmorphologie ist teilweise noch altertümlich mit dafür, dass Australien vor ca. 50.000–60.000 Jahren
kräftigen Überaugenwülsten bei einigen Indivi- von Neuguinea aus besiedelt wurde. Neuguinea und
duen. Australien waren damals über eine breite Landbrü- 8
Die Besiedlung Asiens. Besonders zahlreiche cke verbunden. Neuguinea wurde vermutlich von
Funde des modernen Menschen kennt man aus Java aus erreicht. Auf dem Weg nach Australien 9
China (. Abb. 5.33a) Die Mehrzahl der Funde mussten auch Meeresstraßen von bis zu 80 km
stammt aus dem Norden des Landes und ist ca. überquert werden. Schon vor 15.000–20.000 Jahren
35.000–40.000 Jahre alt. Daneben gibt es aber auch – vielleicht sogar schon vor 35.000 Jahren – wurde
10
deutlich ältere Funde. Aus der Region Liujiang in auch Tasmanien über eine schmale Landbrücke
Südchina stammt ein recht gut erhaltenes Skelett, erreicht. Es gibt auch die Auffassung, dass es Fels- 11
dessen Alter aber sehr unterschiedlich angegeben dekorationen und -zeichnungen in Australien gibt,
wird. Das Skelettmaterial der oberen Zoukoudian- die ca. 75.000 Jahre alt sind. Manche Anthropologen 12
Höhle ist ca. 34.000 Jahre alt. Das Schädelmaterial vermuten die Existenz noch älterer Siedlungsspu-
dieser Funde zeigt z. T. massive Verletzungen, u. U. ren. Immer wieder stellt sich dabei die Frage nach
wurden die Individuen durch Pfeilschüsse oder der Verlässlichkeit der zur Altersbestimmung ein- 13
Speerwurf in den Schädel getötet. Südchina wurde gesetzten Methodik. Die ältesten Skelettreste stam-
vermutlich vor gut 40.000 Jahren auf einem süd- men aus der Region des Lake Mungo und sind gut 14
lichen Wanderweg über Indien und Südostasien 40.000 Jahre alt. Offensichtlich kam es hier schon zu
erreicht (s. o.). Über einen südlichen Weg wur- Bestattungen, wobei verbrannte Leichen in Erdgru-
den auch Indonesien, Neuguinea und Australien ben versenkt wurden.
15
besiedelt. Australien wurde offensichtlich schon Die Besiedlung Amerikas (. Abb. 5.33a). Weite
sehr früh vor 50.000–60.000 Jahren erreicht (s. o., Teile Nordamerikas waren in der letzten Eiszeit 16
. Abb. 5.33). Zum Teil enthalten Populationen in mit Eis bedeckt, was ein recht effektives Ausbrei-
SO-Asien, auf Neuguinea, in N-Australien und im tungshindernis war. Der Zeitpunkt der Erstbesied- 17
S-Pazifik Spuren des Genoms der „Denisovaner“ lung Nord- und Südamerikas durch den modernen
(Reich et. al. 2011), so dass vermutet wird, dass letz- Menschen ist umstritten. Es gibt die Auffassung,
tere bis nach SO-Asien verbreitet waren. der Mensch habe die Neue Welt erst vor ca. 15.000– 18
Interessant ist die viel jüngere „austronesische“ 19.000 Jahren erreicht, manche Forscher vermuten,
Eroberung der Nordküste Neuguineas und der Süd- dass N-Amerika erst vor 13.000  Jahren erreicht 19

-
seeinseln, die wohl vor ca. 6000 Jahren von der Süd- wurde. Solche Aussage stützen sich
küste Chinas aus begann. Hawaii und die Osterin- auf die Ergebnisse vergleichender DNA-Un-
seln wurden vor ca. 1500  Jahren erreicht, die tersuchungen, die einerseits zwischen ver-
20
504 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

schiedenen Indianergruppen und andererseits häufig genannter früher Zeitpunkt, zu dem die erste
zwischen Indianern und Ethnien in Sibirien Einwanderung stattfand, liegt bei ca. 30.000 bis viel-
und angrenzenden Gebieten angestellt wurden leicht sogar 40.000 Jahren vor heute. Auch diese An-

-
und sicht beruft sich auf DNA-Vergleiche und Archäolo-
auf den Befunden, dass erst seit ca. 15.000– gie. DNA-Untersuchungen z. B. am Y-Chromosom
19.000 Jahren eine kontinuierliche Besiedlung lassen ein Alter der amerikanischen Ureinwohner
Nord- und Südamerikas nachzuweisen ist. Die von ca. 30.000 Jahren vermuten.
ersten Siedler kamen zufolge dieser Ansicht In Zentralbrasilien wurde das Alter von
über eine Landbrücke (Bering-Landbrücke) Steinwerkzeugen und Höhlendekoration auf gut
zwischen Sibirien und Alaska, die im Zeitraum 30.000  Jahre geschätzt, ein Skelettfund („Luzia“)
zwischen 25.000 und 13.000 Jahren vor heute auf 11.500 Jahre. Siedlungsspuren in Chile (Monte
bestand. Sie haben sich dann ab 13.000 Jahren Verde) wurden auf ein Alter von 14.800  Jahren
vor heute in der Rekordzeit von ca. 1000 Jah- (Holzwerkzeuge) und fraglich sogar auf 33.000 Jah-
ren über die ganze Neue Welt verbreitet. Die ren (Steinherde) geschätzt. Am Yukon wurden mög-
Landbrücke war während des letzten Teils der licherweise mehr als 25.000 Jahre alte Steinwerk-
letzten Eiszeit entstanden; die Beringstraße zeuge aufgefunden. In Virginia (Cactus Hill) fand
war nie tief, heute nur ca. 60 m, sie konnte man wohl 15.000–17.000 Jahre alte Siedlungsreste.
daher während der Eiszeit leicht trocken fallen. All diesen älteren Zahlen wird aber auch heftig wi-
Es gab auch in früheren Abschnitten der letz- dersprochen.
ten Eiszeit eine (oder mehrere) Landbrücken Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass
zwischen Sibirien und Alaska, die aber zufolge die Neue Welt zusätzlich von Europa/Afrika auch
der Auffassung, dass Amerika erst vor ca. vor den Wikingern schon erreicht wurde. Unwahr-
15.000–19.000 Jahren vom Menschen besiedelt scheinlich erscheint aber die Besiedlung Nordame-
wurde, nur von Pflanzen und Tieren genutzt rikas von Europa aus, wie manchmal behauptet wird
wurde. Die Topographie dieser Landbrücken aufgrund von Ähnlichkeiten der Solutréen- (Europa)
wird kontrovers diskutiert. Vermutlich gab es und Clovis- (Nordamerika) Steinklingenkultur. Eine
auf der Landbrücke zeitweise eisfreie Korri- solche Besiedlung müsste per Boot über den Atlantik
dore, durch die Menschen einwandern konn- entlang der Eiskante der Gletscher erfolgt sein.
ten, und wahrscheinlich gab es an der Küste Wikinger erreichten Nordamerika vor gut
auch immer wieder Regionen mit erträglichem 1000 Jahren, Columbus leitete 1492 die letzte große
Klima. Einwanderungswelle Amerikas ein.

Die DNA der meisten Indianer ähnelt der von Men-


schen im östlichen Sibirien. Ein kleiner Teil der 5.7 Die Menschheit heute
Indianer Nordamerikas besitzt DNA-Übereinstim-
mungen mit weiter westlich in Asien lebenden Men- Heute leben über 7 Mrd. Menschen auf der Erde.
schen aus der Grenzregion Asien-Europa. Einige Diese Zahl steigt ständig weiter (zu diesem, den
Gensequenzen bestimmter süd- und mittelameri- Fortbestand des Lebensraums Erde bedrohenden,
kanischer Indianer ähneln denen südostasiatischer Problem der Überbevölkerung, s. Abschn. 5.9). Ein
Menschen. Vielleicht ist also ein Teil der Indianer besonderes Merkmal des heutigen Menschen ist
entweder per Boot von SO-Asien aus über den Pa- seine unglaubliche Variabilität (. Abb. 5.34) – er
zifik (mit Inselstationen) gewandert oder an den repräsentiert also eine polytypische Art – die sich
Küsten Ostasiens entlang nach Norden gewandert unter anderem in Körpergröße, Haarfarbe, musi-
und dann an der Küste Alaskas und Nordamerikas kalischer Begabung, Geschicklichkeit, persönlichen
bis nach Südamerika gekommen. Interessen, dem MHC-Muster, genetisch bedingten
Einzelne Forscher vermuten, dass es vor der Krankheiten sowie Zahl und Verteilung von Som-
Einwanderungswelle, die ca. 15.000–19.000 Jahre mersprossen und Leberflecken zeigt. Variabilität
zurückliegt, andere gab, die früher stattfanden. Ein kennzeichnet auch Lebensweise, Mode, Religion,
5.7  •  Die Menschheit heute 505

1
2
3
4
5
6
7
8
9

.. Abb. 5.34 a–f.  Kinder aus verschiedenen Ländern. a Äthiopien, b Deutschland, c Guatemala, d Madagaskar, e Indonesien, 10
f Kirgistan. Foto c: Werzmirzowski

Baustile, Sprachen und andere Parameter im Be- mischen Status. So haben z. B. Untersuchungen zur 11
reich Kultur und Zivilisation. Diese Variabilität Körpergröße bei englischen Schulkindern gezeigt,
finden wir nicht nur in jeder Schulklasse, in jedem dass Kinder besser gestellter Eltern im Durchschnitt 12
Stadtteil, in jedem Land, sondern überall auf der größer sind als Kinder sozial schlechter gestellter
Erde. Die Vielfalt hat ihre Ursachen im Bereich der Eltern. Dieses Phänomen gilt vermutlich für die
Genetik und der Umwelt bis hin zum sozio-ökono- Kinder aller Länder. 13
  EXKURS 5.9   14
Epigenetische Einflüsse auf die Evolution des Menschen
Martina Paulsen und Jörn Walter (Saarbrücken) 15
Die molekulare Basis epigenetischer Vielfalt von verschiedenen epigenetischen Modifi-
Vererbung kationen, die in komplexen, multizellulären Spezies 16
eine ungeheure Vielschichtigkeit erlangen können.
Die Epigenetik beschreibt Mechanismen und Funk-
tionen von Vererbungsformen, bei denen außerhalb
Neben Histonvarianten, die sich in Bezug auf ihre 17
Aminosäuresequenz nur geringfügig aber funktio-
der DNA-Sequenz Informationen weitergegeben
werden. Im Wesentlichen handelt es sich um die
nell sehr stark unterscheiden, sind chemische Modi-
fikationen der Histonproteine wie der Acetylierung
18
chromosomengebundene Vererbung von Modifika- und Methylierung von Lysinresten stark verbreitet
tionen der DNA bzw. der Histonproteine innerhalb (Jenuwein u. Allis 2001). Diese werden enzymatisch 19
des Chromatins. In den verschiedenen Taxa der Eu- an Histonen in situ, d. h. auf dem Nukleomsom posi-
karyoten gibt es auf Proteinebene eine ungeheure tionsspezifisch etabliert. Auf der DNA-Ebene ist die 20
7
506 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.9 (Fortsetzung) 
Methylierung von Cytosinen die prominenteste epi- über: Epigenetische Modifikationen sind enzyma-
genetische Modifikation (Zemach et al. 2010). Ob- tisch revertierbar. Dies impliziert, dass sie aufgrund
wohl hier die DNA direkt als Substrat für epigene- bestimmter Ereignisse z. B. während bestimmter
tische Modifikationen dient, bleibt der genetische Entwicklungsphasen eines Organismus verändert
Code, der die Identität von RNAs und Proteinen werden können.
bestimmt, unverändert. Epigenetische Modifika-
tionen bestimmen Chromatinstrukturen, und alle Epigenetik und Embryonalentwicklung
an Chromatinstruktur gekoppelten Prozesse wie Der Begriff der Epigenetik wurde Mitte des 20. Jahr-
z. B. Reparatur, Rekombination, Replikation und hunderts von dem Entwicklungsbiologen Conrad
vor allem Genregulation. Nur Gene, die eine offene Waddington (1905 bis 1975) geprägt (Waddington
Euchromatinstruktur besitzen, sind zugänglich für 1957). Waddington stellte heraus, dass während der
den Transkriptionsapparat und können aktiv tran- Entwicklung eines Organismus die Differenzierung
skribiert werden. Gene, die in dicht verpackten von Zellen einem festgelegten Programm folgt, wo-
Heterochromatinbereichen liegen, sind dagegen bei aus der Zygote durch Zellteilungen, zunächst
stillgelegt. Infolgedessen können einmal gesetzte Stammzellen und später differenzierte Zellen ent-
und temporär vererbte epigenetische Modifikatio- stehen. Dies geht mit dem Verlust der Omnipotenz
nen Veränderungen des Phänotyps verursachen. Ob einher, also der Fähigkeit einer Zelle, einen einmal
ein Gen in einem bestimmten Zelltyp über eine lo- eingeschlagenen Entwicklungspfad zu verlassen.
ckere Chromatinstruktur verfügt und infolgedessen Waddingtons Leistung bestand darin, Modelle zu
aktiviert wird oder nicht, hängt ganz wesentlich von entwickeln, wie durch genetische Informationen
der DNA-Sequenz seiner Regulationselemente ab. Entwicklungsprozesse gesteuert werden können,
Bestimmte Sequenzmotive dienen als Bindestellen die am Ende in der Entstehung einer Vielzahl von
von zelltypspezifischen Transkriptionsfaktoren, die unterschiedlichen Zelltypen münden.
z. B. DNA-Methyltransferasen oder Histon-modifi- Wir wissen heute, dass während der Keimzell-
zierende Enzyme an diese Positionen lenken. Dies und frühen Embryonalentwicklung die Chromatin-
bedeutet, dass genetische Informationen, wie sol- struktur des Erbguts mehrfach umgestaltet wird
che Bindestellen, aber auch die proteincodierenden (Hemberger et al. 2009). Gezielte epigenetische (Re-)
Sequenzen von DNA-Methyltransferasegenen, den Programmierungsprozesse sind essenziell für die
epigenetischen Status ganz wesentlich mitbestim- Entstehung von Stammzellen und für Zelldifferen-
men. zierungen. So werden beispielsweise während der
Epigenetische Modifikationen werden wäh- ersten Zellteilungen nach der Befruchtung große
rend der Replikation kopiert, wobei die Modifikati- Teile der ursprünglichen parentalen epigenetischen
onsmuster der alten Chromatide als Vorbild dienen. Modifikationen entfernt. Dies leitet die Entstehung
Auf diese Weise werden epigenetische Modifikati- pluripotenter Stammzellen ein. Später werden dann
onsmuster bei der Zellteilung auf neu entstehende ab dem Blastocysten-Stadium neue Modifikations-
Zellen übertragen. Einmal festgelegte Chromatin- muster gesetzt, die mit der Bildung differenzierter
strukturen und Genexpressionsmuster werden so Zellen einhergehen. Die epigenetische Fixierung
über lange Zeiträume und viele Generationen er- von Genexpressionsmustern ist wesentlich dafür
halten. Insbesondere aufgrund der Langlebigkeit verantwortlich, dass einmal differenzierte Zellen
epigenetischer Genregulation geht man davon aus, nicht in der Lage sind, auf natürlichem Wege in den
dass durch epigenetische Modifikationen zelltyp- pluripotenten Zustand einer embryonalen Stamm-
spezifische Genexpressionsmuster und damit die zelle zurückzukehren. Die Aufhebung und Revertie-
Identität von Zellen über längere Zeiträume und rung genetisch festgelegter epigenetischer Prozesse
Zellteilungen hinweg festgelegt werden. Einer sind daher im Fokus der aktuellen Stammzellfor-
Vererbung über Generationen hinweg steht ein schung. Jüngste Befunde deuten dabei an, dass,
hohes Maß an metastabiler Variabilität gegen- entgegen ursprünglicher Annahmen, Prinzipien
7
5.7  •  Die Menschheit heute 507

 EXKURS 5.9 (Fortsetzung) 
der Epigenese im Reagenzglas überwunden werden den letzten Jahrzehnten die Lebenserwartung 1
können (Vierbuchen et al. 2010). Dies bedeutet, dass rasant gestiegen. Für die Medizin ist es daher von
nach künstlicher Aktivierung einiger Schlüsselgene großem Interesse zu verstehen, wie sich der Ein- 2
differenzierte somatische Zellen ihre Identität direkt fluss von Umweltbedingungen langfristig auf die
ändern und die Charakteristika eines anderen Zell- Gesundheit von Individuen auswirkt. In diesem
typs annehmen können. Zusammenhang wird zunehmend diskutiert, ob
3
epigenetische Regulationsmechanismen durch
Lernprozesse und Gedächtnis – welche Rolle Umweltfaktoren, wie die Aufnahme von Nahrungs- 4
spielen epigenetische Faktoren im Gehirn? und Botenstoffen, nachhaltig beeinflusst werden
Eine zentrale Frage der Gehirnforschung ist die
molekulare Basis des Langzeitgedächtnisses, d. h.
können.
5
Der Einfluss von Ernährungsfaktoren wurden in
die langfristige Abspeicherung von Informationen
gezielten Fütterungsversuchen bei Mäusen nach-
auf Molekülebene. Die Tatsache, dass epigenetische
gewiesen. In diesem Fall führte die Verabreichung 6
Modifikationen über lange Zeit stabil sind, machen
einer Diät, die reich an Methylgruppen-Donoren
diese zu einem idealen Medium zur Speicherung
solcher Informationen. Ein externer Stimulus könnte
(z. B. Folsäure) war, während der Schwangerschaft 7
zur Veränderung von DNA-Methylierungs­mustern
beispielsweise epigenetische Modifikationen indu-
zieren, die in Neuronen langfristig erhalten bleiben
und später auf der phänotypischen Ebene zu Ver-
änderungen der Fellfarbe der Nachkommen (Wa-
8
und bei Bedarf in Form von Genexpressionsmus-
terland u. Jirtle 2003). In einer groß angelegten
tern bzw. elektrischen Signalen abgerufen werden
niederländischen Studie konnte gezeigt werden, 9
könnten. In der Tat wurde durch Tierversuche mit
dass Personen, die den Hungerwinter 1944/45 in
Ratten oder Mäusen gezeigt, dass bestimmten
Formen von Verhaltensweisen, wie Sozialverhalten
utero erlebt hatten, im fortgeschrittenen Erwachse- 10
nenalter ungewöhnliche DNA-Methylierungsmus-
und Lernprozesse, epigenetische Mechanismen der
ter unter anderem bei einem Wachstumsfaktorgen
Genregulation zu Grunde liegen. Dies äußert sich
aufwiesen (Heijmans et al. 2008). 11
beispielsweise darin, dass eine intensive Brutpflege
Der Einfluss der Umwelt auf epigenetische
im Hippocampus junger Ratten epigenetische Ver-
änderungen an einem Glucocorticoid-Rezeptorgen
Veränderungen ist Gegenstand mehrerer Studien 12
an eineiigen Zwillingen. Hier werden häufig epi-
induziert und daraufhin auch in späteren Lebens-
phasen Stressreaktionen abmildert (Weaver et al.
genetische Diskordanzen beobachtet, die aller-
dings ungerichtet aufzutreten scheinen und sich
13
2004). Die genauen Mechanismen epigenetischer
mit zunehmendem Alter deutlicher ausprägen.
Programme im Zusammenhang mit Lern- und Ge-
Eindrucksvolle Beispiele für spontan auftretende 14
dächtnisbildungsprozessen im menschlichen Ge-
epigenetische Diskordanz sind Zwillingspaare, bei
hirn sind aber bei weitem noch nicht aufgeklärt. Ob
die Entwicklung epigenetischer Prozesse zudem im
denen einer der eineiigen Zwillinge am epigeneti- 15
schen Beckwith-Wiedemann-Syndrom erkrankt ist,
Gehirn im Verlauf der Evolution der menschlichen
der andere, genetisch identische Zwilling hingegen
Spezies eine Rolle gespielt haben ist eine als wahr-
gesund bleibt (Tierling et al. 2011). Im Verlauf der 16
scheinlich erscheinende Möglichkeit, die aber noch
frühen Embryonalentwicklung ist im erkrankten
zu beweisen ist.
Zwilling eine epigenetische Markierung (zufällig) 17
gelöscht worden. Die Folge ist eine epigenetische
Epigenetische Variationen – die Rolle von
Umwelt und Zufall
Fehlregulation von wachstumsregulierenden Ge-
nen. Die betroffenen Neugeborenen sind oft un-
18
Im Gegensatz zu anderen Säugetieren erreicht
der Mensch vergleichsweise spät im Laufe sei- gewöhnlich groß; ein besonders typisches Merkmal
nes Lebens seine Reproduktionsfähigkeit. Au- des Beckwith-Wiedemann-Syndroms ist eine stark 19
ßerdem ist besonders in den Industrieländern in vergrößerte Zunge.
20
7
508 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.9 (Fortsetzung) 

Transgenerationseffekte und die Vererbung die Generation der Enkel beobachtet (Kaati et al.
epigenetischer Modifikationen 2007). Es ist also durchaus denkbar, dass die Ver-
Der Umstand, dass Umwelteinflüsse zwar nicht erbung von Merkmalen an veränderte epigeneti-
zwangsläufig zu genetischen Mutationen führen sche Modifikationen in Zielzellen gekoppelt ist. Der
müssen, sich aber trotzdem durch langfristige epi- molekulare Beweis für definierbare epigenetische
genetische Veränderungen auch nach der Geburt Vererbung steht aber noch aus, und die Mechanis-
bemerkbar machen können, wirft die Frage auf, ob men, wie epigenetische Effekte über Generationen
epigenetische Modifikationen über mehrere Gene- beim Menschen weitergegeben werden, sind Ge-
rationen hinweg vererbbar sind. Prinzipiell haben genstand aktueller Forschung.
epigenetische Modifikationen das Potenzial, die Der Umstand, dass in einigen Spezies (z. B. bei
Mendel’schen Prinzipien der Vererbung zu modu- Pflanzen) eine Vererbung erworbener epigeneti-
lieren: Beruht ein bestimmtes (neu auftretendes) scher Informationen möglich erscheint, rückt die
Merkmal auf epigenetischer Modifikationen, kön- Epigenetik leider oft in die Nähe eines Neo-Lamar-
nen instabile Vererbungsmuster entstehen. Solche ckismus. Beispiele epigenetisch gesteuerter Verer-
Merkmale können über mehrere Generationen hin- bung in Pflanzen sind jedoch auf die menschliche
weg stabil vererbt werden, dann aber plötzlich, oft Vererbung nicht übertragbar. Bei Säugetieren wird
ohne klaren Grund, zum ursprünglichen Merkmal die Vererbung erworbener epigenetischer Modifi-
revertieren. Besonders eindrucksvoll ist dieser Effekt kationen unter anderem durch die strikte Löschung
bei einer Variante des Echten Leinkrauts: Diese Vari- elterlicher epigenetischer Programme während der
ante besitzt im Gegensatz zu den üblichen Formen Keimzell- und Embryonalentwicklung verhindert.
radial-symmetrisch aufgebaute Blüten. Sporadisch Eine gerichtete Vererbung „erworbener“ Eigen-
werden aber auch Pflanzen mit bilateral-symmet- schaften ist daher weitestgehend auszuschließen,
rischen Blüten beobachtet. Diese spontane Rück- auch wenn zufällige Fehler durchaus vorstellbar
kehr zur Blütenform des Wildtyps beruht auf einer sind. Konzeptionell fehlt im Fall epigenetischer Ver-
Veränderung im Methylierungsmuster eines Gens, erbung eine Zweckgebundenheit, die für den La-
das die Blütensymmetrie steuert (Cubas et al. 1999). marckismus jedoch ein wesentliches Merkmal
Die radial-symmetrische Form des Leinkrauts wurde darstellt. Umweltinduzierte, vererbbare Verände-
bereits von Linné beschrieben. Seine Schwierigkei- rungen müssen zudem in den Keimzellen auftre-
ten bei der systematischen Einordnung dieser Form ten.
veranlassten ihn, die phänotypische Konstanz von Im Gegensatz zur intensiven Betrachtung von
Arten in Frage zu stellen. möglichen Zusammenhängen zwischen Epigenetik
Beim Menschen gibt es bislang keinen eindeu- und Lamarckismus, wird der Integration der Epige-
tigen Fall einer induzierten, gerichtet auftretenden netik in eine darwinistisch geprägte Evolutionsthe-
epigenetischen Vererbung bis in die nächste Gene- orie bisher wenig Beachtung geschenkt. In Hinblick
ration. Eine Schwierigkeit für den Nachweis ist u. a. auf evolutionäre Prozesse sind Veränderungen epi-
die Gewinnung der richtigen Zelltypen für gezielte genetischer Steuermechanismen aber möglicher-
Analysen, da epigenetische Veränderungen an den weise wichtige Faktoren, die zusätzlich zu geneti-
Zelltyp gebunden sind. Die relevanten Zellen sind schen Mutationen weitere phänotypische
aber oft nicht isolierbar oder in ausreichenden Variationen und größere Anpassungsmöglichkeiten
Mengen zu gewinnen. Zudem bedeutet die lange innerhalb einer Population erzeugen und damit zur
Generationszeit in Menschen, dass das Sammeln Entwicklung von Spezies beitragen. Auf molekula-
solcher Proben erschwert wird. Phänotypisch ori- rer Ebene könnten von einem Gen also nicht nur
entierte Studien deuten allerdings in die Richtung genetische Allele, sondern auch epigenetische Al-
solcher möglicher Phänomene. So wird ein Ein- lele existieren. Solche Variationen könnten beson-
fluss der Ernährungssituation in Kindheit und Ju- ders im Fall von veränderten Umweltbedingungen
gend auf Body-Mass-Index und Sterblichkeit bis in interessant werden: Ein genetisches Allel, das ur-
7
5.7  •  Die Menschheit heute 509

 EXKURS 5.9 (Fortsetzung) 
sprünglich mit einer hohen Fitness verbunden war, Populationsebene zwar eine Vielzahl von epige- 1
könnte sich unter wechselnden Umweltbedingun- netischen Unterschieden festgestellt wurde, diese
gen eher negativ auswirken. Existiert nun eine epi- aber meistens an genetische Unterschiede gekop- 2
genetische Variante des betroffenen Allels, die nicht pelt sind (Fraser et al. 2012). Wahrscheinlicher er-
mit einer verringerten Fitness des Organismus ver- scheint daher die Möglichkeit, dass epigenetische
bunden ist, könnte dies zum Erhalt des Allels in der Allele nicht direkt vererbt werden, sondern dass
3
Population beitragen. epigenetische Mechanismen zur angepassten Ex-
In diesem Zusammenhang ist es interessant, pressionskontrolle genetisch bedingter Merkmale 4
dass in den ersten epigenetischen Studien auf in Spezies beitragen.
5
Trotz ihrer außerordentlich großen Vielfalt Heute ist der Lebensraum der Pygmäen stark
lassen sich die heutigen Menschen grob folgenden eingeschränkt, es gibt nur noch ca. 200.000 von 6
großen Gruppen (Ethnien, Rassen, Populationen) ihnen. Sie leben heute meist im Austausch mit
zuordnen (Diamond 1998): den Schwarzafrikanern Schwarzafrikanern am Rande der verbleibenden 7
(Negriden), den Pygmäen Zentralafrikas, den Khoi- Waldregionen Zentralafrikas oder als Arbeiter für
san = Khoi und Sanoi Süd- und Südwestafrikas, den schwarzafrikanische Bauern, deren jeweilige Spra-
Kaukasiern (Europiden, „Weißen“), den Ost- und che sie auch übernommen haben. 8
Südostasiaten (Mongoliden) und den australischen Die Khoisan umfassen zwei verwandte Gruppen,
Ureinwohnern (Australoiden). Innerhalb dieser gro- die San (!Kung, Buschmänner) und die Khoi (Hotten- 9
ßen Gruppen lässt sich eine Vielzahl weiterer Unter- totten). Sie besiedelten ursprünglich weite Bereiche
gruppen unterscheiden, und zwischen allen Gruppen Süd- und Ostafrikas und sind heute auf relativ un-
und Untergruppen gibt es Übergänge. Die Analyse fruchtbare Regionen in Namibia, der Kalahari und
10
der mitochondrialen DNA von Vertretern aller mo- angrenzender Gebiete beschränkt. Die San sind klein
dernen Menschengruppen lässt vermuten, dass es und leben z. T. immer noch als Jäger und Sammler, die 11
insgesamt gut 30 größere Einheiten gibt, die z. T. größeren Khoi halten große Rinderherden. Die Khoi
Klans genannt werden (. Abb. 5.35, . Abb. 5.36). haben sich zu erheblichem Anteil mit Schwarzafrika- 12
Die Schwarzafrikaner sind heute die dominante nern vermischt. Kennzeichnend für die Khoisan sind
Bevölkerungsgruppe Afrikas südlich der Sahara. neben anatomischen Merkmalen (leicht gelbliche
Ihre genetische Vielfalt ist besonders groß und Haut, sehr dichtes Kraushaar, bei Frauen Einlagerung 13
genetische Unterschiede zwischen den einzelnen erheblicher Mengen von Fettgewebe im Gesäß [Ste-
Gruppen sind meist größer als die von den Gruppen atopygie]) vor allem die ganz spezielle Sprache mit 14
auf anderen Kontinenten. Die Grenze, die heute die Klicklauten anstelle von Konsonanten. Einige Ban-
Sahara bildet, war vor 6000–11.000 Jahren noch eine tustämme haben während ihres Vormarsches nach
Steppenregion mit Seen und viel Wild. Die Grenze Südafrika Klicklaute in ihre Sprache aufgenommen,
15
zu Nordafrika war also viel weniger scharf als heute z. B. die Xhosa in Südafrika. Die San besitzen eine
und wahrscheinlich kam es in dieser Region zu einzigartige Kenntnis von Arzneipflanzen und nut- 16
intensivem kulturellen und auch genetischen Aus- zen wohl mehr solche Pflanzen als andere Menschen.
tausch mit Menschen in Vorderasien. Im Bereich Die Europiden (= Kaukasier) besiedelten ur- 17
der Sahara entstanden vermutlich schon vor gut sprünglich Europa, den vorderen und mittleren Os-
7000  Jahren Kulturen mit Haustierhaltung. Hier ten (bis hin nach Zentralasien), den indischen Sub-
wurden wahrscheinlich auch die ersten Nutzpflan- kontinent, Nordafrika und das Horn von Afrika. Seit 18
zen (Sorghum, Perlenhirse) angebaut. In Äthiopien der Kolonialzeit haben sie sich auf der ganzen Erde
entstanden Teff (eine Getreideart) und Kaffee. verbreitet, insbesondere in N- und S-Amerika und 19
Die vielen verschiedenen Sprachen in Schwarz- in Australien. Ihnen gehören hell- bis dunkelhäutige
afrika spiegeln auch genetische Unterschiede ihrer Menschen an. Ihre Körperbehaarung ist relativ stark
Sprecher wider. entwickelt, die Kopfhaare sind meist lang und leicht
20
510 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.35  Verwandtschaftsbeziehungen der modernen Menschheit auf der Basis von mtDNA-Vergleichen. Sehr deutlich
wird die Zweiteilung der Menschheit in die Ethnien südlich der Sahara (Subsahara-Afrika) und alle anderen Ethnien

gewellt. Die Gesichtszüge, z. B. mit schmaler, großer ihm besonders typisch für die Menschen vor, die die
Nase, relativ schmalen Lippen und typisch geformten weiter oben genannten Regionen bewohnen. Der
Augen, sind ebenfalls kennzeichnend. Im Vergleich Begriff Kaukasier ist heute in N-Amerika gängig,
zu Menschen anderer Regionen auf der Erde sind insbesondere auch in der Medizin.
unter den Europiden rhesus-negative Genotypen re- Die Menschen Ost- und Südostasiens (die Mon-
lativ häufig. Die heutigen Menschen Europas gehen goliden) sind u. a. durch typische Gesichtszüge (z. B.
zufolge genetischer Untersuchungen wahrschein- epikantische Augenfalte, relativ flache Nase und
lich überwiegend auf die paläolithischen Jäger und weitgehend fehlende Überaugenwülste), spärliche
Sammler der letzten Eiszeit zurück und lassen sich in Körper(und bei Männern Bart)-behaarung, dicke,
sieben große Gruppen gliedern (Sykes 2001). glatte Haare und überwiegend geringe Körpergröße
Der Begriff „Kaukasier“ geht auf Johann Fried- gekennzeichnet. Manche der anatomischen Merk-
rich Blumenbach zurück, der die Menschheit 1795 male sind in Nordchina, der Mandschurei und der
in fünf Varietäten, die kaukasische, mongolische, Mongolei stärker ausgeprägt als in Südchina und
äthiopische, amerikanische und malaiische Vari- Südostasien, wo die Hautfarbe meist auch einen
etät einteilte. Die Menschen des Kaukasus kamen Braunton annimmt. Diesen Unterschieden zwi-
5.7  •  Die Menschheit heute 511

1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
.. Abb. 5.36  Verwandtschaftsbeziehungen verschiedener Ethnien und Nationalitäten (900 Individuen) aus 51 Populationen
auf der Basis der Auswertung von insgesamt 650.000 SNPs 11
schen den Menschen a) aus dem Norden Chinas, nesier besiedelten vor 1500 Jahren von Indonesien 12
der Mandschurei, der Mongolei, Koreas und b) den aus als erste Madagaskar, was ebenso wie die Be-
Menschen Südchinas und Südostasiens entsprechen siedlung des pazifischen Raumes eine seemännische
auch genetische Unterschiede. Vom nördlichen Ost- Meisterleistung war, wobei die Austronesier bis 30 m 13
asien ist auch die Besiedelung der Neuen Welt über lange katamaran- sowie wohl auch große kanuähn-
die Beringstraße ausgegangen. liche Schiffe benutzten. Vielleicht haben sie sogar 14
Eine Gruppe, die nicht selten zu den Mongoli- Südamerika erreicht. Diesen Menschen kommen ca.
den gezählt wird, sind die Austronesier, die wohl 1200 Sprachen zu, die in einer großen Sprachfamilie
vor ca. 6000 Jahren von südchinesischen Küstenre- zusammengefasst werden.
15
gionen aus zunächst Taiwan, dann die Philippinen Die Analyse der madagassischen Sprache zeigt
und Indonesien, die Nordküste Neuguineas und die die meisten Übereinstimmungen mit der einer Be- 16
Salomonen besiedelten. Vom Bismarck-Archipel aus völkerungsgruppe im südlichen Borneo. Auch hin-
erfolgte dann in einem zweiten großen Schritt die sichtlich anatomischer und molekulargenetischer 17
„Eroberung“ weiterer Inseln und Inselgruppen im Merkmale bestehen bei der madagassischen Urbe-
Pazifik bis hin nach Neuseeland, zu den Fiji-Inseln völkerung die meisten Übereinstimmungen mit den
und Samoa. In einem letzten Schritt wurden dann Austronesiern. Seit einigen Hundert Jahren ist auf 18
Hawaii (vor 1500 Jahren), die Pitcairn-Inseln, die Madagaskar ein starker schwarzafrikanischer Ein-
Marquesas und schließlich vor ca. 1100 Jahren die fluss erkennbar. 19
Osterinsel erreicht. Die Menschen hielten während Das Schicksal der Menschen auf der Osterinsel
dieser enormen Expansion an einer speziellen Form ist möglicherweise eine Metapher für die Zukunft
der Keramik fest, der Lapita-Keramik. Die Austro- der Menschheit (Diamond 1999): Zunächst eine
20
512 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

aufblühende Kultur mit rascher Bevölkerungsver- tralopithecinen einfache Werkzeuge aus Knochen,
mehrung auf eine Zahl von vermutlich ca. 30.000 Holz und unbearbeitetem sowie vielleicht grob be-
Menschen. Unbedachter Raubbau an den natürli- arbeitetem Stein (z. B. Australopithecus garhi) be-
chen Ressourcen – z. B. völliges Abholzen des Wal- nutzt haben, ohne dass hierfür eindeutige Beweise
des, langsame Zerstörung aller Seevogelkolonien vorliegen. Nach gesichertem derzeitigen Kennt-
und Auslaugen des Bodens sowie Festhalten an nisstand haben aber erst Angehörige der Gattung
Ressourcen-verbrauchenden, kulturellen Tätigkei- Homo Steinwerkzeuge nicht nur genutzt sondern
ten, vor allem dem Errichten großer Steinplastiken auch hergestellt und in unterschiedlicher Weise
– führten aber ab einem bestimmten Zeitpunkt zu bearbeitet. Natürlich spielten auch andere Materi-
fast schlagartigem Erlöschen der Kultur. Das zeigen alien wie Holz und Knochen eine wichtige Rolle.
z. B. die unfertigen, eigentümlichen großen Steinfi- Erst vor ca. 9000 Jahren begann die Nutzung von
guren (z. T. über 20 m hoch). Die Arbeit an ihnen Metall. Zuerst wurde Kupfer verarbeitet, und vor
wurde vermutlich z. T. jäh abgebrochen. Nach „Ent- 6000 Jahren kam die Nutzung von Gold, Bronze,
deckung“ der Osterinsel Ostern 1722 durch hollän- Eisen u. a. hinzu. Die zunehmende Vervollkomm-
dische Seeleute kamen verheerende Windpocken- nung der Steinwerkzeuge war Anlass, verschiedene
seuchen dazu, ebenso wie Deportationen in die Stufen der Steinwerkzeugkultur (Steinzeiten) zu
Sklaverei nach Peru. Vermutlich spielte auch pro- unterscheiden.
teinarme, einseitig stärkereiche Ernährung, die zu Die Entwicklung der Werkzeugkultur und der
massiver Karies führte, eine Rolle beim Untergang. Zivilisation des Menschen lässt sich grob folgender-

-
Die australischen Ureinwohner wurden schon maßen gliedern:
kurz im Abschn. 5.6.4 dargestellt. Ihre ganz eigene Paläolithikum (umfasst den bei weitem längs-
Kultur ist eng mit dem Klima Australiens korreliert, ten Zeitraum und wird in mehrere Perioden

--
einen guten Einblick liefert B. Chatwins „Traum- unterteilt),
pfade“. Mesolithikum,
Neolithikum.

