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NEU
Europas führendes Gesundheitsresort in neuem
Gewand: Neue Suiten mit privater Dachterrasse, ein
komplett neuer Spa-Bereich mit Indoor- und Outdoor-
Pool in Meerwasserqualität, eine neue Sauna-
landschaft mit atemberaubendem Ausblick, eine
medizinische Kältekammer mit bis zu minus 110
Grad sowie weitere spektakuläre Highlights machen
den legendären Lanserhof nahe Innsbruck jetzt noch
attraktiver.
Glückliche
Früchtchen:
Auch bei Obst
achten viele
darauf, dass es
ökologisch
korrekt produ-
ziert wurde.
ER GEHÖRT ZU DER HANDVOLL deutscher Köche, die vom
Guide Michelin mit drei Sternen ausgezeichnet wurden.
SPIEGEL-Autor Joachim Kronsbein besuchte Kevin Fehling in
seinem Hamburger Restaurant The Table, schaute mit ihm in
die Suppentöpfe und ließ sich Fehlings langen Weg vom Lieb-
lingsgericht seiner Kindheit, Pizza Salami, bis zu seinen ausge-
tüftelten Kreationen aus heimischen und exotischen Zutaten
HEUTE SCHON GUT GEGESSEN? Wir beschäftigen uns und Aromen beschreiben.
mehr denn je damit, uns möglichst optimal zu ernähren – doch Das Gespräch fand am frühen Nachmittag statt, zu essen gab es
wir sind einer verwirrenden Vielfalt von Diätkonzepten, Lebens- da leider noch nichts, aber immerhin Mineralwasser. Der Ster-
mittelangeboten und wissenschaftlichen Thesen ausgesetzt. nekoch gestand, dass er sich zwar leidenschaftlich immer neue
Vom Veganismus bis zum Heilfasten findet alles seine Verfechter. Gerichte ausdenkt, sie aber ungern selbst isst (Seite 80).
Aber was nützt wirklich? Was ist nur Hype? Und wie essen wir
so, dass es nicht nur unserem Körper guttut, sondern auch der
Umwelt und den Tieren?
SPIEGEL WISSEN liefert gesicherte Erkenntnisse über unsere
MAGDALENA NIEMCZYK / GALLERY STOCK (ILLUSTRATION: ILLUMUELLER.CH), SEBASTIAN ARLT, YVONNE SCHMEDEMANN
I N D I E S E M H E F T
20
Vitamine & Co.:
32
11 Gemüse- und Obst-
sorten im Überblick Da hat sie den
Salat: Selbst-
versorgung
liegt im Trend.
12
Mäh! Auf dem Biohof
Knuthenlund leben alle
Nutztiere artgerecht.
K A P I T E L 1 D O S S I E R E S S K U L T U R
DAVID MAUPILÉ, SILVIO KNEZEVIC, DAVID CARREÑO HANSEN, FRITZ BECK, PRESSE-BILD-POSS / SZ PHOTO, NORMAN KONRAD
12 Die Knuthenlund- 50 Die Wirte meines Lebens
Formel Gaststuben sind ein Stück Heimat,
Im dänischen Lolland betreiben findet Barbara Supp – besonders
die Simonsens einen profitablen wenn sie bodenständige schwäbi-
Biohof – und retten alte Tierrassen. sche Küche servieren.
54
Über den
Tellerrand: die
Ethik des
richtigen Essens.
50
Ganz wie früher:
ein Lob auf
die Kochkunst
traditioneller
Gastwirtschaften. 72
Süß oder herzhaft:
Forscher erkunden
den Geschmackssinn.
K A P I T E L 2
LEIB UND MAGEN 80 „Ich wollte ganz neue 100 Fressen und fasten
Geschichten auf Für Spitzensportler ist die optimale
dem Teller erzählen“ Ernährung ein Teil des Jobs.
72 Leckerschmecker Kevin Fehling, Deutschlands
Der amerikanische Neurobiologe jüngster Dreisternekoch, über die 104 B€ss€r€ss€r
Gordon Shepherd erforscht hohe Kunst des Schmeckens. Ständig gibt es neue Modediäten –
den „komplexesten aller Sinne“: die meisten sind unsinnig, sagt die
den Geschmack. 84 Die Leichtigkeit des Wissenschaft.
Seins
79 Dr. Allwissend Fasten tut gut und hilft sogar, 106 Die Zunge als moralische
Speisen auf Rezept – die wieder gesund zu werden. Instanz
jahrtausendealte Geschichte Das bestätigt nun auch die Immer schön lässig bleiben! Unser
des Kochbuchs. Wissenschaft. Autor isst am liebsten das, was ihm
schmeckt. Sogar Käfer.
88 Hungerkünstler
Drei Anleitungen zum richtigen
Fasten.
90 Bakterien würden
Ballaststoffe kaufen
Wer seine Gesundheit schützen will,
sollte seine Darmflora fit halten –
mit der richtigen Ernährung.
Titelbild: 3 Editorial
Foto: Adam 94 Bauchgefühl 6 Ein Bild und seine Geschichte
Voorhes / Allergien und Nahrungsunverträg- 10 Meldungen I: Zwischenmahlzeit
Gallery Stock lichkeiten nehmen zu. Wie findet 70 Meldungen II: Tagesgericht
man Hilfe? Und wie lebt man damit, 30 Apps, die Appetit machen
nicht alles essen zu dürfen? 110 Vorschau, Impressum
F E L D U N D FA B R I K
„Identität wird heute stark über „Unsere Generation, die 40- „Wo Bio draufsteht,
individuelle Essgewohnheiten Jährigen, ist mit all diesen Eier-, ist auch Bio drin. Darauf
gebildet. Noch in den Siebziger- Fleisch-, Geflügelskandalen kann ich mich als
jahren suchte und fand man groß geworden. Ich habe erlebt, Verbraucher in Deutschland
Identität eher im Sexuellen, wie meine Mutter, die Bäuerin, verlassen, unabhängig
noch früher war das Parteibuch von Allergien geplagt wurde. davon, wo die Produkte
ausschlaggebend.“ Wir wollen das nicht mehr.“ verkauft werden.“
KLAUS PICHLER / ANZENBERGER (2), FOX PHOTOS / GETTY IMAGES, MARGA WERNER / GETTY IMAGES, THORDIS RÜGGEBERG / PLAINPICTURE
VERGAMMELTE ERDBEEREN in der Silberschüssel, verwesen- das täglich weggeworfen wird – weil die Ware während des Trans-
des Rindfleisch mit Madendekoration: Für sein Projekt „One Third“ ports über Tausende Kilometer verdirbt, beim Händler zu lange
arrangierte der Fotograf Klaus Pichler verrottete Nahrungsmittel – zwischenlagert oder in Haushalten verfault. Mancher Betrachter
perfekt ausgeleuchtet und pseudoappetitlich in Szene gesetzt. Mit habe sich in seinen Konsum- und Wegwerfgewohnheiten ertappt
dieser Ästhetik, bewusst an die Werbefotografie angelehnt, will der gefühlt, erzählt Pichler. Dabei könnten sich viele Menschen nur
Österreicher an das „eine Drittel“ unserer Lebensmittel erinnern, wenige Bilder ansehen, weil sie sich zu sehr ekelten.
Die Knuthenlund-
Formel
SPIEGEL WISSEN 1 / 2017 13
Jahre gekommene Knechte und die Aussicht, sich den Rest des
Lebens mit Milchquoten, Geflügelpest und Preisdiktaten beschäf-
tigen zu dürfen. „Ich wusste, dass ich nur Lebensmittel produzie-
ren werde, die ich selbst auch kaufen und essen möchte. Sonst
hätte ich den Hof nie übernommen“, sagt Susanne Simonsen, die
mit Jesper, dem Milchbauernjungen vom Hof zwei Kilometer wei-
ter, schon in der Volksschule zusammengesessen hatte. Weshalb
man auch gleich heiraten konnte.
So entstand das Projekt Knuthenlund, ein recht erfolgreiches
Unterfangen, das zu verändern, was man isst.
Was das mit Fledermäusen, Salamandern und Birnbäumen zu
tun hat? Als die Simonsens anfingen, gab es vom „schwarzbunten
dänischen Schwein“ noch vielleicht 70 Exemplare. „Sie wurden
in Tierparks gehalten, als gefährdete Art. Wir haben vier Stück
kaufen können und züchten sie, weil das genau die Schweineart
ist, die auf Lolland heimisch war bis Anfang der Achtziger.“ In-
zwischen gibt es etwa 1500 gefleckte Rasseschweine, drei Viertel
leben in Knuthenlund, als zur Schlachtung bestimmtes Mastvieh.
So kurz ist der Weg von der Artenschutzliste zurück auf die
Speisekarte.
„Wir sind nicht nur ein Biohof, sondern auch eine Biodiversi-
tätsfarm“, sagt Susanne Simonsen. Sie spricht schnell, hat gerade
einen Moment gefunden zwischen Teambesprechung und Jahres-
abschluss. „Wir wollen den Artenreichtum erhöhen, die Zahl der
Insektenarten, der Gräser, der Würmer, wir wollen die Mikro-
organismen im Boden pflegen.“
Wenn Jesper der Praktiker ist auf Knuthenlund, dann ist
Susanne diejenige fürs große Ganze.
Weil sie sich in diesem Klima entwickelt haben, könnten die
Fleckschweine auch das ganze Jahr über im Freien leben, viele
im Wald am Ende der Fledermaus-Straße. Anders als den gängigen
Der Biohof Knuthenlund ist ein Modellversuch für eine bessere Mastschweinen droht diesen Tieren auch kein Sonnenbrand. Um
Welt – für Menschen, Schweine und sogar Fledermäuse. vor dem Schlachten nicht in Angststress zu geraten, werden die
Knuthenlunder Schweine mit dem Gewehr abgeschossen. Mitten
heraus aus dem Leben. Es ist kein Widerspruch dazu, dass der
dänische Tierschutzbund Susanne Simonsen gerade zum „Tier-
freund des Jahres 2016“ ernannt hat.
Knuthenlund besteht aus dem Gutshaus mit der traditionellen
EINE DER MEISTBEFLOGENEN Fledermaus-Autobahnen Uhr am Giebel, einer sehr großen Scheune aus Ziegeln, in der zu-
Dänemarks passiert die Weißdornstumpen entlang des Knuthen- gleich Hofladen und ein kleines Restaurant, Meierei und Melkstall
lund-Wegs, biegt dann, sich leicht senkend, in eine Birnbaumallee untergebracht sind. Außerdem gibt es den Schafstall für 1500 Tie-
und mündet in den Ørby-Wald. „1850 Fledermäuse pro Nacht“, re, die Getreidescheuer samt Mühle, Werkzeugschuppen und das
das sei dänischer Rekord, sagt Jesper Hovmand-Simonsen und Gästehaus für Besucher. Geflügelhof, Bienenstöcke, zwei Teiche
schiebt sich fröstelnd die Brille auf die gerötete Nase. „Und min- und drum herum die tausend Hektar Land, darunter drei Wälder.
destens zwölf verschiedene Arten.“ Derzeit werden überall Hecken gelegt, aus Wildpflaume, vier Me-
In der Nacht hat es eine Sturmflut gegeben, jetzt ist es schnei- ter breit. Das zieht Wildvögel an und bremst den Läusebefall auf
dend kalt. Der Matsch auf dem Schweineacker ist festgefroren, den Erbsenbeeten.
und unsicher wie übergewichtige Ballerinen staken die Sauen
über die Rillen und Furchen hin zum Futter. ES HAT AUCH IN DÄNEMARK eine ganze Weile gedauert, bis
„Fledermäuse benutzen Alleen als Flugkorridore“, redet Jesper sich ein Markt für Bioprodukte etablieren konnte und aus dem
Hovmand-Simonsen weiter, und wenn es nicht so säuisch frostig Hotdog-Land das Reich der Biogourmetköche wurde. „Unsere
wäre, würde er noch länger über die Salamander- und Laubfrosch- Generation, die 40-Jährigen, ist mit all diesen Eier-, Fleisch-,
arten berichten, die sich – „schon nach sechs Monaten!“ – in dem Geflügelskandalen großgeworden. Ich habe erlebt, wie meine
DAVID MAUPILÉ / SPIEGEL WISSEN
neuen Teich angesiedelt haben und derentwegen jetzt auch Am- Mutter, die Bäuerin, von Allergien geplagt wurde. Wir wollen das
phibienfreunde das Gut Knuthenlund auf ihrer Landkarte hätten. nicht mehr“, sagt Susanne Simonsen.
„Laubfroschbeobachter. Na, es muss ja alles geben.“ Sagt Jesper, Die Finanzkrise 2007 war die Wende: „Die Leute wollen keine
und damit ist schon vieles gesagt. edlen Küchen, in denen sie sowieso nicht kochen. Keine Fernrei-
Es war ziemlich genau vor zehn Jahren, als Susanne Simonsen sen, keine tollen Autos mehr. Sie wollen gute Lebensmittel, in Pa-
den Hof Knuthenlund von ihren Eltern übernahm, mitten auf der piertüten verpackt, sie sind mehr am Inhalt als an der Verpackung
süddänischen Insel Lolland. Tausend Hektar Land, drei in die interessiert. Sie haben die Nase voll von Banken, von Politikern
lange, umso mehr, als die Produzenten erst produziert werden rischem Gewölle. Wenn Jesper etwa von „homöopathischen Wie-
mussten: „Wir wollten genau die Rasse der roten dänischen Milch- sen“ spricht, dann nicht, weil hier Zuckerkügelchen verbuddelt
kuh, die auf Lolland seit 1729 gelebt hat“, sagt Jesper. „Sie gibt sind. „Wir lassen Kräuter auf den Wiesen wachsen. Zitronen-
nur 12 Liter Milch pro Tag statt 35, wie bei der Industriekuh, der melisse, Majoran, Schafgarbe, wilden Kümmel, Esparsette, Wege-
Holsteiner. So war auch diese Kuhrasse am Aussterben. Vier Exem- rich, und was weiß ich.“ Die anderen Sorten wisse Susanne.
plare konnten wir davon kaufen. Heute haben wir 150 Muttertiere, Jedenfalls hatten, als es so feucht war vorletztes Jahr, die Läm-
das sind 70 Prozent der gesamten Art. Wir verlieren die Gene der mer auf den Kräuterwiesen deutlich weniger Ärger mit Würmern
als die anderen. 60 Prozent weniger. Das habe die Uni in Aarhus
VIDEO: Besuch bei Dänemarks
errechnet. Es funktioniert also. größten Ökobetrieb
Im Schafstall wird den Tieren gerade Heu hingeworfen. „Wir www.spiegel.de/sw012017knuthenlund
füttern keine Silage, um den Schafgeschmack des Fleisches etwas
abzumildern“, sagt Jesper. Die Tiere stehen bis zum Bauchfell
auf Stroh und kauen. Jesper greift ins Futter und hält eine Hand- handel. Ohne eine Partnerschaft mit den Supermarktketten gehe
voll hin, wie zum Verkosten: Das Heu riecht ein wenig wie frisch- es nicht. Da hat es eine Arbeitsgruppe „Zukunft der Supermarkt-
geschnittener Tabak und Kräuteraufguss, durchaus verlockend. ketten“ gegeben. Zusammen mit Spitzengastronomen, Marketing-
und Einkaufsleitern ist Simonsen um die Welt gereist, auf der
ABER DAS BESTE BEWEISSTÜCK? Ist eine buchenbraune Suche nach Ideen, nach neuen Vertriebswegen.
Spanschachtel, in der ein „Fårebrie“ liegt. Ein Briekäse aus Schafs- Sie sagt: „Auch die Supermärkte müssen sich auf die neuen,
molke, mit einem Belag aus Edelschimmel, weiß patiniert wie ein kritischeren Kunden einstellen, sonst werden sie verschwinden
Fundstück vom Meer, und mit einem sanften, sich langsam ent- wie die Schwerindustrie. Sie müssen flexibler werden, weg von
wickelnden Aroma. diesen Großlagern. Also denken: Wenn ein Produkt vergriffen ist,
Das liege an der Milch und an der Technik, sagt Jesper: „Wir was kann ich an seine Stelle setzen? Biodynamik wird in der Zu-
sind hier 100 Jahre zurückgegangen. Joghurt und Käse werden kunft keine Nische mehr sein, sondern Mainstream.“
handgerührt, -gewendet, -geschüttet. Die Verpackung kann auto- Und damit das ein wenig schneller passiert, hat sie sich die
matisiert werden, alles andere nicht. Das gäbe eine andere Kon- Knuthenlund-Formel ausgedacht. Es ist ein sehr einfaches Kon-
sistenz. Das Produkt darf nicht gestresst werden.“ zept, sehr einleuchtend und im Widerspruch zu den gängigen
Knuthenlund hat mit seinem Schafsbrie 2011 die internationale Dogmen der Betriebswirtschaft. Die besagen: Jedes Produkt, egal
Käseolympiade „Premio Roma“ in der Kategorie „Schafskäse“ ge- ob hochwertig oder konventionell, braucht den gleichen Platz im
wonnen. Das Gleiche wollen Edwin und Jesper jetzt auch mit Regal. Und jedes soll den gleichen Prozentsatz Gewinn bringen.
Kuhmilchkäse erreichen. „Wir denken anders. Jedes Produkt soll den gleichen absoluten
„Wir verdienen Geld mit unserem Schweinefleisch und dem Gewinn bringen. Also fünf Kronen statt fünf Prozent. Dadurch
Getreide. Noch nicht mit den Milchprodukten.“ Der Betrieb hat werden die teuren Lebensmittel relativ billiger.“ Eine positive Dis-
2016 ausgeglichen abgeschlossen, bei einem Umsatz von 32 Mil- kriminierung von Qualität.
lionen Kronen. Für dieses Jahr sei ein Überschuss von 3 Millionen Jedenfalls ist es Susanne gelungen, die dänische Supermarkt-
Kronen geplant, sagt Susanne. kette „Irma“ von ihrer Formel zu überzeugen, 80 Prozent von
Qualität kostet, und gerade in Deutschland stößt man da an Knuthenlunds Mehl und Molkereiprodukten werden derzeit über
Marktgrenzen. „Mit Deutschland handeln wir praktisch nicht die 85 Filialen von Irma vertrieben. „Der Gewinn wird für jedes
mehr“, sagt Simonsen, „weil selbst die Bioketten so preisfixiert Produkt geteilt, fifty-fifty. Das ist offen und fair. Und der Super-
waren.“ Mit Metro Cash and Carry geht sie nun neue Wege: Der markt kann damit gegenüber dem Käufer offensiv auftreten und
Handelskonzern wird die Topgastronomie mit Knuthenlund- Werbung für sich machen.“
Produkten beliefern. Vielleicht eine Idee auch für anderswo. Knuthenlund werde
Bevor Susanne Simonsen nach Lolland zurückkam, um den nicht wachsen, sagt Jesper. Es wird bei den tausend Hektar bessere
Hof ihrer Eltern zu übernehmen, arbeitete sie im Lebensmittel- Welt bleiben, ausgeschlossen, auf Zuruf tonnenweise Schweine-
rücken zu liefern: „Dann gibt es Schweinerücken eben nur am
Wochenende in den Läden.“
Vielleicht sind die tausend Hektar eine Idealgröße. So wie es
Tausend Hektar Landglück: Knuthenlund ist groß genug für die alten Utopisten, von Charles Fourier bis Robert Owen, errech-
einen geschlossenen Kreislauf, klein genug für Transparenz. net haben. Groß genug für einen geschlossenen Kreislauf, klein
genug für Transparenz. Das richtige Maß.
Vielleicht ist Knuthenlund aber auch so eigentümlich dänisch
wie sein Name und nicht denkbar ohne das Außen: eines der wohl-
habendsten und besterzogenen Länder überhaupt.
„Nein. Unser Konzept könnte überall funktionieren“, sagt Su-
sanne Simonsen. „Der Gedanke, sich nach seinen Gegebenheiten
und seiner Geschichte zu richten. Wie man den Boden gesund hält,
wie horizontale Verkaufsstrategien aussehen können, wie einhei-
mische Lebensmittel und Arten gesichert werden können. Was ist
daran spezifisch dänisch?“ Es müsse nicht sein, sagt sie, dass Däne-
mark die ganze Welt ernährt: „In Afrika brauchen sie keinen däni-
schen Käse. Wir sollten besser unsere Erfahrungen exportieren.“
DAVID MAUPILÉ / SPIEGEL WISSEN
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Stand: 1. Dezember 2016.
Frohkost
Obst und Gemüse helfen unserem Körper, gesund und fit zu bleiben.
Wir stellen elf gängige Sorten vor, die es in sich haben.
TEXT SABINE ZARLING F OTO S SILVIO KNEZEVIC
E
in Teller Buntes: Je farbenfro- APFEL lösliche Vitamin hat eine große Bedeutung
her und abwechslungsreicher Für 1 Apfel (150 g) für das Immunsystem.
wir essen, desto gesünder ist un- MINERALSTOFFE: Durchschnittlicher Gehalt
sere Nahrung. Denn zu den sekundären VITAMINE: Vitamin C. Der Gehalt variiert an Kalium.
Pflanzenstoffen, die unserem Körper gut- je nach Apfelsorte. Das Vitamin ist wichtig SEKUNDÄRE PFLANZENSTOFFE: Rosafarbe-
tun, zählen die gelben und roten Farbstof- für die Immunabwehr. ne Grapefruits und Blutorangen trumpfen
fe (Carotinoide), die blauen, roten und MINERALSTOFFE: Kalium reguliert den Was- auf gegenüber Orangen und Zitronen
violetten Farbstoffe (Flavonoide), außer- serhaushalt der Zelle. durch ihren hohen Gehalt an den Farbstof-
dem Glucosinolate, Phenolsäuren und die SEKUNDÄRE PFLANZENSTOFFE: Antioxida- fen Betacarotin und Canthaxanthin. Sie ha-
Sulfide. tive Phenolsäuren sowie Flavonoide, von ben eine große antioxidative Wirkung. Fla-
In unserer Nahrung gibt es schät- ihnen besonders der gelbe Farbstoff Quer- vonoide in den weißen Segmenthäutchen
zungsweise 10 000 sekundäre Pflanzen- cetin, verringern das Risiko für Herz- wirken antimikrobiell. Deshalb nicht ent-
stoffe. Diese bioaktiven Substanzen sind Kreislauf- und bestimmte Krebskrank- fernen, sondern immer mitessen.
zwar nicht lebensnotwendig, können aber heiten. BALLASTSTOFFE: Die wasserlöslichen Pek-
eine gesundheitsfördernde Wirkung ha- BALLASTSTOFFE: Besonders die wasserlös- tine senken den Cholesterinspiegel.
ben. In Gemüse und Obst sind das haupt- lichen Pektine senken den Cholesterinspie- KALORIEN: 95 Kilokalorien.
sächlich Farb-, Duft- und Aromastoffe. gel und regen den Darm an. FAZIT: Der hohe Vitamin-C-Gehalt in Kom-
Die Pflanzen benötigen sie, um sich fort- KALORIEN: 81 Kilokalorien. bination mit den Carotinoiden senkt das Ri-
zupflanzen oder vor Fraßfeinden zu FAZIT: Die Schale des Apfels mitessen, weil siko für bestimmte Krebskrankheiten. Oran-
schützen. So locken sie zum Beispiel die meisten Flavonoide darin enthalten gen sind gute Alternativen zu Grapefruits.
durch ihre Farben und Düfte Insekten sind und weniger im Fruchtfleisch. Sie sind sogar reicher an Vitamin C, aber är-
zum Bestäuben an, oder sie wehren sich mer an Carotinoiden. Alle Zitrusfrüchte ent-
gegen Pilze, Bakterien oder Viren. Des- halten den typischen Aromastoff Limonen.
halb befinden sich manche dieser Sub- B R O K KO L I Er bindet Giftstoffe im Körper und leitet sie
stanzen oft direkt in der Schale – und we- Für 1 Portion (200 g) aus.
niger im Fruchtfleisch.
