Sie sind auf Seite 1von 21

Theoretische Grundlagen der

zweiten Fremdsprache
Die Helvetismen in linguistischer
Sicht

Doz. Dr. Taras Pyts


Inhalt
• Lautung: Vokale und Konsonanten
• Prosodische Merkmale und Schreibung
(Orthographie)
• Grammatik und Morphologie
• Wortschatz und Pragmatik
Domäne der standardsprachlichen
Aussprachehelvetismen
• in überregionalen Nachrichtensendungen;
• in Vorlesungen an der Universität;
• bei Gesprächen mit Nicht-Deutschschweizern.

Also mit Personen, die des Schwyzerdütschen


nicht mächtig sind.
Merkmale des Lautsystems I
• Aussprache von y als [ɪ] bzw. [i:] in einigen Lehnwörtern: Ägypten
[ɛgiptən] (österr. ɪ/y; dt. [ɛgʏptən]), System [ziste:m] (österr. ɪ/y;
dt. [zʏste:m]) Asyl, Forsythie (auch österr.), Gymnasium,
Gymnastik, Libyen (auch österr.), Physik, Pyramide (auch österr.),
Zylinder. Auch in Eigennamen wie Lydia, Schwyz, Wyl;
• Aussprache von geschriebenem a in englischen Wörtern als [æ]:
Action, Banker, Sandwich (in den übrigen Sprachzentren [ɛ]);
• Das auslautende -e in französischen Wörtern entfällt häufig:
Garage [gara:ʓ] (dt. [gara:ʓə]), Drainage (dt. ə) oder Nuance
[nya͂:s] (dt. [nya͂:sə]), Chauffeuse, Coiffeuse (österr., dt. auch mit
ə), Loge.
Merkmale des Lautsystems II
• Aussprache des Suffixes -ment als [mɛnt] (dt./österr.
[mã:], dt. auch [maŋ]): Abonnement, Appartement,
Departement, Etablissiment, Reglement usw. In dieser
Silbe wird e voll ausgesprochen;
• Besonders auffallend in der schweizer
Standardaussprache sind die fallenden Diphnonge (ie,
ue/uo, üe/üo), bei deren Realisation die Zunge gesenkt
wird. Sie kommen vor allem in Ortsnamen (Brienz,
Buochs, Flüelen) und Familiennamen (Büeler, Huober,
Bieri) vor aber auch in Grüezi, Müesli;
Merkmale des Lautsystems III
Der betonte Vokal wird oft kurz ausgesprochen selbst
dort, wo er in Deutschland oder in Österreich
üblicherweise lang ausgesprochen wird:
• in Lehnwörtern mit Elementen -ik, -it, - iz, -atik, -atisch:
Appetit, Aurikel, Fabrik, Liter, Miliz, Thematik, dramatisch,
Profit u.a.
• in Einzelwörtern (betrifft bei mehrsilbigen Wörtern jeweils
die betonnte Silbe): düster [dʏstə] (dt. [dy:stə]), knutschen
[knʊtʃn] (dt. [knu:tʃn]), Barsch, Beschwerde, Erde, erden,
Geburt, grätschen, hätscheln, Harz, Herd, Jagd, Krebs,
Mond, Nische, Obst, Städte, Viper, werden u.a.
Eigentümlichkeiten im Konsonantensystem I
• Lenisfrikative und -plosive b, d, g, g [ʒ], s, w sind wie im
österreichischen Deutsch (Ausnahme [ʒ]) stimmlos (dt.
stimmhaft), z. B. in bitte (pitte), Bär (Pär), danke (tanke), doch
(toch), Gelee (Schelee), gern (kern), Suppe, sagen, sieben,
Wald (Fald) usw.
• [f]-Aussprache des geschriebenen v in einigen Lehnwörtern
aus romanischen Sprachen: Advent [atfɛnt] (auch österr.; dt.
[atvɛnt]), Advokat, Evangelium, Kadaver, Klavier, nervös,
November, Proviant, Provinz, Revier, Vasall, Vegetarier, violett,
Visier auch bei Eigennamen Veronika, Viktor, Venedig.
• Geschriebenes r wird immer konsonantisch gesprochen und
nicht wie in anderen deutschsprachigen Gebieten vokalisiert
oder ganz eliminiert: oder [o:deR] statt [o:dɐ], Fahrt [fa:Rt].
Eigentümlichkeiten im Konsonantensystem
II
• [χ]-Aussprache (velarer Frikativ) des ch im