5.8 Die Entwicklung der Die Menschen der Steinzeit waren Jäger und Samm-
Werkzeugkultur und der ler und begannen im Mesolithikum – mit dem Be-
Zivilisation des Menschen ginn der Warmzeit – sesshaft zu werden.

Im folgenden Abschnitt wird ein Überblick über die


Werkzeugkulturen von H. sapiens gegeben. Über 5.8.1 Paläolithikum
weite Zeiträume liegen nur Funde von Steinwerk-
zeugen vor (Steinzeiten). Erst ab dem Neolithikum Das Paläolithikum (Altsteinzeit) beginnt mit dem
wurde die Herstellung und Bearbeitung von Me- Oldowan (s. Abschn. 5.6.4, . Abb. 5.37a). Dieser
tall (Kupfer, Bronze, Eisen, auch Gold und Silber) Kulturstufe werden die ältesten bekannten Stein-
entdeckt. Die Entwicklung der Kulturen und der werkzeuge zugerechnet, die vor ca. 2,4 Mio. Jahren
dazugehörigen Technik erfolgte dann mit immer auftauchen und vor ca. 1,5 Mio. Jahren verschwin-
zunehmender Geschwindigkeit und war von stän- den (s. Abschn. 5.6.4). Der Name wurde nach einer
digen sozialen Umwälzungen und Neuorientierun- bekannten Fundstelle, der Olduvai-Schlucht in Tan-
gen begleitet. sania, geprägt. Die ältesten Fundstellen liegen in
Unter Primaten benutzen nur Schimpansen Äthiopien. Werkzeuge der Oldowan-Stufe wurden
und der Mensch regelmäßig Werkzeuge. Dieser seither in der gesamten Alten Welt gefunden.
Werkzeuggebrauch ist erlernt, im Gegensatz zum Das typische Werkzeug des Acheuléen, das ei-
angeborenen Werkzeuggebrauch, wie er sich rela- ner etwas höheren Kulturstufe des Alt-Paläolithi-
tiv selten bei Tieren findet (Vögel, Ameisenlöwe, kums angehört, sind beidseitig sorgfältig bearbeitete
Schützenfisch u. a.). Hinsichtlich des Menschen große, spitze Faustkeile (. Abb. 5.37a), die mit der
wird jetzt vielfach vermutet, dass bereits die Aus- Hand gehalten wurden. Daneben existierten eher
5.8  •  Die Entwicklung der Werkzeugkultur und der Zivilisation des Menschen 513

beilförmige Werkzeuge mit gerader Schneide (clea-


ver). Es ist eine Tendenz zur Standardisierung die- 1
ser Werkzeuge erkennbar (Henke u. Rothe 1998).
Der Name Acheuléen geht auf die Fundstelle Saint- 2
Acheul in Frankreich zurück. Werkzeuge dieses
Typs tauchen vor ca. 1,4 Mio. Jahren in Äthiopien
und Tansania (Olduvai) auf und stehen hier zu die- 3
ser Zeit möglicherweise in Zusammenhang mit H.
ergaster, in Europa mit H. antecessor. Die Frühphase 4
dieser Kulturstufe wird als Prä-Acheuléen bezeich-
net. In Europa fanden sich typische Acheuléen-
Funde, die mindestens 500.000 Jahre alt sind. Das
5
Acheuléen bleibt in Europa bis zu einem Zeitpunkt
von vor 200.000 Jahren nachweisbar und wurde hier 6
nach aller Wahrscheinlichkeit von H. heidelbergen-
sis geschaffen. Lokal kommen einzelne Sonderent- 7
wicklungen vor. Typisches Acheuléen-Werkzeug
wurde offenbar in NO-Indien, Ost- und Südost-
asien bisher relativ selten gefunden, u. U. wurde hier 8
Holz(Bambus)-Werkzeug bevorzugt.
Das Moustérien gehört als Breitklingenkul- 9
tur dem mittleren Paläolithikum an, begann vor
ca. 200.000 Jahren und endete vor ca. 40.000 Jah-
ren. Es wurde nach der Fundstelle Le Moustier in
10
Frankreich benannt und ist die Kultur der Nean-
dertaler. Die Werkzeuge sind kleiner als die des .. Abb. 5.37 a–e.  Steinwerkzeuge aus verschiedenen 11
Acheuléen, die Formen sind recht verschiedenartig Epochen. a Primitive Steinwerkzeuge (Oldowan) aus der
(. Abb. 5.37d), es finden sich Schaber, breite Klin- Olduvai-Schlucht Ostafrikas. b Handäxte aus dem Unteren
Paläolithikum (Acheuléen). c Schaber aus dem Jung-Paläoli- 12
gen, Speerspitzen und Pfeilspitzen. Besonders cha- thikum (Magdalnien). d Steinwerkzeuge von Neandertalern
rakteristisch für die Neandertaler und das mittlere
Paläolithikum ist die Levallois-Schlagtechnik, die
(Moustérien). e „Blattspitze“ aus dem Jung-Paläolithikum. Nach
verschiedenen Autoren aus Romer (1962) und Oakley (1968)
13
durch eine besondere Herstellung und Bearbeitung
von grob vorbehauenen Steinkernen oder insbeson- und sind hier über den Zeitraum von vor 40.000 14
dere Zielabschlägen gekennzeichnet ist. Die Stein- bis vor 10.000 Jahren nachweisbar. Es ist ein deut-
kerne wurden wohl oft verworfen. Mit der Levallois- licher Fortschritt hinsichtlich verfeinerter Technik
Technik gefertigte Steinwerkzeuge wurden auch bei und Vielgestaltigkeit der Werkzeuge zu erkennen.
15
den frühen H. sapiens zugeschriebenen Skeletten Typisch sind lange Klingen aus Feuerstein oder
von es Skhul und Jebel Quafah gefunden. Sonder- „Stichel“, feine, flache, meißelartige Spitzen, die 16
formen des Moustérien können abgegrenzt werden teilweise mit einem Holz- oder Knochengriff verse-
und erhielten besondere Namen, z. B. das Atérien hen wurden. Typisch für diese Zeit sind auch vielge- 17
in Nordafrika, das 75.000–100.000 Jahre alt ist und staltige Werkzeuge aus Knochen und Geweih sowie
wahrscheinlich auf H. sapiens zurückgeht. Die späte Ketten aus Tierzähnen, Perlen und kleinen Figuren.
Kultur der Neandertaler, das Châtelperronien mit Vergleichbare Knochenwerkzeuge (Pfeilspitzen, 18
seinen schmalen Klingen, ähnelt schon dem Auri- Harpunen) wurden aber auch in Afrika gefunden,
gnacien (s. unten) und wurde vielleicht von diesem wo sie z. T. jedoch deutlich älter als in Europa sind. 19
beeinflusst. In das Jung-Paläolithikum fällt auch die Erfindung
Die Kulturen, die in Europa dem Moustérien von Musikinstrumenten: Flöte, mit einer Saite be-
folgen, werden dem Jung-Paläolithikum zugezählt spannter Bogen und vielleicht auch die Trommel. In
20
514 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.38 a–d.  Künstlerisch gestaltete Gegenstände und Harpunenspitzen aus dem Jung-Paläolithikum. a Wildpferdfigur
aus der Vogelherdhöhle im Lohnetal (ca. 30.000 Jahre alt). b Schneehuhnzeichnung aus Gönnersdorf bei Neuwied (Rhein),
ca. 12.000 Jahre alt. c Mensch-Tier-Wesen mit Löwenkopf (Höhle Hohlenstein-Stadel bei Asselfingen, Alb-Donau-Kreis), ca.
30.000 Jahre alt. d Harpunenspitzen (Le Morin, Frankreich), ca. 17.000 Jahre alt. e Flöte aus dem Flügelknochen eines Schwans
(12,6 cm lang, Geißenklösterle bei Blaubeuren, Schwäbische Alb), ca. 32.000 Jahre alt. f Flöte aus Mammutelfenbein (18,7 cm
lang, Geißenklösterle bei Blaubeuren), ca. 32.000 Jahre alt

Europa entstanden rasch regionale Unterschiede der Eine weitere Phase des Jung-Paläolithikums in
Kultur des oberen Paläolithikums, z. B. die „Blatt- Europa war das Gravettien (von vor 28.000 bis vor
spitzen-Gruppe“ in Süddeutschland, Tschechien, 22.000 Jahren) mit speziellen Klingen und besonde-
der Slowakei und Ungarn (. Abb. 5.37e). Am An- ren knöchernen Speerspitzen. Elfenbeinperlen wa-
fang des Jungpaläolithikums steht das Aurignacien, ren typische Schmuckstücke. Erste so genannte Ve-
benannt nach einer Fundstelle (Aurignac) am Fuße nusfiguren tauchten verbreitet auf.
der nördlichen Pyrenäen, die mit Jungpaläolithi- Es folgt das Solutréen (von vor 21.000 bis vor
kern (Cro-Magnon-Menschen) assoziiert ist. Die 19.000 Jahren), eine recht kurze kulturelle Phase mit
Periode dauerte von vor 40.000 bis vor 28.000 Jah- sehr hoch entwickelten Bearbeitungstechniken der
ren und ist an vielen Stellen in Europa nachweisbar. Steine. Typische sind flächig retuschierte Lanzen-
Aurignacien-Funde wurden auch im Nahen Osten spitzen („Blattspitzen“, . Abb. 5.37e).
gemacht. Zum Aurignacien gehören auch künstle- Der Höhepunkt des Jungpaläolithikums war das
risch bedeutsame Kultgegenstände (. Abb. 5.38) Magdalénien (von vor 18.000 bis vor 12.000 Jah-
und die ersten Höhlenmalereien. Besonders be- ren) mit außerordentlichen Kunstwerken, z. B. den
kannt geworden ist die Chauvet-Höhle, die in der Höhlenmalereien von Lascaux und Altamira, sowie
Ardéche liegt und deren Bilder ca. 32.000  Jahre einer erheblich verfeinerten Werkzeugtechnik unter
alt sind. Die abgebildeten Tiere (. Abb. 5.39) sind zunehmender Verwendung von Knochen, Gewei-
überwiegend gefährliche Raubtiere: Löwen, Leopar- hen und Elfenbein. Ein berühmter, gut erhaltener
den, Hyänen und Bären. Skelettfund aus dem Magdalénien stammt aus
5.8  •  Die Entwicklung der Werkzeugkultur und der Zivilisation des Menschen 515

Chancelade, das im bedeutenden prähistorischen


Museum von Perigeux mit seiner Umwelt zu sehen 1
ist.
Mit dem Magdalénien kommt das Paläolithi- 2
kum, die Altsteinzeit, zu ihrem Ende. Die sich im
Holozän anschließenden Phasen der kulturellen
Entwicklung können hier nur kurz dargestellt wer- 3
den.
4
5.8.2 Mesolithikum
5
Das Mesolithikum (mittlere Steinzeit) ist ein ei-
genständiger Kulturhorizont und dauerte in Mit- .. Abb. 5.39  Höhlenmalerei mit Löwen aus der Höhle Chau- 6
teleuropa von vor gut 11.000 bis vor 7600 Jahren vet (Tal der Ardéche, Südfrankreich), Oberes Paläolithikum, ca.
vor heute, in anderen Regionen der Erde (z. B. 32.000 Jahre alt
7
Indochina und Vorderer Orient) begann es früher
und ging früher zu Ende. Es lässt sich in Europa sind bis in unsere Zeit hinein Inuit, Feuerländer,
anhand veränderter Schlagtechniken bei den Stein- australische Ureinwohner, Veddas (Südindien, Sri 8
werkzeugen gut vom Paläolithikum abgrenzen. Der Lanka) und Negritos (Ozeanien, Südostasien). Ver-
Beginn des Mesolithikums ist mit der Erwärmung gleichbar leben auch die Pygmäen (Zentralafrika) 9
des Klimas am Ende der letzten Eiszeit korreliert. und Buschmänner (westliches Südafrika). Erst in
Kennzeichnend sind die weitere Vervollkommnung unserer Zeit gehen diese Lebensformen infolge der
von Werkzeugtechniken, der Bau von Unterkünf- rücksichtslosen Ausbreitung der modernen Zivili-
10
ten u. a. Typisch sind auch kleine Strukturen oder sation zu Grunde.
Baueinheiten (Mikrolithen) in der Form von Drei- 11
ecken, Trapezen, Rechtecken und Halbmonden.
Diese Kleinformen wurden Teil zusammengesetzter 5.8.3 Neolithikum 12
Geräte, z. B. Harpunen oder größeren Messern mit
strukturierter Schneidekante. In mancher Hinsicht Der Übergang vom Mesolithikum zum Neolithi-
ist diese Periode eine Übergangszeit zwischen Alt- kum erfolgte z. T. schon vor 10.000–11.000  Jah- 13
und Jungsteinzeit. Die Menschen waren noch Jäger ren, z. B. in Vietnam und im Vorderen Orient, in
und Sammler. Relativ häufig gingen sie regelmä- Mitteleuropa erst vor ca. 7600  Jahren. Mit dem 14
ßig dem Fischfang und dem Sammeln aquatischer Übergang zum Neolithikum (Jungsteinzeit) er-
Wirbellosen (Muscheln, Schnecken) nach, was an folgte eine wichtige Veränderung, der Mensch gab
manchen Orten den Beginn der Sesshaftigkeit be- vielfach sein Nomadendasein auf, wurde sesshaft
15
günstigte. und betrieb Ackerbau und Viehhaltung. Dieser
Ein Beispiel bietet die Ertebölle-Kultur, die noch Übergang erfolgte wohl unabhängig an verschiede- 16
zwischen 5100 und 4100 in Dänemark und in meist nen Stellen auf der Erde; zuerst wahrscheinlich in
küstennahen Regionen Norddeutschlands verbrei- großen Flussebenen, z. B. an Euphrat und Tigris in 17
tet vorkam. Ein Schwerpunkt lag am Limfjord, wo Mesopotamien, am Unterlauf des Nils (Ägypten),
man sehr große Abfallhaufen, die zu großem Anteil am Indus (Indien, Pakistan) und am Hwangho
aus Muschelschalen bestehen, fand. Grabungen för- und Jangtsekiang (China). Die kulturelle Wende 18
derten vielgestaltiges Gerät zum Fischfang (Reusen, des Neolithikums brachte viele neue soziale Struk-
Fischzäune, Angelhaken, Boote u. a.) und auch Pfeil turen mit sich. 19
und Bogen zu Tage.
Nahrungssammler und Jäger wie die Menschen
im oberen Paläolithikum und im Mesolithikum
20
516 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Abb. 5.40  Altägyptische Hunderassen. Nach Senglaub (1976)

Haustiere und Nutzpflanzen ist es im Laufe der Domestikation bisher kaum zu


Die Überführung von Tieren in den Hausstand (Do- Reduktionen gekommen. Interessant ist, dass die
mestikation) war ein wichtiger Schritt in der Ge- Verhaltensforschung gerade beim Hausschwein
schichte des Menschen und gehört, eng verbunden ungewöhnliche Intelligenzleistungen nachgewiesen
mit Ackerbau und Sesshaftwerden, zu den wesent- hat, was bei einer Reduktion des Hirngewichts von
lichen Merkmalen des Neolithikums. Der Mensch bis zu 30 % erstaunlich ist.
schafft sich die Grundlagen seiner Ernährung selbst Schwerpunkte der Haustierwerdung sind das
und wird unabhängig vom Angebot der Natur. östliche Mittelmeergebiet, Mesopotamien, Europa,
Nicht alle Tiere lassen sich gleich gut domes- Südrussland, Pakistan, Indien, Ost- und Südostasien
tizieren, Hund (. Abb. 5.40), Schaf, Rind, Pferd, sowie Mittel- und Südamerika.
Schwein, Kamel, Lama u. a. gehören zu den wenigen Bei der Mehrzahl der Haustiere besteht über
geeigneten Arten (. Abb. 5.41). Das Vorkommen die Wildart weitgehende Einigkeit. Bei manchen
der Wildformen dieser Haustiere vorwiegend in den ist aber die Wildart umstritten, z. B. bei Lama und
eher gemäßigten Zonen der Alten Welt, z. B. in der Alpaka, und z. T. ist auch umstritten, wo die Domes-
Türkei, in Europa, im Irak, in Indien und auch in tikation erfolgte. Beim Hund ist nicht auszuschlie-
Ost- und Südostasien verlieh der dortigen Bevölke- ßen, dass er an verschiedenen Stellen unabhängig
rung einen großen Vorteil gegenüber den Bewoh- domestiziert wurde. Die vergleichende Analyse der
nern Amerikas (Diamond 1997). Im Vergleich mit DNA des Y-Chromosoms von 151 verschiedenen
den wilden Stammformen kam es bei den meisten Hunden aus aller Welt legt nahe, dass der Haushund
Haustieren zu einem Rückgang des Gehirngewichts in Südostasien entstand.
(beim Schwein bis zu 30 %), was mit Verhaltensän- In Südamerika entstanden nur wenige Haus-
derungen, wie z. B. geringerer Aggressivität und tiere: Meerschweinchen (2000 v. Chr., Peru), Lama
geringerer motorischer Aktivität, in Verbindung und Alpaka (Wildform Guanako, 5000 v. Chr., An-
gebracht wird. Beim Hauspferd fand man im Ver- den), Moschusente, Truthuhn (300 v. Chr., Mexiko).
gleich mit 15.000–47.000 Jahre alten Wildpferden Alle anderen Haustiere entstanden in der Alten
eine genetische Verarmung auf dem Y-Chromosom. Welt (. Tab. 5.2).
Diese genetische Einengung scheint eine Folge der Wichtig sind auch Honigbiene (Apis mellifera)
Domestikation zu sein. Das Przewalski-Pferd ist und Seidenspinner (Bombyx mori). Neuere Haus-
molekulargenetischen Befunden zufolge nicht der tiere sind Laborratte, Labormaus, Goldhamster,
direkte Vorfahre unserer Hauspferde, sondern re- Nutria, Chinchilla, Nerz, Frettchen, Silber- und
präsentiert eine Schwestergruppe, die dem gemein- Blaufuchs. Da im archäologischen Fundgut ein
samen Vorfahren aber ähnlich sieht. Die Hirnre- Haustier erst dann erkannt wird, wenn seine Merk-
duktion ist bei manchen Haustieren, v. a. bei Vögeln, male erkennbar ausgeprägt sind, besteht die Wahr-
umstritten, und es liegen Befunde vor, dass sich ein- scheinlichkeit, dass zumindest manche Haustiere
zelne Hirnregionen bei der bisher kurzen Domes- älter sind als die angegebenen Zahlen.
tikationsgeschichte unterschiedlich verhalten kön- Morphologische und physiologische Verände-
nen; bei Brieftauben sind die Anteile des Riechhirns rungen können bei den Haustieren in sehr kurzer
wahrscheinlich sogar größer als bei der Wildform Zeit erfolgen (s. Abschn. 3.4.1). Zuchtziele ver-
(Felsentaube). Bei Ratten, deren Gehirn morpholo- ändern sich und folgen z. T. Modeerscheinungen
gisch eine allgemein geringe Evolutionshöhe zeigt, (. Abb. 5.40). Beeindruckend sind Leistungsstei-
5.8  •  Die Entwicklung der Werkzeugkultur und der Zivilisation des Menschen 517

1
2
3
4
5
.. Abb. 5.41 a, b.  Circa 2500 Jahre alte Darstellung von Haustieren aus der Achämenidenresidenz Persepolis, Reliefs mit den
Delegationen der Völkerschaften an der östlichen Apadana-Treppe. a Parther mit zweihöckerigem Kamel, b Assyrer mit Widdern 6
gerungen. Während z. B. ein Wildrind ca. 600 l von 1,8 kg auf 4 kg erhöht werden. Einzelne Schafe 7
Milch pro Saugzeit bildet, produzieren heute leis- haben 19 kg Wolle geliefert, genug für 13 Herren-
tungsstarke Kühe ca. 8000 l pro Jahr. Zum Teil ist jacken.
dokumentiert, dass in bestimmten Kuh-Beständen Bei den Haustieren sind keine neuen Tierarten 8
die Milchleistung von 1905 bis 1960 um 1000 l entstanden. Sie zeigen aber, welche Leistungssteige-
gesteigert werden konnte (von ca. 3550 l auf ca. rungen und Abwandlungen durch Veränderung von 9
4550 l). In Australien konnte das Schurgewicht Genotyp und Umwelt (Haltung, Fütterung) mittels
von Schafwolle in ca. 60 Jahren durchschnittlich Selektion möglich sind.
10
  EXKURS 5.10  
11
Tierzucht: heute und morgen
Heiner Niemann (Mariensee, Neustadt am Rübenberge) 12
Der Mensch ist seit seinen frühesten Anfängen mit scheinungsbild) und/oder aufgrund spezieller Eig-
Nutztieren eng verbunden. Die zahlreichen Formen nungen.
13
und Ausprägungen der heutigen landwirtschaftli- Eine ausreichende genetische Vielfalt stellt die
chen Nutztiere sind ein Produkt der Jahrhunderte Grundlage aller züchterischen Anpassungen von 14
langen züchterischen Bearbeitung. Auf diese Weise Populationen an neue Ziele und Bedingungen dar.
sind viele phänotypisch unterschiedliche Rinder-
(>3000) und Schweinerassen (>1300) entstanden.
Eine wissenschaftlich begründete Tierzucht existiert
erst seit etwas mehr als 50 Jahren, im Wesentlichen
15
Die Züchtung von Nutztieren begann ursprünglich auf der Basis der Populationsgenetik und modernen
mit der Domestikation vor vielen Tausenden von statistischen Verfahren. Dabei spielen biotechno- 16
Jahren. Neuere Befunde auf der britischen Insel logische Verfahren eine herausragende Rolle (Kues
und in Kleinasien haben gezeigt, dass bereits vor et  al. 2008). Das prominenteste Beispiel ist die 17
mehr als 15.000 Jahren der Mensch landwirtschaft- künstliche Besamung (KB), die heute in Ländern
liche Nutztiere hielt und Milch und Milchprodukte mit einer entwickelten Tierzucht bei über 90 % aller
Bestandteil der Nahrung waren (Beja-Pereia et al. geschlechtsreifen weiblichen Rinder, insbesondere
18
2006, Larson et. al 2007). Mit den ihm jeweils zur bei Milchrassen, eingesetzt wird und auch in der
Verfügung stehenden Möglichkeiten wurden Schweinezucht stark im Zunehmen begriffen ist. 19
„nützliche Populationen“ vermehrt; dabei erfolgte Durchschnittlich werden heute weltweit bereits
die Auslese meist nach dem Exterieur (äußeres Er- über 50 % der geschlechtsreifen Sauen über KB be-
20
7
518 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.10 (Fortsetzung) 
fruchtet. Mit der KB kann das genetische Potenzial Fleischmenge definiert, sondern umfasst ein brei-
wertvoller Vatertiere wirksam in einer Population tes Spektrum von Merkmalen, wie Langlebigkeit,
verbreitet werden. In den 80er Jahren des 20. Jahr- Klauengesundheit, Protein- und Fettgehalt der
hunderts wurde der Embryotransfer (ET) in die züch- Milch u. a., die züchterisch bearbeitet werden. Drei
terische Praxis eingeführt; dadurch konnte erstmals wesentliche Nachteile sind jedoch zu berücksich-

-
das genetische Potenzial weiblicher Zuchttiere bes- tigen:
ser ausgenutzt werden. Für züchterische Zwecke Der züchterische Fortschritt im Hinblick auf
wird der ET heute bei den züchterisch besten ca. Leistungsverbesserungen ist mit 1–3 % pro Jahr

-
1 % der weiblichen Tiere eingesetzt. Nach aktuel- relativ langsam.
len Zählungen wurden im Jahre 2010 weltweit rund Es ist nicht möglich, erwünschte Eigenschaften

-
591.000 Rinderembryonen aus In-vivo- und 340.000 von unerwünschten Merkmalen zu trennen.
aus In-vitro-Produktion übertragen (Stroud 2011). Ein gezielter Transfer genetischer Informatio-
Die überwiegende Anzahl der Besamungsbullen nen zwischen verschiedenen Spezies ist nicht
stammt heute bereits aus ET-Programmen, was die möglich.
Bedeutung des ETs für die Verbreitung genetisch
bedingter Eigenschaften der züchterisch besten Die bisherige züchterische Arbeit mit dem Einsatz
Tiere in einer Population unterstreicht. In den letz- von KB und ET oder anderen reproduktionsbio-
ten Jahren sind darüber hinaus weitere biotechno- technologischen Verfahren hat zu den bekannten
logische Verfahren, wie die In-vitro-Produktion von beachtlichen Leistungssteigerungen bei unseren
Embryonen oder die Geschlechtsbestimmung an Nutztieren geführt. So konnten in Deutschland
Embryonen und die Trennung von X- und Y-Chro- beispielsweise die Milchleistung von 850 l/Tier im
mosom tragenden Spermien (Sexing) praxisreif Jahre 1800, über 2500 l/Tier im Jahre 1950 bis auf
geworden oder befinden sich im fortgeschrittenen über 7500 l/Tier im Jahr 2008 gesteigert und damit
Entwicklungsstadium. Das somatische Klonen ist ein wichtiger Beitrag zur Versorgung der Bevölke-
das jüngste biotechnologische Verfahren, das sich rung mit hochwertigem Eiweiß geleistet werden. In
zurzeit noch in der wissenschaftlichen Entwicklung Deutschland stellt die Tierproduktion mit über 60 %
befindet, für das aber zunehmend praktische An- den wirtschaftlich bedeutsamsten Anteil in der land-
wendungsfelder erschlossen werden (Cibelli et al. wirtschaftlichen Wertschöpfung dar. Ebenso wie in
2002, Yang et al 2007). anderen westlichen Ländern steht dabei nicht mehr
Mit der Anwendung moderner Züchtungs- primär die Mengenproduktion, sondern zunehmend
verfahren haben sich die Zuchtpopulationen vor die Bereitstellung eines breiten Angebots qualitativ
allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hochwertiger Produkte im Vordergrund. Eine aktu-
deutlich verändert. Hier ist es zu einer starken Ver- elle Prognose der FAO sagt weltweit bis zum Jahr
breitung von wenigen, besonders leistungsfähigen 2030 ein weiteres Bevölkerungswachstum bis auf ca.
Rassen gekommen, wodurch lokale Rassen häufig 8,3 Mrd. bei wachsendem Wohlstand voraus. Damit
weitgehend verdrängt wurden. Insbesondere die wird auch die Nachfrage nach hochwertigem tieri-
Hochleistungszucht wird eine noch stärkere glo- schen Eiweiß stark steigen. Bis zum Jahre 2020 ist
balisierte Entwicklung erfahren. Ein gutes Beispiel beispielsweise eine Steigerung um 40 % allein für
dafür sind die Holstein-Friesian-Rinder, die heute den ostasiatischen Raum vorhergesagt. Um diese
global zur Milchproduktion eingesetzt werden. Die Steigerung zu bewältigen und gleichzeitig den Aus-
züchterische Bearbeitung drückt sich im Zuchtwert stoß klimaschädlicher Gase zu vermindern, ist eine
aus, den jedes weibliche oder männliche Zuchttier weitere Effizienzsteigerung in der Tierproduktion
erhält. Dabei werden vererbbare Eigenschaften unumgänglich. Neben der Produktion hochwertiger
als Zuchtziele prozentual gewichtet und dann als Nahrungsmittel unter intensiven Produktionsbedin-
Zuchtwert zusammengefasst. Leistung wird schon gungen spielen unter den Konditionen in Europa
seit vielen Jahren nicht mehr nur als Milch- oder Nutztiere zunehmend auch eine wichtige Rolle in
7
5.8  •  Die Entwicklung der Werkzeugkultur und der Zivilisation des Menschen 519

 EXKURS 5.10 (Fortsetzung) 
der Landschaftspflege, für Freizeit (z. B. Sport) und Schutz geistigen Eigentums und technischer Ent- 1
für die Erzeugung von Nischenprodukten. wicklungstätigkeit, meistens durch Patentierung
In den vergangenen 10–15 Jahren haben die erforderlich. Für die Tierzucht ist von vitalem Inter- 2
Fortschritte in der Molekulargenetik, Genomse- esse, dass die züchterische Arbeit nicht durch Pa-
quenzierung und -annotierung, die Geburt des tente eingeschränkt wird und Nachkommen von
Schafes „Dolly“, dem ersten geklonten Säugetier patentgeschützten Zuchttieren durch den Züchter
3
(Wilmut et al. 1997), sowie die Generierung pluripo- oder Halter ohne Patentgebühren vermehrt werden
tenter Stammzellen (Takahashi u. Yamanaka 2006) können. In Deutschland gilt in der Pflanzenzucht 4
die Biologie revolutioniert, was zunehmend auch das Sortenschutzrecht, was die freie Verwendung
die Tierzucht beeinflusst. Inzwischen sind auch die eines bestimmten Saatguts durch den Landwirt er-
5
Sequenzierung und Annotierung der Genome land- möglicht. Ähnliche Regelungen werden auch für die
wirtschaftlicher Nutztiere weit fortgeschritten, so Tierzucht diskutiert. Hier müssen Lösungen durch
dass informative und weitgehend vollständige Gen- Patentgerichte, Politik und Verwaltung gefunden 6
karten für Rind, Pferd, Huhn, Hund und Biene (mit werden, die den Schutz von Neuentwicklungen,
Einschränkungen auch für das Schwein) vorliegen. auch unter dem Gesichtspunkt, dass Tierzucht zu- 7
Zusammen mit den komplett sequenzierten Geno- nehmend globalisiert erfolgt, ermöglichen und da-
men von Mensch, Maus und Ratte erlauben diese
sowohl vergleichende Analysen des Genoms als
bei die praktische Tierzucht nicht behindern.
Im Zusammenhang mit dem immer größer wer-
8
auch die Nutzung für Modifikationen mittels gen- denden Kenntnisstand über das Nutztiergenom bie-
technologischer Verfahren. Das somatische Klonen tet das Klonen unter Verwendung von Stammzellen 9
ist eine neue vielversprechende Biotechnologie, große Chancen für die Entwicklung einer diversifi-
mit der viele Möglichkeiten, die sich aus der Mo- zierten und zielgenauen Tierproduktion. Denkbar ist 10
lekulargenetik und Genomanalyse ergeben, in der die Aufteilung in eine landwirtschaftliche Tierzucht
Tierzucht realisiert werden können und die dadurch mit einer spezifizierten Milchproduktion, entweder
die bereits angewandten Techniken wirkungsvoll in Bezug auf die Menge und/oder für spezifische 11
ergänzen können (Miller 2007). Inhaltsstoffe (Proteine, Milchzucker, Fett, Vitamine),
Die neuen molekulargenetischen Erkenntnisse eine Fleischproduktion mit einer diversifizierten 12
und biotechnologischen Verfahren bedürfen der Produktpalette, Nischenproduktion für spezifische,
Integration in die traditionelle Tierzucht. Deshalb
wird, wie bisher auch, weiterhin die bisherige syste-
diätetisch wertvolle Produkte oder die Produktion
von Tieren für die Landschaftspflege. Daneben wird
13
matische und tief gehende Merkmalsbeschreibung sich eine biomedizinische Tierzucht entwickeln,
notwendig sein. Nur dadurch können die neuen in der Tiere für die Produktion von Arzneimitteln 14
molekulargenetischen Erkenntnisse mit Methoden (pharming) erzeugt und transgene Schweine für die
der klassischen Tierzucht kombiniert werden und Organspende (Xenotransplantation) gezüchtet wer- 15
nachfolgend die Nutztierpopulationen gezielt und den (Kues u. Niemann 2004). Auch die Entwicklung
nachhaltig verbessert werden. Beim Rind geschieht von transgenen Tieren als Krankheitsmodell für den
dies zurzeit durch die Integration der genomischen Menschen bietet vielversprechende Perspektiven, 16
Zuchtwertschätzung in die aktuellen Zuchtpro- wie jüngste Befunde bei transgenen Schweinen zei-
gramme. Durch die neuen genomanalytischen gen. Weitere Diversifizierungen der Tierzucht könn- 17
Kenntnisse können die Sicherheit eines bestimm- ten die ökologische Tierhaltung und die Sport- und
ten Zuchtwertes erheblich erhöht und Kosten und
Zeitaufwand für die Identifizierung eines wertvollen
Liebhaberzucht betreffen.
Die Erkenntnisfortschritte im genomischen Be-
18
Zuchttieres deutlich reduziert werden. reich, sowohl was die Aufklärung der Genome der
Die Entwicklung von molekulargenetischen landwirtschaftlichen Nutztiere als auch die mole- 19
und biotechnologischen Methoden ist häufig sehr kulargenetischen Techniken angeht, sind im We-
zeit- und kostenaufwendig und macht deshalb den sentlichen der Entwicklung im Human- und Maus- 20
7
520 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.10 (Fortsetzung) 
genom gefolgt. Die Möglichkeiten zur genomischer Daten wird neue molekulare Zucht-
Erkenntnis- und Produktionserweiterung durch programme (Kues et  al. 2008) ermöglichen, die
gezielte Veränderungen im Genom von Nutztieren deutlich schneller und effektiver sind als alle aktu-
sind besonders bedeutsam; sie werden durch die ellen Zuchtprogramme. Genetisch veränderte
Entwicklung neuer molekularer Hilfsmittel und Nutztiere werden zunächst eine wachsende Rolle
Züchtungstechnologien vorangetrieben. Eine be- im biomedizinischen Bereich spielen. Die Realisie-
sonders wichtige Rolle in diesem Zusammenhang rung landwirtschaftlicher Anwendungspotenziale
wird die Entwicklung pluripotenter Stammzellen wird angesichts der Komplexität vieler der ökono-
spielen (Takahashi u. Yamanaka 2006). Die Verfüg- misch wichtigen Produktionsmerkmale noch län-
barkeit solcher Zellen zusammen mit der Nutzung ger dauern.