Wovon die Pflanzen profitieren, das VITAMINE: Der tägliche Bedarf an Vitamin
kommt auch uns zugute: In Obst und Ge- C wird zu etwa 200 Prozent gedeckt, der G R Ü N KO H L
müse enthaltene sekundäre Pflanzenstof- an Vitamin K zu 400 Prozent, der an Fol- Für 1 Portion (200 g)
fe können möglicherweise Entzündungen säure zu 75 Prozent. Vitamin C ist wichtig
hemmen, Cholesterin senken, Bakterien für das Immunsystem. Vitamin K ist essen- VITAMINE: Der Tagesbedarf an Vitamin C
und Viren abwehren und die Zellen ziell für die Blutgerinnung. Folsäure ist wird zu fast 200 Prozent gedeckt. Es
schützen. Eine Rolle spielen dabei freie wichtig für die Zellteilung und das Wachs- schützt die Zellen, ist wichtig für die Im-
Radikale. Sie sind Teil unseres Stoffwech- tum, besonders für Schwangere. munabwehr. Vitamin C und E sowie Provi-
sels. Obwohl sie uns gewöhnlich nicht MINERALSTOFFE: Brokkoli zählt zu den kal- tamin A (Betacarotin) fangen freie Radikale
schaden, können mehr freie Radikale ent- ziumreicheren Gemüsen. Gut für die Kno- ab. Grünkohl enthält sehr viel Vitamin K.
stehen und Gefäße zerstören, die Abwehr chen. Der Tagesbedarf wird um das 23-fache ge-
schwächen und schlimmstenfalls Krebs SEKUNDÄRE PFLANZENSTOFFE: Umfangrei- deckt. Es ist essenziell für die Blutgerin-
begünstigen, wenn der Körper durch cher Mix aus Glucosinolaten, Flavonoiden nung, die Wundheilung und den Knochen-
Umweltverschmutzung, intensive Son- (Quercetin und Kaempferol), Phenolsäuren aufbau.
nenbäder, Tabakrauch, Alkohol, übermä- und den Carotinoiden Betacarotin, Lutein MINERALSTOFFE: Für ein Gemüse auffal-
ßigen Sport oder Stress zusätzlich belas- und Zeaxanthin. Carotinoide schützen vor lend hoch ist sein Gehalt an Kalzium, es
tet wird. Viele sekundäre Pflanzenstoffe freien Radikalen und können wahrschein- deckt den Bedarf zu rund 40 Prozent.
sowie Vitamin C und E können die ag- lich das Krebsrisiko senken. Wichtig für stabile Kochen und Zähne.
gressive Gefahr eindämmen durch ihre BALLASTSTOFFE: Durchschnittlicher Ge- SEKUNDÄRE PFLANZENSTOFFE: Besonders
antioxidative Wirkung. halt an Ballaststoffen. Bindet Schadstoffe reich an Betacarotin (Vorstufe von Vitamin
Obst und Gemüse sind auch gute Lie- im Darm. A) und anderen Carotinoiden. Auch Fla-
feranten für Vitamine und Mineralstoffe. KALORIEN: 52 Kilokalorien. vonoide, Glucosinolate und Phenolsäuren
Der Körper kann diese Inhaltsstoffe nicht FAZIT: In Brokkoli stecken besonders viele sind enthalten.
selbst bilden, außer Vitamin D, sie müssen gesunde Stoffe. Damit diese bestmöglich BALLASTSTOFFE: Die Substanzen regen die
deshalb mit dem Essen aufgenommen erhalten bleiben, Brokkoli auch mal roh ge- Verdauung an, verringern wahrscheinlich
werden. Die größte bioaktive Wirkung ha- nießen oder bissfest dünsten, dämpfen, bra- das Darmkrebsrisiko und senken den Cho-
ben Vitamine und sekundäre Pflanzen- ten oder blanchieren. lesterinspiegel.
stoffe im Verbund. Die Deutsche Gesell- KALORIEN: 74 Kilokalorien.
schaft für Ernährung empfiehlt darum FAZIT: Der komplexe Mix aus sekundären
fünf Portionen Obst und Gemüse täglich: GRAPEFRUIT Pflanzenstoffen und antioxidativ wirken-
insgesamt 400 g Gemüse und 250 g Früch- Für 1 Frucht (250 g Fruchtfleisch) den Carotinoiden, Vitamin C und E redu-
te. An diesen natürlichen Schutz kommen ziert das Risiko für Krebs- und Herz-Kreis-
als Nahrungsergänzung kein Pulver und VITAMINE: Vitamin C. Der tägliche Bedarf lauf-Erkrankungen. Generell sind alle Kohl-
keine Tablette heran. wird zu 100 Prozent gedeckt. Das wasser- sorten wie Weiß- und Rotkohl, Wirsing, Ro-
sen- und Chinakohl gute Quellen für Bal- FAZIT: Kaum ein anderes Gemüse neben SEKUNDÄRE PFLANZENSTOFFE: Enthält
laststoffe, Vitamine und sekundäre Pflan- Grünkohl enthält so viel Betacarotin wie sehr viele Carotinoide, besonders Betaca-
zenstoffe. Damit diese Inhaltsstoffe best- Möhren. Weil der Farbstoff jedoch Hitze rotin und Lutein. Beide fangen freie Radi-
möglich erhalten bleiben, Kohl auch roh und Fett braucht, um freigesetzt zu werden, kale ab und haben vermutlich eine anti-
genießen oder so kurz wie möglich düns- sollte man die Wurzeln bissfest und in et- kanzerogene Wirkung.
ten. was Öl dünsten. Auch wenn das Betacaro- BALLASTSTOFFE: Durchschnittlicher Ge-
tin roh gegessen vom Körper kaum freige- halt.
setzt werden kann, sind Möhren wegen ih- KALORIEN: 32 Kilokalorien.
KARTOFFEL rer anderen Inhaltsstoffe sehr gesund. FAZIT: Vitamin C und die Carotinoide ma-
pha- und Betacarotin und Lutein. Caroti- min ist essenziell für die Blutgerinnung
noide fangen freie Radikale ab, verringern und Wundheilung. W E I N T R AU B E N
das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten MINERALSTOFFE: Spinat ist ein guter Liefe- Für 1 Portion (150 g)
und altersbedingte Augenkrankheiten. rant für Eisen. Er enthält etwa 80 Prozent
BALLASTSTOFFE: Die wasserlöslichen Pek- des Tagesbedarfs. Wichtig für die Blutbil- VITAMINE: Tagesbedarf an Folsäure wird zu
tine helfen, den Cholesterinspiegel zu sen- dung und den Sauerstofftransport. Für ein 20 Prozent gedeckt. Für die Zellteilung.
ken und die Verdauung zu regulieren. Gemüse sind die grünen Blätter reich an Kal- MINERALSTOFFE: Durchschnittlicher Kali-
KALORIEN: 50 Kilokalorien. zium, der Mineralstoff stärkt die Knochen. umgehalt.
ZWIEBEL
Für 1 Portion (50 g)
Forscher züchten Burger im Die Zukunft ist eiskalt und liegt in gelblich-
faseriger Masse. Es sind Fleischkulturen, die
er selbst gezüchtet hat. Stammzellen vom
Labor. Kann das schmecken? Rind, künstlich vermehrt zur Superbulette.
Die Kulturen sollen die Fleischproduk-
tion revolutionieren, günstig sein und sau-
TEXT CHRISTIAN SCHWEPPE ber, den Hunger der Welt stillen und das
Ende der Ökonomie unserer modernen
Fleischindustrie einläuten. Wenn es nach
Professor Mark Post geht, hat die Zukunft
längst begonnen.
Das Ziel seiner In-vitro-Forschung ist ra-
dikal: Die Produktion von Fleisch soll nicht
länger an das Töten von Tieren gekoppelt wer-
den. Tatsächlich braucht man kein ganzes
Tier, um ein Stück Laborfleisch zu bekommen.
Denn tierisches Muskelgewebe kann auch au-
ßerhalb des Körpers wachsen. Die Forschung
an „cultured meat“ ist zur modernen Fleisch-
frage geworden. Es geht darum, wie der
Mensch künftig leben will, was er essen wird.
Anthropologen verknüpfen bisher den
Fleischkonsum des Menschen fest mit seiner
Entwicklungsgeschichte, als Kulturtradition
des Homo sapiens. Aber genau diese Tradition
ändert sich gerade, was beispielsweise die
beträchtliche Zahl der Vegetarier belegt. Und
was da heranwächst in den Laboren, könnte
unser Verständnis vom Essen grundlegend
ändern. Es ist der finale Einbruch der Technik
in unsere Nahrung – synthetisches Fleisch.
Bleibt die Frage: Kann das schmecken?
Die Spur dieser Zukunft führt hinter die
deutsche Grenze. Maastricht ist an diesem
Tag eine klirrend kalte Stadt. Mark Post, 59,
hat hier den Lehrstuhl für Physiologie inne,
forscht und lehrt und organisiert nebenbei
die Neuentdeckung des Fleisches.
Der Pionier der In-vitro-Forschung ist
ein großer Mann, kurze Haare, Designerbril-
le, weißes Hemd und graues Sakko. Er ist
auch ein gefragter Mann. Seine Forschung
kennt man auf der ganzen Welt, wegen sei-
ner Forschung und wegen seiner klaren Wor-
te. „Die Kuh an sich ist ein ineffizientes Sys-
tem“, sagt er. „Unsere Technik funktioniert.
JUDITH JOCKEL / LAIF
An der Tür klebt ein Warnschild, „Geclassi- gey Brin an Post heran. Der schrieb seine
ANIMATION: ficeerd Gebied“, Post zückt seine Chipkarte, Vision auf zwei Seiten Papier – und Brin
Alles vom Schwein und das Schloss klickt. Er geht vorbei an war an Bord. Knapp zwei Jahre später, im
www.spiegel.de/ Gläsern mit Schraubdeckeln und Flaschen Sommer 2013, war die große Bühne da, Post
sw012017fleischkonsum
mit fetalem Kälberserum, Zellnahrung. präsentierte einer staunenden Weltöffent-
lichkeit in London den ersten In-vitro-Bur- mit Bioreaktoren oder gleich Tanks mit
ger, 20 000 Muskelfasern, drei Monate im 25 000 Liter Zellen und Nährlösung. Das
Labor gezüchtet. Post verbrachte die Tage soll die Produktion vorantreiben und gleich-
abgeschirmt im Hotel, Sicherheitsmänner MEMPHIS MEATS zeitig die Kosten senken. Mit zehn Tanks,
an der Seite. Es war die Inszenierung der behauptet Post, könne man ganz Maastricht
fleischgewordenen Revolution. „Ich wollte ernähren. Die Zukunft des Fleisches könnte
erst Leonardo DiCaprio und Natalie Port- In Kalifornien haben sich Zellfor- am Ende aussehen wie eine Brauerei – sil-
man als Testesser, aber es ist doch wissen- scher schon als Firma organisiert. berne Tanks und Führungen für die Öffent-
schaftlicher geworden“, sagt er. Die Kosten Memphis Meats heißt sie und gehört lichkeit. Diese Zukunft wäre kein wissen-
trug Investor Brin: Drei Burger seien produ- zur direkten Konkurrenz von schaftliches Problem mehr, sondern bloß
ziert worden, für rechnerisch 750 000 Euro. Mark Post. Sie liefern sich ein Wett- noch eine Frage der Ingenieursleistung.
Über die Jahre, sagt Post, habe Brin bis zu rennen um die beste Technik, das Doch das ist auch umstritten. Zwar
zwei Millionen Dollar beigetragen. echteste Fleisch, Fördergelder und stehen die Tierschützer von Peta hinter der
Die Ernährungswissenschaftlerin Rütz- Investoren. Die Szene der Fleisch- In-vitro-Zucht. Kritiker verweisen allerdings
ler war eine von zwei Testessern. Für Post Revolutionäre ist klassisches Start- auf die Probleme der Rindfleisch-Revolution,
strich sie ihren Urlaub, war gespannt auf up-Territorium. Memphis Meats etwa den Energieverbrauch. Ob der wirklich
den Burger. Der würde ja kein Blut oder klas- forscht in San Francisco, stellte dort signifikant sinken werde, sei ungewiss, auch
sisches Gewebe enthalten, bloß Muskelzel- das künstliche Fleischbällchen der Inkubatoren brauchten viel Energie.
len – Nährstoffzusammensetzung unklar. Zukunft vor. Es ist eine „Bewegung“, Ebenso steht die Zusammensetzung der
Damals brutzelte es ordentlich in der die man beschwört: Better Meat, Nährlösung von Stammzellen unter Beob-
Pfanne, die Tester am Tisch vor Live-Kame- Better World. „Die Menschen könn- achtung. Und ob im Labor ganz auf Antibio-
ras. Rützler nahm den ersten Bissen – und ten dann unbesorgt essen, was sie tika verzichtet werden kann, ist unklar. Denn
hatte vor Aufregung ganz vergessen, wie so lieben – Fleisch“, sagt CEO und das Ausgangsmaterial bleibt tierisch – und
heiß das Fleisch war. Gleichzeitig schaute Mitbegründer Uma Valeti. Er will könnte auch künftig Antibiotika erfordern.
die ganze Welt zu, erwartete eine kohärente die Produktion von Kunstfleisch Gewiss wird das Fleisch zum Fall für die
Analyse des Wunderfleisches, auf Englisch. schnell ausbauen, aber noch nichts Gesundheitsbehörden, denn auch das Kunst-
über seine Produkte verraten – fleisch wird gängige Anforderungen an Le-
RÜTZLER GEFIEL DER BURGER, we- Schutz geistigen Eigentums. Und bensmittel erfüllen müssen. Ist der Verzehr
der süß noch zu pikant. „Mit Ketchup und so belauert sich die Branche zurzeit. von gezüchteten Zellen bedenklich? Stamm-
Salz hätte man ihn mir wohl als echtes „In einem Jahr wird die Produktion zellexperten, wie Andreas Trumpp vom
Fleisch unterjubeln können. Die Farbe war noch günstiger sein“, sagt Valeti. Deutschen Krebsforschungszentrum, spre-
nah am Original“, sagt sie. „Es schmeckte Zuletzt verkündete das Unterneh- chen von einem geringen Risiko, fordern
überraschend unspektakulär – und das war men: Man habe das Forscherteam aber gründliche Tests.
das Spektakuläre.“ in Kalifornien verdoppelt, fünf Sind all die Fragen geklärt, ist die Pro-
Seit er den ersten In-vitro-Burger vorge- weitere Produkte in Testphasen und duktion günstig und effizient geworden, lie-
stellt hat, ist Post ein beschäftigter Mann, die Produktionskosten senken gen alle Genehmigungen vor, könnte der
fliegt dauernd um die Welt. Bis zu 60 Kon- können. Außerdem soll das alles frei Schritt von der Forschung ins Supermarkt-
ferenzen sind es im Jahr. Post soll insgesamt von Antibiotika, Fäkalrückständen regal folgen – dann wird die Gesellschaft
schon über 48 Millionen Dollar an Geldern und Krankheitserregern sein. In fünf über das In-vitro-Fleisch richten. In Karls-
erhalten haben. Er ist Profi, spricht auf der Jahren sollen die Produkte marktreif ruhe fördert das Bundesministerium für Bil-
Bühne schnelles Englisch und macht PR sein – endlich „sauberes Fleisch“. dung und Forschung bis dahin den Wissens-
auch schon mal im Schlachthaus, mit Kame- ausbau. Die ersten In-vitro-Produkte wer-
rateam: Dort steht er und erklärt seine Zu- den wohl nicht in Deutschland auf den
kunftsvision. Schnitt. Blut auf dem Boden. Markt kommen, sondern in Großbritannien
Schnitt. Der Professor im weißen Kittel. oder den USA.
Und während er redet, wird das tote Rind, Kunstfleischpionier Post hofft, dass die
das hinter ihm am Haken hängt, zerteilt, von Technologie gefördert wird, bis sie ihr gan-
oben nach unten bersten die Knochen. Post zes Potenzial entwickelt hat. Er weiß: Am
muss danach nicht mehr viel sagen. Ende wird die Fleischfrage auch eine Ge-
Seit einiger Zeit kann er auch Fettzellen schmacksfrage sein. Und da sind die Ansprü-
künstlich züchten, das soll den Geschmack che bei „Burgerlijk“ in Maastricht hoch. Post
des Fleisches verbessern. Als Nächstes will bestellt hier mittags den Wagyuburger, auf
er die Produktionskette noch sauberer ma- einem Holzteller, mit Gouda und wenigen
chen, sie soll am Ende nichts mehr mit in- Zwiebeln. Keine Pommes und nur Wasser.
dustrieller Fleischproduktion zu tun haben.
Längst denkt der Professor größer: Es
müsse endlich ein Verfahren entstehen, das
Christian Schweppe fand die In-vitro-Welt
die Massenproduktion ermögliche. Für den spannend, biss aber genauso gern in den
ersten Burger verwendete Post noch Plas- saftigen Wagyuburger. Den hatte Professor
tikschalen. Inzwischen planen die Forscher Post auch empfohlen.
V für Victory
Vegane Produkte haben
einen Siegeszug durch die
Lebensmittelbranche und einem schwarzen Kapuzenpulli in
seinem Büro und gerät angesichts einer
Packung Butterkekse ins Schwärmen: ganz
angetreten: In Bioläden, ohne Butter und schmecken trotzdem her-
vorragend!
Supermärkten und Discoun- Bredack ist selbst Veganer und hat im
Jahr 2011 Veganz gegründet, die erste vega-
tern wächst das Angebot. ne Supermarktkette in Deutschland, mit in-
zwischen über 200 Mitarbeitern.
Das Geschäft lohnt sich. Die ersten Filialen hat er in Berlin aufge-
macht: Der Laden in der Warschauer Straße
ist in hellem Grün gehalten und wirkt wie
TEXT SUSANNE AMANN ein kleiner, gut sortierter Tante-Emma-La-
den – nur dass die Produkte allesamt vegan
sind. Es gibt eine Selbstbedienungstheke mit
unverpackten Nüssen, Getreide und getrock-
neten Früchten, frisches Obst und Gemüse
aus der Region, aber auch Tiefkühlpizza,
ES GIBT DA DIESEN WITZ: Woran er- Jahren könne ein regelrechter Boom für ve- fleischlose Wurst, Brotaufstriche, Joghurt
kennt man einen Veganer? Antwort: Er er- getarische und vegane Lebensmittel beob- und Käse. Wenn auch nur Scheiblettenkäse
zählt es dir. achtet werden, vermeldete das Institut für und keinen cremigen Camembert. Bredack
Es ist nur einer von vielen Späßen über Handelsforschung Köln (IFH) bereits 2016. sagt: „Den kriegen wir tatsächlich einfach
Veganer, man findet solche Witze im Inter- Gefragt seien vor allem Fleischalternativen, noch nicht hin.“ Für den veganen Käse gibt
net, aber sie gehören auch zum Party-Small- Milchersatz und Frühstücksprodukte. es auch einen Fachbegriff: Analogkäse. Das
Talk in der Buffetschlange, was ein Zeichen Allein mit diesen drei Warengruppen klingt nicht gerade lecker – und war früher
der Normalisierung ist: Immer mehr Men- wurde 2015 in Deutschland ein Jahresum- auch als Schimpfwort gedacht, ehe die
schen ernähren sich vegan, essen also weder satz von 454 Millionen Euro erzielt – Ten- Veganbewegung ihn zum Trendprodukt
Tiere noch tierisches Eiweiß. denz stark steigend. Zwar machen vegane adelte (siehe Seite 104).
Glaubt man dem Vebu, dem Vegetarier- und vegetarische Produkte damit gerade Bredack hängt kurioserweise nicht sehr
bund Deutschland, ist aus der alternativen mal 0,6 Prozent des Lebensmittelmarktes an den eigenen Läden. Die seien zwar „ein
Lebensform einer versponnenen Minder- aus – aber im Vergleich zu anderen Waren- wichtiger Teil unserer DNA“, sagt er. „Aber
heit längst eine ernst zu nehmende Bewe- gruppen wachsen sie überproportional unser Ziel ist es, vegane Produkte so schnell
gung geworden: Demnach gibt es inzwi- stark: Während das Wachstum im gesamten wie möglich in die Nahversorgung zu brin-
schen fast eine Million Veganer in der Bun- Lebensmittelhandel 2015 bei gerade 2,1 Pro- gen.“ Was nichts anderes heißt, als die nor-
desrepublik. Und ihre Zahl soll wachsen: zent lag, stieg der Umsatz mit den wichtigs- malen Supermärkte, Drogerien und Dis-
Täglich kämen 200 Veganer hinzu, vermel- ten vegetarischen und veganen Lebensmit- counter zu erobern.
VANESSA MCKEOWN
det der Verband stolz. telprodukten um 26 Prozent. Das ist ihm inzwischen so gut geglückt,
Mit ihnen wächst auch die Zahl der Verantwortlich dafür ist unter anderem dass einige sein Filialen nicht mehr laufen –
Lebensmittel, die extra für Veganer in die Jan Bredack. Er sitzt an einem trüben Ber- weshalb er für einen Teil der Läden Anfang
Regale gestellt werden. Seit ungefähr fünf liner Morgen in kiwigrünen Turnschuhen Dezember ein Planinsolvenzverfahren ini-
„ A P P “ E T I T tiiert hat. In Eigenregie versucht Bredack tung. Dazu kommt der Wunsch, sich gesün-
jetzt, zumindest die drei Berliner Filialen der und umweltverträglicher zu ernähren.
Digitale Helfer zu sanieren, Frankfurt am Main und Mün-
chen sind schon geschlossen. Ob die ande-
Die auf Tiere konzentrierte Lebensmittel-
produktion wird für Zivilisationskrank-
für eine bessere ren Geschäfte – in Essen, Hamburg, Leipzig, heiten wie Diabetes und Herz-Kreislauf-
Wien und Prag – überleben, ist ungewiss. Erkrankungen genauso verantwortlich
Ernährung gemacht wie für den hohen Ausstoß von
DENN DIE PRODUKTE, die ernährungs- Treibhausgasen, Monokulturen und den
SAISONKALENDER interessierte Kunden über lange Jahre fast Welthunger.
Apfel. Traube. Karotte. Welche nur im Reformhaus oder eben in Bredacks Der Verzicht auf tierische Produkte ist
Lebensmittel werden hierzulande Supermärkten kaufen konnten, haben längst gelebter Zeitgeist und praktische Politik: Die
eigentlich wann geerntet? Das zeigt die Fläche erreicht. Rund 800 vegane Le- Macht des Verbrauchers beginnt an der Kas-
diese App mit wenigen Klicks. Vor- bensmittelprodukte vertreibt Veganz inzwi- se. Ein ganzer Wirtschaftszweig hat sich
teil: Man kann gezielt nach lokalen schen, davon mehr als 100 Artikel seiner mit rund um die vegane Ernährung entwickelt.
saisonalen Produkten suchen. einem Herz gekennzeichneten Eigenmarke. Allein in Berlin gibt es rund 40 vegane Res-
Für: iPhone, iPad, iPod touch, An- Man kann sie online bestellen, sie stehen taurants, auch in anderen deutschen Groß-
droid. Sprache: Deutsch. Preis: gratis aber auch in den Regalen von Edeka, der städten wächst die Auswahl ständig. Es gibt
Metro, Globus, dm oder Rossmann. Selbst Läden für vegane Kleidung, Kosmetik oder
der Discounter Netto warb im vergangenen Schuhe, spezielle Reiseanbieter, Seminare
FOOD NAVI Jahr per Handzettel für vegane Produkte. und Weiterbildungsangebote, Ferienhäuser,
Abnehmen? Fleischlos? Gesünder Gekauft werden sie vor allem von Frauen. Hundefutter und sogar Zeitschriften – alles
essen? Diese App errechnet indi- Laut IFH sind es gerade jüngere, höher ge- vegan. Der Vebu selbst hat eine Beratungs-
viduell für jeden Kosttyp einen bildete Frauen sowie Kundinnen ab 50, die tochter gegründet, die Firmengründer und
optimalen Ernährungskreis, gibt sich Gedanken um Ernährung und Tierwohl Unternehmer beim veganen Geschäft unter-
Empfehlungen und hilft bei der machen und deshalb ihr Einkaufsverhalten stützt.
Kontrolle, ob man die vorgegebenen ändern. Das deckt sich mit Bredacks Erfah-
Mengen von Getreide, Gemüse oder rung: „Unsere Kunden sind zu 70 Prozent DAS VERÄNDERTE KAUFVERHALTEN
Eiweiß auch eingehalten hat. weiblich und überwiegend zwischen 18 und zeigt auch bei traditionellen Unternehmen
Für: iPhone, iPad, iPod touch. Spra- 39 Jahre alt.“ Dazu kämen Ältere, die aus ge- Wirkung, was man etwa an der Rügenwal-
che: Deutsch, Englisch. Preis: 1,99 sundheitlichen Gründen ihre Ernährung der Mühle sieht: Seit Ende 2014 produziert
Euro, eine Variante für Typ-II-Dia- umstellen wollten oder Kinder haben, die die Wurstfabrik vegetarische Wurst- und
betiker ist etwas aufwendiger, kostet vegan leben. „Wenn die Tochter an Weih- Fleischprodukte – und hatte damit überra-
2,99 Euro nachten heimkommt, aber plötzlich statt schend so großen Erfolg, dass andere Fir-
Gans zu essen, vegan bekocht werden will, men nach anfänglichem Spott schnell nach-
stellt das die Mutter vor ungeahnte Heraus- gezogen haben. Genauso wie die Handels-
CODECHECK forderungen.“ unternehmen: Der Supermarktriese Edeka
Praktische Navigationshilfe für den Klar ist auch: Es ist eine tendenziell kauf- etwa führte die Eigenmarke „Bio+Vegan“
Supermarkt: Mit dieser App kann kräftige Zielgruppe. Der vegane Butterkeks, mit mehr als 40 Artikeln ein, darunter auch
man Barcodes scannen – und be- der so große Begeisterung bei Jan Bredack vier Varianten von Sojawurst; Famila und
kommt Informationen über die In- ausgelöst hat, kostet bei Veganz 1,89 Euro. Markant setzen auf „vegan leben“.
haltsstoffe, etwa das umweltschäd- Ein vergleichbares, aber nicht veganes Mar- Derzeit profitieren vor allem die Super-
liche Palmöl oder bestimmte be- kenprodukt, etwa der Leibniz-Butterkeks märkte von dem Run auf die rein pflanz-
denkliche Konservierungsstoffe. oder ein Butterkeks von DeBeukelaer, ist lichen Produkte, weil der Großteil der Ve-
Für: iPhone, iPad, iPod touch, An- schon für 1,39 oder sogar 0,99 Euro zu ha- ganer bei ihnen einkauft. Reformhäuser und
droid. Sprache: Deutsch, Englisch. ben. Und wer die günstigste Variante er- Biosupermärkte, einst die Tempel der vega-
Preis: gratis wirbt, etwa die Rewe-Eigenmarke Ja, be- nen Bewegung, sind weit abgeschlagen.
kommt für 0,99 Euro doppelt so viele Kekse. Branchenpionier Bredack sieht das gelassen:
Das Gleiche lässt sich über fast alle Pro- „Wir wollen Innovator sein“, verkündete er
VANILLA BEAN dukte sagen: 150 Gramm veganer Frischkä- jüngst in einem Interview. Zwar stünden ve-
Wer ein Restaurant für spezielle Er- seersatz kosten 2,99 Euro, ein Becher vega- gane Produkte nun in allen Supermärkten,
nährungspräferenzen – etwa vegan ner Fruchtsojaghurt 1,09 Euro, 200 Gramm aber auf neue Ideen kämen die nicht. Dafür –
oder glutenfrei – sucht, der findet veganer Mozzarisella gar 4,19 Euro. Alles so die Botschaft – brauche es Veganz.
mit dieser App Hilfe. Für Ziele in deutlich teurer als nicht vegane Varianten. Wenn das denn mal stimmt.
Deutschland und Österreich sehr All das zeigt: Sich vegan zu ernähren ist susanne.amann@spiegel.de
gut geeignet. längst kein Zeichen von Subkultur mehr,
Für: iPhone, iPad, iPod touch, An- sondern im urbanen Mainstream angekom-
droid. Sprache: Deutsch, Englisch. men. Grund dafür ist das wachsende Un- Susanne Amann begegnet Ernährungsmoden
mit gesunder Skepsis und vermeidet Lebens-
Preis: gratis wohlsein gegenüber der konventionellen
mittel, die im Fernsehen beworben werden.
Lebensmittelindustrie, vor allem aber die Ihre Biokiste hat sie abbestellt – es war zu
Ablehnung der industriellen Massentierhal- viel Kohl darin.
Natürlich
besser leben.
