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VO MUSIKALISCHE STRUKTURANALYSE / FORMENLEHRE 02

3. Einheit

FORMEN 10: Werkzyklen und Miniaturen

Unter Werkzyklen kann man viele verschiedene Gattungen verstehen, deren Gemeinsamkeit eben
vor allem darin besteht, dass sie aus mehreren Teilen zusammengebaut sind, die sich aufeinander
beziehen, aber dennoch unabhängig voneinander als Einzelsätze funktionieren.

Amon definiert eine zyklische Form bzw. Zyklus folgendermaßen: (nach Amon 2011, S. 433)
„Größeres Werk in instrumentaler, vokaler oder vokal-instrumentaler Besetzung, das aus mehreren
selbständigen Teilen bzw. Sätzen besteht. Die Anzahl der Sätze in zyklischen Instrumentalwerken
beträgt zwei, drei vier und seltener darüber hinaus – manchmal jedoch bis zu sieben und mehr (z.B.
im Divertimento). Sie unterscheiden sich in Charakter, Taktart, Tempo, Textur, Tonart etc. und sind
selbst nach unterschiedlichsten Formkriterien (Bogenform, Entwicklungsform, Fuge, Liedform,
Reprisenform, SSF, Rondoform, Sonatenrondo, Variationssatz etc.) gestaltet.“ (Amon 2011, S. 433)

Amon unterscheidet zwei Gruppen und gibt jeweils Beispiele für bestimmte Gattungen:

I) instrumentale zyklische Werke

Concertante, Concerto, Divertimento, Konzert, Präludium und Fuge, Serenade, Sinfonie, Sonate,
Streichquartett, Suite etc.

II) vokale bzw. vokal-instrumentale Werke

Kantate, Messe, Oper, Operette, Oratorium, Requiem, Liederzyklen etc.

Zyklische Werke können dafür konzipiert sein, dass sie im ganzen als „geschlossene Folge“
aufgeführt werden, oder aber die Möglichkeit in sich tragen, dass auch einzelne Teile aufgeführt
werden können (z.B. J. S. Bach: Wohltemperiertes Klavier).

Für eine „geschlossene Folge“ ist wichtig, dass bestimmte Eigenheiten und Traditionen einer
Gattung zum Zug kommen (z.B. bei Messen besonders gut ersichtlich, die ja mit einem
Ablaufkonzept koordiniert sind). Aber auch Handlung, Programm und ein bestimmter Textbezug
tragen dazu bei, dass sich mehrere Werke klar aufeinander beziehen. Von kompositorischer Seite
kann das durch die Bildung von Substanzgemeinschaften unterstützt werden (z.B. durch ein
gemeinsames motivisch-thematisches Material oder bestimmte tonale und harmonische
Zusammenhänge und Bezüge). In manchen zyklischen Werken gibt es auch einen Kontextbezug
durch eine Aneinanderreihung der einzelnen Sätze (z.B. bei Walzerketten, aber auch bei
durchnummerierten Variationssätzen). Zusammenhang zwischen den einzelnen Sätzen kann auch
durch ein besonderes Konzept entstehen, wie etwa die Idee virtuose Musik in einer gemeinsamen
Sammlung zu vereinen (z.B. bei Etüden und Capricen) – hier liegt aber nicht immer die
Notwendigkeit vor, diese als geschlossene Folge zu betrachten und oftmals werden auch einzelne
Etüden, Capricen etc. gespielt.

Über die Entwicklung der zyklischen Formen:

„Im historischen Rückblick zeigt sich die Aufeinanderfolge der einzelnen Teile in Zyklen der
Instrumentalmusik zunächst als ein IneinanderÜbergehen, wie z.B. in der Kirchensonate. Später –
ab ca. 1730 – werden die Sätze getrennt. Gegen Ende des 18. Jhdts. erscheinen vereinzelt -17-
„attaca“-Anschlüsse (primär vom langsamen zum schnellen Satz), danach immer häufiger. Im 19.
Jhdt. sind die Sätze manchmal klingend miteinander verbunden (entsprechend dem romantischen
Unendlichkeitsideal, z.B. im Violinkonzert e-Moll op. 64 von F. Mendelssohn, oder aus
programmatischen Gründen, z.B. bei M. Mussorgskij, Bilder einer Ausstellung, mit den
„Promenaden“ von Bild zu Bild). Das konsequente Verschmelzen aller Sätze ist in der Sinfonischen
Dichtung (Programmmusik) des 19. Jhdts. realisiert.“ (Amon 2011, S. 433)

