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4. DEZEMBER 2017 No 50

DER GROSSE JAHRESRÜCKBLICK

2017 – wie war das Jahr?

Wie war
das Jahr?

Ist das Glas halb voll oder halb leer?


Ob ein Jahr gut oder schlecht war, kann niemand abschließend beurteilen. Es ist immer nur ein Tropfen im Strom der Zeit  VON ULRICH GREINER

A
lles hängt davon ab, wer sich Fortuna ist nicht gerecht. Den einen spendet des Hungers. Voller Sorge beobachten wir das geflohen, um seinen Hymnus auf Karl II. zu Bedingung des Erfolgs sehen. Aber ach, so sind
die Frage stellt – wie war das die Schicksalsgöttin Glück im Übermaß, den Anschwellen der Gewalt. Von außen bricht sie als dichten. In ihm erblickte er die Lichtgestalt, die wir in der Regel nicht gemacht. Die Siege ver‑
Jahr? – und an wen sie sich anderen versagt sie es. Und die Summe aller Internationale des Terrors ins Land. Doch auch England zu neuer Größe führen werde, und in gessen wir, die Niederlagen zählen wir.
richtet. Der Mann, der 2017 Schicksale ist schwerlich messbar. Wer also fragt: im Inneren der Gesellschaft wachsen schlechte der Zerstörung Londons sah er die C ­ hance, ein Dabei ist – gemessen an der Dauer der Welt –
eine Krebs­dia­gno­se erhielt, »Wie war das Jahr?«, der setzt ein Kollektiv­ Laune, Unduldsamkeit und Aggressivität. neues Jerusalem zu errichten. das Jahr 2017 allenfalls ein Augenblick gewesen.
wird sie anders beantworten als voraus, entweder seine Familie oder die Gemein‑ Es läuft also auf die alte Frage hinaus, ob das Nein, Drydens Gesang beweist nicht den 1776 notiert Georg Christoph Lichtenberg:
die Frau, die eben ihr erstes schaft der ihm Nahestehenden oder die Stadt, in Glas halb leer oder halb voll sei. Als sich der eng‑ englischen Humor, sondern den un­er­schüt­ter­ »Die Welt kann leicht noch eine Mil­lion Jahre so
Kind zur Welt gebracht hat; und die Schülerin, der er lebt, oder die Na­tion oder Europa oder lische Dichter John Dryden über das Jahr 1666 lichen Optimismus eines großen Geistes. Wer fortrollen wie bisher, und da wären 5000 Jahre
die ihr Abitur mit Bravour bestanden hat, anders den Globus, und in jedem Fall wird seine Ant‑ beugte, fand er, das Glas sei mehr als halb voll, sich von ihm anstecken lassen wollte, der würde gerade das, was ein Vierteljahr in dem Leben ei‑
als ihr Klassenkamerad, der durchgefallen ist. wort anders lauten. und er nannte dieses Jahr »das Jahr der Wunder«: finden, dass die Krise der EU bloß die Ouver‑ nes Menschen von 50 ist. Was habe ich das letzte
Donald Trump findet vermutlich, dies sei ein Was uns Deutsche in der Gesamtheit betrifft, In seinem legendären Poem Annus Mirabilis türe eines neuen und starken Europas bedeute; Vierteljahr getan? Gegessen, getrunken, elektri‑
gutes Jahr gewesen. Auch Kazuo Ishi­gu­ro, der so sind wir in der unglücklichen Lage, kaum schildert er in 1216 Verszeilen den verlorenen oder dass der Einzug einer rechten Partei in den siert, Kalender gemacht, über eine junge Katze
im Oktober den Literaturnobelpreis erhielt, noch glücklicher werden zu können. Zwar gibt es Krieg gegen die Niederlande und den Großen Bundestag der parlamentarischen Debatte nur gelacht, und so sind 5000 Jahre dieser kleinen
wird wohl mit 2017 zufrieden sein. Für Angela Elend auch bei uns, aber wir könnten es leicht Brand von London, dem vier Fünftel der Stadt dienlich sei. Er würde die Siege im Kampf gegen Welt hingelaufen, die Ich bin.«
Merkel hingegen war es kein gutes Jahr und für beheben. Alles in allem ist das Land eine fried­ zum Opfer fielen. Kurz zuvor hatte auch noch den Terror höher bewerten als die erfolgten­
den HSV leider auch nicht. liche und satte Insel in einer Welt der Kriege und die Pest gewütet. Dryden war vor ihr aufs Land Anschläge. Kurz: Er würde im Miss­erfolg die www.zeit.de/audio

o
EXTRA-AUSGABE N 50
Abbildungen oben im Uhrzeigersinn: Zeitverlag Gerd Bucerius 7 2. J A H RG A N G C 7451 C
G20-Proteste in Hamburg (Mitte); Helmut Kohl (links oben), GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg
die Schauspielerin Tilda Swinton, Donald Trump, der Berliner Telefon 040/32 80‑0; E-Mail:
Abonnentenservice: Tel. 040/42 23 70 70, Fax 040/42 23 70 90, E-Mail: abo@zeit.de Panda Meng Meng, der Fußballer Neymar, die Politikerin DieZeit@zeit.de, Leserbriefe@zeit.de 50
Frauke Petry, die Hamburger Elbphilharmonie, der Abgasskandal
Preise im Ausland: DK 51,00/FIN 7,70/E 6,30/CAN 6,50/F 6,30/NL 5,50/A 5,20/ ZEIT Online GmbH: www.zeit.de;
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2 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

20 Menschen
werden durch Krieg und Terror vertrieben

In einer Minute p­ assieren ­


weltweit erstaunliche Dinge.
­Ein kleiner Überblick

7,55 Mrd.
menschliche Körper existieren
6500 l
Sperma werden beim Sex ausgestoßen

2 Mio.
Industrieroboter
sind im Einsatz

285 000
Tiere werden geschlachtet
15 Mio. Kinder
zwischen 5 und 11 Jahren müssen arbeiten
900 Mio.
Menschen sind ohne Toilette

62,5 t
815 Mio.
Kot werden ausgeschieden

14 000 Menschen hungern

140
Passagiere betreten ein Flugzeug

neue Autos werden gebaut

40 t

2 Mrd.
Plastikmüll ­
2,5 Mio. verschmutzen die
Anfragen erhält Google Meere

600 000 Menschen haben Übergewicht


Songs werden auf Spotify gehört 21 Menschen
sterben an einer Überdosis
harter Drogen

56 000
Bilder werden auf Instagram gepostet
100 Mrd.
Wörter werden gelesen

270 – 280
96 000 l
Wein werden getrunken
Kinder werden geboren

1600 t
Papier werden produziert
111 Menschen
Illustration S. 3): Pia Bublies für DIE ZEIT

sterben
4. DEZEMBER 2017 No 50 POLITIK 3

Wie viele Gitarrensoli werden in 60 Sekunden gespielt? Wie viele Gebete gesprochen? Und wie viele Menschen kommen um?
Angenommen, alles, was gleichzeitig auf der Erde passiert, wäre sichtbar – was würde man dann sehen?
Und was würde man dabei über uns Menschen lernen? Ein fantastisches Zahlenspiel  VON GERO VON R ANDOW

E
in Sturm wühlt das Schwarze Hektoliter mensch­lichen Urins in der freien Na- bei einer Mil­liar­de Gebeten am Tag, also bei In jeder der 252 600 Minuten pro Jahr ge-
Meer vor der türkischen Küste tur oder auf Straßen und Plätzen. knapp 700 000 pro Minute. schieht also viel, schrecklich viel, weshalb der
auf, an diesem 22. September Die Menschheit wuselt durch­ ein­an­
der. Sie Die Zahl täuscht Exaktheit nur vor, aber so Mensch Entspannung sucht, Genuss, Flucht
2017. Kurz vor Sonnenaufgang, hat ihren Planeten mit insgesamt 31,7 Millionen viel dürfen wir sagen: Während die Flüchtlinge und Sucht. Pro Minute fließen weltweit 96 000
um zehn vor sieben Ortszeit, Kilometern Straße überzogen. Pro Minute wer- ertranken, wurden Hunderttausende Gebete ge- Liter Wein und 370 000 Liter Bier durch die
kentert das übervolle Boot, den 140 neue Autos hergestellt, und es betreten sprochen. Wie viele davon wohl erhört wurden? Kehlen. Zur gleichen Zeit werden etwas mehr als
mehr als 20 Menschen ertrin- mehr als 14 000 Passagiere ein Flugzeug. Homo Im selben Moment lief an der amerikanischen zehn Millionen Zigaretten geraucht. An einer
ken. Sie waren vor dem Krieg im Irak geflohen. sapiens liebt die Bewegung. Und er redet un­ Westküste das letzte Viertel im Football-Spiel der Überdosis harter Drogen sterben pro Minute 21
Im selben Moment befindet sich der türki- unter­bro­chen. Unter einigen kühnen Annahmen San Francisco 49ers gegen die Los Angeles Rams, Menschen. So viele, wie auch das Kentern des
sche Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf dem lässt sich schätzen, dass es an die 55 Mil­liar­den das die Rams spektakulär mit 41 zu 39 gewinnen Boots am 22. September nicht überlebten.
Rückflug von der UN-Generalversammlung in Wörter pro Minute sind. würden. In der Karibik zog der Hurrikan Maria mit Die Menschheit findet ihre Umgebung der-
New York. In Barcelona kampieren Hunderte Die Überschlagsrechnung geht so: Von den 7,5 Windgeschwindigkeiten von bis zu 205 Kilometern maßen interessant, dass sie diese pausenlos foto-
Menschen vor dem Justizpalast, um für die kata- Mil­liar­den Menschen schläft ein Drittel, das sind pro Stunde auf die britischen Turks- und Caicos- grafiert. Die Zahl der Fotografien ist mit der
lanische Unabhängigkeit zu demonstrieren. 2,5 Mil­liar­den; manche sprechen auch im Schlaf, inseln zu. Und eine israelische Drohne flog einen Digitalisierung explodiert. Die Schätzungen ge-
Andere, glücklichere Menschen haben in der aber das gleicht sich vielleicht mit der Zahl jener Luftangriff nahe Damaskus. hen aus­ ein­an­
der, bei konservativer Schätzung
gleichen Minute gelacht, getanzt, geliebt. aus, die im Wachzustand meist schweigen. Die ver- 2,5 Millionen Anfragen werden pro Minute an kommt man auf 4,75 Millionen digitale Fotos
In Rio de Janeiro zum Beispiel, wo im selben bliebenen fünf Mil­liar­den sprechen, Forschungen Google gerichtet. Außerdem 21 Millionen Whats­ pro Minute. Wenn es gelänge, diese Bilder sowie
Augenblick eines der größten Rockmusik-Festi- zufolge, im Durchschnitt etwa 16 000 Wörter am App-­Mel­dun­gen sowie 16 Millionen SMS und 1,5 all jene Aufnahmen aus bildgebenden Verfahren
vals der Welt mit über 100 000 Besuchern läuft. Tag. Das sind pro Minute etwa elf Wörter, und Millionen E-Mails abgeschickt und 461 220 Tweets etwa der Mikroskopie, Tomografie und Fern­
Wüsste man mehr über die Menschheit, diese Zahl multiplizieren wir mit fünf Mil­liar­den. gepostet, zudem 56 000 Bilder auf In­sta­gram und erkun­dung zu einem dreidimensionalen Abbild
wenn man sich vor Augen führte, was alles in Könnte man das alles gleichzeitig hören, was wäre 1,7 Millionen Einträge auf Face­book. Pro Minute der Welt zusammenzuführen, zu einem poten-
einer einzigen Minute gleichzeitig auf Erden­ das für ein Klang? Ein gewaltiges Rauschen viel- werden Videos mit einer Gesamtdauer von 300 zierten Google ­Earth: Wäre es vollständig? Nein,
geschieht? leicht. Wie eine Antwort auf den ­Ozean. Stunden auf You­Tube geladen sowie zwei Millionen aber es käme uns so vor.
Der polnische Schriftsteller Stanisław Lem Nicht zu vergessen: Die Menschheit singt, angeschaut – mehr als doppelt so viele sogar auf Andererseits – was hätten wir davon? Wir gerie-
hat darüber als Erster nachgedacht. Ihm war be- summt, pfeift, trommelt, lärmt und musiziert Snap­chat. Via Spotify dringen rund 600 000 Songs ten ins Kartenparadox: Die denkbar genaueste
wusst, dass er diese Idee in Wahrheit nicht würde auch noch. Wie viele Gitarrensoli werden in ei- in circa 1,2 Millionen Gehörgänge. Der Mensch Karte hätte ja die gleichen Abmessungen wie die
umsetzen können, weshalb er sich mit einem ner Minute wohl gespielt? ist ein Fernmeldewesen. kartierte Landschaft, und um uns in ihr zurecht-
Trick behalf: Er schrieb die fiktive Re­zen­sion­ Beginnen wir die Berechnung in Deutsch- Jede Minute melden sich 72 neue User in sozia- zufinden, benötigten wir wiederum eine Karte.
eines fiktiven Buches, in dem getreulich alles auf- land, über das immerhin Daten vorliegen. Die len Netzwerken an. Gleichwohl produziert die So offenbart sich auch die Schwäche der
geführt wurde, was in einer Minute geschieht. Musikindustrie spricht von zwei Millionen ak- Menschheit immer noch jedes Jahr fast ebenso viel Lemschen Idee, eine Minute der Menschheit zu
Lems Text Eine Mi­nu­te der Menschheit erschien tiven Musikern, was immer das heißen soll. Papier, wie es ihrem Eigengewicht entspricht; pro porträtieren: Die Zusammenschau übersteigt
1983, vor 34 Jahren. Saiteninstrumente machen 16,2 Prozent des Minute sind das knapp 1600 Tonnen, wofür Hun- unser Vorstellungs- und Denkvermögen. Lem
Heute, im Zeitalter von Big Data, stehen uns Umsatzes mit Musikinstrumenten aus. Wagen derttausende Hektoliter Wasser verbraucht werden, gab das in seiner fiktiven Re­zen­sion selbst zu.
unermessliche Daten zur Verfügung, vieltau- wir die Schätzung, dass davon die Hälfte Gitar- die genaue Zahl weiß man leider nicht. Die Meere Außerdem könne, betrachte man das Ganze, ein
sendmal mehr als damals. Das soll nicht bedeu- ren sind, und schließen wir von den 8,1 Prozent werden übrigens in jeder Minute mit rund 40 negativer Eindruck von der Menschheit entste-
ten, dass sich das Lemsche Programm mittler- auf den tatsächlichen Bestand, dann sind hier- Tonnen Plastikmüll verschmutzt. In jeder Minute! hen, schrieb Lem. Das liege daran, dass über
weile verwirklichen ließe, schon gar nicht in ei- zulande 162 000 Gitarren im Einsatz. Wie oft? Nach Berechnungen des UN-Flüchtlings- Schlechtes mehr Statistiken erhoben würden als
nem Zei­tungs­arti­kel – aber wir können immer- Vielleicht im Durchschnitt zehnmal pro Jahr hilfswerks werden pro Minute mehr als 20 Men- über Gutes.
hin eine Skizze wagen. und jeweils eine Stunde? Das macht 1 620 000 schen durch Krieg und Terror vertrieben. So Der frühere amerikanische Außenminister
Werfen wir zunächst einen Blick auf die rund Gitarrenstunden pro Jahr – pro Kopf also etwa viele, wie am 22. September 2017 im Schwarzen John Foster ­Dulles soll einmal gesagt haben, zu
7,55 Mil­liar­den menschlichen Körper. Sie er­ 0,02. In Deutschland. Und in der ganzen Welt? Meer ertranken. Zugleich müssen ungefähr 15 jedem Zeitpunkt schlafe ein Drittel der Mensch-
geben zusammengerechnet eine Biomasse von Angenommen, zwei Mil­liar­den Menschen sind Millionen Kinder zwischen fünf und elf Jahren heit, und der Rest richte Unheil an – aber eben-
470 Millionen Tonnen, davon sind 19 Millionen zu arm, um Musik zu machen, und für 1,5 Mil­ einer Arbeit nachgehen – und sind zwei Millio- das war nicht richtig, denn die Menschen spie-
Tonnen Knochen: eine große Menge Leben. Wir liar­den ist das nicht Bestandteil ihrer Kultur. nen Industrieroboter im Einsatz, jede Minute len, lachen und lieben ja auch, sie malen, kochen,
können sie uns auch als ein Ganzes vorstellen, als Dann blieben vier Mil­liar­den, die infrage kom- wird ein neuer in Betrieb genommen. bauen, und sie helfen ein­an­der. Sie denken nach,
ein einziges gewaltiges Lebewesen. Es wird von men. Gälte für sie der deutsche Durchschnitts- In dieser Zeitspanne si­ gna­li­
siert Tinder sie bilden oder sie verschönern sich. Pro Minute
340 Millionen Hektolitern Blut durchströmt, wert, dann kämen wir auf 80 Millionen Gitarren­ 950 000 Matches, werden weltweit vier Face­ finden acht Schönheitsoperationen an Kopf und
dafür sorgen jede Minute die 600 Mil­liar­den stunden jährlich, also auf etwa 19 000 Gitarren, book-­ Sta­
tus auf »Verheiratet« geändert, 6500 Gesicht statt, fast sechs an der weiblichen Brust,
Schläge von 7,55 Mil­liar­den Herzen. die in jeder Minute gleichzeitig erklingen. Wie Liter Sperma beim Sex ausgestoßen und – je außerdem beinahe drei Fettabsaugungen.
Das kostet Energie. Ebenso die Aktivität der viele Soli das wohl sind? Vielleicht 2000? nach Schätzung – 270 bis 280 Kinder geboren. Welch ein erstaunliches Geschöpf der Mensch
etwa 755 Trillionen Nervenzellen in der über Wie viele Gebete werden wohl pro Minute Die Zahl der Abtreibungen pro Minute soll bei ist. Dabei erschöpft sich das Menschsein nicht
zehn Millionen Tonnen schweren Gehirnmasse; gesprochen – auch in jener Minute vom 22. Sep- 79,5 liegen. einmal ansatzweise in diesen oder ähnlichen Da-
sie wird mit 150 Giga­watt angetrieben, das ent- tember, als das Flüchtlingsschiff sank? Gleichzeitig sterben 111 Menschen. Davon ten. Jeder Einzelne ist ein Universum, und die
spricht der Leistung von mehr als 100 großen Eine tollkühne Überschlagsrechnung könnte knapp einer durch ein Tötungsdelikt. An den Fülle seiner Seele und seines Geistes kann mit
Kernkraftwerken. Die Gedanken sind frei, aber so aus­sehen: Unter den 7,5 Mil­liar­den Men- Folgen der Luftverschmutzung sterben etwa 26 Zahlen nicht erfasst werden. Sagen wir: bislang
eben nicht gratis, ebenso wenig unsere Träume, schen haben 1,1 Mil­liar­den keine Re­li­gion (da- Menschen. An übertragbaren Krankheiten 24. nicht. Immerhin können wir schätzen, dass die
Sehnsüchte, Ängste oder Glückszustände. rüber existieren ganz gut abgesicherte Studien). Der Durchschnittswert für Krebs­tote pro Mi­ Menschheit pro Minute 100 Mil­liar­den Wörter
Um sich die nötige Energie zu beschaffen, Von den verbleibenden 6,4 Mil­liar­den ziehen nute beträgt 15, für Todesopfer des Rauchens liest. Sie selbst haben soeben dazu beigetragen.
muss der Mensch essen. Zu diesem Zweck wir die ab, die zu jung zum Beten sind, und lan- insgesamt 9, für alkoholbedingte Todesfälle 4,5,
schlachtet er jede Minute mehr als 285 000 Tie- den bei schätzungsweise sechs Mil­liar­den bet­ für Tod durch HIV/Aids 3 (Neu­ infek­
tio­
nen: Mitarbeit: Benedikt Herber, Paul Schwenn
re; das entspricht einer Fleisch­pro­duk­tion von fähigen Personen. Nun wird es schwierig. Über 3,4), für Verkehrstote 2,5. Für Selbsttötungen
500 Tonnen. Wir hören das permanente Brüllen die Bet­frequenz ist wenig bekannt. Immerhin sind es 1,5, für Kriegstote im Irak und in Syrien Quellen: adaptt, Brandwatch, Business Insider,
und Schreien des Schlachtviehs bloß nicht. Aller- wissen wir, dass fast alle Religionen das Gebet 0,03, für Tod durch weltweiten Terror 0,003. clickZ, FAO, FAS/USDA, IAEA, IATA, IFR, ILO,
dings fehlt es 815 Millionen Menschen weltweit kennen. Und dass in den sehr gläubigen USA Das vorzeitige Sterben ließe sich also am bes- ISAPS, Kaufa.de, The Lancet, Mylio, OECD, Pew
an Nahrung – während mehr als zwei Mil­liar­den 55 Prozent der Bewohner täglich mindestens ten mit Gesundheits- und Entwicklungspolitik Research ­C enter, Queensland University, Science,
Menschen zur selben Zeit übergewichtig oder einmal beten. Wagen wir einmal die Annahme, bekämpfen. Immerhin fließen pro Minute mehr Social Media Institute, SOMM, Statista, Statistisches
sogar fettleibig sind. dass ein Sechstel der sechs Mil­liar­den im Durch- als eine halbe Mil­lion Euro Entwicklungshilfe in Bundesamt, UNHCR, Weltbank, WHO, Wikipedia,
Nachdem die Körper die aufgenommene schnitt einmal pro Tag betet, dann landen wir die armen Weltgegenden. Doch rund 6,25 Mil- ­Worldometers
Speise verarbeitet haben, muss der unverwertbare lionen Euro wandern pro Minute in die Rüs-
Rest entsorgt werden. Leider steht rund 900 Mil- tung. Nur 19 Euro übrigens kostet in derselben
lionen Menschen dafür keine Toilette zur Ver­ Minute die Überwachung des Atom­deals mit
fügung – das entspricht fast dem Dreifachen der dem Iran.
Einwohnerzahl der USA. Diese Menschen ent-
leeren sich irgendwo in die Landschaft. Rechnen
wir pro Erdenbewohner mit 100 Gramm am
Tag, dann scheidet die Menschheit pro Minute
62,5 Tonnen Kot aus. Man mag sich die Gesamt-
menge nicht auf einem Haufen vorstellen.­
Außerdem versickern in jeder Minute rund 6250
0,5 Mio. €
gehen in die Entwicklungshilfe

6,25 Mio. €
werden für Rüstung ausgegeben
4 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

Auch 2017 waren unsere Korrespondenten


weltweit im Einsatz. Was macht es mit ihnen,
in der Ferne zu leben? Drei Kollegen berichten

Foto: Jacob Russel für DIE ZEIT


Unsere Nahost-Korrespondentin Andrea Böhm in Al-Kajjarah in der Nähe von Mossul, Irak. Der Rauch im Hintergrund stammt von Ölfeldern, die der IS angezündet hat

Tanzen ist besser als trauern


Im Libanon habe ich die Kunst der Verdrängung gelernt. So lassen sich die Konflikte des Nahen Ostens besser ertragen  VON ANDREA BÖHM