Mit dem natürlich hohen Hydrogencarbonat-Gehalt von 1.846 mg/l
neutralisiert Staatl. Fachingen STILL überschüssige Säure im
Magen und unterstützt so die Säure-Basen-Balance. Angenehm
im Geschmack leistet es damit einen wertvollen Beitrag zu einem
gesunden, unbeschwerten Leben.
Anwendungsgebiete: Staatl. Fachingen STILL regt die Funktion von Magen und Darm an, fördert die Verdauung und hilft bei Sodbrennen. Es för-
dert die Harnausscheidung bei Harnwegserkrankungen, beugt Harnsäure- und Calciumoxalatsteinen vor und unterstützt die Behandlung chronischer
Harnwegsinfektionen. Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie das Etikett und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Stand der Information: 01/2013.
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B O D E N K U LT U R
Grüne Welle
Immer mehr Menschen in Deutschland bauen eigenes Essen an:
Selbstversorgung ist in, auf dem Land wie in den Städten.
TEXT SILVIA DAHLKAMP F OTO S DAVID CARRENO HANSEN
DIE TOMATEN DER VERSUCHUNG Supermärkte mit der Inszenierung ihrer Tisch steht ein Rohkostsalat: Kürbis, Rote
waren nicht nur rot. Sie waren knallrot, lip- Ware machen, ist pure Psychologie. Und Bete, Kohlrabi, Karotte – frisch aus dem Kel-
penstiftrot, zum Reinbeißen rot. Sie hingen dennoch. Vielleicht hätte sie zugegriffen, ler. Den isst man im Winter in Sieben Lin-
an zarten Rispen, grün, mit feinen Härchen, wenn die Werbung auf den Papiertüten den, einem Ökodorf in Sachsen-Anhalt. Die
und dufteten so würzig, so frisch. Dabei fiel nicht gewesen wäre: „Natürlich“ stand da 150 Einwohner versorgen sich selbst, und
draußen Schnee. Egal. In diesem Super- in großen Buchstaben. Da ist ihr der Appetit wenn es draußen friert, gibt es vor allem ei-
markt waren Frühling, Sommer, Herbst und vergangen. Denn wenn eines nicht natürlich nes: Kohl.
Winter sowieso nur eine Frage der Sortie- ist, dann eine Tomate im Winter. Und auch Süße, saftige, lippenstiftrote Tomaten
rung: Unter blanken Spiegeln türmten sich nicht andere Gemüsesorten, die aus beheiz- gibt es erst wieder im Sommer.
Gurken, sonnten sich Radieschen, glänzten ten Treibhäusern kommen und schon Tau- Auf Luxus verzichten, Fleisch meiden,
Paprika. Und über den Salaten schwebte ein sende Kilometer hinter sich haben, bevor um das Klima zu schonen. Vor 20 Jahren
künstlicher Nebel, der sich auf die Lollo- eine Verkäuferin sie auf Jute in der Gemü- waren das noch spleenige Ideen einzelner
Rosso-Blätter setzte und abperlte wie Tau. seabteilung drapiert. Weltverbesserer. Auch die Gründer des Dor-
Ein Gemüseparadies. Beatrice Wunsch, Jetzt ist Wunsch wieder zu Hause und fes wurden belächelt, als sie einen Pflug hin-
30, hat mit sich gerungen: Ich kaufe. Ich kau- erzählt von ihren Abenteuern in der Groß- ter ein Pferd spannten und ihre Felder be-
fe nicht. So rot. So verlockend. Beatrice stadt: „Fast hätte ich Klimakiller gegessen.“ stellten. Rückschritt statt Fortschritt. Heute
Wunsch ist Psychologin. Sie weiß, was die Sie kann es selbst nicht begreifen. Auf dem geben sie Seminare, weil immer mehr Men-
Rückschritt statt Fortschritt: Anfangs wurden die Idealisten in Sieben Linden belächelt.
schen lernen wollen, wie das geht: selbstbe- chen blühten plötzlich Blumen, wuchs Obst keller, wo die Zutaten fürs Weihnachtsmenü
stimmt, selbstversorgt zu leben. und Gemüse. Und von Sommer zu Sommer verteilt werden.
Was damals nur ein kleiner Riss in der wuchs auch das Völkchen der Selbstversor- Gekalkte Wände, gestampfter Boden, acht
Gesellschaft war, ist heute eine Kluft, die sie ger. Ist das vielleicht ein Weg, damit aus dem Grad plus. Kohlköpfe lagern auf selbst gezim-
spaltet. Da sind die Bequemen, die Fertig- Völkchen eine Volksbewegung wird? Zumin- merten Regalen. Möhren, Rote Bete und Pas-
gerichte in die Mikrowelle schieben oder – dest ein Anfang, glauben Wissenschaftler. tinaken liegen in Kisten mit feuchtem Sand.
ganz hip – Abo-Menüs bei Food-Start-ups Sie arbeiten inzwischen an der Krönung des Der Schreiner hat eine Mäusesicherung an-
bestellen. Ein Geschäftsmodell mit Wachs- selbstbestimmten Lebens: In Gewächshäu- gedübelt. An einer Wand lehnen Kartoffel-
tumschancen. Laut Ernährungsreport 2017 sern auf Bürogebäuden soll Gemüse wach- säcke. Rechts neben der Treppe stehen die
greifen auch 40 Prozent aller Deutschen sen, das unten verkauft wird – ganz frisch, veganen Brotaufstriche und Marmeladen.
gern mal schnell zur Tiefkühlpizza — 10 Pro- ohne lange Wege. Alles selbst produziert. Aber für morgen hat
zent mehr als im Vorjahr. Und: Fleisch ist das Naturwarenteam Delikatessen besorgt:
immer noch die Leibspeise der meisten. Das Ökodorf drei Orangen pro Kopf, fünf Clementinen,
Aber es gibt auch die anderen, die Grüb- eine halbe Gurke, eine Paprika, eine Tomate,
ler, die sich wie Beatrice Wunsch fragen: Es ist einer jener Wintertage, die so vor sich einen Chicorée, 100 Gramm Champignons.
Wie hoch ist der Preis, den wir für Tomaten hin dämmern. Das alte Bauernhaus, die Bau- Riedel grinst: „Das ist aufregend.“
im Winter tatsächlich zahlen? Oder für ein wagen und neun Strohbauhäuser sind Sche- Einen Supermarkt gibt es im Dorf nicht.
Steak? Und nicht den Kilopreis der Ware men im Nebel. Die Wege in Sieben Linden Stattdessen besorgt eine Einkaufsgemein-
meinen, sondern Kohlendioxidausstoß und sind nicht asphaltiert. Es gibt keine Straßen- schaft alles, was sie nicht selbst herstellen
Umweltverschmutzung. laternen. Bei dem Schietwetter ist fast nie- können: Milch, Joghurt, Käse, Brot aus der
Wunsch ist von der Stadt aufs Land ge- mand draußen. Nur Katja Riedel, 37, hockt Region. Im Vorratskeller stehen Schübe mit
zogen, so kann man das machen: zurück zur auf einem Feld und erntet den letzten Feld- Hülsenfrüchten, Eimer mit Mehl und Zu-
Natur. Aber nicht alle können das, wollen salat und Rosenkohl. Die Finger sind steif. cker, Speiseölkanister. Alles aus biologi-
das. Einige Berliner machten es vor sieben Die Gärtnerin bläst in die Hände, macht wei- schem Anbau oder biologisch abbaubar, wie
Jahren genau andersherum: Sie holten die ter. „Das sind unsere Weihnachtsleckerlis.“ auch die Wasch- und Putzmittel. Jeder füllt
DAVID CARREÑO HANSEN / SPIEGEL WISSEN
Natur zurück in die Kieze. Urban Gardening Zwei Stunden später wird sie ihre roten ab, was er braucht, und überweist einmal im
heißt der Trend: eine grüne Revolution mit Finger an einem Tee wärmen und sich freu- Monat eine Pauschale. Alkohol, Süßigkeiten,
Hacke und Spaten. Auf zugemüllten Bra- en, weil sich alle so freuen. Morgen ist Be- Tabak, Fleisch sind nicht im Angebot.
scherung. Am Schwarzen Brett hängt schon Katja Riedel hat Sozialpädagogik stu-
ein Zettel: „Bitte lasst Heiko und Andreas diert. Aber nach einem Bundesfreiwilligen-
ANIMATION: Deutschland, in Ruhe die Waren verräumen.“ Denn vor dienst ist sie in Sieben Linden geblieben.
ein Bauernstaat Festtagen stehen auch die Bewohner von Jetzt lebt und arbeitet sie schon im vierten
www.spiegel.de/ Sieben Linden in der Schlange. Nicht vor ei- Jahr auf dem Hof. Andere Bewohner, wie
sw012017bauernstaat
ner Supermarktkasse, sondern im Vorrats- Beatrice Wunsch, gehen morgens und kom-
men abends wieder: Ärzte, Pädagogen, Wis- köpfe. Natürlich ohne künstliches Licht, au- man die Brühe täglich durch, bis sie nicht
senschaftler, Künstler, Handwerker – und tomatische Lüftung und Heizstrahler. Wenn mehr schäumt, dafür „stinkt wie die Pest“,
viele Kinder. die Temperaturen unter minus vier Grad sagt Decruppe. Er rümpft die Nase. Aber:
Im Moment ist es ruhig. Die Maloche be- sinken, wird sie Tunnel mit weißem Vlies „Tomaten lieben Beinwell-Jauche.“ Die Ernte
ginnt erst wieder im Frühling: Beete umgra- über das Gemüse ziehen. Sie hofft, dass die im Sommer war so gut wie nie. Diesmal hat
ben, Kompost unterharken, 50 verschiedene Pflanzen so den Frost überstehen. Es ist ein er Tomaten in Tarnfarbe ausprobiert: Grüne
Gemüsekulturen in die Erde bringen. Alles Experiment. Für frische Salate im Winter. Zebras, eine alte Sorte. Damit sie nicht –
per Hand. Bisher gab es keinen Trecker. Im Weg von der Massenproduktion, hin zur schwupps – im Magen eines Touristen lan-
Sommer kommt dann das Ungeziefer. Ver- Selbstversorgung. Das mag in einem Öko- den. In Berlins berühmtestem Gemein-
gangenes Jahr haben Spinnenmilben erst dorf gelingen, aber das Konzept lässt sich schaftsgarten gibt es nämlich keinen Zaun.
die Tomaten, dann die Gurken und schließ- kaum auf Millionenstädte übertragen. Etwa Der Trick hat funktioniert. Doch zurzeit
lich die Auberginen befallen. Riedel hat je- 2500 Quadratmeter Boden brauchte jeder steht in seinem Beet auf dem Allmende-Kon-
des Blatt einzeln abgesucht, abgeknipst und Deutsche, um genug für sich selbst anzubau- tor in Tempelhof nur noch ein einsamer Wir-
kompostiert. Gift ist tabu. Im Herbst dann en, hat die baden-württembergische Lan- sing. Den stibitzt niemand. Er wird ein Süpp-
die Katastrophe: Im Keller fingen 1,5 Ton- desanstalt für Entwicklung der Landwirt- chen daraus kochen, dann ist die fünfte Sai-
nen Frühkartoffeln an zu gammeln. Es war schaft ausgerechnet. Illusorisch. Doch auch son zu Ende. „Mensch, wie die Zeit vergeht.“
schlicht zu warm. Sie konnten sie nicht la- in den Städten wächst das Misstrauen gegen Er, ein Gärtner? Decruppe tippt sich mit
gern. die industrielle Lebensmittelproduktion mit dem Finger an die Stirn. Vor sechs Jahren
150 Menschen, plus Gäste. Da liegt wohl ihren Skandalen und fragwürdigen Prakti- hätte er geantwortet: „Quatsch.“ Mittlerwei-
die Grenze der „Selbstversorgung“. Jüngst ken. Bernd Sommer, Klimaexperte an der le hat er hier, wo einst die Rosinenbomber
hat die Dorfgenossenschaft eine Kühlzelle Europa-Universität in Flensburg, spricht landeten, Wurzeln geschlagen. Er sagt: „Der
angeschafft. Sie haben lange diskutiert, aber noch einen anderen Punkt an: „Wir leben Garten ist mein Leben.“ Das fing am 1. April
es ging nicht anders. Sie brauchen die Kühl- jetzt schon auf Kosten anderer.“ Arten ster- 2011 an. Morgens ist er aufgewacht und hat
einrichtung, weil sie sonst große Teile der ben aus, Flüsse versiegen, Wüsten wachsen. gedacht: Wie soll ich bloß den 60-Liter-Sack
Ernte wegwerfen müssten. Dann würde es Er fordert einen radikalen Wandel. Viel- Erde aufs Flugfeld kriegen? Die Stadt hatte
zu Versorgungsengpässen kommen. Also ha- leicht fängt der ja gerade im Kleinen an, viel- zum ersten Spatenstich im „Schillerkiez“ ge-
ben sie sich auf den Kompromiss geeinigt: leicht sogar mit Jauche. laden. Obwohl Spatenstich wohl das falsche
nicht wegschmeißen, dafür aber industriell Wort war, denn in den Boden dürfen die
lagern. Sie müssen solche Zugeständnisse Urban Gardening Gärtner nicht, wegen möglicher Schwerme-
machen, sonst wird es zu teuer. talle. Doch das war unwichtig.
Riedel springt auf. Draußen ist es schon Paul Decruppe, 60, kennt ein Geheimrezept: Decruppe dachte nur an den Sack Erde
dunkel, die Türen des Gewächshauses sind Man pflückt ein Kilo Beinwell am Weges- und das Tütchen Samen, „Wildblumenwie-
noch offen. Da wachsen jetzt Wintersalate: rand, zerhackt die Blätter und schüttet zehn se“. Sie sollten ein Symbol für einen Neuan-
Postelein, Spinat, Rucola, ein paar Endivien- Liter Regenwasser dazu. Anschließend rührt fang sein. Jahrelang hatte er mit anderen
Einlagern und einkochen: Sogar die Vorratsregale im Keller sind selbst gezimmert.
Arbeitslosen in Neukölln für diesen Garten sondern von Europa über New York wieder Wir stehen für Bauernmarkt statt Super-
gekämpft. 1000 Quadratmeter Land. Und zurück nach Europa gekommen. Bis ins markt, für Vielfalt statt für industriell er-
deshalb war der Termin so wichtig. Obwohl 19. Jahrhundert lebten in London, Paris und zeugten Einheitsbrei.
er keine Ahnung hatte, wie Säen ging. So Wien nämlich noch Kühe und Schweine. Mit
fing alles an. In der ersten Woche meldeten dem Mist, den sie produzierten, düngten die Acker vor der Stadt
sich 100 Hobbygärtner. Nach drei Monaten Städter Beete, auf denen Gemüse, Beeren
gab es 300 Kistenbeete und eine Warteliste. und Obstbäume wuchsen. Doch mit wach- So verkniffen sieht das Wanda Ganders, 36,
Aus Grau wurde Grün. Schon ein Jahr sendem Fortschritt wichen Ställe und Gär- aus Bonn nicht. Obwohl auch sie der Mei-
später rankten auf dem Tempelhofer Feld ten. Fabriken, Wohnungen, Büros brauchten nung ist, dass Vielfalt wichtig ist. Allerdings
Bohnen an Bettenrosten hoch, reckten Son- den Platz, brachten mehr Geld. Das Essen eher aus Sicht einer Geschäftsfrau. Die
nenblumen ihre Köpfe in die Sonne, tausch- kam von außerhalb. Pflanzpläne für 2017 stehen. Neben dem
ten 500 Gärtner fleißig Saatgut aus: bunter Was produziert wird und wie, diktiert in- Standardprogramm – Möhren, Radieschen,
Mais aus Brasilien, rote Kartoffeln aus zwischen eine riesige Lebensmittelindustrie. Kartoffeln – gibt es in diesem Jahr auch sel-
Schweden, gelbe Tomaten aus Brandenburg, Rund 150 Milliarden Euro Umsatz machte tene Kulturen wie Mangold und Pastinaken.
lila Bohnen aus Ungarn. sie 2015 in Deutschland. Dagegen sind die Außerdem Pflanzen aus den Regionen: Blau-
In Kreuzberg, im Kiez gleich nebenan, Gärtner des Allmende-Kontors noch nicht es Hörnchen in Wiesbaden, Kräuter für die
gründete etwa zur gleichen Zeit ein Histo- mal ein David. Dennoch treten sie dem Go- Grüne Soße in Frankfurt, Teltower Rübchen
riker gemeinsam mit einem Filmemacher liath selbstbewusst auf die Füße. in Berlin. Als Paul Decruppe in Berlin sein
den „Prinzessinnengarten“. Auf der zuge- Auf der Mitgliederversammlung des All- erstes Hochbeet aus Melonenkisten zusam-
müllten Brache voller Disteln pinkelten frü- mende-Kontors Anfang Dezember gibt es menhämmerte, hat auch Ganders gebastelt:
her höchstens Hunde. Jetzt wachsen dort heftige Diskussionen. Ein Filmteam hat, an einem Kooperationsprojekt für Gemüse-
jeden Sommer über 400 verschiedene Pflan- ohne zu fragen, in ihrem Paradies einen beete. Bauern legen Parzellen an, die von
zen, allein 16 Kartoffelsorten. Werbespot für einen Discounter gedreht. Städtern gemietet und gepflegt werden. Ihr
Trendforscher sprechen von einem Rapper Fargo singt vor blühenden Lupinen Start-up übernimmt die Organisation: Wer-
Wunsch nach Erdung. Soziologen von ei- von der Vielfalt, die einfach viel zu viel ist bung, Internetauftritte, Infoveranstaltungen.
DAVID CARREÑO HANSEN / SPIEGEL WISSEN
nem Protest gegen Konsum, Globalisierung, und die keiner braucht. Der Discounter 2010 hat die Betriebswirtin „meine ernte“
Industrialisierung. Wahrscheinlich ist es wirbt damit, dass doch keine zehn Zitronen- mit ihrer Freundin Natalie Kirchbaumer, 35,
von allem ein bisschen: In zehn Jahren sind sorten nötig seien, sondern „einfach nur Zi- gegründet. Die Bilanz am Ende der ersten
allein in der Hauptstadt um die 100 Nach- tronen“. Die Gärtner, die viele alte Obst- und Saison war ernüchternd: 200 Beete in sechs
barschaftsgärten, interkulturelle Gärten, Gemüsesorten neu entdecken und die Man- Städten, das rechnete sich nicht. Es war klar:
Brennpunktgärten entstanden. nigfaltigkeit der Natur schützen wollen, füh- Ihr Start-up musste expandieren, sonst wa-
Inzwischen hat die grüne Revolution len sich missbraucht. Ein Redner fragt em- ren sie weg vom Acker. Denn in der Szene
ganz Deutschland erfasst. Dabei ist Urban pört: „Müssen wir uns das gefallen lassen?“ ist es wie in der Natur: Schwache Pflanzen
Gardening keine Erfindung der Moderne, Sie stellen einen Brandbrief ins Internet: überleben nicht. 170 000 grüne Start-ups
sind in den vergangenen acht Jahren in Dachgärten der Dachpappe wachsen Sträucher. Es gibt
Deutschland aus dem Boden geschossen. Tische, auf denen Gemüse gedeiht – nicht
„Aber nur einer von zehn Gründern schafft Was wird die Zukunft bringen? Der Welt- auf Erde, sondern körnigem Blähton oder
es“, sagt Ganders. Sie und Kirchbaumer agrarbericht zeichnet eine düstere Prognose: Kokosfaser. Science-Fiction im Revier: Die
kommen aus dem Marketing, sie wissen, wie Spätestens in 30 Jahren, warnen 500 Wis- Pflanzen leben von gereinigtem Abwasser
PR-Arbeit geht. Sie haben Klinken geputzt. senschaftler, werden 80 Prozent der Bevöl- und der Abwärme des Gebäudes – so ist es
Sind von Stadt zu Stadt gefahren, haben In- kerung in Städten leben. Damit die Versor- gedacht. Es gibt auch Solarmodule. Hitze,
foveranstaltungen organisiert, Flyer verteilt, gung nicht zusammenbricht, müsse es dort die sich unter dem Glas staut, wird gespei-
Interviews gegeben, Anzeigen geschaltet, künftig mehr Gärten geben. Doch wo? chert und in Strom verwandelt. In einem
sogar ein Buch geschrieben. In Oberhausen wird gerade das Funda- Labor, drei Kilometer entfernt, experimen-
Sechs Jahre später wartet auf einem ein- ment für das wohl außergewöhnlichste Job- tieren die Wissenschaftler gerade mit LED-
samen Feld in Norderstedt ein ausgemus- center Deutschlands gegossen. Es soll ein Licht. Darunter können Pflanzen auch
terter Bauwagen auf den Frühling. Drinnen Haus der Selbstversorgung werden: Bevor nachts wachsen und im Winter.
liegen Hacken, Spaten, ein Berg Gießkan- die Mitarbeiter nach Hause gehen, kaufen Jetzt schauen alle Selbstversorger auf
nen. Hier gräbt zurzeit nur der Maulwurf. sie noch schnell Tomaten oder Salate im Ge- Oberhausen. Denn sollte das Konzept der
200 Meter entfernt plant Wanda Ganders wächshaus ihrer Firma – ganz frisch. So Wissenschaftler aufgehen, könnte sich zum
mit Kathrin Rehders die neue Gartensaison. stellt sich das Volkmar Keuter vor. Der Pro- Beispiel Berlin in Zukunft bis zu 30 Prozent
Die Jungbäuerin wird wieder eine Garten- jektleiter am Fraunhofer-Institut Umsicht selbst versorgen, neue Arbeitsplätze könn-
sprechstunde anbieten. Und zwei neue begleitet mit einem Team das Projekt, das ten entstehen. Die Stadträte sind in Gründer-
Schweine werden das Unkraut fressen. vom Bundesministerium für Umwelt und stimmung. Nicht nur, weil es ein Prestige-
Hans und Franz aus dem vergangenen Jahr Bau gefördert wird. gewinn für die strukturschwache Region ist.
ruhen in der Truhe. Noch ist am Altmarkt in Oberhausen nur „Wir zeigen, wie künftig Stadt funktionieren
Der Hof liegt vor den Toren Hamburgs. ein Loch. Trotzdem bleiben die Menschen kann“, sagt Grünen-Stadträtin Regina Witt-
Im Sommer fahren vor allem Geschäftsleute, stehen, sie reden über die Zeichnungen auf mann. Die erste Ernte ist 2019.
Studenten, Familien aufs Land. Bis Mai wer- den Plakaten am Bretterzaun: Auf dem Haus
den die 130 Beete für sie bereit sein. Insge- steht ein Haus, ganz aus Glas, mit einem
samt wird „meine ernte“ in ganz Deutsch- Treppenhaus, wie sie nur Hotels in den Tro- Silvia Dahlkamp hat vier Wochen Kohl
land dann 3000 Gärten an 26 Standorten an- pen haben. Grün schlängelt sich an Stahl- statt Tomaten gekauft. Dann ist
bieten. pfeilern hoch – Hopfen und Weinreben. Auf sie einer Heißhungerattacke erlegen.
Kein künstliches Licht, keine Heizstrahler: In den Gewächshäusern von Sieben Linden
gedeihen Postelein, Spinat und Endiviensalat, ohne dass Strom verbraucht wird.
37
K O N S U M
Das Geschäft
mit dem guten
Gewissen
Discounter und Supermärkte
verkaufen mehr als die Hälfte
aller Biolebensmittel in
Deutschland. Doch was taugt das
Billigbio von Aldi, Lidl & Co.?
TEXT SIMONE SALDEN I L L U S T R AT I O N E N JON FRICKEY
„SCHRUMPELIGE MÖHREN und krum- schichte“, erzählt Tietke. Bio gab es im Hof-
me Gurken, ach, das war einmal“, sagt laden oder auf dem Wochenmarkt und viel-
Monika Tietke und lacht, wenn sie über leicht noch im Reformhaus.
die alten Klischees vom Biogemüse redet. Heute finden sich Bioartikel in allen Su-
Heute seien die Möhren, Salatköpfe und permärkten – und in jedem Discounter. „Das
Gurken mit dem Biosiegel ein hochwertiges, ist erst mal eine große Erfolgsstory“, sagt die
schönes Produkt, erklärt Tietke, „und ich 58-Jährige, „denn wenn wir wirklich etwas
bin froh, dass sich dieses Image geändert verändern wollen, brauchen wir die breite
hat“. Masse.“ Laut einer Studie im Auftrag des
Monika Tietke bewirtschaftet seit mehr Bundesministeriums für Ernährung und
als 35 Jahren einen Hof im Wendland. „Wir Landwirtschaft kauft fast jeder vierte Deut-
können Kartoffeln“ lautet das Motto ihres sche heute regelmäßig Bioprodukte. Der
Betriebs. Schon 1980 hat sie den Hof in der Umsatz mit Lebensmitteln aus kontrolliert
Nähe von Lüchow-Dannenberg ganz auf ökologischem Landbau oder entsprechend
ökologische Landwirtschaft umgestellt, „da- zertifizierter Tierhaltung stieg 2015 um 13,2
mals war das noch eine überschaubare Ge- Prozent auf 4,7 Milliarden Euro – 55 Prozent
davon wurden in Supermärkten und bei Dis- den Discountern stieg die Nachfrage und
countern umgesetzt. damit auch das Angebot. Bio wurde zur Mas-
Inzwischen ist Aldi der heimliche Biokö- senware – und die Preise purzelten in den
nig von Deutschland. Doch wie bio ist Bio Keller. Von der „Demokratisierung von Bio“
vom Discounter wirklich? Ist Billigbio über- reden die Marktführer seitdem gern. Kriti-
haupt echtes Bio? schere Köpfe nennen es die „Konventiona-
Andreas Winkler kann die Skeptiker erst lisierung von Bio“.
einmal beruhigen: „Wo bio draufsteht, ist „Bio vom Discounter ist grundsätzlich
auch Bio drin“, erklärt der Experte vom Ver- keine schlechtes Bio“, sagt Gerald Wehde
braucherschutzverein Foodwatch, „darauf vom Ökoverband Bioland. Aber wenn Le-
kann ich mich als Verbraucher in Deutsch- bensmittel verramscht würden, sei das ein
land verlassen, unabhängig davon, wo die falsches Signal an die Verbraucher. „Die Welches Label
Produkte verkauft werden.“ Preisspirale nach unten schadet letztlich al- hätten Sie denn
In der Tat geht in Deutschland kaum ein len in der Landwirtschaft.“ Und Andreas gern? Unser
Biolebensmittel über das Kassenband, das Winkler von Foodwatch macht klar: „Was Illustrator hat sich
nicht den Standards der EU-Bio-Norm ent- die Discounter und die meisten Supermärk- Gütesiegel für
spricht. Seit 2012 müssen alle Produkte mit te bieten, ist der Biomindeststandard. Das alle erdenklichen
dem EU-Bio-Logo gekennzeichnet sein. Die heißt nicht, dass es nicht besser ginge.“ Lebensmittel aus-
weißen Sterne in Form eines Blattes auf grü- Davon ist auch Steffen Reese überzeugt, gedacht.
nem Grund garantieren, dass 95 Prozent der Geschäftsführer von Naturland. Der Ver-
Zutaten Bio sind, beim Anbau keine che- band zählt mit Demeter und Bioland zu den
misch-synthetischen Pflanzenschutzmittel drei größten deutschen Ökoverbänden, die
eingesetzt wurden und gewisse Standards ihren Produzenten weit strengere Bioregeln
bei der Tierhaltung erfüllt werden. Darüber bei der Produktion auferlegen als die EU-
hinaus gibt es noch das sechseckige deut- Norm. Sie verlangen für die Tiere größere
sche Biosiegel, das die gleichen Standards Ställe, mehr Auslauf, erlauben noch weniger
vorschreibt. Was im Laden also mit Öko- Zusatzstoffe. Gentechnisch manipulierte Be-
oder Biozusatz gekennzeichnet ist, muss aus standteile sind tabu – bei EU-Bio ist ein An-
entsprechend zertifizierten Betrieben stam- teil von bis zu 0,9 Prozent erlaubt.
men – „egal ob es am Ende bei Alnatura oder Naturland wurde in den Achtzigerjahren
Aldi im Regal steht“, erklärt Winkler. gegründet, und der Verband hat schon da-
mals eine klare Strategie verfolgt. „Es ist un-
BEIM EINKAUF muss sich daher niemand ser erklärtes Ziel, den Ökolandbau aus der
von den unterschiedlichen Namen der Bio- Nische zu führen“, sagt Reese, „daher sind
eigenmarken wie beispielsweise „BioBio“ wir grundsätzlich nicht gegen eine Zusam-
(Netto), „Biotrend“ (Lidl), „Bio Sonne“ (Nor- menarbeit mit dem Handel.“ Inzwischen
ma), „Gut Bio“ (Aldi) oder „Naturgut“ (Pen- sind Produkte mit dem Naturland-Etikett
ny) irritieren lassen. Wer auf das offizielle etwa bei Rewe oder dm erhältlich.