Nutzpflanzen. Die . Tab. 5.3 gibt eine Übersicht Ägypten ca. 6000 Jahre alt. Die neuen Wirtschafts-
über Kultur- und Nutzpflanzen mit Ursprungsre- formen führten zum Bau größerer Siedlungen und
gion, in der sie wahrscheinlich seit dem Neolithi- schließlich zu Städten. Diese bestanden zunächst
kum zuerst entstanden sind. aus Lehmziegelhäusern (z. B. Çatal Höyük im süd-
lichen Anatolien, ca. 9400 Jahre alt, oder das ähnlich
Neolithikum im Nahen und alte Abu Hureyra im nördlichen Mesopotamien).
Mittleren Osten sowie in Europa Der Lehmziegel wird in der Region vielfach noch
Von herausragender Bedeutung ist die frühe kul- heute unverändert in der damals erfundenen Form
turelle Entwicklung im Fruchtbaren Halbmond, genutzt. Hier und anderswo fand man Spuren von
einer Region im Nahen und Mittleren Osten, die Gemeinschaftshäusern, Nahrungsspeichern, Müh-
sich von Palästina und Syrien über Südostanatolien len u. a. Verarbeitet wurden u. a. frühe Formen des
und den nördlichen Irak bis in den südwestlichen Weizens und der Gerste sowie Hülsenfrüchte; wei-
Iran erstreckt. terhin fand man Reste von Haustieren wie Rind,
Schon früh wurden um die Siedlungen Stein- Schaf, Ziege, Schwein und Hund; im späteren
mauern, oft mit einem Turm, gebaut, z. B. in Jeri- Neolithikum kam der Esel dazu. Friedhöfe mit z. T.
cho, das als Siedlungsplatz wohl ca. 10.000 Jahre alt wertvollen Grabbeigaben waren Teil dieser neoli-
ist. Ein sehr frühes, großes Heiligtum mit Opfer- thischen Siedlungen. Reste von einfach gewebten
stätten und tempelähnlichen Gebäuden wurde in Stoffen (Wolle, vermutlich auch Leinen) lassen sich
Göbekli Tepe in Südostanatolien entdeckt und ist verbreitet nachweisen. Es wurden perfekte Stein-
ca. 12.000 Jahre alt. Cayönü ist ein weiterer bedeut- werkzeuge, wie heute z. T. noch auf Neuguinea, her-
samer neolithischer Siedlungsplatz in Südostana- gestellt. Die Steinwerkzeuge treten aber mehr und
tolien mit vielen rechteckigen Häusern. Erstaunli- mehr in den Hintergrund. In neolithischen Siedlun-
cherweise fand man hier schon Gegenstände aus gen Ägyptens (Merimde, westlich des Rosetta-Arms
gediegenem Kupfer, was die Vermutung nahelegt, des Nils, nordwestlich von Kairo, ca. 7000 Jahre alt)
dass hier der Ursprung der Kupferherstellung lag, fand man z. B. Harpunen, Angelhaken, Netze, Löffel
auch weil in der Umgebung dieses Ortes reichlich aus Muschelschalen, Küchengerät aus Knochenma-
Kupfererz vorkommt. Offensichtlich entstand im terial und Elfenbeinarbeiten. Mit der Vorratshal-
Neolithikum des Vorderen und Mittleren Ostens tung entwickelten sich verschiedene Keramikkul-
schon eine ganze Reihe kleinerer Königreiche mit turen, z. B. Band- und Schnurkeramik.
Städten aus Steingebäuden. In diesen Städten waren In Mitteleuropa begann das Neolithikum vor ca.
Königspalast, Opferstätten und Begräbnisplatz des 7600 Jahren, breitete sich erst in Südwestdeutsch-
Königs von herausragender Bedeutung. land rechts des Rheins aus und erreicht in einer
Hier liegen günstige klimatische Bedingungen zweiten Besiedlungswelle um 5300 v. Chr. auch die
vor, und hier sind die ersten Spuren von Acker- linksrheinischen Gebiete der Pfalz und Rheinhes-
bau und Haustierhaltung gut 10.000 Jahre und in sens. In der norddeutschen Tiefebene konnte, wohl
5.8  •  Die Entwicklung der Werkzeugkultur und der Zivilisation des Menschen 521

.. Tab. 5.2  Haustiere der Alten Welt

Haustier Wildform Beginn der Domestikation Ursprung


1
Hauskaninchen Wildkaninchen
Oryctolagus cuniculus
100 v. Chr. Spanien
2
Hauskatze Wildkatze 3000 v. Chr. Naher Osten
Felis silvestris 3
Hund Wolf 17.000 v. Chr., vielleicht älter Naher Osten, Mitteleuropa,
Canis lupus China, Amerika 4
Hauspferd Wildpferd 4000 v. Chr. Südrussland
Equus przewalskii?
5
Hausesel Wildesel 4000 v. Chr. Naher Osten
Asinus africanus

Hausschwein Wildschwein 8000 v. Chr., Europa ab ca. Naher Osten, Europa, China
6
Sus scrofa 6000 v. Chr.

Hausrind Auerochse 7000 v. Chr. Naher Osten, Indien, Nor-


7
Bos primigenius dafrika

Yak Wildyak Unbekannt Ostasien 8


Poephagus mutus

Balirind Banteng Unbekannt Indonesien 9


Bos javanicus

Gayal (Mithan) Gaur


Bos gaurus
Unbekannt Südasien, Burma
10
Wasserbüffel Wilder Wasserbüffel 4000 v. Chr. Südostasien, China
Bubalus arnee 11
Hausschaf Wildschaf 8000 v. Chr. Naher Osten
Ovis ammon 12
Hausziege Bezoarziege 8500 v. Chr. Naher Osten
Capra aegagrus
13
Hausren Wildren Unbekannt, vermutlich letzte zirkumpolare Kulturen
Rangifer tarandus Eiszeit
14
Trampeltier Wildformen umstritten 2500 v. Chr. Zentralasien, Arabien
und Dromedar

Hausgans Graugans Unbekannt Südostasien


15
Anser anser

Höckergans Schwanengans Unbekannt China 16


Anser cygnoides

Hausente Stockente Unbekannt Naher Osten/China 17


Anas platyrhynchos

Haustaube Felsentaube
Columba livia
Unbekannt Naher Osten
18
Haushuhn Bankivahuhn Unbekannt Indonesien
Gallus gallus 19
Perlhuhn Helmperlhuhn Unbekannt Afrika
Numida meleagris 20
522 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

.. Tab. 5.2 (Fortsetzung) Haustiere der Alten Welt

Haustier Wildform Beginn der Domestikation Ursprung

Verschiedene Wildkarpfen Unbekannt China/Europa


domestizierte Cyprinus carpio
Karpfen

Goldfisch Silberkarausche Unbekannt China


Carassius auratus

Siamesischer Betta splendens Unbekannt China


Kampffisch

größtenteils aus klimatischen Gründen, die frühe Neolithikum in Ost-, Südost-


Jungsteinzeit erst etwa 1000 Jahre später Fuß fas- und Südasien
sen. Die früheste Ackerbauernkultur Mitteleuropas In alten neolithischen Kulturen Indochinas (Hoa-
hinterließ zahlreiche Siedlungsspuren mit Grund- binh) fand man neben Spuren der Jagd und des
rissen großer Rechteckhäuser; diese Langhäuser Fischfangs schon früh (ca. 10.000–9000 Jahre vor
konnten Größen von bis zu 8 m Breite und 30–50 m heute) Hinweise auf die Kultivierung von Pflanzen
Länge erreichen. Große Siedlungen mit mehr als (Hülsenfrüchte, Gurken, Wassernuss, Mandel, Be-
30 Häusern pro Siedlungsphase fand man z. B. in tel u.v. a.). Aus der jüngeren Hoa-binh-Kultur (ca.
Köln, Vaihingen an der Enz oder Stephansposching 8000–7000 Jahre vor heute) gibt es u. a. verbesserte
in Bayern. Diese frühen sesshaften Bauern rodeten Erntegeräte und vieles spricht dafür, dass in dieser
den Wald für ihre Dorfstellen und für Ackerflä- Zeit auch schon Schweine gehalten wurden. Acker-
chen. Das Vieh wurde zeitweise zur Waldweide in bau ist ab ca. 6000 Jahren vor heute verbreitet in
die umliegenden Laubmischwälder getrieben, auch Südostasien nachgewiesen u. a. auch mit Taro (Co-
Spuren von Fernweidewirtschaft sind nachweisbar. locasia esculenta) und Yam (Dioscorea). Entschei-
Angebaut wurden im Frühneolithikum die Getrei- dend war in dieser Zeit der Beginn der Reiskultur,
desorten Emmer und Einkorn sowie eine frühe deren ältester Nachweis in Mittelthailand gelang
Form des Nacktweizens, daneben Hülsenfrüchte (zwischen 6000 und 5000 Jahren vor heute). Reis
wie Erbsen und Linsen. Lein wurde zur Ölgewin- ist heute für mehr als die Hälfte der Menschheit die
nung und zur Herstellung von Textilien verwendet, wichtigste Nahrungspflanze.
Schlafmohn diente möglicherweise als Heilmittel. Eine ganz eigenständige Entwicklung der
Das Werkzeugspektrum umfasst geschliffene und landwirtschaftlichen Kultur fand in der Lössland-
polierte Steinbeile, Klingen, Bohrer und Stichel aus schaft Nordchinas statt. Aus klimatischen Grün-
Silex (Feuerstein) sowie zahlreiche Geräte aus Tier- den bestanden hier günstige Anbaumöglichkeiten
knochen. Erstmalig werden nun Gefäße aus Ton für Hirse und (später) Reis. Vor ca. 2800  Jahren
hergestellt; neben unverzierten Koch- und Vorrats- existierte in Nordchina die Ci-Shan-Kultur mit
gefäßen gibt es verziertes Feingeschirr, dessen band­ Siedlungen und Spuren des Hirseanbaus und der
artige Ornamentik der frühesten Ackerbauernkul- Haustierhaltung (Hunde, Schweine, vielleicht Hüh-
tur Mitteleuropas den Namen „Linearbandkeramik“ ner, später dann auch Rinder). Vor ca. 2500 Jahren
eingetragen hat (. Abb. 5.42b). Zum Kult gehörten setzte sich der Reisanbau durch. Hinweise auf die
möglicherweise Menschenopfer, auch Hinweise auf Nutzung des Sekretfadens des Maulbeerseiden-
rituellen Kannibalismus sind vorhanden. spinners finden sich schon vor ca. 6000  Jahren
Der als „Ötzi“ bekannt gewordene Mannes aus (Yang-shao-Kultur). Aus China stammen die ältes-
dem Ötztal lebte am Ende der Jungsteinzeit vor ca. ten Arzneibücher. Bis auf den heutigen Tag ist hier
5300 Jahren. eine hoch differenzierte Arzneipflanzentherapie
zuhause.
5.8  •  Die Entwicklung der Werkzeugkultur und der Zivilisation des Menschen 523

.. Tab. 5.3  Kultur- und Nutzpflanzen (nach verschiedenen Autoren) mit Ursprungsregion, in der sie wahrscheinlich zuerst
entstanden 1
Vorderer und Mittlerer Weizen, Gerste, Einkorn, Erbsen, Linsen, Hirse, Oliven, Artischocken, Feigen, Flachs,
Osten: Granatapfel
2
Südostasien: Reis, Zitrusarten, Bananen, Mangostane, Durian, Rambutan, Karambole, Gewürznelke,
Muskatnuss
3
China: Reis, Hirse, Sojabohne, Bohnen, Hanf, Baumwolle, Kiwi, Litschi, Tee, Sorghum, Zucker-
rohr, Kumquat, Bananen

Indien: Baumwolle, Gurkenarten, Zuckerrohr, Bananen, Auberginen, Pfeffer, Kardamon, Taro,


4
Mango, Jackfruit

Tropisches Westafrika: Afrikanische Yamswurzel, Zuckermelone, Ölpalme, Wassermelone 5


Sahelzone: Sorghum (Mohrenhirse), afrikanischer Reis, Wassermelonen

Äthiopien: Kaffee, Teff (Getreide)


6
Neuguinea und Melane- Zuckerrohr, Bananen, Taro, Yamswurzel, Sagopalmen?, Kokospalme?
sien: 7
Mittelamerika und Anden, Mais, Bohnen, Tabak, Kürbisarten, Quinoa, Tomaten, Kartoffeln, Süßkartoffeln, Maniok,
z. T. trop. Südamerika: Erdnüsse, Baumwolle?, Flaschenkürbis, Chayote, Monstera, Heliconien, Yamswurzel, 8
Inkaweizen (Amaranth), Ananas, Papaya?, Avocado, Maracuja, Annonen, Guave, Pepino,
Kakao, Koka, Paprika, Vanille, Kapok

Östliche USA: Sonnenblumen


9
Unbekannt: Mohn, Zuckerrübe, andere Rüben, Kohl, Dattelpalme (Trockenzone Marokko-Pakistan,
seit 8000 Jahren), Affenbrotbaum (afrikanische Savanne) 10
Einige Pflanzen an Banane?, Reis?, Baumwolle?
verschiedenen Stellen 11
kultiviert:

12
Auch im indischen Raum wurden frühe neo- tätigkeit lokaler Nahrungsressourcen (Berge von
lithische Siedlungen gefunden. Ein Beispiel ist der Muschelschalen an den Küsten von Kalifornien bis
Fundplatz Mehrgarh im heutigen Pakistan im Ein- Chile und von der Golfküste der USA bis Brasilien 13
zugsbereich des Indus. Die Besiedlung von Mehr- bezeugen z. B. intensive Nutzung der Mollusken-
garh geht in die erste Hälfte des 7. Jahrtausends v. fauna) kam es zu anhaltender Sesshaftigkeit. 14
Chr. zurück. Schon früh wurden hier Ziegen do- In Zentralmexiko sind Spuren regelmäßigen
mestiziert und Wildgetreidekörner gesammelt und Ackerbaus 9000–10.000 Jahre alt (Hochtal von Tehu-
gespeichert. Ab der zweiten Hälfte des 7. Jahrtau- acan). Zu den ältesten kultivierten Pflanzen zählen
15
sends v. Chr. entstanden hier Keramikgefäße und hier u. a. Kürbis (Cucurbita mixta) und Amaranth
Grabkammern. Ab dem 6. Jahrtausend wurden er- (Amaranthus spec.). Auch der Mais (Zea mays) ist 16
tragreichere Getreidesorten im Bewässerungsfeld- eine alte Kulturpflanze Mittelamerikas. Zwischen
bau angepflanzt. Es wurden Kornspeicher angelegt 2800 und 2700 Jahre vor heute erweiterte sich die 17
und den Toten wurde Schmuck als Grabbeigabe Zahl der kultivierten Pflanzen, z. B. kamen Sapote
mitgegeben. (Pouteria sapota), die Bohne (Phaseolus vulgaris)
und die Lupine Lupinus mutabilis (Tarwi = Lupi- 18
Neolithikum in Lateinamerika nenmehl) dazu. Gerade die gesicherte Ernährung
Eine eigene neolithische Entwicklung vollzog sich mit Mais und Bohnen ermöglichte eine deutliche 19
in Mittel- und Südamerika mit Zentren in Zent- Vermehrung der Bevölkerung. Eine weitere neue
ralmexiko und im peruanischen Hochland. Über Kulturpflanze wurde dann die Baumwolle (Gossy-
eine Vorstufe mit verstärkter Jagd- und Sammel- pium hirsutum). Es ist dokumentiert, dass sich aus
20
524 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

schon früh. Die Kleinkamele Lama und Alpaka


entstanden in Peru mindestens vor 6000 Jahren. Sie
wurden als Fleischlieferanten, Tragtiere und Woll-
lieferanten genutzt. Im Andenhochland entstand
sogar ein spezielles Nomadentum, das auf der Hal-
tung von Lama und Alpaka basierte. In dem Zeit-
raum von vor 6000 bis vor 3000 Jahren erfolgte die
Domestikation des Meerschweinchens, das von der
Bevölkerung vor allem als Fleischlieferant genutzt
wurde. Hunde sind in Südamerika seit gut 8000 Jah-
ren bekannt. Der Zeitpunkt der Domestikation der
Moschusente (Anas moschata) ist nicht genau be-
kannt. An den Küsten Südamerikas entstanden früh
Siedlungen, die ihre ökonomische Basis im Fisch-
fang, in der Jagd auf Robben und im Sammeln von
Mollusken und Krebsen hatten. Ab 2700 Jahren vor
heute ist es aber auch in den Küstentälern zu land-
wirtschaftlichem Anbau von Yamsknollen (Pachyr-
.. Abb. 5.42 a, b  a Kupferne Streitaxt, schnurkeramische hizus tuberosus), Kartoffel, Ulluco (Ullucus tubero-
Kultur 4400–4800 Jahre alt aus der Gegend von Mainz. b sus) und Maniok (Manihot esculenta) gekommen.
Gefäß der älteren Bandkeramik, ca. 6000 Jahre alt, Mommen- Der Flaschenkürbis (Lagenaria siceraria) war früh
heim (Rheinhessen)
als Behälter beliebt.
Bei einer Gesamtbewertung der neolithischen
kleinflächigem Anbau mehrerer Pflanzen ein groß- Entwicklung Mittel- und Südamerikas hat u. a. Dia-
flächiger Anbau weniger Pflanzen (v. a. Mais, Bohne mond (1998) darauf hingewiesen, dass es dort nie
und Kürbis) entwickelte. Die Jagd blieb aber immer zu einer so produktiven Verbindung zwischen Tier-
noch wichtiger Teil der Nahrungsbeschaffung, die haltung und Pflanzenanbau wie im Vorderen Orient
Domestikation von Haustieren (Meerschweinchen, gekommen ist, dass das Ertragsniveau des Pflan-
Lama, Alpaca, Moschusente) erfolgte in Amerika zenanbaus relativ gering blieb, dass die Tierhaltung
erst relativ spät. Die Domestikation von Hunden relativ ineffektiv blieb und dass all dies zusammen
war wohl vor ca. 8000 Jahren erfolgt, wahrschein- eine langsamere gesellschaftliche Entwicklung zur
lich wurden auch schon relativ früh Peccaris (wilde Folge hatte. Dies war wohl ein Grund für das rasche
süd- und mittelamerikanische Schweine) gehalten Zusammenbrechen vorkolumbianischer Kulturen
und gezähmt (so wie heute noch bei einigen süd- nach dem aggressiven Auftreten der europäischen
amerikanischen Urwaldindianern), aber nicht im Kolonisatoren.
eigentlichen Sinne domestiziert.
Älteste Spuren von landwirtschaftlicher Tätig- Neolithikum in Afrika
keit in Peru sind ca. 9000 Jahre alt (Kürbis, Boh- Auch in Nordafrika haben die Menschen des Neoli-
nen, Quinoa [Chenopodium quinoa, eine Melde, thikums viele Spuren hinterlassen. Zum Teil waren
der „Andenreis“]). Vor 2600 Jahren kamen Bataten solche Kulturen in Rückzugsgebieten sogar noch
(Süßkartoffeln, Ipomoea batatas) und etwas später bis in unsere Zeit lebendig. Vor ca. 12.000 Jahren
dann die Kartoffel (Solanum tuberosum) und die To- befanden sich dort, wo sich heute in Nordafrika die
mate (Solanum lycopersicum) dazu. Seit 2700 Jahren Sahara ausbreitet, noch weite Savannengebiete mit
vor heute sind im Ayacucho-Becken Hinweise auf Elefanten, Giraffen, Nashörnern und Antilopen. In
Baumwoll- und Maisanbau zu finden. Aus Süd- diesen Savannen lebten auch Menschen, die diese
amerika stammen viele weitere Nutz- und Kultur- Tiere jagten und malten sowie eingemeißelte Fels-
pflanzen, z. B. Erdnuss und Tabak (. Tab. 5.3). In bilder von Tieren und Menschen hinterließen. Vor
Südamerika erfolgte die Domestikation von Tieren ca. 7000 Jahren traten in diesen Abbildungen do-
5.8  •  Die Entwicklung der Werkzeugkultur und der Zivilisation des Menschen 525

mestizierte Rinder auf. Vor 3650 Jahren eroberten 5.8.5 Bronzezeit


die vermutlich westasiatischen Hyksos Unterägyp- 1
ten und brachten Pferde und Streitwagen in die Die Bronzezeit ist durch die verbreitete Nutzung
Region. Kamele erreichten Nordafrika aus Asien von Bronze für die Herstellung von Werkzeugen 2
vor ca. 2200 Jahren. Felszeichnungen sind in ganz und Waffen gekennzeichnet (. Abb. 5.43). Neu ist
Afrika verbreitet zu finden, insbesondere auch in die Entdeckung, dass die Metalle Kupfer und Zinn
Südafrika, wo sie auf die Buschmänner (San) zu- (oder Arsen) mit Hilfe eines Schmelzverfahrens zu 3
rückgehen. Die ältesten Darstellungen sind hier einem härteren Metall, der Bronze, verbunden wer-
30.000–40.000  Jahre alt. Sie sind Ausdruck pa- den konnten (Kupferlegierungen). Die Menschen 4
läo- bis neolithischer Kultur, und es ist interessant begannen vor ca. 6000 Jahren in vielen Regionen der
zu sehen, dass sich die uralten Buschmannbilder Erde Bronze zu nutzen. Gold und Kupfer wurden
kaum von viel jüngeren, nur 100 Jahre alten Dar- weiterhin benutzt, aber vorwiegend für Schmuck,
5
stellungen unterscheiden. Einblicke in die Kultur Grabbeigaben und kultische Gegenstände. Eine aus
der Buschmänner, z. B. der Kalahari, können uns künstlerischer Sicht besonders hoch entwickelte 6
also z. T. etwas über Lebensweise und Vorstellungen Bronzekunst, z. T. mit Edelsteinintarsien, entwi-
der neolithischen afrikanischen Menschen sagen. ckelte sich in China. 7
Vermutlich gehen auch einige heutige nomadisch Bronzezeitkulturen blühten im Nahen und Mitt-
lebende Stämme der Sahelzone oder Südäthiopiens leren Osten von vor 6000 bis vor 3200 Jahren. Der
ziemlich direkt auf die Träger der neolithischen Kul- Ursprung dieser Kulturen liegt in Mesopotamien 8
tur Nordafrikas zurück. und geht bis in die Zeit von ca. 6200  Jahren vor
heute zurück. Von hier aus breitete sich die Bronze- 9
zeitkultur nach Ägypten, Persien (Luristan), Pakis-
5.8.4 Kupferzeit tan und Indien aus. Älteste Spuren in Ägypten sind
ca. 6000 Jahre alt, die Stufenpyramide von Sakkara
10
In der Spätphase des Neolithikums kam es zur Nut- wurde vor 4600 Jahren, die Pyramiden von Gizeh
zung von Metallen, und zwar von Gold und Kup- vor ca. 4500 Jahren errichtet. Im Industal gab es ab 11
fer sowie vermutlich auch Silber, die kalt bearbeitet 4600 Jahren vor heute hoch entwickelte Stadtkul-
wurden (. Abb. 5.42); diese Phase wird daher auch turen. 12
als Kupferzeit abgegrenzt und auch Chalkolithikum Weltkulturerbe ist die bronzezeitliche Stadt Mo-
genannt. In Anatolien und der Levante begann henjo Daro im fruchtbaren Industal, in dem ab ca.
man schon vor ca. 10.000 Jahren, in Ägypten vor 4600 vor heute im heutigen Pakistan hochzivilisierte 13
6500 Jahren mit der Herstellung von Gegenständen Stadtkulturen blühten, die die Induszivilisation (=
aus Kupfer und Kupferlegierungen (s. unten); vor Harappa-Kultur) kennzeichnen. Die größten dieser 14
5500 Jahren waren in Ägypten Werkzeuge und Waf- Städte waren Harappa und Mohenjo Daro, die ca.
fen aus Kupfer verbreitet; auch in China begann man 35.000 Einwohner hatten und eine gut geplante Inf-
vor 5500 Jahren mit der Kupferverarbeitung. Spuren rastruktur u. a. mit Wasserver- und -entsorgungska-
15
intensiven Kupferabbaus und der Kupferherstellung nälen besaßen. Wie in Mesopotamien und Ägypten
in Kupferschmelzöfen finden sich im Oman mit ei- existierte eine eigene Schrift. 16
nem Höhepunkt im Zeitraum zwischen 4500 und Ein gut erforschtes Beispiel für eine reiche
3900 vor heute. Dieses Kupfer wurde bis nach Me- bronzezeitliche Stadt im Nahen Osten ist das kana- 17
sopotamien und in die Städte im Industal exportiert. anitische (phönizische) Ugarit, wenig nördlich von
In Mitteleuropa stammen die ersten Kupfer- Lattakia an der Küste Nordsyriens (Ras Shamra),
funde aus dem späten 5. Jahrtausend v. Chr. und das den Höhepunkt seiner Entwicklung zwischen 18
treten dann im End-Neolithikum ab ca. 2800 v. Chr. 3400 und 3200 vor heute erfuhr. Ugarit stand mit
häufiger in Form von Kupferbeilen und Pfeilspitzen großen Königreichen in seiner Nachbarschaft, v. a. 19
auf. Systematischer Kupferbergbau erfolgte in Ser- dem Reich der Hethiter, mit Ägypten, Griechenland
bien und Bulgarien ab ca. 4500 v. Chr., in den Alpen und Nordafrika in vielfältigen Handelsbeziehungen.
seit ca. 4000 v. Chr. Diese Stadt hatte ca. 7000 Einwohner und einen
20
526 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

von Noah und der Sintflut im ersten Buch Moses,


der Genesis, ähnelt.
Aus der Bronzezeit Mesopotamiens stammen
auch erste Sammlungen von Gesetzestexten. Die
bedeutendste ist die von Hammurabi, der 1792 v.
Chr. König von Babylon wurde. Der Sinn dieser
auf einer Steinstele niedergelegten Gesetze bestand
darin, die Funktionsfähigkeit des Staates aufrecht
zu erhalten und die steigende Verschuldung von
Handwerkern und Bauern zu bekämpfen. Es gibt
u. a. Bestimmungen zu Schiffsmiete, zu Pacht,
Familien- und Nachbarschaftsrecht sowie zum
Weinbau und zur Weinherstellung. Es wurden
Höchstpreise und -löhne festgelegt. Die angedroh-
ten Strafen sind für unser heutiges Empfinden oft
sehr drastisch.
In Europa begann die Bronzezeit um ca. 2000
v. Chr., mancherorts auch erst um 1800 v. Chr. Sie
.. Abb. 5.43 a–d.  Waffen (a–d) und frühes Alphabet aus dauert in Mitteleuropa etwa 1000 Jahre und wird
der Bronzezeit. a Sumerisches Streitbeil, b luristanische um 850/800 v. Chr. von der Eisenzeit abgelöst. Die
Bronzeklingen (Persien), c chinesische Langaxt, d mykeni- bronzezeitlichen Kulturen erreichen hier nie Glanz
sches Bronzeschwert. e ugaritische Alphabetschrift, die auf
und Raffinement, wie sie sich im höfischen Leben
Grundelemente der (älteren) Keilschrift zurückgeht. Nach
Cornelius u. Niehr (2003, Bildrechte liegen bei Zabern)
Ägyptens und Mesopotamiens entfalteten, doch
zeugen auch in Mitteleuropa Bronzeschwerter,
Bronzeschmuck und -gefäße von den hoch entwi-
allmächtigen König an ihrer Spitze. Ein eigener ckelten Techniken der Metallhandwerker. In man-
religiöser Kult mit einem dominanten Gott spielte chen Regionen, z. B. in Südamerika, Australien und
eine wichtige Rolle im religiösen Leben. In Ugarit Teilen Zentral- und Westafrikas, gab es wohl keine
fand man sehr viele Tontafeln mit Schriftzeichen. eigene Bronzezeit, hier folgte auf das Neolithikum
Viele Zeichen dieser Tafeln gehören zur mesopota- direkt die eisenzeitliche Epoche. Frühe Zentren der
mischen Keilschrift, es wurden aber auch Tontafeln Bronzezeit in Europa liegen in Böhmen, Mittel-
mit den ältesten Zeichen eines Alphabets gefunden. deutschland und Wessex (England). Zu Beginn der
Dieses Alphabet hatte 28 keilschriftähnliche Zei- Bronzezeit wurden die Toten in Flachgräbern, dann
chen (. Abb. 5.43e). – zumindest die Höhergestellten – unter aufgeschüt-
Aus dem Mesopotamien der Bronzezeit stam- teten Hügeln bestattet. In der endbronzezeitlichen
men nicht nur Reste hochorganisierter Städte, son- Urnenfelderkultur, in der die Bronzekunst einen
dern auch erste Epen, z. B. das Gilgamesch-Epos, Höhepunkt erreichte, verbrannte man die Toten
das ca. 4500 vor heute geschrieben wurde. Gilga- und beerdigte die Reste mit zahlreichen Beigaben
mesch war ein übermenschlicher Held und König in großen tönernen Urnen, die in Gruben auf re-
der Stadt Uruk (auf diesen Namen geht die heutige gelrechten Urnenfriedhöfen beigesetzt wurden. Die
Bezeichnung Irak zurück) in Babylonien. Im Gil- Urnenfelderkultur legte in Mitteleuropa die Wur-
gamesch-Epos werden am Beispiel des Lebens und zeln für die spätere keltische Kultur.
der Entwicklung eines großen Menschen Gedanken Eigentümlich und fremdartig wirken die Zeug-
über Sinn und Tragik des menschlichen Lebens ge- nisse der 1500–2000 Jahre alten Kulturen Mittel-
äußert, ähnlich wie später in der Odyssee bis hin amerikas. Sie sind formal eher noch neolithisch,
zu Romanen unserer Zeit. Im Gilgamesch-Epos kulturell aber entsprechen sie der Bronzezeit der
findet sich auch die Geschichte einer von Göttern Alten Welt. Die Stadt Teotihuacan war zu ihrer Blü-
geschickten großen Flut, die stark der Geschichte tezeit zwischen 200 und 650 n. Chr. mit ca. 250.000
5.8  •  Die Entwicklung der Werkzeugkultur und der Zivilisation des Menschen 527

Einwohnern die größte Stadt Mittelamerikas, deren Auf dem Höhepunkt der Kultur der späteren
Ernährung durch einen intensiven Ackerbau gesi- Bronzezeit, also vor ca. 3500 Jahren, herrschte in 1
chert war. Die Herrscher dieser Stadt kontrollierten Ägypten Pharao Echnaton (Amenophis IV), der
den Abbau, die Verarbeitung und den Handel mit vermutlich als erster eine monotheistische Religion 2
Obsidian, aus dem ganz verschiedenartige begehrte verkündete, mit Königin Nefertiti (Nofretete). Die
Gegenstände hergestellt wurden. Der Staat wurde Entwicklung der Gedanken Echnatons wird sehr le-
durch effizientes Militär und religiöse Kulte mit z. T. bendig in Thomas Manns Roman „Joseph und seine 3
grausamen Riten zusammengehalten. Astronomi- Brüder“ dargestellt.
sche Kenntnisse lagen wie in den Bronzezeitkultu- Vor ca. 3200 Jahren brachen viele der bronze- 4
ren der Alten Welt vor. zeitlichen Reiche – in Griechenland das Reich von
In der Bronzezeit entstanden Monumentalbau- Mykene, im anatolischen Großraum das Reich der
ten und große Städte zuerst in großen Flussebenen, Hethiter, Reiche auf Zypern und im syrischen Raum
5
z. B. am Indus, an Euphrat und Tigris und am Nil. – zusammen, nur Ägypten hielt sich noch über
Hoch entwickelte Landwirtschaft führte zu Wachs- 1000 Jahre länger. Die Ursache für diesen Rückgang 6
tum der Bevölkerung. Es lebten in den städtischen ist nicht bekannt.
Zentren spezialisierte Handwerker, die z. B. vor ca. In Mesopotamien erfolgte ein sehr wichtiger 7
5500 Jahren in Mesopotamien das Rad erfanden. Schritt in der Geschichte der Menschheit: die Er-
Es entwickelten sich hier auch Schrift, Verwaltung findung der Schrift, die schriftliche Festlegung der
und zentralisierte politische Macht. Zuerst bildeten Sprache. Die älteste Schrift ist vermutlich die Keil- 8
sich Stadtstaaten, bald aber immer größere Reiche schrift Mesopotamiens, die gut 5000 Jahre alt ist.
mit komplizierten sozialen Hierarchien. Einblick in Nur unwesentlich jünger sind die Hieroglyphen des 9
die Struktur einer bronzezeitlichen Stadt bietet Pa- alten Ägypten. Im Industal (vor ca. 4800 Jahren), in
laiokastron auf Kreta, eine ca. 4000 Jahre alte Stadt, China (vor ca. 3200 Jahren), in Phönizien (vor ca.
in der auch Scherben mit Schrift gefunden wurden. 3000 Jahren) und in Mittelamerika (vor ca. 1100–
10
Es herrschte ein hoher kultureller und materieller 1750  Jahren) entstanden weitere eigenständige
Lebensstandard. Aus Ägypten sind wunderschöne Schriften. Genial war die Erfindung des Alphabets, 11
Abbildungen musizierender Menschen bekannt. die wahrscheinlich vor ca. 3900 Jahren in Ägypten
Lebhafte Wanderungen von handelstreibenden erfolgte (Funde in Wadi el Hol). In Ugarit (Nordsy- 12
Leuten führten in der Bronzezeit zu kulturellem rien) entstand vor gut 3500 Jahren ein Keilschrift-
Austausch und Vermischungen. Die frühen Metall- alphabet mit 30 Zeichen (. Abb. 5.43e). Besonders
kulturen verschafften denen, die sie beherrschten, erfolgreich waren die Schriftzeichen der Phönizier, 13
überlegene Waffen. Im östlichen Mittelmeerraum die vor gut 3000 Jahren entstanden und von denen
entstanden zu Land und zu Wasser Handelswege, sich die griechischen und lateinischen Buchstaben 14
welche die Produkte der mykenischen Kultur Grie- sowie die aramäischen Zeichen herleiten. Von letz-
chenlands, der Kanaaniter, Zyprioten, Ägypter, Kas- teren stammen sowohl die hebräischen als auch die
siten, Assyrer, Mitanni und Nubier transportierten arabischen Buchstaben ab. Neben diesen wesentli-
15
und austauschten. Dazu kamen natürliche Produkte chen Zentren der Schriftentstehung gab es weitere
von weiter entfernten Gebieten wie z. B. Bernstein Schriftformen mit mehr lokaler Bedeutung wie die 16
aus dem Ostseeraum oder Zinn aus Cornwall oder Runenschrift der alten Germanen.
Afghanistan. Gold, Edelsteine, Elfenbein u. a. wur- 17
den zu zum Teil sehr schönen Gegenständen und
Schmuck verarbeitet. Vor ca. 3500 Jahren hatte das 5.8.6 Eisenzeit
mykenische Reich viele Handelsposten im östli- 18
chen Mittelmeerraum errichtet. Aus Mykene und Noch heute sind Eisen und Stahl entscheidend
benachbarten Städten stammten die Helden der wichtige Materialien unserer Kultur. Daher wäre 19
Homerischen Epen Agamemnon, Achilles und es berechtigt, alle Kulturen seit Erfindung der Ei-
Odysseus, die vermutlich vor 3300  Jahren nach senherstellung, also im europäischen Bereich un-
Troja segelten. gefähr seit dem Beginn der klassischen Antike bis
20
528 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

heute, der Eisenzeit zuzurechnen, was aber in der Eisenzeitliche Kulturen gab es auch im südli-
Archäologie nicht üblich ist. Der Begriff „Eisenzeit“ chen Afrika vor Eintreffen der Europäer. Besonders
umfasst daher nur den Zeitraum vom Beginn der hoch entwickelt war die Kultur von Alt-Simbabwe,
Eisenherstellung bis zum Beginn schriftlicher Fi- deren Blütezeit zwischen dem 13. und 15. Jahrhun-
xierung der Geschichte. Die Eisenzeit beginnt im dert n. Chr. lag. Alt-Simbabwe, zwischen Sambesi
Nahen und Mittleren Osten generell 3200 Jahre vor und Limpopo gelegen, war ab ca. 1000 n. Chr.
heute, auch wenn Eisen vorher schon sporadisch Hauptstadt eines mächtigen Shona-Reiches. Spuren
verwendet wurde. der Siedlung Alt-Simbabwes gehen bis in die Jahre
Für Griechenland wird der Beginn der Ei- 100–300 n. Chr. zurück.
senzeit auf ca. 3100 Jahre vor heute datiert; es ist Städtisches Leben, wie es in der Bronzezeit be-
der Beginn der protogeometrischen Zeit. In der gann und sich in der Eisenzeit weiterentwickelte,
Odyssee gelten Eisenbarren noch als Wertanlage hatte sicherlich viele verschiedene Konsequenzen,
der Oberschicht (Obole, abgeleitet von obolos = z. B. wirkten sich Infektionskrankheiten infolge des
Bratspieß). dichten Beisammenlebens oft katastrophal aus. Es
In Mitteleuropa beginnt die Eisenzeit ca. kam zu weiterer Arbeitsteilung, immer mehr Berufe
900–850 v. Chr. Sie wird hier ab ca. 500 v. Chr. entstanden. Körperliche Kraft und Fähigkeit zur
(Latènezeit) von der Kultur der Kelten geprägt, Ausdauer war nicht mehr alleinige Voraussetzung
die in zahlreichen Stammesverbänden das Gebiet zum Überleben. Es entwickelten sich nützliche Tä-
des heutigen Frankreich, Deutschland südlich des tigkeiten, die im Sitzen verrichtet werden konnten,
Main, der Schweiz und Österreich (Kerngebiete) auch von körperlich weniger robusten Menschen.
besiedelten. Sie besaßen eine ausgeprägte Sozial- Auch in der zunehmend um sich greifenden Ver-
hierarchie, die sich in den „Fürstengräbern“ des waltung boten sich körperlich wenig belastende
6. und 5. Jahrhundert v. Chr. zeigt. In der Spätzeit Beschäftigungen.
der Kelten, ab ca. 150 v. Chr., entstanden die ersten
stadtartigen Siedlungen (oppida), große, mit stei-
nernen Mauern umwehrte Anlagen, die südlichen 5.8.7 Klassische Antike
Vorbildern folgten und in der Regel mehrere Tau- bis Neuzeit
send Menschen beherbergten. Das Kunsthandwerk
der keltischen Zeit hat herausragende Zeugnisse Von herausragender Bedeutung war die klassische
künstlerischen Schaffens mit sehr individuellen Antike. Sie entwickelte sich im östlichen und zen-
Zügen (Masken- und Tierstil, pflanzliche Orna- tralen Mittelmeerraum, vielfältig und nachhaltig
mentik) hervorgebracht. beeinflusst von ägyptischen und vorderasiatischen
In China beginnt die Eisenzeit vor 3000, in Mit- Kulturen. Das griechische und vor allem das römi-
teleuropa vor etwa 2800 Jahren. sche Staatswesen beruhte auf einer städtischen mul-
In den Metamorphosen Ovids ist die Eisenzeit tinationalen Gesellschaft mit differenzierter sehr ak-
das letzte der Weltalter, waffenklirrend, blutig, ohne tiver Wirtschaft sowie effizienter Verwaltungs- und
Nächstenliebe und ohne Gerechtigkeit. Infrastruktur. Die griechische Mythologie sowie die
Die Hethiter kannten schon vor ca. 3500 Jahren klassische griechische und römische Literatur sind
die Technik der Eisenherstellung, anderswo begann wesentlicher Teil unseres abendländischen Kultur-
diese Zeit später. Während des Eisenzeitalters kam erbes.
es in Europa zu zahlreichen Eroberungszügen von Nach dem Untergang des römischen Reichs
gut bewaffneten Keltenstämmen, die erst vor ca. folgte in Europa das Mittelalter, zunächst mit einer
2500 Jahren zur Ruhe kamen. Im folgenden Jahr- frühen instabilen Phase. Es entstanden in wenigen
tausend kam es aber immer wieder zu ähnlichen Jahrhunderten aber neue stabile Reiche, in denen
Invasionen ostasiatischer Stämme (Hunnen, Mon- die christliche Kirche Macht und Einfluss gewann.
golen) nach Europa mit erheblichen, oft katastro- Im südlichen Mittelmeerraum bildeten sich islami-
phalen Auswirkungen auf diejenigen, die diesen sche Reiche, skandinavische Wikinger entdeckten
Reiterstämmen ausgeliefert waren. als erste Europäer Nordamerika.
5.9  •  Die biologisch-ökologische Sonderstellung des Menschen 529