B
evor ich im November 2013 als Nah- gungskunst, Trotz und Lust auf das Leben kann über. Aber das ist eine Frage der Akustik, nicht der Oder wenn die ergrauten Stammgäste im Bagda- Nein – und wenn, dann habe ich es mit den ein-
ost-Korrespondentin nach Beirut zog, man inmitten des Wahnsinns weder denken religiösen Präferenz. Um auf den Islam zu kommen: der Café Schabandar stundenlang Gedichte rezitieren, gangs erwähnten libanesischen Methoden ver-
zählte ich immer wieder die Länder noch arbeiten. Ja, ein viel zu großer Anteil der muslimischen theo- während der Besitzer, der vier Söhne durch eine drängt. Wir Journalisten (und unser Pu­bli­kum)
meines Berichtsgebiets durch. Es sind Meine zweite Einsicht: Ich hatte genau den logischen Elite besteht aus ideologischen Gift­ Autobombe verloren hat, stoisch das Geld für Tee sind meist auf die Krisen und Katastrophen fixiert.
18. Vier (Syrien, Libyen, der Irak und richtigen Wohnort gewählt. Nirgendwo ist diese mischern. Der gleiche in Verschwörungstheorien und Shisha-Pfeifen kassiert. Oder wenn libysche Aber auf jeden Mann mit einer Ka­ lasch­
ni­kow
Jemen) befanden sich zum Zeitpunkt meines Um- Mischung ausgereifter als in Beirut. getränkte Fanatismus eines Salafisten in Ägypten oder Familien auf das C­ haos im Land pfeifen und mit dem kommen zigtausend Unbewaffnete, Männer wie
zugs im Kriegszustand, zwei weitere (Israel und eines Schiiten-Milizionärs im Irak begegnet mir aller- Picknickkorb am Strand den Sonnenuntergang be- Frauen, die versuchen, sich und ihre Familien heil
Palästina, der ewige Staat in spe) in einem höchst Alles da – Hölle und Himmel dings auch bei radikalen Siedlern in Israel und ultra- obachten, hinter sich die römischen Ruinen von durchzubringen. Meist auf unspektakuläre, oft auf
ungleichen low level conflict. Die restlichen zwölf oder was immer man dafür hält rechten Christen im Libanon. Die zwei Letztgenann- Leptis Magna, vor sich das Mittelmeer. erniedrigende, manchmal auf zwie-
steckten in unterschiedlichen Stadien der Krise. ten gehören Minderheiten an, die besonders angreif- Und natürlich das Smart­phone am SY R IEN
lichtige, manchmal auf heroische
Worauf ich mich eingelassen hatte, war schnell Und jetzt, vier Jahre später? Ich habe inzwischen fast bar sind, wie man zuletzt an der Massenvertreibung Selfie-Stick. Weise.
BEIRUT
klar: auf den geballten Wahnsinn dieser Zeiten. alle 18 Länder bereist (Algerien, Kuwait und Bahrain von Christen durch den IS sehen konnte. Was nichts Das klingt, als würde ich mir mein Da ist die Ingenieurin, die im
Mein erstes prägendes Erlebnis folgte wenige fehlen noch). Mein Fotospeicher quillt über mit daran ändert, dass die große Mehrheit der Opfer des Berichtsgebiet mit kleinen Anekdoten Irak Maschinenteile in Gemüse-Lkw
Wochen nach meiner Ankunft in Beirut, als mich Bildern von erbärmlichen Flüchtlingslagern (Liba- islamistischen Terrors Muslime sind. Und dass eine schönreden. Keine Sorge. Die syrischen LIBA NON durch IS-Gebiet geschmuggelt hat;
Freunde zu einem Rockkonzert einluden. Mehrere non) und glitzernden Sky­lines (Dubai); von Mossul, Handvoll sogenannter säkularer Herrscher im Nahen Barkeeper, die irakischen Möchte­gern­ das libanesische Dorf, das vom tradi-
Selbstmordanschläge mit Dutzenden von Toten dessen Altstadt nach der Vertreibung des IS ein Osten ungleich mehr Massengräber gefüllt hat als alle dich­ter und die libyschen Strand­ tionellen Cannabis- auf Weinanbau
hatten die Stadt kurz zuvor erschüttert. Ich fand Trümmerhaufen ist, und von Beirut, wo ein Bau- militanten Islamisten zusammen. Meistens mit un- gäste machen sich keine Illusionen umsatteln will; da sind die syrischen
einen Konzertbesuch frivol und riskant, weil Men- boom die Spuren des libanesischen Bürgerkriegs serem stillschweigenden Einverständnis. über die Lage ihrer Länder. Also ma- JOR DA NIEN Regimegegner, die Handbücher zum
schenmassen in geschlossenen Räumen gute An- unter Beton und Stahl begräbt; von stinkenden Slums Ich selbst glaube zwar nicht an Gott, aber doch an che ich mir auch keine. Es gibt auch Überleben bei Giftgas-Bombarde-
schlagsziele sind – und bin dann doch mitgegan- in Kairo mit offener Kanalisation und Shoppingmalls magische Momente. Von denen gibt es im Nahen wenig Grund. ISR A ments schreiben; die Frauen, die auf
gen. Die Stimmung in der Halle war gedämpft, bis in Doha, deren Kunden in Gondeln auf künstlichen Osten erstaunlich viele. Wenn zum Beispiel der nicht Im Nahen Osten ballen sich EL saudischen Rummelplätzen im Auto­
der Veranstalter das Mikro ergriff und über die Kanälen von der Gucci- zur Armani-Boutique schip- so fromme Syrer Zacharias dem frommen Sudanesen sämtliche Krisen unserer Zeit – die skoo­ter (natürlich voll verschleiert)
Attentate sprach, über den Krieg im benachbarten pern. Alles da – Hölle und Himmel oder was immer Ibrahim verspricht, im Jenseits dessen Trinksünden des Nationalstaates, des globalen Kapitalismus, für den Führerschein üben. Und dann ist da noch
Syrien und die Flüchtlinge. Dann holte er tief Luft man dafür hält. Die Gegend ist ja nicht umsonst der auf sich zu nehmen. Zacharias mixt Drinks in einer der Klimawandel. Man addiere eine immer jüngere, das Phänomen, das die Menschen im Nahen ­Osten
und brüllte auf Englisch: »Aber die Realität ist uns Ursprung dreier Weltreligionen. meiner Beiruter Stammkneipen, weil er so nicht in zunehmend gebildete Bevölkerung, die hart­näckig zusammenschweißt wie kein anderes. Nicht der
scheiß­egal!« Der Satz wirkte wie eine Befreiung. Apropos Religion. Assads Armee dienen muss, und Ibrahim spült in ein besseres Leben fordert, sowie politisch-religiöse Islam, sondern die jährliche Ausstrahlung der­
Ich tanzte und johlte bis in den Morgen, danach Ja, sie durchdringt das Leben hier weit stärker als ebendieser Kneipe Teller, weil er im Sudan nicht mehr Machtcliquen, die ein solches Leben ebenso hart- Castingshow Arab Idol.
fühlte ich mich sehr viel besser. im Westen. Wobei ich ganz persönlich den Gebetsruf auf bessere Zeiten warten wollte. Dank Zacharias näckig verweigern. Dann kann man sich aus­ Es gibt also noch einiges zu erzählen.
Das war meine erste Einsicht im neuen Job: des Muezzins in meinem Viertel weniger penetrant genehmigt sich Ibrahim jetzt ab und zu einen Wodka malen, dass hier so schnell keine Ruhe einkehrt.
Ohne die nahöstliche Mischung aus Verdrän- finde als die scheppernden Glocken der Kirche gegen- mit Orangensaft. Habe ich jemals bereut, hier­her­gezo­gen zu sein? www.zeit.de/audio
4. DEZEMBER 2017 No 50 POLITIK 5

Huch! Wie ordentlich!


Bei meinen Besuchen in Seoul und Tokio wurde mir klar, wie sehr ich mich an das indische Chaos gewöhnt hatte  VON JAN ROSS

M
itten in Seoul überfiel mich ein des Jahres 2017 gemacht. Meine indischen F­ reunde perfekt. Hier war plötzlich nicht die Umwelt der vor Regalen mit einer gigantischen Auswahl an Fer­ noch irgendeine Verbindung zum Land, die alten
starkes Heimatgefühl. Es war im schienen immer leicht überrascht, wenn ich ihnen Risiko­faktor, sondern ich. Mit Schrecken erinnere tiggerichten. Frauen im Sari, der traditionellen weib­ Fäden seien längst gekappt. Es würde sehr seltsam
Stadtteil Itaewon, einem bei Aus­ von diesen Reisen erzählte. Gebildete Inder sind ich mich an den Augenblick in Tokio, in dem mir lichen Kleidung, sind in Indien auch in den Groß­ wirken, dort plötzlich bei entfernten Vettern auf­
ländern beliebten Ausgehviertel in überhaupt nicht provinziell, viele haben im Aus­ klar wurde, dass ich an der falschen Station aus der städten allgegenwärtig – den japanischen Kimono zutauchen und um einen Schlafplatz auf der
der Nähe des riesigen US-Militär­ land studiert oder gearbeitet. Doch ihr Ausland ist Metro ausgestiegen war, in Yurakucho statt in Ishi­ oder den koreanischen Hanbok habe ich bloß bei Couch zu bitten, nachdem man jahrelang nichts
stützpunkts mitten in der südkoreanischen Haupt­ der Westen: die USA, die angelsächsische Welt von gaya. Ein penibel durchgetakteter Arbeitstag drohte Sonntagsausflüglerinnen gesehen, die einen histo­ von sich hat hören lassen. Die Modernisierung hat
stadt. Ich stand in einem Supermarkt für inter­ Kanada über Großbritannien bis Australien, teil­ zu kollabieren. In der reibungslos schnurrenden rischen Palast besuchten und Selfies machten. Japan und Südkorea einen Lebensstandard gebracht,
nationale Waren, von italienischem Basilikumpesto weise auch Europa. Manchmal führt sie ihre Kar­ Stadtmaschinerie um mich herum fuhren die Züge In Seoul war die Bedrohung der Metropole durch von dem die meisten Inder nur träumen können.
bis zu amerikanischer Zahnpasta. Einige Groß­ riere nach Singapur, aber das war es dann schon, pünktlich auf Dutzenden von Bahnsteigen ab, die die nordkoreanische Artillerie ein be­ Doch Modernisierung macht auch
packun­gen wirkten so, als könnten sie aus Armee­ was den eigenen Kontinent angeht. Es ist, als­ Ströme von Menschen, die immer auf der richti­ drückendes Thema. Wo gab es, wenn CHINA verwundbar.
gen Seite der Rolltreppe standen, rissen nicht ab. Es

AN
beständen stammen, und ich fragte mich unwill­ würde Indien gar nicht zu Asien gehören. es tatsächlich zum Krieg kommen Manche Inder wollen daher von

ST
kürlich, auf welchen Wegen sie wohl in die Regale blieb kein Raum für Irrtum und Improvisation. würde, Bunker und Schutzräume? einer Zukunft, die so ähnlich ausse­

KI
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gelangt waren. Aber nicht die Verkaufsgüter waren In Tokio war plötzlich nicht die Umwelt der Was mich dann gerettet hat, war meine indische Oder sollte man sich einfach in die hen könnte wie die Gegenwart in

PA
PA
L
es, die heimatlich wirkten. Es war der Besitzer. Risikofaktor – sondern ich war es selbst Gewohnheit, vorsichtshalber lieber eine halbe U-Bahn-Schächte zurückziehen? Un­ NEU-DELHI
Ostasien, nichts wissen. Als ich nach
Er kam mir unverkennbar indisch vor, nicht nur Stunde zu früh aufzubrechen. In der Präzisions­ willkürlich habe ich mich gefragt, was der Rückkehr aus Seoul meinem
dem Aussehen nach. Sein flüssiges Englisch mit dem Auch ich habe mich mit meiner Korresponden­ metropole Tokio eigentlich unnötig. Aber für den in Delhi passieren würde, falls die Freund Aseem in Delhi von den ko­
typischen südasiatischen Akzent, der etwas vollge­ tensozialisation aus Delhi in Seoul oder Tokio erst unpräzisen Besucher war es genau das Richtige. Stadt einer militärischen Gefahr, etwa INDIEN
reanischen Modernisierungserfolgen
stopfte Laden, die Brüder, Schwäger oder Cousins, einmal fremd gefühlt. Aus Indien bin ich ein ge­ Indien ist in vielerlei Hinsicht ein Land, in dem aus Pakistan, ausgesetzt wäre. Viele vorschwärmte, widersprach er mir
die dem Unternehmen sofort einen großfamiliären wisses Maß an Chaos gewöhnt und habe gelernt die Vormoderne weiterlebt, im Guten wie im Leute, dachte ich sofort, würden in beinahe ärgerlich. Südkorea war in
Anstrich gaben – das alles findet man auch oft in zu improvisieren. Aber mit Unordnung umzuge­ Schlechten, in ihrer Buntheit wie in ihrer Ungerech­ ihre Dörfer zurückkehren. Nicht nur seinen Augen eine atomisierte Ge­
Delhi, wo ich seit vier Jahren lebe. Es stellte sich dann hen ist etwas anderes, als eine Ordnung zu bewäl­ tigkeit. Der Lebensstil der Superreichen, aber auch die Armen, die Bauarbeiter oder sellschaft, in der die Leute in kleinen
heraus, dass der Händler aus Lahore stammte, also tigen, die man nicht versteht. In Indien kommen der der wohlhabenden Mittelschicht ist fast feudal, Wachschutzleute, die ihre Frauen und Wohnungen in anonymen Stadt­
aus Pakistan. Aber von Seoul aus betrachtet, aus der die Schwierigkeiten von außen: eine Straße, die es gibt (wegen der niedrigen Lohnkosten) überall Per­ Kinder im Heimatort gelassen haben und in der landschaften ein einsames Dasein führten. Das war
Entfernung von einigen Tausend Kilometern, kam voller Schlaglöcher ist, sodass man einen Termin sonal, vieles wird einem abgenommen. In Südkorea Metropole behelfsmäßig wohnen. Sondern auch nicht die Entwicklung, die er sich für seine farben­
uns beiden der Unterschied nicht sehr bedeutend vor. nicht pünktlich erreicht; der Sekretär, der keinen und Japan brauchte ich einen Augenblick, um zu viele aus dem Bürgertum, die schon lange in der Stadt reiche, widersprüchliche, das Erbe von Jahrtausen­
Ich bin in diesem Jahr ein paar Mal aus Indien Grund zu größeren Anstrengungen sieht, um sei­ begreifen, dass ich mein Gepäck im Hotel selbst aufs leben, manche seit Generationen, aber immer noch den mitschleppende Heimat wünschte. Ich glaube
in den »Fernen Osten« gereist, zweimal nach Süd­ nen Chef in Verbindung mit diesem lästigen Jour­ Zimmer zu bringen hatte. In Indien ist das Essen ein Haus auf dem Land haben, als Stammsitz. nicht, dass Aseem mit seinem Urteil über Südkorea
korea und vor Kurzem nach Japan. Die Krise um nalisten zu bringen. selbstverständlich selbst gekocht, viele Angestellte Als ich einem koreanischen Bekannten davon recht hat, und ebenso wenig glaube ich, dass Fort­
das nordkoreanische Atom- und Raketenpro­ Doch Japan und Südkorea sind hochmoderne nehmen es von zu Hause in zylinderförmigen Stahl­ erzählte, meinte er, das sei für ihn und seine Lands­ schrittsverweigerung ein Erfolgsrezept für Indien
gramm hat Ostasien zu einem der Brennpunkte Länder, die Systeme des Alltags funktionieren­ dosen mit ins Büro – in Seoul und Tokio stand ich leute leider keine Lösung. Die wenigsten hätten wäre. Aber ich kann verstehen, was er meint.

Fotos: Jun Michael Park für DIE ZEIT (l.), Sebastian Bolesch für DIE ZEIT (r.)
Fliegt durch Asien: Jan Roß auf Recherche in Seoul Alice Bota lebt in Moskau. Und fährt, wie hier, manchmal in die Ostukraine

Moskau, du wunderbarer Drecksmoloch


Die russische Hauptstadt macht mich mit ihren Widersprüchen manchmal fertig. Und doch liebe ich sie  VON ALICE BOTA

I
n Moskau herrscht das Prinzip Rollrasen. Ich Proteste auf dem Kiewer Maidan berichtet, über die man in Berlin vergeblich sucht, und Parks, die Ich dachte, dass die russische Beteiligung am gerollt, das Leben geht weiter, die Parks sind grün.
habe es in dem schmalen Park kennenge­ die Annexion der Krim, über den Krieg in der über Nacht mitten im Zentrum aus dem Boden ge­ Krieg in der Ukraine zwar nicht im offiziellen, aber Und wenn in 20, 30 Jahren Ukrainer und Russen
lernt, durch den ich täglich auf dem Weg zur Ostukraine, und je länger ich berichtete, desto stampft wurden. Sagenhafte Theateraufführungen; vielleicht im öffentlichen Diskurs eine Rolle spie­ endlich die Leerstelle zu füllen versuchen, die ich
Metrostation Tschystye Prudy, »Saubere stärker wurde das Gefühl, dass ich die Leerstelle, lange Sommerabende, die nichts auf Nachtruhe und len würde – doch der Krieg kommt so gut wie für mich in Moskau nicht füllen konnte, wenn sie
Teiche«, spaziere. Eines Tages fand der Bür­ die in diesem Krieg klafft, für mich füllen muss. Bürozeiten geben; Baden in den Fontänen der­ nicht vor. Sicher gibt es mal hier, mal dort Berichte, sich ihrer Entfremdung stellen und über die­
germeister, dass der sehr grüne und sehr ordent­ Der Kreml leugnete, etwas mit diesem Krieg zu Tretjakow-Galerie; lange Spaziergänge am Ufer der aber es wird nicht nennenswert über ihn gespro­ Opfer und die Täter dieses Krieges reden wollen,
liche Park noch grüner und noch ordentlicher tun zu haben, doch was in Moskau entschieden Moskwa. Und wenn ich mich an der Dialektik dieser chen. Als würde er die Russen nichts angehen. dann werden die Russen vermutlich im Brustton
werden solle: neue Pflastersteine, neue Bordkan­ wurde, schlug sich tausend Kilometer weiter im Eindrücke der Jahre versuche, dann kommt dabei Meine Nachbarn erwähnen die Ukraine einmal – der Überzeugung fragen, was sie denn bitte schön
ten, neuer Lichtschmuck, neue Pflanzen, neue ostukrainischen Donezk nieder. Deshalb wollte vermutlich ein realistisches Bild der Stadt heraus: Sie und geben den Maidan-Protesten mit diesem Krieg in der Ukraine zu
Bäume – und schließlich Tonnen von Rollrasen, ich nach Russland, nach Moskau. ist mehr Prozess denn Zustand, sie lockt und stößt die Schuld an der Zunahme von FINN tun haben.
die verlegt wurden. Das war vor anderthalb Jahren. ab, sie ist Zumutung und Versprechen. Autounfällen weltweit. L A ND Zwei Jahre lebe ich nun auf dem
Seither wird in dem Park immerzu gegraben.­ Die russische Bürokratie ist erdrückend, aber Wer alles schwarz und weiß zu zeichnen versucht, Die Täter und die Opfer dieses Planeten Moskau, der mit dem Rest
Rohre lecken, die Kabel für die Weihnachts­ Strafzettel kann man jetzt online bezahlen muss zwangsläufig scheitern: In Russland herrscht Krieges sind unsichtbar geworden, des Landes nichts zu tun hat. Manch­
RUSSL A ND
beleuchtung müssen freigelegt (oder wieder ein­ Autoritarismus – und trotzdem gibt es immer wieder und die Kosten, die auch die rus­ mal hasse ich Moskau für den Lärm,
gegraben) werden, Leitungen sind porös gewor­ Bei früheren Besuchen war mir die Stadt gna­ oppositionelle Demonstrationen. Die Bürokratie ist sische Gesellschaft zu tragen hat, für die langen Winter, für die Unge­
den. Jedes Mal reißen sie den Boden auf und rollen denlos vorgekommen. Moskau, das war für erdrückend, aber die Parkuhr und den Strafzettel werden beschwiegen. Wird über MOSKAU rechtigkeit.
danach frischen Rasen aus. Der Rollrasen ist wie mich: unendlich breite Straßen, die trotz Am­ kann man online bezahlen. Der Verkehr ist hoff­ die Sanktionen des Westens gespro­ Und doch bekenne ich: Ich bin
ein Pflaster für die Wunden, die der Stadt ständig peln kaum zu überqueren waren; imperiale Ar­ nungslos überlastet – aber Carsharing boomt. Die chen, dann so, als seien sie vom eine Konvertitin. Die Stadt ist mir
UK R A INE
neu zugefügt werden. chitektur, erschlagende Größe; obszöne Armut Meinungsfreiheit kontrolliert der Staat wie auch die Himmel gefallen, als wolle der­ lieb und teuer geworden, ich kann es
Da lassen in dem Park Säufer die Flasche krei­ und perverser Reichtum, dicht an dicht; ohren­ wichtigsten Medien – und trotzdem gibt es auch Westen Russland einfach dafür be­ mir selbst nicht erklären. Manchmal
sen, da bettelt eine Oma kniend um Geld, da betäubender Lärm; Kinder, die auf Panzern he­ solche, die unabhängig berichten und investigativ strafen, dass es Russland ist. Bei muss ich ihr entfliehen, weil ihre
schuften unterbezahlte Arbeiter nachts in Flip­ rumkletterten, Überwachungswahn; Menschen­ recherchieren. Ausländische Journalisten werden mit den alljährlichen Militärparaden in Kälte, ihre Graugesichtigkeit und ihr
flops – aber so lange Rollrasen die klaffenden Bau­ massen, die sich morgens graugesichtig und mit einem Agentengesetz drangsaliert, aber das russische Moskau werden Soldaten und Panzer stolz vorge­ Krach nicht auszuhalten sind. Wenn ich aber nach
lücken verdeckt, ist die Stadt in Ordnung. Man ausgefahrenen Ellenbogen in die Bahnhöfe scho­ Außenministerium verhält sich bei meiner Akkredi­ führt, aber dass dieses militärische Muskelprotzen ein paar Tagen wiederkomme, wenn mich das
packt immer neue Schichten aufeinander, Roll­ ben; viel steingewordener Sozialismus; blutge­ tierung, die ich zum Arbeiten brauche, vorbildlich irgendwie mit der Annexion der Krim oder dem Kreischen der U-Bahnen empfängt und mir zur
rasen auf Rollrasen auf Rollrasen, Rubel auf ­ tränktes Pathos. korrekt. Das Machtzentrum ist abgeschottet – doch Krieg in der Ostukraine zusammenhängen könnte, Begrüßung der abgestandene Geruch von Men­
Rubel auf Rubel, und grün leuchtet der Park – Moskau, das wurde für mich: der Plausch mit den die Staatsduma zu betreten ist leichter als in den wird verdrängt. schen in den Waggons entgegenschlägt, dann kann
war da was? Nachbarn auf der Straße, großartige Clubs und Berliner Reichstag zu gelangen. Der Hauptwider­ Nichts hält die Ereignisse zusammen. Sie frag­ ich trotzdem nicht anders, als kurz den Kopf zu
Mein Weg nach Moskau hat mich über die Restaurants, die aufmachen, schließen, wieder auf­ spruch aber ist: Man führt einen Krieg und spricht mentieren, bis sie nichts mehr bedeuten. Ein paar senken und zu denken: Moskau, du wunderbarer
Ukraine geführt, ausgerechnet. Ich hatte über die machen. Eine beirrende Sauberkeit auf den Straßen, nicht darüber. neue Cafés machen auf, der Rollrasen wird aus­ Drecksmoloch, du hast mir gefehlt.
6 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

Ein Jahr der Übeltäter


Autoritäre, Sexisten, Feiglinge: Wer empörte uns 2017? Ein Rückblick
VON LEA FREHSE , ROBERT PAUSCH UND SIMON PR ADES (ILLUSTR ATION)

S
eien Sie mal ehrlich: Wenn Ihre Kinder oder
Enkelkinder Sie einmal fragen werden, was
eigentlich 2017 so passiert ist, werden Sie dann
sagen: Prinz Harry bekannte sich zu seiner
großen Liebe? Wohl kaum. 2017 hielten uns Krisen und
Halunken in Atem. Dabei nahm das Jahr viele
überraschende Wendungen. Sprachen wir eben noch
über Marine Le Pen, absorbierte schon die Sorge vor
Rechtsextremen in der Bundeswehr unsere ganze
Aufmerksamkeit. Die Bedrohungen von gestern waren
bereits wieder verblasst. Lassen wir die Aufreger nicht so
einfach davonkommen.

Januar Februar
Die Inauguration von Donald Trump setzt den Ton für das Jahr: Oder wird es Russlands Staatschef Wladimir Putin? Egal ob er Trump ins
brachial und immer knapp am Abgrund entlang. Aber wird Amt geholfen hat oder nicht, er kann zum Jahresende zufrieden schmunzeln:
der US-Präsident es wirklich zur Person des Jahres bringen? Russland ist Weltmacht, und mit der Krim, war da irgendwas?

März April Mai


Die Chefin des Front National schafft es bis kurz vor den Élysée. Dann ... und wird abgelöst von Franco A. Der Soldat sorgt mit einem Doppelleben Es ist gelogen und betrogen worden, aber so richtig wahrhaben
verschwindet Marine Le Pen schon wieder von den Titelseiten ... als vermeintlicher Flüchtling dafür, dass die Bundeswehr über wollen sie das nicht. Was wäre die deutsche Exportweltmeisterschaft ohne
Rechtsextremismus diskutieren muss – und über Wehrmachthelme die deutschen Autobauer?