EU-Bio-Siegel achtet, kann grundsätzlich Bei der Zusammenarbeit mit den klassi-
nichts falsch machen. Doch Vorsicht: Bei schen Discountern sei die Schmerzgrenze
Kleidung oder Kosmetik gibt es keine ver- dennoch erreicht, so der Geschäftsführer.
gleichbare EU-weite Norm, hier existiert „Das Ziel der Discounter ist es, Obst und Ge-
keine einheitliche Definition für „Bio“. müse so billig wie möglich anzubieten, sie
Der Trend zahlt sich für die Discounter üben dadurch Druck auf die Erzeuger aus“,
aus. Mehr als die Hälfte aller Biokartoffeln sagt Reese, „das können und wollen wir
und -möhren werden heute bei den Billig- nicht unterstützen.“
heimern verkauft. Bei Bioeiern sind es gut
40 Prozent. Hatten sie anfangs nur Basis- BEI DEMETER sieht man das ähnlich.
produkte im Sortiment, finden sich inzwi- „Den Mehraufwand, den ein Biobauer be-
schen selbst Biokokosblütensirup oder Bio- treibt, muss er auch honoriert bekommen“,
apfelsanddornsaft im Angebot. „Besonders fordert Vorstandssprecher Alexander Ger-
beliebt sind Artikel aus dem Frischebereich ber. Inzwischen hat der Verband klare Re-
wie Biomilch oder Biotofu“, sagt Philipp geln beschlossen, wann aus seiner Sicht eine
Skorning, bei Aldi-Süd für das Biosegment Kooperation mit den klassischen Super-
verantwortlich. Mehr als 150 Bioprodukte marktketten sinnvoll ist: „Wir achten unter
hat Aldi-Süd derzeit gelistet, „und wir bauen anderem darauf, dass die Mitarbeiter ent-
unser Sortiment ständig aus“. sprechend geschult werden und dass etwa
Norma war 2002 der erste deutsche Dis- der Bioumsatz der Märkte immer mindes-
counter mit Bioware, dicht gefolgt von der tens ein Prozent mehr als der aktuelle Bio-
damaligen Tengelmann-Tochter Plus. Mit gesamtumsatz in Deutschland beträgt.“
Gemüse, Fleisch wie Fisch, ganze Fertigge- Büchsen allerdings nach einigen Jahren.
richte und natürlich Getränke aller Art. Sogar Heute wird die Dose von der Tiefkühl-
in der modernen Kunst sind sie bekannt, seit kost bedrängt. Doch Forscher der Universi-
Andy Warhol ihnen mit seinem Bild „Camp- tät Hohenheim haben ein Verfahren entwi-
bell’s Soup Cans“ 1962 ein Denkmal setzte. ckelt, mit dem Früchte oder Gemüse in der
Doch wer hat sie erfunden? Im Jahr 1795 Dose knackiger bleiben und mehr Nährstof-
setzte Napoleon Bonaparte einen Preis von fe behalten. Dem weiteren Siegeszug der
12 000 Goldfranc aus für eine Methode, die Konserve steht nichts mehr im Weg.
Nahrungsmittel haltbar macht. Seine Trup- JOACHIM MOHR
Der große
Ess-Check
Bei Stress immer Süßes? Abends den schnellen
Döner? Eigentlich wissen wir ja, wie man
sich vernünftig ernährt. Doch schlechte Gewohn-
heiten sind hartnäckig. Mit diesem SPIEGEL-
WISSEN-Test können Sie lernen, besser zu essen.
TEXT ANNE OTTO I L L U S T R AT I O N E N ANJA WICKI
JEDER ISST ANDERS. Und das ist auch gut so. „Letztlich gibt es nicht eine verbindliche Empfehlung für das, was alle
täglich essen sollten“, sagt Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Universität Göttingen.
„Denn jeder hat unterschiedliche Gene, lebt und arbeitet anders, bewegt sich unterschiedlich viel.“ Um die eigene Ernährung
zu optimieren, lohnt es sich deshalb zuallererst, individuelle Essgewohnheiten unter die Lupe zu nehmen – und gegebenenfalls
zu ändern. „In diesem Bereich ist es auch einfacher, verbindliche Empfehlungen zu geben, als bei der Lebensmittelwahl“,
erklärt Ernährungspsychologe Ellrott. Exklusiv für SPIEGEL WISSEN hat er einen Essgewohnheiten-Check entwickelt.
Damit können Sie prüfen, wie bewusst Ihr Essverhalten ist, aus welchen Motiven Sie zu Knabbereien greifen und bei welchen
Gelegenheiten Sie zu viel oder zu schnell essen. „Allein die vermehrte Achtsamkeit für die eigene Ernährung kann dazu
führen, dass Menschen weniger und besonnener essen“, sagt Ellrott.
A U F G A B E
Auf den nächsten Seiten finden Sie fünf Check- treffen oder nicht. Zählen Sie danach für jede
listen, die verschiedene Aspekte alltäglicher Liste, wie oft Sie „Ja“ angekreuzt haben, und
Essgewohnheiten abfragen. Entscheiden Sie ermitteln den Gesamtwert. Die Ergebnisse fin-
sich intuitiv, ob die Aussagen auf Sie eher zu- den Sie ab Seite 45.
JA NEIN
Ich esse viel im Gehen und unterwegs und kaufe mir zwischendurch in
Backshops, an Bahnhöfen oder Raststätten schnelle Snacks.
Oft ist wenig Zeit im Büro, da kann es passieren, dass das Mittagessen
am Rechner stattfindet oder ausfällt.
Ich koche selten bis nie selbst und werde auch wenig bekocht.
Ich esse generell häufig vor dem Tablet, Smartphone oder Fernseher. JA
GESAMT
JA NEIN
Ich kann die Uhr danach stellen: Sobald im Job der Stress zunimmt,
greife ich häufiger in die Süßigkeitenschale.
Oft tigere ich abends unzufrieden durch die Wohnung, suche nach
Essbarem und futtere dann mehr als geplant.
Manchmal habe ich selbst den Verdacht, dass ich gegen ungute
Gefühle anesse.
Bis heute kenne ich von beinahe jedem Lebensmittel die Kalorienangabe.
Klar gibt es überzogene Schönheitsideale, aber es ist doch klar, dass ich
schlank sein und bleiben will.
Andere haben mir schon gesagt, dass ich mich zu viel mit dem Thema
Essen befasse. [4]
Weil ich mich ständig mit Essen beschäftige, habe ich manchmal Probleme, JA
meinen beruflichen oder privaten Anforderungen nachzukommen. * GESAMT
Manchmal sieht Obst oder Gemüse besonders gut und lecker aus – dann
kaufe ich es, auch wenn es teurer ist.
Ich koche immer mal meine Leibgerichte oder backe meine Lieblings-
kuchen – oder freue mich, wenn andere dies für mich machen.
Beim Essen halte ich manchmal inne und freue mich darüber, wie gut
es schmeckt.
ANJA WICKI / SPIEGEL WISSEN
Wenn mir etwas nicht schmeckt oder minderwertig erscheint, dann esse
ich den Teller nicht unbedingt leer. [5]
Ich liebe es, mit anderen gemeinsam zu essen – dann ist es am schönsten. JA
GESAMT
B U C H
MELANIE MÜHLE/DIANA VON KOPP: „Die Kunst des klugen Essens. 42 verblüf-
fende Ernährungswahrheiten“. Carl Hanser Verlag; 256 Seiten; 16 Euro. Eine unter-
haltsame Zusammenfassung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur richtigen Ernährung.
S O G E H T E S W E I T E R
Als digitales Extra bietet SPIEGEL WISSEN Ihnen wir Ihnen ab dem 17. März acht Wochen lang je-
ein Training zum gesunden, genussvollen Essen weils freitags eine Mail mit einer Trainingseinheit.
an, ebenfalls entwickelt vom Ernährungspsycho- Anmeldung unter spiegel.de/ernaehrungstraining
logen Thomas Ellrott. Wenn Sie möchten, schicken – dort finden Sie auch später alle acht Aufgaben.
„Wir werden durch das digitale „Man kann davon ausgehen, dass „Unser Projekt funktioniert, weil
Zeitalter mehr Zeit haben denn es sich auswirkt, wenn Essen Schüler, Eltern, Lehrer und
je. Die Gastrosophie hat eine für jedermann immer und über- Betreuer dahinterstehen. Die
interessante Antwort auf diese all mühelos verfügbar ist: Schüler zeigen sich beim Ko-
Veränderungen: Verwendet Wenn wir etwas einfach haben chen mit anderen Fähigkeiten
mehr Zeit aufs Kochen!“ können, nehmen wir es.“ als im Unterricht.“
50
KULINARIK
Seit 50 Jahren gleich: Im „Schwarzen Ochsen“ serviert Wirtin Gertrud Keim, 78,
Stammgerichte wie Maultaschen, Wurstsalat und Gaisburger Marsch.
HINTEN RECHTS IN DER ECKE saß Kutteln, Maultaschen, Rostbraten, Saure Schürze und ein fürsorgliches Lächeln, das
schwäbischer Mittelstand mit internationa- Nieren. Und ein älterer Artikel aus „Wirt- mich an meine Kindergärtnerin denken ließ,
len Gästen, sie sprachen über „Brobblems“ schaft regional“. so wie die Schürze auch.
auf dem Weltmarkt und über die Füllung Die Wirtin, stand darin, heiße Gertrud Sie kam mit den Kutteln mit Rahmsoße
von Maultaschen, auf Englisch, mehr oder Keim, sei Jahrgang 1938, stamme vom Härts- und Bratkartoffeln, und es ging mir wie dem
weniger jedenfalls. feld, vom „harten Feld“ am Rand der rauen Gastrokritiker im Film „Ratatouille“: ein
Es war voll. Am Stammtisch in meiner Ostalb, und das Kochen habe sie im Kloster Bissen, und die Kindheit war wieder da.
Nähe war einer aus der Kur zurück, und sie gelernt. Wirte, dachte ich kuttelselig, als ich in
sprachen über Krankheiten, um sich die Zeit Das klang, als ob sie beides könne, „Her- Heidenheim an der Brenz im „Schwarzen
zu verkürzen, bis der Wurstsalat kam. renessen“ und „Bauernfressen“, wie es in Ochsen“ saß, sind eine Begleiterscheinung
Die Krankheiten waren für den Stamm- einem meiner alten schwäbischen Koch- des Lebens und gar keine so unwichtige. Ich
tisch interessanter, als sie für mich waren, bücher heißt. Und das konnte sie auch. dachte an die Wirte meines Lebens. Sie
also nahm ich mir noch mal die Speisekarte Diese Kutteln. Diese Wirtin. Die Wirtin wechselten, weil ich mich veränderte, und
vom „Schwarzen Ochsen“ vor: Leberspätzle, vom „Schwarzen Ochsen“ trug eine weiße das Land veränderte sich auch.
Manchmal braucht man etwas anderes als Weltläufigkeit: die „Schwarzer Ochsen“-Wirtin
Keim mit Gästen in ihrer Gaststube mit Kachelofen.
ICH GING OFT in eine Wirtschaft als Kind, len!). Für die ersten fuhren wir noch 20 Ki- SCHWÄBISCHE KÜCHE. Ich will sie
in den Gasthof bei uns um die Ecke, weil ich lometer mit dem Auto, als Jugendliche in nicht verklären, sie war oft eine Armutskü-
mit dem Hund dort befreundet war. Er war den Siebzigerjahren, weil Pizza so etwas che – Mehlsuppe, Graupensuppe, „Schwar-
schwarz, groß, freundlich und nicht allzu Besonderes war. zer Brei“ aus Dinkel, Wasser, Milch. Wenn
schlau. Was gekocht wurde, bekam ich aus Alle wurden weltläufig, mit Paella, Chop- es Fleisch gab, dann die billigen Innereien.
der Hundeperspektive mit. Ich sah, was in suey, Vitello Tonnato und Steakhouse-Steak, Oder, eigentlich mehr ein Grund für Trauer
seinem Fressnapf landete: Dosenerbsen, Do- und irgendwann fing ich an, etwas anderes als für Freude, ein Stück von einer not-
senmöhren, Nudeln, Soße. Ohne Einwände zu vermissen als Weltläufigkeit. geschlachteten Kuh.
schlabberte er alles weg. Alle machen plötzlich Lammrücken rosa. Ich will auch Wirtshäuser nicht verklä-
Der Hund hatte eine Matratze im Büro Aber Kalbsnierenbraten kriegt man nir- ren. Eine Nachbarin wuchs als Wirtstochter
der Wirtin, wo sie rauchte und Dosenerbsen gends mehr. in einem inzwischen Pizzeria gewordenen
bestellte und Abrechnungen schrieb, und Vincent Klink nennt das „die Diktatur „Adler“ auf. Sie musste nicht nur morgens
der Hund und ich saßen auf der Matratze des Kurzgebratenen“. Klink, der Koch und um fünf aufstehen, wenn der Vater mit dem
und sahen ihr dabei zu. Schöngeist, der aus Schwäbisch Gmünd Hammer ans Heizungsrohr schlug, sondern
Es waren die frühen Sechzigerjahre, die kommt und in seiner Stuttgarter „Wielands- auch nachts um zwölf die Besoffenen heim-
Zeit, als Resopaltische die alten Holzmöbel höhe“ einen Michelin-Stern hat, er ist auch führen. Auch im Winter. Auch in den Orts-
verdrängten und auf jedem Tisch selbstver- ein Wirt meines Lebens. Weil er es fertig- teil oben hinter dem Wald. Wenn es mehrere
ständlich die Maggiflasche stand. bringt, seinen Gästen ein schwäbisch-hälli- Männer waren, machte sie das so: Einen mit-
Die Zeit der Kroketten kam, des Herren- sches Schweinekotelett auf den Teller zu le- schleppen und an den Baum lehnen, sonst
toasts (Champignons, Schweinefilet, Käse), gen und sie zu überzeugen, dass das etwas fällt er um. Den nächsten holen. Und so im-
des Hawaiitoasts (Schinken, Ananas, Käse), Besonderes ist. mer abwechselnd, bis sie zu Hause abgelie-
aber meine Schwester, die im Gasthof als Und weil er sich freut, wenn die „Wie- fert sind. Wahrscheinlich waren sie zu be-
Bedienung jobbte, erinnert sich auch noch landshöhe“ als „Gasthaus“ ausgezeichnet trunken, um dem Mädchen etwas anzutun.
an Schweinebraten, Bratwürste, Wurstsalat. wird. Gasthaus, findet er, ist längst nicht so So hat sie es jedenfalls als alte Frau erzählt.
Es war die Zeit des Übergangs, die Moder- „beschmutzt“ wie der Begriff „Restaurant“, Töchter lassen sich so etwas nicht mehr
ne brach aus mit Mondamin und Maggi Fix der auch auf Burgerbratereien prangt. gefallen, normalerweise, das ist die gute
Soßenbinder und überhaupt Päcklessoße, was Das Einfache, sagt Klink, ist mindestens Sache. Die schlechte Sache ist, dass die Wirt-
als Errungenschaft galt. Verdiente Hausfrauen genauso schwierig wie die Hochküche, schaften oft das Personal nicht finden, das
FRITZ BECK / SPIEGEL WISSEN
machten plötzlich Käsegeschnetzeltes zu Mit- „nur schwerer zu kopieren“, weil es viel sie brauchen, was dazu beiträgt, dass man-
tag, aus ein bisschen Fleisch und Schmelz- Wissen verlangt und viel Zeit, bis man es che schließt.
käseecken, oder löschten sonntags die Schnit- kann. Gasthäuser, Wirtschaften – dort ist Die Lieblingswirtschaft, die ich vor ein
zel in der Pfanne mit Dosenmilch ab. das Einfache zu Hause, wenn man Glück paar Jahren fand, darf nicht beim Namen
Die Moderne brachte aber auch Pizze- hat, und wenn ich es finde, dann im Süden genannt werden, weil die Chefin es nicht
rien (Pizza Speciale! Mit Pilzen und Sardel- der Republik. will.
Weiße Schürzen, kühle Biere, herzhaftes Lachen: Gertrud Keim und ihrer Helferin
Gisela würde das Kochen mit „Päcklessoße“ gegen die Ehre gehen.
Man sitzt dort und kennt sich, sonntags „Ha, des moin I ja!“ Und der eine Gast Brotsuppe, Schwarzen Brei. Sie erzählte,
vor allem. haut dem anderen auf die Schulter und ist wie 1952, sie war 14, Pater Beda vom Kloster
Die Speisekarte ist dieselbe Karte mit der Meinung, nett und mitfühlend gewesen Neresheim in die Schule kam und ein Mäd-
denselben Preisen seit der Umstellung auf zu sein. chen für die Küche suchte. Sie hätte lieber
den Euro: Schweinebraten, Kalbsbraten, So lebt man miteinander und wird älter, Floristin gelernt. Aber daheim hieß es:
Rinderbraten. Bratwürste, Bratkartoffeln, kommt vom Urlaub zurück und erzählt, re- Mach’s. Gang dao na, wo’d was zom Essa
Spätzle, Spätzle, Spätzle. Man setzt sich und det über Flüchtlinge, manchmal Unschönes, kriagsch.
verlangt nach der Speisekarte, obwohl man aber nicht so Schlimmes, wie es auf den Für die Bauernschule hat sie gekocht, in
sie auswendig kennt. Manche haben die hässlichen Seiten im Netz kursiert. Und einer Metzgerei gearbeitet, einer Fabrikan-
eigene Serviette dabei. Widerspruch gibt es manchmal auch. tenfamilie den Haushalt geführt, da war sie
Und wenn einer etwas Falsches bestellt Die Wirtin will nicht, dass der Name noch keine 20 Jahre alt. Und alle nahmen
(Cappuccino! Espresso!), dann rügt ihn der ihrer Wirtschaft erwähnt wird, sie will nicht
es für selbstverständlich, dass man einem
Wirt mit den Worten, dass dies ein Wirts- mehr Betrieb. Der Mann wird immer müder, Mädchen so viel Arbeit und Verantwortung
haus und kein Kaffeehaus sei. die Frau ist immer schlechter zu Fuß. Sie zumuten kann.
Die Spätzlespresse in der Küche stammt machen nur noch gelegentlich auf, und viel- Sie hat den Heinrich Keim vom „Schwar-
aus den Fünfzigerjahren. In der Gaststube leicht bald gar nicht mehr. zen Ochsen“ geheiratet, Heinrich III., den
hängen die Haken für die Hüte, aus der Zeit, Gasthof gab es seit 1898. Die Gaststube sieht
als man noch Hüte trug. Hier wurde Hoch- DIE HOFFNUNG HEISST „Schwarzer fast noch aus wie in den Fünfzigerjahren,
zeit gefeiert, Taufe, Konfirmation, man traf Ochsen“ und steht in Heidenheim an der als sie dazukam: Kachelofen von 1942, viel
und trifft sich (noch) zum Leichenschmaus. Brenz, einer kleinen Stadt, die dem Welt- Holz, der Boden etwas schief. Ihr Mann
Schwer vorstellbar, ein Leben ohne diese markt (Voith-Maschinen! Hartmann-Ver- starb vor 21 Jahren, sie macht weiter, inzwi-
Wirtsleute im Dorf. bandszeug!) vermutlich besser bekannt ist schen nur noch dienstags-, mittwochs-, don-
Sie ist eine wuchtige Erscheinung, er als dem Rest der Bundesrepublik (gut, ab- nerstagsabends, und Irmgard, Renate, Vik-
geht schon gebeugt. Er darf das Bier und die gesehen von Fußballfans vielleicht: 1. FC toria, Gisela, Doris und ihr Sohn Heinrich
Suppe bringen. Sie kassiert. Heidenheim!). (IV.) und seine Frau helfen ihr dabei.
Fragt man die Wirtin, wie’s ihr geht, Und am Herd steht Gertrud Keim vom Päcklessoße geht gegen die Ehre. Man-
dann kommt die Antwort: „Ha, wemmers Härtsfeld und kocht. Wir sprachen über den che Gäste sagen, die Kutteln schmecken seit
Schlechte weglässt, na gat’s guat.“ Bauernhof, von dem sie kommt, keinem gro- 50 Jahren gleich.
Der Umgang miteinander: philosophisch, ßen, zehn Kühe, drei Arbeitspferde, zwei, Auf freundliche Weise verweigert sie
aber auch rustikal. drei Schweine, Federvieh. Sechs Kinder, der sich dem Unangenehmen, das die Moderne
Dialog unter Gästen: Vater starb früh. Im Alter von acht Jahren bringt. Neulich hatte sie mit Veganern zu
„Ond, älles guat?“ hat sie Gänse gehütet, später Kühe; Kinder tun. Sie gab ihnen Spätzle mit Bratensoße,
„Bis auf des, dass mir grad ooser Muedr müssen schaffen, das war normal. Was es sie sagt, es kamen keine Klagen.
beerdigt hend …“ zu essen gab? Kartoffeln mit heißer Milch, barbara.supp@spiegel.de
Menschen über ihre Einkäufe, er lud sich kritik, hat im 19. Jahrhundert mit dem euro-
bei reichen Leuten ein, um dort beim päischen Platonismus gebrochen, den der
leckeren Essen über das gute Leben zu moderne Rationalismus mit Descartes’ „Ich
philosophieren, er ging in die Küche und denke, also bin ich“ und zuletzt Hegel mit
schaute in die Töpfe. Er kannte sich in der seinem idealistischen Weltgeist-Konzept
Gourmetszene aus und dachte darüber nach, auf die Spitze getrieben hatten. Feuerbach
ob ein Holzquirl besser sein könnte für eine schrieb den Satz: „Der Mensch ist, was er
bestimmte Suppe als einer aus Metall. Und isst.“ Er lebte in der Zeit der Industrialisie-
er stellte Bezüge zwischen Konsum und rung, die sozialen Fragen wurden drängen-
Ökonomie her und sagte, auch mit wenig der, die Naturwissenschaften gewannen
Geld könne man genussvoll speisen. neue Erkenntnisse über die Physiologie, Mi-
SPIEGEL: Für den 40 Jahre später gebore- neraldünger wurde für die Landwirtschaft
nen Platon war das viel zu profan. entdeckt, die Bevölkerung wuchs. Da stellt
Lemke: Ja, und wir sind bis heute stark ge- sich die Frage: Warum wurde dieser Diskurs
prägt von dessen Vorstellungen und denen eigentlich nicht weitergeführt?
seines Nachfolgers Aristoteles: Der Mensch SPIEGEL: Haben Sie eine Antwort?
ist ein Geistwesen, Essen bringt uns in die Lemke: Vielleicht weil die Debatten über
Nähe zum Tier. Was absurd ist, da wir die den gesellschaftlichen Fortschritt sich mit
einzigen Säugetiere sind, die kein ange- Karl Marx auf die Arbeit und die Arbeits- Glückliche Esser
borenes artgerechtes Ernährungsverhalten bedingungen verlagerten. Das 20. Jahrhun- in der Bundesrepublik:
haben. Ich bin da eher bei Sokrates. dert war dann geprägt von den beiden Welt- „Die Supermärkte
SPIEGEL: Was reizt Sie an dessen Ideen? kriegen, die alles andere in den Schatten wurden mit billigen
Lemke: Seine Vorstellungen sind näher am stellten, in der Philosophie gab es die Exis- Lebensmitteln prall
Leben der Menschen, ebenso wie später die tenzialisten und später die Frankfurter gefüllt, weil dieser
seines Nachfolgers Epikur. Für den war als Schule, die sich auch nicht mit Ernährungs- Überfluss allgemeine
SCHROETER / SZ PHOTO, CARL MYDANS / THE LIFE PICTURE COLLECTION / GETTY IMAGES, FRANK SCHERSCHEL / THE LIFE PICTURE COLLECTION / GETTY IMAGES
Theoretiker des Hedonismus Essen ein zen- fragen beschäftigte. Dabei wäre „die Brot- Zufriedenheit und
trales Element seiner Ideen. Er beschäftigte frage“, wie der Anarchist Peter Kropotkin damit sozialen Frieden
sich mit Fragen wie: Was macht einen guten sagte, ein zwingendes Thema gewesen, weil schafft.“
Käse aus? Und zeugt ein üppiger Teller nicht sie so politisch ist: In Zeiten des Kalten Krie-
von schlechtem Geschmack? Schon zuvor ges wollte der Westen dem sozialistischen
hatte Pythagoras Essen und Moral zusam- Osten zeigen, wie gut es dem Volk im Kapi-
mengebracht und den Verzicht auf Fleisch talismus geht. Die Supermärkte wurden mit
propagiert. Nutztiere waren zu seiner Zeit billigen Lebensmitteln prall gefüllt, weil die-
bereits Teil des alltäglichen Umgangs, und ser Überfluss allgemeine Zufriedenheit und
da kann man gut das Unbehagen verstehen, damit sozialen Frieden schafft.
solche friedlichen Wesen zu töten, nur um SPIEGEL: Haben Sie etwas gegen zufriede-
des eigenen Genusses willen. ne Konsumenten?