Zur harmonischen Konzeption von zyklischen Werken im 18. und 19. Jahrhundert:
Der erste und der letzte Satz eines zyklischen Werkes stehen meistens in der gleichen Tonart, die
auch die Grundtonart des gesamten Werkes ist. Dass die Sätze dazwischen in einer anderen Tonart
stehen, ist ein Novum, das z.B. bei barocken Suiten noch nicht zu finden ist, wo alle Sätze in der
gleichen Tonart stehen (Ausnahme Minore- bzw. Maggiore-Sätze).
Die mittleren Sätze können in unterschiedlichen Tonarten stehen, die allerdings bei klassischen und
(früh-)romantischen Werken in einer verwandten Tonart stehen. Solche Verwandtschaften sind
häufig durch Dominanten und Subdominanten geklärt, aber auch durch Paralleltonarten und später
immer öfter auch Medianttonarten.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts spielen diese engen Beziehungen zwischen den Tonarten
zusehends nicht mehr die wichtigste Rolle (vgl. das harmonische Konzept der Bilder einer
Ausstellung) und die einzelnen Sätze entfernen sich harmonisch immer weiter voneinander.
Vor allem die Aneinanderreihung von kurzen Charakterstücken in der Romantik zeigt, dass diese in
ganz unterschiedlichen Tonarten stehen können (z.B. Robert Schumann: Kinderszenen, Papillons...)
Im 19. Jahrhundert entstehen auch eine Vielzahl an Klein- und Kleinstformen, die sich sehr gute für
eine geschlossene Folge innerhalb eines zyklischen Werkes eignen und die im 20. Jahrhundert dann
wiederum wesentlich zu einem neuen Formverständnis beitragen.

Charakterstück: (Amon 2011, S. 59)


„Einsätziges, kurzes Instrumentalstück mit poetischem bzw. programmatischem bzw. neutralem
Titel, welcher einen inhaltlichen Bezug wiedergibt. Die Grundstimmung wird meist für das ganze
Stück beibehalten. Charakterstücke sind vorwiegend für Klavier geschrieben und waren besonders
im 19. Jhdt. beliebt. Während dabei nicht die Formungsidee oder Konstruktion im Blickpunkt steht,
sondern – wie schon der Name sagt – der dargestellte Charakter, das romantisch-lyrische Moment,
sind die Formen des Charakterstücks konventionell. D.h. sie sind selten frei-rhapsodisch, sondern
bevorzugt zwei- oder dreiteilig (ev. auch zusammengesetzt) nach dem Muster der Liedform. Ihr
Liedcharakter entspricht der romantischen Neigung des NachInnenSchauens. Die Konstruktion tritt
gegenüber dem romantisch-lyrischen Moment in den Hintergrund. Daraus ergibt sich auch die
relativ kurze Dauer solcher Stücke.“ (Amon 2011, S. 59)
Typische Charakterstücke sind:
Albumblatt, Intermezzo, Fantasie, Impromptu, Moment musical, Lied ohne Worte, Nocturne,
Humoreske, Berceuse, Burleske; oder aber ein Titel, der ein bestimmtes Bild suggerieren soll, z.B.
„Träumerei“, „Venetianisches Gondellied“ etc.
Solche Charakterstücke werden häufig in Zyklen zusammengeschlossen, wie etwa die „Lieder ohne
Worte“ von Mendelssohn, die „Impromptus“ und „Moments musicaux“ von Schubert, oder aber in
Sammlungen, wie etwa „Album für die Jugend“ von Schumann
Interludes: (nach Amon 2011, S. 166)
Dabei handelt es sich um ein Zwischenspiel (z.B. in der Messe) oder einen szenischen Einschub
zwischen Akten einer Oper. Es kann aber auch ein kurzer Teil sein, der zwischen den Sätzen eines
zyklischen Werkes wiederkommt. Im Bereich der Fuge, kann es auch ein kurzes Zwischenspiel
zwischen den Themen sein.
Intermezzo: (nach Amon 2011, S. 166)
Kann ebenfalls ein Zwischenspiel sein, existiert aber auch als einsätziges Charakterstück in meist 2-
oder 3-teiliger Liedform (hpts. für Klavier, z.B. von Brahms und Schumann). In der Opera buffa
werden komische Einlagen ebenfalls oft „Intermezzo“ genannt. -18-
EXEMPLARISCHE WERKANALYSE:

Modest Mussorgskij (1839-1881): Bilder einer Ausstellung (1874)

Besetzung: Klavier solo, später Orchesterfassungen (berühmt ist vor allem jene von Ravel)
Dieses zyklische Werk besteht aus einer Reihung von Einzelsätzen (insgesamt 10 Stücke), die
rondoartig durch ein wiederkehrendes und variiertes Stück (4 „Promenaden“) formal
zusammengehalten werden. Manchmal werden die Bilder einer Ausstellung auch als Klaviersuite
bezeichnet.

Ablauf der Sätze:

Promenade I B-Dur
Gnomus es-Moll
Promenade II As-Dur
Il vecchio castello gis-Moll
Promenade III H-Dur
Tuilerien H-Dur
Bydlo gis-Moll
Promenade IV d-Moll
Ballett der Küchlein in ihren Eierschalen F-Dur
Samuel Goldenberg und Schmuyle. Zwei polnische Juden, der eine reicht, der andere arm. b-Moll
Promenade V (=I) B-Dur
Marktplatz in Limoges Es-Dur
Catacombae. Sepulcrum Romanum h-Moll
Promenaden-Variation „Con mortuis in lingua mortua“ H-Dur
Die Hütte auf Hühnerkrallen. Baba Yaga C-Dur
Promenaden-Variation Es-Dur
Das große Tor von Kiew Es-Dur

Auf den ersten Blick wirkt es so, als würden die einzelnen Stücke in keinem tonartlichen Bezug
zueinander stehen, was aber nicht stimmt, da es doch tonartliche Verbindungen zwischen den
einzelnen Sätzen gibt: „Die Einheit der Suite ist gewahrt durch die Beziehung auf die Zentraltonart
Es-Dur. Von diesem Zentrum aus gesehen, ist die Aufeinanderfolge der Tonarten eine
auskomponierte Kadenz, die von der Dominante (D = B-Dur) ausgeht, über die Molltonika (°T =
es-Moll) zu einer enharmonischen Umdeutung des Subdominant-Bereichs (as = gis) führt, sich über
die Doppeldominante (DD = F-Dur) und Dominante zur Tonika zurückwendet, und dann mit
neapolitanischer Rückung (h-C) auf mediantischem Weg in das große Es-Dur-Finale einmündet.
Der scheinbare Sprung von Bild 4 (gis) zur Promenade IV (d) ist durch die Leittondeutung des
Tones gis zu a motiviert und betont zugleich das Tritonus-Intervall, das im Verlauf der Suite eine
wichtige Rolle spielt.“ (Hübsch 1978, S. 11)1

Idee des Realismus in Russland im späten 19. Jahrhundert

Mussorgskijs kompositorische Absicht war nicht, Seelenzustände zu bündeln, oder eine bestimmte
abstrakte Idee darzustellen, ebensowenig ist seine Musik als Programmmusik zu verstehen.
Mussorgskij war den Idealen des Realismus verpflichtet, das Leben und die Wirklichkeit so darzu-
stellen, wie sie sich ihm zeigen: „Für ihn ist die Musik eine „vom Leben gespeiste Sprache“, nicht
abstrakte Form. Wie die Maler und Schriftsteller will er Bilder, Szenen, Handlungen und Em-
pfindungen darstellen, mit den der Musik gemäßen Mitteln. Oberstes Kriterium ist die unmittelbare
Wahrhaftigkeit des Ausdrucks, danach wählt er seine Mittel.“ (Hübsch 1978, S. 4) -19-