Juni Juli August


In der Stammkneipe der Bösen ist der syrische Diktator Neben zahlreichen Festnahmen (#freedeniz) ist diesem Mann auch noch Kurz vor der Bundestagswahl schießen die Umfragewerte
Baschar al-Assad der Typ hinten rechts an der Bar. Er ist einfach das vorzuwerfen: Humorlosigkeit. Seine Anhänger schlagen Recep Tayyip der AfD in die Höhe. Im Mittelpunkt steht nun Alexander ­Gauland ...
immer da und bleibt doch unbegreiflich Erdoğan 2017 trotzdem für den Friedensnobelpreis vor. Kein Witz
Illustrationen: Simon Prades für DIE ZEIT

September Oktober November


... und wird nach der Bundestagswahl für einige Tage Politische Anfänger führen Konflikte an und lassen sich den Frieden dann Harvey Weinstein wird zum Posterboy eines wankenden Patriarchats.
abgelöst: vom ostdeutschen Mann. Die plötzliche Aufmerksamkeit mit einem ­Nobelpreis versüßen. Dass es auch andersherum geht, beweist in Die Debatte, die sich an dem übergriffigen Hollywood-Produzenten
erweist sich als flüchtig diesem Jahr der tief gefallene Stern von Myanmar: Aung San Suu Kyi entzündete, wird bleiben
4. DEZEMBER 2017 No 50 POLITIK 7

Foto: Frieder Blickle/laif


Kurz vor der Wahl:
Angela Merkel und
Martin Schulz beim
Fernsehduell

Dozialsemokraten und Dristchemokraten


Warum dieses Jahr voller verrückter Erkenntnisse war. Das Beste aus der Kolumne  VON PETER DAUSEND

V
or exakt zwölf Monaten habe und meine Frau, eine Lübeckerin, mich liebevoll in diesem Jahr um noch einen Begriff reicher gewor- eines tattoo­freien deutschen Durchschnittsoberkörpers nach den Sternen greift – das hat die Welt noch nie
ich mich in der üblichen Bon- »Kommt-schon-wieder-Fußball-im-Fernsehen?« den: Ballermann-Nazis. Zu verdanken ist dieser Zu- unweigerlich: Wenn der Mensch nur noch aus Ober- gesehen. Für uns Saarländer, das muss man wissen,
sai-Form dieser Kolumne, also nennt, frage ich mich, was hinter der Verbal- wachs im Wortschatz einer Gruppe deutscher Wall- körper besteht – was ist da mit dem Hirn passiert? Ist ist schon Hessen outer ­space – und auf ­Aliens treffen
auf 24 Zeilen, vom Dunkel- Liebkosung »Hirsekolben« steckt: die verdrängte fahrer, die zur deutschesten aller spanischen Inseln, es dem Besitzer tot aus dem Kopf gerutscht – oder hat wir, wenn wir in Galaxien vordringen, die nie ein
braunen Kugelspinner, dem In- Sehnsucht nach Wellensittichen oder veganer­ Mallorca, pilgerten, um in der deutschesten aller spa- da jemand empty reintätowiert? Einen Teil der Antwort Mensch zuvor gesehen hat, also in die Pfalz. Unse-
sekt des Jahres 2016, verabschie- Sexismus? Das weiß man wohl nur in Dunkel- nischen tabernas, dem Bierkönig, den – ihrer Meinung gab der 24. September mit 12,6 Prozent für die AfD rem Saar-Astronauten möchte ich auf seinem Weg
det. Ebenso von der Libelle des deutschland, wo man seine Politiker liebevoll nach – deutschesten aller deutschen Oberkörper zu bei der Bundestagswahl. Es gibt mehr tote Köpfe in in die Unendlichkeit etwas Saarländisches mit­
Jahres namens Gemeine Binsenjungfer und der »Volksverräter« nennt. huldigen: ihren eigenen. Beim Anblick all der Tattoos, Deutschland, als man auf den ersten Blick sieht. geben, etwas, das ich auch den Dausend-­Lesern auf
Orchidee des Jahres, dem Sommer-Drehwurz Frauke Petry, so entnahm ich einem geschätz- die auf ­diese germanischsten aller Torsi passen – von Egal, wie die Bundestagswahl ausging – für mich ihrem Weg ins Jahr 2018 wünsche: nein, nicht Ein
(akut vom Aussterben bedroht). Auf den Ab- ten Mitbewerber-Blatt, hat dieses Jahr geweint – Hakenkreuz und Reichs­adler über die Inschrift »Hit- als Saarländer war 2017 ein großartiges Jahr. Denn bisschen Frieden von Ni­cole, unserer Edith Piaf vom
schied folgte der Blick nach vorn: Sigmar Gabriel, und zwar im März, lange bevor sie die AfD ver- ler« und einen Totenkopf bis zur Spielführerbinde der wir haben ja jetzt einen Astronauten: Matthias Losheimer Stausee. Etwas Handfesteres:
so sagte ich voraus, werde sich als der Sommer- ließ. Trennungsschmerz war also nicht der deutschen Nationalelf –, fragt man sich als Besitzer Maurer aus St. Wendel! Ein Nordsaarländer, der Hauptsach, gudd gess.
Drehwurz des Wahljahres 2017 entpuppen,­ Grund. Stattdessen lag es an einem Event. Ich
Frauke Petry sich bei der Binsenjungfer das Ge- hätte auch geweint, wenn ich einen Landes­ ANZEIGE
meine abschauen und Björn Höcke seinen Titel parteitag der sächsischen AfD hätte besuchen
als Dunkelbraunster Kugelspinner, seit es die AfD müssen – selbst wenn der nicht in Weinböhla,
gibt, erfolgreich verteidigen. Und was soll ich sa- dem Ort in der Elbtalsenke zwischen Meißen
gen? Alle drei Prophezeiungen sind eingetroffen. und Coswig, stattgefunden hätte. Als Angela
Übrigens: Einzeller des Jahres wurde 2016 Merkel noch nicht die mächtigste Frau der Welt,
noch Trichomanas vaginalis. Es dürfte dieses sondern Kohls Mädchen war, weinte auch sie­
Jahr abgelöst werden vom AfD-Wahlprogramm. einmal, und zwar am Kabinettstisch. Und als
­Make Irrsinn ­great ­again! Joachim Gauck noch nicht wieder Achim Gauck
Natürlich stand 2017 ganz im Zeichen der war, sondern noch Bundespräsident, weinte auch
Bundestagswahl. Wie sie ausgehen würde, war er, und zwar eigentlich immer und fast überall
spätestens drei Wochen vor dem Tag der Ent- und gegen Ende seiner Amtszeit immer überall.
scheidung auch Martin Schulz klar. Da teilte er Weinen in der Politik macht einen Politiker
nämlich mit, wie seine Lieblingsbücher heißen: nicht zur Heul­suse, sondern zum Menschen. Bei
Jenseits von Eden und Früchte des Zorns, beide von Gauck schoss das politische Weinen jedoch übers
John Steinbeck. Ähnlich selbsterklärend für Ziel hinaus. Denn für denjenigen, der ihm fast
einen­Kanzlerkandidaten, der jede Hoffnung zeitgleich mit den Tränen der Frauke P. im Amt
fahren lassen hat, wären sonst nur noch Margaret folgte, lautet die entscheidende Frage jetzt: Ist
Mitchells Vom Winde verweht und Ernest­ Frank-Walter Steinmeier nun gauckgleich? Oder
Hemingways Wem die Stunde schlägt gewesen. sogar Gauck, aber sterblich?
Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Im Sommer machte ich dieses Perry-Bloom-
Márquez hätte weniger den Wahltag beschrieben Ding und legte eine Beziehungspause mit dem
als die Schulzsche Ge­ fühls­lage seitdem. Und­ Wahljahr ein. So dachte ich zumindest. Doch
seine politische Zukunft. dann passierte Folgendes: In den Fommerserien
Karl-Theodor zu Guttenberg musste sich im schunderwönen Früdsankreich machten sich
nicht durchs Wahljahr quälen. Der machte zum meine Twillingszöchter – sie werden in wenigen
Wahlkampf-Quickie mal kurz aus den USA rü- Zwonaten mölf – einen Spiesenraß daraus, Ban-
ber. Nun ist Guttenberg kein gelernter Buch- fangsuchstaben won Vörtern zu tervauschen, was
händler wie Martin Schulz. Doch ließe sich sein zu frustigen Lühstücken und wurzkeiligen Eben-
Leben leicht in einer Abfolge von literarischen dassen führte. Was gaben wir helacht! Vor allem,
Meisterwerken offenbaren: Der kleine Prinz, Der als wir daran menken dussten, wie alles gebann:
Schaum der Tage, Erzählungen aus Tausendund- mit dem Mann, der einen Bannentaum mit
einer Nacht, Schuld und Sühne, Die Rückkehr des Kichterlette waufen kollte. Kau­somisch!
Tanzlehrers, Warten auf Godot. Doch dann übertrug ich das Spiel auf die
Politik – und die Bundestagswahl schien plötz-
Cem Özdemir teilte mit, lich wieder völlig offen: Do­zial­semo­kra­ten hörte
dass er in »Dinkeldeutschland« lebt sich doch deutlich beniger wescheuert an als
Dristchemokraten – und wer, so dachte ich,
Dass das Lager Schulz gegen die Jungs um KT so möchte schon von einer Bundeskanzlerin regiert
bitter verlieren würde, hätte zu Jahresbeginn auch werden, deren mächtigster Minister Scholfgang
noch keiner gedacht. Da hatten sich Angela Merkel Wäuble heißt? Und die Vizekanzlerin womöglich
und Horst Seehofer dermaßen verkracht, dass sie Gatrin Eckring-Köhardt. Schein Kwein.
eine Beziehungspause einlegten. Kann Zufall ge- Die Dozialsemokraten hatten ja auch den
wesen sein, dass die Funkstille zum gleichen Zeit- besseren Wahlspruch: Feit zür gehr Kerechtig-
punkt kam wie bei der Sängerin ­Katy Perry und meit! Oder hieß er doch: Gehr Meit kür Zerech-
ihrem Schauspieler Orlando ­Bloom. Von der Halb- timgeit? Oder etwa: Geit mür zehr Ferechmig-
zeitpause unterscheidet sich die Beziehungspause teit? Egal: Solange der nächste Kanzler nur
ja bekanntermaßen dadurch, dass es nach dem­ Schartin Mulz heißen kann, da war ich mir­
Pausentee nicht weitergeht. Merkel/Seehofer drohte sicher, sind die Zosis nicht zu schlagen!
das auch. Der Horst wirkte in Angies Nähe stets so, Und so kam es dann ja auch. Statt auf Schar-
als habe er sich in den Orlando-Bloom-Film Der­ tin Mulz setzten die Genossen weiterhin auf
Hobbit – Smaugs Einöde verirrt. Und Angie hätte Martin Schulz – ein fataler Fehler. Dabei hätten
über ihre Zeit mit Horst den Katy-­Perry-­Hit I ­Kissed sie spätestens in dem Moment umsatteln müss-
a Girl singen können. ten, als die Deutschen ein neues politisches Zeit-
Perry ging in ihrer eigenen Pause jedenfalls maß kennengelernt hatten: den Schulz-­ Hype.
zum Friseur und trug die Haare danach blond Ein Schulz-­Hype beschreibt die Dauer, in der die
gefärbt, an den Seiten rasiert und oben lang. Sie SPD aus ebenso unverhoffter wie komplett ent-
sah aus wie ­Miley ­Cyrus, die was anhat. So ein grenzter Hochstimmung in die übliche »Ach, das
»Undercut«, meinte eine Kollegin, wirke von wird doch schon wieder nix«-­ De­
pres­ sion vor
vorn toll, sehe von hinten aber »scheiße« aus. Das Bundestagswahlen zurückfällt. Sie umfasst, das
Lange und das Kurze müssten ja wieder zusam- weiß man jetzt, exakt zwei Landtagswahlen.
menfinden. Der lange Horst und die kurze Kanz- Nach der ersten dient die beliebte Amtsinhabe-
lerin mussten das auch, wieder zusammenfinden. rin der politischen Konkurrenz noch als Ausrede
Bei ihrer Re­union-­Presse­kon­fe­renz sahen die dafür, dass der so­zial­demo­kra­ti­sche Rausch an
beiden zwar nicht ganz so aus wie K ­ aty Perry von sich selbst nicht zum Ziel getragen hat (Saar-
hinten. Sie machten aber den Eindruck, als wür- land). Und bei der zweiten verliert der eigene
den sie sich haar­genau so fühlen. Amtsinhaber gegen einen milchgesichtigen­
Während des Wahlkampfes erfuhren wir Nobody, von dem noch nicht einmal alle, die ihn
Wähler dann Dinge, die wir gar nicht wissen gewählt haben, wissen, ob er nun Daniel Gün- Gemeinsam machen wir das deutsche
wollten. Zum Beispiel von Cem Özdemir. Der ther, Günther Daniel oder Hauptsache Was­ Gesundheitssystem zu einem der besten der Welt.
Obergrüne teilte redeschallend mit, dass er in anderes heißt (Schleswig-Holstein). Erfahren Sie mehr unter www.pkv.de/uwe
»Dinkeldeutschland« lebt und seine Frau, eine Neben dem Schulz-­Hype ist die wunderschöne
Argentinierin, ihn liebevoll »Hirsekolben« nennt. deutsche Sprache, in der sich der Kulturbeutel
Da ich selbst aus Dünkeldeutschland stamme ebenso heimisch fühlen darf wie der Kaffeedurst,
8 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50
Foto: Jonathan Ernst/Reuters

Streit um Grundsätzliches: Ein Trump-Kritiker stört eine Veranstaltung mit dem Präsidenten in Ohio

Angst frisst Freiheit


Wie liberale Werte 2017 in die Defensive gerieten  VON JOCHEN BITTNER

D
er große Liberale Gerhart rika bringe »unübertroffene Stärke« in diese Arena Dabei haben die Kritiker von ungesteuerter­ verlust bestraft werden wie Persönlichkeitsrechts­
Baum, der im Oktober 2017 ein. Gerichtet war diese Kampfansage nicht nur an Migration ja durchaus recht, wenn sie auf Freiheits­ verletzer mit Geldbußen, war es wichtig und rich­
85 Jahre alt wurde, hat zu Russland, sondern auch an den pazifischen Rivalen verluste durch die »falschen« Zuwanderer hinwei­ tig, dass die Bundesregierung einen staatlichen Vor­
seinem Geburtstag einen Satz China (das seinerseits einen zwar leisen, aber sehr sen. Zu diesen Freiheitsverlusten gehören Beton­ stoß zur Regeldurchsetzung unternommen hat.
von geradezu universeller systematischen Neoimperialismus mit eigener Re­ blöcke rings um deutsche Weihnachtsmärkte, eine Dieser Versuch, in Gestalt des Netzwerkdurch­
Wahrheit gesagt: »Der hinter­ gelsetzung verfolgt). zunehmende Zahl sexueller Übergriffe und der setzungsgesetzes, das der Bundestag 2017 beschlos­
hältigste Dämon gegen unsere Die Selbstenthemmung der Großmächte hat monatelang geltende Ausnahmezustand in Frank­ sen hat, könnte allerdings über das Ziel hinaus­
Freiheit ist die Angst.« unmittelbare Folgen für Europa. Russlands neue reich wegen einer ganzen Serie islamistischer At­ geschossen sein – mit dem Ergebnis, dass der Staat
Die konkrete Wahrheit des Jahres 2017 lautet, Ambitionen, Ordnungsmacht zu sein, ließen sich tentate. Aber genauso recht haben diejenigen, die mehr Freiheit einschränkte als Sicherheit schuf.
dass sich so viel Angst so schnell über den Globus unter anderem an den rücksichtslosen Bombarde­ es populistisch nennen, Sorgen durch Panikmache Denn allein die Aussicht auf Bußgelder von bis zu
bewegt wie lange nicht mehr und dass sich diese ments syrischer Städte erkennen. Die Flüchtlings­ anzuheizen. 50 Millionen Euro, die Twitter oder Face­ book
Angst verhält wie ein Schneeball: Je mehr Strecke ströme, die von dieser militärischen Willkür ver­ Unglücklicherweise treffen die unterschiedlichen künftig bei Nichtlöschung von rechtswidrigen In­
sie zurücklegt, desto größer wird sie. stärkt wurden, sorgen in der EU für teils hysterische Meinungen heute vor allem an einem Ort auf­ halten drohen, könnte dazu führen, dass die Ver­
Diese Angst zersetzt die Freiheit, weil ver­un­ Reaktionen. Sie reichen von selbst gewählter natio­ einander, an dem ebenfalls eine Art Naturzustand antwortlichen in den Digitalkonzernen im Zweifel
sicher­te Menschen dazu neigen, einander wechsel­ naler Isolation (Brexit) bis zu einem neuen Freund- herrscht. Ausgerechnet die eigentlich vielverspre­ gegen bestimmte Äußerungen entscheiden – und
seitig als Gefahr zu betrachten und dem anderen Feind-Denken zwischen West- und Osteuropa. chendste Kommunikationsmaschine aller Zeiten, damit gegen die Meinungsfreiheit.
weniger Freiheit zu gönnen. Mehr noch, fast über­ Aber auch die Deutschen sind das Internet, ist zu einer Verlässliche Zahlen gibt es von den Netzwerk­
all auf der Welt nimmt die Neigung zu, Konkur­ einander entfremdet wie lange Kampfarena geworden, ganz betreibern nicht, aber der Rechtsanwalt Joachim
renten um sich herum zu sehen, und die Neigung nicht mehr.
nimmt ab, sich an Regeln gebunden zu fühlen. Es Hunderttausende Flücht­ Ist das Recht des so wie die Staatenwelt. Es zeigt
sich immer deutlicher, dass
Steinhöfel, der regelmäßig gegen die Sperrung von
Nutzerkonten klagt, behauptet, dass Facebook Pro­
geht, kurzum, so hobbesianisch zu wie lange nicht linge und Migranten, die weit­
mehr. Der englische Staatstheoretiker und Philo­ hin ungeregelt nach Europa
Stärkeren heute auf Twitter und Face­
eben im Zweifel nicht Auf­
book file »in ungeheurer Zahl« lösche. Nicht selten trifft
es dabei Inhalte, die zwar provokativ sind, aber bei
soph Thomas ­Hobbes hatte in seinem Hauptwerk kommen, lassen viele Bürger wichtiger als die klärung triumphiert, sondern Weitem nicht verbotswürdig.
Leviathan die Welt pessimistisch als Kampf aller nach dem Staat als klassischem Aufregung. Die Zahl der Likes Genau solche Freiheitsbeschränkungen, die aus
gegen alle beschrieben, er sah im Menschen »des Leviathan rufen: einer Macht, Stärke des Rechts? schafft eine neue Art von der Angst geboren werden, führen zurück auf die
Menschen Wolf«. die vor allem für Sicherheit Emotionswahrheit; das Ziel globale Ebene. Denn sie spielen ebenjenen Akteu­
Und tatsächlich kann man heute, mehr als und Ordnung sorgt. Freiheit? von Debatten wird dadurch, ren in die Hände, die es darauf anlegen, den Wes­
400 Jahre nach Hobbes, den Eindruck gewinnen, Davon gab es ja wohl eher zu viel und für die fal­ links wie rechts, immer öfter das gleiche: bloß zu ten am Wert seiner Freiheitlichkeit noch tiefer
die Staaten würden einander ebenso offen zu­ schen, so eine verbreitete Wahrnehmung, auf der gewinnen, indem man die sozialen Kosten für Mei­ zweifeln zu lassen.
Gegnern werden wie der eine Bürger dem anderen. unter anderem der Erfolg der AfD gründet. nungsäußerungen des anderen in die Höhe treibt. Russland, auch das wurde im vergangenen Jahr
Das Ergebnis sind Freiheitsverluste, die sich ge­ Eine Folge dieser Verunsicherung gegenüber der Die grassierende moralische Diffamierung An­ gründlicher bewiesen als je zuvor, fördert gezielt das
genseitig verstärken, weil sie zusammenhängen. Rolle des Staates als Ordnungsgarant ist ein fort­ dersdenkender kostet am Ende viel mehr Freiheit hobbessche Misstrauen zwischen Staaten und Bür­
Die neue, unversöhnliche Jeder-gegen-jeden-­ geschrittener Richtungsstreit um Grundsätzliches. als die Terrorgefahr: die Gedankenfreiheit nämlich, gern, indem es in seiner Propaganda Ängste vor
Mentalität reicht von der Weltpolitik bis zum pri­ Ungefähr dasselbe, was Polen, Ungarn oder Tsche­ die es heute mehr denn je braucht, um Komplexität einer Islamisierung Europas schürt – etwa mittels
vaten Twitter-Account. chien den Westeuropäern vorwerfen, werfen sich zu bewältigen. künstlicher User in sozialen Netzwerken, die ge­
Beginnen wir mit dem, nun ja, »Neo-Hobbesia­ die Deutschen (und die Franzosen oder Briten) Die Versuchung, die Wirklichkeit zu plätten, ist schickt Stereotype verstärken. Sich selbst verkauft
nismus«, den sowohl Moskau wie Washington ak­ auch untereinander vor: Naivität und die Unfähig­ dabei ebenso ein rechter wie ein linker Affekt. Das Russland derweil als standfeste, selbstbewusste Al­
tuell propagieren. Putins Russland meint, sich an keit, einzusehen, dass Grenzauflösungen und »Glo­ Spiegelbild von Nationalchauvinisten wie Nigel ternative – hier die tiefe Kultur Eurasiens, dort die
keine völkerrechtlichen Regeln mehr halten zu balismus« eben nicht notwendig ein Zivilisations­ Farage in Großbritannien sind Neokommunisten zunehmend chaotische und wertevergessene Zivili­
müssen, weil dies die USA seit dem Ende des Ost- fortschritt sind. Der Verdacht, der jeweils Anders­ wie Slavoj Žižek. Beide eint die Sehnsucht nach ei­ sation »Gayropas«. Wer weniger Hobbes will, so die
West-Konflikts auch nicht mehr getan hätten. »Wir denkende in diesem Streit sei gefährlich ideologie- ner schützenden Gemeinschaft im Gegensatz zu Botschaft, muss mehr Putin wagen.
befinden uns auf dem Höhepunkt einer interna­ beziehungsweise ressentimentgetrieben, hat Bürger einer bloß funktionierenden Gesellschaft, weil­ Gibt es auch gute Nachrichten zur Lage der
tionalen Unordnung, mit einem Mangel an Kon­ zu argwöhnischen Beobachtern anderer Bürger beide eine Entfesselung beklagen: die Entfesselung Freiheit? Aber ja. Zum Beispiel: In Venezuela­
sens über die Regeln und Normen, die die Staaten­ werden lassen. ungewählter Bürokraten der eine, die Entfesselung erhoben sich die Menschen gegen den linksautori­
beziehungen beherrschen sollten«, befindet der Es ist ein Kulturkampf, in dem Andersdenkende eines undemokratischen Kapitalismus der andere. tären Nicolás Maduro, um ein Ende seiner Herr­
russische Politikwissenschaftler und Kreml-Berater rasch zu Feinden, wenn nicht gleich zu Staatsfeinden Wie es ausgehen kann, wenn sich im Namen der schaft zu fordern. Und in einer wachsenden Zahl
Dmitri Suslow. »Was wir erleben, ist die Rückkehr gestempelt werden. Während die einen den Untergang »Freiheit« linker Emanzipationswahn mit ethnischer von Ländern hat sich in den vergangenen zehn
der Großmachtrivalität auf globaler Ebene.« des Abendlandes fürchten, wittern die anderen neuen Romantik mischt und das Internet Schlichtheiten Jahren die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen
Im Mai postulierten zwei wichtige Berater von Faschismus. Das Resultat: Gleichgesinnte Länder wie in die Menge schleudert, ließ sich nach dem Brexit Ehe durchgesetzt.
Donald Trump, dass auch den Vereinigten Staaten Bürger ziehen sich zunehmend auf ihre »Identität« in diesem Jahr ein zweites Mal besichtigen, in Kata­ Mit der Freiheit kann es eben ganz genauso sein
künftig das Recht des Stärkeren im Zweifel wichti­ zurück. In Polen und Ungarn erscheinen die Regie­ lonien: Befreiung als Farce. wie mit der Angst: Auch die Freiheit kann anste­
ger sei als die Stärke des Rechts. »Die Welt ist keine rungen tatsächlich immer mehr als klassischer hobbes­ Eben weil das Netz gegenüber klassischen Me­ ckend wirken, ja sie wird immer stärker, je mehr
›globale Gemeinschaft‹, sondern eine Arena, in der scher Leviathan, als Schutzwesen gegen äußere und dien einen geradezu hobbesianischen Wettbewerbs­ Menschen und Länder sie erfasst. Vorausgesetzt
Nationen (...) um Vorteile ringen«, schrieben innere Feinde, das um seiner Stärke willen alle staat­ vorteil aufweist, nämlich dass im Netz Urheber von natürlich, diese Menschen empfinden das Gegen­
Trumps Sicherheits- und Wirtschaftsberater. Ame­ liche Gewalt zusammenrafft, statt sie zu teilen. Falschmeldungen ebenso selten mit Vertrauens­ teil von Angst.
4. DEZEMBER 2017 No 50 POLITIK 9
WIE WAR IHR JAHR?