Wortanlaut vor vorderem Vokal in Lehnwörtern ist
Gebrauchsstandard (dt. [ҫ], österr. [k]): Chemie,
China, Chirurgie usw.
• [k]-Aussprache des g im Suffix -ig und im unbetonten
Wortelement -igt (auch süddt./österr., dt. [ҫ]): ewig
[e:vik] (dt. [e:viç]), Ludwig, erledigt [ɛɐle:dikt] (dt.
[ɛɒle:diçkt]), genehmigt usw.
• Doppelkonsonanten werden lang gesprochen: Egge,
Latte, Masse.
Prosodische Merkmale
– Akzent auf der ersten Silbe. Meistens liegt der Akzent auf
der ersten Silbe bzw. dem Bestimmungswort (Abteilung,
Äskulap, Labor, Muskat, Oblate, Philharmonisch, Papagei
(dt. letzte Silbe oder Bestimmungswort), aber bei
Entlehnungen aus dem Französischen gibt es
– einen schwebenden Akzent mit gleichstarkem Akzent auf
allen Silben , z.B. Asphalt, Apostroph, Buffet, Billet [bilɛt],
Budget, Filet (dt., österr. letzte Silbe), Parfum, Perron.
– Betonung der zweiten Silbe: Algebra, Araber, Motor,
Orient, Tibet u.a.
– Satzmelodie. Schweizer variieren stärker in der Tonhöhe
als in Deutschland und vermutlich auch als in Österreich.
Orthographie
• Der Rechtschreibeduden ist mit Ausnahmen auch in der Schweiz für die
Orthographie verbindlich;
• der Buchstabe ß wird nicht verwendet;
• Der Buchstabe ß wird durch ss ersetzt. Daher weichen Schreibungen des s-
Lautes nach Langvokalen von der österreichischen und deutschen
Orthographie ab.
• Bei der Schreibung Busse kann man unter diesen Umständen nur aus Kontext
erschließen, ob der Plural von Bus gemeint ist oder „Bemühen um
Wiedergutmachung; Geldstrafe“.
• Manche Schweizer Verlage (z.B. Diogenes) verwenden ß.
• Im Zusammenhang mit dem Verzicht auf das ß gibt es auch eine
Besonderheit bei der Worttrennung. Sie erfolgt stets, also auch nach
Langvokal (offener Silbe) durch Trennung des ss, Stras-se, reis-sen usw. In
Deutschland und Österreich wird dagegen nach Langvokal hinter dem Vokal
getrennt, also Stra-sse, rei-ssen.
Schreibungen von Einzelwörtern und
Fremdwörtern
• Einzelwörter – Bretzel (auch Brezel), Marroni (in A: Maroni),
Maturand (in A: Maturant), Müesli (in A und D. Müsli),
nachhause (auch: nach Hause), Trassee (auch Trasse), Usanz
(auch: Usanze), Ziger (in A: Zieger), zuhause (auch zu Hause);
• Bei Fremdwortschreibung tendiert man in der Schweiz stärker
als in anderen deutschen Zentren zur Originalschreibung von
französischen Fremdwörtern, wobei eingedeutschte
Schreibungen als Korrekt aber weniger gebräuchlich sind:
Biscuit (auch Biskuit), Caramel (auch Karamel), Cognac (auch
Kognak), Couvert (auch Kuvert), Manicure (auch Maniküre),
Purée (auch Püree), Résumé (auch Resüme) u.a.
Orthographie II
Zusammen werden solche Wörter geschrieben,
die eine geographische Zuordnung bestimmen.
Zum Vergleich: In Deutschland und in Österreich
schreibt man sie getrennt. Z.B.
Amerikanerwagen, Schweizergrenze,
Schweizerkind, Zürcherdialekt, Zürcherart.
Grammatik: Verben
• Das Perfekt und Plusquamperfekt bei Verben der Körperhaltung (z. B. sitzen,
stehen, liegen) wird in der Schweiz (ebenso in Österreich und Süddeutschland)
mit dem Hilfsverb sein gebildet: ich bin gestanden, er ist gelegen, wir waren
gesessen usw.
• Im Bereich der Verbformen findet man in schweizerhochdeutschen