1 Hübsch, Lini: Meisterwerke der Musik. Mussorgskij. Bilder einer Ausstellung. Wilhelm Fink Verlag München, 1978
Musikalische Mittel bei Mussorgskij und die Suche nach einer russischen Kunst:
Für Mussorgskij waren die musikalischen Mittel der westlichen Musik, wie etwa Techniken der
Sinfonik und Kontrapunktik, nicht die Grundlage seiner Arbeit. Wichtiger war es ihm, eine genuin
russische Musiksprache zu schaffen: „In seiner von Bild, Wort und Szene inspirierten Arbeitsweise
ist „kein Platz für vorgefaßte Paragraphen und Gesetze.“ Der Wille, auf die russische Tradition
zurückzugehen, stellt sein Schaffen unter andere Kriterien. Die Faktoren, die für ihn wichtig
werden, sind die russische Sprachrhythmik, die Laut- und Tonnuancen der russischen
Sprachmelodie, die vielfach noch modalen Strukturen des russischen Volkslieds und die aus der
Heterophonie, der improvisatorischen Umspielung der gleichen Melodie, erwachsene russische
Mehrstimmigkeit.“ (Hübsch 1978, S. 5)
Mussorgskij war Teil eines Künstlerkreises, die eine bestimmte liberale Bewegung in Russland
repräsentierten, deren Ziel eine nationalrussische Kunst war, die „in der eigenen Geschichte und
Tradition die charakteristischen Elemente, Motive und Formen suchte. In der Musik waren es,
angeregt durch Glinka und Dargomischskij, die Musiker um Balakirev, die diese Ideale zu
verwirklichen trachteten, in der Literatur Gogol, in der Malerei Repin, in der Bildhauerei
Antokolskij, in der Architektur Hartmann.“ (Hübsch 1978, S. 6)

Aussermusikalische Vorlage: Die Bilder der Ausstellung zum Gedenken Hartmanns


„Der Ausstellungskatalog 1874 verzeichnete etwa vierhundert Werke Hartmanns und erwähnte
fünfzig weitere, die in der Ausstellung nicht gezeigt wurden. Von den Werken, die Mussorgskij
seiner Suite zugrundegelegt hat, sind nur noch wenige im Original nachweisbar. Es sind
Reiseskizzen, Architektur- oder Kostümentwürfe, und kunsthandwerkliche Arbeiten. Mussorgskijs
Stücke haben zu den Originalwerken Hartmanns meist nur eine lose Beziehung. Er nahm
Anregungen aus den Skizzen und Entwürfen des Freundes auf und verarbeitete sie völlig
selbständig. Drei der von Mussorgskij dargestellten Bilder („Das alte Schloss“, „Bydlo“ und „Der
Marktplatz von Limoges“) sind im Ausstellungskatalog von 1874 überhaupt nicht aufgeführt. Nach
Aussage Stassovs kamen viele Bilder erst im Lauf der Ausstellung hinzu. Außerdem besteht die
Möglichkeit, dass Mussorgskij bei Hartmann selbst weitere Skizzen gesehen hat oder dass er
Motive aus persönlichen Berichten des Maler-Architekten aufnahm.“ (Hübsch 1978, S. 7) Im
Übrigen handelt es sich bei den meisten „Bildern“ nicht wirklich um Bilder, sondern vielmehr um
Skizzen (z.B. die Architekturskizze des Großen Tors von Kiew), aber auch um Kostümentwürfe
(z.B. Ballett der Küchlein in ihren Eierschalen) und Mussorgskij kombinierte auch zwei Bilder zu
einem (z.B. Samuel Goldenberg und Schmuyle. Zwei polnische Juden, der eine reicht, der andere
arm). Es ist deswegen nicht ganz richtig, wenn man sich eine Ausstellung mit Bildern vorstellt, die
Mussorgskij in einer bestimmten Reihenfolge durchschreitet, wenngleich das natürlich die Funktion
der Promenaden suggeriert wird.