SPIEGEL: Zu den gleichen Schlüssen sind Lemke: Das nicht, es ist eine Errungenschaft
die heutigen Vegetarier gekommen. des modernen kapitalistischen Wirtschafts-
Lemke: Daran sieht man: Es sind die glei- systems, die Menschen hierzulande satt zu
chen Fragen, die uns seit Jahrhunderten be- machen. Und ihnen noch Geld übrig zu
schäftigen. Was darf man essen? Wie lustvoll lassen für privaten Konsum, der wiederum
darf man essen? Wann darf man essen? In die Frustrationen aus dem Arbeitsleben
der Schweiz ging die Reformation von der kompensieren hilft. Das Problem ist: Die
Wurst aus. Da wurde das Fasten gebrochen, Produktionsbedingungen der Lebensmittel
damit die Bücher für Erasmus von Rotter- werden dabei ausgeblendet, also die Aus-
dam noch rechtzeitig für die Messe ge- beutung der Natur, der Tiere, der Dritten
druckt werden konnten. Denn, so fand Lu- Welt und vieles, was die Schlaraffenland-
thers Mitstreiter Zwingli, wer arbeitet, kann Kulisse unserer „Supermärkte“ ausmacht.
nicht ständig Fastengebote einhalten. Auch SPIEGEL: Dass Essen billig sein muss, um
bei der Französischen Revolution spielte glücklich zu machen, ist eine deutsche Spe-
Essen eine wichtige Rolle, da ging es um zialität. In Frankreich geben die Menschen
soziale Gerechtigkeit, um Hunger, Freiheit mehr aus fürs Essen. Ist gute Ernährung uns
und Land. nicht genug wert?
SPIEGEL: Die zeitgenössischen Philoso- Lemke: Nicht viel fürs Essen zu bezahlen
phen haben solche Ernährungsfragen trotz war leider lange ein Teil der Glücksformel.
ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz eher Aber jetzt holen uns die ganz realen Folgen
ignoriert. dieser irrigen Vorstellung vom guten Leben
Lemke: Richtig. Erst Ludwig Feuerbach, ein. Die Böden sind übersäuert, Arten ver-
vorbereitet durch Rousseaus Gesellschafts- schwinden, die Menschen werden immer
fettleibiger. Die Realität schickt uns die bevorzugen, dann kommt Bewegung in die
Rechnung für die viel zu billigen Lebens- Politik und in die ökonomischen Struktu-
mittel. ren. Wir sollten nicht mehr darauf warten,
SPIEGEL: Und was empfiehlt die Gastro- dass andere für uns handeln. Sie werden es
sophie? Die Aufklärung der Verbraucher? nicht tun.
Lemke: Ja, klar. Wir müssen unseren Blick SPIEGEL: Manche Vordenker haben ihr
auf die Welt korrigieren. Aber das reicht Leben lang vergebens darauf gewartet, dass
nicht. Wir müssen die Wirtschaftsstruktu- endlich die Revolution beginnt.
ren verändern, wir brauchen andere Rah- Lemke: Ob die gastrosophische, humanitäre
menbedingungen wie eine andere Subven- Ethik sich weltweit durchsetzen wird, daran
tionspolitik in der Landwirtschaft. Man habe ich auch Zweifel. Aber es gab noch nie
muss an vielen Punkten ansetzen. Wir brau- so viel Widerstand auf diesem Planeten,
chen beispielsweise auch eine neue Koch- noch nie so viele konkrete Alternativen
ausbildung, gerade in der professionellen zu Verhältnissen, die für die Zukunft der
Gastronomie. Menschheit nichts Gutes verheißen.
SPIEGEL: Und was soll da gelernt werden? SPIEGEL: Vielleicht kann eine andere
Lemke: Wie man mit viel weniger Fleisch Facette der Gastrosophie die Menschen
leckere Dinge zubereitet. Das fordert die leichter überzeugen: dass es nicht nur zur
kulinarische Intelligenz heraus, denn ein Erhaltung des Planeten um Verzicht geht,
Steak braten ist nicht schwer. sondern auch um Genuss.
SPIEGEL: Das ist für viele Menschen eine Lemke: Nicht alles, was lustvoll ist, ist auch
Gemeinsames Mahl Herausforderung, weil sie gar keine Zeit gut. Aber Gutes kann auch lustvoll sein. Es
in der Nachkriegszeit: mehr zum Kochen haben. ist die Aufgabe der Gastroethik, Essen und
„Genießen ist sozial. Lemke: Das ist gestrig! Wir werden durch Genuss mit unseren moralischen Kategorien
Genuss ist das das digitale Zeitalter, durch Computerisie- in Einklang zu bringen. Revolutionäre Pra-
Wir der Lust.“ rung und Automatisierung mehr Zeit haben xis, um es pathetisch zu formulieren, muss
denn je. Die Gastrosophie hat eine interes- nicht grimmig sein, sondern kann auch Spaß
sante Antwort auf diese Veränderungen: machen.
Verwendet mehr Zeit aufs Kochen! Nutzt SPIEGEL: Also eine Pizza aus Biomehl, mit
euren Wohlstand und gebt dem genussvol- Biotomaten und veganem Käse, die lecker
len Essen eine größere Bedeutung in eurem schmeckt?
Leben! Lemke: Zum Beispiel. Dann ist manchmal
SPIEGEL: Das Ritual des gemeinsamen auch eine Fertigpizza okay.
Mittagessens am Wochenende, mit Suppe SPIEGEL: Und wo bleibt bei der Fertigpizza
und Sonntagsbraten, ist in den Familien aber der Genuss?
ein Auslaufmodell. Stattdessen wächst die Lemke: Beim Genuss geht es auch darum,
Fertiggerichte- und To-go-Kultur. wie wir essen: Stopfen wir uns schnell ein
Lemke: Sicherlich gibt es diese sozialen Ero- Pizzastück am Bahnhof rein? Oder essen
sionen, die Zahl der Fertiggerichte nimmt wir in der Gemeinschaft von Freunden
zu, das belegen Statistiken. Aber es gibt auch unsere Tiefkühlpizza? Genießen ist sozial.
eine Gegenbewegung: Menschen nehmen Genuss ist das Wir der Lust.
sich mehr Zeit fürs Essen, entwickeln neue SPIEGEL: Würde es den gastrosophischen
Ernährungsrituale, kaufen bewusst ein. Die Ideen helfen, wenn Kochen Schulfach wäre?
Gastrosophie unterstützt das und schafft Lemke: Absolut. Wir brauchen eine gas-
das Bild des ethischen Helden, der seinen trosophische Bildungsoffensive. Essen und
Einsichten auch Taten folgen lässt. Kochen haben etwas mit Wissen zu tun: Wo
SPIEGEL: Könnte die Politik hier mit Ge- kommen die Produkte her? Wie gehen wir
setzen diese Einsicht etwas befördern? richtig mit ihnen um? Physik, Chemie, Bio-
WILL MCBRIDE / BPK, WILLING-HOLTZ / SPIEGEL WISSEN
Lemke: Beim Thema Rauchen haben Ge- logie kann man anhand von Lebensmitteln
HARALD LEMKE setze das Verhalten der Menschen ver- lebensnah vermitteln. Warum stockt ein Ei?
ändert. Sie hätten ja auch vorher freiwillig Bei welcher Temperatur fällt ein Soufflé
ist habilitierter Philosoph und darauf verzichten können. Aber bei der zusammen? Wie entsteht eine Emulsion aus
lehrt an diversen europäischen Ernährung würde ich meine Hoffnungen Öl und Wasser? Wie funktioniert Fermen-
Universitäten Gastrosophie. nicht primär auf die Politik richten, dafür tation? Und weil die Kinder in den Ganz-
Er veröffentlichte mehrere ist das Thema zu komplex. Hier bin ich tagsschulen zusammen essen, erwerben sie
Bücher zur Ethik des Essens, anarchistischer und sage: Die Veränderung beim Mittagessen auch noch soziale Kom-
zuletzt den Essay „Über das muss von unten kommen, von uns allen petenzen und einen gemeinsamen Sinn für
Essen“ (Wilhelm Fink Verlag; ausgehen. Wenn die Bürger beginnen, sich „wahre Humanität“, wie Kant es nannte, den
203 Seiten; 19,90 Euro). selbst zu versorgen, wenn sie biologisch die Menschheit und dieser Planet unbedingt
Lemke, 51, lebt in Hamburg. produzierte, fair gehandelte Lebensmittel brauchen. Das ist doch ideal! ■
IM FRITTIERSALON
Wieso müssen Burgerrestaurants immer so furchtbar lustige Namen haben?
DIE BURGERBEWEGUNG in deutschen Großstädten schien McDonald’s und Burger King, die internationalen Fastfood-
in den vergangenen Jahren kaum zu stoppen: Im Wochenrhyth- fabriken. Meist sind die Namen tatsächlich kreativ – so kreativ
mus eröffneten neue Imbissbuden, die von Architekten für viel wie eine Friseuse, die eine „freche Frisur“ zaubert. Die Grenze
Geld auf Bauruine oder Kuhstall gestylt worden waren, damit zwischen einfallsreich und einfältig ist fließend.
dort Mädels in Holzfällerhemden und Jungs mit Haardutt ganz Im vergangenen Jahr hat ein geschasster Franchisenehmer
authentisch Avocadocreme auf Sauerteigbrötchen streichen der Burgerkette „Hans im Glück“ seine Filialen auf den Namen
konnten, bevor sie eine Biotomatenscheibe und einen Klops „Peter Pane“ umgeflaggt. Pane, wie das Brot. Was wirklich Pan-
Wagyu-Rind darauf anrichteten; die Süßkartoffelpommes ser- ne klingt, aber nur halb so Panne wie „Meatropolis“, „Stier
vierten sie mit Trüffelmayonnaise. Royal“, „Grillin’ me softly“, wie „Beef Brothers“ und „Grilly
Doch nun, jede Wette, ist der Sättigungsgrad erreicht. Und Idol“. Namen, die es alle gibt und die sich eigentlich nur ein
das gar nicht mal, weil es inzwischen zu viele Edelburgerläden Hornochse ausgedacht haben kann. Ah, Moment, den Laden
geben würde; die Nachfrage ist noch immer größer als das An- „Hornochse“ gibt es auch, in Köln, ebenso wie „Die Fette Kuh“.
gebot. Sondern einfach, weil kein Wortspiel mehr frei ist für Die neuen Burgerbrater veredeln eine einfache Idee, sie
neue. „Burgermeister“, „Burgeramt“, „Burgerbüro“, „Burger- pimpen ein Gericht, das als proletarisch galt, servieren einen
initiative“, „Staatsburger“, „Bundesburger“, „Mitburger“ – gibt Gourmetburger statt einem Big Mac, sie bedienen kulinarische
es alle schon. Ebenso wie „Burgerwehr“, „Gutburgerlich“, „Bur- Snobs. Doch an ihren Namen bleibt erkennbar, wo sie herkom-
gernah“ und „Einburgerung“. men. So wie Kinder Kevin oder Chantal heißen, heißen sie
Die begabtesten Werbetexter des Landes haben früher Krea- „Me(e)at“ und „Fritte schön“.
tivwerkstätten wie „Kamm in“ und „Hairport“ gegründet, Dass die Systemgastrokraken McDonald’s und Burger King,
„Hauptsache“, „Haareszeit“ und „GmbHaar“. Sie sind Friseure diese globalen Riesenketten, endlich Konkurrenz bekommen
geworden. Heute werden sie Burgerbrater. Was von einem Ber- von lokalen Anbietern, die oft auf biologische, fair gehandelte
liner Imbiss geradezu genial auf den Begriff gebracht worden Zutaten setzen, die die Zubereitung mit viel Muße und hand-
ist: „Frittiersalon“. Die Namen sollen den Läden einen hippen, werklichem Können angehen und die sich vermehrt vegetari-
individuellen Touch verpassen, sollen liebevoll klingen und sche Alternativen zum Fleischklops ausdenken, ist eine gute
gern ein bisschen ironisch, so wie „Belegschaft“ oder „Hoch- Nachricht. Aber ein Burgerladen namens „Kuhmuhne“? Hair-
stapler“, sollen also radikal andere Assoziationen wecken als gott noch mal! tobias.becker@spiegel.de
FETTE KUH
FRITTE SCHÖN
GRILLY IDOL
BEEF BROTHERS
THOMAS HANNICH@PLATNUM
MEATROPOLIS
57
ÜBERFLUSS
Nimmersatt
20 Prozent der Erwerbstätigen ernähren sich nur am Wochenende so, wie sie es
möchten. Doch auch im Joballtag würden sie lieber gesunde Mahlzeiten verzehren.
DER MENSCH ISST, WO ER IST. Aber Täglich einmal selbst zu kochen, gelingt schen Esstisch oder in der Kantine, sondern
immer weniger Menschen sind regelmäßig, nur in jedem zweiten Haushalt. Das hat eine auch auf Märkten oder in Pop-up-Restau-
Tag für Tag, zur selben Zeit am selben Ort. Umfrage der Techniker-Krankenkasse erge- rants, in Museen, in Buchhandlungen, Bou-
Der Alltag von Millionen Berufstätigen ver- ben. Die regelmäßige warme Mahlzeit ist tiquen, Möbelgeschäften oder Autohäusern.
liert seine Struktur. Arbeitszeiten werden für viele keine Normalität mehr. Gerade in Händler, die auf sich halten, bieten ihren
flexibler, Arbeitsorte variabler. Es ist keine Großstädten pflegen höchstens noch 40 Pro- Kunden einen kulinarischen Erlebnisraum.
Selbstverständlichkeit mehr, seine Kollegen zent das traditionelle Ernährungsmuster. Wer ein paar Stunden durch eine belie-
regelmäßig zu treffen. Beruf und Freizeit Kein Wunder, wenn man nachrechnet, ob bige deutsche Innenstadt bummelt, kann
durchmischen sich. Die Zahl der Singlehaus- es sich lohnt, für eine Person einzukaufen, die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Essen
halte steigt. Als Folge büßen vertraute Ritua- Zwiebeln zu schnippeln und den Herd an- betrachten. Bahnhöfe, Fußgängerzonen und
le ihre Bedeutung ein, darunter die geregel- zustellen. Einkaufszentren haben sich in den vergan-
ten Mahlzeiten. Stattdessen boomt der Markt für Außer- genen Jahrzehnten gewandelt. Vorbei die
Statt morgens, mittags und abends bei Haus-Verkostung: Kantinen, Restaurants, Im- Zeiten, in denen man einen Shoppingtag fast
Tisch essen mehr Menschen in Deutschland, bisse, Schnellgaststätten und Bringservices. nur im Selbstbedienungsrestaurant des
wenn es sich gerade ergibt. Frühstück? Ein 2015 vermeldete der Branchenverband ein Kaufhauses ausklingen lassen konnte, mit
Latte macchiato und ein Croissant in der U- Rekordjahr. „Wir erleben einen Kulturwan- Satt-mach-Garantie im trüben Kantinenflair.
Bahn. Mittagessen? Ein Take-away-Burger del“, sagt die österreichische Ernährungswis- Jede Großstadt bietet mindestens ein
vom Food-Truck. Und zwischendurch be- senschaftlerin und Trendforscherin Hanni Zentrum stylischer Esskultur. Die „Markt-
legte Brote vor dem Computer oder dem Rützler. „Die einzelne Mahlzeit wird kürzer halle 9“ in Berlin zum Beispiel setzt auf ex-
Fernseher, außerdem unterwegs noch etwas und kleiner. Wir entscheiden uns spontaner.“ quisite Kleinigkeiten, saisonal und regional,
Kleines auf die Hand. Wer Wohnung oder Häufige Snacks und Lustessen verdrängen und hat sich damit zum Anziehungspunkt
Büro nicht verlassen will, für den gibt es Lie- die drei Hauptmahlzeiten. für Ernährungsbewusste entwickelt. Diesen
ferdienste. Ein paar Klicks in einer App, und „Infinite Food: Essen ist immer und über- Lifestyle gibt es auch mobil: Auf Marktplät-
der Kurier bringt nicht nur Pizza, sondern all“ nannte Rützler dieses Phänomen im zen, vor Firmeneingängen stehen Food-
Trüffelpasta, Quinoa-Tabouleh oder die Food Report 2016 des Frankfurter Zukunfts- Trucks, die vegane Burger, Pulled Pork oder
Clean-Eating-Dinner-Box an die Tür. instituts. Gegessen wird nicht nur am heimi- Spätzle anbieten.
„Menschheitsmythen sind wahr gewor-
den. Wir leben in einer Art Schlaraffenland“,
sagt der Fuldaer Ernährungspsychologe
Christoph Klotter. „Man muss sich wun-
dern, dass nicht noch viel mehr Menschen
dick werden.“ Denn beim Essen regieren die
Triebe, und die sind auf maximale Nah-
rungsaufnahme geeicht: Legt man Versuchs-
personen eine Riesenportion auf den Teller,
verputzen sie diese in aller Regel bis auf den
letzten Happen. Auch naschen Menschen
häufiger, wenn etwas Leckeres in Sicht- und
Reichweite steht, und sie schlemmen un-
gebremst, wenn etwas besonders gut
schmeckt, lecker riecht oder schön ange-
richtet ist.
man häufiger isst. Darum gelinge es leichter, ohne Aufwand so wohlschmeckend und –
die Kalorienaufnahme unter Kontrolle zu zumindest gefühlt – ausgewogen versorgt
halten. Andere belegen das Gegenteil: Wer zu sein wie in der Kindheit. „Was früher die
sich häppchenweise durch den Tag futtert, Mutter leistete, sollen jetzt Außer-Haus-An-
esse insgesamt mehr als jemand, der zu we- bieter für viele Erwachsene übernehmen“,
nigen festen Terminen speist. Angesichts der sagt die Trendforscherin. Ein lukratives Um-
widersprüchlichen Daten gibt die Deutsche feld für jene Spieler im Foodbusiness, denen
Gesellschaft für Ernährung (DGE) keine es gelingt, die Begriffe „gut“ und „gesund“ zu
Empfehlung. „Wir raten weder explizit zu vereinen; etwa mit naturbelassenen Zutaten,
drei noch zu fünf Mahlzeiten, das muss jeder schmackhaften Rezepten und kleinen Por-
individuell entscheiden“, sagt Antje Gahl, Er- tionen mit überschaubarem Kaloriengehalt.
nährungswissenschaftlerin bei der DGE. Werden wir deshalb im nächsten Schritt
Tatsächlich mehren sich die Hinweise, das Kochen ganz aufgeben? „Die Menschen
dass der Stoffwechsel von Mensch zu sind bemüht, das Essen als familiäres und
Mensch sehr unterschiedlich auf Nahrung soziales Ereignis zu erhalten“, sagt Ernäh-
reagiert. Beispielsweise steigt der Blut- rungspsychologe Klotter. „Denn psychisch
zuckerspiegel bei Personen, die das Gleiche satt macht nur Essen in Gemeinschaft.“
essen, nach dem Mahl unterschiedlich stark Schon vor mehr als hundert Jahren haben
an. Das ergab eine Studie israelischer Wis- Soziologen Essen und Trinken als den
senschaftler aus dem Jahr 2015. Es ist gut kleinsten gemeinsamen Nenner identifiziert,
vorstellbar, dass jemand aufgrund seiner den alle Menschen teilen.
persönlichen Konstitution leicht schlank
bleibt, obwohl er dauernd irgendeine Klei- „Psychisch satt ZUSAMMEN ZU SPEISEN, hat eine Be-
nigkeit knabbert, während ein anderer sei- deutung, die über individuelle Bedürfnisse
nen Appetit mit der klassischen Dreimal-
macht nur wie den Wohlgeschmack oder eine ausge-
essen-Regel besser im Zaum hält. Essen in der glichene Energiebilanz hinausreicht. Es ver-
bindet.
WIE VIEL EIN MENSCH ISST, entschei- Gemeinschaft.“ Fehlt die gesellige Runde, fehlt ein Stück
det sich jedoch niemals allein durch Stoff- des Gefühls, sich gut zu ernähren. Wahr-
wechselsignale. „Rund 80 Prozent unseres scheinlich kommen deshalb einige Szena-
Essverhaltens werden vom limbischen Sys- rien für die Zukunft der Esskultur schlecht
tem bestimmt, dem Teil des Gehirns, in dem an. Der Nahrungskonzern Nestlé hat dazu
unbewusst unsere Wünsche, Triebe und Ge- eine Studie in Auftrag gegeben. Den Ergeb-
fühle entstehen“, sagt Ernährungspsycholo- Drittel beklagte, dass eine bessere Ernährung nissen zufolge gruseln sich die Befragten
ge Klotter. Wir sind anfällig für Versuchun- bei der Arbeit einfach nicht möglich sei. vor der Aussicht, dass Mahlzeiten überwie-
gen – und die haben sich ebenso vermehrt, Die Unzufriedenheit mit der eigenen Es- gend der effizienten Nahrungsaufnahme
wie sich der Alltag der Berufstätigen verän- senssituation könnte bald vorüber sein, dienen könnten, weil sie fast nur noch über
dert hat. meint Trendforscherin Rützler. Der Struk- Apps oder das Internet bestellt werden. Es
„Man kann davon ausgehen, dass es sich turwandel in den Großstädten habe das erscheint ihnen zwar unkompliziert, alles
auswirkt, wenn Essen für jedermann immer Angebot nicht nur erweitert, sondern ver- fertig geliefert zu bekommen, aber auch ein-
und überall mühelos verfügbar ist“, sagt die bessert. Die Fast-Food-Ödnis ist Geschichte, sam und freudlos.
Ernährungspsychologin Nanette Ströbele- und damit das Diktat von fettigen, zuckrigen Der Trend führt die Menschen zurück
Benschop von der Universität Hohenheim. und salzigen Speisen. Abgelöst wurden sie in die Küche: Die urbanen Vorreiter stehen
„Wir gehen am liebsten den leichten Weg. von Asia-Food in allen Variationen, konse- bereits wieder öfter am Herd, und sie haben
Wenn wir etwas einfach haben können, neh- quent regionaler Küche oder vegetarischen sich Kräuter- und Gemüsegärten zugelegt.
men wir es.“ Mehrere Studien deuten darauf und veganen Offerten. Gut essen lässt es sich Kochen, Backen, Einmachen, Säen, Harken
hin, dass passionierte Außer-Haus-Esser längst nicht mehr nur im gehobenen Res- und Ernten gelten ihnen als neuer Luxus.
größere Mengen verzehren und kalorien- taurant. Die Esskultur erfährt wieder eine Diese Tätigkeiten schafften ein Gegen-
reicher tafeln als solche, die selbst kochen. Aufwertung, Bedürfnisse von Verbrauchern gewicht zur digitalisierten Arbeit, heißt es
„Letztlich spielt die einfache Erreichbarkeit werden ernster genommen. im Food Report. Womöglich erlebt die täg-
von Essen für die Entstehung von Überge- „Eine sehr ernährungsbewusste Elite von liche warme Mahlzeit eine Renaissance: in
wicht sicher eine Rolle“, sagt Ströbele-Ben- urbanen Trendsettern strukturiert sich den privat organisierten Runden, die zusammen-
schop, „aber es gibt auch zahlreiche weitere Markt gerade selbst“, sagt Rützler. „Die kommen, um gemeinsam zu kochen und zu
Faktoren, die daran beteiligt sind.“ Menschen versuchen, mit dem Überfluss essen.
Viele Berufstätige hadern mit den Bedin- und der Übersättigung umzugehen. Sie fan-
gungen, die ihnen die Arbeitswelt in puncto gen an zu wählen und organisieren sich das
Essen auferlegt. Laut einer Befragung der Essen, das sie sich wünschen, denn ihre An-
Alexandra von Knobloch isst schon zum
Techniker-Krankenkasse kann sich jeder sprüche werden individueller – und die An- Frühstück gern warm und herzhaft.
fünfte Erwerbstätige nur am Wochenende bieter reagieren darauf.“ Sie bedienen die Dann braucht sie zu Mittag nichts und kann
so verköstigen, wie er es sich wünscht. Ein Sehnsucht vieler gestresster Berufstätiger: spazieren gehen.
Kinderleichte Küche
Im Münchner Luisengymnasium gehört das Kochen zum
Unterricht – ein Vorbild für alle Schulkantinen?