Frauke Petry Martin Schulz

Die frühere Der SPD-Chef


AfD-Sprecherin ist aus wünscht, er wäre
ihrer Partei ausgetreten 2017 mutiger gewesen

Was haben Sie in diesem Jahr zum ersten das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und die Was haben Sie in diesem Jahr zum ersten Mal Was war Ihr persönlicher Sieg 2017? Auf welche Nachricht(en) hätten Sie
Mal getan? Aufhebung des Bankgeheimnisses. getan? Die konsequente Reduzierung meines Curry- am liebsten verzichtet?
Mit neun Kindern in den Ferien gezeltet. Einen Wahlkampf als Kanzlerkandidat geführt. wurst-Konsums nach dem 24. September. Auf die Tweets von Donald Trump.
Was haben Sie 2017 vermisst?
Was war Ihr persönlicher Sieg 2017? Mit den Kindern im Garten Kartoffeln zu War 2017 besser oder schlechter, als Sie es Und Ihre Niederlage? Was haben Sie 2017 Wichtiges gelernt?
Meine Direktwahl zur Bundestagsabgeordne- setzen – und natürlich auch zu ernten. Silvester 2016 erwartet hatten? Was für eine Frage! Dass man immer zu sich selbst stehen
ten in der Sächsischen Schweiz mit mehr als Es war besser. Weil ich gemerkt habe, dass die muss.
37 Prozent der Wählerstimmen, die für mich Was würden Sie in diesem Jahr gerne SPD immer noch viele Menschen begeistern Worüber haben Sie sich am meisten gefreut?
in der Deutlichkeit überraschend war. korrigieren, an sich selbst und an anderen? kann. Dass das Ergebnis bei der Bundestagswahl Über die Geschlossenheit der SPD. Was war Ihr schönster Ort?
Menschen sind, wie sie sind, und wir müssen dann doch niederschmetternd war, steht auf ­ Klingt blöd, stimmt aber: Würselen.
Und Ihre Niederlage? genau so miteinander auskommen. einem anderen Blatt. Und worüber am stärksten geärgert?
Der Kölner Parteitag der AfD im April 2017, Über die weitverbreitete Annahme, Politik sei Und Ihr schönster Moment?
auf dem sich eine deutliche Mehrheit gegen Was war Ihr schönster Ort? Wer war für Sie 2017 eine Hoffnung? nur ein zynisches Spiel. Das ist falsch! Der Wahlkampfabschluss in Aachen.
meinen Richtungsantrag entschied. Da gibt es so viele in meiner sächsischen ­ All die – vor allem jungen – Menschen, die Viele Freunde und alte Weggefährten.
Heimat. in die SPD eingetreten sind. Und übrigens auch Was war für Sie die größte Überraschung? Und das erste Mal meine Frau mit
Worüber haben Sie sich am meisten gefreut? die, die in anderen demokratischen Parteien ­ Die 100 Prozent bei meiner ersten Wahl zum auf der Bühne.
Über die problemlos verlaufene Geburt meines Und Ihr schönster Moment? mitarbeiten. Denn ohne Engagement keine ­ SPD-Vorsitzenden durch den Parteitag.
jüngsten Sohnes. Der Moment, als mein Mann und ich unseren Demokratie. Danach konnte es nur noch bergab gehen. Wie lautet Ihre Überschrift für das
Sohn zum ersten Mal gemeinsam in die Arme Jahr 2017?
Auf welche Nachricht(en) hätten Sie am genommen haben. Und wer war eine Enttäuschung? Was haben Sie 2017 vermisst? Mannomannomann.
liebsten verzichtet? Der 1. FC Köln. Aber ich gebe die Hoffnung Zeit und Ruhe.
Der Wiederantritt von Angela Merkel als Was war Ihre beste Tat? nicht auf. Welche der Fragen, die Sie beschäftigen,
CDU-Kandidatin für das Bundeskanzleramt. Wenn Sie meine Kinder fragen: Was war für Sie der spannendste Moment? ist auch 2017 unbeantwortet geblieben?
Die Auf­hebung der Nutella-Sperre ... Was würden Sie in diesem Jahr gerne Mein Auftritt vor den Genossinnen und ­ Die nach der Zukunft Europas.
Was war für Sie die größte Überraschung? korrigieren,­an sich selbst und an anderen? Genossen im Willy-Brandt-Haus am ­
Die medial und öffentlich so geringe Gegen- Was war für Sie der spannendste Moment? Viel. An mir: Ich hätte mutiger sein sollen. Wahlabend. Sie hätten mich auch ausbuhen Was wünschen Sie Deutschland für 2018?
wehr gegen so freiheitsfeindliche Eingriffe wie Der Tag nach der Bundestagswahl. Und an der SPD: sie auch. können. Haben sie aber nicht. Eine starke SPD.

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Peter Steudtner

Der Aktivist träumte


im türkischen Gefängnis
von seiner Familie

Was haben Sie in diesem Jahr zum ersten Auf welche Nachricht(en) hätten Sie am
Mal getan? liebsten verzichtet?
Ich habe mich selbst zum ersten (und ­ Die Vorverurteilungen in Teilen der türkischen
hoffentlich letzten) Mal vor einem Gericht ­ Medien im Juli und August 2017, in denen ich
gegen Terrorismusvorwürfe verteidigt. der Spionage und der Unterstützung von Terror­
organisationen bezichtigt wurde. Im Rahmen
War 2017 besser oder schlechter, als Sie es dieser Veröffentlichungen wurden auch Seiten
Silvester 2016 erwartet hatten? aus der unter Verschluss befind­lichen Prozess-
Die Zeit in den türkischen Gefängnissen war akte gegen mich geleakt, zu denen nicht einmal
wegen der Haftbedingungen belastend: Briefe unsere Anwälte Zugang hatten.
gingen nicht durch, telefonieren konnte ich
mit meiner Familie nur alle 14 Tage für zehn Was haben Sie 2017 Wichtiges gelernt?
Minuten. Gleichzeitig war die Solidarität ­ Schon als ich zu Oberschulzeiten mit Amnesty
unter uns Gefangenen und auch von draußen ­ International Briefe an politische Gefangene
bewegend, stärkend und inspirierend. schrieb, dachte ich mir: »Das muss sich ­
irgendwie gut anfühlen, nicht vergessen zu
Wer war für Sie 2017 eine Hoffnung? sein, eine Öffentlichkeit draußen zu haben.«
Das türkische Anwaltsteam und das große ­ Seit diesen 113 Tagen weiß ich: Das stimmt.
Solidaritätsnetzwerk, das uns Gefangene, die
»Istanbul 10«, in der Haft unterstützt hat. Was war Ihr schönster Ort?

So gut kann
Im Gefängnis habe ich davon geträumt, mit
Was war Ihr persönlicher Sieg 2017? meiner Familie in der Natur zu sein.
Ich bin in meiner Gefängniszelle parallel zum
Berlin-Marathon am 24. September meinen Und Ihre beste Tat?
eigenen Halbmarathon gelaufen – auf 4,8 mal Im unterirdischen Gewahrsam des Polizei­

Bier schmecken.
7,2 Metern. präsidiums von Vatan in Istanbul gelang es
Fotos (Ausschnitte): Thomas Victor für DIE ZEIT (o. l.); Dominik Butzmann/laif (o. r.); Yasin Akgul/AFP/Getty Images (u. l.)

mir, mit meinen Mitgefangenen kurze


Worüber haben Sie sich am meisten gefreut? Entspannungs-Work­shops auf dem Zellen-
Über unsere Freilassung am 25. Oktober. gang zu machen.
Und dass ich wenige Tage später den vierten
Geburtstag meiner Tochter mitfeiern konnte. Wie lautet Ihre Überschrift für das Jahr
2017?
Und worüber am stärksten geärgert? Selbstfürsorge ist Widerstand.
Am meisten ärgere ich mich über die zuneh-
menden Beschränkungen der Aktivitäten von Was war für Sie der spannendste Moment?
zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie sie Da gab es zwei: die beiden Gerichtstage in ­
seit einigen Jahren leider nicht nur in der Istanbul. Beim ersten am 17. Juli wurde nach
Türkei, sondern weltweit zu beobachten sind. mehr als zwölf Stunden Anhörung unsere ­
Untersuchungshaft auf unbestimmte Zeit ­
Was war für Sie die größte Überraschung? angeordnet. Am 25. Oktober wurden dann
Die Polizeirazzia am 5. Juli 2017 auf der ­ zehn von uns elf Angeklagten freigelassen, ­
türkischen Insel Büyükada, während der neun jedoch nicht freigesprochen.
andere Menschenrechtler und ich festgenom-
men wurden. Wir hatten dort gerade eine Welche der Fragen, die Sie beschäftigen, ist
Schulung zum Umgang mit Stress und ­ auch 2017 unbeantwortet geblieben?
Traumata, es ging auch um Datensicherheit. Wie können wir andere Menschenrechtler und
Ein Routinetraining – und sicher kein Anlass vor ­allem auch deren Familien und Freunde
für einen Anti-Terror-Einsatz. weltweit sichtbar machen und stärken?

Was haben Sie 2017 vermisst? Was wünschen Sie Deutschland für 2018?
Fast vier Monate lang vermisste ich vor Ich wünsche mir von uns allen klare politische
allem meine Familie und meine Freunde, ­ Botschaften zur Umsetzung von Menschen-
gefehlt haben mir aber auch die Natur rechten weltweit. Auch bei uns, zum Beispiel
und künstle­rische Inspiration. zum Schutz von Geflüchteten.
10 JAHRESRÜCKBLICK 2017 POLITIK 4. DEZEMBER 2017 No 50

Das Jahr in Torten VON K ATJA BERLIN

Wahlkampfsommer Was in Deutschland


2017 gestiegen ist

Wahlkampf Sommer Die Laune Die Mieten

Präsident Trumps Wer einem zu


politische Erfolge Hause zuhört

Immerhin noch kein Atomkrieg Die Kinder Der Partner Alexa

Parteien Künstler in den Wofür wir 2017 der Was sich durch das dritte Geschlecht
2017 Schlagzeilen EU dankbar waren und die »Ehe für alle« ändert

100 %

80 %
Wahrscheinlichkeit

60 %

40 %

20 %

0%

Populär Nachrufe Wirtschaftliche Stabilität Man darf Alle Toiletten Niemand weiß Es dreht Minderheiten
Populistisch Neue Alben, Bücher und Filme Wahrung der Menschenrechte überhaupt nicht werden mehr, wie man sich alles nur bekommen
Was?! Der war auch übergriffig??? Wegfall der Roaming-Gebühren mehr Mann umgebaut Menschen noch um Bürgerrechte
oder Frau sein ansprechen soll Intersexuelle
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12 JAHRESRÜCKBLICK 2017 POLITIK 4. DEZEMBER 2017 No 50

1. Januar: Im Istanbuler Nachtclub Reina erschießt der Stimmen (2013 waren es 41,5). Die SPD fällt
ein Attentäter 39 Menschen. Die Terrormiliz »Isla- auf ein Rekordtief von 20,5 Prozent und verliert
mischer Staat« reklamiert die Tat für sich. Es ist der damit gut 5 Prozent im Vergleich zu 2013. Dritt-
erste von bislang rund 60 isla­mis­tischen Anschlä- stärkste Kraft wird die AfD mit 12,6 Prozent. Der
gen in diesem Jahr. FDP gelingt mit 10,7 Prozent der Wiedereinzug in
den Bundestag. Leicht zulegen können Linke
17. Januar: Im zweiten Verfahren gegen die rechts- (9,2 Prozent) und Grüne (8,9). Der SPD-Kanzler-

2017
extreme NPD entscheidet sich das Bundesverfas- kandidat Martin Schulz schließt eine Regierungs-
sungsgericht in Karlsruhe gegen ein Verbot. beteiligung noch am Wahl­abend aus und kündigt
Der thüringische AfD-Chef Björn Höcke bezeichnet an, mit seiner Partei in die Opposition zu gehen.
das Berliner Holocaust-Mahnmal als »Denkmal der
Schande« und fordert eine »erinnerungspolitische 25. September: In den Kurdengebieten des Irak
Wende um 180 Grad«. wird ein umstrittenes Unabhängigkeitsreferendum
abgehalten. Fast 93 Prozent der Wähler stimmen
20. Januar: Donald Trump tritt als 45. Präsident der für eine Abspaltung.
Vereinigten Staaten sein Amt an. In seiner Inaugura-
tionsrede wiederholt er sein Versprechen, Amerika 1. Oktober: In Las Vegas erschießt ein Mann aus
»great again« zu machen, und seine Forderung »Ame- dem Zimmer eines Hotels 58 Besucher eines Mu-
rica first!«. Tausende demonstrieren in den Wochen sikfestivals und verletzt mindestens 520. Wenig
danach in den USA und anderen Ländern gegen später, am 5. November, tötet ein Amokläufer in
Rassismus, Sexismus und Nationalismus. Sutherland Springs, Texas, 26 Menschen.

27. Januar: Trump unterzeichnet die erste Version 5. Oktober: Die New York Times berichtet von se-
seines Einreiseverbots für Bürger von sieben musli- xuellen Übergriffen des Hollywood-Produzenten
mischen Staaten. Schon wenige Tage später wird es, Harvey Weinstein. In den folgenden Wochen kom-
nach tumultartigen Szenen an den Flughäfen, von men immer weitere Details ans Licht, und bald
einem Bundesrichter gekippt. Bis jetzt konnte Trump geht es nicht mehr nur um Weinstein: Infolge von
die Regelung nur in Teilen durchsetzen. Tausenden Wortmeldungen unter dem Twitter-
Hashtag #MeToo entwickelt sich eine weit über die
29. Januar: Der SPD-Parteivorstand nominiert USA und die Filmbranche hinausreichende Debatte
Martin Schulz als neuen Parteivorsitzenden und über Sexismus und sexualisierte Gewalt.
Kanzlerkandidaten. Sigmar Gabriel verzichtet auf
beide Funktionen. In den folgenden Wochen legt 11. Oktober: Das Bundesumweltministerium gibt
die Partei in Umfragen deutlich zu und gewinnt bekannt, dass Deutschland seine Klimaschutzziele
Tausende neue Mitglieder. Die Schulz-Begeiste- deutlicher verfehlen wird als bislang bekannt.
rung kennt keine Grenzen.
15. Oktober: Die »neue Volkspartei« (ÖVP) wird
31. Januar: Die rumänische Regierung verabschie- Trump und Macron, Terror und Hunger, Krieg im Nahen Osten und unter Führung des 31-jährigen Sebastian Kurz zur
det eine Eilverordnung, die Hunderten wegen stärksten Kraft (31,5 Prozent) bei der Parlamentswahl
Amtsmissbrauch angeklagten Politikern Amnestie beinahe Krieg mit Nordkorea: Chronik eines stürmischen Jahres in Österreich; die rechte FPÖ legt ebenfalls zu und
gewährt. Mehrere Hunderttausend Bürger protes- erzielt 26 Prozent der Stimmen. Im Wahlkampf hat
tieren daraufhin wochenlang gegen ihre Regierung. Kurz vor allem ein Thema bedient: die Angst vor
Einwanderung und Flüchtlingen.
Ende Januar: Während die EU über eine Koope- Bei der Wahl in Niedersachsen gewinnt die
ration mit Libyen in der Flüchtlingsfrage berät, SPD mehr als vier Prozent hinzu und geht mit
kritisieren deutsche Diplomaten die Bedingungen 36,9 Prozent der Stimmen als Sieger hervor. Die
in libyschen Lagern; es herrschten dort »KZ-ähn- Wahlen waren vorgezogen worden, weil die Grüne
liche Zustände«. Elke Twesten am 4. August zur CDU gewechselt
war und damit die hauchdünne rot-grüne Regie-
12. Februar: Die Bundesversammlung wählt den rungsmehrheit kippte.
bisherigen Außenminister Frank-Walter Stein­meier
(SPD) zum neuen Bundespräsidenten. 17. Oktober: Soldaten der syrischen Armee befreien
die »IS-Hauptstadt« Rakka im Norden Syriens.
15. Februar: Das Europaparlament in Straßburg
stimmt dem Freihandelsabkommen Ceta mit Ka- 21. Oktober: Die 2011 gegründete populistische
nada zu. Im September tritt es in Kraft. »Ak­tion unzufriedener Bürger« (Ano) mit ihrem
Mueller soll als Sonderermittler aufklären, ob und 14. Juli: In der Jerusalemer Altstadt erschießen drei reicht damit einen vorläufigen Höhepunkt. Kim Spitzenkandidaten, dem Milliardär Andrej Babiš,
20. Februar: Die Vereinten Nationen rufen für den wie Russland Einfluss auf den US-Wahlkampf arabische Israelis zwei israelische Polizisten. Israel ver- Jong Un droht mit einem Angriff auf die Pazifik- gewinnt die Parlamentswahlen in Tschechien.
Südsudan den Hungernotstand aus. genommen hat. Die Affäre um die Russlandkon- schärft daraufhin die Sicherheitskontrollen am Tem- insel Guam, auf der sich ein Militärstützpunkt der
takte zieht seit Beginn von Trumps Amtszeit im- pelberg, was zu Protesten und gewaltsamen Über- USA befindet. Trotz der Spannungen halten ame- 24. Oktober: Der chinesische Staatschef Xi Jin-
15. März: Die Niederländer wählen ein neues Par- mer weitere Kreise: Im Februar stürzt Sicherheits- griffen von palästinensischer Seite führt. rikanische und südkoreanische Streitkräfte ihr jähr- ping wird für weitere fünf Jahre regieren. Der
lament. Die konservativ-liberale Volkspartei von berater Michael Flynn über Falschaussagen. Dann liches gemeinsames Manöver ab. Pjöngjang feuert 19. Parteitag der KP bestätigt ihn im Amt und hebt
Ministerpräsident Mark Rutte wird mit 21,3 Pro- gerät Justizminister Jeff Sessions ins Visier. Am 28. Juli: Nach monatelanger Debatte um die Ret- im September eine Rakete ab, die über Japan hin- ihn auf eine Stufe mit Staatsgründer Mao Zedong.
zent stärkste Kraft, gefolgt von der Ein-Mann-­Partei 9. Mai entlässt Trump FBI-Chef ­James Comey tungsschiffe, mit denen Nichtregierungsorganisa- wegfliegt, und testet eine Wasserstoffbombe.
des Rechtspopulisten Geert Wilders (13,1 Prozent). wegen seiner beharrlichen Ermittlungen. Trump tionen Flüchtlinge aus dem Mittelmeer bergen, 26. Oktober: Das Bundeskriminalamt veröffent-
Die Regierungsbildung wird sich bis zum Oktober selbst habe geheime Informationen an den russi- beschließt die italienische Regierung, ihre Marine 12. August: In Polen tritt trotz scharfer Kritik der licht Zahlen zur Entwicklung rechtsextremer
hinziehen. schen Außenminister Sergej Lawrow weitergelei- zur Unterstützung der libyschen Küstenwache ein- Europäischen ­Union eine Justizreform in Kraft, Straftaten. Für das Jahr 2017 zählt es bisher 213
tet, berichtet kurz darauf die Washington Post. zusetzen. Die freiwilligen Helfer sind gezwungen, die es dem Justizminister ermöglicht, Gerichtsvor- von Rechts­extre­mis­ten verübte Angriffe auf Asyl-
22. März: Ein islamistischer Attentäter fährt in sich zurückzuziehen. Bis Ende November ertrinken sitzende ohne Grund zu entlassen und durch neue unterkünfte. Das sind deutlich weniger als in den
eine Menschenmenge auf der Westminster B ­ ridge 22. Mai: Nach einem Popkonzert in Manchester nach Angaben der International Organization for Kandidaten zu ersetzen. Bereits im Juli hat die EU beiden Vorjahren, wo die Zahl mehr als viermal so
in London. Sechs Menschen sterben. sprengt sich ein Selbstmordattentäter im Foyer der Migration mindestens 3000 Flüchtende im Mittel- ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen we- hoch lag, aber rund dreimal so viele wie 2013.
Konzerthalle in die Luft und reißt 22 Menschen meer. 2016 waren es etwa 5000. Die Zahl der Flüch- gen der geplanten Reform eingeleitet.
29. März: Brexit – Großbritannien leitet seinen mit in den Tod. Der »Islamische Staat« bekennt tenden, die Deutschland erreichen, geht 2017 stark In Charlottesville, Virginia, versammeln sich 27. Oktober: Katalonien-Krise: Knapp vier Wo-
Austritt aus der Europäischen ­Union ein. In zwei sich zu dem Blutbad. zurück: Zwischen Januar und Oktober nahm das Rechtsextremisten, Neo­nazis und Mitglieder des chen nach dem umstrittenen Unabhängigkeitsrefe-
Jahren soll der offizielle Austritt erfolgen. Bundesamt für Mi­gra­tion und Flüchtlinge 187 226 Ku-Klux-Klans, um gegen die Demontage einer rendum vom 1. Oktober erklärt die spanische Zen-
1. Juni: US-Präsident Donald Trump kündigt den Asyl­anträ­ge entgegen. 2016 waren es 745 545 Erst- Statue des Konföderierten-Generals Robert F. Lee tralregierung die katalanische Regionalregierung
3. April: Bei einem islamistischen Selbst­ mord­ Austritt der USA aus dem Pariser Klima­schutz­ und Folgeanträge. zu protestieren, und attackieren antirassistische unter Carles Puigdemont für abgesetzt.
anschlag in der St. Petersburger Metro kommen 14 abkom­men an. Gegendemonstranten. Eine junge Frau wird getö- Die insolvente Fluggesellschaft Air Berlin stellt­
Menschen durch einen Sprengsatz ums Leben. 2. August: Auf dem ersten »Dieselgipfel« kommen tet. Donald Trump distanziert sich nur halbherzig ihren Betrieb ein.
3. Juni: In London werden acht Menschen getö- Politik und Autoindustrie zusammen, um Fahr- von den rechten Ausschreitungen. Es habe »Ge-
7. April: Nachdem das syrische Regime Giftgas tet, als islamistische Terroristen mit einem Liefer- verbote für Dieselfahrzeuge in den Städten abzu- walt von allen Seiten« gegeben. 5. November: Die Veröffentlichung der Para­dise
gegen Zivilisten eingesetzt hat, lässt US-Präsident wagen auf der London ­Bridge Passanten überfah- wenden. Infolge des 2015 aufgedeckten VW-Ab- Papers durch ein Netzwerk investigativer Journa-
Donald Trump den Militärflugplatz Al-Schairat ren und die Besucher eines Marktes mit Messern gasskandals gab es das ganze Jahr über weitere Ent- 15. August: Der kolumbianische Präsident Juan listen erregt weltweit Aufsehen. Die Dokumente
bombardieren. attackieren. hüllungen über Betrügereien und Kartellabspra- Manuel Santos erklärt den mehr als 50 Jahre wäh- belegen, wie Großunternehmen und Mil­liar­dä­re
In Stockholm tötet ein islamistischer Attentäter chen unter Autokonzernen und Zulieferern. Poli- renden Konflikt mit den Guerilla-Kämpfern der hohe Summen am Fiskus vorbeischleusen.
fünf Menschen, als er mit einem Lkw in eine Fuß- 5. Juni: Saudi-Arabien schmiedet eine Allianz, tiker fordern das Ende des Verbrennungsmotors. Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) für
gängerzone fährt. um das mit dem Iran verbündete Katar zu isolie- be­endet. 6. November: Die von Saudi-Arabien geführte
ren. Der reiche Kleinstaat ist einer von vielen 8. August: Donald Trump droht Nordkorea wegen Militärkoalition riegelt die See- und Flughäfen des
16. April: In der Türkei wird über die Einführung Schauplätzen des Konfliktes zwischen dem sun- fortgesetzter Raketen- und Atombombentests mit 17. August: Auf der Flaniermeile Las Ramblas in Jemen ab. Millionen Menschen sind in dem Bür-
des umstrittenen Präsidialsystems abgestimmt, nitischen Königreich Saudi-Arabien und dem »Feuer und Wut, wie sie die Welt noch nicht gesehen Barcelona rast ein Terrorist in einem Lieferwagen in gerkriegsland dem Hunger ausgeliefert.
das dem amtierenden Präsidenten Recep Tayyip­ schiitischen Iran. Die beiden Regionalmächte hat«. Die 2017 erneut entbrannte Korea-Krise er- eine Gruppe von Passanten. 14 Menschen sterben.
Erdoğan quasidiktatorische Vollmachten verlei- bekämpfen ein­an­der in einem blutigen Stellver- 14./15. November: Der 93-jährige Diktator Robert
hen soll. 51,4 Prozent stimmen türkischen Angaben treterkrieg im Jemen. 18. August: US-Präsident Donald Trump trennt Mugabe, der Simbabwe seit 37 Jahren regiert, wird
zufolge mit Ja. Weil deutsche Stellen türkische sich von seinem umstrittenen Chefstrategen und vom Militär unter Hausarrest gestellt. Am 21. No-
Wahlkampfveranstaltungen abgesagt hatten, warf 8. Juni: Bei der vorgezogenen Parlamentswahl in Berater ­Steve Bannon. Schon wenige Wochen zu- vember tritt er zurück, nachdem das Parlament ein
Erdoğan der Bundesregierung »faschistische Me- Großbritannien kann die Labour Party die größ- vor ist es zu hektischen Umbesetzungen im Wei- Amtsenthebungsverfahren eingeleitet hat.
thoden« vor. ten Gewinne verbuchen. Premierministerin The- Gestorben ßen Haus gekommen, als Trump kurzzeitig den
resa May, die im April die Neuwahlen angekündigt New Yorker Ex-Banker Anthony Scaramucci zum 19. November: Nach mehrwöchigen Verhand-
26. April: Der Skandal um den Oberleutnant hatte, um sich ein Mandat für ihren harten Brexit- Kommunikationsdirektor machte. lungen zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen
Franco A., der verdächtigt wird, mit Komplizen Kurs zu holen, verfehlt die absolute Mehrheit und 7. Januar: Mário Soares, ehemaliger lässt die FDP die Sondierungsgespräche zur Bil-
Anschläge auf Politiker geplant und Weltkriegs- bildet mithilfe der nordirischen DUP eine Min- portugiesischer Premierminister 25. August: Der seit Jahrzehnten ungelöste Kon- dung einer »Ja­maika-­Koa­li­tion« platzen.
devotionalien gehortet zu haben, löst eine De- derheitsregierung. und Präsident (92) · 10. Januar: flikt mit der muslimischen Minderheit der Ro-
batte über die Bundeswehr aus. Im November Roman Herzog, Bundespräsident hingya in Myanmar eskaliert: Nachdem aufstän- 22. November: Die Richter des UN-Kriegsverbre-
wird Franco A. aus der Haft entlassen. 30. Juni: Gleiches Recht für Lesben und Schwule: 1994–1999 (82) · 18. März: Chuck dische Rohingya Polizeistationen und Kasernen chertribunals zum früheren Jugoslawien in Den Haag
Der Bundestag beschließt die »Ehe für alle«. Berry, Musiker (90) · 12. April: angegriffen haben, schreitet das Militär ein. Hun- verurteilen den bosnisch-serbischen Ex-General
7. Mai: Proeuropäischer Elan schlägt rechte Anti- Michael Ballhaus, Kameramann (81) derttausende fliehen vor der Militärgewalt nach Ratko Mladić wegen Völkermord und Verbrechen
EU-Propaganda. Emmanuel Macron gewinnt mit 5. Juli: In der Türkei wird, gemeinsam mit ande- · 23. Mai: Roger Moore, Bangladesch, wo bereits etwa 400 000 muslimi- gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft.
seiner Bewegung »En M ­ arche!« 66,1 Prozent der ren Menschenrechtsaktivisten, der Deutsche Peter Bond-Darsteller (89) · 16. Juni: sche Flüchtlinge aus Myanmar unter erbärmli-
Stimmen in der zweiten Runde der französischen Steudtner festgenommen. Auf Vermittlung durch Helmut Kohl, Bundeskanzler chen Umständen in Lagern leben. 27. November: Die EU-Kommission verlängert die
Präsidentschaftswahlen gegen Ma­rine Le Pen, die Altkanzler Gerhard Schröder (SPD) kommt er am 1982–1998 (87) · 5. Juli: Joachim Zulassung des umstrittenen Pflanzenschutzmittels
Vorsitzende des rechten Front National. 25. Oktober frei. Der Ende 2016 verhaftete Welt- Meisner, Kardinal (83) · 10. Juli: 25. August bis 30. September: Binnen weniger Glyphosat um fünf weitere Jahre. Auch der deutsche
Journalist Deniz Yücel sitzt weiterhin in Untersu- Peter Härtling, Schriftsteller (83) · Wochen fegen drei Hurrikans über das nordame- Landwirtschaftsminister Chris­tian Schmidt (CSU)
7. und 14. Mai: Doppelter Dämpfer für den gefei- chungshaft. 13. Juli: Liu Xiaobo, Schriftsteller rikanische Festland und die Karibik hinweg. Mehr stimmt dem zu – und ignoriert die Haltung der SPD-
erten SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz bei und Friedensnobelpreisträger (61) · als 140 Menschen kommen ums Leben, es entste- Umweltministerin Barbara Hendricks, die sich zuvor
den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und 7./8. Juli: In Hamburg versammeln sich die Re- 31. Juli: Jeanne Moreau, hen Schäden in dreistelliger Milliardenhöhe. An- gegen das Vorhaben ausgesprochen hat. Tage­lang
Nordrhein-Westfalen: In beiden Ländern wird gierungschefs der G20-Staaten. Zehntausende Schauspielerin (89) · 20. August: fang September sterben infolge massiver Über- belastet Schmidts Alleingang das Verhältnis zwischen
eine Regierung abgewählt, die von So­zial­demo­kra­ protestieren friedlich gegen den Gipfel. Es kommt Jerry Lewis, Komiker (91) · schwemmungen in Bangladesch, Nepal, Indien SPD und ­Union.
ten geführt wurde. aber auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen 12. September: Heiner Geißler, und Pakistan mehr als 2100 Menschen.
zwischen Polizei und linksautonomen Demons- ehemaliger CDU-Generalsekretär Zusammengestellt von Christian Staas
17. Mai: Hat Moskau Donald Trump zum Sieg tranten sowie zu Brandstiftungen, Krawall und (87) · 24. Oktober: Fats Domino, 24. September: Bundestagswahl. Die Union wird Mitarbeit: Paul Schwenn
verholfen? Der ehemalige FBI-Direktor Robert Plünderungen. Musiker (89) stärkste Kraft, erreicht aber nur noch 33 Prozent (Redaktionsschluss: 30. November, 18 Uhr)
DOSSIER
4. D e z e m b e r 2017 DIE ZEIT No 50

