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Der Spiegel - 2020-09-05
Der Spiegel - 2020-09-05
Rettungsmilliarden?
Verrückten vertrauen
Job, Familie, Wohnen: Wie das
Homeoffice unsere Welt verändert
Frust und Freiheit
Nr. 37 / 5.9.2020
Deutschland € 5,50
DIE NEUE E-KLASSE.
Aufnahme-
gebühr sparen
mit dem Stichwort
„Spiegel“
Gültig bis 28.02.2021
Hausmitteilung
Betr.: Corona, USA, Kuhnke
erlebt und was sie selbst als schwarze Deutsche • AUSGEZEICHNETE PASSFORM
durchgemacht hat. Es gibt Parallelen im Leben
von Kuhnke und Neufeld: Beide sind im selben • SUPERBEQUEM-FUSSBETT
Kuhnke, Neufeld Jahr geboren, bei beiden stammt der Vater aus • OPTIMALE AUFTRITTSDÄMPFUNG
dem Senegal. Es überrascht nicht, dass Neufeld
viele von Kuhnkes Schilderungen aus eigenem Erleben kennt. Für die Recherche be- • GEEIGNET FÜR INDIVIDUELLE EINLAGEN
suchte sie auch die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in Köln. »Dort kann
man eine beeindruckende Sammlung an Hasskommentaren und Drohungen gegen
Kuhnke sehen«, sagt Neufeld. Einschüchtern lassen will Kuhnke sich nicht. Sie wolle FinnComfort Postfach
weitermachen, allein schon für ihre vier Kinder. Seite 60 97433 Haßfurt/Main
5
Katalog/Händler:
DER SPIEGEL Nr. 37 / 5. 9. 2020
www.finncomfort.de
Inhalt
74. Jahrgang | Heft 37 | 5. September 2020
Jean-Pierre Jacobi
Regierung verschleppt
Abgasuntersuchung / Weiteres Flüchtlinge Das Verkehrs-
Opfer im Fall Madeleine ministerium erschwert die
McCann? / Der gesunde Men- Arbeit von Seenotrettern . . . 55
schenverstand / So gesehen:
Küssen verboten . . . . . . . . . . . . 20
Schöne neue Arbeitswelt Reporter
Demokratie Parteitage Das Homeoffice revolutioniert die Gesellschaft:
sollen künftig digital Familienalbum / Kann
stattfinden – doch das Unternehmen stellen sich um, Familie »Highway to Hell«
wird sehr schwierig . . . . . . . . . 26 und Job werden neu justiert. Immobilienmärkte uns schlank machen? . . . . . . . 58
geraten durcheinander, denn das Wohnen
Proteste In Chatgruppen auf dem Land wird attraktiver. Die Innenstädte Eine Meldung und ihre
kündigte sich der »Sturm auf Geschichte Tod eines
den Reichstag« lange an . . . . 29
dagegen leiden. Seiten 10, 16 Auerhahns .................. 59
Gehälter im Frauenfußball /
Gut zu wissen: Warum dauert
eine Football-Profikarriere
in den USA im
Schnitt nur 3,3 Jahre? . . . . . . . 95
Boxen SPIEGEL-Gespräch
mit Ex-Champion Felix
Sturm über seine Zeit im »Ich bin kein Opfer«
Gefängnis und Pläne für SPIEGEL-TV-Programm . . . . . . . 37
ein Comeback . . . . . . . . . . . . . . 96 Die Kölner Autorin Jasmina Kuhnke kämpft Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
im Internet gegen Rassismus. Rechte Impressum, Leserservice . . . 124
Fußball Wie die Klubs Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
um die Rückkehr
schreiben Dinge wie »Wir werden sie jagen« Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 126
der Zuschauer in die und »Die Jasmina gehört echt abgetrieben«. Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Stadien kämpfen . . . . . . . . . . . . 98 Begegnungen mit einer, die nicht aufgibt. Seite 60 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130
Erklärt euch!
Leitartikel Die Regierung muss ihre Corona-Politik besser begründen. Sonst verspielt sie Vertrauen.
S
ie kann es ja, wenn sie nur will, und am Mittwoch Gesundheitssystem meilenweit von einem Kollaps ent-
wollte sie. Da trat Angela Merkel vor die Presse, fernt. Am Mittwoch lagen 228 Covid-19-Patienten auf der
um sich zum Fall des vergifteten russischen Opposi- Intensivstation, es gibt mehr als 30 000 solcher Betten.
tionellen Alexej Nawalny zu erklären. Sie fand Vor diesem Hintergrund sollte die Regierung besser erklä-
klare Worte an die russische Führung, sie wirkte motiviert, ren, was aktuell das vorrangige Ziel aller Corona-Maß-
sie hatte ein Anliegen. nahmen ist. Immer noch die Verhinderung des Kollapses?
Leider sind Angela Merkels Worte selten so deutlich und Oder der Schutz möglichst vieler Bürger vor einer Erkran-
bestimmt, in der Coronakrise war sie zuletzt fast ver- kung, die schlimme Langzeitfolgen haben kann? Man
stummt. Nach einer Konferenz mit den Länderchefs trat sie wüsste auch gern, warum Zuschauer in Theatern sitzen
kürzlich zwar vor die Mikrofone, auch auf ihrer Sommer- dürfen, nicht aber im Fußballstadion. Die Regierung muss
pressekonferenz war Corona Thema, sie sprach über die immer wieder erklären, warum eine Corona-Infektion
jüngsten Beschlüsse, die sie mit etwas anderes als eine Grippe ist
ihnen getroffen hatte. »Wir wer- und das Virus auch für junge
den noch längere Zeit mit diesem Menschen gefährlich sein kann.
Virus leben müssen«, mahnte die Diese Aufgabe hat die Politik
Kanzlerin. »Es ist ernst, unver- delegiert, vor allem an die Wis-
ändert ernst. Nehmen Sie es auch senschaft. Der Virologe Christian
weiterhin ernst.« Drosten leistet allein eine weit
Reine Appelle aber genügen bessere Krisenkommunikation
nicht, um politisches Handeln in als die Kanzlerin und ihr Kabi-
der Coronakrise zu rechtfertigen. nett zusammen.
Die Politik muss sich noch besser Es wiederholt sich ein Muster:
erklären, sie muss immer wieder Angela Merkel ist in akuten
Henning Schacht / ddp / action press
präzise belegen, warum sie wie Krisen stark und hoch motiviert,
entscheidet, sonst verspielt sie das wenn sie Entscheidungen im
Vertrauen der Menschen, das sie engen Kreis ihrer Vertrauten
bislang noch besitzt. Die Zustim- trifft. Sie verliert die Kraft, wenn
mungswerte für die Regierung sie ihre Politik längerfristig
sind nach wie vor hoch, aber sie begründen, diskutieren und
sinken allmählich. Und Corona- Kanzlerin Merkel gesellschaftlich verankern muss.
Leugner wie rechte Verschwö- Das war in der Finanzkrise so,
rungsgläubige fischen im Becken in der Flüchtlingskrise, jetzt auch
derjenigen, die sich zunehmend bei Corona.
Fragen stellen. Es sind Fragen, die auf der Hand liegen: Dabei wäre es höchste Zeit für eine politische Zwischen-
Bedeutet die steigende Zahl an Neuinfektionen der vergan- bilanz: Was war richtig an der bisherigen Corona-Politik,
genen Wochen tatsächlich eine stärkere Ausbreitung des was falsch, was war damals richtig, doch heute nicht mehr
Virus, oder wuchs sie nur, weil mehr getestet wurde, sich – und was heißt das für den Herbst, wenn die Lage brisan-
also das Dunkelfeld aufhellte? Warum sind die Todeszah- ter wird? Gesundheitsminister Jens Spahn hat damit an-
len gleichbleibend niedrig? Weil sich mehr junge Menschen gefangen, als er sagte, mit dem Wissen von heute hätte der
infizieren, weil das Virus mutiert? Könnten die bestehen- Lockdown nicht so drastisch ausfallen müssen. Er mag
den Maßnahmen nicht noch weiter gelockert werden? Für strategische Motive für diese Aussage haben, der Ansatz
viele geben weder Bundesregierung noch Länderchefs aus- aber ist richtig: Die Bekämpfungsstrategie gehört über-
reichend, geschweige denn übereinstimmende Antworten. prüft. Auch mit Blick auf jene 28 Prozent der Bürger,
Die erste akute Phase der Pandemie ist vorüber und denen die Corona-Politik laut ZDF-Politbarometer sogar
damit auch die Zeit, in der die Politik einen Freifahrtschein zu lasch ist, die schärfere Maßnahmen verlangen.
hatte. Im Frühjahr konnte sie handeln, weil sie musste. Politik muss sich wieder mehr erklären und transparen-
Sie durfte die Freiheit ihrer Bürger einschränken, weil es ter werden, im Bundestag, in Talkshows, Podcasts, in
um Leben und Tod ging. Pressekonferenzen, im Wahlkreis. Warum nicht wieder
Darum geht es noch immer, doch die Geschäftsgrund- in einer Fernsehansprache an die Nation? Das Wort,
lage ist eine andere. Im Frühjahr war das erklärte Ziel aller das Argument, der Diskurs sind die stärksten Waffen der
Maßnahmen, das Gesundheitssystem vor einem Kollaps politischen Entscheider – auch gegen die reine Emotion,
zu bewahren. Zustände wie in New York oder Bergamo mit der die Schreihälse vom vergangenen Wochenende
sollten in Deutschland vermieden werden. Heute ist das ihre Anhänger finden. Martin Knobbe
Dmitrij Leltschuk
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10. Aug s 2.
Ciy-Uma vom
Feiernde im Hamburger Schanzenviertel 2017, Familie Thuma in Prasdorf: »Traum vom Leben auf dem Land«
10
Titel
W
er hätte gedacht, dass es sich Arbeit, dessen Veränderungsgeschwindig- tig mehr Begegnungs- als Arbeitsstätte
im Nirgendwo so gut arbeiten keit bis vor Kurzem undenkbar erschien«, werden.
lässt: Prasdorf, ein 400-Ein- sagt Josephine Hofmann. Sie leitet ein For- Damit verliert schlagartig an Bedeutung,
wohner-Dorf weit hinter Kiel, scherteam am Fraunhofer-Institut für Ar- was über Jahrzehnte das Herzstück des in-
20 Kilometer bis zur Ostsee, kein Bäcker, beitswirtschaft und Organisation und be- dustriellen Gesellschaftsmodells war: der
keine Tankstelle. Schön zum Urlauben, schäftigt sich seit Jahrzehnten mit Fragen Arbeitsplatz als Zentrum des Alltags. An
aber zum Leben, wenn der Job andert- rund um die Arbeit. Die Zeit der traditio- dem wir 40, 50 Stunden pro Woche ver-
halb Stunden entfernt in Hamburg ist? nellen Fünf-Tage-Bürowoche ist demnach bringen, in dessen Umgebung wir einkau-
»Landleben war immer unser Traum, aber vorbei. »Ein zurück auf null kann es nicht fen, weil Boutique und Supermarkt auf
wir konnten es uns wegen der täglichen geben«, sagt Hofmann. dem Heimweg vom Büro liegen. Der be-
Pendelei nicht vorstellen«, sagt Sebastian Fast drei Viertel der Erwerbstätigen kön- stimmt, wo und wie wir wohnen, weil die
Thuma, 35, Manager bei der Karriereplatt- nen sich vorstellen, auch nach der Pande- Anfahrt nicht zu weit sein darf. Wie viel
form Xing. Dann kam Corona und das mie häufiger von zu Hause zu arbeiten, so Zeit wir im Auto, in der Bahn oder auf
erzwungene Homeoffice. eine Umfrage des Meinungsforschungs- dem Fahrrad verbringen, um morgens und
Kurz vor dem Beginn der landesweiten instituts Civey im Auftrag des SPIEGEL. abends hin- und zurückzukommen. In
Ausgangsbeschränkungen hatten sich Thu- Schon vor Corona wünschte sich knapp welchem Fitnessstudio wir Mitglied sind,
ma und seine Frau Viola in ein Ferienhaus jeder Zweite, dass die Option gesetzlich weil eine halbe Stunde Sport gerade in
in Prasdorf zurückgezogen, weil sie ihrer garantiert wird, so eine Bitkom-Studie. die Mittagspause passt.
kleinen Hamburger Stadtwohnung entflie- Und eine SPIEGEL-Erhebung bei den Es geht dabei nicht bloß um individuelle
hen wollten. Für ein paar Tage. Sie blieben Dax-Unternehmen zeigt: Fast alle füh- Entscheidungen: Der familiäre Zusam-
zwei Monate. Einer von beiden spielte mit renden deutschen Konzerne entwickeln menhalt, die Kindererziehung, das soziale
dem zweijährigen Sohn im Garten, wäh- Konzepte, wie ihre Mitarbeiter dauerhaft Geflecht im Land werden sich verändern.
rend der andere auf der Terrasse arbeitete. mehrere Tage pro Woche von zu Hause Corona ist der Katalysator für eine gesell-
Im August haben sie das Haus gekauft. aus arbeiten können – und wie Büros künf- schaftliche Revolution.
Schon bald wollen die Thumas ganz Noch lassen sich die Folgen nur erah-
nach Prasdorf ziehen: »Wir haben es auch nen, aber dass sie groß und grundsätzlich
Corona zu verdanken, dass unser Traum Endlich Ruhe sein werden, das ist absehbar. Der Handel
vom Leben auf dem Land nun wahr wird«, »Welche positiven Erfahrungen nehmen Sie aus der wird sich noch schneller wandeln, weil
sagt Viola Thuma, 37, selbstständige Un- Zeit der Corona-Einschränkungen mit?« Onlinebestellungen weiter zunehmen und
ternehmensberaterin. »Homeoffice ist die Einkaufsstraßen noch stärker an Bedeu-
Alltag wurde entschleunigt
neue Normalität«, sagt ihr Mann. Wenn tung verlieren. Städte werden sich neu er-
man ohnehin nur zweimal die Woche ins 47,1 % finden müssen, denn das Leben verlagert
Büro will, lässt sich die lange Autofahrt sich raus aus den Bürovierteln in Wohn-
Konzentration auf das Wichtige im Leben
nach Hamburg ertragen. gegenden, in Vororte, aufs Land. Der Im-
Früher, sagt Sebastian Thuma, sei er 31,2 mobilienmarkt gerät in Bewegung, weil
meist von morgens bis abends in der Fir- Unternehmen weniger Büroflächen brau-
ma gewesen, sein Kind habe er kaum se- Habe einen anderen Blick auf die Gesellschaft chen. Und der Run aufs Häuschen mit
hen können. Ihm habe es im Homeoffice 27,6 Garten wird zunehmen, denn wer zu Hau-
gefallen, den Sohn in den Arbeitsalltag zu se arbeitet, braucht mehr Platz. Schon
integrieren. Und in Videokonferenzen Konnte mehr Zeit mit der Familie verbringen jetzt explodieren die Immobilienpreise in
auch mal die Kinder seiner Kollegen zu 22,1 den Randlagen einiger Metropolen.
sehen. »Corona hat mir gezeigt, dass sich Vielleicht bringen die neuen Arbeits-
das Familienleben auf dem Land mit dem Habe lange aufgeschobene Dinge erledigt modelle auch alte, ja veraltete Lebens-
Job wunderbar kombinieren lässt.« 21,6 modelle zurück. Von zu Hause zu arbeiten
So geht es vielen Menschen quer durchs könnte Frauen wieder stärker in traditio-
Land: Die Coronakrise verändert rasant Habe alte Leidenschaften wiederentdeckt nelle Rollenmuster drängen, in Haushalt
und radikal, wie wir arbeiten, und damit 7,2 und Kindererziehung. Die Sehnsucht nach
auch, wie wir leben und wohnen, wie wir einem Rückzug in die eigenen vier Wände
shoppen und uns fortbewegen. Die Mona- Neue Hobbys und Interessen in einer zunehmend unsicher erscheinen-
te des Lockdowns haben viele festgefügte 6,5 den Welt klingt verdächtig nach einem
Rituale aufgebrochen und ungeklärte neuen Biedermeier. Andererseits könnten
Fragen hochgespült: zur Organisation von Hatte keine positiven Erfahrungen Väter mehr Zeit mit ihren Kindern ver-
Familie, zur Work-Life-Balance und zu 26,8 bringen als bislang, Paare sich die Haus-
flexibleren Lebensmodellen. arbeit besser teilen.
»Wir erleben ein großflächiges, bundes- Civey-Umfrage vom 20. Juli bis 31. August, 5006 Befragte in Deutschland,
Und was ist mit den Millionen Arbeit-
weites Experiment der Digitalisierung von Mehrfachnennungen möglich, Angaben in Prozent nehmern, für die Homeoffice nicht infrage
kommt: Supermarktkassierer und -kassie- Aus dem Homeoffice arbeitete vieler- ner Branchen und Größen befragt. Rund
rerinnen, Ärzte, Klempner, Bandarbeiter? orts also nur, wer krank war. Oft existierte 90 Prozent stimmten der Aussage zu,
Nur etwas mehr als die Hälfte der Deut- nicht mal die IT, um mobiles Arbeiten en Homeoffice in größerem Umfang umset-
schen kann tatsächlich von zu Hause tätig masse zu ermöglichen. zen zu können als zuvor, ohne dass daraus
sein – und das sind meist die Besserver- So wie beim Maschinenbauer Scheugen- Nachteile für den Betrieb resultierten.
diener. Das Ende der alten Arbeitswelt pflug im niederbayerischen Neustadt an Selbst bei Firmen, die bisher eher skep-
dürfte zugleich neue Gerechtigkeitsdebat- der Donau. Ein erfolgreicher Mittelständler, tisch waren, soll die neue Freiheit Einzug
ten entfachen. traditionsbewusst, die meisten Kollegen halten.
sind in der Produktion tätig. Als der Lock- Auch bei dem Maschinenbauer Scheu-
down über das Land fiel, mussten zunächst genpflug werden Bildschirme weiterhin
Nur noch montags, mittwochs,
eine Stabsabteilung gebildet, die IT aus- geteilt und »Geschäftsreisen deutlich we-
freitags ins Büro: Wie Firmen die
gebaut und neue Arbeitsabläufe geschaf- niger stattfinden«, sagt Manager Gerneth.
neue Ära vorbereiten
fen werden. Notgedrungen, in Windeseile. Während früher Kunden aus der ganzen
Der Softwareriese SAP hat ein schönes »Wir waren gespannt, ob ein effizientes Welt anreisten, um Produkte und Neue-
Hauptquartier am Rande von Walldorf, Arbeiten auf diese Weise möglich ist«, sagt rungen in Augenschein zu nehmen, wer-
einer Kleinstadt zwischen Rhein und Johann Gerneth, für Vertrieb und Entwick- den Meetings nun wenn möglich virtuell
Neckar, mit Großbildschirmen auf dem lung zuständig. abgehalten. Beide Seiten sparen dadurch
Dach und Schaukelstühlen in den Bespre- Für die meisten Unternehmen schien Geld. »Ich hätte mir nie vorstellen können,
chungsräumen. Der Blick geht auf Wald im Frühjahr noch klar: Sobald die Pande- dass ein Großteil von zu Hause arbeitet
und Felder, und in den jährlichen Umfra- mie sich beruhigt, geht es zurück zu den und das Unternehmen trotzdem so gut
gen betonten Mitarbeiter immer wieder, alten Strukturen – Büro von 9 bis 17 Uhr, funktioniert«, sagt Gerneth.
wie wohl sie sich hier fühlten. fünf Tage die Woche. Ein halbes Jahr spä- Nicht nur gut, sondern teils sogar besser.
Am 12. März verbannte der Konzern ter haben alle dazugelernt. Die Corona- Laut einer Studie der DAK fühlten sich
von heute auf morgen alle Mitarbeiter aus krise sorgt für den wohl schnellsten grund- viele Menschen in den Monaten im Home-
den Büros. Viele wollen nun nicht mehr sätzlichen Wandel der Arbeitskultur seit office deutlich weniger gestresst im Job
zurück. Auch nicht nach Corona. Beginn der Industrialisierung. und zufriedener. Eine große Mehrheit gab
Gerade mal 2000 der knapp 22000 SAP- 73 Prozent der Unternehmen, die wäh- an, dass sie daheim produktiver ist als
Mitarbeiter in Deutschland sind derzeit rend der Pandemie verstärkt auf das Ar- am herkömmlichen Arbeitsplatz. Beson-
wieder regelmäßig in ihrem Büro. Nach beiten von zu Hause gesetzt haben, wollen ders Pendler freuen sich, dass der tägliche
dem Ende der Krise werden es sicher mehr dies auch in Zukunft tun. Das ergab eine Fahrtweg wegfällt.
werden, aber »in einer neuen Mischung«, Umfrage des Münchner Ifo-Instituts für Die Zeitersparnis kommt den Unterneh-
sagt der Personalchef von SAP in Deutsch- die Zeitarbeitsfirma Randstad bei 800 Per- men zugute: Die Menschen arbeiten im
land, Cawa Younosi. Ein paar Tage Büro, sonalleitern. 64 Prozent der Unternehmen Homeoffice offenbar deutlich länger als
ein paar Tage mobiles Arbeiten, ob zu Hau- wollen künftig Besprechungen häufiger on- zuvor im Büro, im Schnitt 48,5 Minuten
se, im Café oder im Park. »Wir werden line durchführen und 61 Prozent Dienst- mehr pro Tag, so eine Studie von For-
ein ganz anderes Arbeitsverständnis ent- reisen dauerhaft einschränken. schern der Harvard Business School und
wickeln«, sagt Younosi. Ähnliche Ergebnisse lieferte eine Studie New York University. Dazu wurde die er-
Die vergangenen Monate waren ein des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirt- fasste Arbeit von 3,1 Millionen Menschen
globales Brachialexperiment in neuer schaft und Organisation, durchgeführt ge- und rund 21 000 Firmen in 16 verschiede-
Erwerbskultur. Wer nicht unbedingt am meinsam mit der Deutschen Gesellschaft nen Städten in Nordamerika, Europa und
Arbeitsplatz sein musste, blieb daheim. für Personalführung. Dafür wurden im im Nahen Osten ausgewertet.
In 70 Prozent der Firmen aus dem ver- Mai knapp 500 Unternehmen verschiede- Deutschlands führende Unternehmen
arbeitenden Gewerbe werkelten die Be- beurteilen die in den vergangenen Mona-
schäftigten zeitweilig von daheim. Fast ten gemachten Erfahrungen fast durchgän-
jedes Unternehmen, egal ob Milliarden- Feste Arbeitsplätze gig positiv. Das zeigt die SPIEGEL-Umfra-
konzern oder Minibetrieb, musste im In welchen Büroformen in Deutschland bisher ge bei den Dax-Konzernen. Und so wer-
Crashkurs lernen zu funktionieren, wenn gearbeitet wird, Angaben in Prozent den in Personalabteilungen und Manage-
große Teile der Belegschaft dauerhaft Quelle: Fraunhofer IAO, Online-Umfrage zwischen ment bereits Pläne für eine dauerhaft ver-
Juli 2015 und Juli 2017, 7545 Befragte
abwesend sind. änderte Arbeitswelt entwickelt.
SAP war besser vorbereitet als andere, Der Kosmetikkonzern Beiersdorf hat
schon vor der Coronakrise arbeiteten die Gruppenbüro seine »IT-Kapazitäten signifikant ausge-
6 bis 20 Personen
Angestellten im Schnitt die Hälfte der Wo- baut«, damit die Belegschaft fortan regel-
che mobil. »Es kommt auf das Ergebnis 17 mäßig aus dem Homeoffice arbeiten kann.
Einzelbüro
an, nicht auf die Präsenz«, sagt Younosi. 33 Bei der Deutschen Bank werden Verträge
Wohl wissend, dass ihm bis vor wenigen und andere Dokumente zunehmend digi-
Wochen nur wenige andere Personalchefs Zweipersonen- tal unterzeichnet. Beim Wohnungsriesen
zugestimmt hätten. büro Vonovia haben sich die Zugänge zu
Anwesenheit spielt in der deutschen 16 Online-Arbeitsinstrumenten verzwanzig-
Unternehmenskultur traditionell eine Mehrpersonen- facht. Beim Chemiekonzern Bayer finden
große Rolle. Wer als Letzter das Licht aus- büro Kombibüro täglich mehr als 130 000 Videokonferen-
Einzelbüro mit
macht, hat gewonnen. Den Führungskräf- 3 bis 5 Personen
Glastür und Multi- zen statt. Führungskräfte des Energie-
ten geht es dabei vor allem um Kontrolle: 14 Großraum- funktionszone konzerns E.on werden für Onlinemee-
Wie soll man wissen, ob die Mitarbeiter büro 9 tings sogar »mittels modernster Kamera-
ab 21 Personen
zu Hause nicht den halben Tag faulenzen? tracking-Technologie« in ein »virtuelles,
Anderen ist das Risiko zu groß, dass die 6 dreidimensionales Studio« versetzt. Das
4
Produktivität zwischen Kind und Kühl- sieht so aus, als säßen alle so nah beieinan-
schrank sinkt. flexibles Arbeitsplatzkonzept der wie früher.
12
fünf Wochentagen von zu Hause aus zu
arbeiten. Im Vergleich zu ihren Kollegen
waren die Heimarbeiter um 13 Prozent
produktiver. Das Experiment war so
erfolgreich, dass der Konzern das Home-
office als Option für alle einführte.
Warum aber hat sich mobiles Arbeiten
dann nicht längst etabliert? »Weil es unge-
heuer schwer ist, gesellschaftsweite Verän-
derungen auf einen Schlag durchzuset-
zen«, sagt Bloom. Dazu brauche es einen
Katalysator – wie die Corona-Pandemie.
Allerdings erfordert auch
das Homeoffice Struktur, wie
Pzt
r Unrhn, die
Blooms Studien zeigen: Die Be-
schäftigten des chinesischen Rei-
sekonzerns durften nur zu Hause
arbeiten, wenn sie dort einen
Tim Wegner
wäh r Pe
vkt auf d eigens eingerichteten Arbeits-
bn von zu Hause platz hatten, an dem sie nicht
szt hab, wo gestört wurden.
d au in Zukunft n. In der Coronakrise haben viele
Rdd-I-Uma 2. Qu Heimarbeiter anderes erlebt. Mit
8 Pnn Dl 2020 dem Laptop auf dem Schoß an
d
der Bettkante sitzend, dazwi-
schen sprangen die Kinder herum,
oft telefonierte der Lebenspartner noch
im selben Zimmer. Kontraproduktiv sei
das, sagt Bloom. »Wenn wir alle so von
zu Hause arbeiten, würde die globale Pro-
duktivität abstürzen.« Denn die Vorteile
des Homeoffice liegen gerade darin, dass
daheim fokussierter und konzentrierter
gearbeitet werden kann, weil nicht alle
20 Minuten der Büronachbar auf ein
Schwätzchen vorbeikommt, das Telefon
ständig klingelt oder der halbe Tag im
Konferenzraum verbracht wird.
Jannis Chavakis / KNA
chen reduzieren.
Pzt
Das große Bürosterben:
Was passiert mit den leeren spt m bm Kauf
Hauptquartieren? s Ein-
imago images
hauses im 60-Minun-
Eine Faustformel von Immobilien- Umk von Bn
experten besagt: 20 Prozent mehr nüb r
Heimarbeit bedeuten 10 Prozent Iobie im
*.
weniger Büroflächenbedarf. Be- dikn Sdtbi
ginnt jetzt also das große Büro-
sterben? *Mi 2. Hbjahr
2019
Zehn Jahre lang ging es mit dem 1. Hbjahr 2020
Qe: Iow t
Bedarf in Deutschland bergauf,
niedrige Zinsen und anhaltendes
Wachstum ließen die Nachfrage ste-
tig wachsen. Die Mieten kletterten um
rund ein Drittel, die Makler waren gut be-
schäftigt – bis zum März dieses Jahres.
Zwischen April und Juni brach ihr Ge-
schäft ein, der Umsatz halbierte sich ge-
genüber dem Vorjahresquartal. Viele Un-
ternehmen haben geplante Mietvorhaben
auf Eis gelegt und die Krise zum Anlass
genommen, ihren Flächenbedarf grund-
sätzlich zu überprüfen.
Im Frankfurter Westend reckt sich das
REspace concepts
Trianon 186 Meter in die Höhe, ein Wol-
kenkratzer in Dreiecksform mit 47 Etagen.
An der Spitze des Glitzerturms leuchtet
rot »Deka« in riesigen Buchstaben. Aber
nicht mehr lange. Die Wertpapierbank der Pendler in Hamburg, Co-Worker auf Gut Mechow: »Warum soll ich in die Stadt fahren?«
Sparkassen-Gruppe, lange Hauptmieter
des Gebäudes, zieht aus. Sie will sich ver-
kleinern. Das Finanzinstitut wird zwei wenn die Mieter dort agieren wie die Abschwung auf dem Büromarkt«. Die
neue Standorte in der Stadt beziehen. Die DekaBank und auf teuren Büroraum lie- Mieten würden drastisch sinken, in Berlin
Räume sollen flexibler nutzbar sein, ber verzichten? in diesem Jahr um ein Fünftel. Folglich
ohne feste Schreibtischbelegung. Und Für die Corona-gebeutelten Firmen fallen auch die Kaufpreise, sie kommen
natürlich billiger. bietet das Homeoffice willkommenes voraussichtlich sogar noch stärker unter
Vor der Pandemie nutzten 5 bis 10 Pro- Sparpotenzial. In vielen Unternehmens- Druck. In den sieben größten deutschen
zent der Deka-Beschäftigten die Möglich- bilanzen ist der Bürounterhalt der zweit- Städten werden sie in diesem Jahr laut IW-
keit, zu Hause zu arbeiten. Dieser Anteil größte Kostenblock nach den Personal- Prognose zwischen 22 Prozent (Hamburg)
werde auf 25 bis 30 Prozent steigen, ausgaben. Gut 21 Euro Miete zahlt eine und 35 Prozent (Berlin) nachgeben.
schätzt das Unternehmen – entsprechend Firma im Schnitt pro Quadratmeter in In vielen Innenstädten würden größere
weniger Bürofläche wird benötigt. einer deutschen Metropole. Jeder ein- Arbeitsflächen entbehrlich, erwartet IW-
Die Ironie: Die DekaBank liefert damit zelne Mitarbeiter beansprucht 23 Qua- Ökonom Michael Voigtländer. Zumal der
selbst den Beweis, welcher Gefahr ihr dratmeter, Flur, Bad, Konferenzräume Strukturwandel voll durchschlage: Mit der
Geschäftsmodell ausgesetzt ist. Das Frank- und Lobby eingerechnet. Das macht Digitalisierung fielen zahlreiche einfache
furter Institut gehört über seine Fonds monatlich fast 500 Euro pro Arbeitsplatz, Tätigkeiten weg, im Rechnungswesen oder
zu den großen Gewerbeimmobilienver- 6000 pro Jahr. der Kreditbearbeitung etwa. Voigtländers
mietern und Fondsanbietern in Deutsch- Selbst bei einem Konjunkturboom wer- Prognose: »Der Büroturm hat womöglich
land. Allein 17 Milliarden Euro haben de dieser Immobiliensektor nicht zu alter ausgedient.«
Anleger in den Fonds »Deka-Immobilien- Stärke zurückfinden, prognostiziert das Nicht alle Fachleute sehen die Zukunft
Europa« investiert, fast zwei Drittel des Institut der deutschen Wirtschaft (IW). Die so pessimistisch. Wolfgang Schneider,
Vermögens stecken in Bürohäusern. Was, Experten erwarten einen »gravierenden Analysechef bei BNP Paribas Real Estate
Deutschland, erinnert daran, dass die nicht in die Videokonferenz einwählen richtigem Arbeitsplatz. Irgendwann brauch-
Büroleerstandsquote so niedrig liege wie kann oder aus dem sicheren Firmennetz- ten sicher auch die Kinder eigene Zimmer.
nie zuvor. Eine etwas höhere Rate bedeu- werk ausgesperrt bleibt, muss eben doch Ein Haus mit Garten soll es sein, fünf Zim-
te zunächst einmal eine Rückkehr auf ins Büro. Der schleppende Breitband- mer, Garage, gern unterkellert. In ihrer jet-
Normalniveau. ausbau in Deutschland könnte da noch zu zigen Gegend, nahe der Innenstadt, ist das
Die Büroflächen in Wohnraum zu ver- einem drängenden Problem werden. unerschwinglich.
wandeln ist für Eigentümer bislang keine Vor allem wenn Visionen wie die von Eigentlich würde Anneke Voß gern in
attraktive Option. Die Objekte verlören Bähr Realität werden sollen: Dass es in Köln bleiben: all die netten Cafés, die
an Wert, weil die Quadratmeterpreise für Deutschland irgendwann so viele Co- Restaurants, die Freunde. Aber »die Be-
Wohnungen deutlich niedriger liegen. Working-Spaces auf dem Land gibt, dass reitschaft, so richtig rauszuziehen, ist deut-
Wie eine Alternative aussehen könnte, niemand länger als 15 Minuten zu einem lich gestiegen«, sagt sie. Es gebe kaum pas-
testet der Ludwigshafener Chemiekonzern Gemeinschaftsarbeitsplatz braucht. Wem sende und erschwingliche Angebote in
BASF gerade. »1000 Satellites«, ein Start- das Homeoffice zu einsam ist, der müsste Köln. Deshalb sucht Familie Voß nun drau-
up-Team aus dem BASF-eigenen Gründer- dann trotzdem nicht in die Stadt pendeln. ßen, 30 Kilometer entfernt, vielleicht so-
zentrum »Chemovator«, hat dafür ein Unternehmen könnten Plätze für ihre Mit- gar noch weiter.
Konzept entwickelt. Wer bisher regel- arbeiter kaufen und ihnen so Alternativen Der Trend, die Großstädte zu verlassen,
mäßig in die Zentrale pendelte, soll nun zum Büro in der Zentrale bieten. Stadt- ist nicht neu. Seit 2014 ziehen laut einer
in Satellitenbüros arbeiten dürfen, die täg- flüchtlinge fänden Anschluss und müssten IW-Studie mehr Menschen aus den Städ-
lich rund um die Uhr geöffnet sind. Drei das Gefühl urbanen Arbeitens nicht kom- ten hinaus als hineinziehen. Schuld sind
solcher Co-Working-Flächen in Mann- plett aufgeben. die hohen Wohnkosten und das knappe
heim, Ludwigshafen und Neustadt sind Angebot.
bereits eröffnet, 17 weitere Standorte in Die Coronakrise verstärkt diese Ent-
Homeoffice nur für Besser-
der Rhein-Neckar-Region werden geprüft. wicklung. So wie der Kölner Familie Voß
verdiener: Weshalb eine neue
Und kommen dürfen nicht nur BASF- geht es vielen. Eine Wohnung am Stadt-
Gerechtigkeitsdebatte droht
Angestellte, sondern auch Firmenfremde – rand oder ganz im Grünen scheint attrak-
gegen Geld natürlich. Familie Voß will raus aus ihrer Kölner Ei- tiver als das Leben in der verdichteten City.
Solche neuen Konzepte boomen. Die gentumswohnung. Drei Zimmer, 100 Qua- Erst recht, wenn die Eltern regelmäßig da-
Anzahl der Co-Working-Spaces in Deutsch- dratmeter, Maisonette. Ausreichend für heim arbeiten. Über 40 Prozent der Men-
land hat sich seit Anfang 2018 vervierfacht zwei Erwachsene und zwei Kinder, früher. schen, die in einer Wohnung leben, haben
auf fast 1300. Sie bieten meist einen gut Seit der Coronakrise ist es zu eng gewor- seit Beginn der Pandemie mehr als zuvor
ausgestatteten Arbeitsplatz, aber auch Ver- den. Der Schreibtisch steht provisorisch den Wunsch, in ein Haus mit Garten zu
anstaltungen, Netzwerke und die Möglich- im Schlafzimmer, direkt neben dem Bett. ziehen, ermittelte das Meinungsforschungs-
keit, mit Menschen aus anderen Branchen In Zukunft wollen beide Eltern häufiger institut Civey im Auftrag des SPIEGEL. Das
ins Gespräch zu kommen. von zu Hause aus arbeiten, sagt Anneke Wohnen und damit der Immobilienmarkt
Bislang richtete sich das Angebot vor Voß. Da braucht es ein eigenes Büro, mit werden sich grundlegend wandeln.
allem an Freiberufler in den Metropolen. Mit einer neuen Landlust habe das we-
Corona macht das Konzept auch außer- nig zu tun, sagt Ralph Henger, Ökonom
halb der Großstädte attraktiv. »Es muss Ende des Booms für Wohnungspolitik und Immobilienöko-
nicht mehr diese scharfen Stadt-Land- Entwicklung der Durchschnittsmieten auf dem nomie am IW in Köln. »Rausdrängen« tref-
Gegensätze geben«, sagt Ulrich Bähr. Er Büromarkt*, pro Monat in Euro je Quadratmeter fe es besser: Wegen des Platzproblems hal-
arbeitet für die Heinrich-Böll-Stiftung in 21,4 ten es vor allem Familien in den Großstäd-
Bis zur Corona-Pandemie . . .
Schleswig-Holstein und ist Erfinder des ten oft nicht mehr aus. Vor 10 bis 15 Jahren
CoWorkLand, einer Genossenschaft, zu * in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main,
Hamburg, München 20 habe man sich in den Metropolen noch ver-
deren Netzwerk mittlerweile 30 Standorte Quelle: JLL
größern können. »Das ist heute quasi un-
in Kleinstädten und ländlichen Regionen möglich«, sagt Henger.
gehören. Er prognostiziert nicht nur einen Boom
Im neuesten Gemeinschaftsbüro riecht 14,7
des Speckgürtels, sondern auch einen
es nach Pferd. Umringt von Seen stehen 15 wachsenden Speckgürtelkranz um die
im Nirgendwo zwischen Hamburg und Städte herum. Arbeitnehmer, die seltener
Lübeck zwei portable Minihäuser mit ins Büro pendelten, nähmen weitere Stre-
Büroausstattung, einer überdachten Ter- cken in Kauf.
2010 2. Quartal
rasse und Sitzgelegenheiten auf der Wiese. 2020 Logisch: Wer fünf Tage die Woche in
Elisabeth Predel, 24, sitzt vor ihrem Lap- . . . und danach der Stadt arbeitet, sucht eine möglichst
top, nebenan die Pferdekoppel. Um so viel Prozent könnten die Mieten und zentrale, wenigstens am Stadtrand gelege-
»Warum soll ich in die Stadt fahren, Preise für Büroimmobilien 2020 aufgrund der ne Wohnung. Wer nur einen Tag im Büro
wenn ich hier gut arbeiten kann?«, sagt Pandemie sinken und vier Tage zu Hause verbringt, fährt
Predel. Sie studiert Immobilienmanage- Stuttgart Köln Hamburg München auch hundert Kilometer. Kleinere Städte
ment, jobbt nebenher in der Ferienhaus- in der weiteren Umgebung der Metro-
vermietung und reitet gern, gelungene –10 –11 –12 polen dürften daher beliebter werden,
–15
Work-Life-Balance. Gut Mechow ist ei- –22 –23 Orte mit 30 000 bis 40 000 Einwohnern.
gentlich ein Pferdegut, aber Predel kann –28 –26 Oder weniger.
sich vorstellen, ihre Aufgaben regelmäßig Frankfurt a. M. Düsseldorf Berlin Borkwalde liegt gut eine Autostunde
von hier aus zu erledigen: »Das Internet südwestlich von Berlin, eine Waldsiedlung
ist schnell und stabil.« mit etwa 500 Häusern, viele im bunten
Funktionierende Infrastruktur ist die –16 –17 Schwedenlook. Die Gemeinde wächst ra-
–20
wichtigste Voraussetzung, damit es mit –32 –30 sant, innerhalb eines Jahres seien 47 Neu-
–35
dem mobilen Arbeiten klappt. Wer sich Quelle: IW bauten entstanden, berichtet Bürgermeis-
15
Titel
Karsten Thielker
des Grundgesetzes verankert. Eine Rege-
lung im individuellen Arbeitsvertrag
kann festlegen, wann und wo gearbeitet
werden soll. Allerdings gilt auch hier Heimarbeiter in Berlin-Kreuzberg: Präsenztage sorgfältig planen
das Arbeitszeitgesetz. Es schreibt Höchst-
arbeitszeit und Ruhezeiten vor. Ob zu
Hause oder im Büro, niemand darf ohne Vorsicht ist auch geboten, wenn man vor Arbeitsstättenverordnung. Für Möbel
Pause länger als sechs Stunden am Stück der Arbeit noch das Kind zur Kita brin- oder zusätzliche Bildschirme muss dann
arbeiten oder im Schnitt dauerhaft mehr gen muss: Auf dem Weg in die Firma im Zweifel der Mitarbeiter sorgen. Viele
als acht, in Ausnahmefällen zehn Stun- ist man dabei gesetzlich unfallversichert; Firmen stellen inzwischen von sich aus
den täglich. Um Konflikte oder eine stän- wenn man zu Hause arbeitet und auf Büromöbel und Technik zur Verfügung.
dige Abrufbereitschaft zu vermeiden, dem Rückweg von der Kita ausrutscht, Manchen Angestellten geht das nicht
sollten Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht. Wer zu Hause arbeitet, trägt also weit genug. In der Schweiz klagte ein
feste Zeiten für die Erreichbarkeit verab- viele Risiken selbst. Mitarbeiter 2019 gegen seinen ehemali-
reden und die Art der Zeiterfassung gen Arbeitgeber zusätzlich auf Zahlung
regeln, etwa durch eine Vereinbarung von Miete, weil er schließlich Bürofläche
zur Vertrauensarbeitszeit. Wer zahlt die in seiner eigenen Wohnung zur Verfü-
gung gestellt habe. Er bekam Recht, die
Ausstattung? Firma musste ihm rückwirkend 150 Fran-
Ist man daheim Auch wenn derzeit viel von Homeoffice ken pro Monat zahlen. Die Frage, wer
die Rede ist, rechtlich ist die Bezeich- für die Bürofläche in Privaträumen
versichert? nung in den meisten Fällen nicht korrekt: aufkommt, wird wohl auch in Deutsch-
Das Homeoffice kann ein gefährlicher Denn Homeoffice, auch Telearbeit land noch diskutiert werden. Entschei-
Ort sein. Die gesetzliche Unfallversiche- genannt, muss im Arbeitsvertrag oder dend dürfte dabei sein, ob wahlweise
rung greift hier viel seltener als beim einer betrieblichen Vereinbarung gere- ein Arbeitsplatz beim Arbeitgeber zur
Arbeiten in der Firma. Sie haftet nur bei gelt sein. Dann greift die Arbeitsstätten- Verfügung steht.
beruflichen Tätigkeiten. Das hat weit- verordnung. Das heißt, der Arbeitgeber
reichende Folgen, die oft die Gerichte ist für die komplette Ausstattung des
beschäftigen. Wer in der Firma zur Toi- Arbeitsplatzes verantwortlich. Viele Fir- Welche Steuervorteile
lette geht, ist auf dem Weg gesetzlich men entscheiden sich deshalb lieber
unfallversichert; wer zu Hause zum WC für »mobiles Arbeiten«: Dabei kann der gibt es?
muss, nicht. Bei einem Sturz auf dem Mitarbeiter einen Teil seiner Arbeit Wer während des Lockdowns nicht ins
Weg zur Betriebskantine ist man versi- etwa per Laptop von einem Ort seiner Büro konnte, kann zumindest Anschaf-
chert, beim Gang vom Schreibtisch in Wahl aus erledigen. Zwar greift hier, fungen wie einen Schreibtisch, einen
die heimische Küche nicht. Dort muss wenn auch eingeschränkt, ebenfalls das Drucker oder Regale fürs Homeoffice
die eigene Krankenversicherung zahlen. Arbeitsschutzgesetz, aber eben nicht die steuerlich absetzen – und unter Umstän-
17
Titel
keine noch so gute Anbindung an den öf- Händler nicht online sei, der sei für die So geht es überall im Land: In Bottrop-
fentlichen Nahverkehr. Sondern nur noch: Kunden quasi nicht existent. Corona habe Kirchhellen war die Anfrage nach Miet-
Rückbau, Umnutzung – und eine ehrliche das deutlich »freigelegt«. gemüsegärten des Anbieters »Meine Ern-
Bestandsaufnahme im Rathaus. 35 Prozent der Deutschen, so hat das te« so hoch, dass Landwirt Burkhard Sagel,
»Es macht ja keinen Sinn, Leerstand in IFH gemessen, passten ihr Konsumverhal- auf dessen Hof sich die Mietgärten befin-
der Innenstadt zu haben, aber Wohnraum ten der Pandemie an: Basisprodukte von den, noch einmal die doppelte Menge an
dringend zu brauchen«, sagt Gerrit Hei- Socken bis Tesafilm werden online gekauft, Ackerfläche bereitstellen musste. In Stutt-
nemann, Handelsexperte der Hochschule ins Geschäft geht man für Beratungsinten- gart beobachtet Nicole Schindler, Mitglied
Niederrhein. »Lieber eine schöne Schlaf- sives. des Sprecherkreises der Interessengruppe
stadt als eine hässliche Einkaufsstadt.« Viele Händler fürchten, dass dies keine Ratgeber, dass sich Selbstversorgerbücher
Die besten Chancen, als Gewinner in Krisenmomentaufnahme ist, sondern die und Gartenratgeber derzeit am besten ver-
die Post-Corona-Welt zu starten, haben neue Normalität. Warum sollte man sams- kauften. Und im Harz kommt dem Kon-
die etablierten Wohnviertel um die Innen- tags noch mit der überfüllten U-Bahn in sumpsychologen Georg Felser von der
städte herum. Quartiere, in denen der in- die Fußgängerzone zuckeln, wenn sich fast Hochschule in Wernigerode bei alldem ein
habergeführte Einzelhandel die Regel und alles von zu Hause bestellen lässt? Epochenbegriff wieder in den Sinn: das
die Kette die Ausnahme ist: gut erreichbar Biedermeier.
für immer mehr Menschen, die von zu Schon einmal hatten die Deutschen
Rückzug in die eigene Blase:
Hause aus arbeiten und ihre Mittagspause das Bedürfnis, »sich einfach in die eigene
Erleben wir ein
nutzen, um schnell Lebensmittel einzukau- Blase zurückziehen zu können«, sagt An-
neues Biedermeier?
fen, etwas zu besorgen oder eine Kleinig- negret Juch, die Architektin. Nach dem
keit zu essen. So viele geranienbegeisterte Rentner und Wiener Kongress zu Beginn des 19. Jahr-
Viertel wie Lindenthal in Köln. Hier bierselige Gartenzwergfreunde kann es hunderts, als die alte Ordnung sich auflös-
steht Georg Hempsch vor seiner Kaffee- gar nicht geben: 7900 Interessenten stehen te, verkörperten Künstler wie Carl Spitz-
Manufaktur in der Sonne und philoso- derzeit auf der Warteliste in der Kleingar- weg den Zeitgeist. Es war die Zeit des Bür-
phiert über die Zukunft des Einzelhandels. tenanlage in Berlin-Tempelhof. In Metro- gertums und der Familie. Damals entstand
»Corona hat uns gezeigt, was die Leute polen wie Hamburg, München oder Berlin das Weihnachtsfest, wie wir es heute ken-
wollen: kurze Wege, keine Menschenmas- ist die Nachfrage nach Schrebergärten seit nen, mit Weihnachtsbaum und Besche-
sen und vertraute Händler vor Ort.« Als der Coronakrise um ein Vierfaches höher rung, das Wohnzimmer wahrscheinlich
viele Büros geschlossen und keinen Bedarf als im vergangenen Jahr. auch, das Wort »Gemütlichkeit«. Es war
an Kaffeebohnen hatten, verlegte Hempsch Wer sich in der Stadt kein Haus mit Gar- die Zeit, in der sich die ganze Welt verklei-
sein Geschäft auf Privatkunden, auf Super- ten leisten kann und nicht gleich ganz aufs nerte. Ähnlich wie heute: Heimarbeit.
märkte und den Onlineshop. Das rettete Land will, hofft auf eine Parzelle. So wie Stadtrand. Stauden pflanzen. Die neue
den Großteil seiner Umsätze. Annegret Juch, 44, Architektin aus Ham- Gemütlichkeit.