Schriftsprache noch oft Formen, die in Deutschland als veraltet gelten: du
wünschest statt du wünscht, du fandest statt du fandst, sie hat gewoben an
Stelle von sie hat gewebt.
• Reflexive Verben werden gelegentlich nicht-reflexiv verwendet (Die Regierung
hat eine Revision vorbehalten). Auch der umgekehrte Fall ist möglich (... wie wir
es uns gewohnt sind).
• Einige Verben weisen eine abweichende Rektion auf, z.B. das Verb präsidieren
fordert eine Akkusativ-Ergänzung (Er präsidiert die Sitzung = A). Das Verb rufen
wird häufig mit einer Dativ-Ergänzung versehen (Sie ruft ihm). Ebenso
abpassen, anläuten, anrufen.
Grammatik: Genus und Pluralbildung
• Manche Substantive haben in der Schweiz ein anderes Genus als in den übrigen
nationalen Varietäten: das Bikini (dt., österr. mask.), der Match, das Puff
(,Bordell‘), der Pulver (,Geld‘), der Rumba, der Samba, das SMS, das Tea-Room,
das Tram. Es schwankt bei: die/das (Coca) Cola, der/die Couch (dt., österr. fem.),
der/das Dessert, die/das Foto, der/das Kamin, das/die Mami, der/das Pyjama,
der/die Salami, der/das Radio, der/das Taxi (dt., österr. neutrum), der/das
Schoss (dt., österr. mask.).
• Als Plural von Park ist im Schweizerhochdeutschen neben Parks (gemeindt.)
auch Pärke möglich (auch österr., dt. Parks), bei Bogen, Kragen und Zapfen sind
ebenfalls zwei Pluralformen standardsprachlich: Bögen ( auch österr./süddt, dt.
Bogen), Krägen/Kragen (auch österr./süddt, dt. Kragen), Zäpfen/Zapfen. Der
Plural von Spargel lautet Spargeln. Fremdwörter auf -ment bilden die Pluralform
mit -e (dt., österr. -s): Abonnemente, Departemente, Etablissemente,
Reglemente. Auch Einzelfälle: Cremes/Cremen ( auch österr., dt. Cremes),
Zubehörden (dt., österr. Zubehöre).
Morphologie: Zusammensetzungen
• Bei der Bildung von Zusammensetzungen gibt es zahlreiche
Unterschiede in Bezug auf das Fugenelement:
• die schweizerische Varietät gilt meistens als ein Gegenteil zu der
deutschen Varietät, wobei die österreichische Varietät einen
gewissen Übergang darstellt, d.h.
• wo im Deutschen ein Fugenelement gebraucht wird, verwendet
man in der Schweiz keinen und umgekehrt, z.B. Badkleidung
(schweiz.) – Badekleidung (dt.), Zugsverkehr (schweiz.) –
Zugverkehr (dt.);
• en-Endung als Fugenzeichen wird getilgt, z.B. Schattseite
(schweiz.) – Schattenseite (dt.), Adressänderung (schweiz.) –
Adressenänderung (dt.).
Morphologie: Suffixe bei Substantiven
Die Suffixe unterscheiden sich in der Schweiz von denen
in Deutschland oder Österreich in dem Gebrauch, obwohl
manche Formen auch in anderen Sprachgebieten als in
der Schweiz existieren, aber meistens treten sie als nicht
bevorzugte Formen auf.
• Es handelt sich um die Suffixe -er, wo in Deutschland -
ler (Wissenschafter für Wissenschaftler) bevorzugt wird,
• -li (siehe unten),
• -or im Gegensatz zu dem deutschen und
österreichischen Suffix –eur (Instruktor, Redaktor).
Morphologie: Derivation
• Das Suffix -same, das zum Teil durch -schaft ersetzt werden kann und zur
Bildung von Kollektiva herangezogen wird: Bauernsame (Bauernschaft),
Genossame (Genossenschaft), Tranksame (Getränk);
• Das Suffix -et(e) bildet Verbalabstrakta: Antrinket (Geschäftseröffnung durch
einen neuen Wirt), Ausschiesset (Schützenfest), Wimmet (Weinlese), Züglete