1492 n. Chr. erreichte Kolumbus Amerika; da- ten ermöglichten. Die Entstehung des aufrechten
mit begann die Kolonialzeit, in der Europäer neue Ganges bietet dem biologischen Verständnis kein 1
Länder in Amerika, Afrika und Asien entdeckten grundsätzliches Problem. Als Nebenfunktion besit-
und eroberten. Reiche blühten auf, z. B. Portugal zen viele Affen und besonders die Menschenaffen 2
und Spanien, neue Wirtschaftsformen brachten ei- die Fähigkeit, aufrecht zu gehen, sogar mit durch-
nerseits großen Reichtum, z. B. in den Niederlanden gedrückten Knien. Der Gorilla kann dabei sogar die
oder in englischen Städten, andererseits viel Elend große Zehe anlegen. Der Übergang von dem auf- 3
unter den Einheimischen in den Kolonien. Die rechten Gang als Nebenfunktion zur Hauptfunktion
westeuropäischen Sprachen, vor allem Spanisch, entspricht einem häufigen Vorgang in der Evolu- 4
Portugiesisch, Französisch und Englisch, wurden tion. Die Umformungen von Becken und Fuß sind
auf der ganzen Welt verbreitet und führten zum Un- relativ gering im Vergleich zu dem, was sonst beim
tergang vieler außereuropäischer Sprachen und zur Wechsel der Lebensweise geschehen kann. Dass
5
Entstehung von Pidginsprachen. Die Auswanderer ein Vorstadium, das auch das Klettern in Bäumen
und Eroberer waren, wie üblich, im Allgemeinen praktizierte, anzunehmen ist, zeigt die Tatsache, 6
aktiver, unternehmungslustiger und durchsetzungs- dass bei allen Primaten (exklusive Krallenäffchen)
fähiger als die zu Hause Gebliebenen. In der neuen ein Greiffuß vorhanden ist und dass die meisten 7
Umgebung entwickelten sich innerhalb weniger Menschenaffen Schlafnester in Bäumen bauen.
Generationen neue Menschentypen. Die Auswir- Die Nahrungssuche kann dabei in wechselndem
kungen dieser Kolonisation auf die Einheimischen Ausmaß am Boden des Waldes erfolgen, ebenso 8
waren meist verheerend. Massenhaft kamen Ein- ein Vordringen in die Savanne, wie manche Po-
heimische z. B. durch eingeschleppte Krankheiten, pulationen des Schimpansen zeigen. Am Fuß sind 9
Zwangsarbeit, Kriege und Ermordung um. Manche die Besonderheiten des Menschen das Fußgewölbe
der einheimischen Bevölkerungen, z. B. die Feuer- und der Verlust der Abspreizbarkeit der großen
länder, sind praktisch ausgerottet worden. Es kam Zehe (. Abb. 5.2 und Abschn. 5.2.1). In mancher
10
teilweise auch zu ausgedehnten Vermischungen. Beziehung ist die Anpassung des Menschen an den
So entstanden lokal neue Gruppierungen, z. B. die aufrechten Gang noch unvollkommen, wie häufige 11
„Neo-Hawaiianer“, die „nordamerikanischen Farbi- Wirbelsäulenschäden, Störungen des Fußskeletts
gen“, die „Latinos“ u. a. (Senk-, Spreizfüße und andere Fußdeformitäten) 12
Im 15. Jahrhundert n. Chr. kam es zu revolu- sowie Fehler der Säuglingshüfte zeigen.
tionären Veränderungen in Religion, Kunst und Im Gegensatz zu den anderen höheren Prima-
Wissenschaft, die Renaissance begann, und damit ten war der Mensch über lange Phasen seiner Ent- 13
setzte die Neuzeit ein mit zunehmender Differen- wicklung Jäger und Fleischfresser und verschonte
zierung des Individuums in der Gesellschaft. Die dabei, wie die Skelettfunde z. T. zeigen, von An- 14
letzte große Epoche der Neuzeit, das Industriezeit- fang an seine Artgenossen nicht. Zwar kann auch
alter, entwickelte sich im 19. Jahrhundert n. Chr. der Schimpanse kleine Piliocolobus-Affen, junge
Dieses Industriezeitalter ist durch die Dominanz der Paviane und Antilopen erbeuten, zerreißen und
15
Technik gekennzeichnet, die heute in das Leben des fressen, aber hauptsächlich ernährt er sich von
Menschen wie nie zuvor eingreift. Daher kann jetzt Früchten. 16
auch vom Zeitalter der Technik gesprochen werden. In einer Beziehung ist der Mensch völlig aus
den ökologischen Naturgesetzen herausgetreten. 17
Jedes Lebewesen ist in eine Lebensgemeinschaft
5.9 Die biologisch-ökologische eingefügt, die nur beständig ist, wenn die Bevölke-
Sonderstellung rungszahl einer Art auf längere Zeit konstant bleibt. 18
des Menschen Rein rechnerisch muss ein Paar zwei überlebende
Nachkommen erzeugen. Nun ist aber die Nachkom- 19
Aufrechter Gang und Lauf waren die ersten Neu- menzahl eines Paares meist größer – und erreicht
erungen des Menschen, die ihm das weite Vor- bei vielen Tieren Tausende. Die Art übt also einen
dringen in Steppengebiete und andere Landschaf- so genannten Vermehrungsdruck auf die Lebensge-
20
530 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

meinschaft aus. Dieser wird aufgefangen durch die wird. Kurzfristig jedoch kann es zu einem abnor-
Vernichtung des Produktionsüberschusses durch men Bevölkerungswachstum kommen, das dann
die anderen Lebewesen und durch Umweltsituati- mit einem Einbruch der Population zu bezahlen ist.
onen. So entsteht ein Vernichtungsdruck, der den Dieses Naturgesetz – das für alle Organismen gilt –
Vermehrungsdruck ausgleicht. kann auch durch Fortschritte in der Landwirtschaft
Aus dieser Bindung ist der moderne Mensch he- nicht außer Kraft gesetzt werden. Die „grüne Re-
rausgetreten. Durch die Wirksamkeit seiner ständig volution“, d. h. die lange nicht für möglich gehalte-
verbesserten Waffen wuchs seine Macht rapide. Erst nen Produktivitätssteigerungen der Landwirtschaft,
fielen ihm nur kleinere Tiere zum Opfer, aber schon wird den Umfang des Populationseinbruches von
Homo erectus fing vermutlich Elefanten in Fallgru- Homo sapiens eher vergrößern, ähnlich wie die Fort-
ben und kannte die Nutzung des Feuers, welche schritte der Medizin die Bevölkerungszunahme be-
die Auswirkungen der Unbilden der Witterung schleunigt haben. Der Mensch hat die Einsicht und
herabsetzte. Es verschwanden die Großtiere, seien die Möglichkeiten, der Problematik noch Herr zu
es Feinde oder Nahrungstiere, und der Mensch hat werden. Ob er davon Gebrauch machen wird, weiß
sicher viele Tiere ausgerottet, beispielsweise die Rie- niemand, ist aber bis jetzt nur in wenigen Teilen der
senstrauße auf Madagaskar und Neuseeland. Mit Welt zu erkennen.
Speer, Pfeil und Bogen, Gewehr und schließlich Mit dem Wachstum der Bevölkerung geht die
mit biologischen und chemischen Kampfmitteln Zerstörung der Natur einher. In kurzer Zeit hat der
wurden seine Feinde immer mehr zurückgedrängt, Mensch das Bild der Erde so verwandelt wie kein
einschließlich der Kulturschädlinge und der Krank- anderes Lebewesen zuvor. Es fehlt hier der Platz,
heitserreger. Unter- und gegeneinander setzt der die Wirkungen zu schildern, die von seiner unter-
Mensch die gleichen Waffen ein. schiedlichen Lebensweise – vom Wildtöter zum
So hat sich der Mensch vom Vernichtungsdruck Ackerbauer, Nomaden und schließlich zum Stadt-
seiner Umwelt zunehmend befreit. Die Folge ist ein bewohner in einer Industriegesellschaft – ausgehen.
Bevölkerungswachstum, dessen Eindämmung nicht Der Mensch ist wie alle Primaten ein Sozialwesen,
abzusehen ist. Gelingt es nicht, diese Vermehrung seiner Norm entspricht die Sammler- und Lagerge-
zu drosseln, wird der Mensch in einer Katastrophe meinschaft, die Frauen und Kinder und einen Teil
mit den Naturgesetzen kollidieren. der Männer umfasst. Für die Jagd und den dem
Da die menschliche Bevölkerung exponentiell Menschen eigenen Krieg hat sich die Jagd- und
wächst, bedeutet ein stetiges Wachstum in der Ver- Kampfhorde der aktiven Männer herausgebildet,
gangenheit nicht, dass es in Zukunft so weitergehen die kooperativ zusammenarbeiten (zu Vorstufen
kann. In einem Gedankenspiel wollen wir die Prob- des Krieges bei Schimpansen s. Abschn. 5.3.2). Eine
lematik aufzeigen: In einem großen Aquarium, das Ehe kennen die Menschenaffen Gorilla und Schim-
500 Fischen Platz geben soll, wird ein Fischpärchen panse nicht: „Jede gehört jedem“, wie es Thomas
gehalten. Jeden Monat soll sich die Zahl der Fische Henry Huxley auch für die Zukunftsgesellschaft des
verdoppeln, d. h. nach 7 Monaten ist die Kapazität Menschen prophezeit. Der Mensch kennt aber ein
des Beckens zur Hälfte ausgenutzt: es tummeln sich „Sichverlieben“, das eine natürliche Bindung schafft,
in ihm 256 Fische, alles ist bisher „gut gegangen“. Im wenn auch oft nur auf beschränkte Zeit.
nächsten Monat wird jedoch die Kapazitätsgrenze Es gibt durchaus Gründe, pessimistisch und
überschritten, eine Katastrophe ist nicht mehr auf- sehr kritisch in die Zukunft zu blicken. Die ra-
zuhalten. sante Entwicklung der Technik hat uns Waffen in
Theoretisch breitet sich eine exponentiell wach- die Hand gegeben, die den Fortbestand des Men-
sende Population schließlich mit „Lichtgeschwin- schen in kurzer Zeit beenden können. Außerdem
digkeit“ aus. Dazu kommt es aufgrund von Nah- plündert und belastet der heutige Mensch Natur,
rungsverknappung, Seuchen, Kriegen usw. nicht. Umwelt und Ressourcen der Erde in einem Aus-
Für jede Art gibt es eine Umweltkapazität, die das maß, dass es so nur noch Jahrzehnte weitergehen
Populationswachstum in Grenzen hält (logistisches kann. Die dringend notwendige Begrenzung der
Wachstum) und die nicht dauernd überschritten Zahl der Menschen wird nicht ernsthaft in An-
5.10  •  Die geistig-kulturelle Sonderstellung des Menschen 531

griff genommen (Ausnahme Bevölkerungspolitik 5.10 Die geistig-kulturelle


in China), die Zerstörung der Umwelt schreitet Sonderstellung 1
ungebremst voran. Derzeit sind es auch die Ent- des Menschen
wicklungsländer, welche die Umwelt in extremer 2
Weise belasten und zerstören. Viele Flüsse sind Sie beruht auf einer Reihe von Grundeigenschaf-
tot, das Grundwasser ist zum Teil extrem belastet, ten: Tradition, Sprache und Intellekt. Biologen ver-
Wälder gibt es in weiten Teilen Europas, Asiens, suchen, Vorstadien oder Prädispositionen dieser 3
Afrikas sowie S- und N-Amerikas kaum noch, an Eigenschaften bei Tieren aufzusuchen, und meist
den Stadträndern lagert unkontrolliert der Müll, finden sie sie. 4
in manchen Riesenstädten („Megacities“) siedeln Tradition (kulturelle Evolution) ist die Über-
Menschen auf Müllhalden. nahme von Gedankengut, Verhaltensweisen und
Die Menschheit und im Allgemeinen auch der Techniken von anderen Menschen, vor allem von
5
einzelne Mensch sind unfähig, aus Fehlern zu ler- denen vorangegangener Generationen. Durch Tra-
nen. Vernunft und Idealismus bewirken bislang dition wird eine ganz neue und sehr schnelle Aus- 6
allenfalls lokal etwas. Ob die einzelnen erdachten breitung der Leistungen eines Einzelwesens mög-
und auch schon begonnenen Projekte eine Wende lich. Während die Vererbung über die Gene nur eine 7
herbeiführen, ist schon fast nicht mehr zu erwarten. langsame Ausweitung ihres Bestandes innerhalb der
Offensichtlich können heute wirksame Maßnahmen Art schafft, leistet dies die Tradition in wenigen Mo-
zum Erhalt der Umwelt und unserer Lebensgrund- naten (Modeerscheinungen, „Meme“) oder Jahren. 8
lagen nur durchgesetzt werden, wenn sich handfeste So ermöglicht die Tradition eine ganz neue und
Eigeninteressen von Staaten, Verbänden oder an- rasche Evolution der Sitten, Gebräuche und Denk- 9
deren Gruppierungen mit denen des Naturschut- weisen. Traditionen sind wesentliche Komponenten
zes decken. Zufolge der evolutionären Psychologie der menschlichen Kultur, sie garantieren Stabilität
(Brauner 2010) sind Bereiche unseres Geistes und und ruhige Entwicklung, wenn sie vernünftig ge-
10
unserer Psyche noch an das angepasst, was in Bezug handhabt werden und wenn sie Freiraum für Ver-
auf die Umwelt in der Vergangenheit typisch war; änderungen lassen. Wir kennen sichere Traditionen 11
wenn sich die Umwelt und das Sozialgefüge rasch aber auch bei Tieren. Japanische Forscher, die inten-
ändern, hält die Psychologie der Individuen nicht siv das Verhalten der Rotgesichtsmakaken (Macaca 12
Schritt – es kommt zu einem mis-match. fuscata) auf Honshu beobachteten, fanden in ein-
Eine weitere biologische Besonderheit des Men- zelnen Populationen das Aufkommen und die Ver-
schen liegt im langsamen Ablauf seiner Lebenspha- breitung von Gewohnheiten. In einem Fall begann 13
sen (life history), auf die schon hingewiesen wurde: ein jüngeres Tier seine Nahrung (Süßkartoffeln) zu
lang anhaltende Phase der Hilflosigkeit nach der waschen, bald taten das auch die anderen, zunächst 14
Geburt, später Eintritt der Geschlechtsreife, nied- mit Ausnahme der älteren Tiere. Meisen begannen
rige Reproduktionsrate, Menopause und lange in England, die Deckel von Milchflaschen, die vor
Postmenopause bei Frauen, lange sich hinziehender Haustüren abgestellt waren, zu durchlöchern und
15
physischer Verfall. Es besteht hier möglicherweise die Sahne abzuschlürfen. Diese Sitte oder Unsitte
eine Korrelation zum großen Gehirn, das lange Zeit breitete sich von einzelnen Zentren rasch aus. Eine 16
benötigt zum Ausreifen, und dieses große Gehirn Art Tradition kann auch die Heimprägung im Ju-
steht offensichtlich in Beziehung zur Evolution gendalter bewirken. Vögel kehren nach ihrer Win- 17
komplexer Sozialsysteme. Diese wiederum fördern terreise oft an den gleichen Brutplatz zurück, wobei
offensichtlich sowohl kognitive Fähigkeiten (s. Ab- man heute weiß, dass beim Vogelzug genetische
schn. 5.10) als auch die Verminderung der Gefähr- Komponenten wichtig sind und z. B. die Kennt- 18
dungen durch die Umwelt, was dann wieder die nis der Zugrichtung vererbt wird. Waldvögel, die
Evolution eines verzögerten Alterns begünstigt. in Steppenumgebung aufgezogen worden waren, 19
bevorzugten für die nächste Brut Steppengelände.
Wahrscheinlich gibt es Faktoren, die eine „kulturelle
Evolution“ beschleunigen könnten, z. B. Selektion
20
532 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

von Intelligenz, Bottle-neck(„Flaschenhals“)-Situati- Leistungskurven von Schimpansen und Menschen


onen unter schwierigen klimatischen Bedingungen (Versuchspersonen waren Studenten).
und die Fähigkeit, planend die Schwankungen der Es taucht nun die Frage auf, warum es erst
Umweltbedingungen auszugleichen, z. B. durch An- beim modernen Menschen zu der rasanten Kul-
legen von Vorräten. turentwicklung kommen konnte, obwohl die
Grundlagen für den geistigen Aufstieg schon rela-
tiv lange vorhanden sind. Verantwortlich sind vor
5.10.1 Lernen, Intellekt, Erinnerung allem die quantitative Steigerung der cerebralen
Anlagen und die Ausweitung seines Eigenbesitzes
Dass Tiere lernen können, ist allgemein bekannt. der Vokal-, Wort- und Begriffssprache durch die
Bienen können beispielsweise auf Farben dressiert Erinnerung.
werden: Wenn längere Zeit auf gelben Untergrund Das Gedachte enthält zwei Komponenten:
Futter gegeben wurde, fliegen sie bald „gelb“ an, Wiedererkennen und Erinnerung. Unter Wieder-
auch wenn dort kein Futter steht. Sie haben also die erkennen verstehen wir, dass ein früher gesehe-
Assoziation „gelb = Futter“ vollzogen, oder allge- ner Gegenstand, eine Person oder eine Landschaft
meiner: „wenn a, dann b“. erkannt werden, wenn man sie wieder sieht. Eine
Intellekt ist eine höhere Stufe: hier wird aus den solche Leistung ist bei Tieren intensiv ausgeprägt
Eigenschaften von Dingen auf ihre Verwendbarkeit und weit verbreitet. Argos, der Hund des Odysseus,
geschlossen. Die Dinge können dann als Mittel für erkennt seinen Herrn bei dessen Rückkehr. Die
die Erreichung eines Ziels eingesetzt werden. Au- Erinnerung gestattet es uns, abwesende Menschen
ßerdem können die Eigenschaften komplexer Dinge und vergangene Erlebnisse uns in Gedanken vor-
aus den Merkmalen der Einzelteile verstanden wer- zustellen. Man hat bei Affen das Erinnerungsver-
den. Hier gilt „weil a, so b“. Nach dem Prinzip „wenn mögen durch aufgeschobene Handlungen geprüft
a, dann b“ geben wir Wettervorhersagen, nach dem und festgestellt, dass es sehr kurz ist. Die Tiere le-
Prinzip „weil a, so b“ bauen wir Brücken und Ma- ben also fast nur in der Gegenwart wie wir wohl
schinen. als Kleinkinder. Boesch (2009) beobachtete aber an
Dass Intellekt in diesem Sinne bei Menschenaf- wildlebenden Schimpansen Verhaltensweisen, die
fen vorhanden ist, wissen wir. Er ist weit verbreitet klar darauf hindeuten, dass sie sich sowohl an Ver-
und vereint sich beim Schimpansen mit technischer gangenes erinnern als auch Zukünftiges bedenken
Begabung. Einige Beispiele der frühen Untersuchun- können. Bei erwachsenen Menschen reichen aber
gen von Bernhard Rensch (1900 bis 1990) mögen die Erinnerungen bis ins dritte oder vierte Lebens-
das verdeutlichen: Ein Schimpanse musste, um zur jahr zurück. Von diesem Zeitpunkt an beginnt der
Nahrung zu gelangen, eine Reihe von Schlössern auf- Aufbau der bewussten Persönlichkeit. Die Sprache
schließen und wählte jeweils den richtigen Schlüssel gestattet, Erlebnisse und Gedanken anderen Men-
für das entsprechende Schloss. Ein Schimpanse sollte schen mitzuteilen und so ein geistiges Kontinuum
aus einem Labyrinth eine Kugel zu dem einzigen zu schaffen. Seit Erfindung von Schrift und Druck
Ausgang führen. Nach jedem Versuch wurde ein an- legen wir ein Depot von Gedanken, Untersuchun-
deres Labyrinth geboten. Der Schimpanse probierte gen und Entdeckungen an, das ein riesiges Mensch-
nicht durch Versuch und Irrtum, sondern betrach- heitsgedächtnis darstellt und den sukzessiven kultu-
tete das Labyrinth und fand gedanklich die richtige rellen Aufbau der Menschheit gestattet.
Lösung. Bei diesem Intelligenztest überschnitten sich
5.10  •  Die geistig-kulturelle Sonderstellung des Menschen 533

5.10.2 Evolutionäre
Erkenntnistheorie 1
  EXKURS 5.11   2
Evolutionäre Erkenntnistheorie
Gerhard Vollmer (Neuburg/Donau)
3
Einführung auch einen philosophischen Naturalismus, um den
In Darwins Hauptwerk „Vom Ursprung der Arten“ es uns hier geht. Wir verstehen ihn als eine natur-
4
(1859) findet sich über die Evolution des Menschen philosophisch-anthropologische Auffassung, nach
nur ein einziger Satz: „Viel Licht wird fallen auf den der es überall in der Welt mit rechten Dingen zugeht. 5
Ursprung des Menschen und seine Geschichte.“ Erst Er zeichnet sich also durch zwei Merkmale aus:
zwölf Jahre später veröffentlicht er „Die Abstam-
mung des Menschen“. Es war ihm aber von vorn-
durch seinen universellen Anspruch („überall“) und
durch die Beschränkung der Mittel, die zur Beschrei-
6
herein klar, dass er den Menschen in seine Theorie bung und Erklärung der Welt zugelassen werden
einbeziehen musste. Und zwar den ganzen Men- („mit rechten Dingen“). Für den Naturalisten gibt 7
schen einschließlich seines Verhaltens und seiner es keine übernatürlichen Instanzen, insbesondere
geistigen, intellektuellen, sozialen und moralischen keine göttlichen Eingriffe in das Weltgeschehen, 8
Fähigkeiten. Sein Kollege und Konkurrent Alfred R. keine Wunder, keine Zauberei, keine echten para-
Wallace vertrat dagegen die Meinung, die Entste- psychologischen Erscheinungen, keine Seele, die
hung des Lebens, des Bewusstseins und unserer vom Geist verschieden oder gar unsterblich wäre,
9
geistigen Fähigkeiten seien göttlichen Eingriffen keinen Dualismus von Materie und Geist, keine
zu verdanken. Mit den genannten Fähigkeiten hat Willensfreiheit im traditionellen Sinne (nämlich im 10
sich auch die Philosophie seit Jahrhunderten be- Sinne des Alternativismus, nach dem ich, wenn ich
schäftigt. Die Evolutionstheorie hat diesen philoso-
phischen Disziplinen neue Denkanstöße gegeben,
eine Handlung ausgeführt habe, angeblich auch
11
anders hätte handeln können). Die Entscheidung
einige ihrer Fragen beantwortet und neue Fragen des Naturalisten, sich auf die prüfbaren oder we-
entstehen lassen. So gibt es nun eine Evolutionäre nigstens kritisierbaren Mittel der Erfahrungswis- 12
(philosophische) Anthropologie, eine Evolutionäre senschaften zu beschränken, erfolgt nicht dogma-
Ästhetik, eine Evolutionäre Erkenntnistheorie, eine tisch, sondern zieht Konsequenzen aus zweieinhalb 13
Evolutionäre Ethik, eine Evolutionäre Philosophie Jahrtausenden Wissenschaft und Philosophie, die
des Geistes. Im Folgenden beschäftigen wir uns
mit der Evolutionären Erkenntnistheorie, der Be-
schließlich zu einem wechselseitigen Abgleich
sinnvoller Fragen, zielführender Methoden und
14
deutung der Evolutionsbiologie für die Ethik ist Ab- verlässlicher Antworten geführt haben.
schn. 5.10.3 gewidmet.) Alle geistigen Leistungen – Wahrnehmen, 15
Alle evolutionären Disziplinen sind – wie die Erfahren, Gedächtnis, Bewusstsein und Selbstbe-
Evolutionstheorie selbst – naturalistisch orientiert.
Was heißt das? Von Naturalismus spricht man in
wusstsein, Sprechen, Denken, Schließen, Fragen, 16
Erkennen, Erklären und Begründen, Vorstellen,
vielen Gebieten: in der Naturphilosophie, in der Erinnern, Überlegen, Kreativität, moralisches Er-
Ethik, in der Kunst, in der Theologie. Im Englischen wägen, ästhetisches Urteilen – sind Funktionen 17
hat naturalist eine ältere und eine jüngere Bedeu- unseres Gehirns. Und das menschliche Gehirn ist
tung. Ursprünglich war ein naturalist einfach ein – für Biologen ist das nahezu selbstverständlich – 18
Naturforscher, und so heißt Darwins Reisebericht „A ein Ergebnis der biologischen Evolution. Wird die
naturalist’s voyage round the world“ im Deutschen
auch nur „Reise eines Naturforschers um die Welt“.
Evolution in dieser Weise anerkannt, so spricht man
auch von Evolutionärem Naturalismus. Der philo-
19
Es gibt aber – im Englischen wie im Deutschen – sophische Naturalismus steht damit im Gegensatz
20
7
534 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.11 (Fortsetzung) 
zu zahlreichen philosophischen und religiösen erfahrungswissenschaftlichen Ansatz, bei dem al-
Richtungen, u. a. zu Idealismus, Spiritualismus, lerdings vieles spekulativ bleibt.
Apriorismus, Positivismus, Konstruktivismus, aber Für die Evolutionäre Erkenntnistheorie sind sol-
auch zu den meisten Religionen und ihren Theolo- che Befunde höchst aufschlussreich. Aber sie geht
gien, insbesondere natürlich zu Kreationismus und noch darüber hinaus. Sie betreibt nicht nur kogni-
intelligent design. tive Archäologie, sondern sie fragt auch, inwieweit
solche Erkenntnisansprüche berechtigt sind. In der
Evolutionäre Erkenntnistheorie traditionellen (Kantischen) Terminologie geht es ihr
Die Hauptfrage der Evolutionären Erkenntnis- nicht nur um die Frage „Quid facti? Was ist der Fall?“,
theorie lautet: Wieso können wir die Welt erken- sondern auch um die Frage „Quid juris? Wie weit
nen? Bei dieser Frage setzen wir offenbar voraus, (sind diese Ansprüche) berechtigt?“ Gerade des-
dass es eine und nur eine Welt gibt, dass wir sie halb erhebt sie den Anspruch, auch Erkenntnisthe-
einigermaßen erkennen und uns intersubjektiv da- orie im philosophischen Sinne zu sein. Was sie aus-
rüber verständigen können und dass es für all das zeichnet und was ihr das Beiwort „evolutionär“
eine Erklärung gibt. eingebracht hat, ist die Tatsache, dass sie die biolo-
Was wir nicht voraussetzen, ist die Möglichkeit gische Evolution wesentlich einbezieht.
sicheren Wissens. Menschliches Wissen, auch wis- Die Befunde, die für die Beantwortung heran-
senschaftliches Wissen, ist nicht beweisbar, son- gezogen werden, entstammen mehreren Wissen-
dern vorläufig, fehlbar, unvollständig und unab- schaften: Anthropologie, Biologie, insbesondere
schließbar; es ist aber die höchste Form von Wissen, Sinnesphysiologie, Neurowissenschaften, verglei-
die wir haben. Philosophen haben sich immer wie- chende Verhaltensforschung, Genetik, Evolutions-
der bemüht, Wege zu sicherem Wissen aufzuweisen theorie, Sprachwissenschaft, Psychologie, insbe-
– vergeblich. Viele haben deshalb die Suche nach sondere Entwicklungs- und Kognitionspsychologie.
sicherem Wissen aufgegeben: Skeptiker schon seit Um Missverständnissen vorzubeugen, sei be-
dem Altertum, Agnostiker, kritische Rationalisten, tont, dass die Genetische Erkenntnistheorie von
hypothetische Realisten, Naturalisten. Sie begnü- Jean Piaget (1896 bis 1980) mit der Evolutionären
gen sich mit prüfbarem und verlässlichem Wissen, Erkenntnistheorie zunächst einmal nichts zu tun
ohne auf Sicherheit zu hoffen. Auch die Evolutio- hat. Das Beiwort „genetisch“ kommt bei Piaget
näre Erkenntnistheorie macht gar nicht erst den nicht von „Genetik“, sondern von „Genese“. Dabei ist
Versuch, sicheres Wissen zu finden oder erklären; vor allem die Ontogenese gemeint. Es geht also um
vielmehr erklärt sie unsere Fähigkeit, unsicheres, die Frage, wie sich die Erkenntnisfähigkeit – nicht
aber immerhin brauchbares Wissen über die Welt in der Evolution, sondern – beim Individuum ent-
zu erlangen. wickelt. Das ist eine Frage der Entwicklungspsycho-
Während man früher nicht einmal hoffte, über logie. Mit fortschreitendem Erkenntnisstand ist es
die kognitiven Fähigkeiten des Urmenschen viel aber ganz normal und sogar wünschenswert, dass
herausfinden zu können, gibt es neuerdings so- unsere Einsichten über Evolution und Entwicklung
gar eine kognitive Archäologie. Den Begriff hat einander ergänzen und befruchten.
der englische Archäologe Colin Renfrew (*1937)
in den 1980er Jahren geprägt; er gilt als Vater die- Passungen
ser Disziplin. An steinzeitlichen Werkzeugen und Wieso also können wir die Welt erkennen? Traditi-
Kultgegenständen, an Bestattungsriten und Höh- onelle Erkenntnistheorien sind sich einig, dass zur
lenmalereien versucht man die Ursprünge des Erkenntnis subjektive und objektive Elemente bei-
Denkens und Erkennens zu erkunden. So schwierig tragen, wobei die jeweiligen Anteile unterschied-
es sein mag, über das Denken und Erkennen des lich eingeschätzt werden. Damit diese Strukturen
prähistorischen Menschen etwas herauszufinden, zusammen Erkenntnis ermöglichen, müssen sie
so handelt es sich dabei doch um einen im Prinzip aufeinander passen. Wer Erkenntnisansprüche
7
5.10  •  Die geistig-kulturelle Sonderstellung des Menschen 535