Hempsch ist Vorsitzender der örtlichen burg, mit Altbauwohnung in der Innen- Ist daran allein Corona schuld?
Interessengemeinschaft der Einzelhändler, stadt, alleinerziehend mit einem vierjäh- Der Künstler und Wissenschaftler Ma-
zu der mehr als hundert Unternehmer im rigen Sohn. Gemeinsam mit einer Freun- nuel Gogos hat bereits vor der Pandemie
Kiez gehören. Viele haben schwierige din, die einen Sohn im selben Alter hat, eine Ausstellung am Literaturzentrum der
Monate hinter sich. Geschäftsschließun- bewarb sie sich um einen Kleingarten, ge- Burg Hülshoff im Münsterland zu diesem
gen, Umsatzeinbußen, Existenzängste. trieben von der »Sehnsucht nach ein biss- neuen Biedermeier kuratiert. In den ver-
Lindenthal versucht nun etwas Neues: chen Grün«, aber gut erreichbar bitte. gangenen Jahren, so Gogos, habe sich ein
ein eigenes Onlineportal nur für das Vier- Nach Monaten des Wartens, mitten im »Krisengefühl der Permanenz« entwickelt:
tel, mit den täglich wechselnden Mittags- Lockdown kam die Zusage, »ein Gefühl Globalisierung, Kriege, Migration. Gogos
tischen der Restaurants, den Öffnungszei- von purem Glück«. Mehrmals die Woche glaubt, dass das neue Biedermeier seine
ten der lokalen Geschäfte, den Trainings- sind sie jetzt im Garten, planschen, pflan- Ursachen in der Furcht vor der Geschwin-
zeiten des Fußballvereins und den Gottes- zen oder grillen. »Totaler Luxus«, sagt digkeit der Moderne hat und in der Furcht,
diensten der Kirche um die Ecke. Einen Juch. die Privatsphäre durch die Digitalisierung
Onlineshop soll es ebenfalls geben. Eine zu verlieren.
Mischung aus digitalem Schaufenster des Corona hat diese kulturelle Strömung
Quartiers und moderner Lokalzeitung. Handel im Wandel 10,9 % also nur verstärkt. Konsumpsychologe
»So bekommen wir die Menschen auf die Anteil des Onlinehandels am Felser denkt bei der Sehnsucht, die Welt
Seite. Und mit etwas Glück kaufen sie Gesamtumsatz im deutschen auszusperren, allerdings weniger an Hei-
dann auch vor Ort«, sagt Hempsch. Einzelhandel* 10
meligkeit als vielmehr an Enge. Den Rück-
Dazu passen die Studienergebnisse des Quelle: HDE, Online-Monitor 2020 zug ins Private und das Heraushalten aus
IFH: Ließen sich die Kunden früher erst 8 notwendigen politischen Debatten sieht
im Fachhandel beraten und shoppten an- er kritisch. Felser hofft darauf, dass am
schließend online, geht heute drei Viertel Ende der Wille der Menschen siegt, die
6
der stationären Käufe eine Onlinerecher- Welt mitzugestalten, umzugestalten.
che voraus. Auch die »buy local«-Kampa- Denn das Einnesteln in der persön-
gnen scheinen zu wirken, sagt IFH-Ge- 4 lichen Komfortzone bedeutet, dass wir
schäftsführer Boris Hedde. 57 Prozent Kontakt vorrangig zu Menschen suchen,
der Kunden, die in der Krise physisch im die wir mögen und treffen wollen – oder
2
Laden shoppten, gaben als Grund die Soli- unbedingt treffen müssen. Die zufälligen
darität mit dem Geschäft an. Lokalkolorit 0,3% Begegnungen mit anderen, Fremden, in
mit Netzanbindung funktioniert also. So- 0 der U-Bahn, im Büro, in der Einkaufsstra-
fern es die Wunschprodukte der Kunden 2001 Onlineumsatz (netto) 2019 ße, werden weniger. So könnte Corona ei-
dort gibt. Auch das werde vorher im Netz 1,6 Mrd. € in Deutschland 59,2 Mrd. € nen Trend verstärken, der sich bereits in
recherchiert, sagt Hedde. Wer heute als * ohne Apotheken, Kfz-, Brennstoff- und Kraftstoffhandel den sozialen Medien abzeichnet: die Zer-
18
aussehen soll. Auch in einer alten Bleisatz-
letter-Fabrik am Frankfurter Südbahnhof.
Hier liegt das Hauptquartier des Planungs-
büros Albert Speer und Partner, globale
Vordenker für die Städte der Zukunft.
Der berühmte Namensgeber entwarf
das Europaviertel in Frankfurt am Main,
den Masterplan für die Expo 2000 in Han-
nover, die 120 Quadratkilometer große
»Automobilstadt« nahe dem chinesischen
Changchun. Heute empfangen seine Nach-
folger Joachim Schares und Axel Bienhaus
im Partnerlook mit blauer Hose und wei-
ßem Hemd und sprechen über
»pandemieresiliente« Architektur.
Michael Kappeler / dpa
Normal unfassbar
Zweite RAZ- anrichteten. In einem Beken-
Generation? nerschreiben, das auch an
den SPIEGEL ging, »widme-
Wegen des Verdachts der te« ein RAZ-Kommando die »Das ist der Tiefpunkt.«
Bildung einer terroristischen Tönnies-Aktion den unter- Als Reporter, der Donald Trumps Aufstieg in der
Vereinigung hat der General- getauchten mutmaßlichen Ex- Politik vom ersten Tag an als Korrespondent in
bundesanwalt Ermittlungen RAF-Terroristen Burkhard Washington begleitet hat, habe ich diesen Satz
gegen eine mögliche zweite Garweg, Daniela Klette, schon viel zu oft gesagt. Er hängt mir zum Hals
Generation der linksextre- Ernst-Volker Staub und Frie- raus. Aber leider gibt es ständig neue Anlässe.
men Splittergruppe »Revolu- derike Krabbe. Die Tat, die Manchmal täglich, wenn’s gut läuft, nur wöchentlich.
tionäre Aktionszellen« (RAZ) gemeinsam mit einer »West- Die Präsidentschaft von Donald Trump ist eine Abfolge immer
eingeleitet. Grund ist eine fälischen Animal Liberation neuer Tiefpunkte. Ein Pfad in den moralischen Abgrund.
Serie von mehr als 30 Droh- Front« durchgeführt worden Vor vier Jahren dachte ich mal, verstörender könne es nicht
briefen, die seit Ende 2019 bei sei, wird als Teil eines welt- mehr werden. Als herauskam, wie jener Mann, der im Begriff
deutschen Politikern und weiten Befreiungskampfs war, US-Präsident zu werden, einst damit geprahlt hatte, dass
Amtsträgern bezeichnet. man als Star mit Frauen alles machen könne: »Du kannst ihnen
eingingen und »Ausbeutung, an die Pussy fassen. Du kannst alles machen.« Aber verglichen
denen Brand- Unterdrü- mit den gefühlt 1933 Tiefpunkten, die folgten, war die Pussy-
beschleuniger, ckung und Episode beinahe harmlos. Dass Trump den Diktator Kim Jong
Reizstoffpatro- soziale Aus- Un mal als »tollen Anführer« pries, »der sein Volk liebt«, oder
nen oder Mes- schließung den Amerikanern die Einnahme von Desinfektionsmitteln zum
ser beilagen. aller Menschen Schutz vor Corona nahelegte, ist ja fast schon vergessen. Selbst
Zu den Adres- und Tiere« bei Ungeheuerlichkeiten setzt irgendwann ein Gewöhnungs-
saten zählten müssten in der effekt ein. Das Unfassbare wird immer normaler.
unter anderem Gesellschaft Vor zwei Wochen dachte ich wieder, gefährlicher könne es
der rheinland- beseitigt wer- nicht mehr werden. Da hatte Trump gerade erklärt, er könne
pfälzische den, heißt es in die Wahl im November nur verlieren, wenn sie manipuliert
Innenminister dem Schreiben. sei. Dass Amtsinhaber bereit sind, ihre
AP
21
Umwelt Chappattes Welt
Regierung verschleppt
schärfere Abgaskontrolle
Die Einführung des angekündigten
strengeren Messverfahrens für die
Abgasuntersuchung von Autos wird
sich bis mindestens Mitte 2023 verzö-
gern. Dies geht aus regierungsinternen
Dokumenten hervor, die dem SPIEGEL
vorliegen. Geplant war, noch dieses
Jahr im Rahmen der TÜV-Hauptunter-
suchung auch Feinstaubpartikel zu
messen. Doch die dafür nötigen Geräte
müssen nach Auffassung des zustän-
digen Bundesverkehrsministeriums
dringend geeicht werden. Dafür seien
allerdings das Wirtschaftsministerium
und dessen nachgeordnete Behörden
zuständig. Bis die staatlichen Ingenieu-
re so weit sind, dauere es, heißt es aus
der Bundesregierung. Die Deutsche
Umwelthilfe (DUH) will das nicht hin-
nehmen. »Die notwendigen Messgerä-
te sind vom Werk aus kalibriert und
für zwei Jahre zugelassen«, sagt DUH-
Experte Axel Friedrich, »in dieser Zweiter Weltkrieg die Todesurteile nach dem Krieg nicht
Zeit kann die Bundesregierung alle strafrechtlich belangt wurden, auch weil
nötigen Details zur künftigen Eichung
»75 Jahre wurde dieser der Adjutant von Hitlers Nachfolger Karl
der Geräte klären.« Friedrich fordert, Menschen nicht gedacht« Dönitz sich dafür verbürgte, sie hätten
den Partikeltest für Benziner und von der Kapitulation nichts gewusst.
Diesel einzuführen. Zusätzlich solle die Siegfried Matlok, 75, ehemaliger Chef- Damit wären sie schlechter informiert
Einhaltung der Stickoxidgrenzwerte redakteur des »Nordschleswiger«, Tages- gewesen als ihre eigenen Matrosen! Zwei
gemessen werden. Unterstützung zeitung der Deutschen in Dänemark, der Verantwortlichen machten sogar noch
bekommt er von Prüfunternehmen. über die erste Gedenkstätte für ein deut- Karriere beim Staat. Die bundesdeutsche
Die Abgasthematik sei heute beinahe sches Kriegsverbrechen in Sonderburg Justiz hat in vielen in den letzten Kriegs-
genauso wichtig wie die technische tagen oder danach hingerichteten Meute-
Sicherheit der Fahrzeuge, sagt Frank SPIEGEL: Herr Matlok, am 5. Mai 1945 rern nur Deserteure gesehen. Erst 2009
Schneider vom Verband der Techni- meuterten 20 deutsche Marinesoldaten in hat der Bundestag die letzten Todesurteile
schen Überwachungsvereine (VdTÜV). dänischen Gewässern. 11 wurden dafür der Nazi-Kriegsgerichte gegen sogenannte
Er rät ebenfalls dazu, neben Diesel- noch in der Nacht auf See hingerichtet, Kriegsverräter aufgehoben.
Pkw auch Benziner zu untersuchen. obwohl die deutschen Streitkräfte am Tag SPIEGEL: Wer waren die Meuterer?
Für die Stickoxidwerte seien zwar wei- zuvor die Kapitulation in Nordwesteuropa Matlok: Sie waren alle nicht älter als 24,
tere Geräte nötig, sie würden Abgas- unterzeichnet hatten. Am Mittwoch wird und sie wollten nicht noch einen Kriegs-
untersuchungen aber nur geringfügig ihnen nun in Sonderburg ein Gedenkstein einsatz im Osten fahren. Deshalb setzten
verteuern. Jährliche Mehrbelastung gewidmet, dort, wo die Unglücklichen sie den Kapitän fest, der Kurs Kurland
für Fahrzeughalter laut VdTÜV: etwa mit Torpedoteilen versenkt wurden. Von ausgegeben hatte. Sie wollten »nicht
6,40 Euro. ENE, GT wem ging die Initiative aus? mehr mitspielen«, erklärten sie gegen-
Matlok: Die Idee gab es schon lange, eine über den Besatzungen von zwei deut-
dänische Historikerin und der Pastor der schen Schnellbooten: »Der Krieg ist ja
deutschen Minderheit warben dafür, auch aus.« Diese enterten daraufhin das
ich habe das immer unterstützt. Aber Minensuchboot; um 18.10 Uhr verhängte
niemand biss richtig an, zumal in Däne- ein Standgericht die Todesurteile. Von
mark manche befürchteten, Deutschland den elf Leichen wurden nur sieben ange-
damit zu beleidigen. schwemmt und beigesetzt. Es ist ein
SPIEGEL: Immerhin haben das DDR- peinliches Kapitel der bundesdeutschen
Dokudrama »Rottenknechte« von 1971 Geschichte, dass 75 Jahre lang dieser
sowie Siegfried Lenz’ Erzählung »Ein Menschen nicht gedacht wurde. Umso
Kriegsende« von 1984 die Erinnerung an mehr freue ich mich, dass zwei Schwes-
Julian Stratenschulte / dpa
22
Rechte Universität Hamburg tätig,
ist Mitglied der LKR, aber
Lucke-Partei im nicht parteipolitisch aktiv.
Bundestag Der LKR-Bundesvorsitzende
Jürgen Joost will die AfD
Im Bundestag wird dem- »von Mitte-Rechts« bekämp-
nächst eine weitere Partei fen. Man wolle mit »vollkom-
vertreten sein – die achte. men anderer Tonalität und
Der IT-Unternehmer Uwe Schwerpunktsetzung« ent-
Kamann, der im Dezember täuschte frühere Wähler von
tik angegriffen hatte. »Ich kung retten. Außerdem ist der Zaun vorerst nur für maximal
sehe aber einen Pragmatis- fünf Jahre genehmigt, und wir arbeiten eng mit der Natur-
mus bei jüngeren CDU-Abge- schutzbehörde zusammen. Ich sehe keinen besseren Weg, die
ordneten und glaube, dass Seuche aufzuhalten und den Wald und die Tiere zu schützen.«
Unternehmer die Partei auch Schröder Aufgezeichnet von Christian Volk
Küssen verboten
Sicherer Geschlechtsverkehr
in der Pandemie
Noch immer wissen wir wenig über
das gefährliche Coronavirus, Behörden
haben aber rechtzeitig vor dem gefähr-
lichen Herbst eine mögliche Übertra-
gungsquelle identifiziert: Sex. Basierend
auf Erkenntnissen aus der in der ersten
Corona-Welle besonders betroffenen
Stadt New York rät nun das kanadische
Gesundheitsministerium seinen Bürge-
rinnen und Bürgern zu außergewöhn-
lichen Maßnahmen. Wer etwa Grund
Emilio Morenatti / AP
zur Annahme habe, an Covid-19 er-
krankt zu sein, solle auf Geschlechtsver-
kehr verzichten. Auch infizierte Sexpart- Demonstrierende Separatisten in Barcelona im Oktober 2019
ner seien zu meiden. Sollte man sich
gesund fühlen, könne
Masken? man Sex haben – vor- EU Initiiert hat die Onlineumfrage der EU-
sichtshalber am besten Abgeordnete der Piratenpartei Patrick
Unbedingt. mit sich selbst. Länderübergreifende Breyer. Kritiker wie Breyer befürchten,
Küsse? Wer nicht auf Intim- Zensur dass Regierungen unliebsame, aber
Nein. Und Menschenmit
kontakte anderen
verzichten Die Mehrheit der EU-Bürgerinnen und
in anderen Ländern legal veröffentlichte
Inhalte als terroristisch einordnen und
bitte will, muss sich an mög- -Bürger ist gegen eine länderübergreifen- löschen lassen könnten. Spanien etwa
nutzen Sie licherweise ungewohn- de Internetzensur angeblich terroristi- wendete teilweise Antiterrorismus-
Glory te Praktiken gewöhnen. scher Inhalte, wie eine Meinungsumfrage gesetze gegen separatistische katalani-
Es wird empfohlen, von YouGov zeigt. Pläne der EU-Kom- sche Politiker an; in Ungarn wurde ein
Holes! Körper und Hände vor mission und der Regierungen der EU- Migrant wegen eines Terroraktes ver-
und nach dem Sex zu Mitgliedstaaten sehen derzeit vor, dass urteilt, weil er versucht hatte, gewaltsam
reinigen, ebenso soll auf den Einsatz von jeder EU-Mitgliedstaat europaweite die Grenze zu überqueren.
verschmutztem Sexspielzeug verzichtet Löschungen anordnen kann. Ein EU- Geplant ist, dass selbst Inhalte entfernt
werden. Auch schweres Atmen bezie- Staat könnte also von Internetanbietern werden können, die zum Zweck der
hungsweise Stöhnen ist zu vermeiden. verlangen, von ihm als terroristisch Sensibilisierung gegen terroristische Ak-
Der Gesundheitsschutz erfordert die deklarierte Inhalte auch in jedem ande- tivitäten verbreitet werden. »Die EU-
Überwindung von Hemmungen, etwa ren Mitgliedstaat zu löschen. Regierungen dürfen nicht weiter auf aus-
soll für spätere Kontaktaufnahme nach 51 Prozent der 10 214 befragten EU- ländischen Löschanordnungen und
dem Namen der Sexpartner gefragt Bürger in zehn ausgewählten Mitglied- Upload-Filterpflichten beharren«, sagt
werden. Zu nahe sollte man sich nicht staaten lehnen das ab, in Deutschland Breyer. »Terroristische Onlinepropa-
kommen: Masken sind erwünscht, Küsse 54 Prozent, in Tschechien sogar 69 Pro- ganda sollte wirksam bekämpft werden,
und der Austausch von Körperflüssig- zent. Nur 30 Prozent sprechen sich aber nicht durch eine Internetzensur
keiten eher nicht. Empfohlen zur dafür aus, 19 Prozent sind unentschieden. nach chinesischem Vorbild.« HIP
Kontaktminimierung wird Sex durch
kleine Löcher in Wänden, sogenannte
Glory Holes. Akzeptabel sind auch
Positionen mit abgewandtem Gesicht. Zuwanderung titel für Absolventen aus Nicht-EU-Staa-
In Deutschland sind solche Empfeh- Falsche Touristen ten soll die dauerhafte Zuwanderung
lungen zum Glück vollkommen über- von Hochqualifizierten nach Deutschland
flüssig. Hier kennt man seit Jahrzehnten Die Bundespolizei warnt vor einer neu- erleichtert und gefördert werden. Bei
das beste Rezept gegen schmutzigen en Masche, mit der chinesische Staats- einem Großteil entsprechender Anträge
Sex: die Ehe. Stefan Kuzmany angehörige illegal Visa erschleichen. Laut aus China kann laut Bundespolizei davon
einem vertraulichen Papier der Behörde ausgegangen werden, dass die für die
stellten Bundespolizisten bei Kontrollen Einreise genutzten Visa durch falsche
von Visumanträgen von Chinesen Unre- Angaben zum tatsächlichen Reisezweck
gelmäßigkeiten fest. Demnach beantrag- erworben wurden. Zudem legten die
ten angebliche Hochschulabsolventen Antragsteller nach der Ankunft in
zunächst ein rein touristisches Visum für Deutschland zum Teil Hochschulzeugnis-
den Schengenraum. Nach der Einreise se vor, »die gefälscht sind oder deren
nach Deutschland erfolge dann »unmittel- Abschluss nicht den deutschen Anforde-
bar« der Antrag auf eine sogenannte rungen« entspreche, heißt es in dem
Blaue Karte EU. Mit diesem Aufenthalts- Papier. ROL
DIGITALES EVENT
Gesellschaft neu denken –
Welche Chancen wir jetzt
ergreifen müssen
15.09.2020
Durch die Pandemie hat sich unser Alltag stark
verändert. Die neue Situation hat zudem einiges
über unsere Gesellschaft offenbart. Wo müssen
wir ansetzen, um uns als Gemeinschaft für die
Zukunft besser aufzustellen?
Mit Prof. Jutta Allmendinger, Ph.D. (Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung),
Gyde Opitz (Abteilungsleiterin Kommunikation und Gesellschaftliches Engagement Sparkassen- und
Giroverband Schleswig-Holstein), Thomas Röhler (Olympiasieger im Speerwurf),
Iyabo Kaczmarek (Gründerin und Geschäftsführerin der UNTER EINEM DACH gUG und Freie Kulturproduzentin),
und Philip Siefer (CEO und Co-Gründer des Startups Einhorn)
In Kooperation mit
Deutschland
Voll analog
Demokratie Deutschlands Politik kämpft mit den Folgen der Coronakrise. Vor allem
große Parteitage sind so wie bisher nicht denkbar, auf digitale Formate ist
kaum jemand vorbereitet. Manch ein Kandidat kann seine Stärke nicht mehr ausspielen.
E
s ist ein Montagabend Ende Au- tik, Treffen von Präsidenten, Kanzlerinnen, Wie gehen die Parteien damit um?
gust, als sich rund 300 Delegierte Ministern, diese Ebene war schon immer Und was sagt das über ihre Reformfähig-
der SPD in Rheinland-Pfalz zum eher aseptisch, doch selbst hier verändert keit?
Parteitag versammeln. Der Vorsit- sich gerade einiges. Noch deutlich stärker Dass digitale Politik selbst auf höchster
zende hält eine kämpferische Rede, alles aber gilt das für die Ebene, wo es auf Masse Ebene schnell an ihre technischen Grenzen
ist so, wie es sich für einen gelungenen Par- ankommt, wo sich demokratische Legiti- stößt, zeigte sich Anfang April. Damals re-
teitag gehört. Eigentlich. mation auch aus Delegiertenzahlen ablei- gierte Angela Merkel aus dem Homeoffice,
Roger Lewentz, der SPD-Landeschef, tet, aus Versammlungen auf Marktplätzen, sie saß dort ihre Quarantäne ab, weil sie
attackiert in seiner Rede Christian Baldauf, aus viel Mensch auf wenig Raum. Hier ver- Kontakt mit einem Arzt hatte, der mit
den CDU-Spitzenkandidaten für die Land- ändert sich gerade fast alles. Corona infiziert war. Merkel hatte gerade
tagswahl in einem halben Jahr. Im ganzen Land finden derzeit Experi- mit den Ministerpräsidentinnen und Mi-
»Er ist der große Unbekannte«, ruft mente wie jenes in Rheinland-Pfalz statt, nisterpräsidenten über die Anti-Corona-
Lewentz. die Parteien unternehmen erste Schritte, Maßnahmen konferiert, nun wollte sie in
»Die Hälfte der Rheinland-Pfälzer kennt um Willensbildung in Zeiten der Pandemie einer telefonisch abgehaltenen Pressekon-
ihn nicht!« zu ermöglichen. Doch die Stille in der ferenz die Ergebnisse verkünden.
Baldauf sei »ein Schlechtredner«, au- Mainzer Halle zeigt die Grenzen auf, was Ein paar Journalisten hatten sich zuge-
ßerdem »nicht regierungsfähig«. man nicht nur hierzulande sieht. schaltet, auch der bayerische Ministerprä-
Es sind Passagen, bei denen die Halle Die virtuell abgehaltenen Parteitage sident Markus Söder war dabei.
eigentlich toben müsste. Doch die Halle in von Republikanern und Demokraten in Minutenlang referierte Merkel, warum
Mainz ist leer, abgesehen vom Parteipräsi- den USA waren hochprofessionell aufge- die Kontaktbeschränkungen weiter gelten
dium, etwa 20 Mitarbeitern und einigen zogen, doch auch dort konnten Inszenie- müssten. Es hallte und rauschte, die Qua-
Journalisten. Die Delegierten sind lediglich rung und Aufmachung nicht darüber hin- lität war miserabel. Merkels Sprecher Stef-
per Video zugeschaltet, die SPD Rheinland- wegtäuschen, was fehlte: Menschen, und fen Seibert unterbrach und schaltete die
Pfalz hält ihren ersten digitalen Parteitag damit Stimmung, Dynamik, Kampfgeist. Teilnehmer erneut zusammen.
ab. Statt Applaus erntet Lewentz Stille. Die rheinland-pfälzischen Genossen üb- »Ja, Merkel«, sagte die Kanzlerin. »Ich
Die Delegierten stimmen online ab, sie rigens müssen sich schon Ende Oktober weiß nicht, ist der Söder noch dabei?« Kur-
halten Redebeiträge, und doch fehlt fast wieder zum Landesparteitag treffen, dies- ze Pause.
alles, was einen Parteitag ausmacht: die mal real, in Idar-Oberstein. Der Landes- »Ja, ich bin noch dabei.«
Atmosphäre, die persönliche Begegnung, vorstand muss neu gewählt werden, laut Seibert sagte, er müsse jetzt erst mal
der Austausch in der Raucherecke. Parteisatzung ist das online bislang nicht wieder das Zeichen für den Livestream
»Ein Parteitag ohne Delegierte ist wie vorgesehen. Auch hier hat das Format seine geben. »Ich fang dann wieder von vorne
eine total leckere Suppe ohne Salz«, sagt Grenzen. an, weil der Ton schlecht war, ja gut«, sagte
Ministerpräsidentin Malu Dreyer in ihrer Die Herausforderung durch die Pande- Merkel.
Rede. mie ist für die deutschen Parteien ein Test, »So ist es leider«, sagte Seibert.
Corona verändert alles, es gibt kaum ob sie noch auf der Höhe der Zeit sind. »Mach dann aber keine Fragen mehr
einen Lebensbereich, der nicht berührt, Ihre Rituale und Strukturen gelten als ver- und geh nach dem Statement dann raus,
betroffen wäre. Das Virus verändert die altet, nun müssen sie schnell reagieren. okay?«, riet Söder der Kanzlerin.
Art, wie die Menschen lernen, wie sie ar- Merkel: »Okay, gut, das ist ein guter
beiten, kommunizieren, sich fortbewegen. Kompromiss. Ich muss leider noch mal
Und es verändert die For- Die Zeit drängt losleiern.«
mate des Politischen. Amtszeiten der aktuellen »Ist schon okay«, sagte Söder.
Es gibt die Welt der ab- Parteivorsitzenden Mittlerweile, ein paar Monate später,
soluten Spitzenpoli- klappen solche Schalten technisch meist
Fed er i c o G am ba r ini / Po o l d pa / d dp me di a; Je ns Sc hi c ke;
CDU 7. Dezember
Linke 9. Juni
26. April
FDP Parteitag für Mai geplant
26
Nikita Teryoshin
Delegierte auf CDU-Parteitag in Leipzig 2019: Viel Mensch auf wenig Raum
reibungslos. Doch andere Nachteile lassen telbar auch um die Frage, wer im nächsten über Deutschland verteilten Hallen zu ver-
sich nicht wegoptimieren. Jahr als Kanzlerkandidat antritt. Mit 1001 sammeln. Dort könnten sie die Auftritte
So geht etwa Vertraulichkeit verloren. Delegierten sind CDU-Parteitage aller- der Bewerber verfolgen, die von einem wei-
Niemand kann kontrollieren, welche Mit- dings noch einmal größer als die der ande- teren Ort zugeschaltet werden, abgestimmt
arbeiter sich abseits der Kameras noch in ren Parteien. In Sachen Hygiene haben sie würde digital. Dafür müsste wohl ebenfalls
den Büros befinden. Man müsse »sich besonders hohe Hürden zu nehmen. das Parteienrecht geändert werden.
auch mal argumentativ vergaloppieren« Ursprünglich sollte der Parteitag über Darauf dringen nun manche Christ-
können, so formuliert es der Thüringer mehrere Tage gehen, mit 2000 Teilneh- demokraten energisch, allen voran Tilman
Ministerpräsident Bodo Ramelow von mern, also Delegierten, Gästen und Jour- Kuban, Chef der Jungen Union. Man solle
der Linken. Das gehe in solchen Schalten nalisten, doch davon hat man in der CDU- »jetzt alles daransetzen, bis zum Dezem-
schlechter, weil alle fürchteten, die Patzer Zentrale bereits Abstand genommen. Das ber die gesetzlichen Voraussetzungen im
würden sofort durchgestochen. »Dann Treffen soll nun lediglich einen Tag dauern. Parteienrecht für digitale Wahlparteitage
hast du eine Schere im Kopf.« Bleibt das Problem, dass es sich um eine zu schaffen«, sagt er. Auch CSU-Chef Mar-
Zugleich kann sich keiner verstecken Großveranstaltung handelt, die bis auf Aus- kus Söder, selbst potenzieller Kanzlerkan-
wie etwa in einem großen Saal. »Herr nahmen eigentlich verboten ist und, wenn didat, spricht sich für eine Gesetzesände-
Söder, man sieht, wenn Sie mit den Augen überhaupt, nur unter Bedingungen statt- rung aus, um digitale Wahlparteitage zu
rollen«, sagte Manuela Schwesig, Regie- finden darf. CDU-Bundesgeschäftsführer ermöglichen.
rungschefin in Schwerin, kürzlich zum Stefan Hennewig hat deshalb mehrere Sze- Tatsächlich bewegt sich einiges. Die Bun-
bayerischen Ministerpräsidenten, als der narien entwerfen lassen. destagsfraktionen von Union und SPD ha-
während einer Schalte kurz genervt war. Szenario eins: In Stuttgart versammeln ben sich auf einen Entwurf zur Änderung
Auch so etwas verändert die Atmosphäre. sich nur die 1001 Delegierten in der Halle, des Wahlgesetzes geeinigt, der mit einer
Doch all das ist nichts gegen die Proble- Journalisten und Gäste bleiben draußen. Änderung des Parteiengesetzes einher-
me, vor denen die Parteien derzeit stehen. Szenario zwei: Die Delegierten werden gehen soll. Die Parteien sollten »neue Mög-
Vor den größten steht die CDU. in zwei oder mehr Hallen aufgeteilt und lichkeiten bekommen, ihre Parteitage
Eigentlich wollten die Christdemokra- verfolgen die Reden der Kandidaten auf durchzuführen«, sagt Ansgar Heveling, Jus-
ten bereits im April einen neuen Parteichef Leinwänden. Schon dafür wären aus Sicht tiziar der Unionsfraktion. »Dazu gehört
wählen, doch wegen der Pandemie wurde der Parteizentrale rechtliche Änderungen auch, ganze Parteitage im Notfall digital
das Treffen in den Dezember verschoben. notwendig, schließlich wäre das kein Prä- stattfinden zu lassen.« SPD-Fraktionsvize
Nun steht auch dieser Termin infrage. senzparteitag im klassischen Sinn mehr. Dirk Wiese sagt: »Wir sind offen dafür,
Dabei soll es in Stuttgart nicht nur um Das gilt erst recht für Szenario Nummer Spielräume im Parteiengesetz zu schaffen,
den Vorsitz gehen, sondern zumindest mit- drei. Es sieht vor, die Delegierten in vier damit die Parteien Onlineparteitage als
28
Deutschland
V
ier Tage nachdem die Bilder Sicherheitslage genau im Blick, sagt er extremisten, Reichsbürger und Verschwö-
von Demonstranten auf der Trep- nach Teilnehmerangaben. Der Innenminis- rungsanhänger die Absperrungen der Poli-
pe des Reichstagsgebäudes mit ter sendet das Signal aus: Wir tun was. zei durchbrachen und plötzlich direkt vor
schwarz-weiß-roten Fahnen um Bis zum Wochenende hatte sich die dem Bundestag standen. Einen Moment
die Welt gegangen sind, hat die Berliner Politik schwergetan, allzu scharf auf Pro- lang schützten nur drei Polizisten die
Politik den Eklat noch nicht verdaut. Am teste gegen die Corona-Maßnahmen zu gläsernen Türen zur Herzkammer der
Mittwochmorgen sind Migrantenverbände reagieren. Die Angst überwog, den Volks- Demokratie. Bundespräsident Frank-Wal-
und Antirassismusinitiativen zu Gast im zorn dadurch erst recht anzufachen. Als ter Steinmeier, der die Beamten später im
Kanzleramt. Der Kabinettsausschuss ge- am 1. August erstmals Zehntausende De- Schloss Bellevue empfing, nannte die
gen Rechtsextremismus tagt, ein neues monstranten durch Berlin zogen und viel- Szenen »geradezu unerträglich«. Der Spre-
Gremium, passender könnte es kaum sein. fach Verschwörungsmythen verbreiteten, cher der Kanzlerin sprach von »schänd-
Ein Teilnehmer will von der Kanzlerin sprach SPD-Chefin Saskia Esken auf Twit- lichen Bildern«.
und ihren Ministern wissen, welche Kon- ter von »Covidioten« – und erntete einen Doch der Eklat hätte wohl verhindert
sequenzen sie aus dem Wochenende zie- Shitstorm. Menschen, die ihr Demonstra- werden können, denn er hatte sich lange
hen und was sie gegen die Radikalen auf tionsrecht wahrnehmen, könne man so angekündigt, wie jetzt eine Rekonstruk-
den Straßen und im Netz unternehmen. nicht begegnen. tion der Ereignisse zeigt: In Chatgruppen
Innenminister Horst Seehofer (CSU) mel- Umso erschrockener reagierte die Poli- hatten Rechtsradikale bereits seit Wochen
det sich zu Wort. Die Regierung habe die tik, als am Samstag bis zu 400 Rechts- davon schwadroniert, den Bundestag
»stürmen« oder »besetzen« zu wollen. richt Schwerin nach einem Angriff auf ein
Auch am Tag der Demonstration riefen Asylbewerberheim zu dreieinhalb Jahren
Redner mehrfach dazu auf, die Gitter Freiheitsstrafe – wegen versuchten Mordes
am Reichstagsgebäude zu überwinden und und schweren Landfriedensbruchs.
zum Parlament vorzudringen. Doch die Seit 2013 tauchten Hoffmann und seine
Behörden hatten die Parolen nicht ernst Truppe immer wieder vor dem Reichstags-
genug genommen. Und so gelang es einem gebäude auf. Bei den stets angemeldeten
Haufen Verschwörungsideologen und Demos erhob er im Namen der »deut-
Rechtsextremen, Bilder zu produzieren, schen Völker« Anspruch auf das Parla-
die bleiben – und einen Teil der Corona- ment. Im Dezember 2018 marschierte er
Proteste weiter radikalisieren können. vor die Absperrung an der Reichstags-
treppe und brüllte vor rund 40 Anhängern
Samstag, 12.30 Uhr. In der Hauptstadt in Richtung Parlament: »Raus da, raus!
sind mehrere Veranstaltungen gegen die Das ist unser Haus! Das gehört uns, nicht
Corona-Politik der Bundesregierung ange- euch!«. Ernst genommen hatte ihn natür-
meldet, das Bündnis »Querdenken 711« lich niemand.
aus Stuttgart verantwortet den größten An diesem Samstag fordert Hoffmann
Protestzug. Zunächst hatte die Berliner die Zuhörer auf: »Lasst euch nicht abhal-
Versammlungsbehörde die Demo unter- ten, von Sperren, von Gläsern, von Dräh-
sagt, die Gerichte aber hoben das Verbot ten, von Zäunen!«
wieder auf. Nun protestieren Zehntausen- Die Polizei allerdings kümmert sich
de an verschiedenen Orten in Berlin-Mitte, nicht um Hoffmann, sondern um jene, die
von der Friedrichstraße bis zur Siegessäule. hinter der Absperrung auf einer Wiese zwi-
Es ist eine wilde Mixtur aus Mittelschichts- schen Bundestag und Kanzleramt sitzen.
bürgern, Esoterikern, Impfgegnern – und Dort ist das Demonstrieren nicht erlaubt.
Rechtsradikalen. Um 12.45 Uhr rückt ein Kommunikations-
30
Heilpraktikerin aus dem Raum Aachen. Gitter überrannten und auf das Reichstags-
FAKE
Der nordrhein-westfälische Verfassungs-
schutz zählt sie zur Reichsbürgerszene.
Auf der Bühne trägt die Frau ein T-Shirt
mit Symbolen der QAnon-Bewegung,
gebäude zustürmten.
Einige aus der Menge flüchten vor den
anrückenden Polizisten, andere wehren
sich, schubsen Beamte, sprühen selbst mit
NEWS
die abstruse Verschwörungsthesen verbrei- Tränengas. Andere skandieren: »Volksver- sind nur der
tet. Im Netz firmiert sie als »freie Mitarbei- räter«, »haut ab«, »Widerstand«.
terin« eines Onlineportals der Bewegung. Um 19.19 Uhr ist die Treppe geräumt, Anfang
Überregional bekannt war Kirschbaum etwas später verkündet die Polizei über
bisher nicht. Nun lauschen mehrere Hun-
dert Zuhörer ihrer wirren Ansprache. US-
Präsident Donald Trump sei in Berlin,
Lautsprecher das Ende der Versammlung:
»Achtung, Achtung. Es erfolgt eine Durch-
sage der Polizei. Diese Demonstration
! Auch als
E-BOOK
ERHÄLTLICH
behauptet sie, man solle ihm ein Zeichen wird wegen Unfriedlichkeit aufgelöst.«
senden und die Treppen zum Bundestag Doch die Menge denkt nicht daran, ein- JETZT bequem
erklimmen: »Wir gehen da drauf und fach zu gehen. Erst kurz vor 20 Uhr ist von zuhause aus
holen uns heute hier ab jetzt unser Haus der Platz vor dem Bundestag frei. kaufen
zurück!«, ruft Kirschbaum ins Mikrofon.
Offenbar angestachelt durch die Worte, Hektisch ringt die Politik nun um Ant-
überrennen Demonstranten die Absperr- worten. Manche fordern ein Verbot der
gitter neben der Bühne und laufen die Stu- schwarz-weiß-roten Flaggen des Deut-
fen des Reichstagsgebäudes hinauf, auch schen Reichs, ein eher hilfloser Vorstoß.
von der anderen Seite steigen Menschen Andere schlagen vor, das Demonstrieren
über die Gitter. vor dem Reichstagsgebäude generell zu
Plötzlich drängen sich bis zu 400 Män- untersagen, nicht nur wie bisher an Sit-
ner und Frauen bis hoch vor die Glasschei- zungstagen. Vorgezogen werden könnte
ben des Bundestags. Nur drei Polizisten auch ein Sicherheitskonzept, das ursprüng-
stehen noch zwischen der Menge und dem lich erst ab 2025 umgesetzt werden sollte:
Eingang. Zwei Beamte schwingen mit Der Bundestag würde demnach mit einem
Schlagstöcken, ein Beamter, ohne Helm, Graben und zweieinhalb Meter hohen
schreit: »Runter, ihr geht jetzt runter!« Zäunen umgeben.
Auf den Stufen jubeln die Protestieren- Doch ist das die richtige Antwort? Das
den, Handys werden in die Luft gehalten, Volk auf Abstand zu den Volksvertretern
um den symbolträchtigen Moment einzu- zu halten wie einst der König die Unter-
fangen. Neben Reichsbürgern und Rechts- tanen vor seinem Schloss? Am Donners-
extremisten ist im Tross ein Mitarbeiter tagmittag traf sich der Ältestenrat des
des AfD-Bundestagsabgeordneten Ulrich Bundestags zu einer Sondersitzung. Eine
Oehme aus Sachsen dabei. Auch ein Mit- gute Stunde lang berieten die Parlamen-
glied der Jungen Alternative, der Jugend- tarier, wie die Sicherheit am Bundestag
organisation der AfD, ist in vorderster Rei- erhöht werden kann – ohne sich vor den 304 Seiten, gebunden · € 22,00 ( D )
he die Treppen mit hinaufgestürmt – und Bürgern abzuschotten. Zu konkreten Ent-
heizt jetzt die Menge an. scheidungen konnten sie sich noch nicht
Zur Gesellschaft der rechten Revoluzzer durchringen. Hacker, Bots, Trolle, Putin, der IS
vor den Türen des Bundestags gehört auch Einig waren sich die meisten Abgeord- oder Trump – sie alle wollen nicht
Nikolai Nerling, ein Holocaust-Leugner neten nur darin: Eine Wiederholung der
und ehemaliger Grundschullehrer, der in Szenen vom Wochenende dürfe es nicht einfach nur »alternative Fakten«
sozialen Netzwerken unter dem Namen geben. Von den Sicherheitsbehörden ver- in die Welt setzen, sie sind vielmehr
»Volkslehrer« auftritt. Er war von Anfang langen sie einen ausführlichen Bericht, wie
an bei Demonstrationen gegen die Coro- es so weit kommen konnte. Bundestags- dabei, unsere Realität zu verändern.
na-Maßnahmen dabei, auch zu den Orga- präsident Wolfgang Schäuble (CDU) plant Peter Pomerantsev nimmt uns
nisatoren der Hauptdemo von »Querden- ein Treffen mit Vertretern der Bundes-
ken 711« pflegt er Kontakt. regierung und dem Land Berlin, um die
mit an die Front des
Auf der Treppe stehen außerdem die Vorfälle aufzuarbeiten. Desinformationskrieges, der
»Corona-Rebellen Düsseldorf«, erkennbar In der Chatgruppe der »Corona-Rebel- inzwischen überall auf der Welt tobt.
an ihrem schwarz-weiß-roten Plakat. Sie len Düsseldorf« herrschte nach den Ge-
sind seit dem Vormittag auf den Demos in schehnissen von Berlin eine Art Kriegs- Er trifft Twitter-Revolutionäre
Berlin unterwegs, laut, pöbelnd, offensicht- zustand. Der Hass auf die Polizisten, die und Pop-up-Populisten, Islamisten
lich betrunken. Am Ende sind sie im rich- dem Spuk am Bundestag ein Ende bereitet
tigen Moment am rechten Ort. hatten, war groß. Ein Schreiber wünschte und Identitäre, die aus der
Eine Minute später erreichen drei Züge sich für die »Schergen des alten Systems« Zertrümmerung von Ideen wie
einer Cottbusser Polizeihundertschaft das ein gewaltsames Ende: »Das Volk soll sie
untere Ende der Stufen, bilden Ketten und aus ihren Wohnungen herauszerren und
»wahr« und »falsch« ihren
drängen die Demonstrierenden mit Schlag- Gerechtigkeit walten lassen.« Nutzen ziehen.
stöcken und Pfefferspray zurück. Die Be- Maik Baumgärtner, Andreas Flammang,
amten standen ein ganzes Stück abseits Matthias Gebauer, Roman Höfner,
der Bühne, in Richtung Brandenburger Roman Lehberger, Ann-Katrin Müller,
Tor, und sollten gerade abgelöst werden, Sven Röbel, Wolf Wiedmann-Schmidt
als sie bemerkten, dass Demonstranten
Unsere Verrückten
schaut, als Politiker oder Berater, kann natürlich nur Poli-
tik sehen. Aber die Protagonisten scheinen kein klares
Bild davon zu haben, was sie eigentlich wollen. Es gibt kei-
ne gemeinsame Idee, außer dass die Corona-Maßnahmen,
die längst ihre Schärfe verloren haben, die Freiheit bedro-
Essay Die Bewegung gegen die Corona-Maßnahmen hen. Das temperierte System der geregelten Verfahren,
nach dem die Politik funktioniert, ist ihnen fremd. Und
will einfache Antworten auf schwierige Fragen. natürlich gibt es tiefgründige Verbindungen nach rechts.
Bei der Suche danach kommen auch brave Bürger auf Doch möglicherweise greift das ein wenig kurz.
abstruse Gedanken. Die Bewegung wird von Ängsten getragen, das ist offen-
sichtlich. Ängste, die zum Teil im echten Leben verankert
sind. Das Virus und die Maßnahmen zu seiner Eindäm-
E
mung haben die Gesellschaft und jeden Einzelnen unter
ine Freundin erzählte mir vor einigen Tagen Stress gesetzt. Viele Menschen haben Jobs und Einkom-
eine Geschichte. Ihre Physiotherapeutin, die sie men verloren und damit auch ihre Perspektiven. Ihre Ängs-
lange kennt, habe im Frühsommer angefangen, te speisen sich auch aus den Welten der Science-Fiction
eigenartige Sachen zu erzählen. Zum Beispiel, oder der Fantasy. Oder gleich aus dem Ressentiment-Reser-
dass es das Coronavirus gar nicht gebe. Dass es von einer voir, das sich über die Jahrhunderte in unserem kollektiven
Elite erfunden worden sei, um uns zu beherrschen. Dass Geschichtenspeicher angesammelt hat: entführte Kinder,
Belgien untertunnelt sei und in diesem Schattenreich Hinterzimmer-Regierungen, unsichtbare Kräfte, die die
Kinder gehalten und gefoltert würden. Dass aus der Zir- Menschen manipulieren und denen man schutzlos ausgelie-
beldrüse der Kinder ein Sekret gewonnen werde, das fert ist. Antisemitische Geschichten sind zu hören, in denen
bei den Verjüngungskuren der Reichen und Mächtigen die Rothschilds und George Soros die Strippen ziehen.
eingesetzt werde. Ist dir, fragte sie die Freundin, nicht Wer sich da verschwört, ist nicht wichtig. Die Ver-
auch aufgefallen, dass Brigitte Macron, die Ehefrau des schwörung allein ist es, die zählt. Und dass ein paar Auf-
französischen Staatspräsidenten, im Augenblick so alt rechte dagegen aufstehen.
aussehe? Könne es nicht sein, dass ihr der Nachschub
D
fehlte?