TEXT BETTINA MUSALL F OTO S SEBASTIAN ARLT
Baman leitet den Küchennachwuchs an. Der kein Conveniencefood, kein tiefgefrorenes
gebürtige Münchner, dessen Eltern vor Jahr- Gemüse, das Fleisch kommt vom regionalen
zehnten aus Afghanistan eingewandert sind, Metzger, keine Massentierhaltung. Die
hat in einem Steakhaus kochen gelernt. Mit Pommes aus einem Oldenburger Kartoffel-
seinem jetzigen Chef kam er auf der Wiesn hof sind vorgeschnitten, Semmelknödel wer-
ins Gespräch, privat. Sie mochten sich. „Ich den von Hand geknetet und gerollt. Neben-
hatte keine Vorstellung, was mich hier er- bei hilft Jäger an einer anderen Münchner
wartet“, sagt Baman, „aber es macht Spaß.“ Schule, wo sie ein abgespecktes Schulkoch-
65
ERZIEHUNG
kreuzweise einritzen. Warum? Anna: „Da- Theresa steht am Kipper. So heißt die
mit die Hitze gut nach innen kann.“ Paula: knapp einen Kubikmeter tiefe, per Elektro-
„Isst wahrscheinlich eh keiner, wenn es motor kippbare Bratpfanne, in der sie rund
Pommes gibt.“ So viel zum pädagogischen 20 Liter Öl zum Sieden bringt, um darin die
Effekt. Andererseits: Wer will, lernt hier Pommes zu frittieren. Nebenan bereitet Mo-
wirklich fürs Leben, kann sich und andere ritz die Currysoße vor. „Geheimrezept“, sagt
irgendwann am eigenen Herd versorgen. Koch Baman. Zwiebeln anschwitzen, Papri-
kapulver und Curry kurz mit anrösten, mit
9.30 UHR. Erste Pause. „Wo sind meine Cola light ablöschen, Ketchup, Honig, Salz
Kassenkinder?“, ruft Bianca. An der Sand- und Pfeffer rein. Baman: „Haste probiert?“
wichvitrine bildet sich eine Schlange aus Moritz testet. „Schmeckt okay.“ „Okay
Lehrkräften und Schülern. Leander träumt, kriegste überall, das schmeckt langweilig,
statt zu kassieren. Bianca: „Brauchst du hau mal Knoblauch rein.“ Radio Arabella
„Kochen muss was?“ „Ich überlege gerade.“ „Na, das kann meldet umgekippten Laster bei Deggendorf.
dauern.“ Sie geben sich High Five.
simpel sein, „Habt ihr schon abgestimmt, was ihr Frei- 10.50 UHR. Noch eine gute Stunde, bis
schmecken und tag essen wollt?“, ruft Küchenchef Jäger. Im- die fünften Klassen zum Essen kommen.
mer freitags dürfen die Angestellten auf sei- Moritz ist zufrieden mit seiner Currysoße,
Spaß machen.“ ne Kosten kochen und essen, worauf sie Lust aber jetzt wohin damit? „Baman!“ Anna lässt
haben. „Wie wär’s mit Sushi?“ Es hat auch den Rosenkohl ins sprudelnde Wasser glei-
schon Hummer gegeben. Dem Kulinariker ten – wie lange braucht der? „Baman!“ Wer
ist alles recht, nur „keine Pizza, keine Döner, holt noch Möhren und Tomaten für die Sa-
keine Burger, das haben sie immer“. lattheke? „Baman!“ Einer schlägt fürs Frei-
tagessen vor: „Wie wär’s mit Frühlingsrol-
len?“ „Wollt ihr mich verarschen?“, ruft Le-
Harte Arbeit, kurze Pommespause – ander, „die ganze Woche kochen, und dann
beim Küchendienst machen Schüler machen wir uns Frühlingsrollen warm?“
die Erfahrung, was ein Knochenjob ist. Lina transportiert Wannen mit gebräun-
ten Würsten ins Selfcooking Center, wo Ge-
richte überbacken oder warmgehalten wer-
den. „Schon okay“, sagt die Vegetarierin tap-
fer. Wenn sich hier einer drückt, geht das auf
Kosten der anderen. Disziplin, Verantwor-
tung, Teamwork, Organisation – solche Se-
kundärtugenden lernen die Schüler in der
Küche nebenbei. „Und sie zeigen sich mit
anderen Fähigkeiten als im Unterricht“, sagt
Direktorin Vonbrunn. „Es gibt Leute, die blü-
hen in der Mensa auf.“ Manche Schulen schi-
cken ihre Kinder in die Berge oder aufs Schiff,
Stichwort Erlebnispädagogik. Hier machen
sie die praktische Erfahrung, was ein Kno-
chenjob ist. Manch einer, der schon die Nase
voll hatte von Schule und Unterricht, hat zwi-
schen Herd und Geschirrspülmaschine das
Gymnasium wieder schätzen gelernt.
Mohammad wedelt mit seinem rechten
Daumen, auch ihn hat es erwischt, aber die
Kartoffeln sind fertig vorbereitet. Eine Stun-
de, 40 Minuten haben sie dafür gebraucht.
Baman macht vor, wie man die Scheibchen
in gebutterte Keramikschalen schichtet, ab-
SEBASTIAN ARLT / SPIEGEL WISSEN
L E I B U N D M AG E N
„Wir wollten, dass die Menschen „Was wir als Geschmack „Man kann auch aus einer
mehr über Nutzpflanzen lernen. auf der Zunge Makrele, die im
Viele bauen mittlerweile wahrzunehmen glauben, Einkauf 8 Euro pro Kilo kostet,
wieder in den eigenen Gärten beruht zum etwas Geniales machen.
Gemüse an oder ziehen großen Teil auf bloßer Es muss kein Heilbutt für
auf ihren Balkonen Kräuter.“ Illusion.“ 45 Euro sein.“
Gegessen,
aber nicht
vergessen
EIN KÜNSTLER ZIEHT BILANZ
SEINER ERNÄHRUNG.
„BETRETEN ERLAUBT“
SPIEGEL: Statt Stiefmütterchen wachsen Boomgaarden: Wir wollten Naturschutz Boomgaarden: Wir liefern Impulse, geben
seit acht Jahren auf den Grünflächen in und städtisches Leben zusammenbringen, unsere Erfahrung weiter, entwickeln Kon-
Andernach Obstbäume, Bohnen, Salat. Wie wollten, dass die Menschen sich wieder in zepte. In Kassel und Darmstadt werden
hat sich die Stadt verändert? die Fläche eingebunden fühlen, mitgestalten nun ebenfalls große öffentliche Flächen zu
Boomgaarden: Seit wir in öffentlichen können. Aber auch, dass sie mehr über den Nutzflächen. Wir betreuen auch ein Projekt
Anlagen Nutzpflanzen anbauen, heißt es Umgang mit Nutzpflanzen lernen. in Kenia, haben Frauen, die
für die Bürger „betreten erlaubt“. Sie dürfen Viele bauen mittlerweile wieder in einem Township leben, im
selbst gärtnern, ernten, essen. Viele tun das, in den eigenen Gärten Gemüse an Umgang mit Nutzpflanzen
sie pflegen die Pflanzen und treffen andere. oder ziehen auf ihren Balkonen weitergebildet, sie bewirt-
Der Zusammenhalt der Bürger hat sich Kräuter. Ambitioniert denken wir schaften jetzt brachliegende
gefestigt. Sie fühlen sich für Beete und auch im Bereich Ökobilanz: Je Flächen. Auch in Zukunft wol-
Pflanzen verantwortlich. Vandalismus im mehr Grünflächen es gibt, desto len immer mehr Menschen in
öffentlichen Raum gibt es nicht mehr. günstiger fällt diese aus. Städten leben. Wenn wir dort
Hunde werden woanders Gassi geführt. SPIEGEL: Wie kann ein kleiner „essbare“ Gärten haben, kann
SPIEGEL: Was war Ihr Ziel, als Sie mit dem Nutzgarten das Weltklima schüt- sich das soziale und globale
Projekt anfingen? zen? Klima sehr verbessern.
U M A M I
Herzhaft, würzig,
lecker – verantwortlich
für diesen Geschmack
ist Glutaminsäure. Sie
steckt in Fleisch und
Käse und ist ein
Indikator für Proteine.
Leckersc
72
P H YS I O LO G I E
S Ü S S
hmecker
73
S A L Z I G
74
P H YS I O LO G I E
das Stiefkind unter den Evolution unserer Spezies gespielt. Der ex-
perimentierfreudige Gaumen habe dem
Menschen gleichsam den Weg zu immer
Sinnesorganen. Dabei größerer Intelligenz gewiesen.
77
P H YS I O LO G I E
Auch im Fall des Geschmacks, fügt She- FORSCHER SHEPHERD geht davon aus,
pherd dann hinzu, gelte es die Frage zu stel- dass dies in der Frühzeit der menschlichen
len: Warum hat sich das raffinierte Sinnes- Evolution nicht grundlegend anders gewe-
theater im menschlichen Hirn entwickelt? sen ist: Schon unter den Urmenschen war
Wieso reicht ihm die einfache Diagnose der es vermutlich üblich, Freunde mit Leckerei-
Geschmacksknospen – süß, sauer, salzig en zu beglücken. Wer einen anderen für sich
oder bitter – nicht aus? Anders gefragt: Wa- gewinnen wollte, der musste vor allem sei-
rum ist der Mensch mit der Gabe gesegnet, nem Geschmackssinn etwas bieten.
einen Chardonnay von einem Grauburgun- Rasant dürfte sich die Entwicklung be-
der unterscheiden zu können? schleunigt haben, nachdem die Urmen-
Shepherd ist überzeugt davon, dass die schen – möglicherweise schon vor mehr als
Antworten auf solche Fragen tiefe Einsich- einer Million Jahren – erstmals Lagerfeuer
ten in das Wesen des Homo sapiens zutage entzündeten, an denen sie die erbeuteten
fördern können. Es sei kein Zufall, dass die Antilopen, Wasserschweine oder Büffel bra-
große Synthese der Sinne ganz vorn im ten konnten. Fortan schenkten sie der Zu-
Die Evolution hat uns zu Stirnlappen des Cortex geschmiedet wird, bereitung des Essens immer mehr Aufmerk-
Geschmacksexperten in unmittelbarer Nachbarschaft jener Regio- samkeit – stets mit dem Ziel, seinem Ge-
gemacht, sagt Shepherd. nen, in denen gemeinhin der Sitz der schmack neue Nuancen abzugewinnen.
menschlichen Persönlichkeit verortet wird. Bald merkten die urzeitlichen Köche,
Gleich in doppelter Hinsicht, mutmaßt dass sich durch Mahlen, Stampfen oder Wäs-
Shepherd, trieb der Geschmackssinn die sern Konsistenz und Verdaulichkeit des Es-
bei allen Tieren, die Gerüche, die von der Menschwerdung voran. Zum einen half er sens verbessern ließen und dass Kräuter es
Nahrung im Mund ausdünsten. den Urahnen der heutigen Menschen, den würziger machten. Auf diese Weise bildeten
enormen Energiehunger ihres überdimen- sich in jeder Horde eigene Techniken der
„RETRONASAL“ wird diese Art des Rie- sionierten Gehirns zu stillen. Nahrungsaufarbeitung heraus. Der Anfang
chens genannt, die von den Forschern lange Denn Denken ist teuer. Jede fünfte Kalo- der regionalen Küche war gemacht. Es kann
Zeit weitgehend unbeachtet blieb. Einer der rie im Körper wird von dem anderthalb Kilo wenig Zweifel daran geben, dass Rezepte zu
Gründe für die Geringschätzung ist wohl, schweren Nervenbündel im Schädel ver- den ersten Kulturgütern zählten, die von ei-
dass sich diese Form der Wahrnehmung un- brannt. Und wenn es um die Energieversor- ner Generation an die nächste weitergege-
bewusst vollzieht: Jeder Reiz, der von hin- gung geht, duldet das Gehirn keine Pause. In ben wurden.
ten her in die Nase dringt, wird vom Gehirn Notzeiten, wenn die Nahrung knapp ist, kann Wenn Shepherd die Lust am Spekulieren
als aus dem Mund kommend bewertet. „Was jedes andere Organ vorübergehend auf Diät packt, dann glaubt er sogar noch an einem
wir als Geschmack auf der Zunge wahrzu- gesetzt werden. Nicht so das Gehirn: Es dritten Merkmal der menschlichen Evolu-
nehmen glauben, beruht zum großen Teil nimmt bereits Schaden, wenn der Energie- tion das Wirken des Geschmackssinns er-
auf bloßer Illusion“, konstatiert Shepherd. nachschub nur wenige Minuten lang stockt. kennen zu können: Das Interesse an Gau-
Evolutionär betrachtet ist die Nase ein Ein solch anspruchsvolles Organ konn- mengenüssen habe womöglich auch die Ent-
archaisches Sinnesorgan, das einen beson- ten sich die frühen Jäger und Sammler nur wicklung der Sprache vorangetrieben.
ders direkten Draht zu den höchsten Ver- leisten, wenn sie es fortwährend mit hoch- „Natürlich kann niemand wissen, worum
arbeitungszentren des Gehirns hat. Vom wertiger Nahrung zu füttern vermochten. sich Gespräche der Urmenschen am Herd-
Riechkolben an der Basis des Vorderhirns Und der subtile Geschmackssinn war es She- feuer drehten“, sagt Shepherd. Doch was lie-
gelangen die Reize unmittelbar in den da- pherd zufolge, der ihre Neugier auf immer ge näher, als anzunehmen, dass sich die von
rüberliegenden orbitofrontalen Cortex. Die neue Genüsse weckte. Stets auf der Suche der Jagd erschöpften Männer über den
Signale von Zunge, Auge, Ohr und Gaumen nach überraschendem Gaumenkitzel expe- schmackhaften Braten unterhielten, der im
werden auf komplizierteren Bahnen durchs rimentierten die Urmenschen mit allem, Feuer schmorte? Die Sprache habe von An-
Nervengeflecht geschleust, bis sie schließ- was ihnen die Natur bot. Nüsse, Wurzeln fang an maßgeblich dazu gedient, das Wun-
lich ebenfalls in diese Hirnregion münden. und Früchte; Pilze, Körner und zarte Pflan- der des Geschmacks in Worte zu fassen.
Im orbitofrontalen Cortex geschieht dann zentriebe; Fleisch, Knochenmark und Mee- Natürlich weiß Shepherd, dass er sich
die Synthese, deren Ergebnis wir als „Ge- resfrüchte: Kein Tier ernährt sich so vielfäl- damit auf das Terrain von Hypothesen
schmack“ wahrnehmen. tig und reichhaltig wie der Mensch. begibt, die sich wahrscheinlich nie werden
Gerade bei dieser großen Zusammen- Noch in einem zweiten Sinne, glaubt She- beweisen lassen. Trotzdem ist unverkenn-
schau der Sinne, meint Shepherd, falle die pherd, wirkte der Geschmackssinn als Trieb- bar, wie viel Vergnügen dem Forscher der
Eigenheit des Menschen besonders ins Ge- feder auf dem evolutionären Sonderweg des Gedanke bereitet, dass sich erst in der Ver-
wicht. „Kein anderer Organismus hat so viel Menschen: Er stärkte den sozialen Zusam- kostungslyrik der Weintester die Mensch-
SHAWN G. HENRY / DER SPIEGEL
neuronale Kapazität, um seine Sinne mit- menhalt der frühen Jäger-und-Sammler- werdung vollendet.
einander zu vernetzen“, sagt er. Horden.
Seine Vorträge zum Thema eröffnet She- In allen heutigen Gesellschaften spielen ge-
pherd gern mit dem berühmten Zitat von meinsame Mahlzeiten eine zentrale Rolle im
Johann Grolle ließ sich bei der Recherche
Theodosius Dobzhansky: „Nichts in der Bio- sozialen Leben: Gäste werden fürstlich bewir-
davon überzeugen, dass Salz eine Grapefruit
logie“, so lehrte dieser große Biologe, „ergibt tet, geschäftliche Allianzen bei Tisch geschmie- süßer erscheinen lässt – der menschliche Ge-
einen Sinn außer im Licht der Evolution.“ det, Ehen mit großen Festessen besiegelt. schmackssinn, so lernte er, ist trügerisch.
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CUISINE
ten mir aber noch mindestens fünf andere lone an, die wiederum die Form unseres gro-
Zitrusfrüchte zur Verfügung gestanden, die ßen Tisches hier im Restaurant nachahmt.
infrage gekommen wären. Die richtige Wahl Die Gäste fangen an zu überlegen, was es
hängt auch davon ab, welche Beilagen später sein könnte, was sie da schmecken. Das ist
hinzukommen. immer schön anzusehen. Es geht am Anfang
SPIEGEL: Wie gehen Sie bei der Komposi- immer nur um den Geschmack und die Qua-
tion Ihrer Gerichte vor? Was ist die Basis? lität eines Gerichts. Nicht um den Gag. An-
Fehling: Ich denke von innen nach außen, ders geht es nicht bei drei Sternen.
es geht immer zuerst um das Kernprodukt. SPIEGEL: Da müssen aber auch die Liefe-
Wenn zum Beispiel die Entscheidung ge- ranten spuren.
troffen ist, welchen Fisch wir nehmen wol- Fehling: Wenn unsere Telefonnummer auf
len, dann gruppiert sich alles andere darum deren Display erscheint, müssen sie zusam-
herum. Wir haben uns neulich entschieden, menzucken. Wir haben die höchsten An-
ein Gericht mit Wittling zu kreieren. Da ha- sprüche an Qualität und Frische, und wenn
ben wir verschiedene Fischhändler aufge- etwas nicht in Ordnung ist, nehmen wir es
fordert, ihre unterschiedlichen Wittling-Ar- nicht. Wir haben immer noch einen anderen
ten zu bringen. Dann haben wir die mögli- Lieferanten in der Hinterhand. Wohlge-
chen Garverfahren ausprobiert, bis das Ge- merkt, man kann auch aus einer Makrele,
richt dann komponiert war. die im Einkauf acht Euro pro Kilogramm
SPIEGEL: Was gibt den Ausschlag? kostet, etwas Geniales machen. Es muss kein
Fehling: Man muss mit dem Eigenge- Heilbutt für 45 Euro sein.
schmack des Produkts arbeiten und sich SPIEGEL: Honorieren alle Gäste Ihre Tüf-
fragen, was kann so ein Wittling vertragen, telei?
viele oder wenige Gewürze, eine mehr ori- Fehling: Die freuen sich, dass sie bei uns
entalische oder eine mehr asiatische Note. Spaß haben können. Es ist hier nicht so steif
Oder ich bringe eine Inspiration aus einem wie in einem herkömmlichen Gourmet-
Urlaub ein. tempel. Ich fand es immer falsch, wenn sich
SPIEGEL: Ist das so eine Art Geschmacks- Gäste in der traditionellen Spitzengastrono-
souvenir? „Mein Kochen mie gefragt haben, ob sie sich auch richtig
Fehling: Das klappt nicht immer. Ich war benehmen. Da fängt so ein Abend doch
einmal zwei Wochen lang in Südafrika und
ist im Grunde schon doof an, oder? Auf dem Teller konnte
habe gedacht, irgendeine Inspiration müsste ein Egotrip.“ sich die deutsche Sterneküche schon lange
ich doch finden. Aber es kam nichts. Außer sehen lassen, da sind wir international an
einem Magneten für den Kühlschrank, den der Spitze. Aber konzeptionell fehlte noch
ich kurz vor dem Rückflug auf dem Flugha- etwas. Es war oft unnatürlich. Auch in der
fen gekauft habe. So ein Ding für Touristen. Sprache: „War es der Dame genehm?“, so et-
Der Magnet stellte fünf große Tierarten dar, was hören Sie bei uns nicht. Einen Dress-
die in Südafrika leben, und war mit „The Big code gibt es auch nicht. Unsere Gäste müs-
Five“ betitelt. Meine Idee war es, dass man sen keinen Anzug oder ein Cocktailkleid be-
vielleicht diese Figurengruppe im 3-D-Dru- sitzen, nur die richtige Einstellung.
cker als Form für Desserts nacharbeiten und SPIEGEL: Und das nötige Kapital. Bei Ihnen
mit den Aromen von Südafrika füllen könn- ist man pro Person schnell bei 320 Euro.
te. Und so kamen zur Schokoladenganache Fehling: Dafür bekommen Sie auch etwas:
fünf Aromen dazu: Amarula-Perlen, Süßkar- 14 große und kleine Gerichte und die pas-
toffeleis, Rooibostee-Gel, Aprikosenchutney senden Weine, Champagner zur Begrüßung.
und eine Nusscreme. Ich möchte jedes Mal Wir hatten neulich sogar drei sehr junge
etwas schaffen, das am Gaumen Magie aus- Paare, so um die zwanzig. Das fand ich toll,
löst. in dem Alter hätte ich nicht so viel Geld fürs
SPIEGEL: Und das klappt immer? Essen ausgegeben.
Fehling: Manchmal leider nur auf dem Pa- SPIEGEL: Haben die Jungen es denn genos-
pier. Mancher Plan geht aber auf: Ich wollte sen bei Ihnen?
YVONNE SCHMEDEMANN / SPIEGEL WISSEN
einmal etwas mit Gänseleber machen und Fehling: Sicher. Innerhalb von zehn Minuten
verschiedenen Aromen, die noch nie jemand ist jeder Gast bei uns auf Chill-Modus. An
kombiniert hat. Zuerst habe ich überlegt, unserem langen Tisch kann man miteinander
dass die Gänseleber verschiedene Konsis- kommunizieren, muss es aber nicht.
tenzen haben sollte, Terrine, Mousse und SPIEGEL: Was muss denn Ihr idealer Gast
Eis. Dazu kamen dann die Aromen von Pas- mitbringen außer Geld?
sionsfrucht, Lavendel und Ziegenkäse. Dazu Fehling: Er sollte genießen und sich fallen
Rote Bete in unterschiedlichen Texturen. lassen können. Er hat ja meistens rund vier
Das Ganze richten wir jetzt in einer Schab- Monate auf seinen Platz gewartet. Das ist
Die Leichtigkeit
des Seins
lin. Doch in den letzten Jahren sei das The-
ma in der Wissenschaftsgemeinde regel-
Ist Fasten ein Allheilmittel? recht angesagt, man interessiere sich sehr
für die Prozesse, die während des Fastens
Ein Blick auf neueste im Körper ablaufen, finde immer mehr Hin-
weise auf positive Gesundheitseffekte.
Michalsen, der in seiner Abteilung so-
Forschungen legt den Schluss wohl Patienten beim Heilfasten betreut als
auch selbst – im Rahmen einer Stiftungspro-
nahe. Da schmeckt Verzicht fessur für klinische Naturheilkunde an der
Berliner Charité – klinische Studien veröf-
gleich ein bisschen besser. fentlicht, begrüßt die Entwicklung. Den-
noch sind die vielen Befunde für ihn nur
eine Bestätigung von naturheilkundlichem
TEXT ANNE OTTO Wissen, das schon seit Jahrtausenden exis-
tiert. „Mit dem Fasten ist es wie mit anderen
traditionellen Gesundheitslehren, etwa
Yoga. Erst wird es von einem kleinen Kreis
praktiziert, gilt als exotisch, dann schwören
HUNDE FRESSEN EINMAL PRO TAG . viele darauf, weil es wirkt – und schließlich
Das ist gesund für sie. Schauen wir unseren werden ausstehende wissenschaftliche Be-
Haustieren zu, wie sie in Windeseile diese lege erbracht.“ So habe bereits Hippokrates
Mahlzeit verschlingen, überkommt uns ge- in der Antike seinen Patienten Fastentage
legentlich Mitleid: armer Hund. So kurze verschrieben. Auch Ärzte des 19. Jahrhun-
Gaumenfreude. So langes Darben. Der derts schworen auf Trink- und Fastenkuren.