Musikalisches (Selbst-) Portrait: Das komponierte Bildnis


Mussorgskij und Hartmann waren befreundet und die Trauer über den Tod des Freundes dürfte die
Triebfeder für die Komposition gewesen sein. Dabei macht Mussorgskij etwas, was in der Malerei
üblich ist, in der Musik bislang aber kein gängiges Kompositionsprinzip ist: die Darstellung der
eigenen Person in einem musikalischen Kontext: „Ich schreibe an der vierten Nummer – die
Übergänge sind gut (als „Promenaden“). Ich möchte das Ganze möglichst rasch und treffend
zustande bringen. Mein eigenes Abbild erscheint in den Zwischenspielen. Bis jetzt halte ich es für
gelungen.“ (Mussorgskij zit. bei Hübsch 1978, S. 47) Das Alter Ego trifft im Verlauf des Werkes
auf seinen Freund Viktor Hartmann: „In diesem zweiten Teil sind einige ungewöhnliche poetische
Zeilen. Es ist die Musik zu Hartmanns Bild „Die Katakomben von Paris“ zu dem Grabmal aus
Totenschädeln. Musoryanin beginnt mit der Schilderung des düsteren Gewölbes (lang ausgehaltene
Akkorde, rein orchestral, mit langen Fermaten). Dann kommt, von Tremoli umgeben, das Thema
der ersten Promenade in Moll – ein schwacher Lichtschein schimmert in den Schädeln auf, und hier
plötzlich ertönt Hartmanns magischer, poetischer Anruf an Mussorgskij in der Musik...“ (Stassov
zit. bei Hübsch 1978, S. 48) -20-
AUSZUG AUS EINER ANALYSE

Über die Melodik der „Promenade“: (Hübsch 1978, S. 12ff.)