Die Physiotherapeutin hat Kinder und einen Mann. Sie iese Theorien gab es schon immer – in der Mitte
lebt in normalen, stabilen Verhältnissen, eine nette und der Gesellschaft, in linken wie in rechten und
hilfsbereite Person, durchaus mit einem Hang zum Esote- rechtsradikalen Milieus. Insofern gehen auch die
rischen, was vielleicht ein wenig seltsam war, aber nicht Beschwörungen von Politikern ins Leere, wenn
besorgniserregend. sie diese Leute ansprechen und sagen: Wer jetzt mit Nazis
Am vergangenen Wochenende war die Physiothera- demonstriere, mache sich mit ihnen gemein und breche
peutin in Berlin und hat demonstriert. ein Tabu der bundesrepublikanischen Kultur. Aus der
Rund 40 000 Menschen waren dort auf der Straße. Sicht der Politik stimmt das natürlich. Aber wer glaubt,
Hooligans und Impfgegner, Leute, deren Firma pleite- dass eine Schattenelite dabei ist, die Macht zu überneh-
gegangen ist wegen des Lockdowns. Hippies, Friedens- men, und das Virus nur einer ihrer üblen Tricks ist, dürfte
aktivisten, Mitglieder der rechtsextremen »Identitären auf einer Demonstration gegen diesen übermächtigen
Bewegung«, Nostalgiker, die den Kaiser zurückwollen. Feind nur Verbündete sehen, keine Gegner.
Und die Physiotherapeutin, die offenbar Teil eines Aber da ist noch etwas anderes.
Kults namens »QAnon« geworden war. Dessen Anhänger Der kleinste gemeinsame Nenner dieser Bewegung ist
glauben daran, dass nur der amerikanische Präsident nämlich etwas Universelles: die Überzeugung, eine eigene
Donald Trump die Welt vor der Verschwörung der Kin- Meinung zu haben. Immer wieder hört man es in den
dermörder retten könne. Interviews, die Demonstrationsteilnehmer geben, liest es
Meine Freundin stürzte all das in in den sozialen Netzwerken, in denen sie sich austauschen.
tiefe Ratlosigkeit. Er wolle zum »Nachdenken und Recherchieren« anregen,
Viele beglückte Was sollte sie machen? Sich eine sagt der Demonstrationsanmelder Michael Ballweg,
Gesichter waren bei Mit ihr Physiotherapeutin
andere suchen?
darüber reden und versuchen,
»recherchiere das mal«, sagt die Physiotherapeutin zu mei-
ner Freundin. Und bilde dir dann deine eigene Meinung.
der Berliner Demo sie zu überzeugen, dass sie sich ver- Das ist ein edler Wunsch. Er steht am Anfang der Auf-
zu sehen – einer Art rannt hat? Könnte es sein, dass sie klärung, als sich der Mensch aus seiner Unmündigkeit zu
einfach verrückt geworden ist? Oder befreien begann. Tatsächlich hilft er aber nur wenig, die
Gruppentherapie. sollte man so tun, als wäre nichts? komplexe Realität der heutigen Demokratien zu verste-
Da war also eine Frau, die ganz hen. Die ja eben nicht nur aus einer Regierung besteht,
offensichtlich versucht hat, sich die tut, was die Wähler wollen. Sondern aus einem ausdif-
einen eigenen Reim auf diese komplizierte Welt zu ferenzierten Geflecht verschiedener Institutionen, die
machen, in der wir heute leben. In der mehr Informatio- sich gegenseitig zuarbeiten und kontrollieren. Und das ist
nen zugänglich sind als je zuvor und es gleichzeitig an nur die Politik. Die moderne Wissenschaft, auch ein Kind
Sicherheit fehlt einzuschätzen, was richtig ist und was der Aufklärung und in der Coronakrise von zentraler
falsch. Und die bei dieser Suche bei vollkommen verdreh- Bedeutung, ruht auf einem ähnlich verzweigten Netz-
ten Antworten gelandet war. werk. Nichts geht schnell in diesen Systemen. Weil in der
Und da stand die Freundin. Die ihrer Physiotherapeu- Politik die Informationsbeschaffung, Abstimmung, Kom-
tin zuhörte und die Welt ebenfalls nicht mehr verstand. promissfindung und Vermittlung eben Zeit braucht. Weil
E
Sie ist der Ausweis, besonders zu sein. Und sie ist vor
allem Befindlichkeit. s gibt Verrückte. Leute, die sich selbst aus dem
Der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz hat in den gesellschaftlichen Gespräch nehmen, weil das,
vergangenen Jahren herausgearbeitet, wie das Gefühl, was sie sagen, nicht mehr nachvollziehbar ist. In
besonders zu sein, zu einer Grundbedingung der zeitge- der Politik würde man sagen: nicht prozessierbar.
nössischen Existenz geworden ist. Reckwitz bezog sich Große Teile dieses eigenartigen neuen Protests gehören
damit vor allem auf die neuen, urbanen Mittelschichten, dazu. Der Verrückte ist aber auch ein Schreckbild. Der,
die in gut bezahlten Jobs einer weltweit vernetzten Öko- auf den man das projiziert, was man selbst nicht sein
nomie arbeiten. Und die ihr Leben als riesige Inszenie- möchte. In dessen Schwierigkeit, die Welt zu verstehen,
rung des Selbst begreifen – durch die Art zu wohnen, zu sich die Schwierigkeit spiegelt, ihn zu verstehen.
essen, zu reisen, durch den Wert, der Bildung beigemes- Dies nicht zu vergessen, darin dürfte die Kunst im
sen wird, durch das Gefühl, in der ganzen Welt zu Hause Umgang mit einer Bewegung liegen, die ganz offensicht-
zu sein. Daraus, so der Wissenschaftler, ergebe sich ein lich keinen rationalen Kern hat. Mit gut gemeinten Appel-
neuer Klassenkonflikt: mit denen, die sich nicht so fühlen. len wird das kaum gehen. Sie dürften ihre Protagonisten
Die sich durch diese aufstrebende Klasse aus ihrer Welt in den Gruppierungen so wenig erreichen wie etwaige
verdrängt sehen. politische Angebote. Denkbar wäre sogar das Gegenteil:
Doch dieser Wunsch nach Besonderheit findet sich Sie in die rechte Ecke zu schieben, so sehr sich das inhalt-
längst in der ganzen Gesellschaft. Und die eigene lich begründen lässt, könnte nicht wenige davon überzeu-
Meinung, für die die Leute in der neuen Anti-Corona- gen, dass sie dort auch wirklich hingehören.
Bewegung anerkannt werden wollen, dürfte vor allem Man wird sie aushalten müssen. I
33
Deutschland
Der Schwindel-Arzt
Karrieren Bodo Schiffmann war ein gefragter Mediziner aus Sinsheim.
Wie wurde er zu einer Leitfigur der Verschwörungstheoretiker?
Z
u Hause kann man ihn nicht besu-
chen, seine Privatadresse soll pri-
vat bleiben. Wer Bodo Schiffmann
treffen will, muss in seine Praxis
nach Sinsheim kommen, in die »Schwin-
delambulanz«, Alte Waibstadter Straße 2c,
Termine nach Vereinbarung. Hier behan-
delt er Menschen, die an Gleichgewichts-
störungen oder Schwindel leiden. Von hier
aus organisiert er seinen Widerstand gegen
die Corona-Politik der Bundesregierung.
Als das Virus Anfang des Jahres nach
Deutschland kam, war Schiffmann vor al-
lem Arzt, heute ist er einer der Anführer
der Corona-Proteste.
Er hält sich nicht für einen Verschwö-
rungstheoretiker. Er benutzt das Wort nur,
um sich ironisch von den Leuten abzugren-
zen, die seiner Meinung nach nicht begrei-
fen, was gerade wirklich geschieht. Er be-
zeichnet sich als »neuen Denker«.
Am Empfang reicht die Sprechstunden-
hilfe ein Dokument, das normalerweise
die Patienten erhalten – mit der Bitte um
Ankreuzen und Unterschrift: »Hiermit er-
kläre ich an Eides statt, dass ich beim Tra-
gen einer Mund-Nasenbedeckung unter
folgenden Symptomen leide: Panikatta-
cken. Herzrasen. Atemnot. Sonstiges.«
Bodo Schiffmann denkt über die Maske
wie über die Burka: Er hat nichts dagegen,
wenn sie jemand freiwillig trägt. Aber für
ihn ist sie ein Symbol der Unterdrückung,
wenn man dazu gezwungen wird.
Dann führt er in ein Behandlungszimmer.
Es ist der zweite Besuch in drei Wochen.
Schiffmann trägt an diesem Donnerstag im
Juli eine weiße Hose und einen weißen Ka-
puzenpullover, ein schmaler Mann, 52 Jah-
re alt, verheiratet, Vater von zwei Kindern.
Auf dem Schreibtisch liegen Puppen, Ernie
und Bert, mit denen erklärt er den Patien-
ten physiotherapeutische Übungen.
An dem Computer in diesem Zimmer
sind die meisten Videos entstanden, die
Schiffmann auf YouTube hochgeladen hat.
Er hat drei Kanäle eingerichtet, einer heißt
»Alles Ausser Mainstream«. Gut 150 Clips
hat er veröffentlicht, in denen er gegen
eine angeblich »faschistoide Gesundheits-
diktatur« anredet.
Er hat fast 300 000 Abonnenten auf
Lutz Jaekel / laif
34
als Corona-Kritiker verknüpft er Tatsa- Wer »man« sein soll, sagt er nicht. anderen Boxen sitzen Demonstranten.
chen mit Halbwahrheiten, Fehlinterpreta- Beim »Event 201« haben die Bill & Mehr als zwei Stunden harren sie aus.
tionen und absurden Gedanken. Melinda Gates Foundation, das Weltwirt- Schiffmann kippt sich in der Hitze eine Fla-
Laut einer Umfrage der Friedrich-Nau- schaftsforum und das Johns Hopkins sche Wasser über den Kopf. Als die Polizis-
mann-Stiftung denkt jeder vierte Deut- Center for Health Security im Oktober ten die ersten Menschen wegtragen, legt er
sche, das Coronavirus sei in einem chine- 2019 – also kurz vor Corona – eine globale die Hand aufs Herz und singt die National-
sischen Labor gezüchtet worden. Und je- Pandemie simuliert. Dabei wollten sie zei- hymne. Er faltet die Hände, spricht das Va-
der fünfte im Alter von 18 bis 34 glaubt, gen, wie Regierungen, Behörden und Un- terunser. Irgendwann steht er auf und geht.
es bestehe ein Zusammenhang zwischen ternehmen am besten zusammenarbeiten. Kurz darauf steht er in der Menge, je-
der Pandemie und dem Ausbau des 5G- Auslöser der Übungspandemie war ein mand drückt ihm ein Megafon in die Hand.
Netzes. fiktives Coronavirus. »Was sind wir?«, ruft er. »Wir sind?«
Eine Bewegung, die sich von Fakten Zum Prinzip der Verschwörungstheorie »Viele!«
und Vernunft entfernt, ist gefährlich, weil gehört, mit dem Mittel der Behauptung »Ah, das tut so gut.«
sie die Gesellschaft zersetzen kann. Sie ist einen Schuldigen zu benennen, ein ge- Die Demonstranten hätten gezeigt, sagt
empfänglich für Extremismus und im äu- meinsames Feindbild zu finden. Psycholo- er, dass sie »für Frieden« stünden, für »Lie-
ßersten Fall auch für Gewaltbereitschaft. gen sagen, die Anhänger wollten damit ein be«. Er sagt: »Mahatma Gandhi wäre stolz
Schiffmann ist ein freundlicher Mann Gefühl von Kontrollverlust kompensieren. auf uns.«
und lebhafter Gesprächspartner. Er springt Schiffmann hat im Mai den Verein »Me- Gandhi und Gates, Pol und Gegenpol
von Thema zu Thema, von Behauptung diziner und Wissenschaftler für Gesund- von Bodo Schiffmann.
zu Behauptung. Er widerspricht sich. Weist heit, Freiheit und Demokratie« mitgegrün- Am nächsten Morgen macht er sich auf
man ihn darauf hin, ignoriert er das oft. det, im Juni dann die Partei WIR2020. Die den Heimweg. Er fährt mit dem Auto, weil
Er leugnet nicht, dass es Corona gibt, fordert »die Rücknahme sämtlicher Geset- er im Zug eine Maske tragen müsste.
aber er hält Corona für harmlos. Gut 9000 zesänderungen im Zusammenhang mit der Später berichtet Schiffmann, er sei kurz
Covid-19-Tote in Deutschland seit Beginn sogenannten Covid-19-Pandemie« und hinter Berlin liegen geblieben, mit einem
der Pandemie findet er nicht der Rede das Einsetzen eines außerparlamentari- Platten vorn rechts.
wert. Dann kommt er zu wilderen Thesen, schen Untersuchungsausschusses.
hinter den Corona-Maßnahmen stecke Dass Menschen, die er zum Mainstream Wie das alles anfing? Wenn er davon er-
nämlich der Plan, den Geldmarkt neu zählt, ihn komplett irre finden, verbucht zählt, spricht er von Neo, dem Helden aus
zu ordnen. Schiffmann als Bestätigung. Es passt zur dem Film »Matrix«. Neo werden zwei Pil-
Er sagt: »Ich habe keinen Bock auf einen Opferrolle, die er einnimmt: wir hier unten len angeboten, eine blaue und eine rote.
Neofeudalismus mit Bill Gates als Kaiser gegen die da oben. Schluckt er die blaue Pille, kehrt er zurück
und Angela Merkel als Königin für das Wieso er für eine Führungsrolle taugt? in seine Traumwelt. Schluckt er die rote,
Reich Deutschland.« Die Corona-Warn- »Ich bin ein Arzt, der in der Lage ist, erkennt er die Wahrheit. Schiffmann sagt,
App vergleicht er mit dem Judenstern. Daten in Relation zu setzen.« er habe wie Neo die rote Pille genommen.
Er meint, dass Microsoft-Gründer Bill Fast jedes Wochenende spricht er inzwi- Vieles, was er sagt, lässt sich nicht über-
Gates mit Impfungen gegen das Corona- schen auf einer Kundgebung. In Ulm sagte prüfen, es basiert allein auf seiner Schilde-
virus die Weltbevölkerung reduzieren wol- einer der Veranstalter: »Lieber Bodo, wir rung.
le. Möglicherweise mache eine künftige danken Gott, dass es dich gibt.« An Schiff- Bodo Schiffmann ist in Lampertheim in
Impfung unfruchtbar, sagt er. »Man könnte manns Hemdkragen baumelte eine Kugel Hessen aufgewachsen, er hat einen Bruder,
auch einen Chip implantieren, der alle per- aus Aluminiumpapier, ein sogenannter seine Mutter war Sekretärin, sein Vater ar-
sönlichen Daten enthält, und wenn man Querdenker-Bommel. Es gibt Menschen, beitete bei Daimler-Benz. Als Kind habe
der Regierung nicht mehr passt, werden die meinen, der Bommel schütze sie vor er Prospekte für die CDU ausgetragen. Er
die Daten gelöscht, man existiert quasi Strahlung oder Gedankenkontrolle durch ging in Worms auf das Gauß-Gymnasium,
nicht mehr.« finstere Mächte. Für Schiffmann ist er ein habe im Schülerrat gesessen.
Hinweis, dass »man mitdenkt und nicht »Ich habe mich nie davor gescheut, mich
Alte Freunde haben sich von ihm abge- mitläuft«. mit anderen anzulegen«, sagt er.
wendet, dafür hat er neue gefunden. Es Anfang August steht er in Berlin-Tier- Er habe den Wehrdienst verweigert,
kämen nicht weniger Patienten als früher, garten nachmittags um halb vier neben weil ihn bei der Musterung »ein Oberstabs-
aber andere. Er sagt: »Viele wollen nach einer Bühne auf der Straße des 17. Juni. Es feldwebel behandelt hat, als wäre ich
der Behandlung ein Autogramm von mir.« ist die erste große Corona-Demo. Knapp schon sein Soldat«. Den Zivildienst leistet
Verschwörungstheorien gehen von drei 20 000 Leute haben sich laut Polizei ver- er beim Roten Kreuz in Worms. Später
Grundannahmen aus: Nichts geschieht zu- sammelt. Da sind junge Eltern mit Kinder- hat er einen Job als Rettungssanitäter an-
fällig; nichts ist, wie es scheint; alles ist wagen, Reichsbürger, Rentner, Esoteriker, genommen.
miteinander verbunden. Normalos; ein Querschnitt durch alle Weil er gesehen habe, was für Fehler
In einem Ton, als läse er eine Ge- Schichten. Niemand trägt eine Maske. manche Ärzte bei Einsätzen machen wür-
brauchsanweisung vor, trägt Schiffmann Schiffmann sagt: »Ist das nicht schön? den, habe er begonnen, Medizin zu stu-
seine Sicht auf die Welt vor. Er glaubt, der Das sind 1,3 Millionen Menschen. Das ist dieren. »Irgendwann habe ich mich so ge-
Staat bezahle Trolle, die im Internet über die kritische Masse.« Eine ältere Dame nä- ärgert, dass ich mir gesagt habe: Das
ihn herziehen. Er befürchtet, in Deutsch- hert sich, gibt ihm die Hand und sagt, sie kannst du besser.«
land würden Betriebe erst verstaatlicht schließe ihn in ihre Gebete ein. Während des Studiums spielte er Thea-
und anschließend neu privatisiert. Mittel- Am frühen Abend soll er reden, aber ter und trat als Zauberkünstler auf. 2002
ständische Unternehmen würden dann für dazu kommt es nicht. Die Polizei löst die promovierte er an der Ruprecht-Karls-Uni-
»einen Apfel und ein Ei« an andere Länder Veranstaltung auf, weil die Demonstranten versität Heidelberg.
verkauft. Er sagt, man habe erkannt, dass die Abstands- und Hygieneregeln missach- Im Februar war er im Skiurlaub in Kitz-
man vielleicht die Gelegenheit nutzen soll- ten. »Wir bleiben hier!«, rufen die Men- bühel. Eine Mitarbeiterin aus der Praxis
te, »in Anlehnung an das Event 201« die schen. Schiffmann hockt sich im Schneider- schickte ihm über WhatsApp ein Video.
Wirtschaft zu sanieren. sitz auf einen Lautsprecher. Auch auf den Es zeigt Chinesen, die angeblich in Wuhan
NZZ
vor der Bühne. Ständig kommen Leute,
die ein Selfie mit ihm machen wollen. Man Demonstranten in Hongkong
sieht ihm an, dass er die Aufmerksamkeit
genießt.
Zu Beginn der Demo tritt ein Typ im SPIEGEL GESCHICHTE POLITIK & GESELLSCHAFT
Superman-Kostüm auf. Fräulein Menke, MONTAG, 7. 9., 21.45 – 22.15 UHR, SKY MITTWOCH, 9. 9., 20.15 – 21.00 UHR, 3SAT
eine Künstlerin der Neuen Deutschen Wel-
le aus den Achtzigerjahren, singt »Die Ge- Hongkong und Taiwan – Wir 80 Millionen – Was
danken sind frei«. Es ist wie im Karneval. Kampf um Demokratie Deutschland vereint
Dann ist Schiffmann dran. Er hat keine Seit Mai 2019 erschüttern Demons- Was hält Deutschland im Innersten
Rede vorbereitet. Weil am Rand ein paar trationen und Unruhen die einst zusammen? Dieser Frage geht die
Dutzend Gegendemonstranten stehen und so stabile Weltstadt Hongkong. Vor Dokumentation zum 30. Jahrestag
in Trillerpfeifen blasen, fordert er »den allem junge Hongkonger verlangen der Wiedervereinigung Deutschlands
Sprecher der Antifa« auf, zu ihm auf die mehr demokratische Rechte. Die gemeinsam mit der Bertelsmann
Bühne zu kommen. »Ihr habt hier die wohl liberalste Gesellschaftsordnung Stiftung nach – eine Suche nach
Möglichkeit, auf einer Querdenken-Demo in ganz Asien genießen die Bürger dem gemeinsamen Nenner, auf den
mit mir zu sprechen.« Niemand will. Taiwans. In den Augen Pekings ist sich Westdeutsche, Ostdeutsche
Schiffmann warnt vor einem zweiten Taiwan allerdings nur eine abtrünni- und Menschen mit Migrationshinter-
Lockdown, lobt den schwedischen Weg. ge Provinz, die notfalls auch unter grund einigen können.
Maximal 20 Minuten sollte er reden, nach Waffengewalt mit dem Festland wie-
acht Minuten ist er fertig. dervereinigt werden muss.
Fünf Tage darauf tritt er als Vorsitzen-
der seiner Partei zurück. Er habe zu viele SPIEGEL TV WISSEN
Termine, reise künftig auch zu Demons- FREITAG, 11. 9., 21.50 – 22.45 UHR, SKY
trationen und Filmaufnahmen ins Ausland. SPIEGEL TV und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern
Doch WIR2020 werde weiterwachsen, am MONTAG, 7. 9., 23.25 – 0.00 UHR, RTL
3. Oktober sei ein Parteitag geplant. Baywatch Bondi Beach
Bei dem Gespräch in seiner Praxis sagt Rechts ganz weit offen Die Rettungsschwimmer an Austra-
Schiffmann, man wolle in Regierungsstärke Die Verbindungen zwischen Quer- liens beliebtestem Strand sind
in den Bundestag einziehen. »Wir haben denkern und Ultrarechten selbst schon bekannte TV-Stars. Seit
eine große Wählerschaft, die von den Be- Jahren werden sie mit der Kamera
standsparteien enttäuscht ist. Ich glaube, wir begleitet, wenn sie Badende aus
werden einen Erdrutschsieg davontragen.« schwerer Brandung und Schwimmer
Auf der Homepage der Partei wurden vor dem Ertrinken retten. Bei ihren
bis diesen Dienstag die Mitgliedsanträge spektakulären Einsätzen geht es oft
gezählt. Es waren knapp 10 000. um Leben und Tod.
SPIEGEL TV
Maik Großekathöfer
Anmerkung: Die Bill & Melinda Gates »Volkslehrer« Nikolai Nerling auf
Foundation unterstützt das SPIEGEL-Pro- Querdenkerdemonstration
jekt »Globale Gesellschaft« über drei Jahre
mit einer Gesamtsumme von rund 2,3 Mil- Mit dem Rücken an der
lionen Euro. Unter dem Titel »Globale Ge- Wand
sellschaft« berichten Reporterinnen und Selbstständige in der Corona-Falle
Reporter online aus Asien, Afrika, Latein-
amerika und Europa. Die Stiftung hat kei- Der Vergewaltiger, der Zeuge,
TCB
37
Deutschland
38
schaftlers schmuggelte zwei Ampullen
1997 nach Schweden, wo sie in einem Mili-
tärlabor analysiert wurden. Das Ergebnis:
Nowitschok.
Stolz teilte der BND sein Wissen mit
wichtigen Nato-Partnern, darunter Groß-
britannien und die USA, wo es aber bereits
eigene Erkenntnisse über das Gift gab. Die
Analysen halfen britischen Spezialisten
schon im Fall Skripal, den Nowitschok-
Nachweis zu führen, auch wenn damals
eine andere Variante am Türgriff klebte.
Neben den nach Schweden geschmug-
gelten Proben kamen nach dem Ende der
Sowjetunion weitere Dosen des Nerven-
kampfstoffs unkontrolliert auf den Markt.
Die Quelle war mindestens ein frustrierter
Mitarbeiter eines Geheimlabors in der
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macht. Aber die Entwicklung bei der ers-
ten Corona-Welle war für die europäische
Einheit ein Desaster. Um künftig Chaos
zu verhindern, schlage ich vor, die Schen-
gen-Regeln zu überarbeiten. Wenn Gren-
zen im Notfall geschlossen werden, was
etwa auch im Kampf gegen Terroristen
möglich sein muss, sollten Menschen, die
einen systemrelevanten Beruf haben, wei-
ter reisen können: Ärzte, Krankenschwes-
tern, Pflegepersonal, Polizisten. So könn-
ten wir zeigen, dass Europa die Lektion
aus dem Frühjahr gelernt hat.
SPIEGEL: Einen ähnlichen Beweis muss
Europa in der Flüchtlingspolitik antreten.
Von der Leyen hat ihr oft angekündigtes
Konzept einer neuen Asyl- und Migra-
tionspolitik mehrfach verschoben, nun will
sie es offenbar in den nächsten Wochen
präsentieren. Warum tut sich die EU so
schwer damit?
Weber: Die Wunden, die die Flüchtlings-
krise 2015 und die Zeit danach gebracht
haben, sind längst nicht verheilt – nicht in
der deutschen Innenpolitik, auch nicht in
Europa. Auf der anderen Seite haben wir
über das Thema nun fünf Jahre lang dis-
kutiert. Jetzt haben die deutsche Ratsprä-
sidentschaft und Bundesinnenminister
Horst Seehofer die Chance, den Knoten
durchzuschlagen.
SPIEGEL: Im vergangenen Jahr ist die Zahl
der Asylbewerber in der EU erstmals seit
der Flüchtlingskrise wieder gestiegen.
Trotzdem fehlt in Brüssel jedes Gefühl von
Dringlichkeit. Wie erklären Sie sich das?
Justin Jin / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Ihre Idee ist also: Je mehr Mi- Europa, wo Deutschland steht – an der dass das Einstimmigkeitsprinzip in der
granten an den Außengrenzen damit schei- Seite Griechenlands. Der Außenminister Außenpolitik fällt und mit Mehrheit ent-
tern, nach Europa zu kommen, desto ein- muss achtgeben, dass er sich wegen der schieden wird. Die Stimme Europas ist in
facher lässt sich die Verteilung der übrigen Furcht vor einer neuen Flüchtlingskrise der Welt heute gefragter denn je.
Flüchtlinge innerhalb der EU organisieren. nicht erpressen lässt. Stattdessen sollten SPIEGEL: Die Gemeinschaft hat allerdings
Weber: Es geht um einen Ausgleich zwi- wir über Wirtschaftssanktionen reden, auch mit Autokraten in den eigenen Rei-
schen der Durchsetzung des Rechts und darüber, das Zollabkommen mit Ankara hen zu kämpfen. Wie kann die EU gegen
der notwendigen Hilfe. Beides ist enorm auszusetzen und mehr, um auf die Atta- die Türkei oder Russland stark auftreten,
wichtig. Wir können nicht jemanden, der cken Erdoğans zu reagieren. wenn sie zuschaut, wie Ungarns Premier
ein besseres Leben in Europa sucht, ge- SPIEGEL: Nicht nur die Flüchtlingsdebatte, Viktor Orbán die Demokratie aushöhlt?
nauso behandeln wie jemanden, der vor sondern auch der Umgang mit Russland Weber: Viktor Orbán ist ein schwieriger
dem syrischen Diktator Baschar al-Assad zeigt, dass die EU außenpolitisch nicht Partner. Der Testfall ist nun die Debatte
flieht. Gleichzeitig darf Europa seine Seele effektiv auftreten kann, wenn sie ihre Mei- über den Rechtsstaatsmechanismus. Orbán
nicht verlieren. Wer politisch verfolgt ist, nungsverschiedenheiten im Inneren nicht bekennt sich ja – in Worten – regelmäßig
bekommt Asyl. Bürgerkriegsflüchtlingen löst. Wie sehr muss Russlands Präsident Wla- zum Rechtsstaat. Dann muss er jetzt auch
helfen wir auf Grundlage der Genfer Kon- dimir Putin neue Sanktionen etwa wegen aushalten, dass die EU die Lage in Ungarn
vention. All das gilt weiterhin: Im ver- der Vergiftung von Oppositionsführer Ale- künftig einer unabhängigen Bewertung
gangenen Jahr fielen in der EU mehr xej Nawalny fürchten, wenn Deutschland unterzieht und notfalls Gelder streicht.
als 830 000 Asylentscheidungen, knapp die umstrittene Pipeline Nord Stream 2 um SPIEGEL: Der Beschluss der Staats- und
300 000 Menschen erhielten Schutz. Ich jeden Preis weiterbauen will? Regierungschefs vom Juli legt die Hürden
glaube, dass wir in Europa sogar mehr Weber: Das starre Festhalten Deutsch- dafür allerdings extrem hoch. Um Rechts-
Menschen aufnehmen könnten. Aber erst lands an Nord Stream 2 sorgt in Europa staatssündern Gelder zu kürzen, braucht
muss klar sein, wer kommen darf. seit Jahren für Frust. Das muss man auch es eine deutliche Mehrheit. Ist dieser Vor-
SPIEGEL: Bisher scheitert jede Annähe- in Berlin begreifen. Eine neue schwer- schlag akzeptabel?
rung am Widerstand etwa Ungarns, im wiegende Entwicklung ist die Vergiftung Weber: Nein. Wir wollen einen Rechts-
Notfall eine bestimmte Zahl von Asyl- von Alexej Nawalny. Und wenn Putin in staatsmechanismus, der wirkt. Länder, die
bewerbern aufzunehmen. Kann es eine Belarus tatsächlich eingreifen sollte, muss Geld von der EU wollen, benötigen unab-
Vereinbarung ohne Quote für alle geben? Europa reagieren. Natürlich gehört zu hängige Medien und unabhängige Richter.
Weber: Eine verbindliche Quote ist lang- möglichen Sanktionen die härteste: ein Wir geben als Reaktion auf die Corona-
fristig richtig, aber sie ist derzeit nicht partieller Einkaufsstopp bei Rohstoffen. krise so viel Geld aus wie nie zuvor. Dann
durchsetzbar. Es fällt mir schwer zu akzep- Das Ende von Nord Stream 2 darf nicht sind wir es den Bürgern schuldig, penibel
tieren, dass es in der EU Staaten gibt, die mehr ausgeschlossen sein. zu kontrollieren, wo das Geld hingeht.
so tun, als ginge sie das Flüchtlingsthema SPIEGEL: Frau von der Leyen betont, dass SPIEGEL: Orbán könnte sich rächen, in-
nichts an. Dennoch finde ich, wir sollten sie eine geopolitische Kommission führe … dem er den Wiederaufbauplan, mit dem
erst mal mit dem Machbaren beginnen. Weber: … doch leider ist Europa oftmals Corona-Schäden behoben werden sollen,
SPIEGEL: Das ungelöste Flüchtlingspro- nicht mal in der Lage, die Krisen in seiner torpediert.
blem ist die Achillesferse, wenn die EU unmittelbaren Nachbarschaft anzupacken. Weber: Genau vor dieser Drohung sind
ihre Interessen gegenüber dem türkischen Diejenigen, die für Demokratie und Frei- manche im Juli leider eingeknickt und
Präsidenten Erdoğan durchsetzen will. Die heit eintreten, in Belarus oder auch in haben das Prinzip des Rechtsstaats hintan-
Türkei beherbergt mehr als drei Millionen Hongkong, dürfen keine Zweifel haben, gestellt. Das müssen wir im Europaparla-
Flüchtlinge aus Syrien und will mehr Geld dass Europa auf ihrer Seite steht. Leider ment korrigieren. Wir geben für den Mehr-
für deren Versorgung. Brauchen wir einen scheint das manchmal nicht der Fall zu jahreshaushalt nur dann grünes Licht,
neuen Türkei-Deal? sein. Ursula von der Leyen will die geo- wenn die Gesetzgebung zum Rechtsstaat
Weber: Das Türkei-Abkommen ist im politische Kommission, und das ist richtig. zufriedenstellend ist – kein Recht, kein
Grundsatz gut und hat funktioniert. Damit Aber dann muss sie schnell dafür sorgen, Geld. Interview: Peter Müller
unterstützt Europa beispielsweise, dass
syrische Kinder von qualifizierten Lehrern
ausgebildet werden und nicht von Islamis-
ten. Wenn der Bedarf da ist, sollte Europa Zufluchtsort Europa
bereit sein, mehr Geld zu geben. Das Pro- Auf den Hauptrouten von Januar bis August 2020 angekommene Migranten, Veränderung
blem ist nur, dass die Türkei uns dies der- gegenüber dem Vorjahreszeitraum
zeit nicht gerade einfach macht.
SPIEGEL: Sie spielen auf die Lage im öst-
lichen Mittelmeer an, wo im Streit um Erd- Italien
gasvorkommen sogar die Kriegsgefahr
wächst und Deutschland vor einem Di-
Spanien 19 021 Griechenland
43
Deutschland
A
n einem Sommertag im August der Rechtsstaat im Umgang mit angebli- Auffällig ist, mit wem Hajib damals aus-
sitzt Mohamed Hajib, 39 Jahre chen Gefährdern an seine Grenzen gerät. reiste: Josef D. aus Dortmund. Der Isla-
alt, im Schatten eines alten Spei- Mohamed Hajib kam 2000 mit einem mist wurde später in Düsseldorf wegen
chers im Duisburger Innenhafen. Studentenvisum nach Deutschland. Erst Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe im
Während Familien über die Uferpromena- nach Köln, dann zog er nach Duisburg, um Umfeld der Taliban zu zweieinhalb Jahren
de flanieren, erzählt Hajib von den dun- Wirtschaftsingenieurwesen zu studieren. Haft verurteilt. Er sei ins afghanisch-
kelsten Momenten in seinem Leben. 2008 erhielt er den deutschen Pass. pakistanische Grenzgebiet gereist, so die
Seine Peiniger hätten seine Augen ver- Als Student begann er, sich für Tablighi Richter, um sich dem bewaffneten Kampf
bunden und ihn ans Bett gefesselt, sagt Jamaat zu interessieren, eine sunnitische anzuschließen. Wollte Mohamed Hajib
Hajib. Sie hätten auf seine Fußsohlen Missionierungsbewegung, die regelmäßig wie D. in den Krieg ziehen?
geschlagen und ihm den Rücken verbrannt. in Verfassungsschutzberichten auftaucht, Die Behörden hielten das für möglich.
»Ich schlafe nachts nur selten, weil ich weil sie als islamistisch gilt. Das Bundesamt für Verfassungsschutz ließ
Angst habe zu träumen, ich bin im Gefäng- Die Sicherheitsbehörden nahmen ihn Hajib am 12. September 2009 im polizei-
nis, die schlagen mich, die wollen mich bald in den Blick, wie ein Schreiben des lichen Informationssystem des Schengen-
vergewaltigen. Die wollen mich töten.« nordrhein-westfälischen Landeskriminal- raums zur verdeckten Fahndung ausschrei-
Auf einem Tablet zeigt er Fotos, die amts zeigt. Hajib und ein Bekannter hätten ben. Es sah in ihm eine »erhebliche Gefahr
nach seinen Angaben im marokkanischen 2005 versucht, Jugendliche zu bekehren, für die innere und äußere Sicherheit der
Gefängnis entstanden sind. Zu sehen ist dabei »Kaftan und Turban« getragen und Bundesrepublik Deutschland«.
sein Rücken, übersät mit großen Flecken. »wild gestikuliert«. Zudem habe Hajib ei- Hajib sagt heute, er sei nie eine Gefahr
Ein Gutachter des Instituts für Rechts- ner Moschee mit »salafistischer Prägung« gewesen, er habe Gewalt immer abgelehnt.
medizin in Düsseldorf diagnostizierte »re- vorgestanden, wo eine fundamentalisti- Er verweist auf ein Urteil des Bundesver-
lativ scharfrandig begrenzte, teils bügel- sche Lesart des Islam verbreitet wurde. waltungsgerichts, wonach Tablighi Jamaat
eisenartige, teils eher stabartige Narben«. Im Juni 2009 brach Hajib nach Pakistan »nicht darauf ausgerichtet sei, terroristi-
Hajib saß sieben Jahre lang in marok- auf. Er behauptet, er habe sich auf eine sche Aktivitäten zu unterstützen«.
kanischer Haft, als verurteilter Terrorist. Pilgerreise mit Tablighi Jamaat nach La- Mit Josef D. sei er eine Weile gereist, in
Er bestreitet die Vorwürfe und beschuldigt hore begeben. Die Route über die Türkei Iran hätten sie sich getrennt. In Pakistan
deutsche Sicherheitsbehörden, sie hätten und Iran war aber auch unter kampfberei- sei er »von Dorf zu Dorf« gezogen, um
ihn 2010 dazu gedrängt, nach Marokko ten Islamisten beliebt. Etliche reisten aus nach Lahore zu kommen. Damals sei sein
zu fliegen. Dort sei er von Beamten mit- Deutschland an den Hindukusch, um sich ältester Sohn krank geworden, weshalb er
genommen und gefoltert worden. in Terrorlagern ausbilden zu lassen. Einige die Pilgerreise abgebrochen habe. Auf dem
Vor drei Jahren wurde Mohamed Hajib kehrten mit Anschlagsplänen zurück. Rückweg sei er ohne Visum erwischt wor-
aus dem Gefängnis entlassen. Anschlie- den und im Gefängnis gelandet. Die deut-
ßend hat er eine Klage gegen die Bundes- sche Polizei spricht von »gefälschten pa-
republik Deutschland angestrengt und Die deutsche Botschaft kistanischen Ausweispapieren«.
fordert mindestens 1,5 Millionen Euro in Pakistan sprach Der pakistanische Geheimdienst und
Schadensersatz. Er sagt: »Die deutschen deutsche Beamte befragten Hajib in der
Behörden haben mein Leben zerstört.« intern von einem »poli- Untersuchungshaft. Auch der Bundesnach-
Hunderte Seiten interner Behörden- tisch brisanten Fall«. richtendienst war bei einem Gespräch da-
dokumente und Justizunterlagen, die der bei. Die deutsche Botschaft in Islamabad
SPIEGEL und das ARD-Magazin »Report sprach in einer E-Mail von einem »poli-
Mainz« auswerten konnten, liefern Einbli- tisch brisanten Fall«.
cke in den Fall. Demnach hielten die deut- Nach vier Monaten Haft wurde Hajib
schen Behörden Hajib für einen Islamisten, ohne Verurteilung nach Deutschland
der Terroranschläge verüben könnte. Die abgeschoben. Obwohl es kein Ermittlungs-
Polizei wollte ihn loswerden und leitete verfahren gegen ihn gab, hielten ihn die
nach seinem Abflug Informationen an die deutschen Behörden weiterhin für einen
marokkanischen Behörden weiter. islamistischen Gefährder, dessen »Einreise
Durfte sie das? Berichte über Folter in in die Bundesrepublik Deutschland der Be-
marokkanischen Gefängnissen waren da- gehung terroristischer Anschläge bzw. de-
mals bekannt. Zudem wurde gegen Hajib ren Vorbereitung diene«, wie es in einem
in Deutschland laut Unterlagen nicht we- Vermerk des LKA Hessen heißt.
gen terroristischer Aktivitäten ermittelt. Als Hajib am 17. Februar 2010 in Frankfurt
Seine Schuld wurde vor keinem deutschen am Main landete, empfing ihn die Staats-
Gericht bewiesen. macht mit großem Aufgebot. Der Vermerk
privat
Die Sicherheitsbehörden bestreiten Feh- listet 25 Beamte von Bund und Ländern auf,
ler im Umgang mit Hajib, alles sei recht- Gefangener Hajib 2016 die im Einsatz waren. Nach der Passkontrolle
mäßig gelaufen. Doch der Fall zeigt, wie »Bügeleisenartige Narben« wurde Hajib in einen »gesonderten Raum«
44
Um 15.53 Uhr kaufte Hajib jedenfalls
ein Ticket für den Flug LH 4116 nach Ca-
sablanca. Die ganze Zeit über blieben laut
Vermerk zwei Beamte bei ihm. Noch am
selben Tag, so steht es in den Akten, »wur-
den die marokkanischen Behörden über
die Rückreise des Antragstellers von Pa-
kistan nach Deutschland und dessen frei-
willige Weiterreise nach Marokko durch
das Bundeskriminalamt informiert«.
Dem BKA unter der Aufsicht des dama-
ligen Bundesinnenministers Thomas de
Maizière (CDU) dürften die Berichte von
Menschenrechtsorganisationen über Fol-
ter in marokkanischen Gefängnissen be-
kannt gewesen sein. Die Behörde muss, so
hat es das Bundesverfassungsgericht in-
zwischen klargestellt, bei der Übermitt-
lung von Daten ins Ausland prüfen, dass
diese nicht zu Folter führen.
In den Akten heißt es, das BKA habe
den marokkanischen Behörden erklärt,
dass sich Hajib nach deutschem Recht
»nicht strafbar« gemacht habe. Welche
konkreten Informationen die Behörde lie-
ferte, blieb offen. Warnte das BKA die
Marokkaner vor einem möglichen Terro-
risten und verantwortete damit zumindest
indirekt die Festnahme samt Folter?
Das Innenministerium widerspricht:
Hajib sei nicht aufgrund der ȟbermittel-
ten Informationen« verhaftet worden.
Das Risiko menschenrechtswidriger Be-
handlung sei in seinem Fall abgewogen
worden. Dabei habe man auch berücksich-
tigt, dass Hajib freiwillig nach Marokko
gereist sei.
Ob dies nun stimmt oder nicht – die
Weiterreise sollte für Mohamed Hajib
Marcus Simaitis / Der Spiegel
46
Deutschland
kommen, Sachsen-Anhalt steht im Ver- chen worden war. Die Landes-CDU legte
Jens Jeske
Konkurrenten Chebli, Müller: Weg mit der alten Ordnung
M
ichael Müller geht durch tagskandidatur – und danach, welches Mi- Rathaus räumen will, ein Posten, der ein-
die Flure im Rathaus Charlot- nisteramt er in der Bundesregierung gern mal ein Sprungbrett ins Kanzleramt (Willy
tenburg. Mitarbeiter, Senats- übernehmen würde: »Natürlich Wissen- Brandt) oder ins Bundespräsidialamt
kollegen und Journalisten schafts- oder Bauminister!«, antwortete (Richard von Weizsäcker) war. Müller ist
folgen ihm. An den Wänden hängen Müller. Die beiden Ressorts hat er als Se- schon froh, wenn er überhaupt den Sprung
schwarz-weiße Porträtfotos in goldenen nator zu schätzen gelernt. Als seine Ant- ins Parlament schafft.
Rahmen. Erst eine Reihe mit Bundesprä- wort aber gedruckt war und sogar eine In seinem Heimatbezirk Tempelhof-
sidentenköpfen, dann eine Wand mit Ber- Schlagzeile daraus wurde, dachten viele, Schöneberg hat Juso-Chef Kevin Kühnert
liner Gesichtern. »Haben Sie noch Platz Müller wäre größenwahnsinnig geworden. dem Parteifreund gezeigt, wie man es
für einen Regierenden Bürgermeister?«, Da half es auch nichts, dass in Klammern macht, und früh seine Kandidatur ange-
ruft Müller. Leises, unentschlossenes La- »lacht« danebenstand. Von Minister- meldet. Als Müller daraufhin nach Char-
chen im Tross. Mit Michael Müller und ämtern ist der SPD-Mann jedenfalls weit lottenburg-Wilmersdorf auswich, erklärte
den Witzen ist das so eine Sache. Man entfernt. seine Staatssekretärin Sawsan Chebli, dort
weiß nie, ob er etwas lustig oder ernst Müller hat lange gezögert, ehe er seine gegen ihn anzutreten. In der Bundestags-
meint. Kandidatur für den Bundestag bekannt fraktion herrscht nur noch Unverständnis
Neulich fragte ihn die »Bild am Sonn- gab. Im Sommer kokettierte er noch mit über die Berliner Posse. Was ist schief-
tag« nach seinen Plänen für eine Bundes- der Frage, ob er im nächsten Jahr das Rote gelaufen?
Im Charlottenburger Rathaus isst Mül- Leute mit einem ordentlichen Beruf!« Mül- vorsitzenden. Müller klang schon vor der
ler schnell einen Happen am Stehtisch. In ler kultiviert das Image des ehrlichen Ar- Abstimmung gekränkt: »Ich bin gerne
seinen Jacketttaschen sammeln sich beiters, dem es nicht um die in der Politik euer Vorsitzender, aber ich muss es nicht
Stoffmasken mit verschiedenen Logos übliche Show und Inszenierung geht, son- sein. Wenn ihr glaubt, dass ich das Pro-
und Farben. An ihnen kann er ablesen, dern um die Sache. blem bin, dann sagt es.« Sein Abstieg be-
wo er in den vergangenen Tagen so war: Müller, der selbstständige Buchdrucker schleunigte sich. Ende 2019 beschloss er,
im Jüdischen Museum, auf Neubautour ohne Abitur, bewies früh einen preußi- den Parteivorsitz niederzulegen. Damit
mit den landeseigenen Wohnungsbau- schen Arbeitsethos. Als er Regierender war klar, dass er nicht noch einmal als Bür-
gesellschaften, im Charlottenburger Rat- Bürgermeister von Berlin wurde, galt er germeister antreten würde.
haus. als Anti-Wowereit. Er ist staubtrocken, da- Heute muss er sich mit Kevin Kühnert
Neben ihm am Tisch steht der Bezirks- für wurde er regelrecht gefeiert. Bei seiner oder Sawsan Chebli, diesen frechen jun-
bürgermeister Reinhard Naumann, der Kandidatur damals hatte er keine Visio- gen Leuten, um Tempelhof-Schöneberg
Müllers Kandidatur in Charlottenburg- nen im Angebot, sondern eine »Politik oder Charlottenburg-Wilmersdorf strei-
Wilmersdorf unterstützt. Auch einige von der kleinen Schritte«. Er versprach, »die ten. Offen ist auch, ob er einen aussichts-
Müllers Vertrauten in der Senatskanzlei Stadt jeden Tag ein bisschen besser« zu reichen Listenplatz bekommt, sollte er
sitzen hier im Kreisverband. Sie gingen da- machen. nicht als Direktkandidat in den Bundestag
von aus, dass die Autorität eines Regieren- Anfangs gelang das. Er baute Schulden gewählt werden. Das Direktmandat in
den Bürgermeisters und SPD-Landesvor- ab und investierte zugleich in die Verwal- Charlottenburg-Wilmersdorf holte zuletzt
sitzenden ausreicht, um die Kandidatur tung. Berlins Wirtschaft wuchs weiter. ein Christdemokrat.
für sich zu beanspruchen. Doch es kam auch die Flüchtlingskrise, In der »Bild am Sonntag« antwortete
Doch die selbstbewusste Chebli küm- und Müller wurde plötzlich für jedes feh- Müller auf die Frage, ob er den Listenplatz
merte sich nicht um die alte Ordnung und lende Dixi-Klo in einer Notunterkunft eins der Berliner Landesliste beanspru-
alte Verdienste. Hätte Müller seine Staats- verantwortlich gemacht. Die berühmte chen oder Kevin Kühnert den Vortritt las-
sekretärin nicht anders einbinden kön- Schlange vorm Lageso, dem Landesamt sen werde: »Ein Ministerpräsident, der
nen? Müller zieht sich auf den formalen für Gesundheit und Soziales, wurde sein ohne Skandal mit einer erfolgreichen Bi-
Standpunkt zurück, sie habe ihm vor sei- persönliches Problem, weil er die Dinge lanz aus dem Amt geht, wird nicht auf ei-
nem Entschluss nicht gesagt, dass sie hier laufen ließ, statt die Verantwortung an sich nem hinteren Listenplatz kandidieren.
ebenfalls antreten wolle. Als Landesvor- zu ziehen. Das wäre bundesweit einmalig und wird
sitzender hätte er das ahnen können. Je- Müllers Mitarbeiter haben es nicht im- insofern nicht stattfinden.«
denfalls verstehen Müllers Vertraute ge- mer leicht mit ihrem Chef. Er könne Es könnte sein, dass Müller seine Posi-
rade die Welt nicht mehr. Sie empfinden schlecht gelaunt sein, wird erzählt, aber tion wieder einmal falsch einschätzt. Ne-
Cheblis Kandidatur als einen Angriff auf im nächsten Moment, wenn die Kameras ben Kühnert braucht auch der amtierende
den Chef. laufen, souveräne Statements abgeben. SPD-Bundestagsabgeordnete Klaus Min-
Andererseits ist Müller alles andere als Während sein Ansehen litt, verfestigte sich drup einen sicheren Listenplatz. Er hat
ein großer Kommunikator. Er sucht selten das Image des Griesgrams. »Kritik an mir viele Unterstützer in Berlin.
das direkte Gespräch, geht nicht auf die ist willkommen«, sagte er bei einer Lan- Selbst wenn Müller Mindrup bei der
Genossen zu. Auch weil seine Berater ihn desparteitagsrede im Jahr 2017 – und fügte Listenaufstellung hinter sich lassen sollte,
abschotten. So schildern es Fraktionsmit- selbstironisch hinzu. »Lasst euch von mei- wäre sein Einzug in den Bundestag keines-
glieder im Abgeordnetenhaus. nem Gesicht und den Mundwinkeln nicht wegs sicher. Die Zustimmungswerte der
Müller soll schon vor langer Zeit gesagt abschrecken. Ich sehe immer so aus, wird SPD liegen unter dem Ergebnis der ver-
haben, dass er sich als Parlamentarier am auch nicht besser!« gangenen Bundestagswahl. Wenn sich
wohlsten gefühlt habe. Im Berliner Abge- Ein Jahr später wählten ihn nur noch Kühnert durchsetzt und Listenplatz eins
ordnetenhaus traf er damals mutige Ent- 65 Prozent der Delegierten zum Landes- bekommt, geht der zweite an eine Frau.
scheidungen, kämpfte zum Beispiel gegen Und Müller auf Platz drei könnte leer aus-
die Teilprivatisierung der Wasserbetriebe. gehen.