13
J A H R E S R Ü C K B L I C K 2 0 1 7

»Es haben nicht nur


Verlierer AfD gewählt!«

Foto: Thomas Victor für DIE ZEIT


Lars-Detlef Kluger, 47,
auf dem Dach des Dresdner
Mehrfamilienhauses,
in dem er wohnt

Der Mensch des Jahres 2017, das waren viele Menschen – ostdeutsche Männer nämlich. Mit einem, Lars-Detlef Kluger
aus Dresden, haben CHRISTIAN BANGEL und MARTIN MACHOWECZ (auch Ostdeutsche!) über die AfD, Pegida und sächsische Wut gesprochen

DIE ZEIT: Herr Kluger, herzlichen Glückwunsch! Karrierepolitiker, die in ihrem Leben nichts anderes ganz anders ausgefallen ist als im Westen – dann Anti-Atomkraft-Bewegung. Letztere hat Gleise Si­tua­tion zu verbessern, indem ich meine Mei­
Lars-Detlef Kluger: Wozu? Warum? als Politik gemacht haben. Die von ihrem Amt ab­ habe ich meine eigene These. unterhöhlt, Schienen blockiert, Polizisten verprü­ nung sage, wenn Sie mir die Möglichkeit dazu­
ZEIT: Sie sind der Mann des Jahres, besser gesagt: hängig sind. Und deshalb vom Ja­sagen. ZEIT: Nämlich? gelt – um eine aus ihrer Sicht falsche Politik zu geben. Und da kommen wir zu dem, was ich mir
einer von Millionen Männern des Jahres. Über Kluger: Ich bin 1970 geboren. In meinem Leben verändern. Und diese Anti-Atomkraft-Bewegung 1989 vorgenommen habe: Ich habe mir damals
kaum jemanden wurde 2017 in Deutschland so Lars-Detlef Kluger, 47, hat zum Gespräch in seine habe ich 19 Jahre Unfreiheit und Diktatur ken­ hat man mit unendlicher Toleranz behandelt. geschworen, nie wieder feige zu sein.
viel gerätselt wie über Sie: den ostdeutschen Mann. Dresdner Wohnung geladen, nicht weit vom Elb- nengelernt, das unterscheidet mich, uns Ostdeut­ ZEIT: Finden Sie? Vor allem in den Anfangsjah­ ZEIT: Waren Sie vorher feige?
Kluger: Ich weiß schon, dass Sie mit mir reden ufer. Hier lebt er mit seiner Frau und fünf Kindern sche, von Westdeutschen. Ich bin sogar froh, dass ren wurde sie doch medial und politisch hart Kluger: Ich hatte 1989, beim Mauerfall, zumin­
wollen, weil ich ein Ostmann bin. Aber ich finde zwischen 6 und 17 Jahren im Dachgeschoss eines ich diese Unfreiheit erlebt habe. Andauernd muss­ bekämpft. Die Bild-Zeitung machte keinen gro­ dest das Gefühl, auf der falschen Seite der Ge­
dieses Konstrukt Ostmann ein bisschen eigenartig. Mehrfamilienhauses. Gleich am Eingang: eine ten Männer wie ich mich fragen: Wie muss ich ßen Unterschied zwischen der Anti-AKW-Szene schichte zu stehen. Aber um das zu erklären, müsste
ZEIT: Wir sind selbst ostdeutsche Männer, nur Deutschlandfahne, daneben allerlei Dynamo-Dres- mich verhalten, wenn ich einen Platz in der Er­ und Terroristen. ich ausholen.
etwas jünger, und möchten mit Ihnen ge­wis­ser­ den-Utensilien. Im Wohnzimmer ein kleiner PC- weiterten Oberschule bekommen will? Welche Kluger: Wissen Sie, wie man Pegida niedergemacht ZEIT: Wir haben Zeit.
maßen von Ostmann zu Ostmann diskutieren. Arbeitsplatz. Kluger trägt Hemd und Anzug. Er Konsequenzen hat die Entscheidung, wie lange ich hat? Man nannte die Demonstranten »Misch­ Kluger: Mein Vater ist 1959 als sehr junger Mann
Kluger: Aber ich sage Ihnen gleich: Ich rede nicht wirkt ruhig, spricht langsam, nie merkt man ihm zur Armee gehe, für meinen späteren Lebensweg? poke«, »Mob« und »Meute«, ein Innenminister hat für zwei Jahre im DDR-Knast gelandet, weil er an­
stellvertretend für alle anderen. Ich spreche nur Zorn oder Ärger an. Solche Fragen musste sich kein Westdeutscher »Rattenfänger« gesagt. In den vergangenen Jahren geblich staatszersetzende Sätze gesagt hatte. Einer
für mich. meiner Ge­ne­ra­tion stellen. wurden konservative Positionen ausgegrenzt und dieser Sätze lautete: »Das DDR-Wohnungsbaupro­
ZEIT: Eine unserer Kolleginnen hat Sie vor einigen ZEIT: Herr Kluger, ehe wir über die großen Fragen ZEIT: Sie mussten die DDR durchstehen. Aber Sie linke Positionen hofiert. gramm wird nicht funktionieren, weil man von den
Jahren in Dresden bei einer Po­diums­dis­kus­sion sprechen: Wo haben Sie den Abend der Bundes­ haben es geschafft und sind sogar Schulleiter ge­ ZEIT: Wegen dieses Gefühls einer Ungleichbe­ niedrig subventionierten Mieten die Häuser nicht
kennengelernt: als einen Mann, der sich über die tagswahl verbracht? Hier zu Hause, im Sessel? Und worden. handlung sind Sie zu Pegida gegangen? instand halten kann.« Sie können sich vorstellen,
herrschenden Zustände so sehr aufregte, dass er waren Sie vom Ausgang überrascht? Kluger: Bin ich, auch wenn das für meine Positio­ Kluger: Erst einmal: Ich brülle nicht, ich verwende dass diese Haftstrafe die Art prägte, wie mein Vater
sich an Pegida-Demos beteiligte. Haben Sie bei der Kluger: Ich saß hier, wo ich auch jetzt sitze, vorm nen und dieses Interview keine Rolle spielt. Was keine Schimpfwörter. Ich bin zu Pegida gegangen, noch viele Jahre später uns Kinder erzog.
Bundestagswahl für die AfD gestimmt? Fernseher. Zwei Tage vorher hatte ich mit Freun­ ich meine, ist: Die Angst vor Unfreiheit ist größer, weil ich das Gefühl hatte, unser Land braucht Ver­ ZEIT: Wie genau?
Kluger: Wir haben immer noch ein Wahlgeheim­ den auf das Wahl­ergeb­nis gewettet – und was soll wenn man sie erlebt hat. Ostdeutsche sehen es änderung. Pegida war damals etwas ganz anderes Kluger: Er hat uns Kindern sehr detailliert den
nis, das gilt sogar für Ostmänner, und das nehme ich sagen? Es ist das herausgekommen, was wir kritischer, wenn diese Unfreiheit auch nur ansatz­ als heute. Die Leute haben sich seit 2015 radikali­ Unterschied erklärt zwischen »Was sagen wir zu
ich für mich in Anspruch. Aber ich kann Ihnen sa­ vermutet hatten. Bei der AfD hatten wir für das weise wiederzukommen scheint. Schon bei leisen siert. Bis ins Frühjahr 2015 war ich bei den Kund­ Hause?« und »Was sagen wir in der Schule?«. Das
gen, dass ich 20 Jahre CDU-Mitglied war. Silvester bundesweite Ergebnis alle zwischen 12 und 14 Tendenzen werden wir wachsam: Es gab in den gebungen. Schon damals habe ich nicht alles gut war typische DDR-Erziehung, aber noch ver­
2015 bin ich ausgetreten. Diesmal habe ich die Prozent vorhergesagt. Dass die Partei im Osten 20 letzten Jahren in Sachen Meinungsfreiheit und gefunden, was ich dort gesehen habe. Und ich schärft: Du hast bitte in Staatsbürgerkunde eine
CDU nur noch mit der Erststimme wählen kön­ Prozent erreicht, hat mich aber schon überrascht. Medien einfach Entwicklungen, die viele Ostdeut­ habe auch länger überlegt, ob ich mich auf dieses Eins zu schreiben, aber zu Hause schauen wir uns
nen, weil der Kandidat hier im Wahlkreis sehr in ZEIT: Warum haben Ostdeutsche – mehr noch sche als schwierig angesehen haben. Männer haben Gespräch hier einlassen soll. jeden französischen Film an, den das DDR-Fern­
Ordnung ist. Ostmänner – so überdurchschnittlich oft AfD sich vielleicht noch eine Spur mehr darüber auf­ ZEIT: Warum? sehen bringt – um zu sehen, was für wunderschöne
ZEIT: Warum nicht mehr mit der Zweitstimme? gewählt? geregt, weil sie konfliktbereiter sind als Frauen. Kluger: Ich hätte es bequemer haben können. Als Städte es  außerhalb des Sozialismus gibt. Wir hör­
Kluger: Weil die Partei es zugelassen hat, dass alle Kluger: Lassen Sie mich erst einmal demokratie­ Auch wenn das nicht gendergerecht ist, das zu­ ich mich 2015 bei der Diskussionsrunde, von der ten auch Deutschlandfunk, auf Mittelwelle konnte
konservativen Positionen abgeräumt wurden, die theoretisch sagen: Ich finde es gut, dass ein nen­ sagen. Aber ich beobachte es. Sie sprachen, als Pegida-Demonstrant bekannt man das empfangen. Mache ich heute mit meinen
mir wichtig sind – angefangen bei der Familienpoli­ nenswerter Teil von Wählern, der sich bislang ZEIT: Wo zeigen sich Ihrer Meinung nach diese hatte, brachte mir das enormen Ärger ein. Ich will Kindern zum Frühstück immer noch.
tik, die eine siebenköpfige Familie wie meine völlig nicht repräsentiert fühlte, jetzt im Bundestag ver­ Tendenzen der Unfreiheit? auf keinen Fall, dass der Eindruck entsteht, ich ZEIT: Und die Tipps Ihres Vaters haben Sie als
vergisst. Das werfe ich dem Rest der Partei mehr vor treten ist. Man kann eben nicht dauerhaft knapp Kluger: Zentral finde ich das Messen mit zweierlei würde hier in meiner beruflichen Funk­ tion als Kind beherzigt?
als Frau Merkel selbst: Es hat keinen nennenswerten 15 Prozent der Menschen mit ihren Positionen Maß in fast jeder politischen Frage, insbesondere Schulleiter antworten. Ich bin Herr Kluger, der Kluger: Ja, mit einer gewissen Fröhlichkeit und
Widerstand gegen die Politik der Kanzlerin ge­ außerhalb des Parlaments halten. Dass der Ost­ me­dial. Privatmann. So ein Interview zu machen, eigene Lässigkeit. Ich fand es witzig, in Staatsbürgerkunde
geben. Die CDU ist zur nichtdiskutierenden Masse mann deshalb jetzt das große Schreckensbild sein ZEIT: Was meinen Sie damit? Positionen zu vertreten – das braucht Mut, das hat eine Eins zu kriegen und trotzdem zu wissen, dass
geworden. Und das liegt in erster Linie daran, dass soll, verstehe ich nicht ganz. Und wenn Sie mich Kluger: Stellen Sie sich vor, man hätte Pegida so etwas mit Zivilcourage zu tun. Aber wenn ich die
die Partei das tut, was alle Parteien tun: Sie befördert fragen, warum das Wahl­ergeb­nis im Osten zumeist viel Verständnis entgegengebracht wie früher der Medien kritisiere, muss ich schon mithelfen, die Fortsetzung auf S. 14
14 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

»Kohl wurde damals beschimpft wie Merkel heute. Das gehörte zum
Ritual, war angeblich lustig – und links. Merken Sie was?«
»Es haben nicht nur Verlierer ...« Fortsetzung von S. 13 Jahr ausgeben müssen. Dass es irgendwann eine Grenze
der Aufnahmefähigkeit gibt, ist doch klar.
ich nicht gern Bürger dieses Staates bin. Irgendwann ZEIT: Wir erleben Sie hier als ruhig sprechenden, zu-
habe ich angefangen, Skate­board zu fahren und die rückhaltenden Mann. Hat es Sie nicht gestört, dass Sie
Haare wachsen zu lassen. Ich war innerlich vollkom- bei Pegida in einer Reihe mit übelsten Hetzern standen?
men gegen diesen Staat. Pegida-Gründer Lutz Bachmann ist inzwischen wegen
ZEIT: Warum hatten Sie dann das Gefühl, 1989 auf Volksverhetzung verurteilt, weil er Flüchtlinge als »Vieh-
der falschen Seite zu stehen? zeug«, »Dreckspack« und »Gelumpe« bezeichnete.
Kluger: Weil ich den Mauerfall als Soldat in Berlin er- Kluger: Ich bin ja nicht zu Pegida gegangen, weil ich
lebt habe. Ich hatte mich für drei Jahre in der Armee alles gut fand, was da gesagt wurde. Da standen auch
verpflichtet. Vollidioten auf der Bühne. Ein Lutz Bachmann ist mir,
ZEIT: Obwohl Sie die DDR ablehnten? wie Sie sich vorstellen können, emotional sehr fremd.
Kluger: Das war der typische, gelernte Opportunismus: Aber es gab eben auch vieles, von dem ich sagte: Gut,
Will ich 100 Mark mehr Stipendium haben? Das wollte dass das endlich mal eine Öffentlichkeit bekommt. Ich
ich. Also habe ich mich entschieden, drei Jahre zur Ar- hatte gehofft, dass sich die moderateren Vertreter durch-
mee zu gehen. Als dann 1989 die Demonstrationen los- setzen. Dass vielleicht mal der Ministerpräsident vor
gingen, sind wir Soldaten auf einen Lkw befohlen wor- Tausenden seiner Bürger spricht. Aber er hat lieber eine
den, es ging zum Schutz von Gebäuden in die Stadt. Gegenveranstaltung organisiert. Die Polarisierung, die
Die Berliner unter uns mussten nicht mitfahren; sie entstand, hat Pegida radikalisiert. Außerdem bin ich
hätten ja auf ihre eigenen Familien treffen können. Ich nicht für jeden verantwortlich, der bei Pegida Parolen
aber musste mit. Ich weiß ich nicht, was ich gemacht brüllt. Und wenn doch, dann fragen Sie bitte genauso
hätte, wenn es Aus­ein­an­der­set­zun­gen gegeben hätte. hart, wer auf einer linken Demo wie bei G20 in Ham-
ZEIT: Wenn Sie hätten schießen müssen, meinen Sie ... burg denn so alles dem schwarzen Block hinterherläuft.
Kluger: ... ich kann jetzt auch nicht sagen: Ich wäre ein ZEIT: An einer Demo teilzunehmen, deren Teilnehmer
Held gewesen und wäre übergelaufen. Ich weiß es ein- Galgen mit der Aufschrift »Reserviert Angela Mutti Mer-
fach nicht. Aber ich habe damals beschlossen: Du hältst kel« tragen, die Schilder hochhalten wie »Alibaba und
nie wieder hinterm Berg mit deiner Meinung. Deshalb die 40 Dealer« – das finden Sie aber unproblematisch?
habe ich mich in der CDU engagiert, deshalb bin ich Kluger: Wissen Sie, was das bedeutet, Alibaba und die
später zu Pegida. 40 Dealer?
ZEIT: Es ist rassistisch. Weil es Araber pauschal zu Dea-
Kluger ist konzentriert, spricht leise, die DDR-Ge- lern erklärt.
Foto: Thomas Victor für DIE ZEIT