 EXKURS 5.11 (Fortsetzung) 
erhebt, muss also zugleich solche Passungen be- Für Passungen einen Schöpfer verantwortlich 1
haupten. Sie sind aber leicht nachzuweisen, am zu machen, ist bequem und deshalb historisch sehr
leichtesten für unsere Sinnesorgane und damit für beliebt; denn diese Antwort ist immer möglich und 2
die Wahrnehmung, aber auch für unsere Fähigkeit nie widerlegbar. Mit einem Schöpfer kann man alles
und für unsere Art und Weise, Erfahrungen zu ma- erklären, sogar Hässliches, Tragisches, Übles. Wir
chen. Hierfür einige Beispiele: haben jedoch keine Chance, diese Antwort – selbst
3
Wir sehen, hören und fühlen räumlich dreidi- wenn sie falsch ist – als falsch zu erkennen. Der Er-
mensional und können uns dreidimensionale Ob- klärungswert der Schöpfer-Hypothese ist also hoch, 4
jekte vorstellen. Und wir lernen von den Physikern, geradezu universell; ihre Prüfbarkeit ist dagegen
dass unsere makroskopische Welt tatsächlich drei
räumliche Dimensionen hat. – Wir erleben die Welt
verschwindend gering. Unter rationalen, insbeson-
dere unter wissenschaftstheoretischen Aspekten
5
zeitlich geordnet. In der Regel sind die Vorgänge wird sie deshalb nicht als zulässig angesehen. Damit
auch nicht umkehrbar; sie tragen einen „Zeitpfeil“. sind auch Kreationismus und intelligent design aus- 6
Die Physik bestätigt dieses Erleben, wozu sie vor geschlossen.
allem auf den zweiten Hauptsatz der Thermodyna- Den Zufall können wir dagegen nie ganz aus- 7
mik, den Entropievermehrungssatz, zurückgreift. – schließen. In vielen Fällen sind wir sogar überzeugt,
Wir finden, dass auf ein Ereignis U häufig oder sogar dass es sich um Zufall handelt. Dass zum Beispiel bei
ausnahmslos ein Ereignis W folgt, sehen dort nicht einer Sonnenfinsternis der Mond die Sonne genau
8
nur eine regelmäßige Abfolge, sondern einen kau- abdeckt, also auf die Sonne „passt“, ist Zufall. Am
salen Zusammenhang und sprechen deshalb von häufigsten treffen wir auf relativen Zufall, auf das 9
Ursache und Wirkung. Und die Erfahrungswissen- Zusammentreffen vorher unverbundener Kausal-
schaften lehren uns, dass in den meisten derartigen
Fällen tatsächlich eine empirisch nachweisbare Be-
ketten. In der Quantenwelt gibt es aber auch abso-
luten Zufall beim Auftreten einer neuen Weltlinie,
10
ziehung vorliegt, nämlich ein Energieübertrag, der etwa beim Zerfall eines Neutrons oder eines radio-
in der Regel von der Ursache zur Wirkung erfolgt. aktiven Atomkerns. Dass aber alles, was wir vorfin- 11
– Wir gehen von Erfahrungen in der Vergangenheit den, reiner Zufall wäre, wird niemand behaupten.
zu Erwartungen an die Zukunft über (und nennen In der Biologie stoßen wir auf besonders viele 12
das Induktion). Mit diesen Erwartungen sind wir Passungen, die wir meist unter dem Gesichtspunkt
sehr oft erfolgreich. Wir rechnen also mit Regelmä- der Zweckmäßigkeit verbuchen, und haben dafür
ßigkeiten und finden sie auch. seit Darwin befriedigende evolutionäre Erklärun-
13
Wie kommt es zu diesen Passungen? Wie gen. Dieses Erklärungsmuster benützen wir nun
kommt es, dass unser Auge gerade dort empfind- auch für unsere kognitiven Fähigkeiten. Die zu- 14
lich ist, wo die Sonnenstrahlung ihr Intensitätsma- gehörige Theorie ist die Evolutionäre Erkenntnis-
ximum hat und die Erdatmosphäre durchlässig ist,
wo es also etwas zu sehen gibt? Wie kommt es, dass
theorie. Diese Bezeichnung wurde 1970 von dem
Psychologen Donald T. Campbell eingeführt. Der
15
unser Auge dem Gehirn erst dann ein Signal liefert, Vater der Evolutionären Erkenntnistheorie ist je-
wenn mindestens 50 Lichtquanten die Zellen der doch Konrad Lorenz (1903 bis 1989), Mitbegründer 16
Retina erregt haben, so dass das unregelmäßige der vergleichenden Verhaltensforschung – wobei es
und informationslose Rauschen des Photonen- noch zahlreiche Großväter gibt, etwa den Physiker 17
stroms nicht wahrgenommen wird? Wie kommt Ludwig Boltzmann (1844 bis 1906), deren Gedan-
es, dass wir sehr schwache Geräusche hören, das ken allerdings wenig Beachtung fanden.
Rauschen des Blutstroms und Knochenbewegun-
18
gen – die uns ja auch gar nichts sagen – dagegen Hauptthesen
nicht mehr? – Auf solche Fragen gibt es traditionell Die Hauptthesen der Evolutionären Erkenntnistheo- 19
zahlreiche Antworten, von denen wir hier nur drei rie lauten also: Denken und Erkennen sind Leistun-
gen des menschlichen Gehirns, und dieses Gehirn
nennen: Schöpfung, Zufall, Evolution.
20
7
536 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.11 (Fortsetzung) 
ist in der biologischen Evolution entstanden. Unsere können sich in andere Personen hineinversetzen
kognitiven Strukturen passen (wenigstens teilweise) (Schimpansen übrigens auch), können Ursachen
auf die Welt, weil sie sich stammesgeschichtlich in und Wirkungen verknüpfen, stellen Vermutungen
Anpassung an diese reale Welt herausgebildet ha- auf, probieren gezielt etwas aus, verarbeiten statis-
ben und weil sie sich auch bei jedem Einzelwesen tische Muster. Sie verarbeiten auch ungewohnte
mit der Umwelt erfolgreich auseinandersetzen müs- oder vorgetäuschte Effekte, zum Beispiel Fernwir-
sen. Der Biologe George Gaylord Simpson (1902 bis kungen; daher wohl das ungeheure, geradezu be-
1984) formuliert es kurz, aber treffend: „Der Affe, der sessene Interesse kleiner Kinder für Fernbedienun-
keine realistische Wahrnehmung von dem Ast hatte, gen! Unser Erkenntnisvermögen hat also eine
nach dem er sprang, war bald ein toter Affe – und ausgeprägte genetische Verankerung.
gehört daher nicht zu unseren Urahnen.“ Unsere Im Hinblick auf diese kognitiven Fähigkeiten
vergleichsweise gute räumliche Wahrnehmung ver- ist der Menschen – mindestens dem Grad nach –
danken wir also unseren baumbewohnenden greif- allen anderen Lebewesen überlegen, auch seinen
kletternden Vorfahren. nächsten Verwandten. Sie müssen entstanden sein,
So können wir auch andere kognitive Leistun- nachdem sich die Stammeslinie des Menschen von
gen evolutionär erklären. Da kognitive Fähigkeiten denen der Menschenaffen getrennt hatte, also in
nicht fossilieren und auch nicht an fossilen Kno- wenigen Millionen Jahren. Offenbar stand auf der
chen abgelesen werden können, ist das meistens Ausbildung dieses Erkenntnisvermögens ein star-
nur über den Artvergleich möglich. Besonders be- ker Selektionsdruck.
friedigend sind die Fälle, in denen wir die gesamte Aber warum ist unser Erkenntnisvermögen
Stammesgeschichte eines Organs oder einer Fä- dann nicht noch besser? Warum können wir uns
higkeit rekonstruieren können, beispielsweise die vieles nicht merken? Warum können wir unsere
Entstehung des Linsenauges oder des Innenohres. Aufmerksamkeit immer nur auf einen Gegen-
Eine Erklärung über die Evolution kann nur stand richten? Warum passieren uns so viele Fehl-
greifen, wenn die fraglichen Merkmale – hier die Er- schlüsse? Warum haben wir kein Gefühl für das
kenntnisfähigkeit – vererbt werden. Der Nachweis, überexponentielle Wachstum der Erdbevölkerung?
dass bestimmte Fähigkeiten angeboren, genauer: Warum scheitern wir beim Umgang mit vernetzten
genetisch bedingt sind, ist allerdings schwierig. Systemen? Warum haben wir so wenig Einsicht in
Denn wenn sich eine Fähigkeit nicht schon bei Ge- Systeme mit positiver Rückkopplung? Warum sind
burt zeigt, sondern erst nach einigen Monaten oder wir intuitiv allenfalls zu linearer Extrapolation fä-
Jahren heranreift, so kann man immer behaupten, hig? Warum erwarten wir beim Glücksspiel eine
sie sei erst während dieser Zeit entstanden, also in- Art ausgleichender Gerechtigkeit? Warum werden
dividuell erworben. Und da gerade der Nachweis wir mit Zufallsereignissen so schwer einig? Warum
kognitiver Fähigkeiten vielfach auf die Sprache bestehen zwischen objektiven und subjektiven
angewiesen ist, vergehen leicht Jahre, bis eine ge- Entscheidungskriterien oft so große Unterschiede?
nügend differenzierte Sprache zur Verfügung steht, Warum können wir uns nicht-euklidische Räume,
über die dann Fähigkeiten erkennbar werden oder vierdimensionale Würfel, einen endlichen, aber un-
abgefragt werden können. begrenzten Kosmos oder absolut zufällige Ereig-
Zum Glück jedoch lassen sich einige Fähigkei- nisse nicht vorstellen? Warum schätzen wir Risiken
ten wenigstens so früh nachweisen, dass ein indi- so oft falsch ein? Warum also sind wir nicht noch
vidueller Erwerb ausgeschlossen werden kann. schlauer, als wir schon sind?
Schon recht früh können Kinder Farben sehen, Ge- Auch hier ist die Antwort einfach: Biologische
sichter erkennen, Entfernungen einschätzen, Tiefen Anpassung ist nie ideal – und unser Erkenntnisver-
erkennen und vermeiden. Weitere vermutlich ge- mögen natürlich auch nicht. Für evolutiven Erfolg
netisch bedingte Fähigkeiten sind gerade in jüngs- maßgebend ist nicht pure Qualität, sondern ein
ter Zeit vermehrt nachgewiesen worden: Kinder vertretbares Kosten-Nutzen-Verhältnis. Es geht also
7
5.10  •  Die geistig-kulturelle Sonderstellung des Menschen 537

 EXKURS 5.11 (Fortsetzung) 
nicht darum, die bestmögliche Lösung zu finden, Größenordnung, gehören aber nicht zum Meso- 1
sondern nur besser zu sein als die Konkurrenz. Da- kosmos, da wir für sie keine Sinnesorgane haben.
bei ist freilich nicht nur an zwischenartliche, son- Dagegen sind elektromagnetische Wellen im 2
dern auch an innerartliche Konkurrenz zu denken. sichtbaren Bereich, also mit einer Wellenlänge von
Hat man Fehlleistungen einmal als solche erkannt 380–760 nm und bei ausreichender Intensität, für
und ihr Entstehen erklärt, dann ist es leichter, sich uns zugänglich; wir sehen sie allerdings weder als
3
Gegenmaßnahmen auszudenken und die Zahl der Wellen noch als Teilchen, sondern einfach als Licht
Fehlleistungen zu verringern. und unterscheiden sie anhand der Farbeindrücke, 4
So kann die Evolutionäre Erkenntnistheorie die sie bei uns auslösen. Alle anderen Wellenlän-
nicht nur die Leistungen, sondern auch die Fehlleis- gen sind für uns unsichtbar, unhörbar, unfühlbar
5
tungen unseres Gehirns erklären. – selbst wenn wir von ultraviolettem Licht Sonnen-
brand bekommen, werden wir doch die Haut nicht
Unsere kognitive Nische, der Mesokosmos als Sinnesorgan ansehen und UV-Licht nicht dem 6
Die ökologische Nische eines Organismus ist jener Mesokosmos zuordnen. Da andere Lebewesen an-
Ausschnitt der realen Welt, auf den er in seiner Le-
bensweise zugeschnitten oder geprägt ist. Analog
dere kognitive Nischen haben, ist Mesokosmos ein 7
durchaus anthropozentrischer Begriff.
definieren wir die kognitive Nische eines Tieres als
jenen Ausschnitt der realen Welt, an den es sich ko-
Im Mesokosmos finden wir uns zurecht. In die-
sen Dimensionen sind unsere Wahrnehmungs- und
8
gnitiv, also wahrnehmend, erfahrend, erkennend Erfahrungsstrukturen tauglich, unsere Intuitionen
und handelnd angepasst hat. brauchbar, unsere spontanen Urteile zuverlässig; 9
Die kognitive Nische des Menschen nennen sie passen auf diese Welt. Mesokosmische Verhält-
wir Mesokosmos. Er ist eine Welt der mittleren Di-
mensionen: mittlerer Entfernungen und Zeiten,
nisse können wir uns anschaulich vorstellen. Am 10
Mesokosmos wurden unsere kognitiven Strukturen
kleiner Geschwindigkeiten und Beschleunigun- erprobt und ausgelesen; an ihm haben sie sich be-
gen, kleiner Kräfte und Gewichte, mittlerer Tempe- währt. Überraschenderweise taugt unser Erkennt- 11
raturen, geringer Komplexität, linearer Kausalität nisvermögen aber für mehr.
und linearen Wachstums. Er reicht von Millimetern 12
(„Haaresbreite“) zu Kilometern (Tagesmarsch, Ho- Wissenschaft
rizont), von Zehntelsekunden (subjektives Zeit- Während Wahrnehmung und Erfahrung meso-
quant 1/16 Sekunde) zu Jahrzehnten (etwa unser kosmisch geprägt sind, vermag wissenschaftliche 13
Lebensalter), von Geschwindigkeit Null bis zu eini- Erkenntnis den Mesokosmos zu überschreiten.
gen Metern pro Sekunde (Stein oder Vogel), von Das geschieht in drei Richtungen: zum besonders 14
gleichförmiger Bewegung (Beschleunigung Null) Kleinen, zum besonders Großen und zum beson-
bis etwa 10 m/s2 (Erd- oder Sprinterbeschleuni-
gung), von Gramm zu Tonnen, vom Gefrier- bis
ders Komplizierten. Die Intuition lässt uns dabei
erfahrungs- und erwartungsgemäß im Stich: Die
15
zum Siedepunkt des Wassers, von einfachen (iso- Verhältnisse etwa der Quantentheorie, der Rela-
lierten oder punktförmigen) zu linearen Systemen tivitätstheorie, der Theorie der Fraktale oder der 16
(mit kurzen, unverzweigten und rückkopplungs- Chaostheorie kann sich niemand richtig vorstellen.
freien Kausalketten). Die wichtigste Leiter für den Ausstieg aus dem 17
Der Mesokosmos ist also nicht einfach durch Mesokosmos ist die Sprache. Man kann die Spra-
seine räumliche Ausdehnung charakterisiert; von che nicht nur als Instrument der Verständigung,
„Dimensionen“ ist hier in einem deutlich erweiter- sondern auch als Denkzeug ansehen. Wie ein Werk- 18
ten Sinne die Rede. Deshalb ist der Mesokosmos zeug uns hilft, etwas zu bewirken, so hilft uns ein
auch nicht mit der makroskopischen Welt gleich- Denkzeug beim Denken. Weitere Denkzeuge sind 19
zusetzen. Elektrische und magnetische Felder wie Lesen und Schreiben, das Alphabet, Zählen und
das Erdmagnetfeld sind ja durchaus von mittlerer Rechnen, Mathematik, Kalender und Zeitrechnung,
20
7
538 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.11 (Fortsetzung) 
Algorithmen und Kalküle als Problemlösungsver- gegenstehen. Sie hat also sehr wohl forschungs-
fahren, Computer. strategische und didaktische Konsequenzen. Die-
Wissenschaft gibt es seit 2500  Jahren oder, ses Teilgebiet nennen wir auch Evolutionäre
wenn wir großzügig sind, seit Erfindung der Schrift, Wissenschaftstheorie.
also höchstens seit 5000 Jahren. Diese Zeit ist zu
kurz, um unsere Gene an die Bedürfnisse der Wis- Thematische Vernetzung
senschaft anzupassen. Hat uns die Evolution also Analog zum Mesokosmos, also zu unserer kog-
auf die Wissenschaft vorbereitet, obwohl es noch nitiven Nische, lässt sich auch ein sozialer Meso-
gar keine Wissenschaft gab? Hatte da doch ein kosmos einführen, an den wir in unserem Sozi-
Schöpfer seine Hand im Spiel? Nein! Die Evolution alverhalten angepasst sind. Über diesen sozialen
hat uns zahlreiche Fähigkeiten mitgegeben, von de- Mesokosmos kann uns die Soziobiologie aufklären
nen jede für sich nützlich war: lebenslange Neugier, und damit den Weg zu einer Evolutionären Ethik
Gedächtnis, Vergleichen, Verallgemeinern, Abstra- bahnen. Auch hier liegt es nahe, die ontogeneti-
hieren, Sprechen, Analogiedenken, Voraussicht. Es sche Entwicklung des moralischen Urteils beim
hat sich dann herausgestellt, dass diese Fähigkeiten Kinde daraufhin zu untersuchen, ob es dafür bio-
zusammen mehr leisten als das, wofür sie entstan- logische, genetische, phylogenetische, also letzt-
den sind. Unsere Fähigkeit zu Wissenschaft, also lich evolutionäre Wurzeln gibt. Solches Wissen ist
zu theoretischer Erkenntnis, ist eine Systemeigen- ebenfalls relevant für Fragen der Ethik.
schaft, die sich aus dem Zusammenspiel einzelner Mit dem Mesokosmos verwandt, wenn auch
Fähigkeiten ergibt. nicht identisch, ist das environment of evolutio-
Wissenschaftsgene gibt es also nicht. Es hat nary adaptedness (EEA), ein Begriff, den die Evolu-
deshalb auch keinen Sinn, die evolutionären Wur- tionäre Psychologie benützt und den John Tooby
zeln spezieller wissenschaftlicher Theorien, etwa und Leda Cosmides eingeführt haben. Es ist jene
der Relativitätstheorie, der Molekularbiologie oder Umwelt in unserer steinzeitlichen Vergangenheit,
der Evolutionstheorie ausgraben zu wollen. Im Ge- in der sich unsere Anpassungen entwickelt ha-
genteil: Viele Theorien widersprechen unserer Intu- ben. Dieses EEA umfasst nicht nur den kognitiven
ition, so dass wir Schwierigkeiten haben, sie aufzu- Bereich wie der Mesokosmos, auch nicht nur den
stellen oder zu verstehen! Die Evolutionäre sozialen Bereich wie der soziale Mesokosmos,
Erkenntnistheorie kann uns jedoch helfen, diese sondern alle Bereiche unseres Verhaltens, ist also
Schwierigkeiten zu erkennen und aus dem Wege zu wesentlich allgemeiner, dafür in einigen Fragen
räumen, die dem Verständnis von Wissenschaft ent- weniger spezifisch.

5.10.3 Ethik, Sittlichkeit, Moral gen heute die Begriffe Moral (morals) und mora-
lisch (moral). In der Philosophie wird „Ethik“ oft
In der Philosophie wird oft auf hohem und höchs- als Lehre von „Moral“ und „Sitten“, und Moral und
tem Niveau seit der Antike (Aristoteles, Platon, Sitten als Gegenstand des Faches „Ethik“ verstanden
Epiktet u. a.) und in neuerer Zeit (Thomas Hobbes, (Höffe 2007).
René Descartes, David Hume, insbesondere Imma- Hier geht es nur um den Versuch, einen evoluti-
nuel Kant u.v. a.) über Ethik nachgedacht. Im Deut- onären Aspekt im moralischen Verhalten, wie er uns
schen werden neben dem Begriff Ethik (aus dem täglich begegnet, zu schildern, und Einzigartiges der
Griechischen) auch die Begriffe Sittlichkeit und (höheren) Moral des Menschen zu umreißen.
Moral (aus dem Lateinischen) gebraucht, die ety- Charles Darwin sah die Tugenden als Voraus-
mologisch ungefähr dasselbe bedeuten und daher setzung dafür an, dass Menschen seit frühester Zeit
auch oft undiskriminiert nebeneinander gebraucht überhaupt in Verbänden zusammenleben können.
werden. Im Deutschen und im Englischen überwie- Er sah, dass solche Handlungsanweisungen oder
5.10  •  Die geistig-kulturelle Sonderstellung des Menschen 539

-verbote im Allgemeinen nur innerhalb eines Ver- greift und dass Altruismus ein wichtiger Selekti-
bandes gepflegt werden und dass sich eine kleine onsfaktor ist. 1
Gemeinschaft, in der bestimmte sittliche Gesetze Manche soziobiologisch orientierten Wissen-
gelten, stetig vergrößern kann und schließlich die schaftler gehen davon aus, dass für die Evolution 2
gesamte Menschheit umfassen könnte und sogar auf nicht das Schicksal des Individuums, sondern das
Tiere angewendet werden kann. Er war außerdem Überdauern der Gene durch die Generationsfolge
der Ansicht, dass das wesentliche Kriterium der zählt. Verhaltensprogramme, die Individuen, den 3
Sittlichkeit darin besteht, anderen Gutes zu tun. Er „Vehikeln“ der Gene (Richard Dawkins), zu mehr
vermutet, dass im Laufe der Menschheitsgeschichte erfolgreich aufgezogenen Nachkommen verhelfen, 4
mit Zunahme des Verstandes und der Erfahrung werden sich stärker ausbreiten als Konkurrenzpro-
schließlich das moralische Gefühl entstand. Er gramme. Da ein mehr oder minder ähnliches Erb-
vermutet sogar, dass ein Stamm mit vielen Mit- programm auch in anderen Individuen wie Eltern,
5
gliedern, die sich sittlichen Prinzipien unterwerfen Kindern, Geschwistern, Enkeln, Onkeln, Basen, Vet-
(einschließlich der Bereitschaft anderen zu helfen tern usw. steckt, sollte die natürliche Selektion im 6
und sich für das allgemeine Wohl zu opfern), einen Interesse der Gene nicht nur Verhaltensprogramme
positiven Selektionsfaktor in der natürlichen Aus- fördern, die dem Einzelindividuum zu mehr gesun- 7
lese besitzt. den Nachkommen verhelfen, sondern auch solche
Die zahlreichen Beiträge, die Evolutionsbiologen Verhaltensprogramme mit verstärkter Ausbreitung
in den letzten Jahrzehnten zum Thema Moral ge- belohnen, die den nächsten Verwandten zu höhe- 8
macht haben, haben den Blick für die Vielseitigkeit rem Reproduktionserfolg verhelfen. In Hinsicht auf
dieses Begriffes geschärft. Zufolge Konrad Lorenz Moral bedeutet dies, dass Verwandtenunterstützung 9
(1954) gibt es bei Tieren viele instinktive Antriebe (Nepotismus) eine zwangsläufige Konsequenz der
und Hemmungen, die analoge Funktionen zur „ra- Auffassung ist, dass die eigentlichen „Kontoinhaber“
tional-verantwortlichen Moral“ des Menschen ha- der Evolution nicht die Individuen – und schon gar
10
ben und die Lorenz daher Moral-analoges Verhalten nicht die Arten oder Populationen – sind, sondern
nennt. Daraus wird gefolgert, dass eine am Über- „Erbprogramme“, die ihr „Kapital“ auf möglichst 11
leben und an der Erhaltung der evolutiven Potenz viele „Firmenfilialen“ verteilen, die ihrerseits natür-
orientierte Ethik wünschenswert sei, was auch nor- lich kooperieren sollten (Vogel 1989a). Den Prozess 12
mativer Biologismus genannt wird. Die biologische der abgestuften Verwandtenunterstützung hat man
Art sei ein Superorganismus, der ständig optimiert auch kin selection (Verwandtenselektion) genannt
werden muss, und zwar im Sinne von „Gemeinnutz (Maynard-Smith 1964). In diesem Zusammenhang 13
geht vor Eigennutz“. „Natürliche Moral“ sei eine könnte Sprachen und Dialekten die Bedeutung zu-
„uneigennützige“, „gemeinschaftsdienliche“ Moral: kommen, genetische Verwandtschaften zu erkennen. 14
Es gebe eine natürliche art- und gemeinschaftsdien- Im Tierreich ist Verwandtenunterstützung weit
liche Selbstlosigkeit (Altruismus), die Natur soll dem verbreitet, und auf ihrer Basis kann auch altruisti-
Menschen als Richtschnur dienen. sches Verhalten entstehen. Es gibt Situationen (auch
15
Soziobiologische Ansätze gehen oft von der Be- beim Menschen), in denen verschiedene verwandte
obachtung altruistischen Verhaltens im Tierreich Einzelindividuen insgesamt weniger Nachwuchs 16
aus und wiederholen eine Frage Darwins, wie auf erfolgreich aufziehen können, als wenn einzelne
der Basis strikter Fortpflanzungskonkurrenz, also Familienmitglieder ganz oder zeitweise auf eigene 17
natürlicher Selektion, überhaupt kooperatives, ge- Kinder verzichten und aktiv bei der Aufzucht der
meinnütziges, vor allem aber „altruistisches“ Ver- Kinder ihrer Geschwister oder Eltern mithelfen. Re-
halten entstehen kann. Die natürliche Selektion gelmäßig ist das der Fall, z. B. bei manchen afrikani- 18
würde eigensüchtiges gegenüber altruistischem schen Brillenwürgern (Prionopidae) und manchen
Verhalten favorisieren; es würde automatisch eine Carnivoren, z. B. der Zwergmanguste (Helogale). 19
stetige und starke Kontraselektion gegen jene Tu- Demnach wird durch die natürliche Selektion
genden herrschen, die einer Gemeinschaft nützlich letztlich nicht die Maximierung der „persönlichen
sind. Heute wissen wir, dass diese Sicht zu kurz Fitness“, sondern die „Gesamtfitness“ (inclusive
20
540 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

fitness) gefördert. Die Lösung für Darwins oben Es ist jedoch plausibel anzunehmen, dass die
genannte Frage heißt demnach also kin selection. phänotypisch altruistischen Verhaltensweisen als
„Adaptiv“ ist, was der „Gesamtfitness“ dient. prämoralische Komponenten in das moralische
Genetischer Eigennutz geht also vor jedem art-, Verhalten des Menschen eingegangen sind. Der
populations- oder gesellschaftsumspannenden Ge- natürliche Adressatenkreis von kooperativem, ge-
meinnutz. Das Gebot einer auf dieser Selektions- genseitigem und altruistischem Verhalten ist ja
basis entstandenen natürlichen Moral müsste lau- typischerweise begrenzt, wobei es Verwandtenbe-
ten: „Hilf deinen Verwandten nach Maßgabe ihrer vorzugung und verlässliche Reziprokbeziehungen
genetischen Verwandtschaftsnähe zu dir, aber im sind, die üblicherweise die Auswahl begrenzen.
Zweifelsfalle allen weniger als dir selbst und deiner Ständig wird nach In-group- und Out-group-Krite-
eigenen Nachkommenschaft“ (Vogel 1989a, b). rien differenziert. Das, was man seit jeher gern als
Der Soziobiologe Robert Trivers (1971) stellte doppelte Moral bezeichnet, entspricht offensichtlich
dem altruistischen Verhalten im Rahmen der Ver- unseren natürlichen Verhaltenstendenzen. Es ist im-
wandtenselektion den reziproken Altruismus an mer wieder ernüchternd, feststellen zu müssen, wie
die Seite. Das Prinzip dieses Altruismus liegt darin, sich Menschen innerhalb ihrer Familie oder ihrer
dass die „Kosten“ des altruistischen Akteurs nicht Gruppe im Allgemeinen anständig, feinsinnig und
das Ausmaß seines „Gewinns“ übersteigen. Der au- hilfsbereit verhalten, außerhalb dagegen von empö-
genblickliche Nutznießer revanchiert sich oft sogar render Inhumanität sein können. Hilfsbereitschaft
später. Die Effizienz solcher Reziprok-Beziehungen und Solidarität werden sehr oft sorgfältig abgestuft.
ist am größten bei langer Lebensdauer der Partner In diesem Zusammenhang ist die Rolle des Gewis-
und bei längerem sozialen Zusammenleben bzw. sens fragwürdig.
langer Vertrautheit, also Bedingungen, die gerade Eine verantwortliche Moral (= Sittlichkeit) gibt
für Primaten und Menschen kennzeichnend sind. es offenbar nur beim Menschen. Mit ihr verbunden
D.R. Hofstadter hat hierfür das Motto geprägt: „Der ist die Freiheit von Willensentscheidungen, von der
wahre Egoist kooperiert“. Individualinteressen set- in letzter Zeit von einigen Neurobiologen (Roth
zen sich uneingeschränkt gegen Artinteressen 2003, 2004; Singer 2003, 2004) behauptet wurde,
durch. Neue „Haremschefs“ bei Hanuman-Langu- sie sei eine Illusion. Die Begründung für diese
ren töten Kinder des abgelösten Chefs. Auffassung konnte jedoch sowohl von philosophi-
Es gibt also in der Natur kein altruistisches scher (Habermas 2005; Höffe 2009) und auch von
Verhalten für ein übergeordnetes Gemeinschafts- neurowissenschaftlicher Seite (Zille 2004) als nicht
interesse, kein Moral-analoges Gebot zugunsten stichhaltig eingestuft werden. Für tägliches Leben,
von Gemeinnutz. Stattdessen existieren genetisch Rechtssystem, Pädagogik u.v. a. ist die grundsätz-
bedingter eigensüchtiger Nepotismus und auf den liche Annahme einer Willensfreiheit unabdingbar.
eigenen Vorteil bedachter reziproker Altruismus, Der Streit zwischen Freiheit und Determinismus ist
der z. T. langfristig angelegt ist. Liegt darin auch im Übrigen alt. Andererseits ist es plausibel anzu-
der Kern der menschlichen Moral und Ethik? Dann nehmen, dass Moral Wurzeln in der biologischen
hätte Edward Gibbon recht mit seiner Mahnung: Evolution hat, wo aber ihr eigentlicher Ursprung
Man traue keinem erhabenen Motiv für eine Hand- liegt, wissen wir nicht in allgemeinverbindlicher
lung, wenn sich auch ein niedriges finden lässt. Form. Nach Vogel (2000) bergen immer komplexere
Immerhin lässt die soziobiologische Argu- intellektuelle Fähigkeiten die Gefahr der Entstehung
mentation erkennen, warum und wie auf der Basis immer unberechenbarer werdender Freiheit und
natürlicher Selektion konform mit Darwins Evo- Willkür. Daher schützt sich die Gesellschaft durch
lutionstheorie altruistisches Verhalten entstehen Gebote und Verbote (Moral). Mit verantwortlicher
konnte. Moral sind bewusstes Handeln, Achtung vor dem
Der natürliche Evolutionsprozess zeichnet sich anderen, Anerkennung allgemeiner Gerechtigkeit,
durch absolute moralische Indifferenz aus und steht freie Entscheidung und die Fähigkeit, die Folgen des
außerhalb jeder moralischen Dimension (so schon Handelns abzusehen, gekoppelt. Weiterhin gehö-
Thomas Henry Huxley im Jahre 1888). ren dazu Wahrnehmung einer personalen Identität
5.10  •  Die geistig-kulturelle Sonderstellung des Menschen 541

über eine bestimmte Situation hinaus, das Vermö- relle Gruppen verschiedene ethische Normen ha-
gen, sich in eine andere Person hineinzuversetzen ben können und dass sich in überschaubaren his- 1
als Vorbedingung für Einfühlungsvermögen, und torischen Zeiträumen solche kulturell-ethischen
Mitleid, welche die zentralen Kriterien in vielen all- Normen ändern können, z. B. in Hinsicht auf Ei- 2
gemeinmenschlichen Definitionen für Altruismus gentumsrechte, Ehrlichkeit, Rechte der Frau und
sind. Eine verantwortliche Moral setzt dann auch sexuelle Freizügigkeit. Verschiedene soziale Schich-
allgemein verbindliche Verhaltensregeln und Wert- ten können durchaus unterschiedliche ethische 3
systeme, die bei Nichterfüllung zu Schuldgefühlen Normen haben. Komplexe Gesellschaften können
führen (Gewissen). Interessant ist, dass einzelne durch unterschiedliche ethische Normen konflikt- 4
Verhaltensforscher der Auffassung sind, dass es bei geladen sein, man denke an die Vorstellung zur
manchen Primaten, insbesondere bei Orang-Utan Rolle der Frau bei einem religiösen Fundamenta-
und Schimpanse Verhaltensweisen gibt, die Aus- listen und einem modernen großstädtischen West-
5
druck von Einfühlungsvermögen, Hilfsbereitschaft europäer. Dennoch sieht z. B. Höffe (2010), von
und sogar eines Schuldgefühls sind. Ethik und Gerechtigkeit ausgehend, einen Kanon 6
Ein besonders schwieriges Problem der Moral interkultureller Gemeinsamkeiten, der für die ge-
(und Ethik) liegt darin, dass verschiedene kultu- samte Menschheit gilt. 7
  EXKURS 5.12  
8
Die biologische Evolution von Religiosität
Eckart Voland (Gießen) 9
Bekanntlich hat Charles Darwin den Menschen
ausdrücklich in seine grandiose Theorie zur Ge-
tionäre Anthropologen in dieser Sache auch durch
die Beobachtung legitimiert, dass es unter den
10
schichte allen Lebens mit eingeschlossen und da- mehreren Tausend jemals beschriebenen mensch-
bei kein menschliches Merkmal ausgespart. Das lichen Kulturen keine einzige zu geben scheint, die 11
muss konsequenterweise auch für jene mensch- jemals ohne Religion ausgekommen wäre. Ganz of-
lichen Besonderheiten gelten, für die es auf den fensichtlich haben wir es mit einer transkulturellen 12
ersten Blick schwer fällt, eine Verbindung zu Pri- Universalie zu tun, die deshalb entstanden ist, weil
matenabstammung und Selektionstheorie zu er- interessierte und entsprechend eingerichtete Ge-
kennen, für Merkmale also, die – wie insbesondere hirne „immer schon“ Religion nachgefragt haben
13
Kunst und Religion – fest in der menschlichen Sym- und eine menschliche Symbolkultur diese Nach-
bolkultur verankert sind und biologische Funktio- frage befriedigt hat. Transkulturelle Universalien 14
nalität im Sinne von verbesserter Selbsterhaltung stehen allerdings aus guten Gründen im Verdacht,
und Reproduktion nicht nur nicht so ohne weiteres
erkennen lassen, sondern dieser nicht selten gera-
etwas mit der menschlichen Natur und deshalb
logischerweise auch etwas mit biologischer Evo-
15
dezu im Wege zu stehen scheinen. Motiviert durch lution zu tun zu haben. Aber wie könnte dieser
die Überzeugung, dass es auf Erden mit rechten Zusammenhang im Einzelnen aussehen? 16
Dingen zugeht und immer schon zugegangen Zunächst sollte Klarheit bezüglich der Frage
ist, werden Evolutionsbiologen vermeintliche Er- hergestellt werden, was eigentlich genau ein evo- 17
klärungslücken in der Darwin’schen Theorie nicht lutionärer Erklärungsanspruch im Blick haben kann.
akzeptieren, sondern stattdessen versuchen, auch Um dieses Problem klar zu fassen, hilft der Vergleich
diese, zugegebenermaßen weder theoretisch noch mit dem menschlichen Sprachvermögen. Unstrittig
18
empirisch einfach zu handhabenden Aspekte ist, dass Menschen während ihrer Stammesge-
menschlicher Lebensvollzüge evolutionstheore- schichte eine Sprachfähigkeit entwickelt haben, die 19
tisch zu fassen. Aber ganz abgesehen von dieser sich in der Ontogenese zur Sprachkompetenz jedes
ganz grundsätzlichen Erwägung fühlen sich evolu- Einzelnen manifestiert. In welcher kulturellen Ni-
20
7
542 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.12 (Fortsetzung) 
sche sich dieser Prozess vollzieht, das heißt welche schen Grenzen und sind deshalb sicherlich nicht
der über 5000 menschlichen Sprechsprachen tat- gesundheitsförderlich, und schließlich fordert die
sächlich gelernt wird, hängt vom Zufall der Geburt Binnenmoral religiöser Gemeinschaften ein Teilen
ab. Analog geschlossen auf Religion hieße dies, dass der mühsam erwirtschaften materiellen Güter. All
sich Religionsausübung aus drei Quellen speist: zu- dies scheint dem „Gen-egoistischen“ biologischen
nächst aus der Naturgeschichte, die der hier vorge- Imperativ nach bestmöglicher Selbsterhaltung und
stellten Hypothese zufolge die Religionsfähigkeit Reproduktion massiv im Wege zu stehen.
des Menschen, also seine mentale Fähigkeit, über- Interessanterweise stellt sich die Situation the-
haupt fromm werden zu können, hervorgebracht oretisch weniger sperrig dar, wenn man die Suche
hat. Dann aus der Ontogenese, in deren Verlauf nach der „einen großen Antwort“ aufgibt und statt-
komplizierte Entwicklungskaskaden darüber ent- dessen die Komponenten religiösen Verhaltens im
scheiden, in welchem Maße man den lokalen Glau- Einzelnen untersucht. In . Tab. 5.4 werden die ver-
ben verinnerlicht und schließlich aus der Kulturge- mutlich wichtigsten Komponenten zusammenge-
schichte, die der Frömmigkeit in einer von mehreren fasst und mit biologischer Funktion in Beziehung
Tausend Religionen eine konkrete Struktur verleiht. gesetzt.
Evolutionäre Anthropologen werden sich be- Die entwicklungs- und kognitionspsychologi-
sonders dem ersten Aspekt dieser Trias annehmen sche Forschung der letzten Jahre hat vielfältige
und der Frage nachgehen, wie man sich die evolu- kognitive Strategien beschrieben, mit denen Kin-
tionäre Entstehung der Religionsfähigkeit, für die der von Beginn an spontan die Welt zu verstehen
auch der Begriff der „Religiosität“ eingesetzt wird, suchen, ohne dass diese erst mühsam gelernt wer-
vorstellen könnte. Ihr methodischer Zugang folgt den müssten. Zu den wichtigsten dieser Strategien
dabei der in der Evolutionsbiologie vielfach bewähr- gehören beispielsweise ein dualistisches Denken,
ten analytischen Vorgehensweise: Um die Evolution was kategorisch zwischen physischen und menta-
eines biologischen Merkmals zu verstehen, muss len Prozessen unterscheidet und ferner ein finalis-
ein Anpassungsproblem identifiziert werden, auf tisches (teleologisches) Denken, das überall Funk-
das das in Frage stehende Merkmal eine adaptive tionen und Zwecke erkennt. Außerdem gehört ein
Antwort liefert. Worin bestand also – so lautet nun so genannter agency detection device dazu. Damit
die Frage – das adaptive Problem, dem unsere stam- ist eine spezielle Gehirnfunktion gemeint, mit de-
mesgeschichtlichen Vorfahren mit Konsequenzen ren Hilfe man schnell in der Lage ist, bei entspre-
für ihre reproduktive Fitness wiederholt ausgesetzt chenden Sinnesreizen auf Anwesenheit von Akteu-
waren, und auf das die natürliche Selektion mit der ren in der Umgebung zu schließen. Auch haben
Herausbildung von Religiosität geantwortet hat? Menschen das Bedürfnis, für alle ihre Beobachtun-
Auf den ersten Blick scheint eine Verbindung gen und Erfahrungen Kausalerklärungen zu finden,
zwischen Religiosität und Fitnessmaximierung auch für ein bloß zufälliges Zusammentreffen von
eher unwahrscheinlich bis absurd, denn wer es Ereignissen (need for closure). Das menschliche Ge-
ernst meint mit dem Glauben, geht je nach Rigidi- hirn kann deshalb gar nicht anders, als ständig Ge-
tät der religiösen Vorschriften mehr oder weniger schichten zu generieren, weshalb man in diesem
hohe Kosten ein. Er investiert unter Umständen viel Zusammenhang auch von einem kognitiven Impe-
Zeit in religiöse Praktiken, die ihm zur produktiven rativ sprechen kann: Rationalisieren, Konfabulieren
Meisterung des Alltags fehlt. Wer betet, kann nicht und Generalisieren sind dessen wesentliche Leis-
arbeiten und geht deshalb so genannte Opportu- tungen.
nitätskosten ein. Außerdem muss er mit Vitalitäts- Man braucht nicht viel Fantasie, um nachverfol-
einbußen rechnen, denn geforderte Initiationsri- gen zu können, wie diese kognitiven Strategien, die
ten, Selbstgeißelungen, Prozessionen, Sexual- und als biologische Grundeinstellungen des menschli-
Nahrungstabus und ähnliche Veranstaltungen chen Verstandes die Welt interpretieren, ganz spon-
gehen gelegentlich an die physischen und psychi- tan mentale Grundpfeiler religiöser Metaphysik
7
5.10  •  Die geistig-kulturelle Sonderstellung des Menschen 543