Jetzt will er wieder in die Rolle des emsi- Am Mittwoch dieser Woche sitzt der
gen Abgeordneten schlüpfen, nur eine Regierende Bürgermeister auf der Ecke
Nummer größer, im Bundestag. Doch in einer schwarzen Ledercouch in seinem
der Bundestagsfraktion der SPD wartet Amtszimmer im Roten Rathaus und ver-
niemand auf ihn. Er selbst hat wenig getan, sucht zu erklären, was sich da gerade ver-
dass sich das noch ändert. ändert. »Es war schon immer so, dass
Müller ist kein Strippenzieher, er ist ein neue Leute dazukommen, die versuchen,
Sachpolitiker. Und als solcher machte er ihren Platz in der Partei einzunehmen.«
eine glücklichere Figur. Als Senator für Aber die jetzige Generation trete anders
Stadtentwicklung hat er die landeseigenen auf, gehe anders mit Medien um, gerade
Wohnungsbaugesellschaften mit großem in einem jungen Landesverband wie
Martin Lengemann / Welt / Ullstein Bild
Einsatz zum Umdenken gebracht. Durch Berlin, mit Zuzug aus dem ganzen Bun-
einen Vertrag band er sie daran, mehr und desgebiet. »Wenn ich an meine Anfänge
nach sozialen Kriterien zu bauen. Inzwi- in der Politik mit Mitte zwanzig zurück-
schen wird in Berlin so viel gebaut wie seit denke, haben wir damals nicht so mit den
etwa 20 Jahren nicht mehr. Medien gespielt und sie so professionell
Bei einer Besichtigung dieser Neubau- eingesetzt.«
ten schauten neulich zwei Bauarbeiter Ganz resigniert hat Müller indes noch
vom Dach des Hauses über ihre nackten nicht. Was seine Kandidatur angehe, sagt
Bäuche nach unten auf Müller und die er, sei er weiter optimistisch.
anderen Herrschaften in feiner Kleidung. Juso-Chef Kühnert Lydia Rosenfelder
Müller guckte zurück und sagte: »Das sind Diese frechen jungen Leute
49
Deutschland
Überrollt vor der Schule aber oft gerade aus Angst vor Unfällen
oder Übergriffen, manche aus Gewohnheit
oder Bequemlichkeit. Etwa jeder fünfte
Unfall von Kindern zwischen 6 und 14 Jah-
Strafjustiz Etliche Eltern chauffieren ihre Kinder ren passiert morgens auf dem Weg zur
zum Unterricht. Nun steht eine Mutter vor Gericht, die dabei Schule.
mit ihrem SUV ein kleines Mädchen totfuhr. Die Fahrerin, Frau A., äußert sich im
Prozess zum ersten Mal, fast 21 Monate
nach dem Unfall. Nur direkt vor Ort hatte
50
Fragen Sie im Buchhandel
hätten laut gepiept. Sie habe versucht aus- Ulrich Chiellino, Leiter Verkehrspolitik
zuweichen, habe nach links gelenkt und
stark gebremst. Als sie das Kind auf dem
beim ADAC, spricht von einem Trug-
schluss der Eltern, ihre Kinder durch
nach der kostenlosen
Asphalt habe liegen sehen, sei sie ausge- Chauffeurdienste beschützen zu wollen. Herbstausgabe!
stiegen und zu ihm geeilt. Sie raubten den Jungen und Mädchen da-
Melek war bei Bewusstsein. Frau A. be- durch die Fähigkeit zur Selbstständigkeit.
richtet im Gericht, sie habe mit dem Mäd- Das Bewusstsein für Gefahrensituationen
chen geredet, es beruhigt. Dass sie Melek sei bei Kindern größer, wenn sie sich allein
mit Vorder- und Hinterrad überfuhr, habe auf den Weg machen.
sie nicht gemerkt. Ihre Tochter, inzwischen In den allermeisten Fällen gebe es gera-
20 Jahre alt, sagt, auch sie habe davon im de an Grundschulen übersichtliche, gut ge-
Wageninneren nichts gemerkt. Sie hätten sicherte Zebrastreifen mit Ampeln und
kein Radio gehört, sich nicht unterhalten, Schulhelfern. »Eltern trauen ihren Kin-
die Mutter sei nicht abgelenkt gewesen. dern oft zu wenig zu«, sagt Chiellino.
Auf Nachfrage des Richters erzählt Frau Laut Gutachten legte Melek 4,30 Meter
A., sie fahre viel Auto: die Kinder zur auf der verkehrsberuhigten Straße zurück,
Schule, den Mann zur Arbeit. Sie hole alle bevor Frau A. das Mädchen überfuhr. A.
auch wieder ab, fahre zum Einkaufen und soll bei einer Geschwindigkeit von sieben
zum Arzt, sie sei eine sichere Fahrerin. bis zehn Stundenkilometern eineinhalb bis
Rzymek hakt nach: Das SUV sei ja sehr zwei Sekunden Zeit gehabt haben, um zu
groß, sie selbst eher klein, ob das ein Pro- reagieren.
blem sei? »Ich kann alles einstellen«, ant- Der Vater schildert, wie er nach dem
wortet Frau A. nüchtern. Aufprall zu seinem Kind gestürzt sei.
Ein knappes Jahr nach dem tödlichen »Papa, hab keine Angst. Ein Auto hat mich
Unfall soll sie beim Ausparken ein Auto überfahren«, habe Melek zu ihm gesagt.
beschädigt haben und einfach weggefah- Er habe ihren Kopf auf seinen Schoß ge-
ren sein. »Ich kenne die Regeln«, sagt Frau
A., wieder klingt sie nüchtern. »Ich habe
nichts gemacht.« Sie warf ihm vor: »Ich
Es scheint kaum zu dem Attest zu pas- schicke sie mit dir in
sen, das ihr Verteidiger vorlegt und der
Richter vorliest. Seit dem tödlichen Unfall die Schule – du kommst
vor der Schule befinde sich Frau A. in ohne sie zurück.«
einem »psychisch instabilen Zustand«. Ihr
Verteidiger behauptet, sie würde sich
»wahnsinnig gerne entschuldigen«. legt, ihre Hand gehalten. Sie habe gesagt:
Der Anwalt von Meleks Mutter, die als »Papa, ich kann nicht atmen. Was soll ich
Nebenklägerin auftritt, wirkt davon aber
irritiert. »Meine Mandantin hätte sich
machen?« Dem Vater laufen bei der Aus-
sage die Tränen übers Gesicht.
Für Sie ausgewählt!
gewünscht, dass das früher gekommen Die Mutter war noch zum Unfallort ge-
In der aktuellen erlesen-Ausgabe finden
wäre«, sagt Oliver Maier. Sie habe sich eilt, hat erlebt, wie das Mädchen kollabier-
nicht getraut, entgegnet Frau A.s Vertei- te. Im Krankenhaus habe man ihnen ge- Sie jede Menge Buchtipps – von
diger. Und Meleks Vater bittet darum, sagt, dass ihre Tochter tot sei. bewegenden Familiengeschichten über
dass sie Meleks kleinem Bruder erklären Wie es ihr heute gehe, will Richter historische Schmöker bis zu knallharten
solle, was passiert sei. Der Junge leidet seit Rzymek von Meleks Mutter wissen. Sie
dem Tod der Schwester wie sein Vater antwortet, dass sie noch nicht habe trauern
Thrillern, von aktuellen Bestsellern bis zu
an einer posttraumatischen Belastungs- können. Jede Woche gehe sie zur psychia- verheißungsvollen Romandebüts.
störung. trischen Behandlung, nehme Medikamen-
Der damals Fünfjährige musste das Un- te und habe seit dem Tod der Tochter mehr Neben dem neuen Meisterwerk von
glück miterleben, wie etliche andere Zeu- als 20 Kilogramm zugenommen. Ihre Ehe
gen auch. Fast alle weinen, als sie beschrei- sei am Unfalltod des Kindes beinahe zer-
Elena Ferrante präsentieren wir Ihnen
ben, wie Melek vom Auto erfasst wurde, brochen. »Ich schicke sie zur Schule – und Ken Folletts Prequel zu seinem Welt-
wie die schweren Reifen über ihren Brust- sie kommt nicht wieder«, sagt die Mutter bestseller „Die Säulen der Erde“ sowie die
korb und ihren Kopf rollten. »Das war das unter Tränen. Dem Vater warf sie vor: druckfrischen Romane von Jo Nesbø,
Schlimmste, was wir je in unserem Leben »Ich schicke sie mit dir zur Schule – du
gesehen haben«, sagt eine Frau. kommst ohne sie zurück.« Monatelang
Val McDermid, Zsuzsa Bánk, Frank
Eine andere Frau erzählt, wie voll es habe der Vater nicht über Meleks Tod spre- Goldammer, Kristof Magnusson u.v.a.
vor der Schule gewesen sei. »Mit all den chen können.
Eltern, die ihre Kinder am liebsten bis in Am kommenden Montag soll das Urteil Auf buchaktuell.de gibt es vielfältige
die Klasse fahren wollen und dann da par- ergehen. Vor dem Amtsgericht parkt am Buchtipps, alle SPIEGEL-Bestsellerlisten
ken, wo man gar nicht parken darf.« Aus ersten Verhandlungstag der Mercedes sowie attraktive Online-Gewinnspiele!
Sicht der Unfallstatistik ist eine Mitfahrt ML 320, der Melek überrollte. Ob sie den
im Auto ein größeres Risiko für Kinder als Wagen weiter fahre, fragt der Staatsanwalt
die Fahrt mit Fahrrad oder Bus. Im elter- Frau A. Sie antwortet: »Ich brauche das
lichen Auto verunglücken jährlich mehr Auto – wegen der Kinder.« Julia Jüttner
Kinder als auf dem Fußweg zur Schule Mail: julia.juettner@spiegel.de
oder zum Sport.
S
o einen wie Yassine, 52, gibt es französischen Akzent. Benjamin spricht bereits nach 10, 20 oder 25 Jahren liegt
eigentlich gar nicht. Rein statis- gewähltes, differenziertes Deutsch mit abermals die Frage auf der Hand, ob zu-
tisch. Ein Ossi mit Migrationshin- leicht sächsischem Ton. sammengewachsen ist, was laut dem 1992
tergrund. Ein Ausländer zu DDR- Benjamin Araibia hat an einer Studie verstorbenen Ex-Kanzler Willy Brandt
Zeiten, aber kein russischer Soldat, kein der Bertelsmann Stiftung teilgenommen. »zusammengehört«. Die Berliner For-
vietnamesischer Händler, kein kubani- Sie forscht nach dem »gesellschaftlichen schungsagentur Pollytix hat dazu 50 ein-
scher Student. Ein Algerier. Zusammenhalt im vereinten Deutschland« stündige Interviews mit Ostdeutschen und
Zwei Jahre vor dem Mauerfall kam Yas- und ist für einen 3sat-Themenabend in der Westdeutschen geführt, darunter Men-
sine Araibia nach Leipzig, als Messebauer. nächsten Woche von SPIEGEL TV unter schen mit Migrationshintergrund. Einen
Und ist geblieben. »Ich sterbe in Leipzig«, dem Titel »Wir 80 Millionen« verfilmt Großteil der Befragten hat die Agentur
sagt er, »das ist mein Wunsch.« worden*. danach in Gruppendiskussionen über ihr
Im Spätsommer 1989 lief er mit zur Benjamin ist einer der Protagonisten Deutschlandbild debattieren lassen und
Nikolaikirche, »da war viel Polizei«, aber des Films, zum Deutschsein gehören für die Erkenntnisse mit einer repräsentativen
Yassine wollte wissen, »was da los ist«. ihn »Disziplin« und »Arbeit«. Schon als Onlineumfrage unter 1581 Deutschen un-
Nach der Wende hat er sich gleich in die Zwölfjähriger half er im Lokal des Vaters. termauert.
Selbstständigkeit entlassen, elektronisches Heute arbeitet er tagsüber für eine Firma Die Resultate sind ernüchternd – wenn
Spielzeug importiert, dann Lebensmittel, aus dem Westen, am Abend kümmert er etwa 59 Prozent der Ostdeutschen der
Schuhe aus Holland, aus Thailand. Mit sich ums Aladin und um einen Pizzaliefer- Meinung sind, »wie Bürger zweiter Klasse
einem Partner aus dem Westen eröffnete dienst. Er lebt damit klassische deutsche behandelt« zu werden. In den Interviews
er eine Bäckerei und 1996 das House of Werte vor. Aber wie fragil seine Anpas- wie in der Umfrage spiegeln sich die Wahl-
Aladin, einen orientalischen Imbiss im sung ist, spürt Benjamin, wenn jemand ergebnisse der vergangenen Jahre, das Er-
Stadtzentrum. hört, dass er Arabisch spricht: »Das wird starken der AfD, die Proteste in den Städ-
Jetzt sitzt Yassine Araibia vor dem Lo- sofort hinterfragt: Woher kommst du? ten. »Es gibt 30 Jahre nach der Wieder-
kal und sagt, alles sei okay. »Ich vermisse Wer bist du?« Seine Angst sei, »dass sich vereinigung kein geeintes Deutschland«,
nichts, habe gute Kinder bekommen. Ich die Konflikte verschärfen, wenn die Rech- urteilt Pollytix-Geschäftsführerin Jana
bin Deutscher, das ist meine Heimat.« ten mehr Einfluss bekommen«. Faus nach ihrem Blick in die Seele der Stu-
Ausgestattet mit einem preußischen Ar- Am 3. Oktober feiert die Bundesrepu- dienteilnehmer.
beitsethos, ist der Algerier zweimal erfolg- blik 30 Jahre deutsche Einheit – und wie Warum ist das so, mehr als eine Gene-
reich migriert, 1988 in die DDR, 1990 in ration nach der Wende? Was ist schief-
das neue Deutschland. Die Mentalität der gelaufen? Oder erwarten wir zu viel?
Menschen in Leipzig habe sich seit der Gefühl der Abwertung Für Steffen Mau, Soziologieprofessor
Wende verändert, »Nachbarschaft und Zustimmung zu der Aussage »Ostdeutsche an der Berliner Humboldt-Universität,
Freundschaft«, so sagt er, seien nicht mehr werden wie Bürger zweiter Klasse behandelt«. ist die Schwierigkeit des Zusammen-
so intensiv. wachsens schon angelegt gewesen, bevor
Westdeutschland Ostdeutschland
Je länger der Gastronom erzählt, desto die Mauer fiel. »Die DDR war eine nach
klarer wird, dass nicht alles okay ist. Man unten nivellierte Gesellschaft mit sehr
könne hier »schön leben«, wenn man wis-
se, wie es geht. »Im Osten sollte man im-
mer im Schatten laufen, höflich sein, nicht
21 % 59 % einfachen sozialen Milieus.« Mit der
Vereinigung seien diese Leute in eine
vielfältigere Mittelschichtsgesellschaft
so viel Kontakt suchen.« Drei, vier Freun- hineingeraten. Und statt nun selbst eben-
de reichten, sagt er. Es sind Algerier. Deutsche mit Migrationshintergrund 36% falls aufzusteigen, hätten viele sich in
Manche Deutsche machten keine Un- Konkurrenz zu Migranten wiedergefun-
terschiede bei Ausländern, klagt Yassine, den. »Das hat viele Ostdeutsche irritiert«,
»alle werden in dieselbe Pfanne gehauen«. »Menschen mit Migrationshintergrund werden erklärt der in Rostock geborene Wissen-
Polizisten zum Beispiel redeten mit ihm, wie Bürger zweiter Klasse behandelt«. schaftler, weil »es keine Erfahrung mit an-
dem deutschen Staatsbürger, im Auslän- deren Kulturen, keine Fremdheitsfähig-
dersprech, fragen nach dem »Passport« Westdeutschland Ostdeutschland keit« gegeben habe.
statt nach dem Ausweis. »Da kriege ich So richtig gewandelt hat sich das bis heu-
50 % 49 %
eine Krise.« te nicht. 95 Prozent der Bevölkerung mit
Vier Kinder hat Yassine Araibia, der äl- Migrationshintergrund leben im Westen
teste Sohn sitzt neben ihm, er ist 24 Jahre und in Berlin. Dennoch glauben zwei von
alt, hat Abitur gemacht. Benjamin hat drei Ostdeutschen, dass »Migration die
Freunde im Westen, deshalb wagt er den Deutsche mit Migrationshintergrund 60% deutsche Gesellschaft stärker verändert als
Vergleich. »Im Osten sind die Menschen die Wiedervereinigung«.
Quelle: Bertelsmann Stiftung, Online-Umfrage unter 1581 Wahlberechtigten
nicht so tolerant.« Sein Vater spricht ein- (779 West- und 802 Ostdeutsche; darunter 170 Menschen mit Migrations-
faches, verkürztes Deutsch mit leichtem hintergrund) vom 5. bis 10. Juni * Am 9. September um 20.15 Uhr auf 3sat.
Dabei ist schon der Blick auf das, was Schon bald wurde den beitrittswilligen telsmann-Umfrage jeder Fünfte die Ost-
1989 geschah, in Ost und West ganz un- Ostdeutschen klar, dass sie ihr Leben nach deutschen bis heute für »weniger leistungs-
terschiedlich. Die Forscher bekamen das- den Bedingungen der Bundesrepublik zu fähig als Westdeutsche« hält. Zum anderen
selbe Ereignis aus zwei Perspektiven ge- verändern haben. Damit habe, so Mau, veränderte sich das politisch vereinte
schildert: Ostdeutsche berichten von eine »subjektiv empfundene Entmündi- Deutschland wegen der EU-Erweiterung,
der Wende, die sie selbst durch ihre fried- gung stattgefunden«. Der Eindruck, kolo- der Migration und der Globalisierung ra-
liche Revolution erkämpft hätten. West- nialisiert worden zu sein, hat sich unter sant. Es wurde in vielen Bereichen offener,
deutsche sprechen von der Wiederverei- älteren ehemaligen DDR-Bürgern bis heu- multikultureller – was traditionelle Milieus
nigung, deren finanzielle Last man getra- te nicht verflüchtigt. skeptisch beobachteten.
gen habe. Kein guter Start in das Einheitsprojekt, Die Berliner Sozialforscherin Naika
Entsprechend unzufrieden sind beide das viele in den neuen Ländern heute noch Foroutan hat voriges Jahr belegt, dass es
Gruppen – 30 Jahre danach – mit der Wür- als Abwertungserfahrung mit sich herum- zwischen Ostdeutschen und Zuwanderern,
digung ihrer historischen Rolle. 71 Prozent schleppen. insbesondere muslimischen Glaubens,
der Ostdeutschen glauben, sie verdienten Denn es wurde ja in den folgenden Jahr- deutliche Parallelen gibt. Beide fühlen sich
»mehr Anerkennung dafür, dass die zehnten nicht leichter zueinanderzufinden. in ähnlichem Maße stigmatisiert. Die Ber-
Wende friedlich verlief«. Im Westen sind Zum einen hält sich hartnäckig das Über- telsmann-Studie bestätigt nun, dass auch
55 Prozent der Meinung, sie verdienten legenheitsgefühl des Westens, wo laut Ber- Menschen mit Migrationshintergrund – da
mehr Anerkennung dafür, die Wiederver- ist sich die Hälfte der Deutschen in Ost
einigung bezahlt zu haben. und West völlig einig – »wie Bürger zwei-
Zwar nimmt, wie es in der Studie heißt, Friedliche Revolution ter Klasse« behandelt werden.
»die Relevanz dieser Narrative« über die Zustimmung zu der Aussage »Ostdeutsche Zu den 50 Interviewten gehörte auch
Generationen ab, doch selbst unter jenen, verdienen mehr Anerkennung dafür, dass die ein Deutscher mit ausländischen Wurzeln,
Wende friedlich verlief«.
die erst in den Neunzigerjahren geboren dessen Ausweis auf den Namen Moham-
wurden, hält sich der Frust über nicht Westdeutschland Ostdeutschland med ausgestellt ist. Doch diesen Namen
ausreichend empfangene Dankbarkeit. benutzt er schon lange nicht mehr. Nach
48 % 71 %
Zumal Willy Brandts Gefühl von der dem 11. September 2001, dem Anschlag
Zusammengehörigkeit die Last der Nach- auf das World Trade Center in New York,
wenderealität nicht getragen hat. Die gab er sich einen anderen. Der Name Mo-
»nationale Gemeinsamkeitsunterstellung hammed war kontaminiert, verdächtig
hat blind dafür gemacht«, meint der Deutsche mit Migrationshintergrund 48% und er plötzlich kein »vollwertiger Deut-
Soziologe Mau, »dass da sehr unter- scher« mehr. Wegen der Tat von Terroris-
Quelle: Bertelsmann Stiftung, Online-Umfrage unter 1581 Wahlberechtigten
schiedliche Gesellschaften zusammenge- (779 West- und 802 Ostdeutsche; darunter 170 Menschen mit Migrations-
ten fühlte er sich auf den Status des Aus-
kommen sind«. hintergrund) vom 5. bis 10. Juni länders zurückgeworfen. Der Mann hat
53
Gordon Welters / DER SPIEGEL
Lutz Hofmann / DER SPIEGEL
Leipziger Gastronom Araibia mit Vater, Berliner Studentin Ndukure am ehemaligen Wachturm: Deutschsein heißt »Leistung bringen«
dann aufgehört, seine Moschee zu besu- stehen – näher als ihre unmittelbaren Das Unwissen ist typisch, nicht nur in
chen. Er wollte dort nicht gesehen werden. Nachbarn wie Franzosen oder Polen. Westfamilien. Auch im Osten, das hat For-
June Ndukure, 25, hat solche Erfahrun- Gesucht wird ein Leitbild. Aber braucht scherin Faus in den Interviews gelernt,
gen nie gemacht. Ihr Vater ist Schwarzafri- es das noch, nach 30 Jahren? Ist es noch kennen viele der Jüngeren die Gescheh-
kaner, ihre Mutter stammt aus München, relevant für das Zusammenwachsen von nisse von 1989/90 nur aus dem Geschichts-
aufgewachsen ist June in Berlin, im ehema- Ost und West? Gut möglich, dass die Ein- unterricht: »Eltern, die ihren Platz in der
ligen Westteil der Stadt. Das Berliner Um- heit längst abgeschlossen ist. Dass mehr Gesellschaft fanden, haben die Wiederver-
land hat die Mutter mit ihrem dunkelhäuti- an Vereinigung gar nicht geht. einigung mit den Kindern seltener thema-
gen Kind gemieden; sie sei nur dorthin, »wo Wer der jungen Generation, den Nach- tisiert.« Wer negative Erfahrungen machte,
ich wusste, man begegnet uns offen«. wendegeborenen, zuhört, kann sich fra- habe sie tendenziell eher an die nächste
Diese Woche musste June ihre Bachelor- gen, ob es eine Einheitsfeier 2040 über- Generation weitergegeben. »Dadurch hat
arbeit abgeben, sie zieht das Wirtschafts- haupt noch geben muss. sich eine negative Erzählung verfestigt.«
studium durch, »weil es notwendig ist, um June Ndukure, zum Beispiel, lebt in Ein Teilnehmer der Studie aus Berlin
zu bekommen, was ich will«. Sie passe sich Berlin-Mitte, in einem schicken Neubau- sollte sagen, ob er in West- oder Ost-
der Leistungsgesellschaft an, wolle einen apartment unmittelbar auf dem ehemali- deutschland geboren sei. Und in welchem
Job in der Immobilienbranche. gen Todesstreifen. Wenn sie aus dem Haus Teil die Eltern sozialisiert wurden. Er
June Ndukure entspricht damit ziemlich tritt, kommt sie nach wenigen Metern an konnte es nicht beantworten.
genau dem Bild, das die Deutschen von sich einem früheren Wachturm der DDR- Vielleicht ist das Desinteresse der Nach-
haben. In einem Land, so divers, dass ein Grenzposten vorbei. Es ist die Gedenkstät- geborenen aber auch der Schlüssel zur Ein-
Viertel der Bevölkerung einen Migrations- te für Günter Litfin, den Ersten, der an der heit. Vielleicht könnte mit ihnen eine Zeit
hintergrund hat, dass Männer Männer hei- Mauer erschossen wurde. anbrechen, in der die Menschen nicht
raten und Kinder adoptieren können, ein Die Studentin hat über die Bedeutung mehr sortieren nach Ost und West. In der
Land, so heterogen und bunt wie nie zuvor, des Ortes lange nichts gewusst. »Heute ein Satz, den eine Interviewte aus dem
in diesem Land also kreist der gemeinsame ist es friedlich, voll die Wohngegend«, Westen äußerte – »Ich schäme mich nicht,
Nenner um Begriffe wie Fleiß, Leistung und sagt June. Sie findet es selbst seltsam, einen Freund aus dem Osten zu haben« –,
wirtschaftlicher Erfolg. Der Aussage, »als »ein irres Gefühl, dass du keine Be- nicht mehr gesagt und auch nicht mehr ge-
Deutscher muss man etwas leisten«, stim- ziehung dazu hast«. Wie schwierig für dacht wird.
men rund vier von fünf Bundesbürgern zu, viele Bürger in der Ex-DDR die Zeit Sabine Leybold, 35, gibt eine Ahnung
egal ob sie aus West oder Ost kommen oder gewesen sei, habe sie nur über Fernsehen davon, wie so eine Zukunft aussehen kann.
ganz oder teilweise fremder Herkunft sind. und Schule erfahren. Nie persönlich. »Es Sie ist Wessi, Fränkin, lebt 30 Kilometer
Früher, meint die Mehrheit der Deut- fällt mir schwer, mit den Leuten mit- außerhalb von Nürnberg. Nur zweimal
schen, sei es einfacher gewesen »zu sagen, zufühlen, ich kann da keine Verbindung war sie im Osten, 2013 im Leipziger Zoo,
was Deutschland ausmacht«. Die Sozial- aufbauen.« 2014 in Berlin. Aber zwei ihrer besten
forscherin Faus und ihr Team haben sich Freundinnen stammen aus dem Osten, die
große Mühe gegeben herauszufinden, was eine hat sie in der Ausbildung kennenge-
Deutschsein heute bedeutet. Auffällig sei Finanzielle Last lernt, die andere ist eine Arbeitskollegin.
gewesen, dass Ostdeutsche und Migranten Zustimmung zu der Aussage »Westdeutsch- Sie empfindet die Freundschaft als berei-
mehr Wörter gebraucht hätten, wohl weil land verdient mehr Anerkennung dafür, dass chernd, die beiden Frauen seien selbstbe-
es die Wiedervereinigung finanziert hat«.
ihre Identität schon mal infrage gestellt wor- wusster, weltoffener als viele in ihrer baye-
den und für sie die Suche nach Antworten Westdeutschland Ostdeutschland rischen Heimat: »Nicht so in traditionelle
nicht so neu gewesen sei. »Aber besser be- Rollenbilder gezwängt.«
55 % 26 %
schreiben konnten sie es auch nicht«, sagt Die beim Finanzamt angestellte Ley-
Faus. Richtig deutsch, das seien: die Spra- bold hat einen 18-jährigen Sohn. Im Ge-
che, die Dichter und Denker, die Solidarität schichtsunterricht habe er viel über den
und der Sozialstaat – und immer wieder Zweiten Weltkrieg gelernt, den Kalten
»Leistung bringen«. »Um ehrlich zu sein«, Deutsche mit Migrationshintergrund 51% Krieg und die Entstehung der EU. Das
sagt die Forscherin, »ist das wenig.« Ende der DDR war kaum mehr als eine
Quelle: Bertelsmann Stiftung, Online-Umfrage unter 1581 Wahlberechtigten
Andererseits bestehen die Deutschen (779 West- und 802 Ostdeutsche; darunter 170 Menschen mit Migrations-
Fußnote. Alfred Weinzierl
darauf, sich einander irgendwie nahezu- hintergrund) vom 5. bis 10. Juni
Raffiniert
sationen auf dem Mittelmeer aktiv. Man- »Sport- und Freizeitzwecke« gelten, son-
che haben das Ziel, Menschen zu retten, dern für »Sport- oder Erholungszwecke«.
wie Sea-Watch oder Mission Lifeline. An- Diese raffinierte Neuformulierung hat
gestoppt
dere, wie Mare Liberum, beschränken sich Folgen, denn Seenotrettung mag in der
aufs Beobachten. Einige NGOs setzen Freizeit stattfinden, Erholung ist sie ein-
große Schiffe ein, die umfangreiche Sicher- deutig nicht. Im März trat die Änderung
heitsauflagen erfüllen, andere sind mit in Kraft.
Flüchtlinge Mit einer Spitzfindig- kleinen Booten unterwegs, die das bisher Mehrere Schiffe von Hilfsorganisatio-
keit behindert das Verkehrs- nicht tun. nen müssten nun umgebaut werden. Neue
Um solch ein kleines Schiff von Mare Feuerlöscher, Gutachten – die Organisa-
ministerium deutsche Seenot- Liberum drehte sich der Streit, der das tion Mission Lifeline rechnet mit Kosten
retter. Dokumente belegen: Das BMVI beschäftigte. Behörden hatten es von 270 000 Euro für ein einzelnes Schiff,
war den Beamten bewusst. im April 2019 nicht auslaufen lassen. Das das angepasst werden soll. Mare Liberum
Argument lautete: Für den geplanten wehrt sich jetzt juristisch gegen die Fest-
Beobachtungseinsatz müsse das Schiff setzung der beiden Schiffe.
55
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Reporter
Ernährung
Kann »Highway to Hell«
uns schlank machen,
Frau Schülein?
SPIEGEL: Frau Schülein, einer neuen
Studie aus Dänemark zufolge nimmt
man schneller ab, wenn man beim
Essen die richtige Musik hört. Was
empfehlen Sie?
Schülein: Ich empfehle Musik, die man
sehr mag, die aber vor allem ruhig ist,
damit wir ruhiger werden, ruhiger kauen
und die Nahrung nicht runterschlingen.
SPIEGEL: »Highway to Hell« beispiels-
weise ist also kein Song, den man beim
Essen hören sollte?
Schülein: Wenn sich mein Mann ein
Steak grillt, 400 Gramm, würde er das
vielleicht hören, um ein Glücksgefühl
zu haben, aber nicht, wenn er es isst. Er
wüsste, er würde total hektisch werden,
und das würde ihm nicht guttun.
SPIEGEL: Wenn schon klassische Musik,
dann lieber etwas in Moll oder in Dur?
Familienalbum das Interview habe etwa 20 Minuten Schülein: Ich würde immer etwas in
gedauert, aber mir kam es wie eine Dur nehmen. Es soll beim Essen ja kei-
Bei den Taliban, Ewigkeit vor. Ich saß da schweißgeba- ner in eine Depression verfallen und
det, es lag nicht an der Hitze. Mut- denken: Um Gottes Willen, wenn ich
2001 tawakil ist ein ruhiger Typ, er sprach den nächsten Happen noch esse, werde
ordentlich Englisch, aber das Inter- ich schon wieder schwerer. So nimmt
Hans D. Gerhard, 84: view lief von Anfang an aus dem niemand ab. Man sollte stattdessen lie-
Der Herr mit dem Turban ist der letzte Ruder. Er wollte wissen, warum wir ber einen Walzer hören.
Außenminister der Taliban, Mullah da waren und wie lange wir bleiben SPIEGEL: Ist das nicht schon wieder zu
Wakil Ahmed Muttawakil. Es sieht wollten. Ich sagte, es bestünden im beschwingt?
aus, als würde ich ihn interviewen, Westen unterschiedliche Ansichten Schülein: Wieso? Wenn es etwas Leich-
aber in Wirklichkeit ist er derjenige, über die Taliban, ich wolle mir ein tes zu essen gibt, eine fantastische fri-
der die Fragen stellt. Es war im Mai eigenes Bild machen. Als Erstes fragte sche Artischocke zum Beispiel, die man
2001, etwa zwei Monate nachdem ich nach dem Sinn der Scharia. Viel mit einem Dip serviert und Stück für
die Taliban die Buddha-Statuen in mehr konnte ich dann nicht mehr Stück zerpflückt, ist ein Walzer dazu
Bamian gesprengt hatten. Ich war fragen. Muttawakil sah mich erzürnt ganz wunderbar – natürlich, wenn man
Apotheker und hatte über Terre des an und begann zu dozieren. Die ihn nicht wahnsinnig laut hört.
Hommes Antibiotika nach Kabul Scharia würde unter Androhung von SPIEGEL: Musik ist ja schön und gut,
geschickt. Dafür war ich nach Pakistan körperlichen Strafen dafür sorgen, aber sollte man, wenn man abnehmen
geflogen, eine Reise nach Afghanistan dass sich alle Gläubigen im Einklang möchte, nicht einfach nur immer etwas
war eigentlich nicht geplant, aber dann mit den islamischen Werten ver- Leichtes essen?
überwog doch die Neugier. Zusammen halten, mittlerweile würde sie auch Schülein: Überhaupt nicht, wir sollten
mit Maria, einer deutschen Lehrerin, auf »Ungläubige« angewandt. Als regional essen, und dazu gehört für uns
die in Pakistan lebte, fuhr ich in einer es vorbei war, sah ich, dass ich irgend- zu Weihnachten auch mal ’ne
Rostlaube über den berüchtigten was Belangloses in meinen Notiz- Ente. Es kommt auf die
Khyber-Pass. Der Grenzbeamte wollte block gekritzelt hatte. Ein Interview Menge an, darauf, wie das
Geld. Ich sagte ihm, ich sei neben- im »Main-Echo« ist nie erschienen. Essen zubereitet ist und
beruflich Reisejournalist und hätte vor, Aufgezeichnet von Timofey Neshitov was sonst noch serviert
für das »Main-Echo« über das schöne wird. Man nimmt nur
Land zu berichten. Er rief jemanden ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie
ab, wenn man das mit
an und richtete uns aus, der Außen- Genuss tut. MAH
Hans D. Gerhard
58
wuchtete seinen Körper in die Höhe und ließ sich auf einem
Eine Meldung und ihre Geschichte
Ast nieder. Im Frühjahr, vermutet Sütfeld, suchte er einen
Hahnenkampf
der Balzplätze und tat, wofür seine Art berühmt ist: Er stellte
seine Schwanzfedern zu einem stolzen Fächer auf, reckte
den Hals und begann für die Weibchen zu tanzen und zu
singen.
Er lebte also sein Auerhahnleben im Umkreis des Gast-
Warum im Schwarzwald ein seltener hauses, so gut es eben ging, neben den Wanderern, den
Vogel sein Leben verlor Mountainbikern und neuerdings E-Bikern, die immer häufi-
ger und schneller durch sein »Wohnzimmer« rasten, wie Süt-
feld sagt. Manchmal verlassen diese Menschen den Wander-
gen konnten, auf Veränderung zu hoffen. über Rassismus reden will, muss bitte den
Ich wurde als 9-jährige von einem Nazi Für Menschen, die wie Kuhnke schon lan- richtigen Ton erwischen, sonst reagieren
zusammengeschlagen – war aber nicht ge um Aufmerksamkeit für das Thema viele mit reflexartiger Gegenwehr. Und
seine Schuld, weil er war »geistig kämpfen, muss es sich anfühlen, als hätten fühlen sich sofort angegriffen.
verwirrt«, »stark emotionalisiert« und sie jahrelang versucht, mit einem Löffel
hat sich wegen Menschen wie mir zum eine Betonwand zu durchstoßen, und auf
»Einzeltäter« »radikalisiert.« einmal ist die Abrissbirne da. Werde dieses Jahr an Karneval
#RechterTerror Plötzlich stehen Denkmäler infrage, whitefacen, Tracht tragen und auf
Straßen werden umbenannt, Besitzer von Rückfrage sagen, dass ich als Kartoffel
Tweet von Jasmina Kuhnke, Februar 2020 »Mohrenapotheken« beschließen, ihre gehe und eine Büttenrede halten, in
Schilder abzuschrauben, Bücher von der ich mich ausschließlich über
schwarzen Rassismusexpertinnen stehen die weiße Gesellschaft lustig mache.
E
in Donnerstagnachmittag in Köln, auf den Bestsellerlisten. In den Wochen Is doch nur Spaß!
kurz nachdem ein Mann namens nach Floyds Tod demonstrierten Zehn-
George Floyd in Minneapolis von tausende in Deutschlands Städten und Tweet von Kuhnke, Januar 2020
einem weißen Polizisten getötet hielten »Black Lives Matter«-Schilder in
wurde. Der Polizist hatte sein Knie auf die Luft. Im ganzen Land berichten seit- Kuhnke ist Mutter von vier Kindern. In
Floyds Hals gedrückt, fast neun Minuten her Menschen von ihren Erfahrungen und einem Interview mit Kevin Kühnert, dem
lang. Jasmina Kuhnke, bei Twitter bekannt trauen sich, nach Jahren des Schweigens, stellvertretenden Parteivorsitzenden der
unter dem Namen »Quattromilf«, betritt aufzustehen. SPD, der sie in seinen Podcast eingeladen
ein Restaurant, dessen Namen man nicht hatte, sagte sie: »Ich habe mich entschie-
nennen soll. Sie möchte keine Rückschlüs- den, diese Kinder zu bekommen. Und
se auf ihren Wohnort zulassen. Kuhnke Es interessiert nicht ob »man« dann muss ich auch für sie kämpfen. Das
erhält regelmäßig Drohungen. in eurer Kindheit N**** gesagt hat. ist der Deal.« Inzwischen erreicht sie mit
»Mobbing 4GqD« schrieb bei Twitter: Es interessiert nicht ob eure Eltern, ihren Texten fast 60 000 Menschen. Poli-
»Du wirst ab 8.5. bestraft.« Großeltern schon N**** gesagt haben. tikerinnen lesen, was sie über Rassismus
Das Profilbild zeigt einen Mann in Poli- Mich interessiert ob ihr es heute, zu sagen hat, Medienmacher, Schauspie-
zeiuniform. jetzt noch sagt, nachdem Betroffene lerinnen, Musiker.
»Wie meinen?!«, antwortete Kuhnke. euch sagen, dass es sie verletzt. Auszüge aus einigen Reaktionen auf
»You’ll find out«, schrieb Mobbing Falls ja, seid ihr eben Arschlöcher. Kuhnkes Tweets:
4GqD. »Es gibt nur 8%Weisse noch«
Kuhnke setzt sich, bestellt stilles Wasser Tweet von Kuhnke, November 2019 »Warum gehen die nicht zurück nach
und einen Tee. Eine Frau in Turnschuhen, Afrika?«
die Haare hochgebunden, auf ihre Finger Kuhnke ist 38 Jahre alt, sie arbeitet als »Affen fühlen sich im Zoo sicher aufge-
sind in filigranen Buchstaben zwei Worte Comedy-Autorin und Stand-up-Come- hoben.«
tätowiert: »Ebony« und »Irony«. dian. Sie schreibt Gags für Fernseh- »Die Jasmina gehört echt abgetrieben«
Die vergangenen Tage seien unwirklich sendungen zum Beispiel für Carolin Kebe- »Willkommen zu den diesjährigen opfer-
gewesen, sagt sie. Sie fühle sich überreizt, kus, für Kochshows, sie versieht unlustige olympischen Spielen …«
müde, es falle ihr schwer, das, was gerade TV-Moderationen mit einer Punchline, ei- »Wir werden sie jagen.«
in Deutschland passiere, emotional zu ner schnellen Pointe. Was macht der Rassismus mit einem
erfassen. »Es ist ja nicht so, als hätte ich Seit einigen Jahren ist sie dazu über- Leben? Was bedeutet es, in einem Land
das nicht gewusst, aber diese Masse an gegangen, diese Technik auch auf ihren aufzuwachsen und zu Hause zu sein, in
Geschichten Betroffener, die jetzt im Zuge Alltag anzuwenden, auf die Unlustigkeiten dem es Menschen gibt, die einen nicht
der Rassismusdebatte sichtbar werden, im Leben einer schwarzen Deutschen. Sie akzeptieren?
geht mir nah.« Es mache sie traurig, einer- benutzt dazu das Internet, vor allem Twit- Jasmina Kuhnke hat dem SPIEGEL da-
seits. Andererseits sei da das Gefühl: »Dies ter. Sie schreibt dort über jede Form von von erzählt. Sie hat all die Ereignisse in
ist ein magischer Moment.« Diskriminierung und Rassismus. Sie legt ihrem Leben nachgezeichnet, die es nur
Das Video vom Mord an Floyd hat in sich mit rechten Trollen an und greift die gegeben hat, weil es rassistisches Denken
Deutschland etwas ausgelöst, was es so an, die auch 2020 noch behaupten, dass gibt. Die Einzelheiten dieser Begebenhei-
noch nicht gegeben hat, nicht nach Solin- es in Deutschland gar keinen Rassismus ten nachzuprüfen ist kaum möglich, auch
gen, NSU oder Hanau. Plötzlich sprach gebe. Viele feiern sie für ihre Direktheit. weil sie oft weit in der Vergangenheit lie-
das Land über sein Rassismusproblem, Andere fürchten, sie »schade der guten gen. Kuhnkes Schilderungen basieren wei-
ernsthaft und einigermaßen ausdauernd, Sache«. Denn – das weiß beinah jeder testgehend auf ihren Erinnerungen und
zum ersten Mal so, dass Betroffene es wa- Betroffene, der es mal versucht hat – wer zeigen ihre persönliche Perspektive.
62
häufiger dort und ging wie alle Jugendli-
chen gern bummeln. Doch die Laden-
detektive klebten an ihr, verfolgten sie von
Kleiderständer zu Kleiderständer. Eine
Verkäuferin sprach sie an, als sie etwas an-
probieren wollte. Sie sagte: »Das kannst
du dir doch eh nicht leisten.«
Kuhnke erzählt, dass der einzige Ort, an
dem sie sich damals sicher und angenom-
men fühlte, ihr Laufverein gewesen sei. Sie
hatte einige Jahre zuvor angefangen zu
trainieren, Mittel- und Langstrecke. Sie
sagt, es sei das erste Mal in ihrem Leben
gewesen, dass sie ankommen konnte. Mit
dem Laufen habe sie ein Ventil gefunden,
Traurigkeit und Frustration loszuwerden.
Sie sagt: »Der einzige Mensch, der mir
beim Laufen im Weg stand, war ich selbst.«
An den Wochenenden gewann sie Wett-
kämpfe, und mit jedem weiteren Wett-
kampf sei etwas in ihr gewachsen, das bis
dahin gefehlt habe: Selbstbewusstsein,
aber auch ein Drang, sich zu wehren. Lang-
sam, Stück für Stück, ging Kuhnke in den
Kampfmodus über. Sie beschäftigte sich
mit dem südafrikanischen Freiheitskämp-
Mein Leben
sei möglicherweise etwas zugestoßen. Stimmte nicht, die
meisten Bienen schlafen nachts einfach.
Ein Volk starb dann doch. Ein paar Wochen später. Wobei
als Imker
sterben das falsche Wort ist. Die Arbeiterinnen wurden
einfach immer weniger, die Drohnen, also die männlichen
Bienen, deren einzige Aufgabe es ist, die Jungkönigin zu
begatten, immer mehr. Drohnen entstehen aus unbefruch-
teten Eiern. Die Königin war gestorben, ohne dass ich es
Homestory Unser Autor hat ein neues Hobby. bemerkt hatte. Irgendwann war die Beute dann ganz leer.