schichte geht ihm nahe. Hin und wieder taucht eines Kluger: Falsch. Das Plakat bezog sich konkret auf 40
seiner Kinder im Wohnzimmer auf. Er lässt sich davon Drogendealer, die sich wenige Tage vorher am Haupt-
nicht ablenken. Vor ihm liegen Notizen, mehrere eng bahnhof mit der Polizei geprügelt hatten, kurz festge-
beschriebene Seiten, auf denen er seine wichtigsten setzt wurden und am Abend wieder frei waren. Der
Punkte notiert hat. Ostdeutsche hat wirklich kein Verständnis für so etwas.
ZEIT: Wollen Sie bestreiten, dass Pegida von Anfang an
ZEIT: Sind Sie, abgesehen von der Armeezeit, jemals explizit den Islam als Feindbild hatte?
längerfristig weggegangen aus Dresden? Kluger: Wollen wir jetzt über Islamisierung reden?
Kluger: Nein. ZEIT: Gern.
ZEIT: Warum nicht? eben doch abhängig. Ich bin für Regeln, die sagen: Je- Kluger: In der Tat. Kluger: Dann lesen Sie, was Mathias Döpfner (Vor-
Kluger: Ich bin stolz auf meine Stadt. Hier ist die Säch- der Politiker muss noch einen Beruf haben, auch einige Lars-Detlef ZEIT: Wie soll sie das schaffen? Dafür müssten Aber- standsvorsitzender des Verlagshauses Axel Springer und
sische Schweiz, hier ist das Erzgebirge nicht weit, hier hat
man das Kulturangebot und den Fußballclub Dynamo
Jahre in diesem Beruf gearbeitet haben. Es sollte Amts-
zeitbegrenzungen geben, zwei Legislaturperioden. Auch
Kluger tausende Beamte eingesetzt werden.
Kluger: Es bräuchte nur ein paar Präzedenzfälle. Es gibt
Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsver-
leger, Anm. d. Red.) gerade geschrieben hat.
Dresden – mehr braucht man nicht auf der Welt. für Abgeordnete. Es sollte nur Wahlkreisabgeordnete in Dresden eine Stadtordnung, in der kann jeder lesen: ZEIT: Worauf spielen Sie an?
ZEIT: Sie haben hier auch studiert? geben, keine Parteilisten. Aber das ist gar nicht mein Schmeiße ich eine Zigarettenkippe auf die Straße, Kluger: Er hat geschrieben, dass mit diesem Frankfurter
Kluger: Ja. Lehramt, Geschichte und Deutsch, ich in- wichtigster Punkt. kam in Dresden zur kann mich das 50 Euro Strafe kosten. An jeder Bahn- Gerichtsurteil – das besagt, dass eine kuwaitische Air­
teressiere mich sehr für historische Zusammenhänge. Welt und lebt bis heute haltestelle steht: »Danke, dass Sie hier nicht rauchen.« line Israelis aussortieren darf, bevor sie aus Deutschland
ZEIT: Wenn es hier so schön ist, warum haben Sie dann Kluger blättert in seinen Notizen. Er spricht jetzt schnell. in seiner Geburtsstadt. Und vor dem Schild? Ein Meer an Kippen! Es müsste losfliegt – eine Unterwerfung begonnen habe. Ich den-
Pegida gebraucht? Man merkt: Er möchte unbedingt was loswerden. Der 47-Jährige leitet nur ab und zu jemand vorbeikommen und sagen: Du ke, Herr Döpfner ist clever. Der hat einen Aufhänger
Kluger: Weil es eben Dinge gibt, die mich bewegen! ein Berufsschulzentrum zahlst jetzt 50 Euro. Das würde sich rumsprechen. Wir gesucht, um seinen Konzern nach den gescheiterten
Zwei Gründe hatte ich Ihnen schon genannt. Das Mes- ZEIT: Was ist denn dann Ihr wichtigster Punkt? und unterrichtet Deutsch bräuchten jeden Tag jemanden an mindestens einer Jamaika-Sondierungen in eine andere politische Rich-
sen mit zweierlei Maß. Und das Prinzip Kreißsaal– Kluger: Die Erosion des Rechtsstaates. Ich verehre und Geschichte. Haltestelle, der abkassiert. Und wir bräuchten Medien, tung zu drehen, hin zu mehr Islam- und Merkel-Kritik.
Hörsaal–Plenarsaal. unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. In den Anfangszeiten die darüber berichten. Ich denke, mindestens die Sprin­ ger-­Medien werden
ZEIT: Dass Politiker also direkt von der Uni ins Parla- Dass der Rechtsstaat sein Recht nicht mehr durch- von Pegida nahm er ZEIT: Das ist Ihnen wichtig? deutlich umsteuern.
ment wechseln. setzt, häufig sogar bricht, kann ich gerade deshalb an Versammlungen und ­ Kluger: Das Problem ist umfassend. Ich habe neulich ZEIT: Sie glauben, das ist kalkuliert?
Kluger: Der Politiker absolviert sein Studium, wenn nicht akzeptieren. Demonstrationen teil eine Geschichte gehört: Ein Mann hat einem anderen Kluger: Ja klar. Der Zug soll jetzt in eine andere Rich-
überhaupt, wird dann für ein paar Monate als Referent ZEIT: Sie spielen auf die Flüchtlingspolitik an. mit einer abgebrochenen Glasflasche das Gesicht zer- tung fahren. Sie werden bald sehen, dass Springers Welt
in einem Ministerium geparkt und wird schließlich Kluger: Das beginnt schon bei viel banaleren Dingen! schnitten. Täter und Opfer leben im selben Dorf. Das anders berichtet. Man sieht es meiner Meinung nach
Abgeordneter. Und wenn er bis zum Abgeordneten- Bei der Verwahrlosung der Innenstädte zum Beispiel. Verfahren gegen den Täter kann aber nicht beginnen, jetzt schon.
mandat ein solches Leben geführt hat, wird er alles da- ZEIT: Was hat der Rechtsstaat damit zu tun? weil die Justiz mit dem Thema Asyl so stark belastet ist. ZEIT: Sie glauben, Journalisten würden aufgrund ei-
ransetzen, im System zu bleiben. Das hat Auswirkun- Kluger: Na, dass nichts gegen diese Verwahrlosung Und nun traut sich das Opfer nicht mehr in sein eige- nes politischen Kalküls ihres Medienhauses Merkel
gen auf die Frage: Welche Konflikte gehe ich ein? Bin getan wird. nes Dorf. Ich bin wirklich bereit, Geduld aufzubringen hoch- oder runterschreiben? Und für oder gegen den
ich bereit, meine Po­si­tion durchzusetzen? Nehme ich ZEIT: Sie finden, dass ausgerechnet Dresdens Innen- für rechtsstaatliche Verfahren. Aber diese Verfahren Islam berichten?
Risiken auf mich? stadt verwahrlost? müssen dann auch funktionieren. Deshalb muss man Kluger: Es geht darum, welche Themen es in die Zei-
ZEIT: Es gibt viele Politiker, die große Risiken auf Kluger: Gehen Sie mal aus meinem Wohnhaus hier auf das Personal massiv aufstocken. tung schaffen. Man kann durch Themensetzung die
sich nehmen und ein entbehrungsreiches Leben füh- die Straße. Schauen Sie sich den nächsten Laternenpfahl ZEIT: Sind Sie für ein Recht auf Asyl? Be­richt­erstat­tung beeinflussen. Machen wir es doch
ren. Allein die unzähligen Abende, die man bei Sit- an. Aufkleber irgendwohin zu kleben ist Sachbeschädi- Kluger: Selbstverständlich. konkret.
zungen verbringt, die Wochenenden. Ein Politiker gung. Aber Sie lächeln jetzt, denn über so was sprechen ZEIT: Aber auch für eine Obergrenze?
hat keinen Feier­abend. wir gar nicht mehr, das haben wir schon akzeptiert. Kluger: Ja. Es ist von der Regierung bestätigt, dass wir Kluger holt sein Smart­phone aus der Tasche und fängt
Kluger: Ich weiß das, ich saß selbst eine Zeit lang für ZEIT: Sie verlangen, dass die Polizei sich um Sticker an für Asylbewerber – ich sage bewusst nicht Flüchtlinge, an vorzulesen: Schlagzeilen von der Web­site der Zeitung
die CDU im Stadtrat. Aber viele sind von der Politik Laternen kümmert? weil das undifferenziert ist – 30 Mil­liar­den Euro im »Die Welt«. Er lässt sich nicht unterbrechen.

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4. DEZEMBER 2017 No 50 DOSSIER 15

»Geben Sie der AfD doch Zeit. Ihr wird keine Chance eingeräumt,
zu einer normalen Partei zu werden. Die Grünen durften das«
Kluger: »Friedrich Merz fordert Abkehr von Merkels zugutegehalten, er wolle die Gesellschaft positiv ver­ ZEIT: Stimmt. Ein Fußballer und ein Boxer aus dem ZEIT: Aber einen vollendet integrierten Deutschtür­
Politik«, »BKA soll neue Terrorismusabteilung bekom­ ändern. Ist ja auch klar: Zu sagen, wir machen Ener­ Osten, die zu gesamtdeutschen Identifikationsfiguren ken, einen Mann wie Cem Özdemir, der sogar hier
men«, »Merkel ist zu dem geworden, was niemand er­ gie jetzt aus Wind und nicht mehr aus Kernkraft – geworden sind. geboren ist – betrachten Sie den noch als Zuwanderer?
wartet hätte: ein Opfer«, »AfD setzt U­ nion bei Fa­mi­lien­ das klingt traumhaft. Nur dumm, wenn kein Strom Kluger: Also, auf Maske und Ballack wäre ich jetzt als Kluger: Er war es, der von Pegida als Mischpoke gere­
nac­hzug unter Druck«, »Eine Veränderung mit Merkel mehr aus der Steckdose kommt. Die Stadt Dresden Prototypen für unsere Ostmänner nicht gekommen. det hat. Wer andere als »Misch­poke« beschimpft, ist
ist nicht möglich«. lässt den Katastrophenschutz diesen Ernstfall bereits Ich denke eher an die Revolutionäre. Herbert Wagner, für mich nicht integriert. Ein hebräisches Wort für
ZEIT: Sie sagen also, es beginnt eine Anti-Merkel- trainieren – wegen der Energiewende. Was der der sich 1989 in der Gruppe der 20 eingebracht hat, »Familie« wird zur Diffamierung benutzt. Das war
Kampagne. Marsch der 68er durch die Institutionen gebracht also zu jenen Bürgern gehörte, die mit der SED über dem unbedachten Anti­semi­tis­mus nahe.
Kluger: »Stichprobenkontrollen an Flughäfen decken hat, kann ich tagtäglich beobachten. Meine Frau hat die Forderungen der Demonstranten verhandelten – ZEIT: Sie übertreiben.
tausend illegale Einreisen auf«. Soll ich weitermachen? fünf Kinder bekommen, jetzt studiert sie mit 40 und der für die CDU Dresdens erster Nachwende- Kluger: Nein. Komischerweise hat niemand anders
Ich lese die Welt jeden Tag. Eine solche Häufung, mi­ noch einmal Grundschullehramt. Es gibt zwei Päda­ Oberbürgermeister wurde. Oder Arnold Vaatz. Der den hebräischen Begriff Misch­poke als Beschimpfung
gra­tions­
kri­tisch und merkelkritisch, habe ich noch gogikseminare – nur zwei Seminare, in denen sie ler­ war ein Bürgerrechtler, der seinen Weg auch nach in den Mund genommen.
nicht erlebt. Ich denke, da werden durch die Springer- nen soll, vor Schülern zu stehen! Das eine befasst sich 1990 gegangen ist. Erst war er Minister in Sachsen, ZEIT: Herr Kluger, in Dresden besteht auf Jahrzehnte
Presse Themen lanciert. Bald ziehen alle anderen nach, mit Gender und das andere mit Armut. Darüber heute ist er Bundestagsabgeordneter. keine Gefahr, dass Muslime hier auch nur ansatzweise
werden Sie sehen. wundere ich mich schon. ZEIT: Was halten Sie von Joachim Gauck? die Mehrheit bilden könnten. Wieso ist Pegida ausge­
ZEIT: Wir schreiben doch nicht anders, weil Mathias ZEIT: Entschuldigung, Herr Kluger, aber auf uns wirkt Kluger: Den finde ich in Ordnung. Ein Ostdeutscher, rechnet hier entstanden?
Döpfner etwas gesagt hat. Aber das bekommen wir oft Ihre Geschichte vom linksdurchsetzten Land doch et­ der sich aus dem Bürgerrechtler-Zusammenhang zum Kluger: Der Dresdner Politikprofessor Werner Patzelt
zu hören bei Pegida und der AfD: dass wir nicht schrei­ was schal. Gerade in der ostdeutschen Provinz haben Bundespräsidenten entwickelt hat, ja. hat mal die Antwort gegeben: Wir dürfen auch gegen
ben dürfen, was wir wollen. Dass wir Themen von­ wir in den Neunzigern rechtsfreie Räume erlebt – weil ZEIT: Und Wolf Biermann? die Abholzung des Regenwalds demonstrieren, selbst
einem kleinen Kreis von Entscheidern vorgegeben be­ Rechte dort tun konnten, was sie wollten. Neo­nazis Kluger: Ja! Ich habe eines seiner Lieder auf dem wenn wir keinen Regenwald in Dresden haben.
kommen. Zumindest uns hat Angela Merkel noch nie verprügelten weitgehend ungestört Linke und Mi­gran­ Smart­phone. Ich lese es mir manchmal durch, dann
montagmorgens anrufen lassen, um mitzuteilen, worü­ ten. Wir haben es teilweise am eigenen Leib erfahren. geht es mir besser. Es heißt Ermutigung. »Du, lass dich Seit Stunden sitzen wir nun mit Kluger zusammen, es
ber wir diese Woche zu berichten haben. Bei uns hat Aber selbst Kurt Biedenkopf sagte: Die Ostdeutschen nicht verhärten in dieser harten Zeit. Die allzu hart ist dunkel geworden, der Kuchen auf dem Tisch wurde
auch noch nie ein Vorgesetzter eine bestimmte politi­ sind immun gegen Rechts­extre­mis­mus. Kaum einer hat sind, brechen, die allzu spitz sind, stechen und bre­ kaum angerührt. Klugers Frau kommt ins Wohnzim­
sche Haltung bestellt. widersprochen. chen ab sogleich.« mer und sagt, sie müsse gleich zu einer Abendveranstal­
Kluger: Aber ich denke, dass viele Journalisten sich ei­ Kluger: Natürlich muss Rechtsextremismus bekämpft ZEIT: Sie können es auswendig. tung. Das ist das Zeichen, zum Ende zu kommen. Auch
nem Main­stream anpassen, auch unterbewusst einfach werden – wie jede Form des Extremismus. Trotzdem Kluger: »Du, lass dich nicht verbittern in dieser bittren wenn Kluger, wie er versichert, gerne noch stundenlang
mitschwimmen. habe ich ein anderes Gefühl als Sie. Ich reflektiere Zeit. Die Herrschenden erzittern – sitzt du erst hinter weitersprechen würde.
ZEIT: Wir auch? Warum treffen Sie sich mit uns? das, was ich erlebe und seit den Neunzigern in der Gittern – doch nicht vor deinem Leid.« Genau.
Kluger: Ich sag es mal hemdsärmelig: Ich habe nicht Tagesschau sehe. ZEIT: Kann man das auch heute noch rufen? ZEIT: Herr Kluger, Sie haben fünf Kinder, Ihre älteste
den Eindruck, dass Sie mich in die Pfanne hauen­ ZEIT: Schämen Sie sich als Geschichtslehrer eigentlich Kluger: Nee. Heute müssen wir nicht hinter Gitter. Tochter ist bald volljährig. Streiten Sie manchmal?
wollen. für Männer wie Björn Höcke? Dafür, dass in der AfD ZEIT: Das werfen wir der AfD und Pegida vor: dass Kluger: Es kann schon mal sein, dass wir diskutieren,
ZEIT: Sondern? Platz ist für jemanden wie ihn? sie suggerieren, eine neue Diktatur stehe sozusagen weil morgens im Deutschlandfunk ein Beitrag läuft,
Kluger: Ich habe gelesen, was Sie so schreiben. Ich habe Kluger: Es ist unerhört, wenn Höcke das Berliner vor der Tür. Uns, die wir so sehr von der Demokratie der sie aufregt, oder eher mein Kommentar dazu. Es
den Eindruck, dass auch Sie sagen: Es war nicht alles Holo­caust-­Mahn­mal als eine Schande bezeichnet. Das profitieren, macht das wütend! Warum gestehen Sie ist als 17-jähriges Mädel aber nicht so leicht, mit mir
ausreichend differenziert in den letzten drei Jahren, und Mahnmal ist keine Schande, sondern ein angemesse­ der AfD diesen Unsinn zu? zu streiten ...
wir wollen uns um Differenziertheit bemühen. ner Umgang mit unserer Geschichte, auf den ich stolz Kluger: Ich gestehe denen das nicht zu. Im Großen ZEIT: Weil Sie so gerne recht behalten!
ZEIT: Dürfen wir Sie mal etwas fragen, das uns beson­ bin. Das versuche ich auch meinen Schülern zu ver­ und Ganzen glaube ich nicht, dass wir gefährdet sind, Kluger: (lacht) Ja, stimmt! Aber auch, weil man einfach
ders interessiert, weil es uns persönlich betrifft? mitteln: den Stolz darauf, dass wir nach 1945 Auf­ eine Diktatur zu werden. Die Bundestagswahl hat zu wenig weiß mit 17. Diese Ge­ne­ra­tion liest nicht
Kluger: Ja. arbei­tungs­welt­meis­ter geworden sind. Wie wir mit den eher dazu geführt, dass wir demokratischer werden. viel. Die jungen Leute gucken sich auf ihren Smart­
ZEIT: Wir standen selbst inmitten von Pegida-Demos,
als Be­richt­erstat­ter. Wir waren schockiert, als da »Lü­
dunklen Stellen in unserer Geschichte umgehen. Aber
auch, dass unsere Geschichte nicht nur aus den Jahren Martin Zwar kenne ich selbst Leute, die ihren Arbeitsplatz
verloren haben, weil sie zu Pegida gegangen sind. Und
phones irgendwas an, aber eher keine Artikel. Meine
Tochter fühlt sich links, das ist für mich in Ordnung!
genpresse« skandiert wurde. Haben Sie auch »Lügen­
presse« gerufen?
1933 bis 1945 besteht. Was für ein Grundgesetz wir
aus den Lehren unserer Vergangenheit entwickelt ha­
Machowecz wenn Hans Müller-Steinhagen, der Rektor der TU
Dresden, per Brief seinen zum Teil befristet beschäf­
Mein Sohn, der 15 ist, hat übrigens einen anderen An­
satz als seine Schwester.
Kluger: Das weiß ich nicht mehr. Ich weiß, dass ich ben, ist wunderbar. Es ist falsch, was Höcke sagt. tigten Mitarbeitern und seinen Studenten vom Be­ ZEIT: Welchen?
»Wir sind das Volk« gerufen habe und dass ich »Volks­ Trotzdem muss man akzeptieren, dass er sich nicht such von Pegida abrät – dann geht das gar nicht. Bei­ Kluger: Er denkt darüber nach, Polizist zu werden. Da
verräter« nicht gerufen habe. strafbar gemacht hat. wurde in Meißen geboren des ist passiert. Aber ich habe nicht den Eindruck, fängt man an, die Dinge anders zu reflektieren. Wie
ZEIT: Weil Ihnen das zu plump war, zu pauschal böse? ZEIT: Nicht alles, was nicht strafbar ist, muss eine Par­ und wuchs dort auf. dass solche Einzelerscheinungen unser Land an den man als Polizist dastünde. Ob man Wertschätzung er­
Kluger: Ja. tei auch dulden. Heute leitet der Rand einer Diktatur bringen. führe. Was einem als Polizist alles passieren könnte.
ZEIT: »Lügenpresse« ist also ein Grenzfall. Kluger: Geben Sie der AfD doch Zeit. Ihr wird gar 29-Jährige das Leipziger ZEIT: Es gibt keine subtile Repression, darauf können ZEIT: Was würde geschehen, falls Ihre Tochter mal in
Kluger: »Lügenpresse« ist nicht berechtigt. keine ­Chance eingeräumt, zu einer normalen Partei zu Büro der ZEIT wir uns einigen? ein Multikulti-Viertel im Westen ziehen wollte, nach
ZEIT: Deswegen hat Frauke Petry einst das Wort »Lü­ werden. Die Grünen durften das in den Achtzigern, die Kluger: Ich denke, durch schlecht gemachten Journa­ Hannover-Linden oder Köln-Ehrenfeld?
ckenpresse« erfunden, um uns Journalisten nicht direkt sind auch gegen das System angetreten, konnten sich lismus mag es gefühlte Sprechverbote ge­geben haben. Kluger: Ich würde das für keine gute Idee halten. Ich
der Lüge zu bezichtigen, sondern nur des bewussten aber entwickeln. Da konnte ein Steinewerfer und Poli­ Jetzt nicht mehr. würde ihr sagen, dass selbst Frau Merkel Multikulti für
oder unbewussten Auslassens. zistenprügler Minister werden, erst Umweltminister in ZEIT: Könnten Sie sich vorstellen, in einem Viertel gescheitert hält. Aber wenn sie sich das gut überlegt
Kluger: Ich nutze meine Ihnen nun schon bekannte Hessen, später sogar Außenminister. mit hohem Migranten-Anteil zu leben, sagen wir: hat, ist die Entscheidung meiner dann erwachsenen
Formulierung, die ich besser finde: Messen mit zweier­ ZEIT: Anders als die AfD haben die Grünen nie gegen Berlin-Neukölln? Tochter natürlich zu akzeptieren.
lei Maß. Das sorgt für Lücken in der Be­richt­erstat­tung. Minderheiten gehetzt. Kluger: Ich lebe lieber in Dresden. Und ich sehe, was ZEIT: Millionen Menschen sind aus dem Osten weg­
ZEIT: Welche Medien konsumieren Sie? Kluger: Ich muss Sie nicht daran erinnern, mit welchen dezidiert linke Menschen an Orten wie Berlin-Neu­ gezogen seit 1990, vor allem die jungen, gut ausge­
Kluger: Ich lese nicht so viele überregionale Zeitungen. Vorstellungen zur Freigabe von Sex mit Kindern die kölln tun, wenn ihre Kinder ins schulfähige Alter bildeten.
Ich sitze zweimal 17 Minuten täglich im Bus, auf dem Grünen in den Bundestag eingezogen sind. Die Familie kommen. Just in dem Moment sagen sie: Oh, jetzt Kluger: Mein Bruder zum Beispiel, der lebt jetzt in
Weg zur Arbeit und auf dem Weg zurück. Da lese ich muss zerstört werden, damit der Staat die Kinder gut muss ich wegziehen aus Neukölln, damit mein Kind Baden-Württemberg.
zuerst meine regionale Zeitung. Und ich lese für etwa erziehen kann – wie finden Sie das? auf eine Schule kommt, in der es nicht in der Min­ ZEIT: Glauben Sie, der Osten wäre eine andere Gesell­
zehn Minuten die Welt. Seit Sie mich um dieses Inter­ ZEIT: Nicht gut. Allerdings war bei Weitem nicht die derheit ist! schaft, wenn diese jungen Leute hiergeblieben wären?
view gebeten haben, schaue ich auch hin und wieder in Mehrheit der Grünen dieser Ansicht. ZEIT: Einer von uns beiden Interviewern lebt in Kluger: Nee! Auf gar keinen Fall. In meinem Fami­
die ZEIT. Insgesamt habe ich bei allen Medien densel­ Kluger: Aber die Mehrheit der AfD soll wie Höcke Neukölln. Es gibt dort einen Kioskbesitzer, der fährt lien­um­feld, in meinem Freundeskreis sind ganz un­
ben Eindruck: Bis Mitte 2015 war die Be­richt­erstat­ sein? Die Demokratie ist gerade erweitert worden, um ein großes Motorrad. Ein Deutschtürke, großer, brei­ terschiedliche, viele schlaue Menschen. Handwerker,
tung unausgewogen, jetzt ist sie deutlich differenzierter. ein Angebot, das viele Jahre lang gefehlt hat. Die De­ ter Schrank, dicke Ober­arme, Vollbart, Muslim. Der So­zial­pä­da­go­gen, Verwaltungsangestellte, viele Leh­
ZEIT: Vom rechten Rand heißt es ja immer wieder, mokratie wird von ganz alleine eine Normalisierung sagt, er ist mit seinem Motorrad nur innerhalb Ber­ rer. Es ist ja nicht so, dass nur die dageblieben wären,
die Presse sei durch und durch links. Dem wollen wir dieser Partei erzwingen. lins unterwegs. Warum nicht in Brandenburg? Da die nichts draufhaben. Es haben auch nicht nur Ver­
etwas entgegenstellen. Schon 2007 hat der Spiegel ein ZEIT: Und am Ende wird Björn Höcke Außenminister? kann man super Motorrad fahren! Und er antwortet lierer AfD gewählt!
Cover veröffentlicht mit dem Brandenburger Tor bei Kluger: Das können wir uns jetzt nicht vorstellen, oder? nur: Ich fahr doch nicht in den Osten. Da werde ich ZEIT: Wissen Sie, wir ärgern uns manchmal über
Nacht, darüber ein Halbmond, die Titelzeile lautete: ZEIT: Nein, wirklich nicht! fertiggemacht. Neuköllner trauen sich nicht in den Männer der älteren Ge­ne­ra­tion. Wir sind so stolz auf
»Mekka Deutschland – Die stille Islamisierung«. Die Osten und Ossis nicht nach Neukölln. Was ist da unsere Vorfahren, die es geschafft haben, einen Staat
AfD-Gründer Alexander Gauland und Konrad Adam Inzwischen hat sich das Gespräch, das anfangs ein sorg­ schiefgelaufen? niederzukämpfen ...
schrieben viele Jahre für große deutsche Blätter. Es sames Tasten nach Haltungen war, in eine harte Aus­ein­ Christian Kluger: Heinz Buschkowsky, der ehemalige Bezirks­ Kluger: ... die erste gelungene Re­vo­lu­tion auf deut­
gibt heute Zeitungen mit allen politischen Positio­
nen. Dass es nur linke Journalisten gäbe, kann doch
an­der­set­zung verwandelt. Was und wen Kluger ablehnt,
ist deutlich geworden. Gibt es eigentlich Menschen, die Bangel bürgermeister dort, beschreibt die gescheiterte In­te­gra­
tion in seinen Büchern deutlich. Neukölln ist nicht
schem Boden!
ZEIT: Aber alle reden nur noch darüber, dass wir Ossis
keiner behaupten. Vorbilder für ihn sind? das, was ich mir unter In­te­gra­tion vorstelle. In­te­gra­ wütend sind. Verstehen Sie, dass viele Jüngere deshalb
Kluger: Behauptet auch keiner. Aber es gibt Umfragen tion ist für mich immer, dass sich eine Minderheit in wiederum ein bisschen sauer sind? Es gibt nämlich
zum Wahlverhalten von Journalisten. Die zeigen: ZEIT: Was uns als ostdeutsche Nicht-AfD-Wähler fast ist Chef vom Dienst eine Mehrheit integriert. Wenn man In­te­gra­tion ernst auch eine neue Ge­ne­ra­tion Ostdeutscher. Die würde
Rot-Grün ist deutlich überrepräsentiert. Das ist eine ein wenig belustigt hat, Herr Kluger, ist der Umstand, bei ZEIT ONLINE. nimmt, dann ist das ein Prinzip, das man auch im auch gern mal über ihren positiveren Blick sprechen,
ziemlich gute Erklärung für mein Gefühl, dass linke dass viele Ossis AfD wählen – aber von Höcke über Soeben veröffentlichte Kleinen verfolgen muss. darüber, was alle Ostdeutschen nach 1990 erlebt und
Entwicklungen beklatscht werden und konservative Gauland bis A ­ lice Weidel lauter westdeutsche Funktio­ der 38-Jährige ZEIT: Was heißt das? geschafft haben. Aber ständig wird nur über die Wut­
Entwicklungen kritisiert. näre vorgesetzt bekommen. den Roman Kluger: Ich möchte keine Stadtviertel mit Mehrheits­ bürger geredet.
ZEIT: Schon wir zwei Interviewer sind politisch in vie­ Kluger: Frauke Petry ist Ostdeutsche, und dass sie aus­ Oder Florida über verhältnissen, bei denen In­te­gra­tion nicht stattfinden Kluger: Mich ärgern andere Dinge. Mich ärgert, dass
len Fragen unterschiedlicher Ansicht. scheidet, war ja nicht geplant. seine Heimatstadt kann. Ich möchte keine einzige Straße und auch keine die ostdeutsche Revolutionsleistung von 1989 ver­
Kluger: Das ist gut. »Meute« und »Mob« schreibt heute ZEIT: Empfinden Sie eine gewisse Freude, wenn je­ Frankfurt (Oder) einzige Schule, wo diejenigen, die sich in unsere Gesell­ gessen wird. Da haben wir versagt, es gibt keine ge­
keiner mehr über Pegida – obwohl die verbliebenen mand aus dem Osten einen Aufstieg geschafft hat? schaft integrieren müssen, in der Mehrheit sind. Und samtgesellschaftliche Aufarbeitung. Gehen Sie in
2000 Leute inzwischen ganz sicher nicht mehr die Breite Kluger: Nee. ich möchte auch nicht, dass ein Sportverein eine kom­ Dresden mal auf die Prager Straße, und suchen Sie
der Bevölkerung darstellen. Es wird wieder mehr jour­ ZEIT: Ist es Ihnen egal, wenn Toni Kroos zum bestim­ plette Flüchtlingssportgruppe eröffnet. Ich möchte, das versteckte Relief für die Gruppe der 20. Findet
nalistischen Standards gefolgt. Ganz vorbei ist es aber menden Spieler in der deutschen Fußball-Nationalelf dass sich im Verein die Minderheit in die Mehrheits­ kein Mensch! Stattdessen restaurieren wir das riesige
noch nicht. Im Wahlkampf, als Angela Merkel ausge­ wird? Oder wenn Jan Josef Liefers oder Wolfgang gesellschaft integriert. Dann, bin ich der Meinung, sozialistisch-realistische Wandbild am Kulturpalast,
pfiffen wurde ... Stumph tragende Rollen in Fernsehkrimis spielen? kann das funktionieren. mit Walter Ulbricht und Lenin, wegen dessen Boden­
ZEIT: ... Entschuldigung, aber Merkel wurde übelst Kluger: Ich weiß gar nicht, wieso, aber dafür habe ich ZEIT: Wir Ostdeutschen können ja zusammen mal reform Millionen Menschen verhungerten. Mit Ham­
beleidigt ... wirklich keine Emotionen. Mein Lieblingsspieler ist ein Gedankenspiel machen. Auf Gesamtdeutschland mer und Zirkel im Ährenkranz. Mit Sowjetstern. Im
Kluger: ... aber wissen Sie, wie oft ich Leute gehört Sami Khedira. Toni Kroos würde ich überhaupt nicht betrachtet, sind wir in der Minderheit. Müssten wir Herzen unserer Stadt.
Fotos [M]: Robert Strehler, Maurice Weiss (v. o.)