 EXKURS 5.12 (Fortsetzung) 
.. Tab. 5.4  Komponenten religiöser Praxis und ihre evolutionäre Verankerung 1
religiöse Praxis beteiligte Befunde biologische Funktion
Mechanis- 2
men

Kogni-
tion
Bevorratung
metaphysischer
kognitive
Grundein-
Der kognitive Apparat des Men-
schen produziert spontan religiöse
keine (religiöse Meta-
physik ist ein evolutio-
3
Grundüberzeu- stellungen Grundüberzeugungen. näres Nebenprodukt)
gungen 4
Spiritu- Mystik ? Mentale Zustände der besonderen Kontingenzbewälti-
alität Art wirken therapeutisch. gung
5
soziale Gemeinschafts- Bindungs- Religiöse Rituale überwinden Steigerung der Kon-
Bin- rituale system spontane Egozentrik zu Gunsten kurrenzfähigkeit nach
dung kollektivistischer Einstellungen außen 6
und sorgen für eine emotionale
und motivationale Synchronisa-
tion vor allem bei „schwierigen“ 7
Gemeinschaftsunternehmungen
wie Krieg oder Solidarität.
8
perso- Mythen Selbstbe- Mythen generieren als Teil des In-group-out-group-
nale wusstsein „Wir“ personale Identität und Unterscheidung
Identi- moralische und epistemische 9
tät Gewissheit über den Besitz von
letzter Wahrheit.
10
„ehr- Zeremonien, Handicap- „Ehrliche Signale“ (Handicaps) sind Kooperationsgewinne
liche Si- Tabus Prinzip fälschungssicher und schaffen durch Lösung des
gnale“ kommunikative Verlässlichkeit. „Schwarzfahrer-Pro- 11
blems“ erster Ordnung

Moral Gewissenhaf-
tigkeit
Gewissen Gottesfurcht steigert Normentreue
auch in Situationen ohne weltliche
Kooperationsgewinne
durch Lösung des
12
richterliche Instanz. „Schwarzfahrer-
Problems“ zweiter 13
Ordnung

hervorbringen: einen körperlosen Geist, umfas- lässt, wird sich in der Welt verirren, und wer bei- 14
sende Intention und finale Planmäßigkeit. In gewis- spielsweise bei Geräuschen im Wald oder in der
ser Weise sind Kinder deshalb intuitive Theisten Savanne erst eine distanzierte, kritisch abwägende, 15
und zum Glauben geboren, und deshalb besteht Fehler vermeidende Ursachenanalyse anstellt, an-
die intellektuelle Herausforderung nicht darin, ein statt spontan auf Raubtier oder Feind zu attribuie-
Glaubenssystem zu übernehmen – dies geschieht ren, könnte einen folgenschweren Fehler begehen.
16
im Regelfall spontan und anstrengungslos – son- Der schnelle, unreflektierte Schluss auf Anwesenheit
dern darin, sich dem als Rationalist zu widersetzen. von Akteuren hilft zu überleben, auch wenn er in der 17
Evolutionsbiologisch interessant ist an diesem Mehrzahl der Fälle in die Irre führt. Seine Kosten und
Befund, dass die kognitive Klaviatur des Menschen Nutzen sind dem Rauchmelderprinzip vergleichbar
18
wegen ihrer Fähigkeit evolviert ist, ganz pragma- asymmetrisch verteilt: Falsch negative Informations-
tisch alltägliche adaptive Lebensprobleme lösen zu verarbeitung (also eine Gefahr nicht zu erkennen)
helfen, also weil sie im Mittel biologische Nützlich- kann tödlich sein, während hingegen falsch positive 19
keit produziert. Wer kausale Erklärungslücken zu- (also ein Fehlalarm) nur nervig ist. Und nicht einmal
20
7
544 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

 EXKURS 5.12 (Fortsetzung) 
das, wenn häufiger Fehlalarm mit animistischen reichen Fertigwerden mit den Fährnissen und der
Überzeugungen – also mit Religion – kultiviert wird. Ungewissheit des Lebens, gehören. Beispielsweise
Animismus ist folglich konstruktive Leistung hat Spiritualität therapeutische Effekte, weshalb
eines Organs, das – wie alle anderen Organe auch Schamanismus, der Nutzen daraus zieht, sowohl
– wegen seiner adaptiven Nützlichkeit evolviert ist. am Anfang der Medizin- als auch der Religionsge-
Animismus und in Folge die sich weiter entwickeln- schichte steht. Aber auch in der Moderne zeigen
den Religionen kooptieren auch biologisch evol- einschlägige Statistiken immer wieder, wie im
vierte und deshalb weltlich nützlich Sozialtheorien. Glauben gefestigte Menschen besser als eher reli-
Ahnen, Geister und Götter haben Absichten und gionsferne mit Lebenskrisen fertig werden. Koope-
Bedürfnisse, sie können lieben und strafen, und des- rationsgewinne schließlich entstehen durch eine
halb trägt das Überirdische auch menschliche Züge. gruppenförderliche soziale Kohäsion, was sich in
Wäre es anders, könnten sich Menschen überhaupt einer Stärkung der Konkurrenzfähigkeit nach au-
kein Bild vom Jenseitigen machen. Götter sind also ßen und auch in vermehrter Solidarität nach innen
Menschen-gemacht, und Religionen gründen in ih- als Vorteil erweist.
rer Metaphysik deshalb auf Projektion. Zusammen- Angesichts dieser Befundsituation scheint die
fassend lässt sich festhalten, dass die kognitiven Hypothese wohl begründet, dass Religiosität, weil
Strategien des Menschen zwar evolutionär nützlich sie adaptive Funktionen erfüllt, dem biologischen
sind, aber auch Ergebnisse liefern, deretwegen sie Imperativ einer bestmöglichen reproduktiven Le-
nach allem, was man heute weiß, nicht evolviert sein bensbewältigung zuarbeitet und als Ergebnis einer
können. Evolutionstheoretisch stellt religiöse Meta- evolutionären Anpassungsgeschichte interpretiert
physik deshalb ein „Nebenprodukt“ dar. werden kann. Lediglich die Konstruktion religiöser
Den anderen Komponenten von Religiosität Metaphysik stellt sich indes als evolutionäres Ne-
– die Tabelle nennt Spiritualität, soziale Bindung, benprodukt dar, ist aber gleichwohl deshalb auch
personale Identität, „ehrliche Signale“ und Moral evolutionär interpretierbar. Aus alledem folgt, dass
– lassen sich hingegen klar darstellbare Funktio- die Grundannahme einer essentialistischen Sonder-
nen zuordnen, die in einer ersten Systematik zu rolle von Religion in einer ansonsten Darwin’schen
den beiden Bereichen „Kooperationsgewinne“ Welt nicht gerechtfertigt ist. Es bleibt dabei: Nichts
und „Kontingenzbewältigung“, also dem erfolg- fiel vom Himmel, auch nicht die Religiosität.

Der Behaviorismus ist der Ansicht, dass der sondere in der Kindheit, in der ein Mensch leicht
Mensch als tabula rasa zur Welt kommt und unser „Indoktrinationen“ akzeptiert. Dieser Tatbestand
ganzes – auch das moralische – Verhalten erlernt wurde und wird politisch immer wieder ausgenutzt.
wird. Die Soziobiologie glaubt eher an eine weitge- Heute ist eine verantwortlich-moralische Erziehung
hende genetische „Programmierung“. Die normale wichtiger denn je. Ein Kind nicht selbst zu erziehen
Erfahrung geht eher dahin, dass Vieles im Verhalten ist besonders gefährlich. Ein Heranwachsen ohne
durch Unterweisung vermittelt wird. Es gibt aber verantwortliche Normen birgt Gefahren auf vie-
eine angeborene Fähigkeit, Normen und Unter- len Feldern: Familie, Drogen, Gewalt, Verlust der
weisung aufzunehmen, wobei das Ausmaß dieser Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, unbegrenzte
Fähigkeit verschieden ist: es gibt offensichtlich von Fortpflanzung, Naturzerstörung usw.
vornherein „rücksichtslose“ oder „liebe“ Kinder In der heutigen Situation ist die Fähigkeit zu
– eine Erfahrung, die schon sehr einleuchtend im verantwortlichem Abwägen besonders wichtig
„Struwwelpeter“ des Frankfurter Kinderarztes Dr. geworden. Starre Normen helfen nicht mehr. Un-
Heinrich Hoffmann illustriert wurde. sere alt- und neutestamentarischen Ethiknormen
Das Verhaltensprogramm des Menschen ist beruhen auf ca. 3000 Jahre alten Erfahrungen von
relativ offen. Daher können in dieses Programm Hirtenvölkern. In Massengesellschaften und Riesen-
leicht ethische Normen eingebaut werden, insbe- städten müssen sie überdacht werden. Wesentliches
5.10  •  Die geistig-kulturelle Sonderstellung des Menschen 545

Anliegen muss v. a. die Bekämpfung der Überbe- 5.10.4 Evolutionäre Medizin
völkerung und eine ernstzunehmende Umwel- 1
tethik sein. Allerdings waren und sind die geistig Auch Gesundheit und Krankheit können „im
anspruchsvollen philosophischen Überlegungen zu Lichte der Evolution“ gesehen werden. Selektive 2
Moral und Ethik in der Antike (v. a. bei Aristoteles), evolutionäre Prozesse haben unser Genom sowie
in der Aufklärung (v. a. bei Kant) und in unserer unsere Anatomie, Physiologie und Biochemie
Zeit (z. B. bei Jaspers und Höffe) in ihrer Wirkung hervorgebracht. Damit verbunden sind jedoch 3
auf kleine Kreise beschränkt und haben auf große auch unsere Anfälligkeit für Krankheiten und die
gesellschaftliche Bewegungen kaum jemals Einfluss Effektivität von Behandlungsmethoden. Zudem 4
gehabt. spiegelt sich unsere evolutionäre Geschichte in
Eine verantwortliche Moral sollte universal unserer Individualentwicklung. Phänomene wie
menschlich sein, was nicht heißt, dass sich jeder- Halsfisteln und Weisheitszähne lassen sich plausi-
5
mann jederzeit uneingeschränkt nach ihr richtet. bel vor dem Hintergrund der Evolution erklären.
In Bruchstücken mögen Einzelelemente bei Schim- Schließlich sind wir das Produkt des Zusammen- 6
pansen andeutungsweise vorhanden sein, z. B. ein spiels von Genen und Umwelt. Dabei entsteht ein
gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit oder die Fä- Mosaik von alten und neuen Merkmalen. Manche 7
higkeit, die Folgen eigenen Tuns oder des Tuns von Merkmale haben sich langsam, manche schneller
Partnern abzusehen, vielleicht liegt bei ihnen auch entwickelt. Ein Merkmal, das sich schnell entwi-
personale Identität vor. Generell ist Tieren aber kein ckelt hat, und zwar seit Beginn der Entstehung von 8
moralisches Verhalten zuzuschreiben, sie handeln Milchviehzucht und Milchverzehr, ist die Laktose-
außermoralisch. Unser verantwortlich-moralisches toleranz bei Jugendlichen und Erwachsenen. Die 9
Bewusstsein lässt uns auch unser natürliches Ver- Laktoseintoleranz ist das viel ältere Merkmal. Lak-
halten mit prämoralischen Tendenzen (s. oben) er- tose (Milchzucker) ist ein Disaccharid und wird
kennen und bewerten. Ethik braucht keine evoluti- durch das Enzym Laktase in die Monosaccharide
10
onsbiologische Legitimation. Begriffe der Biologie Glucose und Galaktose gespalten. Nach der Säug-
wie „fit“ und „adaptiv“ dürfen nicht in moralische lingszeit lässt die Laktaseaktivität nach und kann 11
Wertvorteile wie „gut“ oder „richtig“ umgedeutet vollständig zum Erliegen kommen. Nimmt ein
werden. Mensch dann noch Milch zu sich – in unserer kul- 12
Abschließend sei ein berühmter Satz von Im- turellen Evolution die Milch von Rindern, Ziegen,
manuel Kant aus „Kritik der Praktischen Vernunft“ Schafen usw., kann die Laktose vom Menschen
zitiert, der auf die Einheit aller Phänomene der nicht mehr abgebaut werden, vielmehr erreicht 13
Natur – einschließlich des menschlichen Geistes sie den Dickdarm, wo Bakterien die Spaltung in
– hindeutet: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit kurzkettige Fettsäuren, Kohlendioxid und Was- 14
immer neuer und zunehmender Bewunderung und serstoff vornehmen. Blähungen, Bauchschmerzen
Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nach- und Durchfälle sind die Folge. In der kulturellen
denken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel Evolution des Menschen bestand ein starker Selek-
15
über mir und das moralische Gesetz in mir“. Der tionsdruck auf die Laktosetoleranz im Nachsäug-
„bestirnte Himmel“ steht für die Naturgesetze, die lingsalter. Mutierte Allele verbreiteten sich rasch 16
im vorliegenden Buch vor allem die Gesetze des Le- und sind heute in unterschiedlichen Regionen der
bens sind und das „moralische Gesetz“, das nicht im Erde unterschiedlich verteilt. In manchen Regio- 17
grundsätzlichen Widerspruch zu den Naturgesetzen nen Afrikas und Asiens haben annähernd 100 %
steht, ist essenzieller Antrieb des autonom handeln- der Jugendlichen und der Erwachsenen Probleme
den Menschen und verleiht ihm einen einzigartigen mit der Milchverdauung, die wenigsten Probleme 18
Wert im Kosmos. gibt es bei NW-Europäern.
Eine ganze Reihe von häufigen Krankheiten 19
in der „westlichen“ Welt bzw. bei „westlichem“ Le-
bensstil beruht auf dem abrupten Bruch zwischen
der seit einigen Millionen Jahren eingespielten und
20
546 Kapitel 5  •  Evolution des Menschen und seiner nächsten Verwandten, der nicht-humanen Primaten

der modernen Lebensweise. Es existiert ein krasses in Gebäuden oder sogar in unterirdischen Berei-
Missverhältnis zwischen der zumeist langsamen Ge- chen (modernen U-Bahnhaltestellen u. ä.) führen
schwindigkeit evolutiven Wandels und der rasanten dazu, dass die Haut nicht mehr genügend Vitamin
Geschwindigkeit im Wandel der heutigen Lebens- D bilden kann, dessen Synthese Sonnenlicht voraus-
weise, v. a. hinsichtlich der Ernährungsweise und setzt. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass bei
dem Ausmaß körperlicher Bewegung. Viele Krank- Kindern, die weitgehend nur noch vor Bildschir-
heiten und Leiden können sinnvoll behandelt wer- men sitzen, der Augenbulbus nicht physiologisch
den, wenn dieser Aspekt von der Medizin berück- wächst, so dass sie bald eine Brille brauchen. Für
sichtigt wird („evolutionäre Medizin“) und wenn das physiologische Wachsen des Bulbus ist normaler
moderne Fehlentwicklungen korrigiert werden Aufenthalt in vielfältiger Landschaft mit ständigem
sollen. Es ist sinnvoller, den Lebensstil den biologi- Wechsel von Nah- und Fernsicht erforderlich.
schen Organfunktionen und Stoffwechselleistungen Das Renin-Angiotensin-System (RAS) hat pri-
anzupassen, als lebenslang zu leiden. mär die Funktion, den Blutdruck auf alle Fälle
Ein Beispiel bietet die Übergewichtigkeit (Adi- aufrecht zu erhalten, das Blutvolumen konstant zu
positas). In einer Welt, in der das Nahrungsangebot halten und Wasserverlust zu vermeiden. Wasser und
wechselhaft ist, ist es sinnvoll und überlebenswich- Salze werden durch das RAS im Körper zurückge-
tig, dass der Organismus die Fähigkeit besitzt, Ener- halten und es verengt bei Volumenmangel insbe-
giereserven zu speichern. Fettzellen sind in der Lage sondere die Arterien vom muskulären Typ sowie die
solche überschüssige Energie in Form von Triglyze- Arteriolen. Dieser Mechanismus ist in der trocke-
riden zu speichern und bei Bedarf die gespeicherte nen und salzarmen Savanne sinnvoll, da hier u. a.
Energie in Form freier Fettsäuren wieder zu Ver- durch Hitze und Schweiß Wasser- und Salzverlust
fügung zu stellen. Dies physiologische System, das drohen. Bei der heutzutage salzreichen Ernährung
durch endokrine Faktoren und das vegetative Ner- ist das RAS in unphysiologischem Maß aktiviert,
vensystem geführt wird, erlaubt es dem Menschen wodurch z. B. der Blutdruck bei ca. 50 % der Bevöl-
mehrere Monate andauernde Hungerperioden zu kerung zu hoch ist.
überleben. Es hat sich über Jahrmillionen perfekt Eine andere Gruppe von Krankheiten zeigt noch
eingespielt und ist an eine mobile Lebensweise mit nicht vollständig abgeschlossene evolutive Prozesse
viel körperlicher Tätigkeit und intermittierend zu an; beim Menschen sind dies insbesondere Leiden
Verfügung stehender Nahrung angepasst. Diese und Krankheiten des Bewegungsapparates, die mit
Situation hat sich in vielen (vor allem westlichen) der Entstehung des aufrechten Ganges in Verbin-
Ländern geändert: Nahrung steht im Überfluss zu dung gebracht werden können.
Verfügung, der Lebensstil ist weitgehend sedentär, Wirbelsäule. Die spezielle Geschichte unserer
Kenntnisse über gesunde Ernährung sind nicht Wirbelsäule ist erst ca. 5–6 Mio. Jahre alt. In die-
mehr allgemein verbreitet; die Folge ist Adiposi- ser Zeit kam es beim Menschen zu spezifischen
tas, die ihrerseits im Gefolge hat: Insulinresistenz, Skelettveränderungen, die mit der Entstehung des
Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Hyperlipidämie, obligaten bipeden Ganges korreliert sind. Diese
Hyperandrogenität bei Frauen, übermäßige Fett- einschneidende Veränderung der Körperhaltung
ablagerung v. a. intraabdominell und im oberen und der Bewegung betrifft alle Bereiche des Bewe-
Körperbereich sowie vorzeitiger Gelenkverschleiß. gungsapparates und hat noch keine vollständige
Massenhafte Freisetzung der Fettsäuren in den Por- Stabilisierung erreicht: Noch relativ häufig finden
talkreislauf hat nachteilige Folgen für die Leber. wir Fehlentwicklungen des Hüftgelenkes und
Die Vitamin-D-Mangelerscheinungen (Ra- Fehlstellung des Kniegelenkes. Die Wirbelsäule
chitis) sind offensichtlich seit einigen Jahren dort hat eine doppelt S-förmige Gestalt angenommen,
wieder auf dem Vormarsch, wo Kinder nicht mehr die sich auch in der Individualentwicklung langsam
draußen spielen und nicht mehr ausreichend dem ausbildet. Eine mechanisch besonders heikle Stelle
Sonnenlicht ausgesetzt sind. Stetiges Kommunizie- ist der Übergang von Lenden- zu Sakralwirbelsäule;
ren per elektronischen Geräten, Fernsehen, Compu- hier ist beim Menschen ein deutlicher „Knick“, das
terspielen und andere anhaltende Beschäftigungen Promontorium, ausgebildet. Durch die Belastung
Literatur  •  Die geistig-kulturelle Sonderstellung des Menschen 547

durch zu hohes Körpergewicht und bei mangeln- Hyperhygienische Umwelt kann die Entwick-
dem Training der Rückenmuskulatur kann es hier lung des Abwehrsystems beeinträchtigen, was die 1
besonders leicht zu einem Bandscheibenvorfall Entstehung von Allergien und sogar von Leukämie
kommen. in der Kindheit fördern kann. 2
Fuß. Ein ganz besonderes morphologisches Bei allen Fragen nach den Ursachen von Krank-
Merkmal des Menschen ist sein Fuß, der das ganze heiten lohnt es sich, evolutionäre Aspekte in die
Gewicht des Körpers trägt. Sein v. a. auf der Innen- Überlegungen einzubeziehen. Das gilt auch für viele 3
seite ausgebildetes Längsgewölbe, sein Quergewölbe Krankheiten, die überwiegend erst im Alter auftre-
und seine spezielle Verspannung durch komplizierte ten, darunter auch manche Formen des Krebs. Ein 4
Bänder und Muskeln sind Anpassungen an die so hohes Alter, wie es moderne Menschen oft errei-
besonderen Anforderungen des Fußes. Dass hier chen, wurde in unserer evolutionären Geschichte
noch keine evolutionäre Stabilität erreicht ist, zei- bisher nicht oder nur ausnahmsweise erreicht. Ent-
5
gen recht häufige Fehlbildungen wie Plattfuß, Hohl- sprechende Krankheiten traten daher kaum auf und
fuß, Spreizfuß, Knickfuß, Plattknickfuß, Klumpfuß, es gab daher keine Mechanismen, die sich als Schutz 6
Spitzfuß u. a., die z. T. wohl mit genetisch bedingter vor ihnen entwickeln konnten.
Schwäche des Bindegewebes einhergehen. Die evolutionäre Betrachtung dieser und ande- 7
Ein weites Feld an Fragen bieten viele psychi- rer Krankheiten liefert zwar meist keine einfachen
sche Krankheiten des Menschen. Sie sind wahr- Antworten hinsichtlich der Therapie; es lohnt sich
scheinlich generell evolutiv nachteilig, u. U. sind sie aber, die evolutionäre Geschichte unseres Orga- 8
z. T. primär Warnsignale. Der hohe Leistungsdruck nismus in therapeutischen Überlegungen mit ein-
bei zunehmender Arbeitsverdichtung ist oft korre- zubeziehen. Es ist auch die Frage, ob ein Arzt mit 9
liert mit Depression, Angstsymptomen und über- evolutionsbiologischen Kenntnissen konkret eine
mäßiger Erschöpfung. Unser Stress-bewältigendes effektivere Therapie anbieten kann als ein Arzt
System (u. a. vegetatives Nervensystem und Neben- ohne solche spezielle Zusatzkenntnisse; aber einen
10
niere) ist gut an die Bewältigung kurzzeitiger Stress- hohen Erklärungswert können evolutionsbiologi-
situationen angepasst, aber weniger gut an chroni- sche Aspekte in der Medizin durchaus haben und 11
sche Belastungen und Überforderungen. sie vertiefen die wissenschaftlich-akademische Seite
Auch Infektionskrankheiten oder die Ausein- der Medizin, was insbesondere für das weite Feld 12
andersetzung zwischen der Abwehr des erkrankten der Prävention wichtig ist.
Organismus und den Krankheitserregern bietet ein
außerordentlich interessantes und spannendes evo- 13
lutionäres Schauspiel. Viele unserer Abwehrmecha- Literatur
nismen, insbesondere die der angeborenen Abwehr, 14
sind evolutionär uralt und finden sich z. B. auch bei AAPA (1996) Statement on biological aspects of race. Am
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Insekten und sogar Pflanzen. z. B. die Toll(oder
ähnliche)-Rezeptoren oder mikrobielle Peptide, z. B.
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die Defensine. Letztere bilden mehrere Untertypen, Argue D, Donlon D, Groves C, Wright R (2006) Homo
die gegen Gram-positive und Gram-negative Bak- floresiensis: Microcephalic, Pygmoid, Australopithecus, 16
terien und Pilze gerichtet sind. Gerade die Fragen or Homo? J Human Evol 51: 360–374
Asfaw B, White T, Lovejoy O, Latimer B, Simpson S, Suwa
„warum“ kommt es zu dieser Infektionskrankheit
G (1999) Australopithecus gahri: A new species of early 17
oder „warum nimmt sie diesen Verlauf “ sind vor hominid from Ethiopia. Science 284: 629–636
dem Hintergrund der Evolution besser zu verste- Bauer K, Schreiber A (1995) Tricky relatives: consecutive
hen. Vereinzelt können sogar Krankheiten einen dichotomous speciation of gorilla, chimpanzee and 18
evolutionären Vorteil bieten, z. B. die Sichelzellan- hominids testified by immunological determinants.
ämie in stark mit Malaria verseuchten Regionen. Naturwissenschaften 82: 517–520
Beja-Pereia A, Caramelli D, Lallueza-Fox C, Vernesi C,
19
Vermutet wird dies auch bei der Mukoviszidose, die Ferrand N, Casoli A et al. (2006): The origin of Euro-
u. U. einen Vorteil gegen Infektion mit Salmonellen
(Typhus) bietet.
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553

Stichwortverzeichnis

Allel-Häufigkeit 288 Anagenese 488
A Allelfrequenz  285, 288
Allelpolymorphismus 286
Analogie  68, 82
Anaphase 258
Aal  193, 368 Alliin 385 Anaspida 119
Abwehrmittel, chemisches  391 Allometrie 442 Anatomie, vergleichende  61
Abwehrproteine 385 Allomimese 69 Anaxagoras 3
Acanthodii 130 Allopolyploidie 272 Anaximander 2
Accipitridae  376, 378 Allopolyploidisierung 272 Anaximenes 2
Acetylcholin  363, 389, 454 Allozym-Polymorphismus 293 Ancestral lineage sorting  329
Acetylcholinrezeptor  389, 401 Allozymanalyse  221, 286, 308, 311 Andesauridae 164
N4-Acetylcytosin 230 Alouatta palliata 427 Androeceen, multistaminate  375
Acheuléen 512 Alpen 200 Aneurophyton 132
–– Werkzeuge 483 Alpenbildung 109 Angiosperm Phylogeny Group  364
Achsenumkehr, dorsoventrale  270 Alpha-Globin-Gen 274 Angiospermen, siehe auch Bedeckt-
Acinetobacter baumannii 283 Alphabet 526 samer  187, 191, 272, 359, 361, 363,
Ackerbauernkultur 522 Alternativismus 533 375, 461
Acrasiomyceten 359 Altersbestimmung 55 Animismus  15, 544
Acritarchen 91 –– 14-C-Methode 57 Ankylosauria 165
Actinistia  131, 212 –– absolute 56 Ankylosauridae 165
Actinobakterien 355 –– Kalium-Argon-Datierung 57 Anneliden 366
Actinopterygii  144, 151, 154, 212, 368 –– radiometrische Datierung  56 Annularia 140
Acylester-Lipid 235 –– relative 55 Anpassung  82, 536
Adapiformes 461 –– Spaltspuren-Methode 57 Anpassungsähnlichkeit 68
Adenin 222 Altruismus  29, 291, 419, 427, 539 Anthoceratophyta 361
Adenosin 223 –– reziproker  292, 427, 540 Anthozoa 106
Adipositas 546 Alttertiär 189 Anthrachinone 395
Adler 378 Altweltaffen  425, 432, 462 Anthropogenie 37
Aegyptopithecus 465 Altweltgeier 378 Anthropoidea  429, 462
Affenlaute  457, 459 Alu-Sequenz 275 Anthropozän  203, 208
Affenmensch 469 Alveolata  241, 357 Antiaphrodisiakum 32
Aflatoxine 254 Amabiliidae 181 Antibiotika-Applikation 295
AFLP-Analyse 310 Amborellaceae 363 Antibiotikaresistenz  247, 283
Afropithecus 465 Ameisenfresser 193 Antike 528
Afrotheria 374 Amine 395 Antikörpergen 262
Agency detection device  542 5-Aminopentanal 387 Antioxidanzien 251
Agnatha  118, 125, 134 Aminosäuren  76, 228 Aotidae 431
Agricola, Georgius  9 –– D-Aminosäure 76 apetala-Mutante 263
Agrobacterium tumefaciens 283 –– L-Aminosäure 76 Apicomplexa  242, 358
Ähnlichkeitskriterium 342 –– nicht-proteinogene  395, 396 Apikal-Komplex 358
Ähnlichkeitsprinzip 220 Aminosäuresequenz  306, 505 Aplysia 268
AIDS 253 Aminosäuresubstitution 334 Apomorphie 328
Aktin 241 Ammoniten  123, 128, 129, 172 Apoptose 252
Albertus Magnus  7 Ammonoida  127, 154 Appendicularia 368
Albinismus 288 Ammonoideen  127, 136 Äquatorialplatte 259
Aldrovandi, Ulisse  9 Amnioten  138, 369 Aquificales 356
Algen 359 Amöben 238 Arachniden 138
Algenlaminite 196 Amoebozoa 358 Arandaspida 118
Alignment  230, 327 Amphibien  154, 368 Arbuskel 30
Alkaloide  361, 389, 395, 401 –– Trias 154 Archaea  88, 234, 261, 350, 351
Alkmaion 2 Amphiragatherium 195 Archaebakterien 281
Alkylantien, chemische  253 Amplified Fragment Length Polymor- Archaeen, methanogene  244
Alkylierung 253 phisms (AFLPs)  286, 317 Archaeocyathen  100, 101
Alkyltransferase 252 Amplifizierung von Markergenen  325 Archaeopteryx  59, 177, 372, 374
All-Männchen-Gruppe 425 Amygdala 454 –– lithographica 174

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554 Stichwortverzeichnis

Archaeplastida  356, 358 Australopithecus  418, 458, 473, 474, Baum des Lebens (Tree of Life)  230
Archaezoen 243 480 Baumfarn  145, 146
Archaikum 88 –– aethiopicus 478 Baumharz 189
Archamöben  358, 359 –– afarensis 476 Baumsteigerfrosch 397
Archäologie, kognitive  534 –– africanus 477 Baumwolle 523
Archipallium 424 –– anamensis 475 Bauplangen  93, 263, 264
Arctiidae 403 –– bahrelghazali 476 Bavel 204
Ardipithecus  418, 473 –– boisei 478 Beckwith-Wiedemann-Syndrom 507
Area striata  442 –– garhi 477 Bedecktsamer, siehe auch Angio-
Arginin 455 –– robustus 478 spermen  187, 191, 361
Aristolochiasäure 254 –– sediba 477 Behaviorismus 544
Aristoteles 4 Austrobaileyales 363 Belemnitida  172, 184
Armfüßer, siehe Brachiopoden Austronesier 511 Belemnoida  136, 175
Aromastoff 389 Auswertung, phylogeographische  334 Belon, Pierre  9
Artbeschreibung 70 Autapomorphie  71, 329, 332, 347 Benthal 116
Artbildung 296 Autopolyploidie 272 Benthos 136
–– allopatrische 296 Autopolyploidisierung 272 –– antarktisches 47
–– parapatrische 296 Autoradiographie 313 Benzylcyanid 32
–– sympatrische  296, 301 Autosom 256 Bergbaufolgelandschaft 194
Artdefinition  61, 69, 70 Averroës 8 Berggorilla 438
–– biologische 70 Aves 374 Bernstein  189, 190, 323
–– evolutionäre 71 Avicenna 8 –– baltischer 190
–– morphologische (phänotypische, Besamung, künstliche  517
phänetische) 70 Besenginster 401
–– phylogenetische 71
–– physiologische 71
B Besiedlung 501
–– Amerika 503
Arthropoden  95, 98, 134, 148, 366 Bacillariophyceae 358 –– Asien 503
Artikulation 460 Bacon, Francis  11 –– Australien 503
Artkonzept  69, 342 Bacteria  234, 350 Bestäubung durch Insekten  363
Artstatuserkennung 344 Bacteroide 355 Beuteltiere  156, 195, 374
Ascidiae 368 Bactritida  127, 129 Bevölkerungswachstum 530
Ascomyceten 359 Baer, Karl Ernst von  19 Bewegungsapparat 423
Asparaginsäure 455 Bakterien  342, 353, 545 Bewusstsein  449, 454, 455
Assembling the Tree of Life  221 –– Artbildung 350 Beyrichienkalk  116, 123
Assortative Mating, positives  296 –– Evolution 281 Bilateralsymmetrie 363
Assoziationscortex, heteromodaler  488 –– gram-negative 355 Bilateria  268, 363
Asteraceae  391, 402 –– gram-positive 355 Biochemie 75
Asteriden 363 –– kommensalische 397 Biogenetisches Gesetz  36, 67
Asteroidea 366 –– photosynthetische 356 Biogeographie, siehe auch Phylogeo-
Asteroxylon 132 –– symbiotische 397 graphie 45
Asthenosphäre  88, 108 Bakteriophagen 281 Biologie, systematische  12
Astraspida 119 Band-Sharing Coefficient (BSC)  314 Biologismus, normativer  539
Asymmetrie des Gehirns  453 Bandscheibenvorfall  447, 547 Biomembran  76, 386
Atavismus  74, 75 Bandsharing-Index 315 Bioprospektion 389
Atelidae 431 Bärenspinner 402 Biostratigraphie  51, 203, 205
Atmosphäre  44, 45, 88, 235 Bärlappgewächse  134, 139, 145, 341, Biosyntheseweg  75, 387
Atmungskette 353 361, 390 Bipedie  444, 445
ATP-Synthase 235 Barrandium 99 Birdlife International  346
atpB-Gen 350 Barschartige 193 Birkenspanner  292, 294
Aufklärung  10, 15 Bartgeier 378 Bivalvia  99, 185
Aurignacien 514 Basen-Desaminierung 249 Blastocysten 506
Auslese, natürliche  26 Basenpaarung, komplementäre  223 Blattlaus 401
Außengruppe 329 Basidiomyceten 359 Blaumeise 297
–– Vergleich 72 Bataten 524 Blaumeisenkomplex 300
Australopithecinen  457, 477 Bates’sche Mimikry  407 Bloom-Syndrom 253
–– grazile 475 Batrachotoxin 397 Blütenbau
–– robuste 477 Bauhin, Caspar  10 –– actinomorpher 375
Stichwortverzeichnis 555