Das Wichtigste: niemals wie ein Bär zu wirken. Ich kaufte ein weiteres Volk, bei einem Hobbyimker im
Wedding. Der hatte acht Stück in seinem Schrebergarten, muss-
te aber reduzieren, weil seine Frau eine Allergie gegen Bienen
Gesundheitswesen Antwort des Bundesgesund- Geräte zu erreichen, heißt es Hoffmann bezeichnet die üp-
heitsministeriums auf eine in der Antwort. Bei zwei Fir- pigen Bestellungen der Re-
Beatmungsgeräte Kleine Anfrage des FDP-Ab- men sei man bereits erfolg- gierung als »intransparent«.
werden verschenkt geordneten Christoph Hoff- reich gewesen und habe 2500 »Nicht benötigte Beatmungs-
mann im Bundestag hervor. Respiratoren wieder abbestel- geräte müssen für die entwick-
Auf dem Höhepunkt der Die Regierung hatte mit sechs len können. lungspolitische Zusammenar-
Coronakrise versuchte die Herstellern, darunter Dräger- 197 Apparate hat die Bun- beit bereitgestellt werden,
Bundesregierung, so viele werk und Löwenstein, Verträ- desrepublik bereits an Spa- insbesondere weil Brüssel in
Beatmungsgeräte wie möglich ge über den Kauf von 26 281 nien, Italien und Frankreich dem 200 Milliarden schweren
zu bunkern. Weil die Zahl der Beatmungsgeräten abgeschlos- gespendet. Ein größeres Kon- Corona-Hilfspaket keine Hil-
bestellten Apparate aber zu sen, davon wurden bis Ende tingent soll laut Bundesgesund- fen zur Bekämpfung der Coro-
hoch war, wird ein Teil der August 7691 ausgeliefert. Man heitsministerium an Staaten nakrise in den Entwicklungs-
Respiratoren deshalb nun ver- versuche, mit allen Herstellern des westlichen Balkans ver- ländern vorsieht«, sagt der
schenkt. Das geht aus einer eine Reduktion der bestellten schenkt werden. FDP-Mann Bundestagsabgeordnete. MUM
67
Wirtschaft
Die Billionen-Wette
Konjunktur Die Bundesregierung hat enorme Summen in die Rettung der Wirtschaft
gesteckt. Das hat den Corona-Absturz abgefedert. Doch die Hilfe
ist teuer erkauft und könnte den kommenden Aufschwung sogar hemmen.
W
as die Minister Peter Altmaier Auch die Frühindikatoren weisen steil Entschlossenheit der Programme haben
(CDU) und Olaf Scholz (SPD) nach oben. Der Geschäftsklimaindex des wesentlich dazu beigetragen, einen noch
seit Monaten treiben, ähnelt Münchner Ifo-Instituts steigt seit Monaten. tieferen Einbruch abzuwenden.
einem Glücksspiel auf höchs- Er sagt vergleichsweise zuverlässig den Als gelungen gilt der Versuch der Regie-
tem Niveau. Hunderte Milliarden setzen Konjunkturverlauf der nächsten Monate rung, die Einkommen der Bundesbürger
sie auf verschiedenste Rettungsmaßnah- voraus. Das Beschäftigungsbarometer des zu stabilisieren. Dazu weitete sie in unge-
men – im Glauben, dass sie wirken. Instituts vermeldet eine wachsende Bereit- kanntem Ausmaß die Möglichkeiten zur
Immerhin konnte Wirtschaftsressort- schaft der Unternehmen, neues Personal Kurzarbeit aus. Sie gewährte Kleinunter-
chef Altmaier am vergangenen Dienstag einzustellen. nehmen und Soloselbstständigen, deren
vermelden, dass sich die Regierung nicht »Die aktuellen Zahlen sind geradezu Umsätze im Lockdown wegbrachen, groß-
komplett verzockt hat. Deutschland erlebt sensationell«, sagt Ifo-Ökonom Andreas zügige Zuschüsse.
zwar den schärfsten Einbruch der Kon- Peichl. Immer mehr scheint sich zu be- Tatsächlich gelang der Großen Koali-
junktur nach dem Krieg, er fällt aber wahrheiten, dass die Konjunkturerholung tion Erstaunliches. Während das BIP im
glimpflicher aus als noch im Frühjahr be- wie ein V verläuft: Einem steilen Ab- zweiten Quartal um fast 10 Prozent
fürchtet. Das Minus, so sagen es Altmaiers schwung folgt eine rasche Erholung. schrumpfte, sanken die verfügbaren Ein-
Experten voraus, beträgt nur 5,8 Prozent Hat die Bundesregierung also alles rich- kommen nur um 0,8 Prozent. Die Bundes-
statt wie zuvor prognostiziert 6,3 Prozent. tig gemacht? Verhinderten die Rettungs- regierung folgte einem alten Rezept der
Die Republik kommt besser durch die Kri- aktionen tatsächlich einen heftigeren Ab- Konjunkturpolitik: Wenn Unternehmen
se als die meisten Industriestaaten. sturz? Und, noch viel wichtiger: Legen und Arbeitnehmer im Abschwung schwä-
Für nächstes Jahr diagnostiziert Altmaier sie das Fundament für eine nachhaltige cheln, weil ihr Einkommen wegbricht,
sogar eine kräftige Erholung; die Wirtschaft Erholung? springt der Staat in die Bresche, um die
soll um 4,4 Prozent zulegen. Die Corona- Die Ökonomie ist keine exakte Wissen- Nachfrage abzustützen. So verhinderte
Rezession würde also nur unwesentlich schaft, in vielen Fragen sind ihre Vertreter er eine sich selbst verstärkende Abwärts-
heftiger ausfallen als die Finanzkrise vor hemmungslos zerstritten, doch in der spirale.
elf Jahren. Damals schrumpfte das Brutto- grundsätzlichen Einschätzung des deut- »Das war nicht nur ökonomisch, son-
inlandsprodukt (BIP) um 5,7 Prozent. schen Rettungsprogramms zeichnet sich dern auch psychologisch wichtig«, sagt
Altmaier und sein für Finanzen zustän- weitgehende Einigkeit ab: Ausmaß und Christoph Schmidt, Präsident des RWI-
diger Kabinettskollege Scholz halten sich Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung
zugute, einen wesentlichen Beitrag zu der in Essen. »Die Maßnahmen haben die
guten Entwicklung geleistet zu haben. Und
manches Argument haben sie tatsächlich
Erwerbstätige Erwartungen stabilisiert.« Die föderale
Demokratie habe sich als handlungsfähig
Veränderung gegenüber dem Vorjahr
auf ihrer Seite: Die Große Koalition rea- erwiesen. »Darauf kann die Politik zu
gierte schnell und entschlossen auf die Kri- 2019 Recht stolz sein.«
se und mobilisierte – gemessen am BIP – + 400000 Auch Lars Feld, der Vorsitzende des
so viel Geld wie kein anderes Land. Mehr 2021 Sachverständigenrats zur Begutachtung
als eine Billion Euro stehen für Notkredite, +190000 der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
Garantien und direkte Hilfen bereit – lobt die Politik. Als besonderen Erfolg
rund ein Drittel der jährlichen Wirtschafts- hebt er den maßvollen Anstieg der Arbeits-
leistung. losigkeit um 600 000 Menschen hervor.
Allein für das Konjunkturprogramm, 2020 »Das ist relativ wenig angesichts des Ein-
mit dem sich die Bundesregierung dieses –380 000 bruchs.« Insbesondere im Vergleich mit
und nächstes Jahr gegen den Absturz den USA, wo mehrere Millionen Jobs ver-
stemmt, stellt Scholz 130 Milliarden Euro Quelle: Interimsprojektion der Bundesregierung, BMWi loren gingen, sei Deutschland bislang gut
zur Verfügung. Der größte Teil davon soll durch die Krise gekommen.
noch bis Jahresende fließen. Das gilt auch für die Spuren, die Corona
Und die Wette scheint aufzugehen. Im in den öffentlichen Haushalten hinterlässt.
Juni verzeichnete die deutsche Wirtschaft Im ersten Halbjahr 2020 verzeichnete der
das höchste Plus bei den Exporten seit Fiskus ein Minus von 3,2 Prozent des BIP,
30 Jahren im Vergleich zum Vormonat. weil die Ausgaben für Stützungsprogram-
Der Auftragseingang der Industrie legte im me explodierten und zugleich Steuerein-
Vergleich zum Vormonat um fast 28 Pro- nahmen wegbrachen. Andere Länder fah-
zent zu. Besonders deutlich erholt sich der ren Defizite in ähnlicher Größenordnung
Konsum. Die Umsätze des Einzelhandels zu Normalzeiten ein. Da Deutschland vor
Oliver Killig
lagen im Mai und Juni schon wieder auf Ausbruch der Krise jahrelang Überschüsse
dem Vorkrisen-Niveau. in den öffentlichen Kassen erwirtschaftete,
Schnelles Comeback
Deutsches Bruttoinlandsprodukt,
Veränderung gegenüber dem Vorjahr
in Prozent
2019
+0,6
2018
2016
+ 2,6 +4,4
+2,2
2020
– 5,8
Tobias Schwarz / AFP / Getty Images
69
Wirtschaft
konnten Bund und Länder in der Not aus »Ich gehe davon aus, dass die Unterneh-
dem Vollen schöpfen. men die temporäre Senkung der Mehr-
Dennoch ist der Erfolg teuer erkauft. wertsteuer nur zu gut der Hälfte an ihre Exporte
Für 2020 sieht die Bundesregierung einen Kunden weitergeben«, vermutet Feld. Ent- Veränderung gegenüber
Konjunkturimpuls von rund 90 Milliarden sprechend geringer fällt der Kaufanreiz für dem Vorjahr
2021
Euro vor, das entspricht fast drei Prozent die Konsumenten aus. + 8,8%
der Wirtschaftsleistung. Die Bundesbank Der Staat könne seine Milliarden effi-
schätzt in ihrem Monatsbericht vom Juni, zienter einsetzen, findet Feld. »Die Bun- 2019
dass dies die Rezession nur um einen Pro- desregierung sollte ihren finanziellen Spiel- + 1,0%
zentpunkt dämpft. »Verglichen mit den raum nutzen, um Unternehmen eine groß-
enormen Ausgaben wird der Effekt voraus- zügigere Verrechnung ihrer Verluste in der
sichtlich bescheiden bleiben«, bemängelt Krise zu erlauben«, schlägt er vor.
RWI-Chef Schmidt. Das Instrument bietet eine elegante
2020 Quelle:
Der größte Teil der Erholung lässt sich Möglichkeit, die Folgen des Einbruchs zu
ohnehin auf Auftriebskräfte zurückfüh- bewältigen. Es gestattet den Betrieben, –12,1 % Interimsprojektion
der Bundes-
regierung, BMWi
ren, die auch ohne staatliches Zutun in ihre aktuellen Verluste mit vorangegange-
der Wirtschaft wirken. »Der steile Auf- nen Gewinnen zu verrechnen. Sie bekom-
schwung nach dem Absturz im Frühjahr men also zu viel gezahlte Steuern erstattet.
ist nur logisch«, sagt der Wirtschaftsweise Der Vorteil: Das Geld fließt schnell in die
Feld. Wenn große Teile der Wirtschaft we- Firmenkassen zurück, vor allem aber wer-
gen der Pandemie im Frühjahr herunter- den Unternehmen mit funktionierendem
fahren, etwa die Gastronomie oder weite Geschäftsmodell begünstigt. Denn ohne
Bereiche des Einzelhandels, dann bricht vorherige Profite keine Verrechnung.
die Wirtschaft ein. »Die Öffnung dieser Zwar hat Scholz das Modell schon er-
Keine
Mindest-
laufzeit
Wirtschaft
ist nicht tot« ken. Die neue Fed-Strategie ist das stärkste
Zeichen dafür, dass die Notenbanken im-
mer mehr Aufgaben übernehmen, für die
Politiker zuständig sind, etwa die Bekämp-
Geldpolitik Der Finanzexperte und Publizist David Marsh warnt vor fung der Arbeitslosigkeit. Die EZB, die
einem Missbrauch der Notenbanken und vor steigenden Preisen. ihre neue Strategie 2021 vorstellen will,
wird es wie die Fed machen. Wir erleben
das Ende der unabhängigen Notenbanken.
Marsh, 68, ist ein Wanderer zwischen den den kann, einer echten Gefahr angesichts SPIEGEL: Vollständig unabhängig von der
Welten. In den Achtziger- und Neunziger- der schuldenfinanzierten Staatsausgaben Politik waren sie nie, das ist ein Mythos.
jahren arbeitete er als Journalist bei der im Kampf gegen die Pandemie. Steigende Marsh: Seit der Fed-Ankündigung ist
»Financial Times«, anschließend wechselte Teuerungsraten müssten die Notenbanken selbst der Mythos zerbrochen. Die Noten-
er ins Investmentbanking und wurde Bera- eigentlich bekämpfen. Doch von diesem banken sind politisiert wie seit Jahrzehn-
ter. Marsh ist Brite, zugleich profunder Kampf verabschieden sie sich. ten nicht mehr. In Japan ist das schon lange
Deutschlandkenner, Autor des Standard- SPIEGEL: Von wie viel Inflation sprechen so. In Europa hat Frankreichs Präsident
werks »Die Bundesbank – Geschäfte mit wir überhaupt? Es gibt ja Leute, die sehen Emmanuel Macron in dieser Hinsicht ein
der Macht« und Träger des Bundesver- die Weltwirtschaft auf dem Weg zurück in Exempel statuiert, indem er Kanzlerin An-
dienstkreuzes. Heute kümmert er sich in die Hyperinflation der 1920er-Jahre. gela Merkel überrumpelt und Christine La-
der von ihm mitgegründeten Denkfabrik Marsh: Das halte ich für völlig übertrie- garde zur EZB-Präsidentin gemacht hat.
OMFIF um seine Lieblingsthemen: Wirt- ben. Wenn sich die Industrie vom Coro- SPIEGEL: Halten wir fest: Die Inflation ist
schaftspolitik und Zentralbanken. Letztere, na-Schock erholt, könnten die Preise deut- höher als offiziell angegeben, was die Zen-
so meint er, verkämen zur verlängerten lich über zwei Prozent steigen. Der Politik tralbanken tolerieren, erst stillschweigend
Werkbank der Regierungen, weil sie zuneh- wäre das gerade recht. Denn wenn die und jetzt explizit. Und das alles nur, um
mend Staatsfinanzierung betrieben. Preise anziehen, wächst auch das nomina- den Staaten zu helfen. Der Vorwurf der
le Bruttoinlandsprodukt. Und solange das Staatsfinanzierung ist der härteste, den
SPIEGEL: Herr Marsh, die US-Notenbank stärker zulegt als die Schulden, schmilzt man einer Zentralbank machen kann.
Federal Reserve (Fed) hat sich gerade von der Schuldenstand quasi automatisch. Marsh: Es ist komplexer. Generell ist es
ihrem alten Inflationsziel verabschiedet SPIEGEL: Was praktisch wäre für die Fi- durchaus richtig, wenn Zentralbanken die
und toleriert ab sofort Teuerungsraten nanzminister … Ziele der Politik unterstützen, umso mehr
über zwei Prozent. Die Europäische Zen- Marsh: … aber mit sozialer Ungerechtig- in einer Pandemie. Nur dürfen sie nicht
tralbank (EZB) könnte bald nachziehen. keit einherginge. Wer Wohneigentum oder die Fähigkeit verlieren, das Gegenteil
Kommt schon bald die Inflation zurück? Aktien hat, freut sich, weil beides mit der zu tun, sobald es nötig ist, etwa wenn die
Marsh: Ich wäre nicht so defätistisch, aber Inflation mehr wert wird. Wer kaum Ver- Inflation steigt. Zentralbanken dürfen sich
klar ist: Es bahnt sich eine neue Ära an. mögen hat und zur Miete wohnt, spürt stei- nicht von Regierungen instrumentalisieren
Die Fed schränkt damit den Entschei- gende Preise viel unmittelbarer. Die Kluft lassen, um Inflation als Waffe gegen Schul-
dungsspielraum der EZB heftig ein. wächst, was wiederum den Populisten hilft, den einzusetzen. Das wäre gefährlich.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? – eine Tendenz, die man schon sieht. SPIEGEL: Hat sich Fed-Chef Jerome Po-
Marsh: Die Fed hat immer darauf geach- SPIEGEL: Kritiker meinen, der Warenkorb well Donald Trump unterworfen? Der Prä-
tet, mit ihrer Geldpolitik gleichermaßen sei falsch berechnet, anhand dessen die sident twitterte zeitweise ununterbrochen,
die Inflation wie auch die Arbeitslosigkeit EZB die Inflationsrate misst, die wiederum die Fed solle die Zügel schleifen lassen, um
im Zaum zu halten. Das ist jetzt vorbei. die Grundlage ihrer Geldpolitik ist. Stim- mehr Wachstum zuzulassen.
Wegen der Pandemie ist die Arbeitslosig- men Sie dem zu? Marsh: Einerseits hat Powell die Strategie
keit stark gestiegen, zugleich ist die Infla- Marsh: Ja. Die tatsächliche Inflation ist der Realität angepasst. Zugleich wirkt der
tion seit zehn Jahren sehr niedrig. Dafür höher. Wie gesagt: Die Immobilienprei- kolossale Druck, den Trump ausübt. Als
gibt es Gründe, die aber nichts mit den se, auch die Mieten, sind maßgeblich für Trump ihn Anfang 2019 ins Weiße Haus
Zentralbanken zu tun haben. die Lebenshaltungskosten, vor allem in zitiert hat, hätte Powell sagen sollen: »Las-
SPIEGEL: Welche sind das? Deutschland spiegelt der Warenkorb das sen Sie sich von meiner Sekretärin einen
Marsh: Die Menschen werden älter und Termin geben, aber erst in sechs Mona-
sparen mehr; die Digitalisierung deckelt ten.« Das hat er natürlich nicht gemacht.
den Kapitalbedarf der Unternehmen; Ziel verfehlt SPIEGEL: Geldpolitik ist nie statisch, wie
durch die Globalisierung sind Millionen Inflationsraten, Veränderung gegenüber Politik im Allgemeinen. Powells Nachfol-
neue Menschen auf den Arbeitsmarkt ge- dem Vorjahr in Prozent ger kann die Strategie ja wieder ändern,
kommen, was die Löhne drückt. All das 4
wenn die Inflation zu stark steigt.
bremst die Inflation. Diese zu bekämpfen USA bisheriges Ziel: 2% Marsh: Das wird er auch. Und das wird
ist für die Fed ab sofort nicht mehr das der US-Zentralbank leichterfallen als der
3
wichtigste Ziel. Und auch in Europa haben EZB – ein gewaltiges Problem.
wir sehr niedrige Inflationsraten. SPIEGEL: Wieso?
2
SPIEGEL: Wenn Inflation kein Problem Eurozone Marsh: Weil die Länder der Eurozone mit
mehr ist: Warum ist dann die Entschei- krass unterschiedlichem Tempo wachsen.
dung der Fed, höhere Verbraucherpreise 1 Deutschland könnte Inflationsraten von
zu tolerieren, so spektakulär? *Prognose; Quelle: IWF
drei oder vier Prozent vertragen, allein
Marsh: Weil die Inflation eben nicht tot 0 schon, um seinen Exportüberschuss abzu-
ist, sondern wieder zu einem Risiko wer- 2002 2010 2020* bauen. Für die Wettbewerbsfähigkeit der
72
Die Preise der Anleihen fallen, die Zinsen
steigen. Dann wird es für hochverschulde-
te Länder wie Italien, Frankreich und Spa-
nien viel teurer, neue Schulden zu machen.
Die Alternative wären drastische Sparpro-
gramme. Das muss Macron verhindern,
wenn er bei der nächsten Präsidentschafts-
wahl 2022 wiedergewählt werden will.
Marsh: Trotz der Schwierigkeiten, die von
der Fed-Entscheidung ausgehen, muss die
EZB die Strategie um ihrer selbst willen
ändern, aber mit Fingerspitzengefühl. An-
dernfalls läuft sie Gefahr, als Sündenbock
dazustehen für alles, was schiefläuft.
SPIEGEL: Ist es dafür nicht längst zu spät?
Marsh: Noch nicht ganz. Das wäre erst
dann der Fall, wenn die EZB den Regie-
rungen direkt Staatsanleihen abkauft oder
die Mehrheit der Zentralbankchefs Ex-Fi-
nanzminister wie Lagarde wären. Daher
ist es so wichtig zu schauen, wer Ende
2020 dem Luxemburger Yves Mersch im
sechsköpfigen Direktorium, dem EZB-Vor-
stand, folgt. Wird es ein Ex-Politiker, wäre
die rote Linie überschritten.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass die EZB 2021
im Bundestagswahlkampf Thema wird,
etwa mit Blick auf die Niedrigzinsen und
die Sparbuch-vernarrten Deutschen?
Marsh: Das glaube ich nicht. Der soziale
Zusammenhalt in Deutschland funktio-
niert wegen der Kluft zwischen den Ver-
mögenden und dem Rest nicht mehr so
gut wie früher, aber verglichen mit vielen
anderen Ländern jammern die Deutschen
auf sehr hohem Niveau. Der Aufschrei ge-
gen die Aufkaufprogramme hält sich in
Grenzen.
SPIEGEL: Wird die Eurozone überleben?
Peter Rigaud / DER SPIEGEL
B art Snels ist eine Art holländischer Mauritius den anderen Staat der Welt.
Robin Hood. Der Finanzexperte 8. Schweiz 291 9. Irland Bei einem Großteil dieser Gelder han-
der Grünenfraktion im niederländi- 588 delt es sich laut einer vom Internationalen
schen Parlament kämpft nicht mit Pfeil 545 Währungsfonds veröffentlichten Studie um
und Bogen, sondern mit den Waffen des 7. Cayman »Phantom«-Investitionen. Die Konzerne
Steuerrechts – aber darin ist er ähnlich Islands schleusen ihre Gewinne durch leere Unter-
geschickt wie das literarische Vorbild. nehmenshüllen, um ihre globale Steuerlast
Snels’ Gegner sind Konzerne, die auf der 678 zu mindern. Zusammen mit Luxemburg
Suche nach Steuervorteilen Staaten gegen- beherbergen die Niederlande fast die Hälf-
einander ausspielen, so der Konsumriese 6. Singapur te dieser weltweiten Phantominvestitionen.
Unilever. Der hat bislang zwei Hauptsitze, »Unser Land ist die Spinne im Netz der in-
einen in London, einen in Rotterdam. An-
fang Juni kündigte das Unternehmen an,
761 Durchgeschleust
Die zehn Volkswirtschaften
ternationalen Steuervermeidung«, sagt Bas
Jacobs, Professor für öffentliche Finanzen
die Geschäfte künftig in Großbritannien zu mit den höchsten Phantom- an der Erasmus-Universität Rotterdam.
bündeln – auch wegen Steuervorteilen. Direktinvestitionen Um Unilever im Land zu halten, wollte
Snels will diesen Umzug verhindern – aus dem Ausland, Regierungschef Mark Rutte, einst selbst
mit einem Gesetzesvorschlag, den der in Mrd. Dollar, Unilever-Manager und Parteiführer der
5. Bermuda
2017
54-jährige frühere Hochschuldozent selbst wirtschaftsnahen VVD, 2017 sogar noch
»brutal« nennt. Er ersann eine Wegzug- 811 Quelle:
Damgaard u. a.,
die 15-prozentige Quellensteuer auf Di-
steuer. Großunternehmen sollen 15 Pro- IWF videnden für multinationale Unterneh-
zent ihrer einbehaltenen Gewinne ab- men streichen. Der damalige Konzernchef
führen, wenn sie in ein Land abwandern, Paul Polman hatte zuvor unverhohlen ge-
das keine Dividendensteuer erhebt, wie droht: »Wenn Sie wollen, dass Unilever
Großbritannien. Greift das Gesetz, müsste 4. Britische mit seinem Hauptquartier in die Nieder-
3. Hongkong
Unilever zum Abschied rund elf Milliar- Jungferninseln lande kommt, kann das nicht mit der Di-
den Euro zahlen. »Das ist ein letzter Ver-
such, um Unilever auf andere Gedanken
825 1112 videndensteuer geschehen.« Auch Shell-
Chef Ben van Beurden spielte diese Karte.
zu bringen«, sagt Snels. Und eine War- Zunächst schien Ruttes Plan aufzuge-
Jonas van Impe
nung an Shell, der Ölkonzern hat ebenfalls hen. Nach seiner Ankündigung erklärte die
einen zweiten Sitz in London. Unilever-Spitze, man habe Rotterdam als
Als Snels im Juli im Den Haager Parla- künftiges Hauptquartier auserkoren. Dann
ment seine Gesetzesinitiative vorstellte, ap- brach in den Niederlanden ein Sturm der
plaudierten nicht nur die üblichen Verdäch- 2. Niederlande Entrüstung los. Die Regierung kippte die
tigen von links. Auch Vertreter von drei Abschaffung der Dividendensteuer. Und
Fraktionen der Mitte-rechts-Regierung
fanden die Sache unterstützenswert.
Woraufhin Unilever durchblicken ließ,
den Umzug wohl wieder abzublasen,
3317 Unilever seinen Rotterdam-Plan.
»Die Parteien standen unter Verdacht,
sich nur um die Interessen multinationaler
Konzerne zu kümmern«, sagt Arnold Mer-
wenn die Vorlage durchkommt. kies von der Nichtregierungsorganisation
Ein solches Gesetz wäre eine ziem- Tax Justice NL. Doch das ließen sich die
liche Sensation. Denn es würde Bürger nicht mehr gefallen. Es gebe jetzt
bedeuten, dass die Niederlan- eine Debatte über das Steuerdumping.
de ihre Steuerpolitik für Un- Viele Niederländer zweifeln mittlerwei-
ternehmen umkehren wür- le an der Finanzpolitik ihrer Regierung.
den. Bislang hat das Land »Von unserem Steuersystem haben in den
Konzerne mit niedrigen letzten Jahren vor allem die Großkonzer-
Steuersätzen angelockt. ne profitiert, die kleinen und mittleren nie-
Viele global operierende
1. Luxemburg derländischen Betriebe haben wenig ab-
Unternehmen haben nie- bekommen«, sagt Kees van Paridon, eme-
derländische Briefkasten-
firmen genutzt, um Gewin-
ne zu verschieben. Die Modelle
3809 ritierter Ökonomieprofessor der Erasmus-
Universität Rotterdam. »Und als der Staat
sparen musste, hat er bei den Sozialsyste-
trugen Namen wie »Double men stark gekürzt. Viele Menschen fragen
Irish with a Dutch Sandwich« sich, ob das fair ist.«
und machten die Niederlande Laut Statistikbehörde CBS sank die effek-
neben Irland und Luxemburg tive Steuerlast großer Unternehmen zwi-
zur Steueroase in Europa. schen 2008 und 2017 von durchschnittlich
74 Finanzpolitiker Snels
22,9 auf 17,1 Prozent. Shell zahlte in den Nie-
derlanden zwischen 2016 und 2018 trotz ho-
her Gewinne überhaupt keine Steuern – we-
Rätselhaftes
Imperium
gen einer Sonderregel, die selbst Wirtschafts-
freund Rutte als »verrückt« bezeichnete.
Hinzu kommt die wachsende Kritik aus
dem Ausland. Als sich die Niederlande im
Ringen um europäische Corona-Hilfen an
die Spitze der »Sparsamen Fünf« stellten,
warfen ihnen die Südeuropäer Doppelmoral
vor. Das Land zeige einen »Mangel an Ethik Die Rolle Russlands erscheint
und Solidarität«, schimpften italienische Poli-
tiker in einer Zeitungsanzeige. Die Nieder- vielen undurchsichtig.
lande brächten ihre Nachbarn jährlich um
Steuereinnahmen in Höhe von 11,2 Milliar- Ein Blick in die Geschichte
den Euro, stellte auch das EU-Parlament in
einer Entschließung fest – »zum Nutzen mul-
tinationaler Konzerne und ihrer Aktionäre«.
macht sie verständlich.
Angesichts des Drucks hat Ruttes Re-
gierung nun Reformen angekündigt. Sie
will es Konzernen erschweren, so wie Shell
Jetzt im
über die Anrechnung von Verlusten im
Ausland ihre zu versteuernden Gewinne Handel
kleinzurechnen. Multinationale Unterneh-
men sollen künftig eine Abgabe zahlen,
wenn sie Einnahmen aus Lizenzgebüh-
ren oder Zinsen in Niedrigsteuerländer
verschieben. Das bislang übliche Durch-
schleusen könnte damit erheblich behin-
dert werden, sagt Experte Jacobs. »Die
Niederlande werden künftig nicht mehr
so eine zentrale Rolle in der internationa-
len Steuervermeidung spielen.«
Snels’ Idee der Wegzugsteuer geht noch
deutlich weiter – und könnte zum Symbol
für den Kurswechsel werden. Derzeit wird
das Konzept vom Staatsrat geprüft, einem
Beratungsorgan der Regierung. Dabei geht
es insbesondere um die Frage, ob die Pläne
mit Europarecht kollidieren könnten.
Komplett neu sind Wegzugsteuern in
Europa nicht. So müssen Anteilseigner
deutscher Kapitalgesellschaften bei einem
Umzug ins Ausland seit Langem ihre stillen
Reserven versteuern. Die Regelung soll
sogar noch verschärft werden und ist auch
als »Lex Horten« bekannt: Die Bundes-
regierung beschloss sie 1972, nachdem der
Kaufhausunternehmer Helmut Horten sein
Vermögen steuersparend in die Schweiz
gebracht hatte. Die holländische Variante
würde sogar rückwirkend gelten und wäre
in ihrer Rigorosität ein Signal an andere
EU-Staaten, sich nicht länger Unterbie-
tungswettbewerbe zu liefern, hofft Snels.
Mal sehen, was das für die deutsche
Impfstoffhoffnung Curevac bedeutet. Der
Hersteller sitzt zwar bis heute in Tübingen,
wo er einst an der Uni gegründet wurde.
Doch kurz vor dem Börsengang in den
USA schlüpfte die Curevac AG unter das
Dach einer niederländischen Aktienhol-
ding. Die sei »ein (US-)Investoren geläufi-
ges Vehikel«, heißt es in einem Vermerk
des Bundeswirtschaftsministeriums. Noch.
David Böcking, Claus Hecking
K
eith Freeman ist noch da, aber der, dazwischen Zuliefergewerbe für die strahlen. Und für durchfahrende Touristen
die meisten anderen sind schon Öl- und Gaswirtschaft, ganze Parks mit gibt es die Carlsbad-Höhlen, die zweit-
weg. »Anfang des Jahres war Kränen und Kompressoren, Ersatzteil- tiefste bekannte Kalksteinhöhle der USA.
hier alles voll«, sagt Freeman, 34. händler, Pick-up-Verkäufer, hier und da Doch auch Touristen kommen derzeit
Der große Wohnwagenpark am Ortsrand, ein Bordell. Es ist seltsam still, als hätte je- keine.
auf dem sein Campingmobil steht, ist fast mand den Motor abgestellt. Die Pandemie hat die Wirtschaft in die
leer. Freemans Job ist es, Öl- und Gaspipe- »Nichts los hier«, sagt Freeman, der nie Knie gezwungen, die USA und die Welt
lines zu verlegen, auf den endlosen Ebe- in die Innenstadt geht. Bars gibt es wenige, verbrennen viel weniger Öl, also drosseln
nen rund um Carlsbad im Bundesstaat dafür 58 Kirchen für die verbleibenden die Förderfirmen die Produktion. Seit Jah-
New Mexico, im heißen, trostlosen Süd- rund 30 000 Bewohner. Offenbar braucht resbeginn ist die Fördermenge in den USA
westen der USA. man viel Beistand von oben, um es in dem um rund zwei Millionen Barrel pro Tag
Die wandernden Ölarbeiter, Tausende Ort auszuhalten. oder 15 Prozent gesunken.
von ihnen, Glücksritter wie einst die Gold- Denn alles, wovon Carls- Ausgerechnet die schwin-
sucher am Klondike-Fluss, haben die Be- bad lebt, kommt von unten, dende Nachfrage führt in
völkerung des Gebiets in der Chihuahua- liegt im Innern der Erde. New Mexico nun zu einer
Wüste zeitweise mehr als verdoppelt. Jetzt Heute sind es Öl und Gas, Umweltkrise: Aus den un-
sind sie abgezogen. früher gruben die Men- genutzten und nur ungenü-
Zurückgeblieben sind Dutzende leere schen hier nach Kalisalz, gend oder gar nicht versie-
Barackenlager, »Man Camps« genannt, auch Pottasche genannt, ei- gelten Förderanlagen tritt
und Hunderte stillliegende Öl- und Gas- nige Minen sind noch in das Klimagas Methan aus,
bohrstellen rund um die Stadt. Das Corona- Betrieb. ebenso wie andere schäd-
Guido Mingels / DER SPIEGEL
virus hat die US-Wirtschaft und den Öl- Das US-Energieministe- liche Stoffe. »Man kann es
preis infiziert. In der einstigen Boomstadt rium trieb in den Neunzi- förmlich riechen in der Um-
Carlsbad lässt sich besichtigen, welche gerjahren ein atomares gebung der Stadt«, sagt Na-
Lücken die schwindende Nachfrage nach Endlager in den Boden, thalie Eddy von der Umwelt-
dem schwarzen Gold reißt. wo radioaktive Abfälle in organisation Earthworks.
Äußerlich ist Carlsbad frei von Schön- Hunderten Meter Tiefe »Der chaotische Rückzug der
heit. Burger-Buden, Walmart und Pizza für die nächsten zehntau- Arbeiter Freeman Ölfirmen wird für New Me-
Hut reihen sich am Highway 285 aneinan- send Jahre vor sich hin »Immer auf und ab« xico zum Umweltproblem.«
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Eddie Moore / ZUMA PRESS / imago images
Paul Ratje / AFP / Getty Images
Es ist früher Abend, nur widerwillig Freeman glaubt fest daran, dass das Öl zu- Der Ölpreis habe sich bereits ordentlich
sinkt die Temperatur unter 100 Grad Fah- rückkommt. »Es ging schon immer auf und erholt, auf gut 40 Dollar pro Fass, immer-
renheit, beinahe 38 Grad Celsius. Freeman ab in unserer Branche. Öl kommt immer hin. Das ist zwar noch weit unter den
ist gerade von der Arbeit zurück, er ist zurück.« 60 Dollar vom Januar und noch viel
schmutzig und verschwitzt. Auf seinen Das Permian-Becken, Synonym für den weiter weg von den rund 100 Dollar, die
Oberarmen trägt er Rosentattoos und die amerikanischen Öl-und-Fracking-Boom ein Fass WTI vor sechs, sieben Jahren er-
Namen seiner Kinder, Aiden und Saige. der vergangenen Dekade, beherbergt die zielte. »Klar, es geht bergab, aber uns
Bei ihm ist die Krise als halbierte Lohn- größten Energierohstoffvorkommen der geht es besser als vielen anderen«, sagt
tüte angekommen, »früher habe ich 70 Stun- USA, das dort befindliche Spraberry/Wolf- Janway.
den oder mehr pro Woche gearbeitet – cam-Ölfeld gilt als zweitgrößtes der Welt. Er verweist auf die Arbeitslosenquote,
jetzt noch 40«. Die üppig bezahlten Über- Diese gigantische Ebene, deren Sediment- die mit gut fünf Prozent weniger als halb
stunden seien weg, es gebe nicht genug zu schichten vor 250 Millionen Jahren ent- so hoch ausfalle wie im nationalen Schnitt.
tun. In guten Zeiten malochen die Ölmän- standen, ist der Hauptgrund dafür, dass Er verweist auf die Baubranche, auf die
ner ein paar Jahre lang bis zum Umfallen, die USA im vergangenen Jahrzehnt, als Hotels und Apartmentkomplexe, die wei-
viele kommen damit auf 100 000 Dollar sich die Fracking-Technik Bahn brach, ihre ter errichtet werden, in Erwartung des
im Jahr oder mehr, ein sehr hohes Gehalt, Ölproduktion verdoppeln konnten und nächsten Aufschwungs.
zumal für ungelernte Kräfte und gemessen zum weltweit führenden Petrohersteller Worüber sich der Bürgermeister wirk-
am mittleren US-Jahreseinkommen von wurden. lich ärgert, sind die strikten Covid-Schutz-
knapp 33000 Dollar. Doch das Fracking, bei dem Gas oder regeln, die New Mexicos demokratische
Freeman blickt über den leeren Trailer- Öl mithilfe von Druck und Chemikalien Gouverneurin Michelle Lujan Grisham er-
park. Wo sind die anderen alle hin? »Nach aus den Gesteinsschichten gepresst wird, lassen hat. Anders als ihr republikanischer
Hause«, sagt er. Nach Oklahoma, Monta- ist aufwendig und teuer. Die Förderkosten Kollege Greg Abbott im benachbarten Te-
na, Kentucky, nach überallhin, von wo sie sind so hoch, dass sich das Geschäft erst xas hat sie früh eine Maskenpflicht verord-
eben gekommen waren, mit ihren Cara- ab einem Ölpreis von 40 bis 70 Dollar pro net. »This is America!«, empörte sich da-
vans oder Pick-ups, um die Erde anzuboh- Fass überhaupt lohnt, je nach Bodenbe- raufhin der Sheriff des Bezirks Eddy Coun-
ren, hier, im Permian-Becken, an dessen schaffenheit und -tiefe. Im April, auf dem ty, in dem Carlsbad liegt, und weigerte
westlichem Rand Carlsbad liegt und das ersten Höhepunkt der Pandemie, stürzte sich, die Einhaltung des Gebots durchzu-
sich über New Mexico und Texas erstreckt, der Ölpreis der Referenzmarke WTI auf setzen.
auf einer Fläche, so groß wie Rumänien. dem Terminmarkt erstmals in der Ge- Einige Restaurants in Carlsbad ignorier-
Schaut man sich das Gebiet auf Google schichte ins Negative: Wer seine Ende Mai ten das Verbot, Gäste in Innenräumen zu
Maps an, aus der Vogelperspektive, sieht auslaufenden Ölkontrakte zu dem Zeit- bewirten, und verloren prompt ihre Gast-
die Landschaft um Carlsbad stellenweise punkt verkaufen wollte, hätte fast 40 Dol- gewerbelizenz. Im Ort kam es daraufhin
aus wie perforiert – jeder Punkt ist ein lar draufzahlen müssen. zu öffentlichen Protesten. Zur Virus- und
Bohrloch. »Die Schweißer sind zuerst ge- Mehr als 20 Öl- und Gasproduzenten Ölkrise kam also noch der Kulturkampf
gangen«, sagt Freeman. »Die Schweißer in den USA mussten in diesem Jahr Insol- um Atemschutzmasken, um Kneipenöff-
gehen immer zuerst.« venz anmelden, und anders als sonst trifft nungsregeln, um die Freiheit. Carlsbad ist
Er selbst kam aus Bakersfield, Kalifor- es dieses Mal nicht nur die kleinen. Selbst nicht nur ökonomisch angeschlagen, es ist
nien, aber er will nicht mehr zurück, »zu den Branchenpionier Chesapeake Energy auch wütend.
teuer da«. Er guckt sich nach einem Haus aus Oklahoma hat es erwischt. »Man muss das verstehen«, sagt der Bür-
um in der Gegend, für seine Familie, aber Dale Janway, der Bürgermeister von germeister. Seine Stadt ist eine republika-
lieber drüben in Texas, dort sei es besser. Carlsbad, übt sich derweil in Zuversicht. nische Bastion im demokratisch dominier-
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Wirtschaft
Noch vor wenigen Jahren war der Alt- wie Ebay weiterverkaufen. Wenn diese
Ehrliche Maklerin
Sie fühlen sich durch die Grenzziehung im Mittelmeer übervor-
teilt. Tatsächlich ist vor allem das Ausmaß der »ausschließlichen
Wirtschaftszone« (AWZ) umstritten, jenes Meeresgebietes, zu
dem ein Staat exklusiven Zugang besitzt. Griechenland leitet von
Analyse Angela Merkel sollte ihren Einfluss nutzen, sämtlichen seiner Inseln eine AWZ im Radius von 200 Seemeilen
einen türkisch-griechischen Krieg zu verhindern. ab, was dazu führt, dass die Türkei trotz ihrer langen Küste nur
über eine kleine Wirtschaftszone im östlichen Mittelmeer verfügt.
Ein Umstand, den auch Völkerrechtler kritisch betrachten.
Selten waren Nato-Partner einem Krieg so nahe: Seit Wochen Als Griechenland und die Türkei in den Neunzigerjahren um
schaukelt sich der Streit zwischen der Türkei und Griechenland zwei unbewohnte Ägäis-Inseln stritten, verhinderte der damalige
um Territorien und Rohstoffe im Mittelmeer hoch. Sowohl US-Präsident Bill Clinton einen Krieg. Die USA fallen unter
Türken als auch Griechen haben jeweils ihre Marine mobilisiert. Donald Trump als Vermittler aus. Es liegt deshalb an Bundeskanz-
Und keine der beiden Seiten scheint bereit nachzugeben. lerin Angela Merkel, als ehrliche Maklerin zwischen den beiden
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan steht unter Nato-Partnern zu schlichten. Sie ist die einzige europäische Regie-
Druck. Die Wirtschaft ist im Jahresvergleich um 9,9 Prozent rungschefin, die über die nötigen Kontakte sowohl zu Erdoğan als
geschrumpft. Erdoğans Umfragewerte sind im Keller. Es wäre auch zu Griechenlands Premier Kyriakos Mitsotakis verfügt. Ein
jedoch falsch, sein Vorgehen im Mittelmeer ausschließlich mit erster Schritt wäre es, die beiden Rivalen zu einer gemeinsamen
innenpolitischen Motiven zu erklären. Erdoğans Haltung gegen- Nutzung der umstrittenen Gewässer zu bewegen – bis ein interna-
über Griechenland wird von einer Mehrheit der Türken geteilt. tionales Gericht den Konflikt dauerhaft klärt. Maximilian Popp
Atdhe Mulla
dersetzungen an der unmar- »schwache« Indien »Verant- europäische Kokainschmuggel verdienen.
kierten Himalaja-Grenze wortung und Konsequenzen« Geschichte SPIEGEL: Wie groß sind die
mindestens 20 Soldaten ums tragen müsse. Die USA, und Politik Chancen, dass es mit dem
Leben gekommen. Peking seit Langem bemüht, Indien in Graz. Er sieht auch nach Wahlsieg der Opposition
und Neu-Delhi gelobten in eine Allianz gegen China dem Wahlsieg der Opposition zu tief greifenden Reformen
Zurückhaltung, doch Ende einzubinden, stehen auf kaum Chancen auf einen kommt?
August folgte erneut ein Neu-Delhis Seite. Peking, so Machtwechsel in dem Balkan- Bieber: Das Bündnis ist sich
Zusammenstoß. »Dieser Vor- Außenminister Mike Pompeo, land. nur in einer Frage einig: Die
fall hat sich in einem anderen »mobbe« seine Nachbarn. Korruption soll bekämpft,
Gebiet ereignet«, warnt Im blockfreien Indien meh- SPIEGEL: Herr Bieber, in Ðukanovićs Netzwerke ent-
Generalleutnant a. D. Dee- ren sich nun Stimmen, die Podgorica hat ein Opposi- flochten werden. Ansonsten
pendra Singh Hooda, bis für einen engeren Schulter- tionsbündnis dem Dauer- ist die Opposition ideologisch
2016 Oberbefehlshaber von schluss mit Washington plä- herrscher Milo Ðukanović zersplittert, dabei sind pro-
Indiens Nordkommando: dieren: »Wir sollten unsere die Parlamentsmehrheit westliche EU-Anhänger, ser-
»Damit weitet sich der Kon- Beziehung zu den USA abgejagt. Gegen was für bische Nationalisten, Ver-
flikt aus. Ich halte es für aus- weiter vertiefen«, sagt Gene- eine Art Regime waren diese schwörungstheoretiker und
geschlossen, dass sich die ralleutnant a. D. Hooda. Parteien angetreten? Trump-Fans. Sie geben sich
Lage in den nächsten Mona- »Die Zeit strategischer Auto- Bieber: Seit 30 Jahren herr- derzeit dialogbereit, versi-
ten entspannt.« Beide Seiten nomie ist vorbei.« LH, BZA schen Ðukanović und seine chern, dass eine Koalition auf
beklagen die allmähliche postkommunistische Partei. jeden Fall an der Nato-Mit-
Auflösung des militärischen Sie gibt sich an der Oberflä- gliedschaft festhalten wird,
Grenzprotokolls, das jahr- che proeuropäisch, Monte- und auch, dass sie sich weiter
zehntelang den Ausbruch negro trat 2017 der Nato bei. an die EU annähern wird.
eines Krieges verhindert hat. Doch hinter dieser Fassade Doch die Frage ist, ob dieser
Yawar Nazir / Getty Images
Zugleich verstärken China hat Ðukanović sich den Staat taktische Konsens hält. Eine
und Indien ihre Grenztrup- völlig untergeordnet, ein gemeinsame Regierung wird
pen und überziehen einander klientelistisches und korrup- wohl eine Weile durchhalten,
mit politischen Drohungen. tes System geschaffen, er könnte sich aber auf lange
Indien sperrte diese Woche behandelt ihn wie sein Privat- Sicht zerstreiten.
118 chinesische Apps, darun- eigentum. Jeder noch so SPIEGEL: Werden denn Ðuka-
ter das populäre Kriegsspiel Indische Soldaten kleine Beamte muss in der nović und seine Partei von
Partei sein und ihr auch noch der Macht lassen?
Wählerstimmen zutragen. Bieber: Er selbst ist ja Präsi-
SPIEGEL: Diesem Staat dent und wird alle Mittel nut-
Schweden werden sogar Mafiaverbin- zen, Reformbestrebungen
Protestflotte im Skagerrak dungen nachgesagt. zu hintertreiben. Ðukanović
Bieber: Darüber gibt es im- muss nur einige Abgeordnete
Die schwedische Regierung des Mineralölkonzerns Preem mer wieder Gerüchte, die der Opposition auf seine
tritt gern als Vorreiter im der größte Produzent von aber schwer zu belegen sind. Seite ziehen, dann ist die Re-
Kampf gegen die Erderwär- Treibhausgas in Schweden. Sicher ist: Ðukanovićs Re- gierungsmehrheit dahin. JPU
mung auf. Nun aber befürch- Zugleich würden Hunderte
ten Umweltschützer einen neue Arbeitsplätze geschaffen.
schweren Rückschlag für den In Stockholm bahnt sich
Klimaschutz in dem Land. darum eine Zerreißprobe für
Durch den geplanten Ausbau die rot-grüne Regierung an.
der größten nordeuropä- Zwar sind die Grünen gegen
ischen Ölraffinerie in Lysekil den Ausbau, aber die Partei-
nördlich von Göteborg werde führung will sich nicht darauf
Milos Vujovic / Anadolu Agency / Getty Images
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Ausland
Trumps Schattenarmee
USA Sie tragen halbautomatische Waffen, Schutzwesten und patrouillieren durch die Innenstädte:
Bei den Protesten gegen Polizeiwillkür tauchen immer häufiger rechte Milizen auf,
aufgestachelt vom US-Präsidenten. Ihre Mission: Selbstjustiz und noch mehr Chaos.