habe, die in den Neunzigern laut »Kohl muss weg« mit dem Osten in Verbindung bringen. Kommt der da nicht gerade Verständnis für andere Minderheiten ZEIT: Geht uns anders. Wir sind auch stolz auf die
brüllten? Eine Menge war das, die benutzte Trillerpfei­ von hier? haben? Und hat nicht auch der ostdeutsche Mann Re­vo­lu­tion. Aber wir haben manchmal den Eindruck,
fen, um Veranstaltungen zu stören. Ich habe das hier ZEIT: Aus Greifswald. die Pflicht, sich zu integrieren und die gesamtdeut­ die Erinnerung an die DDR soll aus dem Stadtbild
vor der Frauenkirche mehrfach erlebt. Kohl wurde da­ Kluger: Interessant. Nein: Ich freue mich eher über sche Realität anzuerkennen, die nun einmal heißt: getilgt werden. In Berlin wurde der Palast der Re­pu­blik
mals genauso beschimpft wie Merkel heute. Das gehörte jeden, der in irgendeiner Art und Weise gegen die Es gibt in diesem Land eine nennenswerte Zahl an abgerissen, stattdessen erbaut man das Stadtschloss aus
aber zum Ritual, war angeblich lustig – und außerdem DDR aufbegehrt hat. Und jetzt immer noch dabei Zuwanderern? der Kaiserzeit neu. Provokant gesagt: Das will die AfD
links. Deshalb in Ordnung. Merken Sie was? ist. Von denen, die Sie aufgezählt haben, interessiert Kluger: Wenn Sie diese These vertreten, dann wird die ja auch. Ein Deutschland, in dem noch Werte und
ZEIT: Sie glauben also, die 68er haben die Kontrolle mich nur Wolfgang Stumph. Der hat Kabarett ge­ AfD immer stärker. Sie werden sehen, dass es in Ost­ Normen gelten, Hierarchien und Anstand!
übernommen. Das Motto ist: Was links ist, ist gut? macht, im Kampf gegen die Zensur. Sie haben ja mal deutschland eine gesamtgesellschaftliche Mehrheit Kluger: Wer will denn ins Kaiserreich? Mir würde
Kluger: Jedem, der konservativ ist, wird eine Nähe zu über Michael Ballack und Henry Maske als Ostmän­ gibt, wenn Sie die Leute fragen, ob sie Zuwanderung das Deutschland aus der Zeit von Helmut Kohl
Verbrechern unterstellt. Jemandem, der links ist, wird ner geschrieben. nur in Maßen haben wollen. schon reichen.
16 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

ZEIT-Autoren haben nachgefragt, wie es mit Menschen (und


einem Panda) weiterging, über die sie in diesem Jahr berichteten Was wurde
... Alex, dem
Roma-Jungen?

D
ie Dortmunder Nordstadt. 60 000 Menschen
aus 150 Nationen, höchste Arbeitslosenquote
der Stadt, niedrigste Wahlbeteiligung auch.
Jedes zweite Kind lebt von So­zial­leis­tun­gen. Kein schö-
ner Ort, um aufzuwachsen.
Im Laufe einer Recherche in diesem Stadtviertel
trafen wir im Frühjahr Alex, 12, einen Roma-Jungen,
der kurz zuvor mit seiner Familie aus Rumänien herge-
zogen war. Die sechsköpfige Familie hauste mit rund
200 anderen Roma in einem heruntergekommenen
Haus, nachts huschten Ratten durch die viel zu kleine
Wohnung. Alex, ein kluger, höflicher Junge, der Zweiter
bei der rumänischen Mathe-Olympiade geworden war,
hatte kaum Platz für seine Hausaufgaben. Das Bett
teilte er sich mit seinem Bruder. Er wünschte sich vor
allem eines: eine andere Wohnung.
Nach Erscheinen des Artikels meldete sich ein Unter-
nehmer aus der Pfalz. Er bot an, eine Wohnung für die
Familie zu suchen, Maklergebühren zu übernehmen, die
ersten Mieten und die Einrichtung zu bezahlen. Wochen-
lang telefonierte ein Mitarbeiter des Unternehmers mit
Dortmunder Immobilienfirmen. »Sobald ich erwähnte,
dass es sich um Roma handelt, antworteten alle, dass sie
nichts haben«, sagt der Mitarbeiter heute. Die Re­ak­tion
sei immer die gleiche gewesen. Irgendwann gab der Mit-
arbeiter auf. Alex’ Hoffnungen auf ein neues Zuhause
haben sich zerschlagen. MORITZ AI S S LING E R

... Markus Engels,


der Martin Schulz beriet?

D
er beste Tag in diesem Jahr und der schlech-
teste fallen für Markus Engels auf dasselbe
Datum. Es ist der 25. Juni, SPD-Parteitag in
Dortmund. Engels ist Wahlkampfmanager von Mar-
tin Schulz, der engste Vertraute des Kandidaten. Er
hat den ­Hype um Schulz ebenso aus nächster Nähe
miterlebt wie den Absturz in den Wochen danach. In
Dortmund soll nun das SPD-Wahlprogramm verab-
schiedet werden. Es wird sich zeigen, ob sich Engels’
zahl­lose Gespräche und Telefonate gelohnt haben:
Foto: Moritz Küstner für DIE ZEIT/Agentur Focus

Steht die Partei weiterhin hinter ihrem Kandidaten?


Am Ende votieren alle Delegierten für das Programm,
hundert Prozent Zustimmung. Hoffnung keimt, dass
die Wahl doch noch nicht verloren ist. Die Jesidinnen
Als das Ergebnis verkündet wird, fällt von Engels aller Düzen Tekkal (l.) und
Stress ab, fluten ihn die Endorphine. Dann wird ihm Necla Mato (r.)
schwindelig. Die Beine sacken weg, er spürt, wie die setzen sich dafür ein,
Taubheit in ihn hineinkriecht. Ein untrügliches Zeichen: dass die Taten des IS
Die Krankheit, die ihn seit 30 Jahren quält und über die gesühnt werden
er detaillierter nicht sprechen will, schlägt wieder zu. Am
nächsten Tag ist Engels beim Arzt, am Tag darauf im
Krankenhaus. Zurückkehren wird er erst am 24. Septem-
ber, dem Wahltag. Als alles verloren ist.

... der Jesidin, die ihre Familie verlor?


Mit seinem Ausfall macht Engels zum zweiten Mal
in diesem Jahr Schlagzeilen. Beim ersten Mal, im Fe-
bruar, gleich nach Schulz’ Ausrufung, ging es um den
Brüsseler Verwaltungsdschungel, um undurchsichtige
Vertragskonstruktionen und um Zulagen von mehr als
2000 Euro monatlich, die Engels als Mitarbeiter des

W
EU-Parlaments-Präsidenten Schulz angeblich zu Un-
recht bezogen hatte. Auch die ZEIT berichtete. Die er die Hölle überlebt hat, darf Schule, wo sie und ihre Leute festgehalten worden zu dokumentieren. Die 39-Jährige, geboren in ermordete Mutter. Auf Kurdisch ruft sie: »Wo bist
EU-Verwaltung widersprach den Vorwürfen, doch an nicht zurückschauen. So kennen waren, ehe die Hölle losbrach. Sie wollte unbe- Hannover, Kind türkischer Einwanderer, ist keine du?« Dann auf Deutsch, direkt in die Kamera:
Engels blieb was hängen. die Europäer es aus dem Mythos: dingt hierher zurück. Warum? Hasardeurin. »Je mehr ich recherchierte und mit »Ich bin stärker als der IS!«
Schulz und Engels, der 61-jährige Aache­ner und Wer sich umwendet und einen Düzen Tekkal, eine jesidische Filmemacherin, Necla redete, desto größer wurde unsere Angst. Necla Mato wirkt anders als bei unserem Tref-
der 50-jährige Duisburger, kennen sich seit 17 Jahren, Blick zurück wirft, fällt der Hölle für immer an- erfüllte ihr den Wunsch und begleitete sie. Tekkal Aber je näher wir dem Ort des Geschehens kamen, fen im Sommer. Da sprach sie leise, fast unhörbar.
aus jener Zeit, als die Bundestagsabgeordneten an der heim. Und in Wirklichkeit? Für Necla Mato aus war ursprünglich gegen diese Reise: zu gefährlich. desto kleiner wurde die Angst.« Gefährlich sei, was Eine zarte, schon leicht ergraute Frau. Jetzt, in
EU-Grundrechtecharta mitarbeiteten und Engels, ein dem Nord­irak ist der Ort des größten Grauens Denn Mossul, die nahe IS-Hochburg, wurde im sich im Kopf abspiele. »Das muss man besiegen!« Kocho, droht sie ihren Peinigern. Sie will die Un-
Politikwissenschaftler, sie dabei beriet. Seit 2011 ge- ihr Heimatdorf Kocho. Dort verübte der »Isla- Juli erst befreit. Alle Partner vor Ort, sagt Tekkal, Auf dem Filmmaterial aus Kocho, das Tekkal taten bezeugen und gegen die Täter aussagen. Das
hört Engels zur Clique der Schulz-Boys; er wurde mische Staat« vor drei Jahren das schlimmste hätten abgeraten. »Kocho ist jetzt Niemandsland. in diesen Tagen schneidet, sieht man Necla Mato ist ihr wichtig, auch wegen zweier Cousinen, die
Schulz’ Schattenmann. Sein wichtigster Organisator Massaker an den Jesiden. Über 1400 Menschen Es liegt auf dem Gebiet der sunnitischen Kurden, laut weinend durch das zerschossene Foyer der im Film auftreten: Sie gerieten 2014 mit acht und
und Ideen­geber, sein offenster Kritiker. Wenn sich alle wurden erschlagen, erschossen, enthauptet. wird aber kontrolliert von den schiitischen Haschd Schule laufen. Wehklage und Anklage brechen zwölf Jahren in die Hand des IS, waren als Sex-
Türen hinter Schulz schließen, bleibt Engels an seiner Säuglinge an der Wand zerschmettert. Und junge al-Schaabi, den Regierungstruppen des Irak.« aus ihr heraus. Sie schreit das Leid ihrer 45 toten sklavinnen in Mossul gefangen bis zum Juli 2017.
Seite. Das war so, bevor ihn seine Krankheit außer Frauen wie Necla, damals 24, die das Pech hat- Außerdem sei das Dorf noch vermint. »Aber ich Familienmitglieder zum Himmel. Sie trägt es vor Düzen Tekkals Film wird Jiyan heißen, das kur-
Gefecht setzte. Es ist wieder so, seitdem er zurück ist. ten, zu überleben, wurden versklavt. glaube, Necla wollte zeigen: Ich habe überlebt.« die wenigen Überlebenden, die sich – am Jahres- dische Wort für Leben. Am 19. Dezember zeigt sie
In Engels sehen manche in der Parteizentrale einen Was das heißt, erzählte sie Anfang August in Für Düzen Tekkal war es die neunte Reise an tag des Massakers – hergewagt haben und nun im ihn in New York bei den Vereinten Nationen. Er
Helden, der als Familienvater einen sicheren Beamten- der ZEIT. Keine zwei Wochen später stand Necla die Stätten des Genozids. Seit 2014 war sie immer Schutt sitzen. Sie berührt schließlich eines der handelt davon, dass man sich aus dem Dunkel
posten bei der EU kündigt, um sich auf eine wenig aus- Mato zum ersten Mal wieder in Kocho, in jener wieder im Nord­irak, um das Schicksal der Jesiden Porträtfotos, die die Wände bedecken, es zeigt ihre zurückkämpfen kann ans Licht. EVE LYN FING E R
sichtsreiche SPD-Kampagne einzulassen, die mit einem
Desaster endet und für die er mit seiner Gesundheit
bezahlt. Die anderen halten ihn für arrogant, selbstherr-

... einem der Polizisten vom G20-Gipfel?


lich, herrisch – einen politischen Zerberus, der jeden
wegbeißt, der direkten Zugang zu seinem Chef begehrt.
Engels selbst weiß, wie er gesehen wird. Es stört ihn
nicht. Fies sein, damit Schulz freundlich sein kann. So
ist eben die Rollenverteilung.

A
Engels war schon vieles in seinem Leben. Uni-Dozent, ls alles vorbei war und die Rauchschwa- schäftigt zu überleben«. Ein anderer Polizist ent- »In den Messehallen direkt neben dem Schanzen- eine ältere Frau nahm Sahling in den Arm. Auch
Bundestagsmitarbeiter, Europareferent im Willy-Brandt- den sich verzogen hatten, bekam der deckte nach dem Einsatz eine Stahlkugel in seiner viertel, wie kommt man auf diese Idee?« musste er sich bei einem Imbissbesitzer erstreiten,
Haus, Wahlkampfstratege im Kampa-Team 1998, Büro- Hamburger Be­reit­schafts­poli­zist Niels Schulter, abgeschossen aus einer Zwille. Jetzt, zum Ende des Jahres, sitzt Sahling im dass er seine Pommes selbst bezahlen durfte. Sah-
leiter von Frank-Walter Steinmeier, EU-­Beamter, Wahl- Sahling drei Tage Sonderurlaub. Im Rückblick Drei Wochen vor dem Gipfel hatte die ZEIT Hamburger Büro der Gewerkschaft der Polizei, ling sagt, er wolle keine Geschenke. »Ich möchte
kampfmanager, Rockmusiker. Dass er nur sehr selten in erscheint es ihm, als habe er sie komplett im Niels Sahling und zwei Kollegen interviewt. Ham- bei der er sich als Landesjugendvorsitzender en- die Wertschätzung der Politik.«
seinem Leben wusste, was er in vier Wochen machen Bett verbracht. »Ich habe mehr oder weniger burgs Bürgermeister Olaf Scholz war da noch gagiert. Er sagt: »Dass es so heftig wird, hätte auch Nach dem Gipfel hat Sahling die Bereit-
würde, hilft ihm, die Si­tua­tion zu ertragen. durchgeschlafen«, sagt er. völlig entspannt. »Wir richten ja auch jährlich den ich nicht gedacht. Das macht was mit einem.« schaftspolizei verlassen, »für mich war’s genug«.
Es ist unklar, wohin es mit der SPD und mit Schulz In den Tagen des G20-Gipfels war Niels Sah- Hafengeburtstag aus«, sagte er und gab eine Si- Normalerweise redet man unter Polizisten Die ständige Verfügbarkeit, Einsätze überall in
geht. Und wohin mit Engels. Spricht man mit ihm, so ling, 27, Teil der Staatsmacht, die zunehmend cherheitsgarantie für die Stadt ab. Wer damals nicht lange über Einsätze, hakt sie ab, zeigt sich der Re­pu­blik. Sahling ließ sich in eine normale
spürt man, wie sehr es an ihm nagt, dass er zweimal in verzweifelt und mancherorts vergeblich versuch- dem Polizisten Sahling zuhörte, kam zu einem stark. Doch Sahling sagt, er sei noch immer »ent- Wache versetzen, das Polizeikommissariat 23,
diesem Jahr zur öffentlichen Person wurde. Nun genießt te, die Kontrolle über Hamburg zu behalten. anderen Lagebild. »Wir sind schon seit sechs täuscht und sauer«. Zwar gab es nach dem Gipfel Hoheluft-West. Hier, sagt Sahling, habe er Zeit,
er es, dass die Scheinwerfer ihn kaum mehr ausleuchten. 63 Stunden lang war Sahling fast durchgehend im Wochen quasi im Ausnahmezustand«, ­sagte er. eine Solidaritätswelle für die Polizisten. Bei der sich »mit Leuten zu unterhalten und was zu
Trotz aller politischen Turbulenzen fühlt er sich ziemlich Einsatz. Er sah Kollegen in der Julihitze kollabie- Sahling sorgte sich vor allem wegen des Ortes, an Schla­ger­move-­Para­de auf St. Pauli – eine Woche bewegen. Die Omi, deren Handtasche geklaut
wohl. Er ist zurück im Schatten. PETE R DAU S E ND ren und war irgendwann »vor allem damit be- dem die Staatsgäste aus aller Welt tagen sollten. nach dem Gipfel – applaudierte ihnen die Menge; wurde, ist mir dankbar.«  MARC WIDMANN
4. DEZEMBER 2017 No 50 DOSSIER 17

eigentlich aus ...


... dem Bauern, der sich
mit RWE anlegte?

S
ind Sie gut angekommen?«, fragt der Richter den
peruanischen Bauern. »Ja, die Deutschen sind
sehr nett«, antwortet Saúl Luciano Lliuya, eine
Dolmetscherin übersetzt. Mit diesen Worten beginnt
im November eine Verhandlung am Oberlandesgericht
Hamm im Fall »Lliuya ./. RWE AG«: Lliuyas Dorf in
den peruanischen Anden ist von den Fluten eines ab-
tauenden Gletschers bedroht, der Bauer will deshalb
einen Staudamm haben und ist der Meinung, dass die
Verursacher des Klimawandels dafür zahlen sollen, auch
der deutsche Energiekonzern RWE. Wir berichteten in
diesem Sommer. Vor zwei Jahren hat Lliuya die Klage
eingereicht, vor einem Jahr wurde sie in erster Instanz
abgewiesen, nun wird sie in zweiter Instanz verhandelt.
Aber sind deutsche Gerichte zuständig? Und tragen
deutsche Energiekonzerne eine Mitschuld am Klima-
wandel in den Anden? Um diese Fragen geht es im Ge-
richtssaal. Beides hält der Richter grundsätzlich für
möglich – schon diese vorsichtige Aus­sage wird von
Klimaschützern als »bahnbrechend« und »historisch«
bezeichnet. Nun wird das Gericht in die Beweisauf-
nahme gehen und Klimawissenschaftler und Geologen
als Gutachter an den peruanischen Gletscher schicken.
Saúl Luciano Lliuya findet die Deutschen jetzt sogar
noch ein bisschen netter. AMR AI COE N

... dem gekündigten


Betriebsrat?

D
as Jahr des Adnan Köklü hatte folgende Zu-
taten: dreifache Kündigung, Arbeitsgerichts-
prozesse im Monatstakt – und all das mit der
Perspektive, von April 2018 an Hartz-IV-Empfänger
zu sein. Doch was sagt dieser Köklü heute zur Be-
grüßung? »Ich bin ganz froh, wie das Jahr beruflich
gelaufen ist.«
Was war da los? Die Geschichte des 27-jährigen
Betriebsrats im Stahlkonzern Salzgitter AG hat im
April für viel Wirbel gesorgt, als wir im Wirt-
schaftsressort beschrieben, wie das fraktionslose
Mitglied im ansonsten von der IG Metall domi-
nierten Betriebsrat bei Salzgitter Flachstahl ausge-
grenzt wurde (ZEIT Nr. 15/17). Es war nicht der
Arbeitgeber, mit dem Köklü sich jahrelang stritt –
Meng Meng, die es waren die Kollegen im Betriebsrat. Köklü zog
junge Pandabärin im 2014 als Einzelkämpfer in das Gremium ein und
kritisierte dort die dominierende IG-Metall-Frak­
Foto: Radke/Eventpress

Berliner Zoo, streckt


Besuchern gern ihr tion. Die wiederum warf ihm vor, er habe nur des-
Hinterteil entgegen – hier halb der Gewerkschaft den Rücken gekehrt, weil er
ausnahmsweise nicht auf einem hinteren Listenplatz kandidieren sollte.
Köklü bestreitet das.
Lange war für Köklü, der einen türkischen Pass
hat, alles auf eine gewöhnliche Gewerkschaftskarriere
zugelaufen. Er war Sprecher von 2500 Berufsschü-

... der Pandabärin Meng Meng?


lern, engagierte sich seit 2008 in der IG Metall und
wurde zum Vertrauensmann gewählt, eine Art Schü-
lersprecher der IG Metall im Werk. Als er sich mit
der IG Metall verkrachte, kandidierte er mit einem
Kollegen für eine eigene Liste, die sie »Respekt!!!«
nannten. Seitdem hat er wenig Freude in Salzgitter.