„Die quartdurchsetzte Melodie des Promenaden-Themas ist kein Zitat, verwendet aber die
charakteristischen Merkmale des russischen Volkslieds, die sich aus Tonfall und Rhythmik der
russischen Sprache ergeben. Die häufige Verwendung von Quartschritten, fallenden kleinen Terzen,
seltener Quinten, ist eine Eigentümlichkeit der russischen Sprachmelodik. Der Wechsel
verschiedener Metren, die Reihung unregelmäßiger Perioden, die zwischen Viertel- oder Halbe-
Schwerpunkten eingeschobenen Achtelfolgen spiegeln die unregelmäßige Akzentsetzung, die
Aneinanderreihung unbetonter Silben, die nicht auf glatte Form sondern auf reiche Nuancierung des
Ausdrucks und Differenzierung des Sinngehalts gerichtete Struktur der russischen Sprache. Für die
Notierung ergibt sich daraus die Notwendigkeit häufiger wechselnder Taktvorzeichnungen. In der
Promenade verdeutlicht der Wechsel von 5/4 und 6/4, ebenso die verschiedene taktliche
Einordnung melodisch identischer Teile, - etwa T. 1 = T. 23, 2. Hälfte + Anfang T. 24 – diesen
Hintergrund der sprachgezeugten volksliedhaften Melodik.
Die Quartmotive des Promenaden-Themas – Quartschritt mit einschwingender Sekund oder
anschließendem Terzfall – erscheinen häufig in russischen Volksliedern; […]
Mussorgskij reiht solche Quartmotive unmittelbar aneinander und formt daraus als geschlossene
Gestalt zunächst eine zweitaktige Melodie nach dem Schema a b b a´, wobei die Rahmenmotive a
und a´im Verhältnis der Umkehrung stehen. Diese melodische Gestalt der beiden ersten Takte wird
als Haupt-Thema der Promenade zunächst einstimmig vorgestellt. Die Grundbewegung des
Schreitens erinnert an die Zaren-Hymne des „Boris“ […].
Die pentatonische Führung der Promenaden-Melodie in den Anfangstakten ist eine bewußte
Loslösung von dem gültigen Dur-Moll-System und verweist auf ältere, volkstümlich verwurzelte
Melodietypen, denen Mussorgskij eifrig nachspürte, da sie noch das Stadium der Ursprünglichkeit
und der Unabhängigkeit vom Westen repräsentieren. Die schwebende Tonalität, ebenfalls eine
Eigentümlichkeit des russischen Volkslieds, setzt er bewusst als Ausdrucksmittel ein. Die
Bevorzugung der Nebenharmonien (insbesondere der zweiten Stufe der Skala) bei der
Harmonisierung weist auf den ursprünglichen modalen Charakter der Volkslieder hin. Diesen Zug
greift Mussorgskij zu Beginn des Akkordsatzes in der Promenade auf: mit der Folge g-F im
mixolydischen F-Dur. Der Unisono-Beginn der Promenade und das Zurückmünden in die
Einstimmigkeit am Schluss vieler Bilder sind charakteristische Merkmale der russischen
Mehrstimmigkeit, in der die Hauptmelodie von den improvisierenden Stimmen heterophon umspielt
wird. Die in den russischen Reigen- und Erzählliedern übliche Gegenüberstellung von Vorsänger
und Chor imitiert Mussorgskij bereits in der Anfangsperiode der Promenade: die einstimmige
Melodie wird im Akkordsatz chorisch wiederholt. […]
Die Weiterführung des Anfangsthemas folgt dem Variationsprinzip des russischen Volkslieds:
gleiche Melodieteile werden wiederholt, oft nur wenig abgewandelt, und nach dem Reihungsprinzip
auseinander entwickelt und aneinandergefügt. Russische Liedtexte haben keine abgeschlossenen
Strophen; der Text geht weiter und ist reimlos. Analog baut Mussorgskij die Promenade aus Thema,
Umkehrung, Weiterführung und Wiederholung auf. Refrainartig kehrt am Schluss der Anfangsteil
mit dem Hauptthema wieder (Vgl. S. 36). Solche rondoartigen Wiederholungen gibt es auch in
russischen Reigenliedern, deren Refrain aus wiederkehrenden gleichen Zeilen oder aus Trällersilben
besteht. Aus Melodieführung, Motivik, Intervallik und Bewegungsformen der Promenade entnimmt
Mussorgskij das musikalische Material, das er in variativer Ableitung und immer neuer
Akzentuierung auch den folgenden Bildern zugrundelegt.
Die Promenade, die mit Ausnahme der Variation „Con mortuis in lingua mortua“ immer mit einem
attacca-Schluss endigt, erscheint im ersten Teil der Suite in vier verschiedenen Aspekten, die
jeweils in Tonart und Charakter das folgende Bild vorbereiten. “

-21-
Das Negativbild eines Höhepunktes: (Hübsch 1978, S. 32)

„Catacombae, Sepulcrum Romanum, Largo, 3/4, h-Moll

Stassov: „Hartmanns Bild stellte den Künstler selbst dar, wie er beim Licht einer Laterne die
Katakomben in Paris besichtigt.“
Mussorgskij charakterisiert die römische Begräbnisstätte durch feierliche, in breiten punktierten
Halben fortschreitende Akkorde. Die Dynamik wechselt in kürzesten Abständen zwischen ff, p und
pp und verdeutlicht dadurch den Lichtschein der Lampe, der nacheinander verschiedene Partien aus
dem Dunkel hervorhebt. Das in der Oberstimme festgehaltene fis´(T. 4-11) nimmt schon den fahlen
Schein der Totenschädel im unmittelbar anschließenden Satz „Con mortuis“ vorweg. Die (ab T. 3)
bis zum terzlosen Klang auf Fis (T. 11) ausgefächerten Akoorde ruhen auf einer chromatisch
absteigenden Basslinie, die sich im Ambitus von zwei verminderten Quarten bewegt:

d – cis – c – h – b – a – g – fis
(ais)
|_____________||__________|

Die latente Mittelstimmenmelodie dieser Takte, eine aufsteigende Linie im Quartraum a-d´(T. 4-
11), ist eine Variation des Promenaden-Themas. Sie wird in den folgenden Partien fortgesponnen:
zunächst in der Mittelstimme mit Quintsprung aufwärts (T. 15-18), dann in der Oberstimme im
Terzraum d´´-b´(T. 19-22). In der letzten Phase (T. 25-30) erscheint die melodische Linie über dem
Orgelpunkt Fis, zum Tetrachord geformt, gleichzeitig in Mittel- und Oberstimme, in
Gegenbewegung.
Das Bild entpuppt sich also wiederum als Variation der bisher verwendeten konstruktiven
Grundelemente.
Nach dem attacca-Ansturm aus dem Es-Dur des vorangegangenen Bildes wirkt der fortissimo und
unisono in drei Oktaven einsetzende Ton h als Ziel- und Ausgangston äußerst überraschend. Die
Fortsetzung (T. 2-3) weist den Ton als Terz des G-Dur-Dreiklangs aus. Dieses wird jedoch nicht
mediantisch auf Es-Dur bezogen, sondern auf h-Moll, wie die Weiterführung zur Dominante Fis (T.
11) erkennen lässt. Der nächste G-Dur-Klang (T. 12) wird rasch zu Moll eingedunkelt (T. 13) und
in eine d-Moll-Kadenz eingebaut (T. 15-18). Die Dur-Variante (D-Dur-Septakkord) hebt den g-
Moll-Klang erneut hervor, als Ausgangspunkt einer Folge von terzverwandten Akkorden (T. 22-
24): g-Es-C, die den Eindruck des Feierlichen verstärken (ein Mittel, das Liszt gern zum Ausdruck
des Majestätischen anwandte, etwa in der h-Moll Sonate). Der sforzato hervorgehobene Es-Dur-
Klang (T. 23), eine Reminiszenz an die Haupttonart der Suite, wirkt wie ein plötzliches
Scheinwerferlicht auf die Gestalt Hartmanns, die auf dem Bild der „Catacombae“ mitdargestellt
war. Der Ausstellungskatalog hatte das Bild noch genauer beschrieben als Stassov: „Inneres der
Katakomben in Paris mit den Gestalten Hartmanns, des Architekten Kenel und des Wächters, der
eine Lampe in der Hand hält.“ Mit der neapolitanischen Rückung von C-Dur (T. 24) nach h-Moll,
der Grundtonart dieses Bildes, die zunächst dominantisch umschrieben wird (T. 25), tritt dann der
Raum der Katakomben wieder deutlich in den Blickpunkt des Beschauers. Aber über dem Schluss-
Quartsextakkord (vgl. Bsp. 22) steht immer noch der spannungsvolle Leittonklang zu fis, das in der
Oberstimme erst mit dem Tremoloflimmern des nächsten Bildes eintritt, im visionären Lichtschein
der folgenden Promenaden-Variation „Con mortuis“ (vgl. S. 48).“
Instrumentation der „Catacombae“: (Hübsch 1978, S. 43)
„Die hohen Holzbläser (Flöten und Oboen) und Streicher (Violinen, Bratschen und Celli) fehlen
ganz. Durch Kontrafagott, Posaunen mit Tuba, und Kontrabass ist die „Tiefe“ des unterirdischen
Grabmals wirkungsvoll betont. Die Sopran-Melodielinie (T. 19-22) hebt Ravel als Trompetensolo
hervor. In den pp-Schlussakkorden klingt ein einziger, leiser Tam-Tam-Schlag. In der Promenaden-
Variation bleiben die Bläser Melodieträger, während die Violinen und Bratschen mit ihrem
gedämpften Tremolo-Geflimmer das aus den Totenschädeln aufscheinende Licht illustrieren.“ -22-
Ästhetische Entwicklungen im 20. Jahrhundert

Reduktion: (nach Amon 2011, S. 295)