E
ric Parker ist ein Mann mit dunk- ein weißer Polizist dem schwarzen Famili- wie die »Kenosha Guard«, die vorgaben,
lem Vollbart und angenehm sanf- envater Jacob Blake nach einer Kontrolle linke Gewalt verhindern und die Stadt ver-
ter Stimme, aber der harmlose sieben Kugeln in den Rücken geschossen. teidigen zu wollen.
Eindruck täuscht. Zum Gespräch Es folgten Proteste, die rasch eskalierten. Zwei Tage nach den Schüssen fuhr der
in einem Coffeeshop kommt er mit einer In der ersten Nacht brannten Häuser, Lä- 17-jährige Schüler Kyle Rittenhouse aus
Pistole der Marke Sig Sauer, Kaliber .40, den wurden geplündert. Auf der Gegen- dem benachbarten Illinois nach Kenosha,
halbautomatisch. Ein deutsches Fabrikat. seite formierten sich bewaffnete Milizen um mit einem halbautomatischen Gewehr
Sie steckt unter seinem karierten Flanell-
hemd. »Aus Ihrer Heimat«, sagt er.
Parker ist Republikaner und kandidiert
für einen Senatorenposten in seinem Bun-
desstaat Idaho. Und er ist der Gründer
und Anführer einer bewaffneten, rechten
Miliz in seinem Heimatstaat, die sich »The
Real 3%ers of Idaho« nennt. Die Prozent-
zahl verweist auf den Anteil der Bevölke-
rung, der angeblich im Revolutionskrieg
gegen die Briten im 18. Jahrhundert zu
den Waffen gegriffen hat. Das gilt als his-
torisch fragwürdig. Trotzdem tragen im
ganzen Land bewaffnete Gruppen die
»drei« im Namen.
Parker ist durch ein Bild landesweit be-
kannt geworden. Ein Fotograf hat die Auf-
nahme 2014 gemacht, auf dem Höhepunkt
eines bewaffneten Konflikts der Vieh-
züchterfamilie Bundy aus Nevada mit Bun-
desbeamten. Es ging um die Frage, ob die
Regierung Weideland besitzen darf. Die
Bundys behaupteten, dies sei verfassungs-
widrig und weigerten sich, für die Nutzung
der Weiden zu zahlen.
Das Foto zeigt Parker, wie er bäuchlings
mit Kampfweste und Sonnenbrille auf ei-
ner Brücke in Nevada liegt und mit seinem
Gewehr auf Polizisten zielt. Er saß deswe-
gen 18 Monate lang in Untersuchungshaft,
dann wurde die Anklage fallen gelassen.
Den Begriff Milizenführer lehnt Parker
ab. »Was eine Miliz ist, steht in der Ver-
fassung von Idaho«, sagt er. Die »Three
Percenters« seien eine Nichtregierungs-
organisation, also so etwas wie das Rote
Kreuz. Nur hat Parker nach eigenen An-
gaben 2500 Mann unter Waffen, die regel-
mäßig militärische Übungen abhalten.
»Wir bereiten uns auf Naturkatastrophen
vor, Überschwemmungen zum Beispiel«,
sagt Parker. »Und auf von Menschen ver-
ursachte Notsituationen.«
Zu solchen Notsituationen, wie Parker
sie nennt, zählen auch Unruhen und Pro-
teste gegen Polizeigewalt und -willkür wie
in Kenosha im Bundesstaat Wisconsin.
Dort hatte am vorvergangenen Sonntag Rechtsradikale bei Aufmarsch in Portland: »Wir haben die Verpflichtung, unsere Gesellschaft zu
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in der Hand Geschäfte zu schützen, wie einheimischer Terrorismus.« Jacob Blake, Griff bekommt. Noch immer sterben rund
er später sagte. der nach den Schüssen des Polizisten wohl tausend Amerikaner täglich.
Es kam zu Auseinandersetzungen, Rit- für immer gelähmt bleiben wird, erwähnte Der Präsident nutzt das Chaos und die
tenhouse gab Schüsse mit seiner Waffe ab. er mit keinem Wort. Dafür verteidigte der Unruhen, um zu zeigen, was den Vereinig-
Ihm wird vorgeworfen, zwei Menschen Präsident den Todesschützen Rittenhouse, ten Staaten angeblich droht, wenn die
erschossen und einen weiteren schwer ver- der vermutlich in Notwehr gehandelt habe. Demokraten die Macht erringen. Ihm
letzt zu haben. Rittenhouse, ein bekennen- Seit Wochen schürt Trump die Angst kommen dabei rechte Schlägertrupps und
der Trump-Fan, ist nun wegen zweifachen vor gewalttätigen Auseinandersetzungen bewaffnete Bürgerwehren zu Hilfe, indem
Mordes angeklagt. Seine Anwälte spre- in amerikanischen Städten und warnt vor sie die Eskalation mit vorantreiben.
chen von Notwehr. linken Horden, die angeblich das Land Seit im Mai ein weißer Polizist in Min-
Kenosha ist damit zum Wendepunkt in überrennen. Die Proteste kommen dem neapolis den Afroamerikaner George
einem immer erbitterter geführten Wahl- Präsidenten acht Wochen vor der Wahl ge- Floyd getötet hat, sind auf Anti-Rassismus-
kampf geworden. Am Dienstag flog Präsi- rade recht. In Umfragen liegt er trotz einer Demonstrationen immer häufiger Ange-
dent Donald Trump in die Stadt und ließ leichten Erholung hinter seinem Heraus- hörige rechter Milizen zu sehen. An einem
sich vor beschädigten Häusern filmen. Ein forderer Joe Biden. einzigen Wochenende im August kam es
gewalttätiger Mob habe Geschäfte zerstört, Zudem schadet ihm die Pandemie. in Oregon, Georgia und Michigan zu Kon-
öffentliche Gebäude niedergebrannt und Selbst in Trump-freundlichen Gegenden frontationen rechter Gruppen mit linken
Polizisten mit Steinen beworfen, sagte er. zweifeln viele Menschen inzwischen da- Demonstranten.
»Das ist kein friedlicher Protest, sondern ran, dass die Regierung das Virus in den In Portland im Bundesstaat Oregon, wo
es seit Monaten Proteste der »Black Lives
Matter«-Bewegung gibt, fuhren am Wo-
chenende nach den Todesschüssen von
Kenosha rund 2500 Unterstützer Trumps
mit Hunderten Autos durch die Stadt und
griffen Demonstranten mit Paintballpisto-
len und Reizgas an. Ein Mann wurde er-
schossen, nach ersten Erkenntnissen ein
Anhänger der »Patriot Prayer«, einer
rechtsextremen Gruppe aus der Region.
Noch ist unklar, wer ihn getötet hat.
Er kenne nicht genug Einzelheiten, um
den Fall Rittenhouse beurteilen zu können,
sagt Eric Parker in dem Café. Er stimme
grüßt. Als im April in Michigan Demons- gewehren und anderen Waffen herumzu- Der erste Einsatz von »American Wolf«
tranten unter dem Schutz bewaffneter ballern. fand in Olympia statt, Diaz’ Wohnort im
Milizionäre gegen die Corona-Einschrän- Seit dem Amtsantritt von Donald Bundesstaat Washington. Der Anführer
kungen protestierten, twitterte er: »Libe- Trump stehen Gruppen wie die »Three Per- fuhr mit Freunden auf der Ladefläche sei-
rate Michigan!« Befreit Michigan. Die centers« aber hinter der Regierung. »Da nes Pick-ups in die Innenstadt. Es war die
Historikerin Nicole Hemmer von der die rechten Milizen das Gefühl haben, der Probe für den Ernstfall.
Columbia University sagt, Trump habe amtierende Präsident sei auf ihrer Seite, ha- Auf dem Kopf trugen sie Kevlar-Helme,
während seiner Präsidentschaft immer ben sie ihre Botschaft geändert: nicht mehr ihre Oberkörper waren mit Splitterschutz-
wieder die Vorstellung befördert, dass Antiregierung, sondern Antiopposition«, westen gepanzert, in den Händen hielten
weiße Männer das Recht hätten, Gewalt schreibt der Rechtsextremismusexperte sie halbautomatische Gewehre. Sie sahen
anzuwenden. Alexander Reid Ross von der Portland aus, als würden sie gleich in Syrien ein-
Welches Kalkül dahintersteht, erklärte State University. Die rechten Milizen sind, marschieren. »Wir wollten zeigen, dass wir
Trumps scheidende Kommunikations- wenn man so will, Trumps Schattenarmee. da sind«, sagt Diaz.
chefin Kellyanne Conway vor Kurzem: Je Peter Diaz sagt, er finde es richtig, dass Das gestaltete sich aber schwieriger als
mehr Chaos, Anarchie, Vandalismus und Donald Trump im Juli Bundespolizisten vermutet. »Ein junger Typ hat mit Fla-
Gewalt herrschten, sagte sie, desto klarer nach Portland geschickt hat, um die Lage schen auf uns geworfen«, erzählt er. Was
sei es, wer für öffentliche Sicherheit, Recht unter Kontrolle zu bekommen. Der Bür- sollten sie tun? Den Mann einfach abknal-
und Ordnung stehe. Conway sprach offen germeister und der Gouverneur hätten len? Er schüttelt den Kopf. »Dann hast du
aus, was viele im Land befürchten: Die Ausschreitungen begünstigt. Sie seien kei- 50 Prozent der öffentlichen Meinung ge-
Gewalt, die Trump befördert, nutzt ihm ne »good guys«. Der good guy ist der Prä- gen dich. Das ist nicht effektiv.«
politisch. sident. Inzwischen hat Diaz seine Truppe mit
Nicht nur Milizenführer wie Eric Parker Diaz ist ein muskulöser Mann, der gern Paintballgewehren, Kabelbindern, Pfef-
vergleichen den Zustand inzwischen mit T-Shirts mit der Aufschrift »American ferspray und Blendlampen ausgestattet.
der Situation in Nordirland zu Zeiten der »Waffen haben wir auch dabei, aber außer
blutigsten Auseinandersetzungen. Die Ex- mir tragen alle sie verdeckt.« Dann fuhren
tremismusforscherin JJ MacNab von der »Wir nähern uns einem sie erneut nach Olympia, später auch nach
George Washington University warnte Punkt, an dem es keine Seattle und hinunter bis Portland. Sie woll-
jüngst bei einer Kongressanhörung davor, ten Präsenz zeigen, sie wollten klarma-
dass ein großes Ereignis genüge, um einen Rückkehr zur Normalität chen, dass jemand dagegenhält, falls es zu
Gewaltausbruch zu provozieren. Trump mehr geben wird.« Ausschreitungen kommt.
weiß, dass unter seinen Anhängern etliche Die Ereignisse der vergangenen Tage
sind, die mit der Waffe kämpfen würden, haben Diaz weiter darin bestärkt, dass er
nicht nur mit Worten. Nach Zählungen des Wolf« trägt. So heißt die eher kleine Bür- gut daran tut, sich auf das Schlimmste vor-
Southern Poverty Law Center, einer Bür- gerwehr, die er vor einigen Monaten ins zubereiten. Kyle Rittenhouse, den Todes-
gerrechtsorganisation, gab es 2019 im Leben gerufen hat. Der Name klinge gut, schützen von Kenosha, nennt er in einem
Land 181 Milizen. sagt er, »außerdem stehen die Mädchen Eintrag im Netz einen »bewaffneten Bür-
Das sind zwar weniger als zu Zeiten drauf«. ger, der seine Gemeinschaft schützt«. Das
Barack Obamas, aber es gibt einen ent- Für ihn ist »American Wolf« »irgendwo erste Opfer von Rittenhouse bezeichnet
scheidenden Unterschied: In der Vergan- zwischen Bewegung und Partei« angesie- er, genau wie der Präsident, als »einheimi-
genheit richtete sich die Wut der meisten delt. Nach seiner Darstellung ist die Grün- schen Terroristen«.
Bürgerwehren gegen die Regierung in dung seiner Miliz eine Art Notwehr gewe- Anfang der Woche schrieb Trump auf
Washington, die angeblich ihre Macht zu- sen, weil »Antifa-Fuckers«, linksextreme Twitter, dass die linken Bürgermeister und
lasten der Freiheit Einzelner ausweiten Krawallmacher, Aufruhr in die Städte ge- Gouverneure der Städte, in denen die Un-
wollte. Das Ziel der Milizen war offiziell tragen hätten, ohne dass die Polizei einge- ruhen stattfinden, die Kontrolle über Leu-
die Wahrung der Bürgerrechte, tatsächlich schritten sei. Diaz klingt bisweilen so, als te verloren hätten. »Die Anarchisten und
ging es vor allem um das Recht, mit Sturm- wolle er Trumps Reden kopieren. Agitatoren hören nicht mehr.«
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Der Kandidat trägt ein offenes Hemd
zu Sakko und heller Hose. Culp ist Poli-
zeichef in Republic, einem Ort nahe der
kanadischen Grenze. Er hat auf den ersten
Blick nichts mit Milizionären wie Diaz ge-
mein. Eine Sache eint sie allerdings: eine
eigenwillige Vorstellung von dem, was
Recht ist.
Als vor fast zwei Jahren in Washington
nach einer Volksinitiative das Mindestalter
für den Erwerb halbautomatischer Geweh-
re von 18 auf 21 Jahre heraufgesetzt wurde,
weigerte sich Culp, der Polizeichef, das
neue Gesetz anzuwenden. Es verstoße ge-
gen die Landesverfassung, die das Recht
der Bürger garantiere, sich mit Waffen zu
verteidigen, sagt er.
Babiš hat den Großteil seines Lebens damit In Brüssel ist Babiš vor allem wegen recht, wie Sie finden. Wer ist an dieser an-
verbracht, Milliardär zu werden. Er wuchs seiner Geschäfte umstritten. Europapar- geblich verzerrten Darstellung schuld?
als Sohn eines tschechoslowakischen Diplo- lamentarier kritisieren, EU-Subventionen Babiš: Was meine Person betrifft, geht es
maten in Genf und Paris auf und gründete in Millionenhöhe seien an seine Firmen ge- da um diese Geschichte mit dem angebli-
nach der Wende den Agrar-, Medien- und flossen, was der Premier bestreitet. Im chen Interessenkonflikt …
Chemiekonzern Agrofert, der zum viert- vergangenen Jahr protestierten in Prag SPIEGEL: Ihnen wird vorgeworfen, Ihren
größten Unternehmen des Landes wuchs. mehr als 200 000 Menschen gegen ihn, es ehemaligen Konzern Agrofert, der auch
Inzwischen ist Babiš einer der wohlha- war die größte Protestkundgebung seit in Deutschland tätig ist, noch immer aus
bendsten Männer Tschechiens. 30 Jahren. dem Hintergrund zu steuern und gleich-
2011 schuf er die Protestpartei Ano (»Ak- Babiš empfängt den SPIEGEL in seinem zeitig EU-Subventionen zu kassieren.
tion unzufriedener Bürger«), die bei der Prager Amtssitz an der Moldau. Es ist sein Babiš: Sollen reiche Leute nicht in die Poli-
Wahl zwei Jahre später zweitstärkste Kraft 66. Geburtstag, aber der Premier wirkt al- tik gehen können, obwohl sie im Unter-
wurde. Zunächst diente Babiš als Finanz- les andere als heiter. Das Gespräch beginnt schied zu denen, die von der Politik leben,
minister und Vizepremier, ehe er über Vor- mit einem Wutanfall. Er hat eine Liste mit nicht korrumpierbar sind? Das Ganze ist
würfe des Steuer- und Subventionsbetrugs SPIEGEL-Artikeln ausgedruckt. »Sie lügen, eine Erfindung der Brüsseler Kommission,
stürzte. Bei der folgenden Wahl holte seine um mir zu schaden«, sagt er. deren interner Auditdienst sich erlaubt,
Partei trotzdem die meisten Stimmen, Ba- tschechische Gesetze zu kommentieren
biš wurde Premier. SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, Sie ha- und zu erklären – das ist eine Frechheit.
Obwohl er Tschechien seit fast drei Jah- ben sich kürzlich darüber beklagt, dass ei- Nur tschechische Gerichte können das tun.
ren regiert, inszeniert er sich nach wie vor nige Staaten in der EU Ländern wie Un- Ich bin in die Politik gegangen, um mit
als Antipolitiker. Manche nennen ihn den garn, Polen und Tschechien mangelnde meiner Bewegung gegen die Korruption
»tschechischen Donald Trump«. Rechtsstaatlichkeit vorwerfen – zu Un- anzukämpfen, und habe dadurch sehr viel
Geld verloren. Und ich habe meine Unter- Mitglieder. Der Nato-Vertrag ist von 1949, vom Europäischen Gerichtshof verurteilt.
nehmen in Treuhandfonds überführt und Europa sollte eigene Ideen entwickeln, Warum akzeptieren Sie keine Flüchtlinge?
damit nichts mehr zu tun. mehr Verantwortung übernehmen. Zwei Babiš: Wer nach Europa will, muss legal
SPIEGEL: Ihre Kritik an Brüsseler Insti- Prozent vom Bruttoinlandsprodukt wie einwandern. Wir können über etwas wie
tutionen ähnelt der aus anderen osteuro- versprochen in die Verteidigung zu inves- Ellis Island sprechen, wo einst die Einwan-
päischen Ländern. In Ungarn und Polen tieren, das wird jetzt einfacher, weil überall derungsbehörde vor der Küste von New
herrscht die Meinung vor, die EU-Kom- die Wirtschaftsleistung sinkt, das habe ich York City war. Warum sollen illegale Ein-
mission sollte sich aus nationalen Belangen auch Donald Trump erklärt. wanderer über die EU verteilt werden?
möglichst heraushalten. SPIEGEL: Sie fordern eine schlankere, ef- Wir Tschechen sind auch so schon solida-
Babiš: Das sage ich nicht. Ich habe sehr fizientere EU. Wie soll das gehen? risch, wir geben viel Geld, wir stellen Poli-
gute Beziehungen zur EU-Kommission. Babiš: Ich habe, wie auch Österreichs zisten an der Grenze in Nordmazedonien.
Die zuständige Kommissarin für Rechts- Bundeskanzler Sebastian Kurz, die Kos- SPIEGEL: Tschechiens Verhältnis zu China
staatlichkeit ist übrigens Tschechin und Mit- ten vieler Institutionen in Brüssel kriti- scheint großen Schaden genommen zu ha-
glied meiner Bewegung Ano. Aber es müss- siert. Allein das Europäische Parlament ben, seit Ihr Senatspräsident an der Spitze
te mal definiert werden, was Rechtsstaat- kostet uns zwei Milliarden Euro pro Jahr. einer großen Delegation nach Taiwan reis-
lichkeit genau bedeuten soll. Das muss der Warum müssen die auf drei Orte verteilt te und Peking dadurch gegen sich aufbrach-
Europäische Gerichtshof entscheiden. sitzen und alle paar Monate mit ihren te. Fürchten Sie wirtschaftliche Folgen?
SPIEGEL: Viktor Orbán und Jarosław Ka- Akten nach Straßburg oder Luxemburg Babiš: Die Position meiner Regierung mit
czyński, die mächtigen Männer in Ungarn reisen? Oder lesen Sie den Bericht des Blick auf China unterscheidet sich nicht
und Polen, fordern ein Zurück zu mehr na- Rechnungshofs über die Kosten des von jener Deutschlands oder anderer Län-
tionaler Souveränität. Stimmen Sie zu? Europäischen Auswärtigen Dienstes: Wie der. Wir akzeptieren die Ein-China-Politik,
Babiš: Ich sehe das nicht so. Aber wir müs- viele Häuser die in Afrika und anderen haben es aber neuerdings mit »Außenpoli-
sen zurück zur europäischen Grundidee, Orten unterhalten – insgesamt 5000 Leu- tikern« wie dem Bürgermeister von Prag
zu den vier Freiheiten: die Freiheit von oder dem Senatspräsidenten zu tun, die
Warenverkehr, Personen, Dienstleistungen das anders sehen. Da geht es wahrschein-
und Kapital. Und: Wir sollten endlich auf- »Ich dachte, wir könnten lich um Innenpolitik, um Wählerfang.
hören, über Ost gegen West zu sprechen. SPIEGEL: Tschechien hat eine äußerst nied-
Stattdessen sollten wir uns fragen, warum
in Belarus so etwas rige Staatsverschuldung, die niedrigste Ar-
wir so lange warten, ehe wir Bulgarien, wie den November 1989 beitslosenzahl in der EU und eine Kauf-
Rumänien und Kroatien in den Schengen- bei uns erleben.« kraft der Bevölkerung, die vergleichbar
raum aufnehmen. Auch was wir mit den mit Italien ist. Und das, obwohl Ihr Land
Ländern des Westbalkan vorhaben – wol- seinen eigenen Weg geht – Nein zum Euro,
len wir sie dem Einfluss von Russland, Chi- te werden da beschäftigt, obwohl die Nein zu vielem, was aus Brüssel kommt.
na und der Türkei überlassen? Es scheint Außenpolitik in den einzelnen Ländern Babiš: Die Tschechische Republik ist ein
keinen Plan zu geben. Nehmen Sie Nord- gemacht wird. Da ist Raum für Einspa- Modell für die Zukunft. Viele Ausländer,
mazedonien: Dort wurden alle Bedingun- rungen. Franzosen und andere, kommen zu uns,
gen erfüllt, die für einen EU-Beitritt not- SPIEGEL: Halten Sie den Versuch, eine ge- die wohnen hier, fühlen sich sicher.
wendig sind, und trotzdem hat sich die EU meinsame europäische Außenpolitik auf- SPIEGEL: Dennoch zählen die Tschechen
lange nicht bewegt. zubauen, für überflüssig? zu den größten EU-Skeptikern – trotz 45
SPIEGEL: Es drängt sich der Eindruck auf, Babiš: Ich will, dass Europa stärker wird. Milliarden Euro Subventionen seit 2004,
dass sich in einer gespaltenen EU häufig Die Migration zum Beispiel ist ein gesamt- trotz Reisefreiheit und Binnenmarkt.
Deutschland, Frankreich und andere ge- europäisches Problem. Wir brauchen ei- Babiš: Das wird besser. Auch meinetwe-
gen Ungarn, Tschechien, Polen positionie- nen Marshallplan für Syrien, die Leute soll- gen, ich bin pro EU, ich kritisiere nur kon-
ren – also doch noch West gegen Ost? ten aus den Flüchtlingslagern in ihre Hei- krete Aspekte. Und mache Vorschläge,
Babiš: Das ist nicht die Wahrheit. Natür- mat zurückgehen, dort leben und arbeiten zum Beispiel in Sachen Außenpolitik.
lich sagt ihr im Westen: Wir geben denen können. Auch nach Tschechien kommen Wenn ich sehe, was Alexander Lukaschen-
im Osten doch viel Geld. Was nicht gesagt jährlich 60 000 Menschen – aber legal. ko in Belarus macht! Das ist unglaublich,
wird, jährlich fließen Milliarden Euro an Die EU-Quoten zur Umverteilung von deswegen habe ich mich dort mit dem
Gewinnen ausländischer Konzerne wie Flüchtlingen sind inakzeptabel. polnischen Premier engagiert und habe
Volkswagen, die bei uns investieren, zu- SPIEGEL: 2015 hätte Tschechien laut EU- auch mit der Kanzlerin telefoniert. An-
rück in den Westen. Beschlüssen 2691 Migranten aufnehmen fangs dachte ich, wir könnten in Belarus
SPIEGEL: Konzerngewinne haben aber mit müssen, weigerte sich aber und wurde dafür vielleicht so etwas wie den November
Subventionen wenig zu tun. Tschechien 1989 bei uns erleben.
profitiert erheblich von EU-Subventionen. SPIEGEL: Sie riskieren Tschechiens Ver-
Babiš: Selbstverständlich, aber Tschechien hältnis zu Russland.
wird reicher und bekommt dadurch immer Babiš: Die Beziehungen mit Russland sind
weniger Zuwendungen. Und: Ich brauche nicht ideal. Ein Sicherheitsrisiko sehe ich
Geld für Autobahnen, Krankenhäuser, nicht, wir sind ein selbstständiges Land
Schulen, Beton. Wir haben 5000 deutsche
Gabriel Kuchta / Getty Images
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Ausland
Allein in Minsk
wurde. Sie will nun mit EU und Nato
Schritte gegen Moskau besprechen. Was
würden Sie vorschlagen?
Babiš: Wenn wir Beweise in unseren Hän-
den haben, dass Nawalny ein Nervengift
verabreicht wurde und festgestellt wird, Belarus Trotz anhaltender Proteste wachsen die Chancen des
wer dahintersteckt, erfordert dies natürlich Despoten Lukaschenko, sich an der Macht zu
eine heftige Reaktion. Aber im Moment halten. Putin stützt ihn, und die Opposition ist zerstritten.
warten wir auf die nächste Entwicklung
und eventuelle Vorschläge.
SPIEGEL: Stimmen Sie mit Donald Trump
darin überein, dass man ein Land wie ein
Business führen soll?
Babiš: Wie eine Familienfirma, würde ich
P rotestbewegungen haben ihre Ritua-
le. In Minsk, in der Abenddämme-
rung auf dem Unabhängigkeitsplatz,
sieht das Ritual so aus: Ein paar Dutzend
Minsk wirkt in diesen Tagen wie eine
Stadt, die nach den großen Protesten der
vergangenen Wochen ein neues Gleich-
gewicht sucht. Präsident Lukaschenko,
sagen. Da zählt Solidarität, Vision und Ver- Frauen stehen dicht an dicht. Sie singen, angeschlagen nach seiner manipulierten
antwortlichkeit. Die Parallele zu Trump schunkeln hin und her und lächeln selbst- Wiederwahl, würde am liebsten die gesam-
besteht darin, dass er sagt, er möchte Ame- bewusst in die Augen der Sonderpolizei, te Protestbewegung niederschlagen, aber
rika »great again« machen. Ich wünsche die sich in Masken und schwarzer Uniform dafür ist sie zu stark.
mir das Gleiche für Tschechien. direkt vor ihnen positioniert hat. Erst auf Am Sonntag gingen abermals Zehntau-
SPIEGEL: Ist Trump ein Vorbild für Sie? den zweiten Blick sieht man: In der Mitte sende seiner Gegner auf die Straße, am
Babiš: Ich war früher Politiker als er. Und der Frauen stehen Männer, und das ganze Dienstag schlossen sich ihnen zu Semes-
noch immer nennt man mich einen Popu- Singen, Schunkeln und Lächeln hat den terbeginn Tausende Studenten an. Pro-
listen. Ich helfe den armen Leuten, und Zweck, sie vor dem Zugriff der Polizei zu teste gab es selbst an jenem Elitegymna-
davon gibt es viele bei uns. Ich habe früher schützen. Für Frauen und Männer gelten sium, an dem sich Lukaschenkos jüngster
Tennisbälle gesammelt für fünf Kronen in Alexander Lukaschenkos patriarchaler Sohn Nikolaj für dieses Schuljahr einge-
pro Stunde und später mein Haus mit den Diktatur unterschiedliche Regeln. Nach schrieben hatte.
eigenen Händen gebaut. Jetzt brauche ich einer halben Stunde zieht die Polizei ab, Die Protestbewegung hofft, den Präsi-
kein Geld mehr … es gibt freundlichen Jubel. denten aus dem Amt zu jagen – aber dafür
SPIEGEL: Ihr Privatvermögen wird auf
vier Milliarden Euro geschätzt.
Babiš: Jetzt ist meine Motivation: Ich
möchte anderen helfen.
SPIEGEL: Sie wollen sich bei der Wahl im
kommenden Jahr erneut aufstellen lassen.
Wo sehen Sie Tschechiens Zukunft – zwi-
schen West und Ost?
Babiš: Unser Land war vor dem Zweiten
Weltkrieg unter den zehn am stärksten in-
dustrialisierten Staaten in der Welt. Die
Waffenindustrie war weltweit führend. An
diese Tradition müssen wir anknüpfen.
Wir wollen wieder zu den Besten gehören.
Hier in Tschechien liegt die Zukunft.
SPIEGEL: In Prag gingen im November
mehr als 200 000 Menschen gegen Sie und
Präsident Miloš Zeman auf die Straße.
Trifft Sie das nicht?
Babiš: Nein, das sind Oppositionelle. Das
lässt mich kalt.
SPIEGEL: Die Opposition wirft Ihnen un-
verändert vor, sich im Amt zu bereichern.
Babiš: Die Opposition? Denen ging es, ob
Konservative oder Sozialdemokraten,
doch nach der Wende nur um eines: um
Geld und Macht. Die haben mich doch
erst als Politiker geboren!
SPIEGEL: Das Vermächtnis des Präsiden-
ten Václav Havel bestand darin, Politik
auch als moralische Instanz zu begreifen.
Was ist bei Ihnen davon noch übrig?
Babiš: Ich habe eine sehr gute Moral. Ich
lüge und ich stehle nicht, ich trinke nicht
zu viel, ich habe auch keine Geliebte. Und
was Havel angeht: Er hatte mich sogar zu
seinem 70. Geburtstag eingeladen.
Interview: Walter Mayr, Maximilian Popp
Demonstrantin in belarussischer Hauptstadt: Für Frauen und Männer gelten in Lukaschenkos
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ist sie wiederum zu schwach. Die Angst Ein Treffen Lukaschenkos mit Putin ist kowa ist es mit seiner Abreise noch etwas
ist längst zurück in Minsk. Sicherheitskräf- geplant. einsamer geworden.
te in Zivil greifen sich einzelne Demons- Putins Worte von der Eingreiftruppe Allerdings hat sie selbst ihre Mitstreiter
tranten heraus, belarussische Journalisten waren »ein Rettungssignal« für Lukaschen- irritiert. Am Montag kündigte sie überra-
befinden sich im Gefängnis, ausländische ko, sagt der belarussische Politologe An- schend die Gründung einer Partei namens
wurden des Landes verwiesen. drej Kasakewitsch. »Das war wichtig für »Zusammen« an, in einem Video mit ih-
Wie das Kräftemessen ausgeht, ist un- die Elite, gerade in den Sicherheitskräften: rem inhaftierten Chef Babariko.
gewiss, aber es gibt zwei Gründe, warum Russland unterstützt Lukaschenko. Also Der Bankier hatte die Botschaft noch
Lukaschenkos Chancen besser werden. hat er weiterhin eine Perspektive.« vor seiner Verhaftung im Juni aufgezeich-
Der eine Grund heißt Wladimir Putin. Der Am sichtbarsten ist Russlands Unterstüt- net. Entsprechend aus der Zeit gefallen
andere Grund ist Streit in der Protest- zung im belarussischen Staatsfernsehen, wirkt sein Auftritt. Man habe die Wahlen
bewegung selbst. das seit dem Aufstand einen Teil seiner leider verloren, sagt Babariko darin, nun
Russlands Präsident hat Ende August Belegschaft verloren hat. Es erhält nun Hil- müsse man sich auf eine Verfassungs-
klargemacht, dass er hinter Lukaschenko fe von Moskaus Propagandasender RT. Lu- reform und die Verbesserung der Wirt-
steht. Auf dessen Bitte habe er eine »Re- kaschenko dankte ausdrücklich den russi- schaft konzentrieren.
servetruppe an Ordnungshütern« bereit- schen RT-Journalisten, die ihn seit Kurzem Tichanowskaja rügte das Video scharf.
gestellt, um notfalls im Nachbarland für als Mitglieder des Präsidentenpools beglei- »Ich bin ausdrücklich nicht einverstanden
Stabilität zu sorgen, sagte Putin in einem ten dürfen. Vor laufender Kamera sagte er: mit der Behauptung, wir hätten nicht ge-
Fernsehinterview. »Versteht ihr, wie wichtig ihr für uns seid wonnen. Alle wissen, dass das nicht der
Fast täglich kommt es derzeit zu Begeg- in dieser schwierigen Zeit?« Fall ist«, schrieb sie in einer Stellungnah-
nungen zwischen hochrangigen Beamten Marija Kolesnikowa, eine der Anführer- me aus dem Exil. Deshalb sei es ja zu den
aus Moskau und Minsk. Am Mittwoch, innen der weitgehend führerlosen Protes- Protesten gekommen. Und sie sei »gegen
beim Treffen der Außenminister, warnte te, versucht, das Positive zu sehen. »Putin eine Änderung der politischen Agenda,
Russlands Sergej Lawrow vor Hunder- sagt, dass Lukaschenko ihn um Hilfe ge- indem man zur Erörterung einer Verfas-
ten in der Ukraine ausgebildeten Extre- beten habe. Ein Aufruf an ausländische sungsreform übergeht«. Lukaschenko wol-
misten, die sich angeblich in Belarus auf- Mächte zur Einmischung in innere Ange- le mit einer unklar formulierten Reform
hielten. Am Donnerstag besuchte Russ- legenheiten ist aber nach belarusischem nur seinen Abgang hinauszögern.
lands Premier Michail Mischustin Minsk. Recht strafbar, wir werden uns deshalb an Tatsächlich hat Lukaschenko selbst eine
Staatsanwaltschaft, Innenministerium und Verfassungsreform angekündigt und ein-
KGB wenden«, kündigt sie an. »Außer- gestanden, dass sein System »ein bisschen
dem sagt Putin: Wenn Menschen auf die autoritär« sei.
Straße gehen, muss man sie anhören und Tichanowskaja warnte: »Die Absicht,
einen Kompromiss suchen.« Stattdessen in nächster Zeit die Registrierung einer
laufe Lukaschenko mit einer Kalaschni- Partei zu beantragen, heißt: Man ist bereit,
kow durch seine Residenz. das Thema Machtwechsel zu ersetzen
Kolesnikowa ist vielen Belarussen aus durch die Bitte an die Staatsmacht, man
dem Wahlkampf bekannt. Sie hat den Stab möge die Gründung einer Partei erlau-
des Bankiers Wiktor Babariko geleitet, der ben.« Tatsächlich hat es in Belarus seit
nicht zur Wahl zugelassen wurde, und zwei Jahrzehnten niemand geschafft, eine
hat dann mit der gemeinsamen Kandidatin neue Partei zu registrieren.
der Opposition, Swetlana Tichanowskaja, »Sehr merkwürdig« wirke die Ankündi-
Kundgebungen abgehalten. Jetzt ist sie die gung von Kolesnikowa und Babariko vor
prominenteste Protestfigur, die noch im diesem Hintergrund, sagt auch der Polito-
Land und in Freiheit ist. loge Kasakewitsch. »Es ist logisch, wenn
Tichanowskaja ist im litauischen Exil, man schon Leute mobilisiert hat, daraus
Babariko seit Juni in Haft, und nun hat eine politische Partei formen zu wollen.
auch Pawel Latuschko Belarus verlassen. Aber der Zeitpunkt verwundert.«
Der ehemalige Kulturminister und Diplo- Kolesnikowa verteidigt sich gegen die
mat war das politisch erfahrenste Mitglied Kritik: »Wir sagen weiterhin: Die Mehr-
im Präsidium des Koordinierungsrats, je- heit der Belarussen hat für Swetlana ge-
nes Gremiums, das nach der Wahl für eine stimmt.« Aber Tichanowskajas Wahlerfolg
friedliche Machtübergabe gegründet wur- habe alle Erwartungen übertroffen. Baba-
de. Ihm gehören auch Kolesnikowa und rikos Videoauftritt stamme von Mitte Juni,
die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana man habe ihn nicht nachträglich umschnei-
Alexijewitsch an. den wollen. Und es gehe in dem Video
Latuschko hält sich derzeit in Polen auf, nicht um Lukaschenkos Verfassungs-
nachdem Lukaschenko im Fernsehen über reform, sondern um die, die Babariko
ihn gesagt hatte, er habe »eine rote Linie schon im Juni gefordert habe mit echter
überschritten«. Gewaltenteilung und einer Amtszeitbe-
»Lukaschenkos Worte waren eine direk- grenzung für den Präsidenten.
te Drohung«, sagt Kolesnikowa, »und das »Jetzt unterstellen uns manche schon,
ist empörend. Es ist nicht das erste Mal, der russische FSB stehe hinter uns. Aber
dass die Führung Leuten droht, die den wie kann man das behaupten, wenn Ba-
Dialog suchen.« bariko und sein Sohn Eduard seit mehr als
REUTERS
A
n diesem Tag in Kuba lieben ihn Hightech-Königreich entwickelt, zur viert- Kind einer verarmten Familie in Rom zur
alle. Sogar der Revolutionsführer größten Wirtschaftsmacht der Europäi- Welt kam. Schon früh wurde ihm einge-
Fidel Castro empfängt den spani- schen Union. Doch er selbst hat zuletzt schärft, dass er den Thron zurückgewinnen
schen König am Flughafen von nicht mehr begriffen, wie sehr sich auch sollte, den Großvater Alfonso XIII. im
Havanna herzlich. Später, als Juan Carlos die Spanier in dieser Zeit verändert haben. April 1931 widerstandslos geräumt hatte,
mit seinem Gefolge durch die Altstadt spa- Und dass sich die Monarchie an die neue als die Republik ausgerufen wurde. Sein
ziert, applaudieren die Bewohner aus Fens- Bürgerkultur anpassen und auf Privilegien Vater verhandelte mit dem Diktator und
tern und von Balkonen, zuweilen ertönt verzichten muss, will sie überleben. schickte den zehnjährigen Jungen allein in
ein »es lebe Spanien« und »viva el Rey«. Wie sah Spanien aus, als Juan Carlos am dessen Obhut nach Spanien zurück. Er
Bauarbeiter schütteln ihm die Hand. Eine 22. November 1975, zwei Tage nach dem habe sich »wie ein Pingpongball« zwischen
Straßenkehrerin bekommt von ihm Küsse Tod des Diktators, von beiden Kammern den beiden gefühlt, sagte Juan Carlos spä-
auf die Wangen gedrückt. des Parlaments zum König proklamiert ter in einem seiner seltenen Interviews.
»Niemals im Leben hätte ich mir so et- und fünf Tage später in der Hieronymus- Seine Lehrer erlebten einen schüchter-
was Wunderbares träumen lassen«, er- Kirche im Herzen der Hauptstadt gekrönt nen jungen Prinzen mit traurigem Blick.
zählt die Arbeiterin anschließend den be- wurde? Fast vier Jahrzehnte lang hatte Später, beim Studium in Madrid, galt er
gleitenden Journalisten, zu denen damals, Franco sein Volk in einem rückständigen, als sonderbarer Außenseiter, der von lin-
im November 1999, auch ich gehörte. Der von der katholischen Kirche streng regle- ken Studenten genauso angepöbelt wurde
spanische König war zu einem Gipfeltref- mentierten Regime isoliert. Damals trugen wie von Anhängern der falangistischen
fen der iberoamerikanischen Regierungs- selbst junge Frauen schwarz. Ohne Erlaub- Einheitspartei. Noch zu Beginn seiner Re-
und Staatschefs nach Havanna gekommen. nis des Vaters oder Ehemanns durfte keine gentschaft verspotteten ihn die Intellektu-
Er war 61 und genoss den Höhepunkt sei- ellen als »El Breve«, den Kurzen, der bald
ner internationalen Anerkennung. Auch abtreten würde.
zu Hause schätzten ihn die Leute, egal ob Doch der Franco-Zögling überraschte
sie eher links oder rechts wählten. Als Paparazzi den die Spanier, als er sich nach wenigen Mo-
An diesen Tag musste ich denken, als Zeitungen Nacktfotos naten von der Bestimmung des Diktators
unlängst eine Internetzeitung den Spaniern befreite. Bereits im Juli 1976 holte er mit
ganz andere Bilder zeigte: Da stützt sich anboten, wollte Adolfo Suárez einen jungen Juristen als
ein alter Mann, das Gesicht verborgen hin- sie keiner drucken. Ministerpräsidenten, für den damals selbst
ter einer Corona-Maske, schwer aufs Ge- die Töchter der Franco-Elite schwärmten.
länder der Gangway eines Privatflugzeugs. Suárez half dem König mit seinen Bezie-
Das hat ihn aus dem äußersten Nordwesten hungen zu den Größen des alten Regimes,
seines Königreichs auf einen anderen Kon- ins Ausland reisen. Nur die wenigsten den Franquismus zu entmachten und Spa-
tinent getragen. Juan Carlos I., 82, inzwi- Familienoberhäupter verfügten über ein nien in eine Demokratie zu verwandeln:
schen abgedankter König, hatte seinem Bankkonto. In den Dörfern regierten der Das Ständeparlament wurde aufgelöst,
Land den Rücken gekehrt, geschlagen mit Pfarrer und die Militärpolizei Guardia eine Amnestie für politische Häftlinge er-
Krankheit und Verachtung vieler seiner Civil. Nur Privilegierte hatten ein Auto. lassen, Parteien wurden legalisiert. Sogar
Landsleute wegen diverser Skandale, be- Juan Carlos verkörperte den Neuanfang die Kommunisten durften an den ersten
lächelt von der halben Welt. in einem verknöcherten Land. Gleich nach Wahlen 1977 teilnehmen.
Erst zwei Wochen später ließ er sein Rei- seiner Krönung reiste der junge König mit Eine Kommission, in die alle gewählten
seziel bestätigen: In Abu Dhabi hat er sich seiner Frau Sofía – Prinzessin von Grie- Parteien Vertreter entsandten, erarbeitete
vorläufig bei seinem Freund, Prinz Moha- chenland und Schleswig-Holstein, Uren- eine neue Verfassung. Darin verzichtet der
med bin Zayed, zurückgezogen. kelin des letzten deutschen Kaisers – durch König auf die absoluten Machtbefugnisse,
Zu vieles hat er in den vergangenen Jah- die Regionen von Andalusien bis ins Bas- die ihm Franco zugedacht hatte. Juan Car-
ren falsch gemacht. Er ist zur Belastung kenland. Die »alemana«, die Spanisch mit los wollte der König aller Spanier sein. Er
für seinen Sohn geworden, König Felipe merkwürdigem Akzent sprach, hörte Feld- hatte verstanden, dass die Monarchie nur
VI., eine Belastung auch für die Monar- arbeiterinnen genauso freundlich zu wie auf diese Weise Zukunft haben würde.
chie, ja für die Stabilität des politischen Fischern. Monarchisten gab es damals nur Bis heute muss für Handlungen des Mo-
Systems seiner Heimat. Am Aufstieg und sehr wenige. Und so war es auch Sofía zu narchen immer ein Mitglied der gewählten
Fall von Juan Carlos I. lässt sich erklären, verdanken, dass die »Reyes«, die von Gna- Regierung die Verantwortung überneh-
welchen tiefen Wandel Spanien in den den des Diktators eingesetzten spanischen men, er selbst hat keine Möglichkeit zu
vergangenen 45 Jahren vollzogen hat, seit Royals, nach und nach selbst Menschen entscheiden. Fast alle Abgeordneten nah-
Diktator Francisco Franco verstarb. Mit- für sich einnahmen, die ihre Hoffnungen men die Verfassung an, auch die Spanier
hilfe des Königs, der aus der Dynastie der in die Republik gesetzt hatten. stimmten ihr per Referendum zu.
Bourbonen stammt, hat sich das Land vom Das war nicht selbstverständlich für Während Juan Carlos im Ausland ge-
beinahe mittelalterlichen Ständestaat zum Juan Carlos, der 1938 im Exil als zweites achtet wurde, wuchs im Inneren die Un-
2006
Rann Safaris / Sipa Press
bridgeman images
1975
2020
zufriedenheit der Franquisten. Besonders glauben lassen, sie handelten im Namen Volk durch ein Referendum seine Zustim-
im Offizierskorps und bei der militärischen des Königs. mung gegeben hat«, sagte der König.
Polizeitruppe verstärkte sich die Unruhe. In seiner Residenz im Zarzuela-Palast Der Putsch scheiterte. Mit seinem Be-
Am Nachmittag des 23. Februar 1981 telefonierte er stundenlang mit den Kom- kenntnis zur Verfassung gewann der König
nahm die Guardia Civil im Parlament die mandeuren der Truppen. Er machte ihnen die Herzen der Spanier. Sie wurden zu
Abgeordneten als Geiseln, Komplizen be- klar, dass er als Oberbefehlshaber der Juancarlisten, wenn auch nicht zu Mo-
setzten die öffentliche Rundfunkstation. Streitkräfte den Putsch nicht deckte. Sei- narchisten.
Es war der erste schwere Test für den Kö- nen Sohn, den 13-jährigen Felipe, behielt Es begannen gute Jahre. Spanien wurde
nig und die junge Demokratie. er an der Seite, um ihn zu lehren, wie ein Mitglied der Nato und trat der Europäi-
Eine Fernsehkamera nahm auf, wie König solche Krisen löst. schen Wirtschaftsgemeinschaft bei. Auch
der Kommandeur der Guardia Civil mit Schließlich wandte sich Juan Carlos im die Streitkräfte lernten demokratische
erhobener Pistole Schüsse abgab und die Fernsehen ans Volk und an die hohen Mi- Spielregeln. Autobahnen und Flughäfen,
Politiker auf dem Boden zwischen den litärs, die noch zögerten, sich dem Putsch Meerentsalzungsanlagen und Windparks
Bankreihen Deckung suchten. Juan Carlos anzuschließen. Die Krone könne »Hand- sowie der Hochgeschwindigkeitszug AVE
blieb nur deshalb als Einziger aus der lungen und Aktionen nicht hinnehmen, wurden mit Milliardenhilfen aus Brüssel
Staatsführung auf freiem Fuß, weil sein mi- die bezwecken, den verfassungsmäßigen finanziert. Der König habe in diesen Jah-
litärischer Ausbilder die Verschwörer hatte Prozess aufzuhalten, dem das spanische ren »Spanien in einer ganzen Reihe
91
Ausland
schwieriger Situationen fantastische Diens- König entzweite, war jedoch nicht die Af-
te erwiesen«, verteidigt Felipe González, färe. Sie nahmen ihm übel, dass er sich auf
lange Zeit Ministerpräsident und Chef der einer Lustreise amüsierte, als Spanien vor
Sozialistischen Arbeiterpartei PSOE, bis dem Staatsbankrott stand.
heute den König. Juan Carlos hatte es ge- Zu Hause beschnitt der konservative
schafft, Spanien wieder Ansehen in der Regierungschef immer mehr Sozialleistun-
Welt zu verschaffen. gen, Millionen Arbeitsplätze, vor allem
Auch mit Journalisten ging er freundlich für junge Leute, gingen verloren. Auch
um. Ich erinnere mich, wie er uns Aus- stand der Lieblingsschwiegersohn, Iñaki
landskorrespondenten bei Reisen und Urdangarin, ehemaliger Handballprofi
Empfängen immer wieder auf Englisch, und Mann der Tochter Cristina, unter An-
Französisch und gelegentlich sogar mit ein klage, mit einer gemeinnützigen Stiftung
paar Wörtern auf Deutsch ansprach. Mit öffentliche Gelder veruntreut zu haben.