Mensch dagegen gönnt sich mehrere Mahl- Und Anfang des 20. Jahrhunderts hat der
zeiten pro Tag, oft noch Snacks zwischen- Arzt Otto Buchinger eine der ersten Fasten-
durch. Doch in den letzten Jahren haben klinken hierzulande eröffnet und damit ver-
Forscherteams aus Medizin, Molekularbio- sucht, bei reichen Bürgern Leiden wie Rheu-
logie und Neurowissenschaft belegen kön- ma zu kurieren.
nen, dass Fasten – über Stunden, Tage oder
Wochen – auch für Menschen gesund sein HEUTE IST HEILFASTEN kein Luxus
und Krankheiten lindern kann. mehr. Nach Schätzungen der Ärztegesell-
„Wir wissen schon eine Weile, dass alle schaft Heilfasten und Ernährung nutzen
Organismen, von der einfachen Bäckerhefe etwa 10 000 Menschen in Deutschland die
VANESSA MCKEOWN
„Fasten kann
Schmerzen, Krankheiten
lindern.“
und bei Fachleuten eher als „Mitnahmeef- eintritt. Sie lösen also euphorische Gefühle Ketogenese und Autophagie im Körper an-
fekt“ gilt: Viele Krankheiten und deren Ent- aus. zustoßen, tut viel für seine Gesundheit.“
stehung werden dadurch begünstigt, dass Eine Studie der Universität Yale hat neu- Ist das eine gute Nachricht? Nicht, wenn
wir dem Körper täglich zu viele Kalorien lich außerdem gezeigt, dass ein bestimmtes man es selbst für unmöglich hält, mehrere
zuführen, ihn ständig mit Verdauungspro- Keton auch Entzündungen hemmen kann. Tage ohne Schnitzel oder Salat durchzuste-
zessen beschäftigen – und durch das daraus Diese Studie könnte ein neuer Erklärungs- hen. Doch auch hier gibt es ermutigende
entstehende Übergewicht. Statistiken zei- ansatz sein, warum Fasten bei entzündli- Forschungsansätze: Das Team um Frank
gen, dass zwei Drittel der Männer und die chen Erkrankungen wie Rheuma oft wirkt. Madeo und einige andere Arbeitsgruppen
Hälfte der Frauen übergewichtig sind. Entzündungsprozesse spielen nach heuti- weltweit untersuchen in den letzten Jahren,
„Auch wenn Fasten kurzzeitig das Ge- gem Forschungsstand auch bei Arterioskle- ob auch kürzere Fastenzeiten, die man in
wicht drastisch reduziert, ist es dennoch rose und Bluthochdruck eine Rolle. Auch den Tagesablauf einbaut, den gesunden Fas-
wichtig, dass man es nicht als Abspeckkur fürs Herz-Kreislauf-System könnten im Blut tenstoffwechsel auslösen können.
sieht“, sagt Andrea Ciro Chiappa, Ökotro- zirkulierende Ketone also heilsam sein. Vieles spricht dafür, dass ein solches In-
phologe und einer der Leiter der Deutschen Der zweite wichtige Veränderungspro- tervallfasten funktioniert. Untersucht wer-
Fastenakademie. Er weist darauf hin, dass zess beim Fasten ist die sogenannte Auto- den verschiedene Rhythmen von Schlemmen
man durch Heilfastenwochen allein nicht phagie. So wird der Reinigungs- und Auf- und Darben: Frank Madeo betreut gemein-
dauerhaft sein Gewicht reduziert. räumprozess bezeichnet, der in der Zelle sam mit Thomas Pieber in der „Interfast“-
beginnt, sobald der Körper im Fastenmodus Studie eine Gruppe von Versuchsteilneh-
ES SEI ALLERDINGS ERWIESEN, dass ist. „Wann immer man aufhört, Zellen Nah- mern, die zwischen einem Tag Fasten und ei-
es durch die Zäsur bei der Nahrungsaufnah- rung zuzuführen, laufen sie in ein Energie- nem Tag Essen abwechseln. Erste Prognose:
me und durch die Fastenerfahrung oft zu ei- problem“, erklärt der Biochemiker Frank Ketogenese und Autophagie werden durch
nem Umdenken komme: Eine Studie der Madeo, der an der Universität Graz eine For- diesen Rhythmus effektiv angeregt. Aber
Universitäten Duisburg und Essen mit mehr schungsgruppe leitet, die den Effekt des auch eine alltagstauglichere Art des Inter-
als 900 Teilnehmern zeigt jedenfalls, dass Kurzzeit-Fastens auf molekularer Ebene er- vallfastens, das „time-restricted feeding“, also
nach nur einer Woche Fasten nachhaltige forscht. „Sie beginnen dann, Zellbestandtei- Nahrungsverzicht über mehrere Stunden des
Veränderungen des Lebensstils und der Er- le abzubauen, die überflüssig oder sogar Tages, scheint etwas zu bewirken. „Wer ein
nährungsgewohnheiten entstehen können. schädlich sind. Das betrifft etwa geschädigte Fastenintervall von 14 bis 16 Stunden täglich
Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernäh- Mitochondrien, die zu Krebs führen können, einhält, kann bereits Fastenstoffwechselpro-
rung – die Diäten sehr skeptisch gegenüber- sowie verklumpte Proteine, die Neurodege- zesse auslösen“, erklärt Madeo. Viele Men-
steht und das Fasten lange kritisch beäugt neration begünstigen.“ schen, die diese Variante ausprobieren, legen
hat – vertritt heute die Meinung, dass Fasten Man hat mittlerweile auch beobachtet, die Stunden des Verzichts in die Nacht – und
eine gute Möglichkeit sein kann, den Weg zu wie die Autophagie in der Zelle abläuft: He- schinden dann noch eine Verlängerung he-
einem bewussteren Essverhalten zu bahnen. rumliegende Zellbestandteile werden in raus, indem sie morgens das Frühstück weg-
Fasten ist dem reinen Kalorienzählen eine Art Müllsack, das Autophagosom, ge- lassen. „Hunger hat man nur in der Umstel-
auch deshalb überlegen, weil es den Stoff- packt und nach Verschmelzung mit einem lungszeit von ein oder zwei Wochen“, versi-
wechsel positiv verändert. In einer Woche „Zellmagen“ in Einzelteile zerlegt. Die wer- chert Madeo, der selbst auf ähnliche Weise
ohne feste Nahrung schaltet der Körper den der Zelle dann zur Energiegewinnung isst. Auch Leistungseinbußen gebe es, wenn
nach und nach auf „Fastenstoffwechsel“ um, oder zum Aufbau von Strukturen zur Verfü- überhaupt, nur für kurze Zeit.
ernährt sich nach einer Übergangszeit von gung gestellt. „Die Zelle löst mit solchen
etwa drei Tagen nahezu komplett aus seinen Prozessen nicht nur ihr Energieproblem, „FÜR GESUNDE ist das stundenweise Fas-
Reserven. In den ersten zehn bis zwölf Stun- sondern entsorgt auch schädliche Moleküle, ten eine gute Alternative zum Heilfasten“,
den läuft der Körper noch im üblichen Koh- die im Alter zu Beschwerden und Erkran- findet auch Andreas Michalsen. Ein absolu-
lenhydratstoffwechsel, die Glykogenspei- kungen führen können“, folgert Madeo. ter Pluspunkt: Man kitzelt alle positiven bio-
cher in der Leber werden abgebaut – in ver- Wie bedeutsam diese Selbstverdauungs- chemischen Effekte des Fastens täglich ein-
wertbare Glukose umgewandelt. prozesse sind, mag man auch daran ablesen, mal hoch – und kann trotzdem relativ nor-
Danach wird kurzzeitig vermehrt Eiweiß dass der Nobelpreis für Medizin im Herbst mal essen. Diese gemäßigte Art des Inter-
verbraucht, meist überflüssiges Struktur- 2016 an den japanischen Zellbiologen Yo- vallfastens wird für viele sogar zu einer per-
eiweiß, etwa aus dem Bindegewebe. Dann shinori Ohsumi ging, dessen Lebenswerk manenten Ernährungsumstellung.
setzt ein Eiweißsparmodus ein, die Fett-Auf- das Erforschen der Autophagie ist. Auch Der Wissenschaftler Satchidananda Pan-
spaltungsprozesse verstärken sich, machen Ohsumi hat in Studien mehrfach belegt, dass da vom Salk-Forschungsinstitut in Kalifor-
irgendwann den Großteil der Energiegewin- Nährstoffknappheit den heilsamen Mecha- nien hat als einer der Ersten darauf hinge-
nung aus. Unter anderem entstehen im Fett- nismus begünstigt. Für Frank Madeo ist mit wiesen, dass es bedeutsamer sein könnte,
stoffwechsel die sogenannten Ketonkörper. der Autophagie letztlich auch ein zellbiolo- wann man isst – als wie viel man isst. In ei-
Sie liefern den Zellen nicht nur Energie, sie gischer Prozess gefunden, der erklären kann, nem Experiment untersuchte er rund 400
haben auch gesundheitsfördernde Wirkun- warum sich Fastende nach einiger Zeit „ent- Mäuse. Die eine Hälfte der Tiere bekam 9
gen. Zum einen können sie die Blut-Hirn- giftet“ und „aufgeräumt“ fühlen. Ob man bis 15 Stunden am Tag eine sehr zucker- und
Schranke passieren, sollen dort protektive mit dieser Forschung auch Skeptiker über- fettreiche Kost – man könnte sie Fast-Food-
Funktionen für Nervenzellen haben. Außer- zeugt, die mit den Augen rollen, sobald der Diät nennen – , in den anderen Stunden aber
dem sind sie mitbeteiligt am „Fasten-High“, Begriff „Entschlackung“ fällt, bleibt abzu- gar kein Futter. Für die andere Hälfte der
das ab dem dritten oder vierten Fastentag warten. Klar ist für Madeo: „Wer es schafft, Mäuse war die gleiche Menge Fast Food
Hungerkünstler
Wie fastet man richtig? Wir stellen drei Varianten vor.
über 24 Stunden zugänglich. Wie erwartet, auch das viel zitierte Fasten-High sei an der
wurden die Mäuse, die ständig essen konn- Stimmungsaufhellung beteiligt. Es hat, laut
ten, schnell dick und krank, bekamen etwa Studien von Michalsen, zumindest die Kraft,
Diabetes. Die Mäuse, die nur 9 bis 15 Stun- leichte Depressionen zu lindern.
den ans Essen kamen, aber dieselbe Menge
wie die anderen gefuttert hatten, blieben da- BLEIBT DIE FRAGE, warum Fasten nicht
gegen schlank und gesund. längst Standardempfehlung für jeden ist, der
Dieses Ergebnis ist erstaunlich. Und es „Viele Fastende gesünder werden oder gesund bleiben will.
legt nahe, dass wir alle unsere Essgewohn-
heiten überdenken sollten. In einer weiteren
sind stolz auf sich, Andreas Michalsen sieht viele Gründe: „Ei-
ner ist sicher, dass Fasten fast nichts kostet.
Studie fand Panda nämlich heraus, dass zu- fühlen sich Man kann damit kein Geld verdienen.“ Dass
mindest in den USA die meisten Menschen man mit weniger Energie, Nahrung und Auf-
permanent essen. Er stellte Freiwilligen eine regelrecht fröhlich.“ wand tatsächlich mehr für Körper und Seele
App zur Verfügung, mit der sie jede Mahl- erreicht, ist für Unternehmen der Pharma-
zeit fotografierten – von den Cornflakes am und Diätindustrie kein Grund zum Jubel.
Morgen bis zu den letzten Erdnussflips Oder, um es mit einem Satz des Griechen
vorm Schlafengehen. So konnte er beobach- Hippokrates zu sagen: „Wer stark, gesund
ten, dass die meisten Probanden über 14 und jung bleiben will …, heile sein Weh eher
Stunden verteilt essen. Diese ständige Ka- durch Fasten als durch Medikamente.“ Ei-
lorienzufuhr läuft unbedacht und unbe- nen Versuch ist es allemal wert.
wusst – macht aber möglicherweise krank.
DOCH SOGAR MENSCHEN, die sich be- Anne Otto hat selbst schon gefastet. Wich-
wusst und gesund ernähren, tappen in diese tigste Erkenntnis nach einer Woche: Nichts
Falle. Viele von ihnen essen nach der Devise: schmeckt besser als ein Brötchen mit Käse.
„Lieber fünf bis sieben kleine Mahlzeiten
am Tag als drei große.“ Diese Ernährungs-
empfehlung kann als überholt angesehen
werden. Ständiges Essen über den Tag führt
zu einem anhaltend hohen Insulinspiegel,
der Körper kommt nicht zur Ruhe.
Natürlich ist der Umkehrschluss „Iss nur
wenige Stunden täglich, dann kannst du in
dieser Zeit futtern, was du willst“ kein er-
nährungsphysiologischer Coup. „Wer Fas-
tenstunden in den Tag einbaut, sollte gu-
cken, dass er hochwertiges Essen mit vielen
Nähr- und Ballaststoffen zu sich nimmt“,
empfiehlt Ökotrophologe Chiappa. Doch
auch er sieht im Intervallfasten letztlich
eine gute Chance, Fasteneffekte pragma-
tisch in den Alltag einzubauen.
Eins wird man allerdings beim Intervall-
fasten nicht erleben: eine ganzheitliche Er-
fahrung, eine Begegnung mit sich selbst. An-
dreas Michalsen, der jährlich etwa 1000
Menschen in seiner Abteilung beim Heilfas-
ten erlebt, ist selbst immer wieder erstaunt,
wie sehr sich die Ausstrahlung und die Stim-
mung der Patienten beim Fasten verändern.
Viele kommen mit chronischen Schmerzen,
sind stark übergewichtig oder seit Langem
krank. „Die Leute kommen hierher und glau-
ben nicht ans Fasten. Sie machen es mit, weil
man das hier halt so macht“, sagt er. „Doch
nach ein paar Tagen sieht man sie aufblühen,
VANESSA MCKEOWN
Bakterien
würden
Ballaststoffe
kaufen
Darmflora – wie wichtig diese gen sie als Entwicklungshelfer dafür, dass
sich die Zotten des menschlichen Darms op-
für unsere Gesundheit ist, erkennt timal ausprägen. Dadurch kann die Nahrung
bestens verwertet werden.
Zum anderen spalten die Bakterien be-
die Wissenschaft erst jetzt. stimmte, für den Menschen unverdauliche
Polysaccharide in immer kleinere Einheiten,
TEXT JÖRG BLECH I L L U S T R AT I O N MATTHIAS SCHÜTTE die sie schließlich in kurzkettige Fettsäuren
umwandeln. Diese werden von den Dick-
darmzellen des Menschen begierig aufge-
nommen und als Energiequelle oder Boten-
stoff genutzt.
Was erhalten die Darmbakterien zum
So kann eine Kost voller Zucker und Fett Lohn? Sie leben von jener Energie, die beim
und mit wenig Ballaststoffen dazu beitragen, Zersetzen von Polysacchariden frei wird.
dass die Arterien verkalken, die Leber ver- Polysaccharide sind große Moleküle, die
fettet, ein Tumor wächst oder der Geist trä- Zellwände oder andere Strukturen in Pflan-
ge wird. Zugleich führt just dieser westliche zen und Tieren bilden. Ballaststoffe in
Ernährungsstil zu einem Rückgang der Ar- Lebensmitteln bestehen zum größten Teil
tenvielfalt unter den natürlichen Darmbe- aus Polysacchariden.
wohnern. Die Beziehung zwischen Mensch und
„Diese Zusammenhänge haben zu der Darmbakterien hat sich in der Evolution
Annahme geführt, dass die Ernährungsge- perfektioniert. Doch sie wird durch viele
wohnheiten die Darmmikrobiota beeinflus- Produkte der modernen Lebensmittelin-
sen, die wiederum Gesundheit und Krank- dustrie gestört, die zu wenig Ballaststoffe
heit beeinflusst“, konstatierten die Forscher enthalten. Wenn aber die Versorgung mit
EIN MENSCH IST ZIEMLICH VIELE. Francesca Gazzaniga und Dennis Kasper bestimmten Polysacchariden nicht mehr
In und auf unserem Leib tummeln sich Bil- von der Harvard Medical School in Boston gewährleistet ist, läuft es in der Darmflora
lionen Viren, Bakterien und Einzeller. Erst im Fachmagazin „Cell“. Und das bedeutet: nicht mehr rund.
ein Gleichgewicht zwischen unseren win- Durch die rechte Ernährung kann man die Das haben mikrobiologische Untersu-
zig kleinen Besiedlern und dem Körper einen Bakterien, die nützlich sind, gedeihen chungen von Stuhlproben offenbart. Im Ver-
ergibt jenen Zustand, den wir Gesundheit lassen – und die anderen, eher schlechten, gleich zu Normalgewichtigen etwa haben
nennen. kurzhalten. krankhaft dicke Menschen, die sich mit viel
Diese Erkenntnis führt gerade zu einem Damit rücken die Ernährungsmediziner Zucker und Fett sowie wenig Ballaststoffen
Umdenken unter vielen Ernährungsmedizi- jene Kreaturen ins Schlaglicht, die sich ernährten, oftmals eine verarmte Darmmi-
nern. Den Lebewesen im Darm, der Mikro- lange weitgehend unbeachtet im Dunklen krobiota. Wenn Übergewichtige auf ausge-
biota, schenkten sie lange Zeit nur wenig des menschlichen Darms verbargen. Hun- wogene Kost umstellen, dann wird ihre
Beachtung, doch in vielen Studien schält derte Bakterienarten leisten darin gemein- Darmflora mit der Zeit wieder vielfältiger.
sich deren zentrale Rolle heraus: Die Mikro- Die Darmbakterien reagieren sensibel
organismen bilden eine seit Langem gesuch- auf eine Nahrungsumstellung, das hat der
te Schaltstelle, an der sich entscheidet, wie US-Mikrobiologe Peter Turnbaugh gemein-
eine bestimmte Nahrung auf Körper und sam mit Kollegen herausgefunden. In einer
Seele wirkt. Studie verabreichten sie gesunden Proban-
Fotograf Thomas
Dashuber hat
vier Kranke porträ-
tiert – und ihre
Aufnahmen
kombiniert mit
Abbildungen der
Substanzen, die ihre
Unverträglichkeiten
hervorrufen.
Celina Kroder, 22
Glutensensitivität und Laktoseintoleranz
DIE HÜBSCHE JUNGE FRAU wäre gern Model geworden. Ihr nahm die Diagnose gelassen, immerhin haben auch ihre drei Ge-
Problem: üble Hautausschläge, die wie unzählige juckende Mü- schwister eine Laktoseintoleranz. Etwas verzweifelt reagierten sie
ckenstiche auf Armen, Beinen, Knöcheln und Hüfte prangten. Und erst, als Celina anfing, sich auch noch vegan zu ernähren. „Kannst
dazu noch unberechenbare Schwellungen am Bauch und an den du jetzt nur noch Gänseblümchen essen?“, habe der Vater gefragt,
Beinen, sodass ihr an manchen Tagen ihre Hosen und Schuhe nicht der seine Besorgnis in einen Witz verpackte. Bei Gänseblümchen
mehr passten. Keine guten Voraussetzungen für einen Modeljob. könnte sich Celina Kroder ihre Standardfrage sparen, welche Sub-
Und auch nicht gut fürs allgemeine Wohlbefinden. Als sich Celina stanzen in dem Essen stecken, das ihr vorgesetzt wird, und auch
Kroder endlich entschloss, zu einer Hautärztin zu gehen, musste die Erklärungen, welche davon sie nicht verträgt. Manchmal ruft
sie erst lange auf einen Termin warten, und dann verlief der Aller- sie deshalb vorher in Restaurants an, in denen sie sich verabredet
gietest ergebnislos. Also ging Celina Kroder zum Hausarzt, der hat, und fragt, ob sie sich etwas zu essen mitbringen könne. „Ich
allerlei Tests und Blutuntersuchungen machte. kann ja nicht von allen verlangen, dass sie ihre Küchenutensilien
Das Ergebnis: Sie hat eine Laktoseintoleranz, außerdem ver- vor dem Kochen komplett reinigen“, sagt sie. Denn wenn die Zuc-
mutete der Arzt bei ihr eine Glutensensitivität. Er empfahl ihr, auf chini auf dem Brotbrett geschnitten wurde und doch Weizenmehl
Milchzucker und glutenhaltige Nahrungsmittel zu verzichten. in ihr Essen gelangt, merkt sie das leider recht schnell: Dann sind
Und wo sie schon dabei war, ihre Ernährung umzukrempeln, tat die juckenden Pusteln wieder da.
Celina Kroder es gleich komplett – und verzichtet seit anderthalb Also kocht sie am liebsten selbst. Ihr patenter Enthusiasmus
Jahren nicht nur auf Gluten und Milchzucker, sondern grundsätz- scheint ansteckend. „Meine Mitbewohnerin ist komplett auf meinen
lich auf alle tierischen Produkte. Seither sind die Symptome ver- Ernährungsstil umgestiegen“, erzählt sie. Dem Modeln trauert sie
schwunden. nicht hinterher – dafür sei sie sowieso schon fast zu alt, sagt sie.
Die Umstellung fiel ihr nicht schwer – einfach weil der Leidens- Außerdem hat sie eine bessere Alternative gefunden: Sie studiert
druck sehr groß gewesen sei, erzählt die 22-Jährige. Ihre Familie im dritten Semester Industriedesign in Essen.
Ulf Herrmann, 43
Fructosemalabsorption
ULF HERRMANN HATTE MIT ANFANG ZWANZIG schon ominöse Colitis ulcerosa weg – das war ein Glück für mich.“ Und
einen diagnostischen Zickzackkurs hinter sich, als endlich ein Arzt er fügt hinzu: „Heute geht’s mir prima.“
die richtige Diagnose stellte. Im Teenageralter hatten seine Beschwer- Während er sich anfangs häufig sehr allein mit seiner Diagnose
den begonnen: heftige Durchfälle, Blähungen und Bauchschmerzen. gefühlt hatte, lernte er dann immer mehr Menschen kennen, bei
Er lief von Arzt zu Arzt, unterzog sich etlichen endoskopischen denen eine Intoleranz diagnostiziert wurde – vor allem als die Tests
Darmuntersuchungen. Ein Mediziner diagnostizierte ein schweres einfacher wurden. Und auch in den Medien waren die Unverträg-
Reizdarmsyndrom, ein anderer eine chronisch entzündliche Darm- lichkeiten nun ein Thema. „Da dachte ich, vielleicht wollen andere
erkrankung. Gegen die vermeintliche Colitis ulcerosa nahm Herr- in derselben Situation auch mal ein Stück Schokolade essen.“
mann sogar jahrelang starke Medikamente. Die Symptome wurden Deshalb setzte Herrmann, der damals ein kleines IT-Unternehmen
etwas besser, aber richtig gut ging es Herrmann nicht. leitete, einen neuen Schwerpunkt für sich: Produkte für Menschen
Als er als junger Erwachsener nach München zog, suchte er sich mit Fructoseunverträglichkeit entwickeln und vertreiben.
dort einen neuen Gastroenterologen. Und der nahm zum ersten Mal Als Erstes kreierte er einen Fruchtaufstrich, dann eine Schoko-
die richtige Spur auf: Nahrungsmittelunverträglichkeit. Weil es lade, gesüßt mit fructosefreiem Glucosesirup. „Am Anfang war das
THOMAS DASHUBER / SPIEGEL WISSEN
damals die heute üblichen Atemtests noch nicht gab, schickte der nur ein reines Hobby.“ Aber irgendwann gab er seine Beratungs-
Mediziner seinen Patienten zu einem Forschungsinstitut der Tech- firma auf, steckte all seine Energie in „Frusano“. Zehn Jahre gibt
nischen Universität München. Herrmann erinnert sich: „Der H2- es das Unternehmen mittlerweile, zu vielen Kunden hat Herrmann
Atemtester war ein fast raumgroßer Apparat.“ Die Wissenschaftler einen persönlichen Kontakt. Jedes Jahr wachse der Umsatz um
untersuchten Herrmann auf diverse Unverträglichkeiten, und sie 20 Prozent.
fanden die Ursache für die Beschwerden: Fructosemalabsorption. Wie auch die Produktpalette, die von fructosefreien Gummibär-
„Danach war alles ganz einfach“, erzählt Ulf Hermann. „Nach- chen über Cheese-Cake-Quarkkuchen, Ketchup und Mayonnaise
dem ich auf Zucker weitestgehend verzichtet habe, war auch die bis zum fructosearmen Sekt reicht.
THOMAS DASHUBER / SPIEGEL WISSEN (SINCLAIR STAMMERS, SCIMAT, CLAUDE NURIDSANY & MARIE PERENNO, MICROFIELD SCIENTIFIC LTD - ALLE SCIENCE PHOTO LIBRARY)
Isabella Hener, 30
Laktoseintoleranz
DER KAKAO WAR ES. Den liebte Isabella Hener schon als chenspiel – du siehst einfach nicht, ob in der Soße Milchpulver
Kind. Jeden Morgen einen Becher davon. Doch eines Tages, un- drin ist oder nicht.“
gefähr mit 16 Jahren, war es vorbei mit der wohltuenden Wirkung Deshalb gab Isabella Hener nicht nur ihren geliebten Kakao auf,
der Milch. Sie bekam morgens Bauchschmerzen, Durchfall, sondern auch ihren Beruf als Mediendesignerin. Sie kaufte einen
Blähungen und üble Bauchkrämpfe. Nur eines bekam sie nicht: kleinen Truck, machte eine Konditorenprüfung, mietete sich in eine
die richtige Diagnose. „Die Ärzte sagten immer, da sei nichts – und Küche ein. Der Anfang sei die Hölle gewesen, erzählt die schmale
schoben es auf Reizdarm oder Stress“, erzählt die heute 30-Jährige. Frau. Und auch jetzt ist ihr Alltag straff durchgetaktet. Jeden Morgen
Ein Artikel über Nahrungsmittelunverträglichkeiten brachte sie steht sie um halb sieben auf, anziehen, frühstücken, zum Großmarkt
selbst auf die richtige Fährte: Sie erkannte die beschriebenen fahren, in die Küche und kochen: Süßkartoffelcurry mit Kokosmilch,
Symptome bei sich wieder und machte beim Arzt einen Laktose- Rote-Bete-Ingwer-Suppe mit Pinienkernen, Limetten-Hack mit Por-
intoleranztest. Keine angenehme Prozedur. „Man bekommt die ree, Frischkäse und Quinoa. Doch die Mühe lohnt sich: Seit mehr
volle Dosis auf nüchternen Magen – danach ging es mir richtig als zwei Jahren tourt sie mit ihrem Foodtruck durch München. „Die
schlecht.“ intolerante Isi“ steht darauf, darunter ein Kochlöffel mit Herz. Wer
Aber nach dem Test stand fest: Sie verträgt den Milchzucker zu ihr kommt, kann sich auf verträgliches Essen verlassen: Auf der
nicht. Ins laktosefreie Leben umzusteigen fiel ihr zum Glück nicht Speisekarte stehen gluten- und laktosefreie oder auch histamin- und
schwer, sie kocht sowieso am liebsten selbst. Kein Wunder also, fructosearme Gerichte. Ohne Zusatzstoffe und Geschmacksverstär-
dass in ihr eine Idee heranreifte: Essen kochen für Menschen, denen ker. Bauchschmerzen bekommt hier keiner.
es genauso geht und die aufgrund einer Nahrungsmittelunverträg- Drei feste Standplätze für ihren Truck hat sie inzwischen sowie
lichkeit in der Mittagspause nicht einfach im Imbiss nebenan etwas ein kleines Stammpublikum. Auch viele Menschen ohne Unver-
holen können. „Oft kennen ja weder Koch noch Servicepersonal träglichkeiten kommen zu Heners Foodtruck – „die wollen einfach
die genauen Zutaten einer Soße“, sagt Hener. „Es ist wie das Hüt- nur gut und gesund essen“.
Nicole Mattern, 46
Zöliakie und Laktoseintoleranz
DER KINDERARZT NANNTE NICOLE eine „Luftschluckerin“. genommene Gluten aus vielen Getreidesorten wird bei Zöliakie-
Eine ziemlich dürftige Erklärung für ein Kind, das unter heftigen patienten in der Darmschleimhaut so verändert, dass es entzün-
Verdauungsbeschwerden leidet. „Ich hatte eigentlich immer einen dungsfördernd wirkt – der Grund für Matterns heftige Beschwerden.
Blähbauch, ständig Durchfall und musste mich nach dem Essen oft Mit dieser Diagnose und einer langen Liste von Nahrungsmitteln,
übergeben“, erzählt die 46-Jährige heute. Vor etwa 15 Jahren sei auf die sie verzichten muss, ist sie seither in der Findungsphase.
es dann noch schlimmer geworden: Sie bekam häufig Koliken, muss- Das funktioniere so mittelgut, sagt die kaufmännische Angestellte.
te deshalb oft ins Krankenhaus und erhielt dort Schmerzmittel und „Die ersten Backversuche mit Reis- und Maismehl sind kläglich ge-
Infusionen. Sie klapperte Hausärztin, Internisten, Gastroenterolo- scheitert.“ Es schmeckte nicht, genauso wenig wie die meisten glu-
gen und Allergologen ab, doch die waren ratlos. Vor acht Jahren tenfreien Produkte, die sie kauft und probiert. „Die glutenfreien
schließlich stellte ihre Hausärztin eine Laktoseintoleranz fest. Also Nudeln sind eklig, und das Brot schmeckt wie Knüppel auf Kopf“,
verzichtete Mattern auf Milchzucker. Die Koliken aber blieben. erzählt die Norddeutsche, die eigentlich so gern Brot isst.