„Begriff, der seit dem späten 19. Jhdt. (Expressionismus) für das Beschränken der
kompositorischen Mittel auf das Wesentliche angewandt wird. Schmückendes Beiwerk,
MehrfachGesagtes, Gesprächiges, Überflüssiges, Vorbereitendes oder Nachklingendes werden aus
ästhetischen Gründen ausgeblendet. Der eigentliche Kern steht allein und schmucklos im
Blickpunkt (Dekonstruktion). Reduktion bedeutet Vereinfachung, Verkürzung, zugleich auch
Konzentration und Verdichtung. Alles Redundante von Phänomenen wie Wiederholung,
Oktavierung, Verdopplung, klangliche Ausdehnung etc. wird vermieden. Eine Note, ein Rhythmus,
ein Einzelklang oder eine Orchesterfarbe subsummieren und fokussieren Struktur, Ausdruck und
Idee auf eine Geste, auf einen Punkt (fälschlicherweise als Pointillismus bezeichnet).
Bereits in der Romantik werden kleine Formen wie die Miniatur und die Bagatelle komponiert,
später finden Begriffe wie Aphorismus, Fragment Eingang in den ästhetischen Diskurs. Mit dem
Aspekt der Reduktion gearbeitet haben E. Satie, A. Skrjabin, A. Schönberg, A. Webern, G. Scelsi,
Kh. Stockhausen, A. Pärt, G. Kurtág, u.a.
Bekannt wurde die – inmitten der Dekorationen des Historismus bzw. seiner nachfolgenden Stile –
auf das Funktionale reduzierte Architektur von A. Loos, der in seiner Schrift Ornament und
Verbrechen 1908 schreibt: „Ornament ist vergeudete Arbeitskraft und dadurch vergeudete
Gesundheit … Der moderne Mensch … braucht das Ornament nicht, er verabscheut es.“

Bagatelle: (nach Amon 2011, S. 35)


Eine spezielle Form von Miniaturen, ist die Bagatelle. Diese kann wie ein Charakterstück konzipiert
sein, besticht aber vor allem durch ihre Kürze, die manchmal nur ein paar Takte umfasst. Bagatellen
gelten oft als Experimentierfeld für Neuerungen (z.B. Harmonik, Modulationen, Chromatik,
formale Konstruktion etc.). Waren Bagatellen zunächst hauptsächlich Klavierstücke (Beethoven,
Liszt, Dvorak, Bartok), gibt es seit dem 20. Jahrhundert auch immer öfter Bagatellen für
Kammermusikbesetzungen und Orchester (z.B. Webern: 6 Bagatellen für Streichquartett).

EXEMPLARISCHE WERKANALYSE:

Anton Webern: Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9 (1911)

Weberns Werk besteht fast ausschließlich aus Miniaturen – dies gilt sowohl für sein Früh- als auch
Spätwerk (einige wenige Ausnahmen gibt es). Ein Programm oder eine außermusikalische Idee
liegt diesen kurzen Stücken nicht zu Grunde – was Webern zu sagen versucht, wird über die
musikalische Konstruktion erreicht. Das musikalische Material konzentriert sich auf kleinstem
Raum, in den einzelnen Miniaturen wird ein konstantes Klangbild entworfen:
„So eindringlich für diese Stücke die Fürsprache ihrer Kürze, so nötig ist andrerseits solche
Fürsprache eben für diese Kürze. Man bedenke, welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich so kurz zu
fassen. Jeder Blick läßt sich zu einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber:
einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken:
solche Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt.
Diese Stücke wird nur verstehen, wer dem Glauben angehört, dass sich durch Töne etwas nur durch
Töne Sagbares ausdrücken lässt. Einer Kritik halten sie sowenig stand wie dieser und wie jeder
Glaube. Kann der Glaube Berge versetzen, so kann dafür der Unglaube sie nicht vorhanden sein
lassen. Gegen solche Ohnmacht ist der Glaube ohnmächtig.
Weiß der Spieler nun, wie er diese Stücke spielen, der Zuhörer, wie er sie annehmen soll? Können
gläubige Spieler und Zuhörer verfehlen, sich einander hinzugeben? Was aber soll man mit den
Heiden anfangen? Feuer und Schwert können sie zur Ruhe verhalten, in Bann zu halten aber sind
nur Gläubige. Möge ihnen diese Stille klingen!“ (Vorwort von Arnold Schönberg zu den Sechs
Bagatellen von Anton Webern, Mödling 1924; Universal Edition Wien, 1924/52) -23-

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