–– zygomorpher 375 Callithrix 431 Chloroplastengenom (cpDNA)  245,


Blütendiagramm 64 Calvin-Zyklus 77 246
Blütenmorphologie 375 Camarasauridae 164 Choanichthyes 212
Blütenpflanze, Diversifizierung  397 Camptosauridae 166 Choanoflagellaten 359
Blutgruppen AB0  287 Camptostroma 102 Cholesterol 76
Bock, Hieronymus  9 Caprimulgiformes 181 Chondrichthyes  130, 368
Bohnen 523 Captorhinomorpha 144 Chordaten  95, 97, 102, 366, 368
Bonobo  440, 441, 443 Carbonatmineralien 94 –– Ursprung 104
Bootstrapping 330 Cardiolipin 241 Chotecops ferdinandi 125
–– Analyse 330 Carinatae 374 Chromalveolata  356, 357
Boraginaceen  391, 402 Carnivoren  180, 195 Chromatide 224
Botanik 14 Carnosauria 161 Chromatin 227
Bottle-Neck-Effekt 311 Carpoidea 102 Chromatinstruktur 506
Brachiopoden  99, 112, 113, 125, 134, Catarrhini  423, 424, 432, 462 Chromosom  227, 231, 234, 255, 257
144, 148, 185, 191, 209 Cathartidae 376 –– homologes  256, 258
Brachiosauridae 164 cDNA-Kopie 277 –– Paarung 258
Branch-and-bound-Methode  329, 332 Cebus 431 Chromosomenmutation  248, 252, 254
Brassica oleracea 265 Cellulose  32, 355 Chromosomensatz 255
Brassicales 391 Cenancestor 242 –– diploider 255
Braunalge  240, 358 Centromer  255, 256, 279 –– haploider 231
Brauner Jura  170 Cephalaspida 119 Chrysophyceae  240, 358
Braunkohlenflöz 194 Cephalochordaten  104, 368 Ciliata 357
Braunkohlenlager 189 Cephalopoden  102, 110, 122, 151, Clostridien 355
BRCA-2 253 175, 185 Clymenida 129
Breakage-and-reunion- Cerapoda 165 Cnidaria  107, 363
Hypothese 260 Ceratiten  129, 150, 154 Cnidocyten 363
Bremer-Support 330 Ceratopsia 167 Co-Evolution 41
Broca-Region/-Areal  443, 453, 454, Ceratosauria 161 Coccolithophorida  183, 185
458 Cercopithecoidea  432, 462, 463, 465 Code, genetischer  228, 307, 506
Broca’sches Sprachzentrum  457 Cercozoa 358 Codon 228
Brodmann-Areale  451, 453 Cesalpino, Andrea  10 –– degeneriertes 229
Bronzezeit 525 Cetiosauridae 164 –– synonymes 228
Brüllaffe 431 Chagas-Krankheit 357 Coelurosauria  161, 374
Brunfels, Otto  9 Chalkolithikum 525 Coleoida  129, 175
Bruno, Giordano  8 Character Displacement  301 Colloblasten 363
Brutparasitismus 382 Charophyta 358 Colobinae  426, 432
Bryophyta 361 Cheirogaleidae 429 Computertaxonomie 40
Bryozoen  113, 136, 144, 184, 188 Chelicerata 96 Condylarthra  195, 198
Buntsandstein  149, 169 Chemotaxonomie 390 Confuciusornis 177
Buprestidae 195 Chemotyp 212 Conodonten  104, 112, 116, 123
Burgess Shale  95, 97 Chengjiang-Fauna  95, 96 Constrained female hypothesis  382
Chiasmata 258 Conularien 125
Chinolizidinalkaloid  391, 395, 401 Corallite 107
C Chiromyiformes 429
Chiroptera 137
Cordaiten 140
Core eudicots  363
Cadaverin 387 Chitin 359 Coremata 403
Caenogenese 37 Chitincuticula 120 Coronaves 374
Caesalpinioidae 395 Chitinozoa 122 Corpus callosum  453
Calamitaceae 361 Chlamydien  353, 355 Cortex  424, 440, 450, 451
Calamitales 140 Chlorarachnion 237 –– assoziativer 454
Calcarea 363 Chlorarachniophyten 242 –– motorischer 458
Calcitata 99 Chlorella 240 –– parietaler 443
Calcium-Magnesium-Carbonat 94 Chlorobionta  358, 359 –– präfrontaler  443, 451
Calciumcarbonat  53, 94, 95 Chlorophyll 77 –– somatosensorischer 458
Calciumphosphat 104 Chlorophyta 358 cpDNA 330
Callicebidae 431 Chloroplasten  77, 231, 234, 245, 284, Craniogenese 432
Callicebus 431 350, 356 Crenarchaeota 351
556 Stichwortverzeichnis

Creodonta  195, 198 Demospongiae 363 Diakinese 258


Crinoidea  103, 118, 176, 366 Denaturierung 309 Diatomeen  185, 358
Cro-Magnon-Mensch  501, 514 Dendrogramm, phänetisches  328 Digoxigenin 313
Cromer-Komplex 492 Dendropithecus 465 Dihydrouracil 230
Cromer-Zeit 206 Denisovaner, Denisova-Mensch  323, Dimerisierung  251, 252
Crooked calf disease  401 498, 503 Dimethylsulfat 253
Crossing over  256, 258, 260, 275, 279 Depurinierung  251–253, 336 Dinoflagellata 357
–– ungleiches  254, 273, 275 Desaminierung  251–253, 336 Dinophyceen 238
Crossopterygii  118, 130, 176, 212, 368 Desoxyribonucleinsäure (DNA)  39, Dinosaurier, siehe auch Thero-
Crotalarieae 391 222 poden  157, 374
Cryptomonaden  237, 242 –– Analytik 286 –– Systematik 161
Ctenophora 363 –– aus altem Museumsmaterial  323 Diogenes von Apollonia  3
Cumarine 395 –– aus Fossilien  322 Dioskurides 6
Cumaroylglycosid 385 –– Barcoding 221 Diplodocidae 164
Cuticula 359 –– Basen 252 Diploidisierung 273
Cuvier, Georges  17 –– tautomere Formen  252 Diplomonaden  244, 356
C-Wert-Paradoxon 232 –– Basenpaar 71 Diplotän 258
Cyanellen 240 –– cpDNA 230 Dipnoi 368
Cyanglycoside  395, 396 –– Cross-link-Repair 253 Dispersion 408
Cyanobakterien  77, 237–240, 245, –– Doppelhelix  224, 252, 307 Distanz, genetische  311, 343, 344
284, 350, 353, 356, 361, 390 –– Elemente 280 Distanzmatrixmethode  327, 333
Cycadales 363 –– Fingerprinting  221, 286, 307, 310, Divergenz 69
Cyrtoceras 127 312, 381 Divergenzzeit  331, 409
Cystoidea  103, 118 –– Fragmentlängen-Analysen 310 Diversifizierung der Blüten-
Cytidin  223, 249 –– Guanosin-Cytidin(GC)-Gehalt 223, pflanzen 397
Cytochrom 224 D-Loop  246, 326
–– b  246, 326, 342, 346, 347, 414 –– Helicase 253 DNA-DNA-Hybridisierung  223, 306,
–– c 335 –– hochrepetitive 276 374
–– p450-Gen 274 –– Interkalatoren 223 Dolomit 94
Cytokinese 258 –– Klonierung 307 Domäne  234, 244, 261
Cytosin  222, 227 –– Ligase  225, 253, 307 Domestikation  516, 517, 524
–– Methylierung  227, 506 –– Methyltransferasen 506 Dominanz, partielle  285
Cytoskelett  78, 235, 356 –– mitochondriale  312, 337, 489 Dominanzhierarchie 427
–– mittelrepetitive 276 Donnerkeil 136
–– mobile Elemente  221, 276 Doolittle, W. Ford  284
D –– mtDNA 230
–– Polymerasen  224, 225, 247, 307
Doppelatmer 130
Doppelhelix  223, 252
Da Vinci, Leonardo  10 –– Qualität 322 Doppelstrangbruch 252
Dadoxylon 146 –– rDNA-Kassette 229 Dorsoventralachse 270
Daka-Funde 482 –– regulatorische Bereiche  227 Drift 296
Darmbakterien 281 –– Renaturierung 307 –– genetische  252, 295
Darmflagellaten 356 –– repetitive 275,  276, 310 Drifttheorie 121
Darwin, Charles  20, 220, 291, 409, –– Replikation 224 Dromornithidae 180
533, 538 –– in Keimbahnzellen  336 Drosophila  37, 39, 65
–– Origin of Species  29 –– Sequencer 307 –– Riesenchromosom 287
–– Weltreise 21 –– Sequenzierung  221, 306, 307, 310, Dryopithecinae 466
Darwinfinken 291 325 Duftorgan 403
Darwinismus 37 –– Sequenzierungstechnik 433 Duftstoff 389
Daumen 423 –– Transposon 276 Duns Scotus, Johannes  7
Daumensattelgelenk 448 –– Übereinstimmungen  69, 433 Duplikation  248, 283
DDT-Behandlung 295 –– Variabilität 312 Dynamic Programming  327
Decapoda 186 Detektion, immunologische  313 Dysfunktion, neuromuskuläre  254
Decay Index  330 Deuterostomia  272, 363, 366 Dystrophie-Gen 261
Deinococcales 356 Devon  117, 123
Deinonychosaurier 177 –– paläogeographische Situation  124
Deletion  248, 251, 275, 283 –– Riffe 126
Demokrit 3 –– Wirbellosenfauna 127
Stichwortverzeichnis 557

E Enhancer  227, 263


–– Shuffling 280
Euglenophyta 356
Euglenozoa 356
Eburon 204 Enterobacteriaceae 283 Euhelopodidae 164
Ecardines 99 Enteropneusta 368 Eukaryoten  76, 81, 91, 234, 242, 244,
Ecdysozoa  363, 366 Entwicklung der Sexualität  379 350
Echinodermata  102, 103, 111, 176, Entwicklungsbiologie 73 Eukaryotengen 226
186, 366 –– Evo-Devo  266, 267, 270, 272 Eumetazoa  268, 363
Echinoidea 366 Entwicklungsgen  263, 264 Eumycetes 359
Echinozoa 103 Entwicklungsgenetik 272 Eupatorieae 391
Ediacara-Fauna  91, 98, 363 Entwicklungspsychologie 534 Euphorbiaceae 391
Ediacarium 92 Environment of evolutionary Europide (Kaukasier)  509
EDTA-Puffer 323 adaptedness (EEA)  538 Euryarchaeota  351, 353
Eem-Warmzeit  206, 494 Enzymelektrophorese 286 Eurypteriden  116, 138
Eigennutz, genetischer  540 Eozän  179, 180, 189, 460 Eusthenopteron 131
Ein-Gen-ein-Protein-Hypothese 225 Ephedraceae 363 Euthycarcinoidea 116
Ein-Männchen-Gruppe 424 Epigenetik  227, 262, 506, 508 Evo-Devo-Forschung  266, 272
Eingeschlechtlichkeit 383 Equiden 198 Evolution
Einkeimblättrige 363 Equisetatae  132, 361 –– biologische, von Religiosität  541
Einzeller  236, 356 Erasistratos 6 –– der Brutbiologie  378
–– parasitisch lebende  350 Erasmus von Rotterdam  8 –– der Laufvögel  410
Einzelstrangbruch 252 Eratosthenes von Kyrene  3 –– der Lupinen  409
Eisenzeit 527 Erbgang –– der Organismenreiche  349
Eismasse, pleistozäne  121 –– dihybrider 287 –– der Pflanzen  359
Eiszeit 208 –– trihybrider 287 –– der Prokaryoten  350
–– pleistozäne 410 Erbprogramm 539 –– der Tiere  363
Eleaten 3 Erdaltertum, siehe Paläozoikum –– der Vögel  177, 372–374
Eleonorenfalke 289 Erdgeschichte 53 –– des Menschen  419, 505
Eleutherozoa  102, 103 –– kontinuierliche Veränderungen  57 –– epigenetische Einflüsse  505
Elster-Glazial 206 –– phanerozoische 108 –– horizontale  273, 275
Embryo 359 Erdmagnetfeld 203 –– konvergente 391
–– Geschlechtsbestimmung 518 Erdmittelalter, siehe Mesozoikum –– konzertierte 273
–– In-vitro-Produktion 518 Erdneuzeit, siehe Känozoikum –– kulturelle 531
Embryonalentwicklung  19, 506 Erfahrung 535 –– molekulare 293
Embryonalorgan 74 Erinnerung 532 –– neutrale Theorie  293
–– rudimentäres 74 Erkenntnisfähigkeit 536 –– neue 83
Embryophyta 359 Erkenntnistheorie –– Übernahme von Verhaltenswei-
Embryotransfer 518 –– evolutionäre  533, 534 sen 82
Emotion 420 –– Hauptthesen 535 Evolutionärer Naturalismus  533
Empathie 422 –– genetische 534 Evolutionsgeschichte  221, 321
Empirismus 11 Ernährung 507 –– Blaupause 221
Emys orbicularis 410 Ertebölle-Kultur 515 Evolutionstheorie  2, 20, 26
Enantiornithes 177 Erythrina-Alkaloid 396 –– synthetische 41
Encephalisation 455 Erythrocyten, kernhaltige  323 Excavata 356
Encephalisationsquotient 481 Erziehung 544 Excision-Repair 253
Endemiten 47 Escherichia coli  282, 355 Exhaustive search  332
Endocyanom 240 –– enteroaggregative (EAEC)  282 Exocytose 235
Endocytobionten 237 –– enterohämorrhagische (EHEC)  282 Exom 310
Endocytobiose  237, 238 –– extraintestinal pathoge- Exon  39, 225, 226, 261
–– sekundäre 241 ne (ExPEC) 282 –– Shuffling  262, 280
Endocytose 235 EST-Bank 232 Exon-Intron-Struktur 261
Endomembran  235, 245 Ethanol 323 Exonuclease 225
Endophyten  284, 397 Ethik  538, 541 –– 3-Exonuclease 253
–– pilzliche 284 –– evolutionäre 538 Explosion, kambrische  93, 95, 98
Endosymbionten 356 Euarchontoglires 374 Extra-pair copulations (EPC)  381
Endosymbiontentheorie  240, 350 Eucyten  78, 234, 363 Extra-pair fertilisation (EPF)  381
Endosymbiose  245, 284 Eudicots 363 Extra-pair young (EPY)  381
–– sekundäre  350, 357 Euglenobionta 356 Extra-Pair-Paternität 382
558 Stichwortverzeichnis

F Fruchtkörper 359
Frühneolithikum 522
–– paraloges  267, 326
–– Protein-codierendes  327, 337
Fabaceae  391, 409 Frühpleistozän 207 –– springendes 280
Fähigkeiten FST 296 –– Verdopplung 275
–– kognitive 536 FTA-Cards von Whatman  325 –– xenologes 326
–– stereognostische 448 F-Typ-ATPase 350 Genasauria 165
Falken  374, 376, 378 Fuchs, Leonhart  9 Genbaum 489
Fanconi-Anämie 253 Furanocumarine 252 Gendrift  70, 288
Farbpolymorphismus 290 Fusulinen  115, 144 Genduplikation 268
Färbung, aposematische  402, 405 Fusulinida 147 Genetic Hitchhiking  293
Farn 359 Genetik  39, 41
Farnsamer  135, 140 –– quantitative  287, 291
Fehlpaarung 229
Fehlpaarungsreparatursystem 252
G Genexpression 227
Genexpressionsmuster 506
Female choice, siehe Weibchenwahl Gain of function  254 Genfamilie 273
Ferngeschiebe 121 Galaktose 545 Genfluss 70
Fettsäuresynthese 241 Galapagos-Inseln  24, 300, 409 Genhäufigkeit 288
Fettschwanzmaki 425 Galeaspida 119 Genkassette 273
Fettzellen 546 Galilei, Galileo  11 Genkonversion  247, 273–275
Fibrinopeptide  334, 335 Galliformes 178 Genlocus  285, 321
Filicophyta 361 Galloanseres 181 Genmutation 248
Filicopsida 361 Gametangien 359 Genom  70, 231, 235, 241, 268, 275,
Fingerabdruck, genetischer  312, 313 Gameten 256 283, 310, 519
Firmicutes 355 Gametenmutation 252 –– Analysen  221, 327
Fischadler 378 Gametophyten 361 –– Duplikationen 272
Fischechse 172 Gänsegeier 378 –– Größe 272
Fischsaurier  168, 172 Gas-liquid chromatography (GLC)  384 –– haploides 234
Fischuhu 349 Gastornithidae 180 –– humanes 307
Fitness  509, 539 Gastralia 177 –– maximale Größe  232
–– reproduktive 542 Gastropoden  102, 185 –– minimale Größe  232
Flachlandgorilla 439 Gastrula 266 –– Rearrangements 320
Flamingo 181 Gattung 342 –– Veränderung 261
Flaschenhalseffekt  295, 311, 336 Gattungsname 342 –– Verdopplungen  232, 275
Flavonoide 395 Gaviiformes 178 Genomannotierung 519
Flechten  34, 125, 284, 359 Gebirgsbildung 108 Genomevolution  302, 310
Fledermaus 408 –– alpidische  109, 189 Genomforschung 281
Flores-Mensch  418, 488 –– kaledonische  109, 116 –– strukturelle 261
Flugsaurier  137, 156, 187 –– variscische  109, 135 –– vergleichende 261
–– Trias 156 Gebiss 460 Genomgröße 231
Fluorit 146 Gebräuche 531 Genomik 231
Foraminiferen  136, 147, 185, 188, Gecko 297 –– funktionelle  232, 310
238, 358 Gedächtnis 507 Genommutation 248
Formatio reticularis  458 Gefäßsporenpflanze, siehe Pteridophyta Genomprojekt, humanes  231
N-Formylmethionin 228 Gefäßsystem 361 Genomsequenzierung 519
Formylmethionyl-tRNA 235 Gefiedermorphe  289, 379 Genotyp  212, 231, 285, 287
Fornicata 356 Gehirn  424, 449 –– Frequenz  285, 288
Fortpflanzung, geschlechtliche  256 –– Asymmetrie 453 –– Häufigkeit 288
Fortpflanzungserfolg  291, 426 Gehirnforschung 507 Genpolymorphismus 285
Fossilien  51, 53 Gehirngewicht 449 Genpool  263, 285
–– Fundstellen 469 Geiseltal 194 Genregulation  227, 235, 263, 507
–– lebende  208, 212, 213, 341, 361 Gelelektrophorese 312 Genselektion 291
–– moderne Menschenformen  499 Gemeinnutz 540 Genstammbaum 329
–– Übergangsformen 59 Gen Gentransfer, horizontaler  236, 242,
–– Umwandlungsreihen 58 –– Duplikation 275 245, 281, 283, 326, 350, 390
Founder-Effekt, siehe Gründereffekt –– egoistisches  292, 420 Genus 342
FOXP2-Gen 455 –– homologes 326 Geochemie 93
Frame Shift  228 –– Kartierung 310 Geosiphon  239, 240
–– Mutation  223, 248, 252, 275 –– orthologes  267, 268, 326 Gesamtevidenzbäume 331
Stichwortverzeichnis 559

Gesamtfitness 539 Grube Messel  192 Hemichordaten  102, 368


Geschiebe 204 Grünalgen  112, 125, 238, 358 Hemisphäre
Geschiebeforschung 121 Gründereffekt 311 –– dominante 453
Geschlecht Gründerpopulation 295 –– nicht-dominante 453
–– heterogametisches 256 Grundstoffwechselweg 77 Hennig, Willi  40
–– homogametisches 256 Grüne Revolution  530 Heraklit 3
Geschlechterverhältnis 383 Gruppe Herbarmaterial 325
–– in Populationen  292 –– monophyletische  343, 346 Herbivore 391
Geschlechtsbestimmung, –– paraphyletische  346, 391 Hermaphroditismus  379, 383
molekulare  310, 317 –– polyphyletische  346, 391 –– sequenzieller 383
Geschlechtschromosom 256 Gruppen-Polyandrie 425 Herophilos 6
Geschlechtsverhältnis Gruppenselektion 292 HERV-W-Gruppe 278
–– primäres 383 Guanin 222 Herzglycosid  313, 391, 405
–– sekundäres 383 Guanin 8-Oxoguanin  251 Heterochromatin 506
Gesner, Conrad  9 Guanosin 223 Heteroduplexbildung 274
Gewürzstoff 389 Gute-Gene-Hypothese 382 Heterokontobionta  240, 358
Giardia lamblia 356 Gutenberg, Johannes  8 Heterostraci  118, 125
Gibbon  425, 435 Gymnospermen  169, 182, 187, 359, Heterozygotie  285, 286, 295, 311
–– Sozialsystem 436 361 Hexactinellida 363
Gift Gyrostemonaceae 391 Hieroglyphen 527
–– medizinisch-pharmazeutische Nut- High pressure liquid chromatography
zung 389 (HPLC) 384
–– zu Jagd und Verteidigung  389
Gigantismus 160
H Hildegard von Bingen  7
Hintergrundmutation, siehe Spontan-
Gigantopithecus  467, 486 Hadrosauridae 166 mutation
Gilgamesch-Epos 526 Haeckel, Ernst  35, 266, 349 Hipparion 56
Ginkgo  187, 361 Haie  130, 142 Hippocampus 454
Ginkgoales 361 Haikouella 105 Hirngewicht  449, 458
Glaucocystophyten 240 Haikouichthys 105 Hirnvolumen  450, 458
Glaziale 204 Halbaffen  424, 432 Histon 334
Glazialtheorie 121 Halbwertszeit 56 –– H4 335
Globigerinida 185 Hämoglobin 335 Histonprotein  223, 255, 505
Glucocorticoid-Rezeptorgen 507 Hämoglobingen 284 –– Modifikation 227
Glucose 545 Hämolytisch-urämisches Syndrom HIV, siehe Humanes Immundefizienz-
Glucosid, cyanogenes  385 (HUS) 282 Virus
Glucosinolate  385, 391 Handicap-Prinzip 381 Hohlzahn 302
Gnathostomata  120, 125, 130 Händigkeit 453 Holarktis 47
Gnetaceae 363 Hanuman 426 Holothurien 125
Gnetopsida 362 Haplorrhini  432, 433 Holothuroidea 366
Goethe, Johann Wolfgang von  15 Haplosporidia 358 Holozän  203, 207, 208, 429
Goldalgen 358 Haplotyp  290, 297, 300, 412 Holstein-Warmzeit 206
Goldhähnchen 297 Haplotyphäufigkeit 290 Holzmaden 173
Gondwana  50, 114, 142, 409 Haptophyten 240 Homalozoa 102
–– Elemente 374 Hardy-Weinberg-Gesetz  288, 289 Hominidae  465, 466
–– Verbreitung 410 Hardy-Weinberg-Gleichgewicht 293, Hominini  457, 467
Goniatiten  125, 129, 136, 147 295, 312 –– fossile 473
Gonochoristen 383 Hardy, Godfrey Harold  288 –– Fossilgeschichte 468
Gonorrhoe 282 Haremsbildung  379, 383 Hominoidea  432, 435, 462
Gonosom 256 Haremsgruppe  424, 439 –– Ursprung 464
Gorilla  433, 438, 440, 447, 529 Harvey, William  10 Homo  69, 418, 473, 479
Graptolithen  106, 112, 116, 123, 368 Hasenartige 198 –– antecessor 488
Gravettien 514 Haustiere  263, 341, 516, 521 –– archaische Formen  488
Greifhand 423 Hautknochenpanzer 118 –– erectus  481, 483, 484
Greifvögel 376 Heilpflanzen 437 –– auf Java  485
Großgeschiebe 121 Heliconius 290 –– in China  486
Großhirnrinde 450 Helicoplacoidea 102 –– ergaster  481, 482
Großübergang, phylogenetischer  236 Heliopithecus 465 –– erste Angehörige der Gattung  479
Großzehe 423 Hellenismus 6 –– floresiensis 487
560 Stichwortverzeichnis

–– georgicus 483
–– habilis  480, 488
I J
–– heidelbergensis  481, 487, 490 Ichthyosaurier  151, 155, 168, 176 Jackknifing 330
–– in Europa  492 Ichthyostegalia 138 Jacob, François  266
–– neanderthalensis  490, 491, 493 Ichthyostegida 131 JAGO 213
–– rhodesiensis 491 Icteridae 382 Jakobskreuzkraut 402
–– rudolfensis 481 Igneococcales 353 Jehol-Formation 177
–– sapiens  58, 183, 443, 482, 490, 496, Iguanodontidae 166 jModeltest 333
499, 513 Illumina 327 Jugendmortalität 296
–– im Nahen Osten  497 Imperativ, kognitiver  542 Jungius, Joachim  10
–– soloensis 492 Imprinting 227 Jungtertiär 189
Homogenisation 275 In-group-Commonalität 72 junk-DNA 275
Homoiologie 67 Independent Assortment  287 Jura  148, 170
Homologie  63, 220, 266 Indianer 504 –– Fauna 175
–– phylogenetische 83 Individualentwicklung 545
Individualerkennung 310
K
Homologiekriterien  40, 66
–– Hilfskriterien 67 Individualselektion 291
–– Kriterium der Lage  66 Indriidae  424, 429
Industriezeitalter 529 Kalk 134
–– Kriterium der speziellen Qualität der
Infantizid 426 Kalkalgen 112
Strukturen 66
Infektionskrankheiten 547 Kalkalpen 109
–– Kriterium der Verknüpfung durch
Informationsverarbeitung 451 Kalkgeschiebe 122
Zwischenformen 67
Inkohlung 139 Kalklager, triassische  95
Homonomie 68
Inlandvereisung 206 Kalkschaler 112
Homöobox 65
Innengruppe 329 Kalkschwämme 188
Homoplasie  68, 69, 73, 332, 338
Innovation 356 Kalkstein  53, 94
Homozygotie  285, 286
Insekten 284 Kaltzeiten 204
Hormon 77
–– soziale staatenbildende  381 Kambrium  88, 92, 93
Hornmoos 361
Insektenbestäubung 30 –– dominierende Fossilien  98
House-keeping gene  262, 334
Insektizidbehandlung 295 –– paläogeographische Situation  94
Hox-Gen  37, 39, 264
Inseln 47 Kannibalismus 496
Hox-Genkassette 270
–– vulkanische 296 Känozoikum  90, 179, 188
Hudson-Kreitman-Aguade-Test
Inselpopulation 295 Kant, Immanuel  15, 545
(HKA-Test) 293
Insertion  248, 275, 283 Kapillar-Elektrophorese 325
Hüftgelenk, Fehlentwicklungen  546
Intellekt 532 Karbon 134
Hüftgelenksdysplasie 446
Intelligent design  84 –– Meeresfauna 136
Humanes Immundefizienz-Virus
Intelligenz 422 –– paläogeographische Situation  135
(HIV)  253, 279, 321
Intelligenztest 532 Kartierung von Pflanzengenen  317
Humanismus 8
Inter Simple Sequence Repeats Kartoffel 524
Humboldt, Alexander von  16
(ISSR) 317 Karyotyp 256
Hunsrückschiefer  123, 124, 210
Interglaziale 204 Kaspar-Hauser-Versuch 456
Husarenaffe 425
Intertaxonische Kombination Katastrophentheorie 18
Hybridanalyse 317
(ITC) 238 Kaukasier (Europide)  509
Hybridisierung  272, 302, 310
Intron  39, 225, 226, 261 Kehlkopf 456
Hybridzone 300
Inversion 248 Keilschrift 527
Hydren 238
Inzucht 296 Keimbahnzelle 252
Hydrobienkalk 95
Inzuchtdepression 296 Keimblätter 363
Hydrogenosom  243, 356
Isoetales 361 Kellowaygeschiebe 123
Hydrophilidae 193
Isoflavone  395, 396 Kenyanthropus platyops 479
Hylobatidae, siehe auch Gibbons  435,
Isolation Kenyapithecus 465
466
–– postzygotische 301 Kepler, Johannes  11
Hyolitha 102
–– präzygotische 300 Kern-DNA 346
Hyperhygiene 547
Isolationsmechanismus  70, 300 Kernäquivalent 231
Hyperzyklen 235
Isoprenyl-Ether-Lipid 235 Kerndualismus 357
Hyracoidea 374
Isothiocyanate 391 Kerngen 337
ISSR-Analyse 310 Kerngenom  231, 234, 310
Isthmus von Panama  410 Kernhülle 235
Stichwortverzeichnis 561

Keuper 149 Kooperation  284, 291, 397 Laubmoos 361


Keuperflora 169 –– intertaxonische 29 Laufvögel 410
Khoisan 509 Kooperationsgewinn 544 Laurasia  49, 142, 409
Kielmeyer, Carl Friedrich  17 Kopale 189 Laurasiatheria 374
Kieselalge  185, 240, 358 Kopernikus, Nikolaus  9 Lautäußerung  456, 459
Kieselsäure 146 Kopplung  287, 291, 296 –– angeborene 349
Killer-Männchen 426 Kopplungsgleichgewicht 291 Lautstandardisierung 460
Kin Selection, siehe Verwandten­ Kopplungskarte 287 Lebensformtypus 64
selektion Korallen  32, 136, 144, 185, 284 Lebermoos 361
Kindstötung 426 Korallen-Stromatoporen-Riff 115 Leclerc de Buffon, Georges Louis  14
Kinetochoren 258 Korallenriff  32, 106 Leguminosen  284, 395
Kinetoplast 357 –– Symbiosen 33 Lehmziegel 520
Kinetoplastida 356 Korrelation, chronostratigra- Leinkraut 508
Kladistik  40, 321, 343, 346, 369 phische 101 Leishmaniose 357
Kladogenese 346 Krankheitserreger, multiresistenter Leitfossilien  51, 53, 55, 89, 91
Kladogramm  73, 320, 333, 499 bakterieller 282 Lektine 395
Klasse 342 Krankheitsprävention 547 Lemuridae  424, 429
Klassifikation 342 Kreationismus  53, 84, 419 Lemuriformes 429
–– evolutionäre 346 Kreide  148, 182 Lepidodendron 139
Klassische Antike  528 –– Organismenwelt 185 Leptopterygius 169
Klebsiella pneumoniae 283 Kreide-Tertiär-Grenze  109, 115 Leptotän 258
Klebzellen 363 –– Massenaussterben 188 Lernen 532
Kleinhirn 458 Kreidegeschiebe 123 Lernprozess 507
Klimadepression 205 Kreideseeigel 184 Leserahmen  228, 248
Klimagradient 145 Krokodile  155, 176, 193, 195, 374 Leseraster 223
Klonen, somatisches  518, 519 Kronengalltumor 283 Leukippos 3
Klonierung 308 Kryosphäre 88 Liebhaberzucht 519
Kniegelenk, Fehlstellung  546 K-Selektion 41 Life history evolution  375
Knochenfische  130, 143, 195, 368 Kuckuck 382 Limnopithecus 465
Knochenhecht 193 Kultur 455 Limulus 341
Knöllchenbakterien 238 Kulturerbe, abendländisches  528 Lingula  99, 341
Knorpelfische 368 Kulturpflanze  263, 341, 523 Lingulata 99
Kodominanz 285 Kupferlegierung 525 Linkage Equilibrium  291
Koevolution  240, 363, 375, 397 Kupferschiefer 142 Linkage Maps  287
Kohl 265 Kupferzeit 525 Linné, Carl von  12, 61, 342, 421
Kohlendioxid 44 Lipiddoppelmembran 76
Kohlenflöz 194 Lithosphäre  88, 108
Kohlenkalk 136
Kolonialzeit 529
L Lokalgeschiebe 121
Lokomotionstyp 423
Koloniebrüter 379 Lackfilmmethode 194 Long branch attraction  329
Kombination, intertaxonische  245 Laktose 545 Long Interspersed Elements
Kombinatorik 263 Laktosetoleranz 545 (LINEs)  276, 279, 280
Kommunikation  455, 456 Lamarck, Jean Baptiste de  16 Long-distance dispersal  408
Kompartiment, membranumschlos- Lamarckismus 508 Lophophor  99, 366
senes 356 Landpflanzen  132, 358 Lophotrochozoa  363, 366
Konjugation 281 Landschildkröten 409 Lorenz, Konrad  535, 539
Konsensusbaum 330 Landschnecken 137 Lorisiformes 427
Konsistenz-Index 332 Längenpolymorphismus 312 Loss of function  254, 285
Kontinentaldrift, siehe Plattentektonik Längsgewölbe 447 Lucretius Carus  6
Kontinentalverschiebungstheorie 40 Langstreckendispersion 408 Luftstickstoff 356
Kontingenz 7 Langzeitgedächtnis 507 Lungenfische  125, 130, 142, 212, 272,
Kontingenzbewältigung 544 Lanzettfischchen 368 368
Kontrollgen 263 Lapita-Keramik 511 Lupinen 523
Kontrollregion  246, 326 Lappentaucher  181, 374 –– vielblättrige 401
Konvektionsstrom 88 Last Universal Cellular Ancestor Lycopodiales 361
Konvergenz  65, 68, 82, 321, 342, 376 (LUCA) 242 Lycopodiatae 132
–– bei Geiern und Adlern  376 Latimeria  213, 368 Lycopodiophyta 361
562 Stichwortverzeichnis

Lyme-Borreliose 355 Meme  42, 83 Merkmalsänderung, Leserichtung  329


Lysin 387 Menap 204 Merkmalskomplex 375
Mendel, Johann Gregor  39 Merkmalsmethode 327
Mendelsche Vererbungsregeln  39, Merkmalszustand 71
M 286
Menopause 449
Meso-Ammonoida 129
Mesoderm 363
Maas-Saurier 186 Mensch 444 Mesokosmos 537
Macroscelidea 374 –– Becken 445 –– sozialer 538
Magdalénien 514 –– Beine 446 Mesolithikum 515
Magneto-Stratigraphie 203 –– Bewegungsapparat 444 Mesozoikum  55, 58, 90, 148
Magnoliopsida 363 –– biologisch-ökologische Sonderstel- Messelasturidae 182
Makaronesische Inseln  296, 409 lung 529 Metamorphose 419
Makroevolution 236 –– bipeder Gang  444 Metaphase 258
Makromolekül 76 –– Femur 446 Metaphysik 544
Malacostraca 143 –– Fossilgeschichte 468 Metaspringgina 105
Malaria 295 –– Fuß 446 Metatheria 374
Mammal Paleogene Zones  194 –– Gebiss 460 Metaves 374
Mammalia  155, 369, 374 –– Gehirn 449 Metazoa  81, 92, 359, 363
Mammutfauna 205 –– geistig-kulturelle Sonderstel- Meteoriteneinschlag  114, 115
Mammutsteppe 205 lung 531 Methan 147
Maniraptora 161 –– Hand 448 Methanhydrat 115
Mantophasmatodea 190 –– Haut 448 Methanogenese 235
Marchantiophyta 361 –– Kniegelenk 446 Methicillin 283
Marginocephalia 166 –– Kopf 447 Methionin 228
Margulis, Lynn  240 –– Körpergewicht 448 N6-Methyladenin 230
Markergen  221, 230, 310, 319, 321, –– kulturelle Entwicklung  459 5-Methylcytosin  230, 246
326, 342, 344, 349 –– Lebensalter 449 1-Methylguanin 230
–– Amplifizierung 325 –– moderner 500 1-Methylhypoxanthin 230
–– Sequenzierung 322 –– Theorien zur Auswanderung  500 Methylierung von Cytosin  227, 506
Markerprotein  311, 321 –– obere Extremität  448 MHC-Gen 293
Markierung, radioaktive  313 –– oberes Sprunggelenk  446 Micropithecus 465
Markov-Chain-Monte-Carlo- –– phylogenetische Abstammungsge- Microsatellite-anchored fragment
Verfahren 333 schichte 469 length polymorphism (MFLP)  317
Marsupialia  156, 195, 374 –– Schwangerschaft 449 Microsporidia 359
Massenaussterben 113 –– systematische Gliederung der Ver- Migration  288, 296
Massenspektrometrie  56, 384 wandtschaft 473 Mikroevolution  236, 288, 296
Mastergen  263, 285 –– Wirbelsäule 447 Mikrofossilien 121
Mastodonsaurus 154 –– Zähne 460 Mikrokontinent 108
Maximum Likelihood  327, 330, 332 Menschenaffen  306, 383, 435, 464, Mikrosatelliten  280, 312
Maximum Parsimony  7, 327, 330, 331 536 –– Analyse  221, 286, 296, 310, 315,
McDonald-Kreitman-Test 293 –– fossile miozäne eurasische  466 317, 381
Medizin, evolutionäre  545 –– frühmiozäne afrikanische  465 –– DNA 276
Medusen 143 –– mittleres und spätes Miozän Afri- –– Loci 315
Meeresspiegel kas 465 –– Primer 317
–– Regressionen 49 Mereschkowsky, Constantin  238, 240 Milan 378
–– Transgressionen 49 Merkmal 71 Mimikry  69, 292
Meerkatzen 455 –– analoges 342 –– Bates’sche 407
Megacities 531 –– apomorphes  71, 329 –– Müller’sche 407
Megadontie 477 –– autapomorphes 71 –– Peckham’sche 407
Megakaryocyten 272 –– diagnostisches 343 Mimikryforschung 407
Megamonsun 148 –– homologes 342 Mimosoideae 395
Meganthropus 486 –– intermediäres 285 Miniature Inverted-Repeat Transposable
Megaphyllen 132 –– phylogenetisch informatives  332 Elements (MITEs)  280
Megascops 349 –– plesiomorphes  71, 329 Minimum spanning network  334, 412
Mehltau 358 –– symplesiomorphes 71 Minisatelliten 312
Meiose  255, 256, 258, 274, 280 –– synapomorphes  71, 375, 391 –– DNA  276, 280
Membran, undulierende  356 –– xeromorphes 139 Miozän  189, 201, 444, 464
Stichwortverzeichnis 563