Die Hausärztin verabschiedete sich in die Rente mit den Worten: Im Reformhaus fand Mattern endlich eine Brotbackmischung,
„Sie sind mein ungeklärter Fall.“ Wenig tröstlich für Mattern. die ihr schmeckte. Daraus macht sie sich auch die Schnitten für
Im vergangenen Jahr erzählte ihr eine Bekannte dann von ihrem ihren Arbeitsalltag in einem Hamburger Auktionshaus. Und wenn
sehr guten Allgemeinmediziner in Hamburg. Noch einmal raffte sie zu Freunden geht, bringt sie sich ihr Essen einfach mit. Was so
sich Mattern auf und ließ sich einen Termin geben. Der Arzt begann patent klingt, sei eine ganz schöne Umstellung gewesen. „Aber ich
eine diagnostische Detektivarbeit und untersuchte Matterns Blut mache das ja nicht, weil ich es will, sondern weil es mir damit
auf 400 Lebensmittel und deren Inhaltsstoffe. Das Ergebnis: 13 da- besser geht.“ Das bedeutet viel Verzicht, abends mit Freunden
von verträgt sie nicht, darunter Gluten. Ein Antikörpertest bestätigte Pizza essen und Bier trinken sei halt nicht mehr drin, sagt sie.
seinen Verdacht: Nicole Mattern leidet unter Zöliakie, einer ent- Aber damit hadert Mattern nicht unnötig. „Dann gibt es halt Gin
zündlichen Erkrankung des Dünndarms. Das mit der Nahrung auf- Tonic – geht auch.“
Gewichtheber
Matthias Steiner:
„Die erste Zeit
nach meiner
Karriere habe
ich als wahre
Befreiung erlebt.“
„ES GEHÖRTE
HALT ZUM JOB
DAZU“
shakes getrunken. Das Paradoxe war, dass Muskelmasse habe. Aber ich fühle mich wohl und fit gefühlt.
ich ausgerechnet in intensiven Trainings- wohl, und darum geht’s. In Hinsicht auf die Ernährung waren mir
phasen am wenigsten Appetit hatte. Dann etwa meine amerikanischen Konkurrenten
genug zu essen war eine Qual, aber es ge- damals weit voraus, ich habe zunächst an-
hörte halt zum Job dazu. gefangen, mich mehr mit diesem Thema
Die erste Zeit nach meiner Karriere habe auseinanderzusetzen. Ich habe es dann mit
ich als wahre Befreiung erlebt. Ich aß, bis veganer Ernährung probiert und mit Spezi-
ich satt war, und wirklich nur das, was mir alkuren wie der Blutgruppendiät.
schmeckt. Alle möglichen Salate, mit Puten- Aber das war mir alles zu extrem, ich
brust dazu. Tomate-Mozzarella mit einem habe meinen eigenen goldenen Weg gefun-
leckeren Öl. Oder ein Stück Fleisch, ein den. Das Wichtigste für mich ist, Stress zu
schönes Rinderfilet. vermeiden. Stress entsteht durch Hunger;
deshalb habe ich immer Nüsse, Obst, Dat- Radprofi Gerdemann: „Wenn es durchs Gebirge geht,
teln oder Müsliriegel (ohne raffinierten Zu- verbrennt der Körper bis zu 8000 Kalorien.“
cker) bei mir. Stress entsteht andererseits
durch bestimmte Lebensmittel in Magen
und Darm, deshalb verzichte ich auf lakto-
se- und glutenhaltige Nahrung. Nudeln und
Weizen habe ich aus der Küche verbannt.
Mein Tag beginnt mit einer großen Por-
tion Müsli mit Körnern, Sojajoghurt und
stets frischen Beeren. Nach jeder Trainings-
einheit nehme ich einen Almased-Shake zu
mir und trinke eine Schorle ohne Kohlen-
säure, so regenerieren Kopf und Muskeln
am schnellsten.
Meine Hauptmahlzeit bereite ich, wenn
es sich einrichten lässt, stets selbst zu. Meist
mache ich einen frischen Salat, sehr gern
Ruccola oder Spinat, denn der ist tierisch
gesund. Oft dünste ich Gemüse: Rote Bete,
Pastinaken, Süßkartoffeln. Wenn ich viel
Krafttraining gemacht habe, braucht mein mit Marmelade, Energieriegel, Kuchen. Au-
Körper auf jeden Fall Eiweiß, ansonsten ßerdem trinkst du literweise Flüssigkeit, um
würde das Training vollkommen verpuffen. nicht zu dehydrieren. Im Ziel geht es darum,
Meist koche ich Hülsenfrüchte wie Linsen „AN GENUSS möglichst schnell zu regenerieren. Deshalb
oder Kichererbsen. Aber auch Fleisch ge- lädst du deinen Körper mit speziellen
hört bei mir auf den Tisch: gern Pute, aber
IST NICHT ZU Shakes auf, in denen viel Zucker und Pro-
auch Kalb und Lamm, weil ich rotes Fleisch DENKEN“ teine enthalten sind. An Tagen, wenn es
einfach liebe. Besonders das Gehirn braucht durchs Gebirge geht, verbrennt der Körper
zudem Fett. Deshalb esse ich liebend gern bis zu 8000 Kalorien. Auch in der größten
Avocados. Das Fett kommt auch aus Nüssen Linus Gerdemann, 34, fuhr zwölf Hektik darfst du das Essen nicht vergessen,
oder aus Ölen, gepresst aus Leinsamen, Oli- Jahre lang als Radprofi Straßen- sonst erwischt dich der sogenannte Hunger-
ven, Knoblauch oder Kokosnüssen. rennen, Ende 2016 beendete er seine ast. Ganz übel. Da geht von einem Moment
Für mich bedeutet es auch Stress, unbe- Karriere. Der gebürtige Münsteraner auf den anderen nichts mehr, und man muss
dingt auf etwas verzichten zu müssen. Des- lebt auf Mallorca und betreibt aufpassen, nicht vom Rad zu kippen.
halb bekämpfe ich meinen „Shitday“ nicht, dort mit seiner Lebensgefährtin das Was das Essen angeht, bin ich eigentlich
sondern gönne mir samstags auch schon mal asiatische Restaurant Nama. ein Genussmensch. Aber an Genuss ist bei
die geliebte Schokolade, gern auch einige einer Tour de France nicht zu denken. In
Riegel auf einmal. Und dazu gibt es dann JEDES JAHR FING BEI MIR mit dem der letzten Tourwoche kämpfst du vor lau-
manchmal etwas Rotwein. gleichen Vorsatz an: abnehmen. Bei einem ter Erschöpfung mit Appetitlosigkeit. Dazu
Radrennen spürst du jedes Gramm Körper- kommt, dass man fast jeden Abend in einem
gewicht, vor allem, wenn es einen Berg anderen Hotel absteigt und die Qualität der
hochgeht. Oft mussten schnell vier Kilo run- Verpflegung sehr schwankt. Die Spitzen-
ter, bevor ich die neue Saison in Angriff teams haben sogar einen eigenen Koch da-
nahm. Zum Frühstück aß ich Vollkornpro- bei. Schwierig war es, als ich bei unbedeu-
dukte mit langkettigen Kohlehydraten, meis- tenderen Rennen antrat: Da war das Essen JUERGEN TAP / HOCH ZWEI, ROTH / AUGENKLICK / PICTURE ALLIANCE
tens Haferflocken, die halten lange vor. manchmal so schlecht, dass ich abends
Dann habe ich bis zu sechs Stunden auf dem Cornflakes gegessen habe. Nach einer Weile
Rad gesessen oder in den Alpen auf über habe ich vorgesorgt und Vollkornprodukte
3000 Meter Höhe trainiert – was den Stoff- – Müsli, Brot, Pasta und Reis – im Gepäck
wechsel anregt und hilft, Gewicht zu redu- dabei. Meine Notration.
zieren. Abends nach dem Training habe ich Seit dem Ende meine Karriere kann ich
meist auf Kohlehydrate verzichtet. In dieser mich nach Herzenslust ernähren. Ich bin
Phase bin ich allerdings häufig nachts vor durch den Radsport in der Welt herumge-
Heißhunger aufgewacht. kommen und auch im Urlaub gern gereist,
Im Sommer lag mein Idealgewicht bei vor allem in Asien. Dadurch habe ich eine
70 Kilo. Bei einer Rundfahrt wie der Tour Menge landestypischer Gerichte kennenge-
de France ist die Ernährung extrem wichtig. lernt. In unserem Restaurant diskutiere ich
Drei Wochen lang sitzt du fast jeden Tag im viel mit unserer Köchin, was auf die Speise-
Beachvolleyballerin Ludwig: Sattel. Je härter eine Etappe, desto mehr Ka- karte kommt. Vor allem möchte ich endlich
„Ich liebe rotes Fleisch.“ lorienbomben nimmst du zu dir: Waffeln selbst lernen, besser zu kochen.
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Low Fat, Low Carb – Menschen
machen angesagte Diäten, um
ihren sozialen Status kundzutun.
Ob sie dabei abnehmen, steht
auf einem ganz anderen Blatt.
Medical School, befürchtet das ebenfalls. „Verfechter bestimm- mit laktosefreien oder glutenfreien Produkten, mit veganem
ter Diäten sind so sehr von ihrer eigenen Meinung überzeugt, Hackfleisch.“ Auf diese Weise wird an Trenddiäten kräftig
dass sie sich kaum für anderslautende Forschungsergebnisse verdient (siehe Seite 28). Hans Hauner, der Münchner Ernäh-
interessieren“, sagt er. „Ein Verfechter der Diät X wird an einer rungsmediziner, nennt die vegane Ernährung als Beispiel für
Studie, die zeigt, dass die Diät X gar nicht besser ist als Diät Y, einen Medienhype, bei dem es nicht zuletzt um Geldmacherei
immer etwas auszusetzen haben.“ Die Menschen können ernste geht. Dazu trügen „angebliche ‚Testimonials‘ in Talkshows,
Wissenschaft und wissenschaftlich verbrämten Unsinn nur Verlage mit immer neuen veganen Kochbüchern und Aussagen
schwer unterscheiden – und picken sich eine Diät heraus, die der Industrie bei“. Auf den Markt kommen überteuerte Kunst-
ihnen gerade gefällt. produkte wie aus veganem Material zusammengepresste
Die Instinctos etwa haben ihre Pfannen und Töpfe ver- Wurstwaren. Und „billige Käseimitate (‚Analog-Käse‘), die
schenkt und halten Kochen für eine unheilbare Krankheit. Das jahrelang als betrügerische Machenschaften der Lebensmit-
„instinktive“ Verzehren roher Wurzeln, roher Früchte und ro- telindustrie galten, erleben ihre Wiederauferstehung als ‚ve-
hen Fleisches soll vor Krankheiten jeglicher Art schützen und gane Käsesorten‘ und werden zu stolzen Preisen als edle Pro-
ganz nebenbei zum Wunschgewicht verhelfen. Denn, so die dukte verkauft“, urteilte Hauner im Fachblatt „MMW-Fort-
pseudowissenschaftliche Begründung, das Rohkostfuttern wür- schritte der Medizin“.
de zu einer „natürlichen Sperre“ gegen Süßigkeiten führen. Doch merkwürdig: Viele Ernährungsmoden fragen nicht
nach Erkenntnissen der Medizin und der Wissenschaft . „Sucht
DIÄT KOMMT VON DIÄTETIK, und die war früher einmal man nach solider wissenschaftlicher Fachliteratur, fällt das Er-
eine respektierte Wissenschaft. Ihr Begründer, der griechische gebnis dünn aus“, sagt Hauner.
Arzt Hippokrates, verstand darunter die Frage: Wie kann ich Beispiel Paläodiät. Fleisch, Fisch sowie Obst und Gemüse
meine Gesundheit erhalten? Mehr als 2000 Jahre lang sei dies darf man essen, Getreide aber nicht. Auf diese Weise soll das
ein Leitmotiv der Medizin gewesen, sagt Christoph Klotter, Ernährungsverhalten der Steinzeitmenschen simuliert werden.
ein Ernährungspsychologe der Hochschule Fulda. Doch dann Das Problem ist nur, dass es im Neolithikum gar keine einheit-
wurde die Diätetik aufs Essen reduziert; es wurde „aus der liche Diät gab, sondern eine riesige Bandbreite. Die Vorfahren
grundlegenden Frage nach einem guten Leben eine verordnete der Massai in Afrika ernährten sich völlig anders als die Früh-
spezifische Ernährungsweise“. menschen auf Grönland. Darüber hinaus fehlen seriöse Daten
Es ging zunächst einmal um den Punkt, wie man Unterver- darüber, ob die heute propagierte Paläodiät zu einer dauerhaf-
sorgung vermeiden kann. Mit dem Aufkommen der Überfluss- ten Gewichtsabnahme führt.
gesellschaft hat sich dieser Punkt erübrigt. Seither geht es nur Beispiel Vegetarismus: Gesundheitsforscher der Harvard
noch um die Bekämpfung von Übergewicht. Mit anderen Wor- Medical School konnten gemeinsam mit Kollegen aus Taiwan
ten: Die Leute machen Diät, weil sie dünn sein wollen. zwölf Vergleichsstudien zur Frage ausfindig machen, ob vege-
Dabei war Körperfett früher mit einem höheren Status ver- tarische Ernährungsweisen beim Abnehmen helfen. Die Aus-
bunden. Durch ihre Wohlstandsbäuche konnten sich die Rei- wertung dieser Studien ergab: Wenn die Probanden dabei die
chen von den armen Schluckern abgrenzen. Diese Zeiten sind Aufnahme von Kalorien verringerten, dann gelang das Abneh-
vorbei. „Wenn heute alle wohlbeleibt sein können, auch die so- men besser als bei einer nicht vegetarischen Diät. Die Studien-
zial Schlechtergestellten, dann produziert eine Gesellschaft teilnehmer nahmen im Durchschnitt zwei Kilogramm ab.
andere Mittel der sozialen Distinktion, zum Beispiel Schlank- Allerdings verlor sich der Effekt mit der Zeit, die Leute wur-
heit“, sagt Klotter. Die Reichen seien auf einmal schlanker als den wieder dicker. Und da keine einzige der Studien die Teil-
die armen, kauften auch häufiger Bioprodukte. nehmer länger als 18 Monate nachverfolgte, kann niemand aus-
Und so ist unter Bürgern, die sich übers Essen abgrenzen schließen, dass sie wieder ihr ursprüngliches Gewicht erreicht
wollen, ein Wettstreit entbrannt. Manche Veganer, also Leute, haben. Im „Journal of General Internal Medicine“ ziehen die
die sämtliche tierischen Lebensmittel ablehnen, halten Fleisch- Gesundheitsforscher ein nüchternes Fazit: „Vegetarische Diä-
esser für rohe Zeitgenossen, die sich um Zustände in den ten können zu Gewichtsabnahme führen, aber die Hinweise
Fleischfabriken und die Würde von Tieren nicht weiter sche- bleiben nicht beweiskräftig.“
ren. Wohngemeinschaften, in denen nur Veganer leben dürfen, Einig sind sich die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft
schaffen Zugehörigkeit zu einer Gruppe, deren Mitglieder sich für Ernährung allerdings darin, dass eine rein vegane Ernäh-
als ethische Besseresser verstehen. Umgekehrt würden Vega- rung für Schwangere, Stillende, Säuglinge, Kinder und Jugend-
ner und auch Vegetarier „mehr oder weniger heimlich vom liche nicht zu empfehlen ist. Erwachsene sollten Vitamin B12
Fleischesser verachtet“, sagt der Psychologe Klotter. Letzterer und andere Nährstoffpräparate einnehmen, um Mangelerschei-
unterstelle „ihnen, nicht den Mumm zu besitzen, in das Steak nungen zu vermeiden.
hineinzubeißen“. Zur Traumfigur führen am Ende viele Wege. Man kann
BRAD MOORE / SHUTTERSTOCK
BEI MANCHEN PARTYS beginnt mein schafter Kolumbiens reichte mir ein kleines, lergien, zum Beispiel gegen Gluten, das Kle-
Kopfweh nicht erst am nächsten Morgen, braun gebrutzeltes Kügelchen, wie salziges bereiweiß im Getreide. Aber der Anteil der
sondern schon bei der Planung: Würzig Popcorn, nur besser, wie ich herausfand. Zöliakie-Betroffenen liegt laut Schätzungen
dampft das Chili con Carne – aber meine ve- Köstlich, diese knusprige Schale! Ein leichter bei unter einem Prozent der Bevölkerung.
getarischen Freunde winken ab. Kross duftet Biss, ein sanftes Knacken, darunter damp- Dennoch greifen je nach Umfrage mehr als
das Bauernbrot, aber die Low-Carb-Apostel fend ein winziges Stückchen purer Genuss, zehnmal mehr Verbraucher zu glutenfreier
rümpfen die Nase, weil sie Kohlenhydrate zart wie Hühnchen und aromatisch wie Nahrung, die ihnen nicht nützt, sondern ih-
meiden wie der Teufel das Weihwasser. Hummer. Mit verklärtem Blick schwärmte rem Portemonnaie schadet, weil die Preise
Manchmal probiere ich dann die lustvolle Seine Exzellenz davon, wie der Geschmack oft mehr als doppelt so hoch sind. Auch der
Regression in Kindheitsschleckereien: Scho- des gerösteten Insekts ihn in seine Kindheit Verzicht auf Laktose ist oft weniger der Me-
kokuchen zum Nachtisch. Von wegen. Der zurücktransportiere, fast wie das Madeleine- dizin als der Mode geschuldet, nach dem
ist doch hoffentlich glutenfrei und nicht mit Gebäck den Dichter Marcel Proust. Motto: Du bist, was du nicht isst.
Zucker gesüßt? Ach so, und die Schokolade In vielen tropischen Landen sind Insek- Es gibt passend zur Unverträglichkeits-
sollte bitte mit Ziegenmilch gemacht sein ten eine Delikatesse, außerdem schont ihr masche auch einen Fachbegriff für die über-
wegen Laktoseintoleranz. Bleibt eigentlich Konsum die Wälder, die Böden, das Grund- steigerte Sorge um das hyperkorrekte Essen:
nur Mineralwasser als kleinster gemeinsa- wasser und das Klima. Gerne knabbere ich Orthorexie. In der postreligiösen Gesell-
mer Nenner. Vorausgesetzt, es ist natrium- seitdem ein paar Ameisen, vorzugsweise zu schaft ersetzt Orthorexie die Orthodoxie.
arm, der Bluthochdruck, weiß man ja. einem kühlen Grauburgunder, aber leider
Über Geschmack lässt sich streiten, endlos, gibt es nur wenige Menschen, die meine Lei- WIR OMNIVOREN DAGEGEN stehen oft
fruchtlos, freudlos. Selten wurde das so erbit- denschaft teilen. Eigentlich langen nur mei- dumm da als anspruchslose Allesfresser.
tert getan wie heute. Meine Eltern hatten Pro- ne Patenkinder zu, wenn ich die Ameisen Doch das ändert sich gerade. Endlich, end-
bleme mit dem Glauben, weil: Mischehe zwi- hole, für sie ist der Insektenmassenmord lich gibt es für unsere Vorliebe ein ein-
schen zwei Konfessionen, pfui, das wider- kein Problem, schließlich haben Kerbtiere drucksvoll klingendes Modewort: Flexita-
sprach der reinen Lehre. Inzwischen werden nicht den Niedlichkeitswert von Kälbern rier. Das Schachtelwort steht für „flexible
Glaubensfragen, Diskussionen um Identität und Kaninchen. Doch mit dem Knabberge- Vegetarier“, die Neugier und Vielfalt mehr
und Ethik seltener vor dem Altar ausgetragen, nuss ist Schluss, wenn Kinder die Pubertät schätzen als dogmatische Diätvorschriften;
dafür umso häufiger auf dem Teller. erreichen und sich ihr Selbstbild verfestigt: die zwar meist Gemüse essen, hin und wie-
„Der Mensch ist, was er isst“, orakelte Wenn ich bin, was ich esse, dann lasse ich der aber auch ein Steak.
der flammende Atheist Ludwig Feuerbach lieber die Finger vom ekligen Krabbelzeug, Endlich kann ich stolz sagen: Ich bin Fle-
vor 170 Jahren. Das klingt trügerisch ein- man kann ja nie wissen. xitarier – und das schmeckt auch gut so. Zu
leuchtend. Aber wer wäre ein Mensch, der Leider wird die kindliche Offenheit er- Hause koche ich oft einfach Pasta und Ge-
alles isst? Eine Art menschliche Pizza – alles setzt durch scheinbar erwachsene Gewiss- müse, aber im Restaurant darf es auch ein
drauf, mit Scampi, Schinken, Sardellen, aber heiten: mein Haus, meine Jacht, mein Er- echtes Wiener Schnitzel sein, das ich mir
ohne Geschmack? nährungsfimmel. Moderne Großstadtneu- gerne mit meiner Frau oder einem Freund
Bei Freunden war ich früher als omnivo- rotiker schmücken sich gerne mit einer ganz teile. Denn meist sind mir die Fleischpor-
rer Freak verschrien, nur weil ich gerne neue besonderen Ernährungsweise, manche prot- tionen zu groß.
Gerichte probiere. Unvergessen zum Beispiel zen damit bei Stehpartys wie mit einer Per- Geschmacklos in jeder Hinsicht finde ich
jener milde Apriltag in der lauschigen Uni- lenkette: Ihr Normalesser mögt ja unreflek- zähes Billigfleisch aus der Massentierhal-
versitätsstadt Oxford, als ich an einer langen tiert schlucken, was man euch vorsetzt – ich tung, das oft als Pflichtprogramm aufge-
HANS GISSINGER / TRUNK ARCHIVE
Tafel beim „Rainforest Dinner“ saß. Der Bot- dagegen hätte meine Extrawurst bitte vegan, tischt wird. Rund 60 Kilogramm totes Tier
meinen Latte Macchiato laktosefrei und die vertilgt jeder Deutsche pro Jahr, einen Teil
Quiche ohne Kohlenhydrate. davon als Wurst. Empfohlen werden eher
VISUAL STORY: Das Essen Hier eine wichtige Durchsage: Das Läs- 15 Kilo, das wäre nicht nur besser für Herz
der anderen – Keto-, Paleo- tern über die Marotten der Besseresser ist und Darm, sondern auch für die Umwelt.
und Rohkostanhänger
oft unfair, ich weiß. Viele Menschen leiden Flexidingsda? Meinen streng vegetari-
www.spiegel.de/sw012017hype
an ganz realen Unverträglichkeiten und Al- schen Freunden schmeckt der Modebegriff
nicht, sie sehen darin einen Etikettenschwin- richt wenigstens zu probieren. Vielleicht hangen, dass sie „schon stark riechen“. Kon-
del. Ein bisschen vegetarisch? Das klingt für liegt das daran, dass meine Eltern als Kinder krete Kochrezepte hat Montaigne nicht hin-
sie so ähnlich wie ein bisschen schwanger. auf der Flucht von allerlei Wohltätern terlassen, sondern eher eine Haltung: die Zun-
Vor allem aber wenden sie ein: Wie kann es durchgefüttert wurden: von Verwandten, ge als moralische Instanz, das Essen als Essay.
sein, dass jeder Dritte sich laut einer Umfrage Bauern, Ordensschwestern. Jeder Bissen ein Abenteuer, eine Expedition
der Gesellschaft für Konsumforschung als Teil- Doch nicht nur die Vegetarier, sondern ins Neuland meines eigenen Körpers.
zeitvegetarier ausgibt, aber der Fleischver- auch die Fleischesser entsetzen sich gele- Wer also ist, der alles isst? Montaigne
brauch in Deutschland kaum zurückgeht? Fle- gentlich über meine Essgewohnheiten. Be- antwortet darauf mit einem entschiedenen:
xitarier sind für sie Verbalopportunisten, die sonders extrem sind die Reaktionen, wenn je nachdem. „Ständig gibt es unregelmäßige
sowieso nie täglich Salami und Schnitzel kon- ich mit Analogfleisch koche, also mit und unergründliche Veränderungen in uns“,
sumiert haben, nun jedoch einen politisch „Fleischersatzprodukten“ aus Soja: Vegeta- so der schlemmende Philosoph in der
korrekten Namen für ihre verantwortungs- rismus im Karnivorenpelz. Einmal habe ich mundgerechten Übersetzung von Hans Sti-
losen Essgewohnheiten gefunden haben. für meine Neffen einen Caesar Salad zube- lett: „Rettiche zum Beispiel fand ich anfangs
Das ist zwar unangenehmes Bashing, reitet. Kam super an. Bis ich eröffnete, dass bekömmlich, dann unbekömmlich, und
doch leider nicht ganz falsch. Vegetarier das Chicken eigentlich nur Analoghuhn aus jetzt bekommen sie mir wieder. Auch bei
sind mächtig auf dem Vormarsch, aber eben Tofu war. Allgemeiner Ekel. Igitt, eine Pflan- manch andren Dingen stelle ich fest, dass
nur relativ gesehen: Seit Mitte der Achtzi- ze, die sich als Tier tarnt und obendrein Geschmack und Magenverträglichkeit sich
gerjahre hat sich ihre Zahl in etwa um den auch noch so schmeckt, das wirkte auf sie bei mir wandeln. So bin ich erst von Weiß-
Faktor 15 vervielfacht auf wohl über drei wie Verrat an der Zunge und damit haram auf Rotwein übergegangen, dann von Rot-
Millionen. Eindrucksvoll, allerdings wenig für echte Karnivoren. zurück auf Weißwein.“
im Vergleich zu uns Flexitariern, von denen In Berlin gibt es gar einen „vegetarischen Aber wie kann ein Festmahl gelingen in
es locker dreimal so viele gibt wie lupenrei- Metzger“, der etwa pflanzlichen Bacon feil- Zeiten des Frei-von-Fimmels, bei dem jeder
alles gegeben.“ Na also. bedeutet er einfach nur: Experiment. Jedes Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Kann man Nostalgie fürs Neue empfin- Menü war für Montaigne ein Laborversuch. Außer vielleicht einen Nachtisch aus Zart-
den? Ich jedenfalls lege mir das als Fami- Phasenweise aß er sogar komplett vegeta- bitterschokolade, gefüllt mit Heuschrecken-
lientradition zurecht. „Was auf den Tisch risch, vor allem wegen seiner Gallensteine. fleisch.
kommt, wird gegessen“, hieß es bei uns zu Immer wieder wich er aber von seiner Diät
Hause. Das war nicht autoritär gemeint, son- ab, weil er Fisch und alle Fleischarten zu sehr
dern als Aufforderung, ein ungewohntes Ge- liebte, „schwach gebraten“ und so gut abge- hilmar.schmundt@spiegel.de
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