öffentlicher Kritik verschonte ihn die Das alte Übel der Korruption hatte
Presse – auch wenn der Lebensstil des Kö- das spanische Königshaus, für alle Welt
nigs allerhand Stoff für Gerüchte bot. sichtbar, erfasst. Deshalb sah sich Juan
Auf Mallorca wusste man um eine Lieb- Carlos 2012 gezwungen, bei der Entlas-
schaft mit einer Dekorateurin. Die Haupt- sung aus dem Krankenhaus sein Volk
städter raunten, ihr König brettere nachts um Verzeihung zu bitten: »Es tut mir
93
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Sport
Durchschnittliche Jahresgehälter im Frauenfußball* in Euro
*Saison 2017/18 bzw. 2017 (USA); Quelle: Global Sports Salaries Survey
National Women’s
Division 1 Féminine Frauenbundesliga FA Women’s Super League Soccer League
Frankreich Deutschland England USA
Jahresgehalt von
rund Pernille Harder:
rund FC Chelsea
Erste Männerligen zum Vergleich, 170 000
Saison 2020/21
Saison 2019/20 bzw. 2019 (USA):
1,2 Mio. 1,8 Mio. 3,6 Mio. 370 000
Die Fußballerin Pernille Harder erzielte für den deutschen Meister VfL Wolfsburg in 114 Pflichtpartien 105 Tore, eine
sensationelle Quote. Kommende Saison spielt die Dänin für den FC Chelsea. Viele Topklubs in England investieren
inzwischen verstärkt in den Profifußball der Frauen. Harder wird mit einem Jahresgehalt von 170 000 Euro zu
den bestbezahlten Spielerinnen der Womens’s Super League gehören. Im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen
ist ihr Gehalt jedoch mehr als bescheiden. 170 000 Euro verdienen die Stars der Premier League in einer Woche.
Gut zu wissen
hirnerschütterungen und rund 600 Weich- nicht. Der Quarterback hat bei den
teilverletzungen. Kansas City Chiefs gerade einen Zehn-
Setzt ein Spieler diese Saison aus, mini- jahresvertrag unterschrieben, der ihm
miert er sein Infektions- und Verletzungs- rund 500 Millionen Dollar einbringen
risiko und kassiert dennoch 150 000 Dol- könnte. Die Saison auszusetzen war für
lar. Gehört er zu einer Corona-Risikogrup- Footballprofi Hightower (r.) ihn keine Option. JOK
Sturm, 41, 1979 unter dem Namen Adnan Sturm: Zu Hause habe ich mich von SPIEGEL: Sie saßen knapp neun Monate
Ćatić in Leverkusen geboren, war zwischen meiner Frau und meinen Kindern ver- lang in Untersuchungshaft. Wie waren die
2003 und 2016 fünfmal Weltmeister. Der abschiedet und gesagt: Wir sehen uns Umstände?
Mittelgewichtler war ein Publikumsliebling, heute Abend. Dann standen auf der Mes- Sturm: Ich war zuerst im Hochsicherheits-
boxte vor fast 20 000 Zuschauern. Stars se plötzlich Herrschaften vor mir und trakt der JVA Köln. Es gab ein großes ver-
wie der Fußballer Lukas Podolski saßen bei meinten, sie müssten mal mit mir reden, gittertes Fenster. Die ersten fünfeinhalb
seinen Auftritten am Ring, am Bildschirm sie hätten einen Haftbefehl gegen mich. Monate habe ich auf eine rote Backstein-
verfolgten Millionen seine Kämpfe. Im Ge- Am Anfang dachte ich noch, das wäre wand gestarrt. Zwei Stunden am Tag konn-
spräch mit dem SPIEGEL äußert er sich jetzt ein Witz. Versteckte Kamera oder so. te ich laufen. Eine Runde waren 60 Schrit-
erstmals über seinen Prozess. Dann habe ich gemerkt, dass die anderen te. Ich bin 150 bis 200 Runden gelaufen,
Leute um mich herum alle ziemlich blass um auf Kilometer zu kommen.
SPIEGEL: Herr Sturm, Sie wurden am geworden sind. Da wusste ich, dass es SPIEGEL: Wie haben die übrigen Gefange-
5. April 2019 auf einer Fitnessmesse in ernst ist. nen auf Sie reagiert?
Köln verhaftet, weil Sie Steuern in Mil- Sturm: Relativ normal. Hochsicherheits-
lionenhöhe hinterzogen haben sollen. Wie * Links: nach seinem Sieg im WM-Kampf gegen den trakt bedeutet natürlich, dass es da Leute
erinnern Sie sich an den Tag? Russen Fjodor Tschudinow 2016 in Oberhausen. gibt, die nicht ohne sind. Aber die meisten
96
Sport
haben sich bei mir freundlich vorgestellt. haben mich nicht interessiert. Heute bin Sturm: Wie gesagt, über die absurden Ge-
Gewalt unter den Inhaftierten oder Ähn- ich schlauer. schichten von diesem Mann werde ich kein
liches, was man aus Filmen kennt, das SPIEGEL: Profiboxen ist ein Geschäft, in weiteres Wort verlieren.
gab’s nicht. Montag bis Freitag hatte ich dem oft betrogen wird. Titel werden ge- SPIEGEL: Haben Sie den Superchampion-
drei Stunden Freizeit, da haben wir ge- kauft, Urteile von Ringrichtern manipu- titel gekauft?
kickert und Karten gespielt. Ich habe im liert. Sie haben sich jahrelang in dem Sturm: Nein, selbstverständlich nicht. Ich
Knast Mau-Mau gelernt. Milieu bewegt. Wurden Sie selbst schon habe mir jeden Titel meiner Karriere hart
SPIEGEL: Sie sollen zwischen 2009 und mal betrogen? erarbeitet.
2017 insgesamt 5,8 Millionen Euro Steuern Sturm: Dieser Ruf eilt dem Boxsport lei- SPIEGEL: Sie haben als Weltmeister eben-
hinterzogen haben, indem Sie Kampfbör- der voraus. Sicherlich in einigen Fällen falls von umstrittenen Urteilen profitiert.
sen in der Schweiz parkten, am deutschen auch gerechtfertigt. Aber deswegen den Bei Ihrer Titelverteidigung gegen den
Fiskus vorbei. gesamten Sport unter Generalverdacht zu Briten Matthew Macklin sahen die meis-
Sturm: So lautete die Anklage. In der stellen, ist ganz sicher falsch. Vor einiger ten Experten Ihren Gegner vorn. Aber
Gerichtsverhandlung ist klar geworden, Zeit habe ich einen Artikel über die größ- der Sieg ging an Felix Sturm.
dass das so nicht gelaufen ist. Ich wurde ten Skandalurteile im Boxen gelesen. Auf Sturm: Wenn man erfolgreich ist, hat man
2006 von dem Finanzberater Hans Peter Platz sechs stand mein Kampf gegen Oscar irgendwann einen Status. Das ist aber et-
Moser angesprochen, der mir ein Modell de la Hoya. was ganz anderes, als sich Titel zu erkau-
vorgestellt hat, was mich von meinem SPIEGEL: Sie kämpften 2004 in Las Vegas fen. Der Favorit hat immer einen Vorteil.
damaligen Boxstall Universum unabhän- gegen den damaligen Weltmeister. Alle Ex- Das ist nicht nur im Boxsport so.
gig machen sollte. Meine Gagen flossen perten sahen Sie als Außenseiter damals SPIEGEL: Sie scheinen jemand zu sein,
an seine Schweizer Firma Concret, die nach zwölf Runden vorn, trotzdem wurde der auch durch Betrügereien versucht hat,
dann entsprechende Leistungen für mich de la Hoya zum Sieger erklärt. das Schicksal in die gewünschte Richtung
erbrachte. Sturm: Das Urteil war falsch. Aber am zu lenken. Nach Ihrem letzten WM-Sieg
SPIEGEL: Welche denn? Ende hat mir die Niederlage mehr ge- 2016 gegen den Russen Fjodor Tschu-
Sturm: Der Vertrag sah vor, dass ich mei- bracht als ein Sieg. Ein großer Hype ent- dinow wurden Sie positiv auf das Ana-
ne Börsen an Concret abtrete und dafür stand. Ich war mit einem Schlag auch in bolikum Stanozolol getestet und wegen
jedes Jahr eine Garantiesumme erhalte, Amerika bekannt. Dopingmissbrauch und Körperverletzung
egal wie meine Kämpfe ausgehen. Das hat SPIEGEL: De la Hoya hatte bereits einen verurteilt.
unheimlich Druck von mir genommen. Im Kampf um alle vier Mittelgewichtsgürtel Sturm: Ihre provokante Fragestellung
Boxen ist es ja so: Einmal verlieren ist muss ich im Moment leider so hinnehmen.
okay. Aber danach wird schon spekuliert: Ich kann Ihnen dennoch versichern, dass
Verkraftet er das? Kommt er zurück? Das ich nie gedopt habe.
war bei mir nach einem schweren Knock- »Boxen ist meine Leiden- SPIEGEL: Wie kamen dann die Anabolika-
out 2006 auch so. Verliert man ein weite- schaft, und man verdient spuren in Ihren Urin?
res Mal, ist man so gut wie raus. Dazu Sturm: Genau das ist die Frage, die ich
kommt die Gefahr von Verletzungen. Die gutes Geld dabei, also seit vielen Jahren versuche zu beantwor-
garantierten Mindestsummen gaben mir eine ideale Kombination.« ten. Zur Vorbereitung auf den Kampf ge-
Sicherheit. Das war wie eine Versicherung. gen Tschudinow war ich drei Wochen im
SPIEGEL: Am Ende wurden Sie trotzdem Trainingslager in Kitzbühel, auf Wunsch
wegen einer Million Euro nicht gezahlter meines Trainers. Einfach, um aus meinem
Steuern verurteilt. geplant. Ein Sieg von Ihnen hätte diesen gewohnten Umfeld herauszukommen. Im
Sturm: Die Strafe bezog sich vor allem Megafight verhindert. Wurde der Kampf Verfahren kam der Vorwurf auf, dass ich
auf die Jahre 2008 und 2009. Über die verschoben? nach Österreich gereist sei, um zu dopen.
muss man nicht lange streiten. Die Zah- Sturm: Wenn man mitbekommt, was im Warum sollte ich das tun? Stanozolol gibt
lungen sind damals meinerseits falsch Hintergrund gelaufen ist, mit den Promo- es als Tabletten und in Ampullen. Das
abgewickelt worden. In der Untersu- tern, den Fernsehsendern, da muss man könnte ich überall einnehmen.
chungshaft hatte ich Zeit, mich mit Steu- sich schon Gedanken machen. Ich habe an SPIEGEL: Der Kampf gegen Tschudinow
errecht zu beschäftigen. Da wurde mir erst diesem Abend sicherlich am schlechtesten fand in Oberhausen statt. Sie kamen dank
mal bewusst, wie viel da schiefgelaufen von allen verdient. Ihrer Physis zum Arbeitssieg. Nach dem
ist. Mein größter Fehler war, dass ich ein- SPIEGEL: Auch Sie sollen bei Tricksereien Fight mussten Sie zur Dopingkontrolle.
fach so die Steuererklärung unterschrie- mitgemacht haben. Ihr Titel als Supercham- Gegen 1.30 Uhr war das Prozedere abge-
ben habe. Ich kann nur jedem empfehlen, pion der World Boxing Association (WBA) schlossen.
seinem Steuerberater nicht blind zu ver- sei 2010 erkauft worden, behauptet Ahmet Sturm: Richtig. Dann hat das Ehepaar, das
trauen. Das habe ich getan, und dafür bin Öner, ein Boxpromoter, mit dem Sie vor die Kontrolle durchgeführt hat, die Urin-
ich verantwortlich. Jahren kurz zusammengearbeitet haben probe über Nacht mitgenommen.
SPIEGEL: Erschwerend kam hinzu, dass und der sie später schwer beschuldigt hat. SPIEGEL: Was wollen Sie damit andeuten?
Sie bereits wegen Steuerhinterziehung vor- Sturm: Zum einen muss ich Ihnen deutlich Sturm: Nichts. Ich berichte nur, wie der
bestraft waren. widersprechen. Ich habe bei keinen Trick- genaue Ablauf dieser Dopingprobe ge-
Sturm: Richtig. Das bezog sich auf die Zeit sereien mitgemacht, und zum anderen wesen ist. Genau wie Sie das getan haben.
2001 bis 2006. Für diese Zeit habe ich kei- habe ich nie mit diesem Mann zusammen- Ich unterstelle niemandem etwas, aber ich
ne Einkommensteuererklärung abgegeben. gearbeitet. Er hat diese Geschichte erfun- schließe auch nichts aus.
SPIEGEL: Warum nicht? den, weil er gerne bei uns dabei gewesen SPIEGEL: Im Zuge des Verfahrens äußer-
Sturm: Weil ich mich einfach nicht drum wäre. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. ten Sie den Verdacht, dass Ihnen das Mittel
gekümmert habe. Ich habe geboxt und SPIEGEL: Öner hat Ihnen vor einigen Jah- ohne Ihr Wissen nach dem Kampf in ein
geglaubt, ich wäre der Größte. Ich war ren vorgeworfen, einen Mordkomplott ge- Getränk gemischt worden sein könnte. Die
jung und naiv, ich hatte Spaß, ich habe gen ihn geschmiedet zu haben. Zeitweise Ermittler fanden jedoch keinen Hinweis
gelebt, ich war wild zu der Zeit. Steuern ermittelte die Staatsanwaltschaft. für eine Manipulation.
Signal
genügend Beispiele, bei denen Leuten men klar.
etwas untergeschoben wurde. Ich kann SPIEGEL: Müssen Sie aus finanziellen
nichts beweisen. Genau, wie es für meine Gründen wieder Boxen?
Schuld keine Beweise gibt. Die Nationale Sturm: Ich muss weiter Geld verdienen.
Anti-Doping-Agentur Nada hat nur Ver- Boxen ist meine Leidenschaft, und man Fußball Der Streit der Bundes-
mutungen. Ein Gutachten der Sporthoch- verdient gutes Geld dabei. Also für je- länder um die Corona-Regeln
schule Köln hat bestätigt, dass es auch manden wie mich eine ideale Kombina- verzerrt den Wettbewerb: Manche
möglich ist, dass ich das Stanozonol über tion.
verunreinigte Lebensmittel aufgenommen SPIEGEL: Es wird über einen Kampf gegen Vereine spielen vor Zuschauern,
habe. Bei mir wurden nur 30 Pikogramm Ihren früheren Rivalen Arthur Abraham andere vor leeren Rängen.
gefunden, eine verschwindend geringe gesprochen. Abraham ist 40 Jahre alt.
Menge. Experten sprechen von einem Fight der
SPIEGEL: Stanozonol fördert das Muskel-
wachstum und verbessert die Regenera-
tionsfähigkeit nach harten Trainingseinhei-
ten. Es kann Boxern nützen.
Boxrentner.
Sturm: Das kann jeder nennen, wie er
möchte. Niemand wird gezwungen, sich
einen solchen möglichen Kampf anzu-
D ie Zusage erreichte die Geschäfts-
stelle der Roten Bullen am Diens-
tagmittag schneller als erwartet.
Eigentlich hatten die Verantwortlichen
Sturm: Ich bin ein Kämpfer, der sich im sehen. Ich glaube, so ein Kampf wäre gut des Fußballklubs RB Leipzig frühestens
Ring viel bewegt. Keiner, der den Gegner für das deutschen Boxen. für Mittwoch mit der Nachricht der Stadt
unbedingt umhauen will. Für mich ist SPIEGEL: Wenn das Dopingurteil bestätigt gerechnet, dass zum Start der Bundesliga-
Schnellkraft und Ausdauer wichtig, nicht wird, dürfen Sie gar nicht boxen. saison wieder Tausende Zuschauer in ihr
Muskelkraft. Sturm: Weder der Bund Deutscher Berufs- Stadion dürfen.
SPIEGEL: Es wurde auch schon anderen boxer noch der Weltverband WBA haben Das Gesundheitsamt hatte wohl wenig
Profiboxern Anabolikamissbrauch nach- mich bislang gesperrt. Hätte es die Corona- Bedenken, trotz der Corona-Pandemie
gewiesen. krise nicht gegeben, hätte ich bereits wie- 8500 Fans zum ersten Spiel gegen Mainz
Sturm: Warum sollte ich für meine Kar- der im Ring gestanden. am 20. September zuzulassen. Das Sta-
riere, nach so vielen Erfolgen, ein Risiko SPIEGEL: Die dreijährige Gefängnisstrafe dion darf damit zu einem Fünftel ausge-
eingehen, mit so einem Mittel erwischt zu müssen Sie aber noch verbüßen, oder? lastet werden. Die Arena ist modern, ver-
werden und dann alles für immer beschä- Sturm: Ich saß acht Monate und 17 Tage fügt über viel Freifläche und zahlreiche
digt zu haben? Das ergibt keinen Sinn. Die in U-Haft. Diese Zeit muss mir angerech- Ein- und Ausgänge. Die Fans, so sieht es
Nada kann mich 24 Stunden am Tag tes- net werden. Ich hoffe auf die Anerken- das Konzept vor, sollen je nach Platz zu
ten. Ich war und bin sauber. nung einer Halbstrafe und dass ich meine unterschiedlichen Zeiten eingelassen wer-
SPIEGEL: Verstehen wir Sie richtig: Die restliche Haftzeit im offenen Vollzug den, damit sich keine Schlangen bilden.
Steuerdelikte räumen Sie ein, das ist für ableisten kann. Das würde mir die Mög- Nach dem Spiel werden die Reihen von
Sie abgeschlossen. Aber gegen das Doping- lichkeit geben, mich auf einen Kampf vor- oben nach unten geleert. Die Tickets sollen
urteil wollen Sie vorgehen? zubereiten. nun unter den Dauerkartenbesitzern in
Sturm: Richtig, die Steuersache erkenne SPIEGEL: Warum sollte das Publikum ein Sachsen verlost werden.
ich wie im Urteil verfasst an. Ich habe hier Interesse haben an dem Kampf eines ge- Für viele Fans ist das eine erlösende
einen großen Fehler gemacht, für den ich alterten Ex-Champions, der wegen Steu- Nachricht. Endlich keine Geisterspiele
auch geradestehe. Aber ich habe nicht erhinterziehung im Gefängnis war? mehr. Trotz Warnungen von Virologen vor
gedopt und gehe deshalb weiter dagegen Sturm: Weil ich alles geben und die Zu- einer wachsenden Ansteckungsgefahr im
vor. Wir müssen abwarten, ob der Bundes- schauer nicht enttäuschen werde. Es saßen Herbst und Winter kämpfen auch die ande-
gerichtshof die Revision annimmt. Sollte schon viele Boxer im Gefängnis. Es gibt ren Profivereine seit Wochen für die Rück-
das der Fall sein, wird sich das Verfahren nicht den perfekten Boxer, nicht den per- kehr der Fans. Eine so stattliche Kulisse
sicher bis ins nächste Jahr ziehen. fekten Menschen. Die Leute sollen sich wie für RB ist noch nirgends genehmigt
SPIEGEL: Sie wollen noch mal in den Ring. ein Urteil bilden, wenn sie mich im Ring worden. Der Gegner Mainz darf in seine
Sturm: Ich trainiere sechsmal die Woche, sehen. Arena gerade mal 350 Zuschauer lassen.
ich bin fit. Ich will noch vier bis sechs SPIEGEL: Herr Sturm, wir danken Ihnen Doch ein »Dosenöffner« für eine Nor-
Kämpfe machen. Klar, für einen Boxer bin für dieses Gespräch. malisierung des Ligabetriebs, wie einige
ich mit 41 Jahren nicht mehr der Jüngste. bereits mutmaßten, ist die Genehmigung
Aber ich rauche nicht, ich trinke nicht. nicht. Vielmehr wird sich ein Flickenteppich
Und ich habe Spaß am Boxen. Mir fällt es entwickeln, der zur Wettbewerbsverzer-
nicht schwer, mich zu quälen. rung führt. Manche Vereine werden vor
SPIEGEL: Sie haben als Boxer hohe Bör- ihren Fans spielen, andere vor weitgehend
sen kassiert. Im Verlauf Ihrer Karriere sol- leeren Rängen. Es wirkt absurd: Schon
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL
len Sie rund 16 Millionen Euro verdient zuletzt durfte der Regionalligist Carl Zeiss
haben. Jena vor fast 2000 Zuschauern antreten,
Sturm: Auf jeden Fall habe ich viel Geld während bei Bayern München nicht ein ein-
verdient. ziger Fan zugelassen ist.
SPIEGEL: Wie viel ist denn noch da? Im Grund sind die nicht abgestimmten
Prozess haben Sie ausgesagt, Sie seien ver- Corona-Regeln in den Bundesländern. Vor
mögenslos. allem die ostdeutschen Länder wollen an-
Sturm (2. v. l.), SPIEGEL-Redakteure* gesichts relativ geringer Infektionszahlen
* Rafael Buschmann, Sven Becker und Gerhard Pfeil »Es gibt nicht den perfekten Menschen« ihren Bürgern nicht so strenge Vorschriften
vor der Kanzlei seines Verteidigers Nils Kröber in Köln. zumuten. Die seien dort nicht vermittelbar.
98
Sport
Reisen im Viren-ICE
ger Passagiere nebeneinandersitzen. Andere Länder haben
längst reagiert: In Bangkok etwa forderten Aufkleber Bahnrei-
sende auf, jeden zweiten Sitzplatz freizuhalten; Buchungs-
systeme in Südkorea verteilten zuerst Fensterplätze, um für mög-
Analyse Die Bahn sperrt sich gegen verpflichtende lichst viel Abstand zu sorgen; und in China musste selbst der
Reservierungen – und erhöht so das Infektionsrisiko. Zugang zur U-Bahn vorher reserviert werden. Bundesverkehrs-
minister Andreas Scheuer (CSU) dagegen lehnt die Pflicht
Für Fahrgäste in Corona-Zeiten ist die Deutsche Bahn (DB) zur Sitzplatzreservierung ab. Reisende wären dadurch weniger
ein Ärgernis. Immer wieder kommt es vor, dass ein Mitreisender flexibel, die Fahrpreise könnten steigen, und die ohnehin schon
über die Buchungssoftware ausgerechnet den Sitz neben einem gebeutelte Bahn könnte weiter belastet werden, so Scheuer.
selbst reserviert bekommt – auch wenn der Zug relativ leer ist. DB-Vorstandsmitglied Ronald Pofalla ergänzt, er fahre selbst
Zwar sammelt das Unternehmen derzeit Ideen bei Start-ups, wie häufig mit der Bahn, von überfüllten Zügen könne er nicht be-
sich Fahrgäste besser lenken lassen. Mit dabei ist zum Beispiel richten. Abstandsregeln könnten daher problemlos eingehalten
ein Berliner Projekt namens »Firefly«, das freie Plätze erkennen werden, so Pofalla. Eine Reservierungspflicht hingegen würde
und schon vor Einfahrt des Zuges optimale Einstiegsstellen per die Kapazitäten beeinträchtigen.
Lichtsignal anzeigen soll. Doch ob und wann solche Techniken Schlüssig ist dies nicht: Was spricht dagegen, wenn stets nur
eingesetzt werden können, ist völlig offen – womöglich erst lan- so viele Passagiere in einen Zug steigen dürfen, wie Sitzplätze
ge nach einem Corona-Impfstoff. zur Buchung freigegeben werden? Wenn die Züge tatsächlich so
Dabei bestätigt eine Studie aus China einen naheliegenden leer sind, wie Pofalla behauptet, dürfte das kein Problem sein.
Verdacht: Das Infektionsrisiko in Zügen steigt, je enger und län- Julia Köppe
8,2
Wanken« gerät angesichts der »unerhörten
Das grüne Bestiarium Vielfalt« der Tropen; oder von Pierre Poivre,
»Es war immer mein Traum, einmal in Sohn eines Lyoner Seidenhändlers, der
einem Treibhaus zu schlafen« – schon 25 Jahre lang versucht, die Muskatnuss
der erste Satz von »Das Gedächtnis der Welt« nachzuziehen, die einst nur auf den Molukken
(Aufbau-Verlag; 224 Seiten; 22 Euro) setzt wuchs. Die abenteuerliche Suche nach Tonnen CO²-Äquivalente
den Ton für diese poetische, lehrreiche Reise unbekannten Pflanzen erbrachte jene acht verursacht ein 15 Kilogramm
durchs Pflanzenreich. Der junge Botaniker Millionen Fundstücke des Pariser Herbariums. schwerer Hund im Laufe
Marc Jeanson leitet eines der größten Herba- »Das Gedächtnis der Welt« ist ein Aufruf, eines 13 Jahre langen Lebens,
rien der Welt am Nationalen Museum für den rasch schwindenden Reichtum zu be- haben Forscher der TU-
Naturkunde in Paris; es ist ein verwunschener wahren – und mit ihm die Erinnerung Berlin errechnet – mehr als
Ort, der das Wissen von Jahrhunderten an Experten wie La Chèvre, einen der Lehrer beim Bau eines Mittelklasse-
birgt, gesammelt von Naturforschern wie Jeansons. Wenn der »weltgrößte Experte für wagens entsteht. Die For-
Lamarck, Linné, Jussieu oder Pflanzenbehaarung«über scher berücksichtigten bei
Tournefort. Die gepressten und die Härchen auf Halmen und ihrer Rechnung unter ande-
getrockneten Gewächse könnten Blättern sprach, »waren rem die Herstellung des
in der Beschreibung ähnlich diese köpfchentragend oder Hundefutters sowie die Um-
Verhaltensforschung kann eigentlich krank machen. Kaffee zu verzichten oder SPIEGEL: Können Sie absehen,
Das Risiko für viele Krebs- abends auf eine große Mahl- wann solche Medikamente ver-
»Kurzschläfer sind arten, für Stoffwechsel- und zeit. Auch wer sich regel- fügbar sein werden?
sehr optimistisch« Autoimmunkrankheiten mäßig bewegt, schläft besser. Ptáček: Nein, denn wir wissen
und neurodegenerative Leiden SPIEGEL: Können Medikamen- immer noch fast nichts über
Der Schlafforscher wächst. Bei natürlichen Kurz- te den Schlaf beeinflussen? den Schlaf und wie er reguliert
Louis Ptáček schläfern ist das jedoch anders. Ptáček: Wir suchen nach wird. Aber wir versuchen,
von der University SPIEGEL: Gibt es dafür eine solchen Arzneien. Es gibt so viele beteiligte Gene zu fin-
of California in Erklärung? Wirkstoffe wie Melatonin, den, wie wir können. Einige
San Francisco über Ptáček: Wir kennen noch kei- die beim Jetlag helfen können, uns bekannte Gene regulieren
Schlafrhythmen ne. Nach 20 Jahren Forschung aber sie sind noch nicht zum Beispiel die Effizienz
und die Hoffnung auf wirk- wissen wir aber immerhin, perfekt. Stellen Sie sich vor, des Schlafs. Wenn wir besser
samere Arzneien für die Nacht dass Schlafrhythmen teilweise Sie hätten eine Pille, die es verstehen, was genau sie
genetisch bedingt sind. ermöglicht, die innere Uhr bewirken, könnte es eines
SPIEGEL: Herr Ptáček, nicht SPIEGEL: Müssen manche einfach zu verstellen wie Tages möglich sein, dass
jeder braucht acht Stunden Menschen auch viel länger einen Wecker. Das wäre zum ein Achtstundenschläfer nur
Schlaf? schlafen als der Durchschnitt? Beispiel für Schichtarbeiter sechs Stunden schläft und
Ptáček: Nein, das mit den acht Ptáček: Wir untersuchen Fami- sehr hilfreich, die häufig un- sich trotzdem ausgeruht und
Stunden ist ein verbreiteter lien, deren Mitglieder bis zu ter Schlafmangel leiden. verjüngt fühlt. PHB
Irrglaube. Es gibt Menschen, 10,5 Stunden Schlaf pro Tag
die mit nur vier Stunden benötigen. Sie haben es viel
Schlaf pro Nacht ein Leben schwerer als die Kurzschläfer.
lang sehr gut funktionieren. Wer bis Mitternacht nicht
SPIEGEL: Die werden nicht einschlafen kann, aber trotz-
krank oder mürrisch? dem um sechs Uhr aufstehen
Ptáček: Im Gegenteil. Unsere muss, bekommt Probleme.
SPIEGEL: Können Menschen
Sandra Secklinger / pa / Westend61 / dpa
101
Wissen
Daniel Rosenthal
Partybesucher in der Berliner Hasenheide im Juni: Wenn die Jungen feiern, stecken sich irgendwann auch die Alten an
D
eutschlands bekanntester Viro- Fest steht nur eines: Die Corona-Zah- nannte auch Kanzlerin Angela Merkel die
loge ist ratlos. Es herrsche eine len steigen wieder deutlich an. Kamen Situation.
Situation, »die kaum abwägbar nach der Lockerung der Lockdown-Maß- Vielen Menschen fällt es aber zuneh-
ist«, so Christian Drosten in sei- nahmen bis Mitte Juli noch ungefähr mend schwer, diese Warnungen ernst zu
nem ersten NDR-Podcast nach der Som- 300 bis 500 Fälle pro Tag dazu, sind es nehmen. Denn kaum noch jemand in
merpause. jetzt über 1300, einmal sogar schon mehr Deutschland stirbt an den Folgen einer
Niemand könne zuverlässig sagen, wie als 2000. Coronavirus-Infektion. Freie Betten auf
viele Menschen tatsächlich infiziert sei- »Die neueste Entwicklung in Deutsch- den Intensivstationen gibt es genug. Zu-
en. Die offiziellen Fallzahlen des Robert land macht mir große Sorgen«, sagt RKI- stände wie in Italien im Frühjahr scheinen
Koch-Instituts (RKI) könnten um den Chef Lothar Wieler. Ist dies bereits der weit weg.
Faktor 2 zu niedrig liegen – oder um den Beginn der gefürchteten zweiten Welle? Und sind die steigenden Fallzahlen
Faktor 20: »Wir müssen uns ehrlich ein- Droht bald ein neuer Lockdown mit nicht einfach dadurch zu erklären, dass so
gestehen, dass wir nicht genau wissen, wo Schulschließungen und vielen anderen viele Urlaubsrückkehrer und auch Patien-
das Virus gerade überall ist.« Einschränkungen? »Besorgniserregend«, ten, die kaum Symptome haben, getestet
103
wieder mehr ältere Menschen anstecken. Menschen untereinander langsam zuneh-
4.
Auch in Schweden war es so, obwohl men, ändert sich am Infektionsgeschehen
Sterben weniger Menschen,
man bewusst versucht hat, die Alten ab- zunächst nicht viel. In den Clustern treten
weil sich Covid-19
zuschirmen.« zwar mehr Fälle auf, aber die Ausbrüche
besser behandeln lässt?
Tatsächlich steigt in Spanien, wo die bleiben lokal begrenzt. Dies ist, so hoffen
Infiziertenzahlen schon seit mehreren die Epidemiologen, derzeit die Situation Die meisten Experten bezweifeln, dass es
Wochen wieder gefährlich hoch sind, in- in Deutschland. schon in diesem Winter einen ausreichend
zwischen auch die Zahl der Todesfälle Doch wenn sich die Menschen wieder wirksamen Impfstoff geben wird. Doch
erneut an. mehr bewegen, mehr soziale Kontakte bei der Behandlung der Kranken haben
Und in Florida währte die Freude, dass haben und die Ansteckungsrate weiter die Mediziner beachtliche Fortschritte
das Virus scheinbar seinen Schrecken ver- steigt, dann entstehen Infektionsketten gemacht.
loren hatte, nur kurz, bevor sich immer zwischen eigentlich voneinander getrenn- Von den vielen Medikamenten, die in
mehr Ältere ansteckten und viele von ten Gruppen – und das Virus breitet sich den ersten Monaten überall auf der Welt
ihnen starben. »Wir müssen alles tun, um plötzlich unkontrolliert aus. ausprobiert wurden, haben sich vor allem
die Fallzahlen so niedrig wie möglich zu Auch der Virologe Drosten fürchtet, drei tatsächlich bewährt: Gerinnungshem-
halten«, so Hodcroft. dass die Perkolation in der Corona-Pan- mer, Dexamethason zur Unterdrückung
demie eine wichtige Rolle spielt. »Dass es einer zu starken Immunreaktion und das
dieses Phänomen gibt, weiß ich seit Jah- Medikament Remdesivir, das die Ver-
3.
ren«, sagt er. mehrung des Virus hemmt. »Wir haben
Ab wann gerät die Pandemie
Das Modell zeigt, dass die Seuchenlage inzwischen ein viel besseres Gefühl für
außer Kontrolle?
schlagartig außer Kontrolle geraten kann. diese Erkrankung«, sagt Marius Hoeper,
Wer die Lage in Frankreich genauer be- Und warum ist das in Frankreich offenbar kommissarischer Direktor der Klinik für
trachtet, ahnt, wovor deutsche Epidemio- schon geschehen? Pneumologie an der Medizinischen Hoch-
logen und Politiker Angst haben. Drosten führt dies darauf zurück, dass schule Hannover.
Drei Monate lang blieben die Infizier- dort die Infektionszahlen im Frühjahr Auch Torsten Feldt, Oberarzt am Insti-
tenzahlen in unserem Nachbarland auf deutlich höher waren als hierzulande: »Ich tut für Tropenmedizin am Universitäts-
niedrigem Niveau – im August jedoch ex- denke, wir sind in Deutschland noch un- klinikum Düsseldorf, gibt sich vorsichtig
plodierten sie plötzlich. Mehr als 7000 Fäl- terhalb einer Perkolationsschwelle, die in optimistisch. »Entwarnung würde ich auf
le werden jetzt pro Tag gemeldet, teilweise Frankreich und Spanien schon überschrit- keinen Fall geben«, sagt er. »Wir bekom-
sogar mehr als 15 000 Fälle. Es hat den ten sein könnte.« Wegen des später begon- men im Herbst und Winter sicher noch
Anschein, als wäre in Frankreich eine nenen Lockdowns im Frühjahr hätten mal eine kritische Phase.« Und trotz der
Grenze überschritten worden, ab der es diese Länder »mehr Infektionsmasse im besseren Behandlungsmöglichkeiten wür-
kein Halten mehr gibt. Hintergrund«. den weiterhin auch junge Patienten unter
Tatsächlich könnte es einen kritischen 50 Jahren sterben. »Das können wir noch
Schwellenwert geben, über dem das Infek- nicht verhindern. Aber wir wissen jetzt,
tionsgeschehen außer Kontrolle gerät – was zu tun ist, wir sind auf fast alle Szena-
auch wenn noch niemand zu sagen ver- rien vorbereitet. Ich denke, die Situation
mag, wo dieser Wert genau liegt. Kritische Masse in den Kliniken wird nicht so leicht außer
Was in Ländern wie Frankreich oder Erst steigt die Anzahl der Infektionen nur langsam – Kontrolle geraten.«
Spanien gerade passiert, könnte mit einem dann taucht das Virus schlagartig an vielen Stellen So trägt vermutlich auch die bessere Be-
Phänomen zu tun haben, das auch aus zugleich auf. Epidemiologen können dieses handlung dazu bei, dass weniger Infizierte
der Physik bekannt ist, der »Perkolation« Phänomen mit der sogenannten Perkolations- als zu Beginn sterben. Sorgen bereiten den
(vom lateinischen »percolare«, durchsi- theorie beschreiben. Ärzten jedoch die unheimlichen Langzeit-
ckern). Es beschreibt beispielsweise, wie unter Perkolations- über Perkolations- folgen, an denen auch Tausende Patienten
die elektrische Leitfähigkeit schlagartig Schwellenwert Schwellenwert leiden, die nur leicht erkrankt waren:
ansteigt, wenn der Metallanteil in einem Erschöpfung, Konzentrationsstörungen,
Metall-Glas-Gemisch einen bestimmten Cluster mit Infektionen Luftnot, Herzprobleme und anhaltender
(z. B. Familien oder
Schwellenwert überschreitet. Arbeiterunterkünfte) Geruchsverlust sind nur einige der mögli-
Epidemiologen verwenden das Modell, chen Symptome, die viele Betroffene über
um besser zu verstehen, wie sich anstecken- Monate hinweg quälen – und schlimms-
de Krankheiten ausbreiten. »Während des tenfalls sogar für den Rest ihres Lebens.
Lockdowns in Frankreich sorgten eine »Wir müssen vorsichtig sein«, sagt Epi-
niedrige Kontaktrate und eine geringe Mo- demiologin Emma Hodcroft. »Im Winter,
bilität dafür, dass lokale Ausbrüche klein Infektionskette wenn sich die Menschen vermehrt in
blieben«, sagt der Mathematiker Pieter geschlossenen Räumen aufhalten, wird
Trapman von der Universität Stockholm. sich das Ansteckungsrisiko automatisch
Er hat das Phänomen der Perkolation un- erhöhen.«
ter anderem genutzt, um die Übertragung infizierte Person Wenn die Zahlen nur langsam steigen,
des Pesterregers zwischen Rennmausfami- so Hodcroft, bestehe die Gefahr, sich an
lien zu erklären. die immer höheren Werte zu gewöhnen –
Am Anfang, so das Modell, köcheln die und die Politiker gerieten in Versuchung,
Infektionen demnach in voneinander iso- Das Virus tritt zunächst Ab einem bestimmten unpopuläre Maßnahmen zu vermeiden.
lierten Clustern; nur selten springt das nur in isolierten, kleinen Schwellenwert entstehen »Wir brauchen für die nächsten Monate
Clustern auf. Bei steigen- Infektionsketten
Virus von einer Gruppe zu einer anderen den Fallzahlen kann das zwischen den einst unbedingt einen klaren Plan, was wann
(siehe Grafik). Virus nicht direkt auf isolierten Gruppen – zu tun ist.«
Wenn nach Ende eines Lockdowns die benachbarte Cluster das Virus breitet sich Holger Dambeck, Veronika Hackenbroch
Infektionen und auch die Kontakte der überspringen. unkontrolliert aus.
Hilflose Haie
der Zufall entscheidet über Verlust oder eine vertrackte Mischung aus offenen Kar-
Gewinn, sondern vor allem das Geschick ten, Zufall und Täuschung. Neumann war
der Spieler – zumindest auf lange Sicht, zwar leidenschaftlicher Zocker, aber er ver-
also nach Tausenden Runden. Nur in zwölf lor ständig. Sein Traum war es, das schein-
Psychologie In Zeiten von Corona Prozent der Fälle gewinnt der Spieler mit bare Chaos beim Pokern berechenbar zu
boomt Onlinepoker. Forscher dem besten Blatt, hat der Sozialökonom machen. Erst vor einem Jahr ist sein Traum
Ingo Fiedler vom Arbeitsbereich Glücks- wahr geworden: Das »Pluribus«-Pro-
nutzen die Spieldaten, um zu spielforschung an der Uni Hamburg he- gramm besiegte gut ein Dutzend der besten
ergründen, wie sich Menschen in rausgefunden. Pokern gilt daher eher als menschlichen Pokerspieler – über zwölf
Stresssituationen verhalten. Denksport wie Schach oder Dame. Tage und 10 000 Hände. Die menschlichen
Aber nicht nur Intelligenz entscheidet Poker-Haie sahen dabei aus wie Stümper.
über Sieg und Niederlage, sondern auch Das Pluribus-Programm wurde vom
105
Wissenschaft
E
s war wohl schon dunkel, als ein Die Reste von »Traufkindern«, wie die taufter Mädchen und Jungen längs der
Unbekannter den Kirchhof im Menschlein in Anspielung an ihren Bestat- Trauflinien von Kirchen in der Schweiz,
oberfränkischen Eggolsheim be- tungsort genannt werden, kommen häufig Österreich und Deutschland beerdigt wur-
trat. Er schlich sich bis zum Gottes- zum Vorschein, wenn Archäologen rund den. Denn unter anderem wegen Hygiene-
haus, grub ein Loch und legte das tote um Kirchen oder Kapellen graben. Oft sind mängeln und schlechter medizinischer Ver-
Kind hinein, das er bei sich trug. Gut mög- es nur einige wenige Knochen wie kürzlich sorgung waren tödliche Geburtskomplika-
lich, dass der Mensch noch ein letztes im niedersächsischen Einbeck. Manchmal tionen bis weit ins 19. Jahrhundert so gegen-
Gebet sprach, bevor er hinaus in die Nacht aber werden Hunderte Skelettteile in der wärtig wie heutzutage der Kaiserschnitt. His-
verschwand. Nähe von Gotteshauswänden entdeckt. An toriker schätzen, dass die Säuglingssterblich-
Das Kind, dessen Überreste vor weni- der Jakobskirche in Heiligenstadt bei Wien keit im Mittelalter bei etwa 30 Prozent lag.
gen Wochen von Archäologen der Bam- stießen Archäologen auf die Überreste von Einer breiteren Öffentlichkeit sind das
berger Ausgrabungsfirma In Terra Veritas mehr als 400 Säuglingen und Kleinkindern. Massenphänomen der Traufkinder und
ausgebuddelt wurde, ist vermutlich irgend- Forschungsergebnisse legen nahe, dass andere Varianten von Totentaufen den-
wann im 15. Jahrhundert illegal bestattet über die Jahrhunderte Zigtausende unge- noch bis heute so gut wie unbekannt. Da-
worden, vielleicht von seinem Vater. Das
Baby war bereits zwischen der 33. und
der 36. Schwangerschaftswoche auf die
Welt gekommen und vielleicht noch
nicht ausreichend entwickelt, um die Ge-
burt zu überleben.
Als gesichert darf gelten, dass das Früh-
chen ungetauft war, als es seinen letzten
Atemzug tat. Darauf deutet der Ort hin,
an dem es bestattet wurde: nah an der
Kirchenmauer, direkt unter der Traufe.
Dort sollte es wahrscheinlich eine letzte
Chance erhalten, doch noch in den Him-
mel zu kommen.
Bis in die Neuzeit glaubten einige Chris-
ten, dass ungetaufte Menschen nach ihrem
Ableben nicht zu Gott kommen, sondern
ewig im Reich des Teufels verbleiben
müssen. Nach dieser Vorstellung galten für
Totgeborene oder andere ungetaufte
Kleinstkinder zumindest bei der Bestat-
tung die gleichen Regeln wie für Mörder,
Räuber und andere Verbrecher. Weil sie
mit dem Makel der Erbsünde behaftet
waren, durften sie nicht in der geweihten
Erde eines Friedhofs beerdigt werden,
selbst dann nicht, wenn dort bereits An-
gehörige von ihnen ruhten.
Doch schon damals empfanden viele
Eltern dies offenbar als grausames Urteil.
Heimlich oder von Pfarrern gedeckt, die
weniger streng waren, bestatteten sie ihr
tot geborenes oder früh verstorbenes Kind
Archäologischer Dienst des Kantons Bern
106
bei erzählen sie mehr über das Leben und von In Terra Veritas auf die Überreste von analysieren lassen, wann genau die Kinder
die Nöte unserer gottesfürchtigen Vor- mindestens fünf Traufkindern – und das, starben. Derzeit lässt sich ihr Ableben
fahren als manches andere, was in den obwohl nur auf einem vergleichsweise ungefähr auf die Zeit zwischen Mitte des
Geschichtsbüchern steht. kleinen Areal gegraben wurde. Firmenchef 14. und dem 17. Jahrhundert datieren – in
Immerhin: Forscher haben in den ver- Julian Decker geht deshalb davon aus, der Zeit glaubten viele Menschen fast alles,
gangenen Jahren bei Grabungen, im Labor dass noch immer die Knochen »von Dut- was die Pfaffen ihnen predigten.
und in Archiven einiges dafür getan, die zenden anderen« ungetauften Kindern Die Theorie, dass ungetaufte Kinder in
Wissenslücken zu schließen. Viele ihrer Er- unter der Erde liegen. die Hölle einfahren, geht nicht auf die
kenntnisse betreffen in erster Linie den Die Archäoanthropologin Beatrice Bibel zurück, sondern auf den im Jahr
alpinen Raum und flossen vor Kurzem in Krooks, die für Decker arbeitet, hat die 430 gestorbenen Kirchenvater Augustinus.
einen Forschungsbericht des Archäologi- Fundstücke aus Eggolsheim auf einem Anfang des 13. Jahrhunderts wurde die
schen Dienstes der Stadt Bern ein. Tisch in ihrem Büro ausgebreitet: kleine unerbittliche Haltung etwas abgemildert
»Die Mütter und Väter der Vergangen- Schlüsselbeine, Oberarmknochen und an- und eine Art Vorhölle für die Kinder er-
heit unternahmen zum Teil gewaltige An- dere Teilchen, die Laien für die Überreste funden, der Limbus puerorum. Dieser sei
strengungen, um ihren toten Kindern noch von Brathähnchen halten könnten. Kom- kein Ort ewiger Qual, hieß es sinngemäß.
irgendwie das Sakrament der Taufe zu plette Skelette sind nicht darunter, ver- Die Strafe bestehe lediglich darin, für
spenden«, sagt die Historikerin Kathrin mutlich deswegen, weil es immer wieder immerdar und in Finsternis der beseligen-
Utz Tremp, die an der wissenschaftlichen Bauarbeiten an der Kirche gab und die den Gottesschau beraubt zu werden.
Arbeit mitwirkte. »Viele fanden sich mit Gebeine dabei beschädigt wurden. Auch Doch auch dem neuen Konzept war in
dem physischen Tod eines Kindes eher ab die Schädel sind allesamt zersplittert. der Volksfrömmigkeit kein Erfolg beschie-
als mit dem spirituellen Tod.« »Das ist kein Wunder«, sagt Krooks, »die den. Schließlich änderte sich nichts daran,
Allein in Eggolsheim, das im Mittelalter sind bei Säuglingen ja noch sehr weich.« dass das Reich Gottes ungetauften Kindern
eine Siedlung mit Marktrecht und Kirche Mithilfe der sogenannten Radiokarbon- auf ewig versperrt blieb. Und es wurde
war, stieß das Bamberger Grabungsteam methode wollen Decker und Krooks nun mancherorts auch noch gemunkelt, dass
die Kleinen als zombieartige Wiedergän-
ger rachsüchtig ins Diesseits zurückkehren
könnten. Möglicherweise sind dadurch
die Funde von Kindergerippen zu erklären,
die auf eine Pfählung nach dem Tod hin-
deuten. Wollte man die Frühverstorbenen
durch diese rabiate Methode auf ewig
unter die Erde zwingen?
Einige Kirchenleute wiederum dachten
sich makabre Rituale aus, um die Sorgen
und Nöte der Eltern auszubeuten. Gut
200 Kilometer südlich von Eggolsheim
liegt in der Nähe von Augsburg das Kloster
Ursberg. In Tausenden Fällen praktizier-
ten die Ursberger Prämonstratenser dort
das »Himmeln«.