Mismatch  82, 229 Multiplex-PCR 315 Neandertaler  207, 323, 456, 468, 493,
–– Repair  253, 274 Multiregionale Theorie  482 501, 513
Mitochondrien  231, 234, 245, 246, Muschelkalk  95, 149, 150, 194 –– im Nahen Osten  497
284, 350, 353, 356, 489 Muschelkrebse  183, 202 –– klassischer 494
–– pflanzliche 247 Muscheln  125, 154, 175 Nearest neighbour  333
Mitochondriengenom (mtDNA)  245 Musculus sternocleidomasto- Nebelkrähe 301
Mitose  255, 256, 258, 274 ideus 447 Needleman-Wunsch-Algorithmus 327
Mitosom 243 Mutagen  252, 253 Neighbour-Joining  327, 330, 333
Mittelalter  6, 528 Mutation  75, 225, 228, 235, 245, 248, Neisseria gonorrhoeae 282
Mittelkohle 194 288, 296, 489 Nematoden 366
Mittelpleistozän 204 –– generative 252 Neo-Ammonoida 129
Modelling, evolutionäres moleku- –– genetische 508 Neo-Kreationismus 84
lares 389 –– induzierte 253 Neo-Lamarckismus 508
Molasse 200 –– multiple 338 Neoaves  181, 374
Molecular modelling  78 –– nicht-synonyme 254 Neocortex 442
Molekül 75 –– somatische 252 Neogen  188, 189
Molekularbiologie  42, 419 –– stille, neutrale  254 Neognathae  181, 374
Molekulargenetik 519 –– synonyme 312 Neolithikum  418, 515, 520, 522
Mollusken  101, 121, 144, 148, 175, Mutationshäufigkeit 252 –– im Nahen und Mittleren Osten  520
184, 366 Mutterkornalkaloid 397 –– in Afrika  524
Molothrus 382 Mutterkornpilz 397 –– in Europa  520
Monarchfalter  405, 408 Mycetom 397 –– in Lateinamerika  523
Mönchsgeier 378 Mycoplasmen  353, 355 –– in Ost-, Südost- und Südasien  522
Mond 44 Mykorrhiza  30, 284, 397 Neornithes  178, 181, 374
Mongolide 510 –– arbuskuläre 30 Nemertini 366
Monilophyta 361 –– ectotrophe 30 Nervenfasern 453
Monismus 38 Myllokunmingia 105 Nervensystem, zentrales  363
Monocots 363 Myomeren 105 Nervenzellen  440, 451
Monogamie  379, 425, 431 Myophorien 154 Nesseltier 363
Monophyla 346 Myxinoidea  130, 368 Nesselzellen 363
Monophylie  40, 71, 347 Myxomyceten 359 Netzwerk, neuronales  451
Monoplacophoren  102, 209 Myzel 359 Netzwerkanalyse 412
Monotremata 156 Netzwerkmethode 334
Moos 359 Neurobiologie 419
Moral  538, 540, 545
Moresnetia 134
N Neuron, siehe auch Nervenzellen  450,
454
Morotopithecus 466 Na+-K+-ATPase 405 Neuropil 442
Morphogen 263 –– Insensibilität 407 Neurorezeptor 386
Morphogenese 272 Nachtigall 301 Neuweltaffen  429, 462
Mortalität, selektive  383 Nacktfarn 132 –– Ursprung 463
Mörtelkalk 122 Nacktsamer  132, 182, 187, 361 Neuweltgeier  375, 378
Mosaikgen 226 Nagetiere 198 Neuzeit 529
Mosasaurier 186 Nannoplankton 185 Newton, Isaak  11
Motorneuron 458 Nanoarchaeota  351, 353 Next Generation Sequencing
Moustérien 513 Nanoarchaeum equitans 353 (NGS)  221, 231, 307, 310, 317, 322,
mtDNA 330 Natural Selection, siehe Selektion, 323
Muller-Ratsche 339 natürliche Nicht-Tracheophyten 361
Müller’sche Mimikry  407 Naturalismus 533 Nische
Multigen –– evolutionärer  533 –– kognitive 537
–– Analyse 330 –– philosophischer 533 –– ökologische  401, 537
–– Vergleich  327, 349 Naturerkenntnis 2 Nitrozelluloselack 194
Multigenfamilie 273 Naturfarben 389 Nodosauridae 165
Multilevelselektion 292 Naturphilosophie Nomenklatur 342
Multilocus –– ionische 2 Nominalismus 8
–– DNA-Fingerprinting  280, 312 –– romantische 16 Nonsense-Mutation 275
–– Sonde 314 Naturstoff  383, 386 Noradrenalin 454
Multiplex-Mikrosatellitenanalyse 317 Nautiloida  117, 127, 210 Nordsee 208
564 Stichwortverzeichnis

Normen, ethische  541 Oreopithecidae 464 Palmfarn 363


Nothofagus 410 Organbildung 272 Palmgeier 378
Nothosaurier 151 Organell-DNA 275 Pan, siehe auch Schimpanse  69, 473
Notostraca 210 Organellgen 337 Pandionidae 376
Nuclear magnetic resonance Organismustheorie 14 Pangaea  49, 115, 142
(NMR) 384 Ornithischia  159, 160, 165, 187 Pangenom 282
Nucleariida 359 Ornithomimosauria 161 Panthalassa 142
Nucleinsäuren 77 Ornithopoda 165 Pantoffelkoralle 126
–– Biosynthese 223 Orogenese 108 Pantoffeltierchen 357
–– Nucleotidsequenzen 77 Orrorin tugenensis 468 Pantopoden 125
Nucleomorph  239, 242 Orsten-Fossilien  95, 97 Panzergeißler 357
Nucleosid 222 Orthoceren 117 Papilionoideae 395
Nucleosynthese, stellare  43 Orthocerenkalk  121, 122 Parabasalia 356
Nucleotid  222, 307 Os intermaxillare  15 Parabasalkörper 356
Nucleotidsequenz 319 Osteichthyes  130, 368 Paradoxa 13
Nucleotidsubstitution  247, 334, 336 Osteostraci 119 Parallelentwicklung  68, 82
–– synonyme 312 Ostracoden  116, 127, 183 Parallelmutation 333
Nukleosom  255, 505 Ostracodermen 118 Paramecium  238, 240, 242
Nummuliten  53, 188, 191 Otavipithecus 466 –– bursaria 240
Nutzpflanzen  516, 520, 523 Ouabain-Bindungsstelle 407 Paranthropus  475, 478
Nyanzapithecus 465 Out-of-Africa-Theorie  488, 489, 499 Paraphylie 347
Nyctotherus ovalis 244 Outgroup 329 Parapithecidae 462
Nymphaceae  363, 403 Owen, Richard  68 Parapitheciden 463
Oxidation  252, 336 Parasiten  353, 356, 358
Ozeanquelle, hydrothermale  353 –– intrazelluläre 355
O Parmenides 3
Parsimonie 73
Ockham, Wilhelm von  7
Ohreule 348
P Parsimonieprinzip 7
Parthenogenese 311
Ökologie 41 Paarhufer 198 Passungen 534
Okulitchicyathus 100 Paarungssystem  379, 381 Paternitätsanalyse 315
Old-Red-Kontinent  92, 123, 124 –– Menschen 383 Paternitätsbestimmung 310
Oldowan-Kultur  480, 483, 513 –– polygames 425 Pax6-Gen 268
Oleander 407 –– promiskuitives 425 PCR-Verfahren 383
Oligonucleotid 313 Paarungsverhalten 425 p-Distanz 333
–– Sonde 313 Pachycephalosauria 167 Peckham’sche Mimikry  407
Oligopithecidae 463 Pachytän 258 Pelagial  116, 154
Oligozän 189 Pair survival  382 Pelagornithidae 180
Ölschiefer 196 Palaelodidae 181 Pelecanidae 181
Omomyidae  461, 463 Palaeo-Ammonoida 129 Pelikane 181
Omomyiformes 461 Palaeodictyoptera 143 Pelmatozoa  102, 103
Onomatopoesie 459 Palaeognathen  181, 374 Pelycosauria 155
Ontogenese 542 Palaeoniscida 143 Pelycosaurier, carnivorer  144
–– des Menschen  450 Paläo(retro)virologie 279 Penicillinresistenz 387
Ontogenie  36, 267 Paläogen  188, 189 Pentadaktylie 423
Onychophoren  96, 122 Paläolithikum  501, 512 Peptidoglycan  235, 241
Oomycetes 358 Paläomagnetik 57 Peptidyltransferase 230
Operational taxonomic unit (OTU)  333 Paläontologie  19, 51, 55 Perm  115, 129, 141
Ophiuroidea 366 Paläopallium 424 –– Fischfauna 144
Opine 284 Paläotethys 148 –– Massenaussterben 147
Opisthokonta  358, 359, 363 Paläozoikum  55, 58, 90, 92 –– Pflanzenwelt 145
Opportunitätskosten 542 –– Riffbildner 106 –– Reptilien 144
Orang-Utan  433, 436, 437, 447, 458 Palcephalopoda 110 Perm-Trias-Grenze 109
Orchidaceae 391 Paleozän  189, 460 Petrefaktenkunde 53
Ordnungen 342 Palindrom 308 Petromyzonta  130, 368
Ordovizium  92, 98, 105, 116 Palindromstruktur 306 Pfefferminze 302
–– Meeresorganismen 110 Palingenese 37 Pferdestammbaum 198
Stichwortverzeichnis 565

Pflanzenentwicklung 112 Plastizität 226 Primärtranskript 226


Pflanzenfresser 385 –– phänotypische 227 Primaten  13, 374, 418, 421
Pflanzenmaterial 325 Plathelminthes 366 –– Definition 421
Pflanzensystematik  10, 375 Platon 4 –– Entwicklungstendenzen 421
Pflanzenzucht 519 Plattenkalk  174, 175 –– Fortpflanzungsstrategien 426
Phaeophyceae 358 Plattentektonik  40, 42, 47, 49, 108, –– Intelligenz  421, 422
Phagocytose  235, 237, 239 203, 409 –– Plastizität des Verhaltens  421
Phanerozoikum  88, 90, 113 Platyrrhini  429, 462 –– rezente 430
–– Massenaussterben der Tiere  113 Plazenta 73 –– solitäre 426
Phänotyp  231, 285 Pleistozän  58, 203, 501 –– Sozialsysteme 424
Pharming 519 Plesiosaurier  155, 172, 176 –– Stammbaum 428
Pheromon 403 Plinius 6 –– systematische Gliederung  427
Philopatrie  280, 295 Pliopithecidae 464 –– Verbreitung 422
–– weibliche 427 Pliozän  189, 444, 464 –– Verwandtschaftsforschung 433
Phloem 361 Polacanthidae 165 Primeranlagerung 309
Phoenicopteridae 181 Polarmeer 45 Primerverlängerung 309
Phonematisierung 460 Polyacrylamid-Gelelektrophorese 307 Processus mastoideus  447
Phoresie 34 Polyamine 223 Proconsul 465
Phorusrhacidae 180 Polyandrie  379, 381, 383, 426, 431 Proconsulidae 465
Phosphatocopina 98 –– kooperative 425 Prognathie 457
Phospholipid 76 Polychaeten  96, 121, 124, 271 Progressionsindex 442
Photolyase 252 –– ciliäre Lichtsinnesorgane  271 Prokaryoten  76, 88, 231, 234, 351
Photosynthese  77, 88, 353 Polygalaceae 395 –– Evolution 350
Photosynthesepigment 353 Polygamie 379 Prometaphase 258
Phragmokon 110 Polygynie  379, 383, 431 Promiskuität  379, 431
Phylogenetik  343, 433 Polymerase-Kettenreaktion (PCR)  308, Promontorium 447
Phylogenie  14, 36, 40, 220, 221, 310, 309, 314 Promotor  226, 227
319, 320, 341, 489 –– Methoden 314 –– regulierbarer 262
–– der Insekten  366 –– Primer 308 Propalaeotherium isselanum 195
Phylogenieprogramm  327, 331 Polymorphismus  293, 295, 310, 311 Prophase 258
Phylogenomics  327, 349 –– genetischer 210 Propliopithecidae 462
Phylogeographie  310, 317, 320, 408, –– mimetischer 290 Prosauropoda 163
409 –– nicht-informativer 332 Prosimiae 432
Phylogramm  320, 341 Polyphänie 227 Protease-Inhibitor  395, 396
Phytoalexine 385 Polyphenole 390 Protein 76
Phytomasse 31 Polyphylie 347 –– Aminosäuresequenzen 77
Phytomimese 69 Polyplacophoren 102 Proteinbiosynthese  229, 230, 245, 386
Piaget, Jean  534 Polyploidie 272 Proteinelektrophorese  306, 307
Pikaia 105 Polyploidisierung  272, 302 Proteinkinasefamilie 274
Piliocolobus 529 Ponginae 436 Proteobakterien  77, 353
Pilz 125 Pongo 69 –– α-Proteobakterien  240, 243, 245,
–– endophytischer 390 Populationsgenetik  41, 70, 288, 296, 284, 350, 390
Pinales  187, 362 310, 315, 317, 321 Proteom 268
Pinguin  181, 374 Populationswachstum 530 Proterozoikum 88
Pinzettengebiss 431 Porifera  107, 363 ε-Protobacteria 353
Piperidin-Derivat 387 Posidonienschiefer 171 Proto-Hylobatide 435
Pithecanthropus  468, 469 Positronenemissionstomographie Proto-Krieg 440
Pitheciidae 431 (PET) 442 Protoconch 110
Pituriaspida 119 Prä-Acheuléen-Steinwerkzeuge 490 Protocyten  234, 235
Placentalia 156 Prä-Neandertaler  493, 494 Protosepten 106
Placodermi  120, 130 Prachtfärbung 381 Protostomia  272, 363
Placodontia 151 Prädator 405 Prototaxites 125
Placozoa 363 Präkambrium  88, 91 Protoxin 385
Planctomyceten 355 Prasinophyta 358 Protozoen 356
Plankton 112 Prätegelen 204 –– parasitische 284
Plasmid  247, 283 Priapuliden  95, 208, 210, 366 Pseudociliata 357
Plasmodium falciparum 242 Primärproduzent 384 Pseudogen  275, 326, 337
566 Stichwortverzeichnis

Pseudozahnvögel 180 Regression des Meeres  114 Riffbildner  100, 185


Psilophytatae  120, 125, 132 Rekapitulation  266, 267 –– im Paläozoikum  106
Psychologie, evolutionäre  449, 531 Rekombination  225, 236, 247, 256 Riffkorallen  107, 238
Pteridophyta 140 –– genetische 245 Rippenqualle 363
Pteridopsida 361 –– homologe  253, 258 Riß-Eiszeit 206
Pteridospermae  135, 140 –– ortsspezifische 258 Riß-Würm-Warmzeit 206
Pterobranchia 368 –– transpositionale 258 Robbe 196
Pterodactyloidea 157 Rekombinationsreparatursystem 252 Rohstoff 53
Pterosauria 156 Relative-rate-Test  335, 336 Rollsteinflut 121
Pterygota  137, 366 Religion 541 Rooted tree  329
Pumiliotoxin 397 Religiosität 542 Rosenkohl 31
Punktmutation  248, 285, 407 Remane, Adolf  40 Rosiden 363
–– Weitergabe 319 Renaissance  8, 529 Rostroconchia 102
Punktualismus 41 Renin-Angiotensin-System (RAS)  546 Rotalge 358
Purinbase 248 Reparaturenzym  225, 252 Rotgesichtsmakaken 531
Putamen 458 Replacement-Theorie 482 Rotkehlchen 297
Putzer-Symbiose  30, 32 Replikation  224, 235, 242, 245, 256 Rotliegendes  141, 146
Pygmäen 509 Reproduktionsbiologie 34 rRNA-Gen 328
Pygostyl 177 Reproduktionsstrategie 427 Rückmutation 333
Pygostylia 374 Reproduktionszyklus 426 Rudistenriff 185
Pyralidae 401 Reptilien 369 Rugosa  106, 125, 126, 136, 147
Pyrimidinbase  222, 248 –– Trias 155 Rüsseltier 196
Pyrit 124 Resistenzgen 283
Pyrosesequenzierung 307 Resonanzfrequenz 457
Pyrrolizidinalkaloid  254, 391, 395, 402
Pyrrolysin 228
Restriction site associated DNA  310
Restriktionsendonuclease  306, 312
S
Pythagoras 2 Restriktionsenzym  307, 308 Saale-Eiszeit 206
Restriktionsfragment-Längen-Polymor- Saale-Komplex 204
phismus (RFLP)  306, 312, 314 Saar-Nahe-Senke 143
Q –– Analyse 312
Retentionsindex 332
Sagittariidae 376
Sahelanthropus 468
Qualität, genetische  382 Retroposon 280 Saint-Hilaire, Etienne Geoffroy  18
Quantitative Trait Loci (QTL)  291 Retropseudogen 275 Sakralwirbelsäule 447
Quartär  188, 203 Retrotransposon  275, 276, 280 Salvadoraceae 391
Quastenflosser  212–214, 282, 368 Retroviren  253, 277, 279, 283 Salzlager 116
Reziprok-Beziehung 540 Salzvorkommen 142
Rhamphorhynchoidea 157 Samenpflanzen 397
R Rhesusaffe 433 Sapote 523
Sarcopterygii 212
Rhipidistia 130
Rabenkrähe 301 Rhizaria 358 Satelliten-DNA  276, 279
Rachenabstrich 323 Rhizoide 361 Sauerstoffisotopen-Stratigraphie 203
Rachitis 546 Rhizom 140 Sauerstoffradikale 251
RAD-Marker 310 Rhodophyta 358 Säugetier 381
Radiärsymmetrie 363 Rhynia 132 Säugetierentwicklung 196
Radiolaria 358 Rhyniales 120 Saurischia  159, 161, 187
Randomly amplified polymorphic DNA Ribonucleinsäure (RNA)  222 Sauropoda 164
(RAPD) 315 –– Interferenz (RNAi)  227 Sauropodomorpha  161, 163
Rangwapithecus 465 –– Polymerasen  225, 226, 235, 263 Sauropsida 369
Ranunculin 385 –– ribosomale 229 Scandentia 433
Rationalismus 10 –– snRNAs (small nuclear RNAs)  226 Schachtelhalm 361
rbcL-Gen  338, 409 –– Splicing 261 Schädelkapazität  450, 492, 495
Re-pairing hypothesis  382 –– tRNA 230 Schädelmorphologie 503
Reactive Oxygen Species (ROS)  251 Ribosom  78, 229, 241 Schermaus 205
Rearrangement 327 Ribozym  226, 235 Schildkröte  195, 369
Red Queen Hypothesis  397 Rickettsien 353 Schimpanse  433, 437, 439, 455, 457,
Reduktionsteilung 256 Riechhirn 424 458, 529, 532
Refugialraum 410 Riechsinn 424 –– Gehirn 440
Stichwortverzeichnis 567

Schimper, Andreas  240 –– intersexuelle 427 Sitten 531


Schlafkrankheit 357 –– künstliche 263,  291 Sittlichkeit  538, 540
Schlammfisch 193 –– natürliche  29, 220, 247, 248, 256, Sivapithecinae 467
Schlangen 195 288, 291, 539 Sklerosepten 107
Schlangenadler 378 –– negativ-frequenzabhängige 292 Small shelly fossils  93
Schleife 230 –– negative 292 Smith-Waterman-Algorithmus 327
Schleimaal 368 –– positiv-frequenzabhängige 292 Smith, William  18
Schleimpilz 358 –– positive 292 SNP-Analyse 310
Schließzellen 359 –– sexuelle  34, 292, 381, 426 Solutréen 514
Schlüsselgen 507 –– stabilisierende 292 Sommergoldhähnchen-Komplex 300
Schmelzschuppenfische 172 Selektionskoeffizient 293 Sonarsystem 408
Schmelzschupper 143 Selektionsprinzip 27 Sonic Hedgehog  37, 74
Schmitz, Friedrich  240 Selenocystein 228 Sonnensystem 43
Schmutzgeier 378 Semantik 453 Sortenschutzrecht 519
Schnecken 154 Senecio 403 Southern-Blot 312
Schneckenfauna 202 Senecioneae 391 Sozialstruktur des Menschen  426
Schneeeule 349 Sequenz, retrovirale  281 Sozialsystem 424
Schreibkreide 183 Sequenzangleichung 275 –– monogames 425
Schreivögel 182 Sequenzierung Sozialverhalten  419, 420, 455
Schrift 527 –– chemische 307 Soziobiologie  42, 317, 381, 419, 420,
Schriftstein 112 –– von Markergenen  322 544
Schriftzeichen 457 Sequenzunterschied 344 Spaltungsregel 287
Schuhschnabel 181 Sequenzvariabilität 344 Spartein 389
Schuppentiere 193 Serin 455 Spermatophore 403
Schutz, mechanischer  385 Serologie 306 Spermatophyta 361
Schutzanpassung 68 Serotonin 454 Spermienkonkurrenz 381
Schwalmvögel 181 Sex allocation  383 Spermium 81
Schwämme  175, 188, 363 Sex-Pili 281 Speziation 296
Schwangerschaft 449 Sexing 518 Speziesbaum 329
Schwarzer Jura  171 Sexualdimorphismus  292, 424, 426, Sphenodon 341
Schwarzschnabel-Sturmtaucher 346 462, 474, 495 Sphenophyllum 140
Schwefelbakterien, grüne  355 Sexualitätentwicklung 379 Sphenophyta 361
Schweinezucht 517 Sexy son hypothesis  382 Sphenopsida 361
Schwesterchromatid  256, 258 Shiga-Toxin 282 Spiegelneurone 454
Schwestergruppe 346 Short Interspersed Elements Spindelapparat 256
Schwimmblase 368 (SINEs)  276, 280 Spiritualität 544
Sciurus 66 Short Tandem Repeats (STR)  280, 315 Spirochaeten 355
Scleractinia  144, 149, 154, 175 Sichelzellanämie  293, 295 Spitzhörnchen 433
Scyphocrinoidea 118 Sigillaria 139 Spleißen, alternatives  225, 261
Seeadler 378 Signalmolekül 77 Splicing 226
Seeigel  154, 184, 186 Silencer 263 Split brain  453
Seekühe 196 Silent Mutation  254 Spontangenese 5
Seelilien  125, 184 Siliciumdioxid 183 Spontanmutation 252
Sehen, binokulares, räumliches  424 Silur  116, 209 Sporentierchen 358
Sehfeld 424 –– Agnathen 118 Sporenwand 359
Sekundärproduzent 384 –– paläogeographische Situation  117 Sporophyten 359
Sekundärstoffe  77, 252, 284, 383, Simiae  429, 462 Sporozoa 358
385, 395 Simiiformes  429, 462 Sportzucht 519
–– als taxonomischer Marker  389 Similous 465 Sprache  455, 456, 537
Selaginellales 361 Sinanthropus 469 Sprachkompetenz 541
Selbstbefruchtung 311 Single Nucleotide Polymorphisms Sprechapparat 455
Selective Sweep  293 (SNPs)  248, 317 Sprosser 301
Selektion  293, 296 –– Markersysteme 319 Stachelhai 130
–– ausgleichende  293, 295 Single-copy-DNA 306 Stammart, gemeinsame  346
–– disruptive 292 Singvögel  182, 375 Stammbaum  73, 221, 230, 236, 327,
–– frequenzabhängige 292 Sintflutglauben  53, 201 328, 341, 363
–– gerichtete  292, 294 Siphunkel  110, 127 –– der Landpflanzen  389
568 Stichwortverzeichnis

–– des Lebens  351 Symbiogenese  234, 238 Tethys-Meer  49, 144, 149, 152, 170,
–– dichotomer 346 Symbiose  237, 284 197
–– mitochondrialer 375 –– sekundäre 284 –– Relikte 51
–– Verlässlichkeit 329 Symplesiomorphie  329, 347 Tethytheria 374
Stammbaumrekonstruktion 327 Synapomorphie  71, 72, 329, 332, 347, Tetrabranchiata 110
Stammesgeschichte  220, 319 391 Tetracorallia 106
Stammstruktur  229, 230 Synapsida 155 Tetracyclin 283
Stammzellen 506 Syncytin 278 Tetramastigota 356
Standard Genetic Distance  311 Syngamie 238 Tetrapoden  118, 130, 214, 368
Staphylococcus aureus, Methicillin- Syntax 453 Thalassämie 254
resistenter (MRSA)  283 System Thales von Milet  2
Starstein 146 –– künstliche 63 Thaliacea 368
Startcodon 228 –– natürliches  61, 220 Thallus, vegetativer  359
Statussymbol 381 –– phylogenetisches 61 Thanatozönose 193
Stegocephalia 143 Systema naturae  12 Thelodonti 119
Stegosauria 165 Systematik 342 Theologie 420
Steinheimer Becken  202 –– molekulare  322, 341 Theophrast 6
Steinkohlenwald 139 Systemeigenschaft 538 Therapsida 155
Steinkorallen 32 Theriodontia 155
Steinwerkzeuge  459, 480, 490, 512, Thermoproteales 353
520
Steneosaurier 172
T Thermus aquaticus 308
Theromorpha 155
Steppenelefant 204 Tabulata  107, 125, 126, 134, 136 Theropoden  137, 159, 161, 177
Sterol 76 Tandem-Repeat 276 Theropsida 155
Stielglieder 184 Taq-Polymerase  308, 309, 323, 356 2-Thiocytosin 230
Stimmritze 457 Tardigraden 366 2-Thiothymin 230
Stoppcodon  230, 254 Target 386 Thiouracil 230
Störartige 176 Targetsite-Modifikation 407 Threonin 455
Storchenvögel 181 Tarsiiformes  429, 461 Thymidin 223
Strahlentierchen 358 TATA-Box 226 Thymin  222, 249
Strahlung, radioaktive  253 Taxon  70, 342 Thyreophora 165
Stramenopilata 358 –– character sampling  333 Tierhaltung, ökologische  519
Strangabbruchmethode  307, 325 –– sampling 330 Tierprimaten  421, 460
Strepsirrhini 432 Taxonomie  310, 342 –– Fossilgeschichte 460
–– fossile 461 t-DNA, siehe Transfer-DNA Tierproduktion 518
Streptophyta  358, 359 Tegelen 204 Tierzucht  517, 519
Stress 547 Tegulae 431 –– biomedizinische 519
Strigidae 347 Telencephalon  424, 444, 453 –– landwirtschaftliche 519
Strigiformes 376 Teleologie 6 Tiktaalik 131
Strikter Konsensus  332 Teleonomie 6 Tinkering 266
Stromatolithen 88 Teleosteer  176, 186, 191 Titanosauridae 164
Stromatoporen  107, 126, 134, 147 Telomer 245 Tomate 524
Struthioniformes 410 –– DNA 276 Tommotium-Fauna 93
Substanz, interkalierende  252 Telomerase 279 Torfmoos 361
Substitution Telomersequenz 279 Totenkopfäffchen 431
–– multiple  328, 338, 339 Telophase 258 Toxoplasma gondii 242
–– neutrale 254 Tempestite 151 Tracheophyta 390
–– synonyme 293 Template-DNA-Strang  226, 309 Tracheophyten 361
Substitutionsmodell 331 Tentaculita  111, 125 Trachom-Erreger 355
–– statistisches 332 Tentaculitenschiefer 111 Tradition 531
Sulfolobales 353 Teratornithidae 180 Traditions-Homologie 83
Supplementär-motorisches Areal Terminationscodon 228 Transcriptase, reverse  225, 276, 279
(SMA) 458 Terpene  390, 395 Transfer-DNA (t-DNA)  283
Suspensionsfresser 102 Tertiär 188 Transgenerationseffekt 508
Svedberg-Einheit 229 –– Insektenfauna 190 Transgression des Meeres  114
Sylviornithidae 180 Testicardines 99 Transition  248, 250, 252, 331, 333
Sylvius, Jacob  10 Tetanurae 161 –– Häufigkeiten 333
Stichwortverzeichnis 569

Transkription  226, 235, 242, 245 Unit evolutionary period  334 Verteidigung, chemische  387, 403
Transkriptionseinheit 225 Universalienrealismus 8 Verwandtenselektion  292, 539
Transkriptionsfaktor  226, 227, 263 Universalienstreit 7 Verwandtschaftsanalyse 426
–– Pax6 268 Unpaarhufer 198 Verwandtschaftsforschung 433
Transkriptom  307, 310 Unrooted tree  329 Vesalius, Andreas  10
Translation, siehe auch Proteinbiosyn- Unterkohle 194 Victoriapithecidae 464
these  229, 235, 241, 242 Unweighted parsimony  332 Vielzeller 236
Translokation 248 Ur-Erde 234 –– präkambrische 91
Transportsystem  401, 407 Uracil 222 Virchow, Rudolf  224
Transposon  254, 263, 280 Urfarn 132 Vitamin-D-Mangelerscheinung 546
Transversion  249, 250, 252 Urflügler 137 Vögel  369, 374, 381
–– Häufigkeiten 333 Uridin  223, 249 Vogelmerkmal 177
Transversionsverhältnis 331 Urinsekten, apterygote  366 Vokaltrakt 457
Trappbasalt 147 Urmeer 88 Volborthellen-Sandstein 122
Tree of Life (Baum des Lebens)  230 Urochordata 368 Von-Economo-Spindelzelle 440
Treibhauseffekt 147 Urothelzellen 272 Vormensch 474
Trennungszeit 331 Urpferdchen 193 –– Fossilgeschichte 468
Treuchtlinger Marmor  173 Ursprungszentrum 408 Vorsokratiker 2
Trias  148, 149 Urvogel 177 Vulcanodonsauridae 164
–– Massenaussterben 169 UV-Strahlen  252, 253, 389 Vulkaneruption 146
–– Pflanzenwelt 169 Vulkanismus  115, 201
Trichomonaden 244
Trigonioida 154 V
Trilobiten  98, 99, 106, 115, 116, 122,
125, 127, 136, 147 Valgus-Knie 446
W
Triplettcode, universeller  228 Variabilität Waal 204
Trivers, Robert  540 –– genetische 256 Wacken-Warmzeit 492
tRNA-Molekül 338 –– phänotypische  226, 261, 263, 292 Wahlund-Effekt 296
Trochophora 366 Variable Number of Tandem Repeats Wahrnehmung 535
Trümmerkalk 185 (VNTR)  280, 313 Waldelefant 205
Tubulin 241 Variation  235, 288 Waldohreule 349
Tunicaten 368 –– kontinuierliche 291 Wale  196, 368, 374
Turkanopithecus 465 Vaterschaftsanalyse 286 Warnfärbung  292, 402
Typ, morphologischer  65 Verarmung, genetische  295 Wasserstoffbrücke 223
Typostrophismus 41 Verbreitung, disjunkte  48 Wasserstoffhypothese 243
Tyrosinase 289 Verdauung, Kooperation mit Mikroorga- Wegener, Alfred  40
Tytonidae 347 nismen 32 Wehrchemie der Pflanzen  397
Verdriftung durch Meeres- Weibchenwahl 381
strömung 408 Weichsel-Eiszeit 206
U Vereisung, nordische  204
Vererbung  247, 288
Weighted parsimony  332
Weinberg, Wilhelm Robert  288
Überbevölkerung  504, 545 –– biparentale 285 Weißer Jura  171
Überdominanz 293 –– epigenetische  227, 505 Welle, elektromagnetische  537
Übergewichtigkeit 546 –– erworbener Eigenschaften  227 Welwitschiaceae 363
Uhlenhuth, Paul  306 –– klonale 245 Werkzeuge 459
Uhr Verfahren, heuristisches  332 Werkzeugkultur 512
–– molekulare  221, 293, 307, 331, 336 Verhalten 231 Werner-Syndrom 253
–– radioaktive 56 Verhaltensanpassungsfähigkeit 445 Wernicke-Areal  443, 481
Uhu 349 Verhaltensforschung  81, 535 Wernicke-Sprachzentrum  453, 457
Ulluco 524 Verhaltensgene 291 Wettrüsten 397
Ultraschalllaut 408 Verhaltensmerkmal 291 Wiedererkennen 532
Ultrastrukturforschung 81 Verhaltensprogramm 539 Wildtyp-Allel 285
Ulvophyta 358 Verinselungseffekt 295 Wimpertierchen 357
Umwandlungsreihen 58 Vermehrungsdruck 530 Windbestäubung 363
Undularia 151 Vernichtungsdruck 530 Wintergoldhähnchen 300
Uniformitätsregel 287 Versteinerter Wald von Chemnitz  145 Wirbellose  172, 381
Unikonta  356, 358 Vertebraten  97, 194, 368 Wirbelsäule 546
570 Stichwortverzeichnis

Wirbeltiere  351, 366 Xeroderma pigmentosum  252, 253 Zellteilung 224


–– Extremitäten 64 Xiphosuren 210 –– mitotische 256
–– Landgang 131 Xylem 361 Zelltod, programmierter, siehe auch
–– tetrapode 64 Apoptose 252
Wirt-Parasit-Beziehung 292 Zivilisation 512
Wissenschaftstheorie, evoluti-
onäre 538
Y Zoomasse 31
Zoomimese 69
Wnt-Familie  268, 270 Y-Chromosom 516 Zooxanthellen 238
Wnt-Signalweg 264 Yamsknolle 524 Züchtung 265
Wolbachia 284 Yunnanozoon 105 Zuchtwahl, geschlechtliche  34
Wolff, Caspar Friedrich  14 Zufall  295, 535
Würm-Eiszeit 206 Zugverhalten 378
Wurzelknöllchen 284 Z Zweikeimblättrige 363
Wynne-Edwards, Vero  292 Zwergschimpanse 440
Zähne 460 Zwillinge  256, 507
Zähne-als-Werkzeuge-Hypothese 495 Zwillingsarten  71, 328
X Zechstein 141
Zeitalter der Technik  529
Zwitterblüten 363
Zwittrigkeit 379
Xanthophyceae  240, 358 Zeitnische 47 Zygnemophyta 358
Xenacanthodi 142 Zellaufbau 78 Zygodactylidae 182
Xenarthra 374 Zellbiologie 75 Zygomyceten 359
Xenophanes 2 Zelldifferenzierung 272 Zygotän 258
Xenosom 240 Zellevolution 234 Zygote 256
Xenusion auerswaldae 122 Zellkern  231, 234
Zellmembran 235

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