(Umzug), Putzete (Hausputz). Verbalabstrakta ohne Suffix sind Unterbruch,
Untersuch, Verlad, Vorkehr, Zusammenzug. Die entsprechenden
gemeindeutschen Ausdrücke enden jeweils auf -ung: Unterbrechung,
Untersuchung, Verladung, Vorkehrung, Zusammenziehung;
• Das Suffix -el(n) kann deadjektivische und desubstantivische Verben in der
Bedeutung „nach etw. riechen“ ableiten: feuchteln, fischeln, menscheln;
• Zur Verbbildung wird gelegentlich das Suffix -ier(en) herangezogen, während
es bei den entsprechenden Verben der anderen nationalen Varietäten fehlt:
campieren, grillieren, handicapieren, parkieren und jemanden konkurenzieren
heißt jemandem Konkurrenz machen.
Deminutiva
Sie werden mit dem Suffix -li gebildet: Säckli („kleiner Sack“).
Diminutiva werden mit dem Suffix -li gebildet: Säckli („kleiner
Sack“). Es gibt auch Bildungen, die nur der Form nach
Diminutive sind aber nicht als „etwas kleines/niedliches“
gedeutet werden können: Rippli („geräucherte
Schweinerippe“), Springerli („ein Weihnachtsgebäck“), Stübli
(„rustikal eingerichtetes Zimmer“), Wienerli („eine
Wurstsorte“) u. a. Ebenso: Güggeli (,als Gericht zubereiteter,
gebratener (junger) Hahn), Knöpfli („Spätzle“), Mistkratzerli
(,als Gericht zubereitetes, gebratenes junges Huhn“), Müesli
(„Müsli“), Töffli (,Moped, Mofa“).
Suffix -ler
In der Schweiz ist es üblich zu sagen Bänkler,
aber die deutsche und österreichische Varietät
benötigt ein Kompositum, also in diesem Fall
Bankangestellter; genauso Kindergärtler
(Kindergartenkind), Köpfler (Kopfsprung oder
Kopfball), Pöstler (Postbediensteter).
Schweizerhochdeutsch
und Deutsches Deutsch
• Häufig stehen im Schweizerhochdeutschen andere Wörter als im
Binnendeutschen, Fahrausweis für Führerschein, Tram für Straßenbahn,
Gitzi für Zicklein, Gugelhopf für Napfkuchen.
• Zu diesen Abweichungen kommen noch solche hinzu, die durch das
andere politische System und die andere Verwaltung geprägt sind:
Kanton, Ammann (= Kantons-, Gemeindepräsident), Referendum,
Franken; der Bundesrat ist die Schweizer Regierung. Abkürzungen von
Schweizer Institutionen: ETH (= Eidgenössische Technische Hochschule).
• Stärker als in Deutschland oder Österreich wird in der Schweiz auf einen
geschlechtsneutralen Sprachgebrauch geachtet. So finden sich häufiger
Ableitungen aus dem Partizip Präsens: Studierende statt Studenten oder
Doppelformen Lehrerinnen und Lehrer, zuweilen auch Ausweichformen
wie Lehrpersonen.
Phraseologismen
• Es gibt solche Redewendungen, die ausschließlich in der Schweiz
verwendet werden und keinen entsprechenden Äquivalent in der
binnendeutschen Varietät haben (den Knopf auftun (bezogen auf
Kinder) bedeutet „einen merklichen Entwicklungsschritt
machen“) und auch
• solche, die sich nur grammatisch unterscheiden (Anfang Woche
oder von Auge für Anfang der Woche und nur mit bloßem Auge in
Deutschland und Österreich).
• Manchmal gibt es Fälle, wo die Schweizer ein Idiom verwenden,
wo die Deutschen und Österreicher ein ganz anderes
Phraseologismus kennen, aber mit derselben Bedeutung, so etwa
dastehen wie der Esel am Berg (schweiz.) verglichen mit wie der
Ochs am/vorm Scheunentor (dt., österr.).

Das könnte Ihnen auch gefallen