Von weit her kamen Eltern und brach-
ten ihre toten Kinder herbei. Die kleinen
Leichen wurden auf einer Holzliege gebet-
tet, die vor einer Gruppe von Kreuzigungs-
figuren bereitstand. Wohl genauso wie in
anderen »Erweckungszentren«, die es im
alpinen Raum gab, verteilten die Kirchen-
männer glühende Kohlen und Kerzen
rund um das Totenlager, um die kleinen
Körper aufzuwärmen. Vor allem sollte auf
diese Weise die Illusion einer vorüber-
gehenden Reanimation erzeugt werden.
Denn durch die Hitze geriet die Umge-
bungsluft in Bewegung – und mit ihr auch
manchmal eine Daune, die auf den Mund
der toten Kinder gelegt worden war. Flog
das Federchen empor, wurde das als Folge
eines Atemzugs gedeutet; die Glaubens-
brüder nutzten dann die Gunst der Sekun-
de, um das vermeintlich wiederbelebte
Wesen doch noch zu taufen.
Es gab in Ursberg allerdings keine Ga-
rantie auf ein Auferstehungswunder. Tat-
sächlich waren die Beobachtungen sogar
in den meisten Fällen nicht ausreichend,
AKG
Gemälde »Christus in der Vorhölle«*: Der beseligenden Gottesschau beraubt * Von Peter von Cornelius, um 1845, Ausschnitt.
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Disney Enterprises
Yifei (M.)
Gefilmter Kotau
Streaming Das Remake des Disney-Klassikers »Mulan« wurde zum Werbefilm für chinesische Vaterlandstreue.
Ursprünglich galt das 200 Millionen der Leinwand gezeigt. Stattdessen ist es der schwungvollen und witzigen Emanzi-
Dollar teure Realfilm-Remake des Disney- nun auf der Streamingplattform Disney+ pationsgeschichte über eine Frau, die
Klassikers »Mulan« als potenzieller Block- zu sehen. Ist »Mulan« also ein Corona- sich durch eine von Männern dominierte
buster und sollte Ende März weltweit in Opfer? Das wird sich zeigen. In China Welt kämpfen muss, ist ein pathetisches
die Kinos kommen. Nach mehrfachen plant Disney nach wie vor einen Kino- Heldenmärchen geworden. Die neusee-
Startverschiebungen wird das Historien- start. Man sieht dem Film an, dass er ländische Regisseurin Niki Caro hat einen
epos um eine junge Frau (gespielt von weniger für amerikanische oder europä- aufwendigen Werbefilm für Familiensinn
Liu Yifei), die im China des Mittelalters ische als für chinesische Zuschauer ge- und Vaterlandstreue gedreht, der bis-
für ihren gebrechlichen Vater in den Krieg dacht ist – vor allem, wenn man ihn mit weilen wie ein Kotau vor der Pekinger
zieht, in den meisten Ländern nicht auf dem Original von 1998 vergleicht. Aus Führung wirkt. LOB
Sachbücher die über den jiddischen Witz nicht eingetreten ist, haben sie so etwas nannte. Freuds Theo-
Witz und Geist spürt Jakob Hessing dieser Hal- gelernt, ihre Texte ständig zu rie des Witzes wiederum, ein
tung nach, einem Umgang mit hinterfragen, sind zu Meistern Paradestück seiner Konzeption
In der sogenannten Gewitzt- den Tatsachen, der eher auf das der Hermeneutik geworden.« des Unbewussten, unterzieht
heit steckt noch die alte Bedeu- Lächeln zielt als auf Gelächter. Das Jiddische, Sprache der Hessing einer luziden Kritik.
tung vom »Witz« – der mehr Zumal das Lächeln Mehrdeutig- europäischen Juden, ist Zeug- Sie lohnt unbedingt die Lek-
meinte als eine auf Pointe keit und Melancholie erlaubt: nis einer fast gänzlich vernich- türe, Ambivalenz und Lächeln
erzählte Geschichte. Nämlich »Die Geschichte der Juden«, teten Kultur. Hessings Buch ist inklusive. ES
Geist, Esprit, eine überra- so der Autor, »wird von Texten so unvermeidlich auch Trauer-
schungsfrohe Haltung zur Welt. begleitet, die ihnen das Heil arbeit, wie Sigmund Freud, Jakob Hessing: »Der jiddische Witz«.
In seiner staunenswerten Stu- versprechen; da es aber noch Begründer der Psychoanalyse, C. H. Beck; 178 Seiten; 12,95 Euro.
Rainer Hosch
die von den USA ausgegan- Kriege und gute Zeiten, in
SPIEGEL: Herr Divjak, wann gen ist. Man kann das purita- ihrem Klang beginnt seine
riecht ein Mann nach Mann? nisch nennen. In den Sieb- Reflexion, die diese Vergan-
Divjak: In den Siebzigern zigern vermittelten Parfums Divjak genheit kennt und von einer
schien das noch klar. Der par- noch erotische Verruchtheit. guten Zukunft träumt. Mak
fümierte Mann, das war in Es gab sogar Düfte, die im SPIEGEL: Sind die animali- ist schon lange der beste
der Werbung damals oft ein Auftakt leichte Urinnoten hat- schen Düfte denn ganz ver- europäische Gegenwarts-
Abenteurer: ein Mann ganz ten. Heute wäre das auf dem schwunden? historiker. Ein Wohnmobil,
allein in der Wüste, im Wald, Massenmarkt undenkbar. Divjak: Es gibt Ausreißer. Ein ein Kontinent und täglich
auf einem Berg. Und so Alles, was irgendwie an Kör- großartiges Beispiel: L’animal ein Artikel, irgendwo aus
rochen viele Düfte dann auch: persäfte denken lässt, ist tabu. sauvage der Pariser Firma diesem Europa – das war
ledrig, holzig, würzig. Alles was irgendwie ordinär Marlour, neuerdings als Carni- das Grundrezept von Geert
SPIEGEL: Was änderten die wirken könnte. cure geführt. Das ist zart-süß Maks großartigem Bestseller
Achtziger? SPIEGEL: Die Parfums der und animalisch-geil. Tropfen »In Europa« aus dem Jahr
Divjak: Das Abenteuer war Siebziger betonen den Mann für Tropfen pure Lüsternheit, 2004. Mak entwickelte
nicht mehr mit Wäldern und als sexuelles Wesen, die Par- mit Schweiß-, Urin- und Dark- darin die Kunst, reisend eine
Wüsten verbunden, sondern fums der Gegenwart nivellie- room-Assoziationen. Ein Geschichte der Gegenwart
mit dem Meer. Männer ren seine Körperlichkeit? Parfum, das polarisiert. TOB zu schreiben. Nun hat er das
rochen nach Cool Water von Divjak: Der Mann soll immer
Paul Divjak: »Der parfümierte
wieder getan
Davidoff, Eternity von Calvin frisch geduscht wirken, das Mann«. Edition Atelier; 152 Seiten; – allerdings
Klein. Sie rochen nicht mehr Parfum als Maske. 20 Euro. eher mit dem
Flugzeug
als mit dem
Wohnmobil.
Pop lane, in Berlin als Tochter Ross. So emotional, so ge- Er reist zu
Seelen-Power einer Heidelbergerin und
eines Südafrikaners geboren
sättigt mit Streichern, Bläsern
und Chören wie die großen,
den Grenzen
der Europäi-
Wer nach international und als beste Soulsängerin politischen Soulalben der schen Union,
erfolgreichen deutschen Pop- des Landes bekannt, ist die späten Sechziger- und frühen trifft Zeitzeugen, Politiker
künstlern fragt, bekommt erste deutsche Künstlerin, Siebzigerjahre klingt auch und Intellektuelle, immer
zumeist immer dieselben In- die ein Album auf dem legen- »Let Yourself Be Loved«. auf der Fährte der ursprüng-
genieure, Stahlarbeiter und dären US-Label Motown Die Idee, ein solches Vintage- lichen europäischen Utopie.
Handwerker genannt: Kraft- veröffentlichen darf, einst Album aufzunehmen, hatte Es geht hier um die Zeit der
werk, Rammstein, Scorpions. Heimat afroamerikanischer Denalane schon vor einigen Finanzkrisen, des Aufstiegs
Diese Reihung könnte sich Superstars wie Marvin Gaye, Jahren, fand aber nicht den rechter Parteien bis hin zum
nun diversifizieren: Joy Dena- Stevie Wonder oder Diana richtigen Ton. Dabei half ihr Umgang mit Corona. Ihm
schließlich der Jazzpianist gelingt eine sagenhafte Mix-
und Produzent Roberto Di tur aus Essay, Reportage und
Gioia, ein Spezialist für den Geschichtsschreibung, die
Sound der Siebziger. Der neu wie von Zauberhand gelenkt
entflammte »Black Lives Mat- immer wieder zurück in
ter«-Diskurs verleiht ihrem seine Heimat führt, nach
Projekt sogar einen aktuellen Amsterdam und in das klei-
Bezug. Ihre Erfahrungen als ne friesische Dorf, in dem
schwarze Frau in Deutschland die Kirche steht. Und er
schwingen mit: »Ich spüre fragt, wie wohl eine Histori-
Axel Heimken / picture alliance / dpa
111
Kultur
E
in Ladenbüro in Berlin-Kreuzberg,
fast kein Mobiliar, dafür große
Schaufensterscheiben. Big Win-
dow Production heißt die Firma,
die hier erst im April eingezogen ist. Der
Produzent und Autor Jörg Winger hat sie
gegründet, weil er glaubt, dass die deut-
sche Fernsehbranche ihr Potenzial auf dem
Weltmarkt noch lange nicht gut genug aus-
reizt. Das Geschäft globalisiere sich gerade,
meint er. »Die Fernsehindustrie wächst in
ähnlicher Weise zusammen wie vor 30 Jah-
ren die Autoindustrie. Heutzutage würde
ja niemand mehr auf die Idee kommen,
einen Autokonzern zu gründen, der Fahr-
zeuge baut, die nur auf deutschen Straßen
fahren.«
Winger, 50, war einer der Ersten, der
auf die Idee kam, dass hochwertige deut-
Reiner Bajo / Sky Deutschland / Lago Film
113
stadt. 2018 dann die ersten sechs Teile des Jahren gab es für deutsche Kreative kaum
Finanzthrillers »Bad Banks« von ZDF und die Möglichkeit, internationale, hoch bud-
Arte. Auch »Babylon Berlin« sorgte im getierte High-End-Serien zu realisieren.«
Ausland für Furore. Die Reihe, von ARD Darauf ist Lăzărescu auch nach wie vor
und Sky zusammen finanziert, gilt mit Pro- neugierig, aber ihr ist auch klar: Heuert
duktionskosten von fast 40 Millionen Euro sie für eine große Serie an, ist sie dort we-
als teuerstes deutsches Serienprodukt. Der niger Künstlerin als Dienstleisterin. »Ich
britische »Guardian« erhob Deutschland komme durchaus an die Grenzen des
dafür zum Player im globalen Geschäft der Mitspracherechts, zum Beispiel was das
»Blockbuster-Serien«. Casting von Schauspielern angeht. Wenn
Der deutsche Erfolg wird inzwischen zu der Auftraggeber einen Darsteller in der
erheblichen Teilen mit Kapital aus den Serie haben will, dann wird er besetzt.«
USA finanziert. Nach Recherchen des Zu den neuen Serien, die in näherer Zu-
Branchenblatts »Variety« gaben US-Un- kunft ins Programm kommen, gehört un-
Androhung hoher Vertragsstrafen oft ab- Ländern zu bedienen, setzt man verstärkt
solute Geheimhaltung. Viele der geplanten auf lokales Programm.
Serien und Filme, die in den nächsten Paradiesische Zustände also für deut-
Monaten anstehen, wurden deshalb noch Filmemacher Lăzărescu, Schwochow sche Kreative? Der Regisseur, Autor und
nicht annonciert. Bekannt ist lediglich ein »Unendliche Möglichkeiten« Produzent Christian Schwochow, der
kleiner Teil; etliche Projekte werden vor- schon viel international gearbeitet hat,
erst unter Verschluss gehalten. Und andere sagt: »Das Problem ist, dass sich die Strea-
sind wegen Corona gar nicht mehr zustan- »Die Science-Fiction-Serie wäre mein mer, die nach Deutschland kommen, oft
de gekommen. mit Abstand größtes Projekt gewesen, das dem Produktionsniveau des deutschen
Eigentlich sollte die Filmemacherin Budget dreimal so groß wie das von ›Die Fernsehens anpassen. Da sehe ich eine ech-
Anca Lăzărescu, 41, jetzt zwischen Eng- Welle‹«, sagt die Regisseurin. te Gefahr, denn der Weg sollte natürlich
land, Frankreich und Neuseeland pendeln, Anca Miruna Lăzărescu wurde im ru- andersrum sein: Die deutschen Produk-
um eine internationale Science-Fiction-Se- mänischen Timişoara geboren und kam tionsstandards sollten sich dem oft höhe-
rie zu drehen – wegen der Pandemie wur- mit elf Jahren nach Deutschland. Ihr Seri- ren internationalen Niveau anpassen.«
den die Aufnahmen abgesagt. Spätestens endebüt gab sie 2018 mit zwei Episoden Schwochow, 41, kann das beurteilen.
seit sie für Netflix den Jugendroman »Die des von TNT Serie und HBO Europe be- Den Überraschungshit »Bad Banks« dreh-
Welle« unter dem Titel »Wir sind die Wel- auftragten Sechsteilers »Hackerville«, Jörg te er zum Teil in Luxemburg, in Großbri-
le« neu als Serie verfilmt hat, gilt Lăzăres- Winger fungierte als Produzent. Dann tannien folgten zwei Folgen der Serie »The
cu als Kandidatin für große, internationale legte sie mit drei Folgen aus »Die Welle« Crown«, die für viele Kritiker die Vollen-
Stoffe. Jetzt sitzt sie in Berlin und bereitet nach – und prompt kam das Angebot aus dung der aktuellen Fernsehkunst darstellt.
gleich mehrere Projekte parallel vor – für London. Dort und auch in Hollywood Seitdem ist Schwochow ständig unterwegs.
die Zeit, wenn sie endlich wieder drehen wird genau beobachtet, wer sich in seinem In Prag hat er gerade die Tonmischung für
kann. Dazu gehört auch die deutsche Spio- Heimatland durchsetzt. Der Markt saugt seinen Kinofilm über eine rechte Revolu-
nageserie »Die Agentin«, die im Stil von Talente förmlich auf, und er ist internatio- tion in Europa fertiggestellt, in Berlin und
Vorbildern wie »Homeland« von einer nal durchlässiger geworden. Lăzărescu: Großbritannien bereitet er Fernsehpro-
BND-Agentin auf den Spuren eines Kom- »Es ist nicht übertrieben, Streaming als jekte vor, in München entwickelt er die
plotts erzählt. Revolution zu bezeichnen. Vor wenigen Science-Fiction-Serie »Children of Mars«.
Martin Scorsese hat im August einen Ver- 5 (6) Maja Göpel Unsere Welt
6 (5) Ursula Poznanski neu denken Ullstein; 17,99 Euro
trag bei Apple TV+ unterschrieben, »The Cryptos Loewe; 19,95 Euro
Crown«-Erfinder Peter Morgan arbeitet 6 (7) Michelle Obama
exklusiv für Netflix – so wie die deutschen 7 (8) Renate Bergmann Dann bleiben Becoming Goldmann; 26 Euro
»Dark«-Schöpfer Baran bo Odar und Jant- wir eben zu Hause! Ullstein; 8 Euro
7 (8) Bas Kast Der Ernährungskompass
je Friese, die gerade an der Mysteryserie
8 (9) David Grossman C. Bertelsmann; 20 Euro
»1899« arbeiten. »Auch ich hatte Angebote
Was Nina wusste Hanser; 25 Euro
für Exklusivverträge«, sagt Schwochow. 8 (–) Manfred Lütz
»Die waren sehr lukrativ. Aber hast du 9 (10) Stephen King Neue Irre. Wir behandeln
einen einzigen festen Auftraggeber, will er Blutige Nachrichten Heyne; 24 Euro die Falschen Kösel; 20 Euro
natürlich, dass du ganz bestimmte Dinge 9 (4) John Bolton Der Raum, in dem alles
für ihn lieferst. Dafür will ich zu viel aus- 10 (17) Wladimir Kaminer Rotkäppchen raucht
auf dem Balkon Wunderraum; 20 Euro
geschah Das Neue Berlin; 28 Euro
probieren. Und die nächsten Jahre wird
es einfach durch den Kapitalfluss der Strea- 10 (9) Hans-Werner Sinn
11 (6) Sally Rooney Der Corona-Schock Herder; 18 Euro
mer unendliche Möglichkeiten geben.« Normale Menschen Luchterhand; 20 Euro
Er sitzt gerade an den Plänen für eine 11 (–) Jürgen Kaube
Serie mit dem Arbeitstitel »Fck My Heri- 12 (15) Susanne Matthiessen Hegels Welt Rowohlt Berlin; 28 Euro
tage«. Es soll um die Schüler eines Schwei- Ozelot und Friesennerz Ullstein; 20 Euro
zer Elite-Internats gehen, die nach einem 12 (13) Kübra Gümüşay
Debattenwettbewerb darauf kommen, 13 (12) Suzanne Collins Sprache und Sein Hanser Berlin; 18 Euro
dass Reiche und Privilegierte, wie sie es Die Tribute von Panem. Das Lied
von Vogel und Schlange Oetinger; 26 Euro 13 (10) Lily Brett Alt sind nur die anderen
sind, die Welt verändern können. »Die Suhrkamp; 15 Euro
Teenager denken über eine Weltrevolution 14 (14) Karin Slaughter
nach, die wirklich gelingen kann. Erbe auf- 14 (14) Peter Hahne Seid ihr noch
Die verstummte Frau HarperCollins; 24 Euro ganz bei Trost! Quadriga; 12 Euro
geben, Ressourcen verteilen, die Welt neu
denken«, sagt Schwochow. »Wir begeben 15 (13) Laetitia Colombani 15 (–) Christoph Schlingensief
uns mit den jungen Leuten auf die Suche Das Haus der Frauen S. Fischer; 20 Euro Kein falsches Wort jetzt
nach einem Schlüssel zu ihrer Revolution.« Kiepenheuer & Witsch; 23 Euro
16 (16) Pascal Mercier
Seit einem halben Jahr arbeitet er mit Das Gewicht der Worte Hanser; 26 Euro
einem Team schon an der Idee. Die kleine Zehn Jahre nach seinem
Corona-Delle im Drehplan kam ihm ganz 17 (–) Cassandra Clare Tod erscheinen die besten,
gelegen, um die gesamte Energie in das Chain of Gold Goldmann; 20 Euro klügsten und lustigsten
Gespräche mit dem genialen
Projekt zu legen. Schwochow ist sich des Bühnenkünstler.
Risikos bewusst. Trotz Fridays for Future 18 (11) Lisa Eckhart
gebe es zurzeit kaum ernst zu nehmende Omama Zsolnay; 24 Euro
16 (–) Jakob Hein Hypochonder
Serien, in denen sich junge Menschen mit 19 (–) Paul Maar leben länger Galiani Berlin; 20 Euro
der Politik beschäftigen, sondern vor allem Wie alles kam
Dystopien. »›Tribute von Panem‹ in End- S. Fischer; 22 Euro
17 (–) Kester Schlenz
losschleife sozusagen.« Ich bin bekloppt … und ich bin nicht
»›Fck My Heritage‹ ist als große, grenz- der Einzige Mosaik; 18 Euro
115
Kultur
Trügerische Sicherheit
Theater Das neue Stück des Bestsellerautors Ferdinand von Schirach heißt »Gott«.
Es geht um die Frage, ob man Menschen dabei helfen darf, sich selbst zu töten.
E
r lacht ein wenig, wenn man ihn der Staat, bestrafen denjenigen, der die mutigen? Schirach sagt: »Es gibt eben
auf seinen Selbstmordversuch an- Absicht eines Menschen, der sich töten doch viele Menschen, die sterben wollen.
spricht. »Das stimmt, ja, ich war will, fördert, diesem hierzu geschäftsmä- Sie müssen jetzt nicht mehr von einem
sehr jung und sehr verzweifelt«, ßig die Gelegenheit gewährt, verschafft Hochhaus springen, vor ein Auto laufen
sagt Ferdinand von Schirach, derzeit einer oder vermittelt. Und das war tatsächlich oder sich vor den Zug werfen. Sie dürfen
der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller. furchtbar.« sanft und würdig sterben. Zu einem freien,
Er hat ein neues Theaterstück geschrieben, Der damals beschlossene Paragraf 217 selbstbestimmten Leben gehört auch der
das »Gott« heißt und an diesem Donners- des Strafgesetzbuchs wurde im Februar freie, selbstbestimmte Tod und damit auch
tag in Düsseldorf und am Berliner En- dieses Jahres vom Bundesverfassungs- die Art und Weise, wie man sterben möch-
semble uraufgeführt wird. Es handelt vom gericht gekippt. Schirach sagt dazu: »Das te. Jetzt ist die rechtliche Frage geklärt: Es
Recht auf Selbstmord. war ein Jahrhunderturteil. Die Richter darf geholfen werden.«
»Suizid« korrigiert Schirach, der in sei- stärkten die Autonomie des Menschen, Die Uraufführung des Stücks fällt in
nem ersten Beruf Anwalt war. Ein Mord seine freie Verfügung über seinen Lebens- eine Zeit, in der die rechtlichen Dinge
sei es schließlich nicht. In Schirachs Stück entwurf. Er darf selbst über seinen Tod be- grundsätzlich geklärt sind, die gesetzliche
will sich ein 78-jähriger Mann das Leben stimmen.« Im Gerichtssaal hatte es sogar Umsetzung aber noch aussteht. Das Stück
nehmen: Richard Gärtner ist geistig und Applaus gegeben, und, so Schirach, »nie- diskutiert jedoch mehr als Recht und Ge-
körperlich gesund, aber weil seine Ehefrau mand erinnert sich daran, wann es das setz, sondern vor allem Moral. Am Ende
einige Jahre zuvor gestorben ist, will er jemals gegeben hatte. Es war ein sehr müssen die Zuschauer allein für sich selbst
nicht mehr weiterleben. Gewaltsam ster- berührender Moment, eine Hilfe für die entscheiden und dann abstimmen: »Wür-
ben will er nicht, sondern von seiner Ärz- Menschen, ein Urteil für die Freiheit.« den Sie Herrn Gärtner Pentobarbital über-
tin ein Mittel bekommen, das ihn ruhig Eine Hilfe für die Menschen? Ist es nicht reichen, wenn Sie wissen, dass er damit
und sicher tötet. Auf der Bühne wird Gärt- wahre Hilfe, jemanden zum Leben zu er- aus dem Leben scheiden wird?«
ners Anliegen vor einem Ethikrat verhan-
delt. Ärztin, Anwalt, Theologe diskutieren
den Fall. Am Ende entscheiden die Zu-
schauer.
Die Idee, ein Theaterstück mit Publi-
kumsbeteiligung zu schreiben, hat Schi-
rach vor fünf Jahren das erste Mal aus-
probiert. Es hieß »Terror«, wurde in über
hundert Theatern weltweit aufgeführt und
von mehr als 540 000 Zuschauern gese-
hen. Es ist eines der erfolgreichsten Thea-
terstücke der Gegenwart. Es geht darin um
die Frage, ob ein entführtes, voll besetztes
Passagierflugzeug, das auf ein voll besetz-
tes Fußballstadion zurast, abgeschossen
werden darf. Eine Weltkarte auf der Web-
site zum Stück zeigt, wie die Menschen
abgestimmt haben: Mehr als 60 Prozent
stimmten dafür, den Befehlsführer der
Alarmrotte der Luftwaffe freizusprechen.
Nur in Japan plädierte eine Mehrheit für
»schuldig«.
Jetzt also: Beihilfe zur Selbsttötung.
Ausgangspunkt für das Stück war eine Ge-
setzesänderung, die der Bundestag 2015
beschlossen hatte. »Die Diskussion war
für mich erschreckend«, sagt Schirach. Sie
sei zwar ernsthaft gewesen, aber da ging
es auch um Gedankengut, das ihm über-
haupt nicht gefallen habe, weil es ganz
weit weg sei vom Gedanken des Grund-
Matthias Horn
117
Gina Bolle / DER SPIEGEL
118
Kultur
Dörrie, 65, kommt natürlich mit Maske in Dörrie: Sie wecken besonders starke Emo- verkauft. Nicht nur das Klopapier, auch
die Brasserie OskarMaria im Münchner tionen. Sie bringen einen nicht nur zurück die Hefe.
Literaturhaus. Die Gäste blicken dennoch in die Kindheit, sondern in die ganze Welt SPIEGEL: Was macht die Hefe zum Krisen-
von ihren Gläsern auf. Kennen wir die nicht? drum rum. Ich habe in meinen Seminaren gewinner?
Dörrie, gewandet in ein japanisches Kleid, unglaubliche Geschichten gehört. In der Dörrie: Wer Hefe hat und dazu Mehl, Was-
ist auch maskiert eine Erscheinung – und Schweiz lasse ich die Teilnehmer immer ser, Salz, der kann ein Brot backen – und
an diesem Ort sowieso in ihrem Milieu. über Milch, Käse, Butter nachdenken – lus- sich einreden, dass er alles hat, um im Lock-
»Leben, schreiben, atmen« heißt ihr voriges tigerweise in einem veganen Zen-Retreat, down lange zu überleben. Hefe macht aus
Buch, eine Anleitung zum autobiografi- in dem ich jedes Jahr unterrichte, außer in wenig Teig einen Teigberg. Es ist magisch.
schen Schreiben, das sich monatelang auf diesem wegen Corona. In den Geschichten, SPIEGEL: Mich erinnert Hefe an meine
der Bestsellerliste hielt. Kritiker rühmen seit die die Schweizer dann erzählen, spiegelt Oma.
je Dörries Doppelbegabung als Schriftstel- sich die ganze Geschichte des Landes: die Dörrie: An Geborgenheit, genau. An den
lerin und Filmregisseurin. In ihrem neuen bäuerliche Tradition, die große Armut noch Geruch von Zwetschgendatschi zu Hause.
Buch offenbart sie ein drittes Talent: Ihr ko- vor wenigen Jahrzehnten, das Gefühl, sehr Das löst sofort Assoziationen aus, die
reanischer Schweinebraten soll ein Hit sein*. isoliert zu sein vom Rest der Welt. einem guttun.
SPIEGEL: Sie haben das Buch Ihrer Mutter SPIEGEL: Wird Corona unsere Essgewohn-
SPIEGEL: Frau Dörrie, Sie schreiben in gewidmet. An welches Gericht denken Sie, heiten dauerhaft verändern?
Ihrem neuen Buch auf 200 Seiten übers wenn Sie an Ihre Mutter denken? Dörrie: Ich hoffe das. Ich hoffe, dass die
Essen, Sie müssen eine leidenschaftliche Dörrie: An süße Erbsensuppe mit Grieß- Menschen gemerkt haben, dass man mit
Esserin sein. Was ist Ihre Leibspeise? klößchen und fein geschnittenem rohem einer Kartoffel echt etwas anstellen kann.
Dörrie: Trockenes Brot. Ich habe eigent- Schinken. Der Schinken muss wirklich Viele hatten ja keine Ahnung mehr vom
lich immer ein Stück in der Handtasche sehr fein geschnitten sein. Kochen, vor allem junge Menschen nicht.
dabei, wenn ich das Haus verlasse. SPIEGEL: Kochen Sie das heute noch? SPIEGEL: »How to Cook Your Life« heißt
SPIEGEL: Belegt mit was? Dörrie: Das ist ein Gericht meiner Mutter, ein Film von Ihnen. Flapsig übersetzt: Wie
Dörrie: Mit nichts. Ein trockenes Stück das sie auf Wunsch noch immer kocht. man sein Leben gebacken kriegt.
Brot, am liebsten hart. Ich war schon als Aber von uns Geschwistern kann das kei- Dörrie: Mir war damals in den USA auf-
Kind berüchtigt dafür, dass ich die Kruste ner. Das kann nur sie. gefallen, dass junge Leute nicht mal mehr
vom Brot der Familie abgenagt habe. So SPIEGEL: Haben Sie nie nach dem Rezept wussten, wie man ein Spiegelei brät. Dann
schnell wie ein Kaninchen die Mohrrübe. gefragt? hab ich den Zen-Priester und Koch Ed-
SPIEGEL: Gab es Futterneid? Dörrie: Nein, weil ich es gar nicht kochen ward Brown kennengelernt, der jungen,
Dörrie: Immer, ich habe drei Schwestern. will. Das Gericht gehört so sehr zu ihr und aber mitunter erstaunlicherweise auch al-
Und natürlich war das sehr unsozial, aber nach Hannover, das würde ich nicht trans- ten Leuten erklärte, wie man durchs Ko-
ich konnte nicht anders. Am liebsten ponieren mögen in eine andere Welt. So chen ein neues Gefühl von sich bekommt,
mochte ich frisches Gersterbrot, das gibt’s ein Kindheitsgericht ist verknüpft mit der wie man dabei ganz im Hier und Jetzt auf-
heute gar nicht mehr so oft. Es hatte einen Welt, die man in sich trägt. geht. Wenn die jungen Leute das erste Mal
ganz, ganz harten Knust. Den hab ich be- SPIEGEL: Hilft Essen und Kochen auch in einen Teig kneteten, waren sie außer sich
sonders geliebt, diesen Knust. der Coronakrise? vor Glück. Das musste ich verfilmen.
SPIEGEL: Sie kommen aus Hannover. Dörrie: Wenn wir das Gefühl haben, wir SPIEGEL: Waren Sie schon davor leiden-
Dörrie: Knust ist norddeutsch. In Bayern verlieren die Kontrolle, dann wollen wir schaftliche Köchin?
heißt es Scherzl. Essen verwurzelt uns in wenigstens die Kontrolle übers Essen be- Dörrie: Ich bin keine leidenschaftliche Kö-
der Welt. Darum geht es mir in dem Buch. halten. Ernährung ist heute sowieso eng chin, ich koche ganz gut und ganz gern,
Die Idee ist entstanden aus den Schreib- verknüpft mit Kontrollwünschen. Denken allerdings nur etwas, was schnell geht. Es
workshops, die ich seit vielen Jahren in Sie nur daran, wie dogmatisch und fast mi- ist eher so, dass ich wahnsinnig gern esse.
vielen Ländern gebe. Am Anfang bitte ich litant viele Menschen irgendwelche Diät- Und dass ich besonders gern etwas esse,
die Teilnehmer immer, über ein Essen aus regeln befolgen, was sie essen dürfen und was ich selbst zubereitet habe – und was
ihrer Kindheit zu schreiben. Das löst sofort was nicht, wie viel und zu welchen Uhr- mir gelungen ist.
Assoziationen aus: wie es damals ge- zeiten. Während des Lockdowns sind die- SPIEGEL: Sie schreiben, dass Sie für nichts
schmeckt, gerochen, wie es sich angefühlt se Kontrollwünsche noch mal gewachsen. so gelobt werden wie für Ihren koreani-
hat. Über ihre Erinnerungen ans Essen SPIEGEL: Wie hat sich das geäußert? schen Schweinebraten.
kommen sie in einen Schreibfluss. Dörrie: Viele Menschen haben sich darauf Dörrie: Nicht mal für meine Filme und Bü-
SPIEGEL: Sind Erinnerungen an Essen besonnen, selbst etwas anzubauen. Und cher. Der Schweinsbraten siegt.
besonders stark? wenn es nur Kräuter auf dem Balkon sind. SPIEGEL: Was unterscheidet den koreani-
Oder wieder mal etwas zu backen. Es gab schen Schweinebraten vom bayerischen?
* Doris Dörrie: »Die Welt auf dem Teller. Inspirationen plötzlich eine Welle von Sauerteigfana- Dörrie: Die Gewürze: Gochujang, eine
aus der Küche«. Diogenes; 208 Seiten; 22 Euro. tikern. Und die Hefe war auf einmal aus- rote Chilipaste, viel Ingwer, Knoblauch.
Und dass man ihn nicht mit Messer und mitteln. Nach dem Skandal um die Groß-
Gabel isst, sondern aus der Hand, einge- schlachterei Tönnies sind alle kurz aufge-
wickelt in ein Salatblatt. Momofuku Bo schreckt – und haben dann weitergemacht
Ssam heißt das Gericht. wie vorher. Die tiefe Verbindung, die wir
SPIEGEL: Haben Sie ästhetische Vorlieben durch das Essen zu anderen haben, inte-
beim Anrichten? ressiert mich. Das viel zu billige Hack-
Dörrie: Bei mir ist nichts fein säuberlich fleisch auf meinem Teller bedeutet Leid
Im Premierengespräch gab die deutsche Schriftstellerin und Maron: Nein, das ist ja gar nicht falsch. Mir tun diese Män-
Essayistin Monika Maron, 79, Auskunft über ihren neuen Ro- ner nur leid.
man »Artur Lanz« – in dem die Heldin Charlotte Winter einen SPIEGEL: Das empfinde ich schon als einen kleinen Angriff.
Kampf gegen die Frauen von heute führt –, über gegenderte Maron: Ich sehe auch im Fernsehen ständig Moderatoren
Sprache und Männer, die ihre Babys vor dem Bauch tragen. und Nachrichtensprecher. Es ist immer dieser Typ Mann. Es
ist dieser schmale Junge, auch wenn er schon 40, 50 ist.
SPIEGEL: Frau Maron, richtig aus der Fassung gerät Ihre SPIEGEL: Aber bei Frauen ist es doch dasselbe, oder?
Heldin, wenn es um Frauen geht, und da hat sie, glaube ich, Maron: Jaja, ich sag ja auch nichts besonders Gutes über
wirklich Parallelen mit ihrer Erfinderin Monika Maron. Die Frauen in diesem Buch. Das müssen Sie zugeben. Ich glaube,
Gendersprache. Die Entmännlichung. Die Entheroisierung des der Mann wird sich wieder seiner Männlichkeit besinnen.
Mannes durch die Frau. Können Sie das ein bisschen erläutern? Zumal ich diesen Hass auf die Männer, der jetzt gerade
Maron: Sie sieht die Generation ihrer eigenen Tochter Mode ist, wirklich entsetzlich finde. Ich finde, es geht nur
und fragt sich: Was ist mit den Männern eigentlich los? Sie im Einvernehmen zwischen den beiden Geschlechtern,
sind so unsicher, und es wäre ja auch ein Wunder, wenn und da müssen sie sich eben neu einigen.
sie das nicht wären. Der Mann hat sich in seiner sozialen SPIEGEL: Ein Teil Ihrer Romanfigur Arthur Lanz ist, dass
Rolle in der Gesellschaft ja sehr verändert. Und wenn er Männer sich von Frauen definieren und kleinmachen lassen.
da nun tastend und suchend überlegt, was aus ihm werden Man brauchte inzwischen Männerbeauftragte. Was ich
soll, geht das nur in Übereinstimmung mit den Frauen. emanzipatorisch nennen würde, muss man ja nicht als Opfer
Männer und Frauen müssen sich irgendwie neu zueinander begreifen.
positionieren. Maron: Nein. Wenn Sie glücklich sind, so ist doch alles gut.
SPIEGEL: Wenn ich aus dem Roman zitieren darf, ist der
schlappe Mann von heute um die fünfzig und bereit, diese
verhunzte Gendersprache zu sprechen. Er akzeptiert Frauen Die kompletten Literaturgespräche mit Volker
als Chef, bindet sich sein Baby auf den Bauch und ist sozu- Weidermann können Sie kostenlos auf
sagen völlig entmännlicht und ein Opfer der Frauen. Vieles spiegel.de/spitzentitel abrufen. Nächsten
davon, außer der Opferzuschreibung, trifft auch auf mich zu. Donnerstag sind Joachim Meyerhoff und
Was mache ich falsch? Wieso sehe ich mich so anders? Ferdinand von Schirach in der Sendung.
121
Kultur
»All men are created equal«, hieß es zu einer Kakofonie. In rasender Folge
123
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Jürgen Petermann, 85 retten«, bekannte er später
Von der »Bugwelle« spra- in einem Interview. Wäh-
chen Kollegen, wenn es um rend der Herrschaft der
die respekteinflößenden Roten Khmer, die in vier
Auftritte des Ressortleiters Jahren vermutlich 1,7 Mil-
Jürgen Petermann ging. lionen Menschen ermor-
Er führte die Wissenschafts- deten, war Kaing Guek Eav
redaktion des SPIEGEL ein williger Vollstrecker.
von 1963 bis 2001 – über Nach dem Sturz des Re-
Nacht komponierte er gimes floh er, lebte in Thai-
Titelgeschichten zu Themen land und China. 2009 kam
wie der Reaktorkatastrophe
Promis für
Pfleger
G »Es braucht mehr als Applaus«, meint die
Schauspielerin und Regisseurin Karoline
Herfurth, 36. Zusammen mit der Initiative
»Walk of Care« und anderen deutschen Pro-
minenten wie den Schauspielern Michael
»Bully« Herbig, Florian David Fitz und Fahri
Yardim hat sie ein Video gedreht, das Ende
des Monats veröffentlicht wird – unter dem
Hashtag #gibuns5 stellen die Stars Forderun-
gen, mit denen das durch Corona belastete
Krankenhaus- und Pflegepersonal gestärkt
werden könnte. Darunter: bessere Bezah-
lung, kontinuierliche Fortbildung, mehr Mit-
spracherecht. »Ich kenne die Probleme
dieser Berufe aus der eigenen Familie«, so
Herfurth zum SPIEGEL. Ihr Vater und ihr
jüngerer Bruder sind im Pflegedienst tätig.
Die Pandemie habe gezeigt, wie wichtig
diese Arbeit sei. »Aber Gesundheit lässt sich
nur schwer mit Wirtschaftlichkeit in Ein-
klang bringen. Für mich gibt es keinen Zwei-
127
»Der ehemalige Bundeskanzler und Putin-Vertraute
Gerhard Schröder muss sich endlich einmal fragen lassen,
mit was für Freunden er sich da zusammengetan hat.«
Dr. Hans Christian Hummel, Hannover
Konsequentes Wegschauen Klarer und eindringlicher konnte Herr Ständig kommen neue Pannen auf den
Ischinger nicht aufzeigen, wie die deutsche Tisch, ein Versagen der Bürokratie, das
Nr. 36/2020 Das Nawalny-Komplott – Der
Politik dank Frau Merkel bedrohlich schlaf- Steuergelder kosten wird. Die Lage im Ge-
Kreml, das Gift und der Anschlag auf Putins
Angstgegner wandelt. sundheitswesen war vorher schon schlecht,
Ursula Horine, Konstanz (Bad.-Württ.) jetzt wird sie noch schlechter. Als Kran-
Der Fall Nawalny zeigt ein weiteres Mal, kenschwester schüttle ich nur mit dem
wie skrupellos ein autokratisches Regime Kopf, denn die Versorgung der »normalen
wie Russland gegenüber Oppositionellen Patienten« muss ja auch gewährleistet wer-
Weit entfernt von Idealen Natürlich ist die kurzfristige Verlagerung Klasse Album
der Migration zulasten Dritter auch eine
Nr. 35/2020 »Wir schaffen das« – eine Nr. 35/2020 Deep Purple ist wieder
Bewältigung der Krise – jedoch abseits
Bilanz fünf Jahre nach dem legendären da – Sänger Ian Gillan wundert
Satz der Kanzlerin jeder Solidarität, entfernt von demokrati- sich über die politisch korrekte Gegenwart
schen Grundsätzen und Menschenrechten.
Ihre Beispiele stehen für Tausende und Jan Frömming, Hamburg 1983, ich leistete Zivildienst in München,
Millionen Migranten, deren Integration im traf ich Herrn Gillan im »Sugar«. »You really
besten Fall sehr gut funktioniert oder fatal Lebensfeindliches System look like Ian Gillan.« – »I sure hope I do.«
scheitert. Irgendwo zwischen den Extre- Er war zu jener Zeit mit seiner Gillan Band
Nr. 35/2020 Der Fall eines prominenten
men liegt wohl die Wirklichkeit der fünf in den Musicland Studios. Eine Flasche
Bauernvertreters zeigt, wie grausam Fleisch
Millionen Flüchtlinge, die seit 1990 nach produziert wird Wodka und ein bis zwei Schachteln Ziga-
Deutschland gekommen sind. Am Beispiel retten später waren wir beste Freunde –
der türkischen Gastarbeiter, die schon seit Sie schreiben in Ihrem Artikel, es sei kaum für diese Nacht. Ein absolut geerdeter Kerl
Jahrzehnten in Deutschland leben, lässt zu glauben, dass Herr Andresen der Rich- ohne Allüren. Er erklärte mir, dass es keine
sich sehr gut die schwierige Integration tige für die Zukunftskommission Landwirt- bessere Rhythmusfraktion auf dem Plane-
auch der zweiten und dritten Generation schaft sei. Mindestens ebenso unglaublich ten gebe als Paige/Glover und er kein Wort
beobachten. Da wundert es mich wenig, ist, dass die Tierärztinnen und Tierärzte zu Herrn Blackmore sagen würde. Über-
wenn sich mehr als 70 Prozent der Bürger Deutschlands, und damit die Experten für rascht war er nur, als ich darauf bestand,
Sorgen wegen der Zuwanderung machen. Tiergesundheit und Tierwohl, nicht in die- den Wodka zu bezahlen. War zwar teuer,
Andreas Dötsch, Koblenz sem Gremium vertreten sein sollen. aber jeden Pfennig wert. Hats off, Mr Gil-
Martin Pehle, Präsident der Landestierärztekammer lan. Greetings to the band.
Es stört mich massiv, dass Sie wie andere Brandenburg, Frankfurt (Oder) Thorsten Peppel, Neu-Isenburg (Hessen)
Medien auch die Ausführungen von Frau
Merkel aus dem Jahr 2015 auf den Satz Empathie, Verantwortung, Respekt und
»Wir schaffen das« reduzieren. Sie sprach Achtung vor der Kreatur sind im Vokabu-
davon, dass die Bundesrepublik ein starkes lar dieses Lobbyisten eines lebensfeind-
Land sei, das schon sehr viel geschafft, also lichen landwirtschaftlichen Systems offen-
bewältigt, habe und dass folglich unser sichtlich nicht vorhanden. Seine dumme
»Motiv« sein müsse: »Wir schaffen das.« Bemerkung vom »Kuschelstroh« ist an Zy-
Sie hat damals als Appell eine Haltung ein- nismus nicht zu übertreffen. Von solchen
gefordert, von der man sich leiten lassen Zeitgenossen wimmelt es in der Fleisch-
möge. Das ist etwas vollkommen anderes industrie, einer zutiefst verrufenen Bran-
als die nüchterne Behauptung, als die diese che. Der tierärztliche Berufsstand, vor al-
Aussage immer hingestellt wird. lem die Veterinärämter mit ihren mangeln-
Rainer Jensen, Berlin den Kontrollen, tragen wesentlich zu den »Whoosh!«-Cover
Zuständen in der industriellen Tierhaltung
Es ist durchaus möglich, dass wir in zehn bei. Politik und Justiz sind aufgefordert, Als Veranstalter des ersten Popfestivals in
Jahren und bei einer einigermaßen gelun- endlich zu handeln und gültiges Tierschutz- Deutschland, des Internationalen Essener
genen Integration den Satz zu hören be- recht durchzusetzen. Agrarkriminalität Pop & Blues Festivals im Oktober 1969,
kommen: Ihr Deutschen habt gut reden, gehöre in die Strafverfolgung wie jedes an- lernte ich Deep Purple hautnah kennen.
die vielen Zuwanderer haben eure Kon- dere Verbrechen, fordert die ehemalige Ich hatte eine sehr fröhliche und harmoni-
junktur kräftig angeschoben. Es ist erstaun- Landwirtschaftsministerin Renate Künast. sche Kommunikation mit allen Bandmit-
lich, dass die Chancen der Zuwanderung Bärbel Starkloff, Bad Harzburg (Nieders.) gliedern, auch mit Ian Gillan. Umso mehr
nicht gesehen werden. befremden und irritieren seine offenbar
Hermann Morguet, Wessobrunn (Bayern) Ich kenne keine andere Branche, die eine sogar in Rage vorgetragenen Äußerungen.
derartige Wagenburgmentalität entwickelt Von einem Bandmitglied in seinem Alter
Weder hat die EU es geschafft, eine struk- hat wie die Landwirtschaft. Sie umgibt sich hätte ich niemals angenommen, dass es
turierte, nachhaltige und verpflichtende mit einem Gespinst aus beschönigenden sich ganz offen für Grausamkeiten wie
Flüchtlingspolitik durchzusetzen, noch Begriffen wie »ordnungsgemäße Landwirt- Kolonialismus, Rassismus und Diskrimi-
gibt es ein zukunftsorientiertes Konzept schaft«, »tiergerechte Haltung« sowie nied- nierung ausspricht.
zur Migration auf nationaler Ebene. Der lichen Fotos von angeblich glücklichen Tie- Konrad Mallison, Hirschberg (Bad.-Württ.)
Flüchtlingsdeal mit Erdoğans Türkei ist ren. Dabei wissen Insider, dass besonders
weit entfernt von allen humanistischen Zuchtsauen und Milchkühe nur eine sehr Da haben die »alten Säcke« noch mal rich-
Idealen. Zugleich lehnt ein großer Teil der kurze »Nutzungsdauer« haben, weil sie tig einen abgelassen. Habe mir nach der
deutschen Bevölkerung die Aufnahme von nach den Regeln der »guten fachlichen Pra- Rezension das neue Album besorgt. Die
Flüchtlingen aus griechischen Lagern ab. xis« ausgebeutet werden, bis sie unwirt- drei »Alten«, Paice, Glover und vor allem
schaftlich werden und zur Vermeidung Gillan, sind fit wie vor 50 Jahren. Lediglich
von Tierarztkosten zum Schlachthof ge- mit Steve Morse hadere ich ein wenig.
hen. Dieser Selbstbetrug ist offenbar nötig, Trotzdem ein klasse Album, das ich ohne
damit sich die Tierhalter noch im Spiegel den SPIEGEL nicht gekauft hätte.
Peter Schinzler / DER SPIEGEL
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Hohlspiegel Rückspiegel
Zitate
Aus dem »Elbe Geest Wochenblatt«:
»So organisierte sie z. B. im Mai eine
Jugendrallye durchs Dorf mit
leckeren Gutscheinen als Gewinne.«
Das Wissen Der britische »Guardian« zum SPIEGEL-
der Besten
Titel »Das Nawalny-Komplott« (Nr. 36/2020):
Es ist immer gut zu wissen, dass man sich auf einen starken Partner verlassen kann.
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