D
Als Köklü in Mitarbeiterversammlungen das
er Staatsakt mit der deutschen Kanz- sich anfangs bis zum Haus der Giraffen, für die Marcus Röbke hat nämlich eine Theorie. Tierschützer haben Meng Meng bereits zu Gehalt des Betriebsratsvorsitzenden sowie die An-
lerin und dem chinesischen Präsi- sich kaum mehr jemand interessierte. Während Noch ist Meng Meng kein Fall für einen Psy- einer Symbolfigur erhoben, als Leidtragende stellung einiger Auszubildender und Leiharbeiter
denten war gerade vorüber, als das das Pandamännchen Jiao Qing auf einer Holz- chotherapeuten, noch ist sie von jener Art einer Event-Gesellschaft. Der Zoo habe sich hinterfragte, weil er Vetternwirtschaft vermutete,
Pandaweibchen Meng Meng etwas bank thronte, drängten sich Massen von Schau- Hospi­ta­lis­mus weit entfernt, wie man ihn von den Gesetzen der Unterhaltungsindustrie aus- eskalierte die Lage. Der Betriebsrat schloss Köklü
tat, womit kein Besucher des Berliner Zoos ge- lustigen vor den Glasscheiben, klopften dagegen, abgestumpften Zoo-Bären oder Zoo-Elefanten geliefert. Warum werden Millionenbeträge für aus, die Firma kündigte ihm gleich doppelt: wegen
rechnet hatte: Meng Meng lief in ihrem Gehege machten Selfies, riefen, kreischten, applaudierten kennt, die pausenlos den Kopf wiegen. Meng Pandas ausgegeben, die in ihrer Heimat nicht seiner angeblich falschen Anschuldigungen und
rückwärts. Es war Anfang Juli, als sich Meng – wie bei einem Auftritt von Justin Bieber. Chi- Meng protestiert gegen irgendetwas. Sie streckt mehr akut vom Aussterben bedroht sind? Wa- weil er die Teilnahme an einem Personalgespräch
Meng (übersetzt: Träumchen) vor aller Augen nesische Touristen versuchten, mit den Bären ins der Welt den Hintern entgegen, meint Röbke, rum werden diese Tiere gefeiert wie Popstars, verweigert hatte. In diesem Sommer, da stritten die
der natürlichen Laufrichtung widersetzte. Hat sie Gespräch zu kommen, tauchten morgens am weil ihr etwas nicht passt. Das ist ihre Art, Ver- während die Gehege von Hirschen oder Wasch- Parteien schon vor Gericht, folgte die dritte Kündi-
einen psychischen Schaden? Die Bild nannte Gehege auf und erzählten ihnen Geschichten. unsicherung und Ärger auszudrücken. bären verfallen? Müssen sich Zoodirektoren gung. Er habe während der Verhandlung falsche
Meng Meng plötzlich »plemplem«, und viele der Um die Tiere vor der Hemmungslosigkeit Zu Hause in seinem Wohnviertel hat Marcus aufführen wie Konzertveranstalter? Angaben gemacht. Längst hat Köklü Hausverbot.
31 000 Menschen, die am ersten Panda-Wochen- der Menschen zu schützen, heuerte der Zoo Röbke einen Nachbarn, der alle fünf Minuten Der Deutsche Tierschutzbund glaubt, dass Gewöhnlich wäre nun, dass Köklü sich mit sei-
ende in den Zoo strömten, wunderten sich. eine Security-Firma an. Sechs muskulöse Män- zum Herd rennt, weil er sichergehen will, dass er bei Meng Meng eine »Zwangsstörung« vorlie- nem Arbeitgeber auf eine Abfindung einigt und sich
Zehn Millionen Euro kostete allein das Ge- ner postierten sich nun am Eingang des Panda- das Gerät tatsächlich ausgeschaltet hat. Der ma- ge. Die Or­ga­ni­sa­tion Peta in Stuttgart hat ihre einen neuen Job sucht. Doch Köklü geht es ums
hege für die zwei Pandabären, wie die ZEIT im geländes, ließen nur noch überschaubare Besu- nische Nachbar erinnert ihn an Meng Meng. »Sie Referentin für Zoo und Zirkus zum Berliner Prinzip. Er will das durchfechten. Zwei Prozesse hat
Juni berichtete. Vier Jahre lang hatte Deutsch- chergruppen vor und sortierten Drängler aus. ist sehr intelligent und sensibel«, sagt der Pfleger. Zoo geschickt, die bei Meng Meng »ein seeli- er schon gewonnen. Sein Rausschmiss aus dem Be-
land um die Leihgaben aus China verhandelt, So ging es bis Oktober, dann kam der Herbst, Das kann eine heikle Mischung sein. sches Leiden« festgestellt haben will. Der kleine triebsrat ist hinfällig. Den Vorwurf, Köklü habe das
rund eine Mil­lion Euro Leasinggebühr im Jahr es wurde kälter, die großen Besucherströme Das Pandamännchen Jiao Qing strotzt vor Verein EndZoo glaubt sogar an Unstimmig- Gremium in seiner Arbeit blockiert, wies das Ge-
streichen die Chinesen ein – und dann bewegt blieben aus, und die Wachmänner zogen ab. Selbstbewusstsein. Es tut nichts lieber, als Bam- keiten in Meng Mengs Zuchtbüchern: Der ein- richt zurück – Köklü habe 98 Prozent der Beschlüsse
sich Meng Meng so, als sei sie keine ausgesuchte Eine Besonderheit ist geblieben. Man erkennt busstangen zu verzehren und öffentlich dick zu getragene Vater sei womöglich nicht der wahre mitgetragen.
Bärin, sondern ein Krebs. sie, wenn man sich vor das Gehege stellt und war- werden. Meng Meng hingegen zieht sich gern Vater, weil die Chinesen nach der natürlichen Köklü studiert mittlerweile im vierten Semester
Dass Meng Meng immer wieder rückwärts lief, tet. Dann schiebt sich Meng Mengs Hintern aus in den Stall zurück, wo Röbke sie krault und Begattung auch noch Sperma eines anderen Jura an der Universität Göttingen. Zum Teil hat er
war den Tierpflegern schon in China aufgefallen. dem Stall ins Freie – noch immer bewegt sie sich streichelt. Prasselt Regen aufs Dach, wird sie Bären künstlich nachgeschoben hätten. Bei ei- sich selbst verteidigt. »Ob ich gewollt bin oder
Auch die Di­rek­tion des Zoos wusste davon, hielt rückwärts. Es ist inzwischen Ende November, und nervös. »Sie braucht Aufmerksamkeit, aber im ner Paarung von Meng Meng und Jiao Qing nicht, entscheiden aber nicht die Gerichte, sondern
das Thema aber klein. »Wir konnten nicht anders«, der Tierpfleger Marcus Röbke kümmert sich lie- Stillen«, sagt Röbke. Während sich Jiao Qing bestehe Inzuchtgefahr. »Völliger Unsinn«, er- die Belegschaft«, sagt er. Im Frühjahr 2018 werden
sagt die Zoo-Sprecherin Christine Reiss heute, »es bevoll um Meng Meng. Gemeinsam mit zwei im Außenbereich von Zuschauern bewundern klärt die Sprecherin des Zoos, »wir kennen den in Salzgitter 6000 Mitarbeiter den neuen Betriebs-
war doch alles hochpolitisch.« Die Vorbereitungen Kollegen teilt er sich die Betreuung. Er serviert den lässt, legt sich Meng Meng im Stall schlafen. Inzucht-Koeffizienten. Er ist sehr gering.« rat wählen, und Köklü will wieder kandidieren,
für die feierliche Übergabe der Pandas im Vorfeld Bären jede Woche eine halbe Tonne Bambus. Er Die Abgeschiedenheit tut ihr gut. Der Tierpfleger Marcus Röbke hofft, dass trotz Hausverbot. Rechtlich ist das möglich – die
des G20-Gipfels liefen bereits, und die Chinesen schreibt Protokolle – Nahrung, Wetter, Lichtver- Denkbar ist, sagt der Pfleger, dass Meng Meng sich Meng Meng bis zur Paarungszeit im nächs- Regelung soll davor schützen, dass Firmen misslie-
hätten es als Kränkung verstehen können, wenn hältnisse, alles wird verzeichnet. Er verteilt Tag für überfordert ist von all den neuen Geräuschen und ten Frühling be­ruhigt hat. Meng Meng ist aller- bige Betriebsräte vor die Tür setzen. Der Konzern
die Deutschen nach einem anderen Pandaweib- Tag leckere Apfelstückchen im überdachten Ge- Gerüchen und dass sie sich vor Pu­bli­kum fürchtet. dings nicht der einzige Panda, der sich in der teilt nüchtern mit: »Das Unternehmen hat keinen
chen verlangt hätten. Ein Zoo, der es wagt, wäh- hege. Er hat Meng Meng sogar eine Bambus-Eis- Sie steckt mitten in der Pubertät, sie ist viel mit Fremde seltsam benimmt. Im Zoo der nieder- Einfluss darauf, wer sich zur Betriebsratswahl stellt.
lerisch zu sein, droht dem Staat, in dem der Zoo torte überreicht, als die Bärin im Juli vier Jahre alt sich selbst beschäftigt. Der Pfleger trainiert mit ländischen Stadt Rhenen klettern die beiden Wer wählbar und wahlberechtigt ist, ist gesetzlich
sich befindet, die Show zu vermasseln. So siegte wurde. Der Pfleger Röbke versucht, ein persönli- ihr öffentliche Auftritte. Er belohnt sie mit Obst- Pandas, sobald sie nervös werden, hoch in die geregelt.«
hinter den Kulissen die politische Diplomatie. ches Verhältnis zu Meng Meng aufzubauen, um stücken oder Honigwasser, wenn sie sich beruhigt Bäume und fressen eine Weile nichts mehr. Wenn der Wahlkampf beginnt, wird das Unter-
Die beiden Bären lockten im ersten Panda- ihrem Problem auf den Grund zu gehen. Seit 15 und eine Weile nicht rückwärts läuft. Aber viel- Und im kanadischen Toronto schlägt ein Panda nehmen das Hausverbot vermutlich aufheben müs-
Monat etwa 350 000 Besucher an, das Berliner Jahren beschäftigt er sich mit Bären, und er sagt: leicht liegt das Problem tiefer. Vielleicht ist Meng Purzelbäume.  STE FAN WILLE KE sen. Dazu will Köklü Salzgitter Flachstahl gericht-
Zoo-Jahr wird ein Rekordjahr. Die Schlange der »Wenn sie sprechen könnte, würde sie mir erzäh- Meng ein Wesen, das gar nicht geschaffen ist für lich zwingen. Er hat da inzwischen eine gewisse
wartenden Menschen vor dem Panda-Gehege zog len, was sie stört.« ein Leben in der Öffentlichkeit. www.zeit.de/audio Routine entwickelt. CL A AS TATJ E
18 JAHRESRÜCKBLICK 2017 DOSSIER 4. DEZEMBER 2017 No 50

Was wurde eigentlich aus ...


WIE WAR IHR JAHR?

Chris Dercon
... dem Elektriker, der
den Strom abklemmt?

S
eitdem Heinz Galle sein Einsatzgebiet ge-
wechselt hat, fühlt sich jeder Arbeitstag für
ihn ein bisschen an wie Urlaub. Statt an
Mietskasernen fährt er jetzt, wenn er unterwegs ist,
an Spargelfeldern und Bauernhöfen vorbei. Vor al-
lem hat Galle bei der Arbeit keine Angst mehr.
Der 59-jährige Belgier
Seit 37 Jahren ist Galle Elektriker bei der Emscher
beerbte 2017 nach langem Streit
Lippe Energie GmbH. Als »Sperrkassierer« klemmte
Frank Castorf als Intendant
er in Gelsenkirchen Menschen den Strom ab, die ihre
der Berliner Volksbühne
Rechnung nicht bezahlt hatten. Seine Besuche ver-
änderten das Leben dieser Leute; danach konnten sie
nicht mehr kochen, nicht mehr warm duschen. In
ihren Wohnungen wurde es früh dunkel. Was haben Sie in diesem Jahr zum
Im April berichteten wir über Menschen, die sich ersten Mal getan?
den Strom nicht mehr leisten können. Die »Energie- Auf einer gigantischen Drehbühne mit
armut« hat auch mit der Energiewende zu tun. Um 18 Meter Durchmesser gestanden.
Solarparks, Wasserkraftwerke und Windkraftanlagen
zu finanzieren, wurde der Strompreis erhöht. Heute War 2017 besser oder schlechter, als
ist er doppelt so hoch wie vor zehn Jahren. Das trifft Sie es Silvester 2016 erwartet hatten?
besonders Ärmere: weil ihre Energiekosten einen Es war turbulenter, als ich erwartet hatte.
hohen Anteil am Einkommen ausmachen. Weil sie
oft teure Elektroheizungen haben. Weil sie sich keinen Wer war für Sie 2017 eine
sparsameren Kühlschrank leisten können. Hoffnung?
Für den Artikel Die Abgeklemmten begleiteten Alle Künstler*innen und Mitarbeiter*in-
wir den Elektriker Galle bei der Arbeit. Viele Men- nen unserer Eröffnungswochen.
schen ließen ihn nicht rein. Andere riefen ihn
»Arschloch« und bespuckten ihn. Einmal sei er Und wer war eine Enttäuschung?
krankenhausreif geschlagen worden, erzählte Gal- Meine Dienstherren.
Foto: Markus Hintzen für DIE ZEIT; Getty Images (kl.)

le. Seit Jahren hatte er bei der Arbeit Bauch-


schmerzen. Und Stress. Längst zog er keine Schutz- Was war Ihr persönlicher Sieg 2017?
handschuhe mehr an, um am Stromzähler bloß Schwimmen im Berliner Schlachtensee
keine Zeit zu verlieren. bei 15 Grad Wassertemperatur.
Kurz nachdem der Artikel erschien, ging ein
Kollege Galles in Rente, Galle übernahm. Er arbeitet Und Ihre Niederlage?
jetzt bei Bottrop. Ländliche Gegend, ältere Leute. Walter Kohl, 54, Die kurzfristige Konzertabsage von Rap-
Meist kontrolliere er Stromzähler, ein ruhiger Job, aufgenommen perin Kate Tempest.
»kein Vergleich zu Gelsenkirchen«. Dort macht in Kronberg
Galles alten Job jetzt ein Leiharbeiter. »Dem geht es im Taunus Worüber haben Sie sich am meisten
wie mir früher«, sagt Galle. »Aber er ist jünger. Er gefreut?
kann schneller rennen.«  L AU R A CWIE RTNIA Die weltumarmende Präsenz des Publi-
kums und der Tänzer an unserem Er-
öffnungstag im September auf dem
Tempelhofer Flugvorfeld.
... der Schriftstellerin
Ilse Helbich? ... Walter Kohl, dessen Vater starb? Und worüber am stärksten geärgert?
Die Aussage, Tanz sei die Sparte der
Unmündigen.

W Z
enige Dinge erfrischen den Alltag so sehr weimal in diesem Jahr sah es so aus, als auch um den Konflikt mit dem damals noch stieg Walter Kohl, im Hauptberuf Unternehmer, Was war für Sie die
wie ein Anruf bei Ilse Helbich. Ihre ob es für Walter Kohl nicht weiter­ lebenden Vater. »Ich habe beschlossen, meinen wieder als Le­bens­coach vor 200 Zuhörern in größte Über­raschung?
dunkle Stimme, das freche Lachen, die gehen würde. Beim ersten Mal standen einseitigen Frieden damit zu machen«, erzählte Bayern auf eine Bühne. Wie sagten seine Eltern Dass Brüssel (die Wiege des Surrealis-
lästerlichen Bemerkungen – so ist sie, die Autorin er und seine Frau Kyung-Sook mit ei- Kohl. Er betonte, wie befreiend diese einseitige immer? »Du musst stehen!« mus) und Belgien plötzlich überall in der
Ilse Helbich. In diesem Jahr wurde sie 94 Jahre alt. nem klapprigen Minicamper mitten im Busch in Versöhnung für ihn gewesen sei. Es kursierten dann Geschichten, die Walter Literatur vorkommen – siehe Salman
Mit 80 hat sie begonnen zu schreiben, heute gibt New ­South Wales, Australien. Der Wagen, mit Der Tod des Vaters, sagt Walter Kohl heute, sei Kohl »infam« nennt. Es hieß, er habe den Eklat vor Rush­die und Robert Menasse.
es schon eine kleine Helbich-Edition! dem sie quer über den Kontinent fahren wollten, »der Härtetest« für sein Versöhnungsversprechen verschlossener Tür inszeniert, um der Witwe zu
Zu Beginn dieses Jahres besuchten wir Ilse Hel- war im Schlamm einer Talsohle stecken geblieben. gewesen. An einem Novembertag sitzt der 54-Jäh- schaden. »Wie hätte ich das inszenieren sollen?«, Was haben Sie 2017 vermisst?
bich in ihrem Zuhause, einer alten Post, die sie im Beim zweiten Mal stand Walter Kohl vor rige im Taunus, wo er lebt, in einem Café beim fragt Kohl. »Ich hatte doch gar keine Kontrolle über Den einen oder anderen »Freund«, der
Kamptal bei Wien bewohnt. Wir redeten einen der Tür seines Elternhauses in Ludwigshafen- erneuten Gespräch mit der ZEIT. Auf der Speise- die Si­tua­tion. Und bin wenige Tage zuvor ja noch dann doch in schwierigen Zeiten nicht
ganzen Tag lang über das Älterwerden, für einen Ar- Oggersheim. Auch da war Schluss. karte: Zwiebelsuppe, Eintopf mit gerösteter Mett- ins Haus gelassen worden.« da war.
tikel, der im Fe­bru­ar im ZEIT­magazin erschien, Titel: In Australien war es Teil des Problems, dass Kohl wurst, But­ter­creme­torte, solche Sachen. Die Ein- Walter Kohl nahm ein Instrument zu Hilfe, das
»Ey, Alter!«. Ilse Helbich hatte uns mit einem kleinen und seine Frau allein waren. Vor der Tür in Oggers- richtung: im Stil der frühen Ära Kohl. »Ich bin jetzt ihm immer suspekt war: die öffentliche Aufmerk- Auf welche Nachricht(en) hätten Sie
Buch angelockt, in dem sie beschreibt, wie die Jahre heim hingegen schaute ganz Deutschland zu – bei der älteste lebende Kohl«, sagt der Sohn. Dann samkeit. Ende August ging er in die ZDF-­Talk­ am liebsten verzichtet?
abschleifen, was uns mal so wichtig war. Den sicheren einem grellen öffentlichen Trauerspiel. Im Juni spricht er über die Tage im Sommer. Über die show Markus Lanz. »Als ich anfing zu sprechen, »Donald Trump legt den Präsidenten-
Schritt, den scharfen Blick. Schmelzungen heißt das 2017 war Helmut Kohl gestorben. Jahre zuvor Trauerfeiern, die er daheim vorm Fernseher verfolgt war es totenstill, ich konnte das Studiopublikum Eid ab« (20. Januar 2017).
Buch und hat verstörende Passagen über Trübungen hatte der Kanzler der Einheit den Kontakt zu seinen habe. Über das Grab des Vaters in Speyer: »Ich habe atmen hören. Aber nach wenigen Minuten merkte
der Augen, die Schwäche beim Gehen am Hang und Söhnen abgebrochen. So erfuhr Walter Kohl aus es später besucht und war erschüttert über den ich an den Reaktionen, auch am Applaus, dass ich Was würden Sie in diesem Jahr
das Aus­ruhen auf einem Stein, von dem aus die dem Radio vom Tod des Vaters. Wenig später Zaun, die Videoüberwachung und ein liebloses verstanden wurde.« 36 Minuten lang legte er seine gerne korrigieren, an sich selbst und
Kälte in den Körper kriecht. sprach das Land über die Bilder aus Oggersheim: Holzdeck, mit dem das frische Grab damals abge- Sicht der Dinge dar, ohne ein allzu böses Wort an anderen?
Wir redeten darüber, wie man Ausschau nach Sie zeigten Walter Kohl, der sich an Polizisten deckt war. Das passt überhaupt nicht zu meinem über die Witwe zu verlieren. Danach, sagt Walter Weniger Zynismus.
einem Ort hält, an dem man begraben werden will. vorbei in sein Elternhaus drängte. Als er Tage später Vater.« Der gehöre ins Familiengrab, neben Han- Kohl, habe er sich befreit gefühlt.
Heute, wo das Jahr fast vorbei ist, kann Ilse Hel- mit seinem Sohn und seiner Nichte den Verstorbe- nelore, die Mutter von Walter und Peter. Wenn er als Coach Reden hält, spricht Wal- Was haben Sie 2017 Wichtiges
bich davon erzählen, dass sie ein neues Buch veröf- nen noch einmal sehen wollte, wurde er nicht mehr Am schwierigsten, sagt Walter Kohl, sei jener ter Kohl oft über Lebenskrisen und darüber, wie gelernt?
fentlicht hat, wie alle ihre Bücher im Droschl-Verlag. eingelassen. Seine Stiefmutter Maike Kohl-Richter »Moment absoluter Leere« gewesen, als er sich man hinausfindet. Es geht viel um Selbstbe- Wie schwierig es ist, ein Stadttheater in
Im Gehen heißt es, sie sagt: »Es ist mein erster und hatte ihm Hausverbot erteilt. Sie bestimmte auch, damit abfinden musste, dass es mit dem Vater stimmung. Er sei froh, dass das Coa­ching auch Berlin komplett mit WLAN a­ uszustatten.
sicher letzter Gedichtband!« wo der Tote beerdigt werden sollte – gegen den keine letzte Aussprache gegeben hatte. Damals bei ihm selber funktioniert habe, sagt er. »Für
Booklaunch im September. Wien. Großer Bahn- Willen der »alten« Familie, die aus Protest den entschied Walter Kohl, sich nicht zu verkrie- mich war 2017 trotz allem ein gutes Jahr.« Was war Ihr schönster Ort?
hof! Lesung der Gedichte durch die Schauspielerin Trauerfeiern fernblieb. Das Familiendrama im chen. »Ich habe eine ungewöhnliche Form der In Australien, wo sie mit ihrem Camping- El Hierro, die kleinste, wildeste, naturbelas-
Anne Bennent. Mit ihrer Stimme habe die Freundin Hause Kohl nahm offensichtlich kein Ende. Trauer­arbeit gewählt. Aber wenn man aus dieser wagen stecken geblieben waren, legten sie üb- senste und einsamste Kanarische Insel.
»das Wilde« aus ihren Gedichten herausgeholt, »das Im Februar hatte Walter Kohl dem ZEIT- Familie kommt, ist leider so gut wie nichts ge- rigens Äste unter die Räder. Danach ging es
Zerrissene«, bis hin zu »Todesvorstellungen einer magazin ein Interview gegeben. Darin ging es wöhnlich.« Wenige Tage nach der Beerdigung auch weiter.  STE FAN SCHIRME R Und Ihr schönster Moment?
Zwölfjährigen«. Einige Damen im Pu­bli­kum seien Ich hoffe immer bis zum letzten Tag des
schockiert gewesen, »die hatten sich wohl bei Alters- Jahres, dass der allerschönste Moment
lyrik etwas Weicheres erhofft«, sagt Helbich und lacht noch kommt.

... dem Flüchtling, der Facebook verklagte?


mit ihrem malzigen Alt. Insgesamt: Riesenerfolg.
Interviews. Ganzseitige Story im Wiener Standard. Was war Ihre beste Tat?
Was war noch? Aufgeräumt hat sie. All ihre Ma- Immer weniger Social Media.
nuskripte gesichtet. »Ich habe meinen Vorlass dem

A
Land Niederösterreich übergeben.« Etwas habe sich Wie lautet Ihre Überschrift
sehr schön gerundet. Wenn auch »dieser ganze Eu- m Rande Berlins, nahe der S-Bahn- Als der Begriff »Willkommenskultur« nur noch keine guten Erfahrungen gemacht. Und die Repor- für das Jahr 2017?
Stress«! Also »Eu wie Euphorie, wie schöner Stress«. Station Adlershof, nimmt das Leben ein erkaltetes Wort war und Deutschland erbittert ter, fürchtet er, halten ihn ab von seiner Arbeit bei Fluctuat nec mergitur: amor fati. (Der Wahl-
Der habe das Herz ins Stolpern gebracht. des Syrers Anas Modamani langsam über Angela Merkels Flüchtlingspolitik stritt, McDonald’s. Von der Wohnungssuche, die nie spruch der Stadt Paris, frei übersetzt: »Sie
Mal wieder davongekommen! wieder Normalität an. Dort ist er nicht montierten anonyme Face­book-­Nut­zer Modama- enden will. Und vom Deutschlernen. schwankt, aber sie geht nicht unter: Liebe
Gefühl der Dankbarkeit. Sie habe natürlich be- mehr der Junge, der mit der Kanzlerin 2015 ein nis Bild in allerlei falsche Zusammenhänge. Mal Dass Modamani, der mittlerweile 20 Jahre alt das Unausweichliche«.)
merkt, wie sich die Dinge verändern. Im Garten sind Selfie machte und den der Mitarbeiter einer Nach- wurde sein Gesicht mit dem Überfall auf einen ist, nicht mehr ständig über das Verfahren aus
die Rotschwänzchen verschwunden. Keine Bach- richtenagentur dabei fotografierte. Er ist auch Obdachlosen in der Berliner U-Bahn in Verbin- dem Frühjahr reden mag, könnte auch damit zu Was war für Sie der spannendste
stelzen mehr. Aber noch Grasmücken. Im Wald das nicht mehr der junge Mann, der im Frühjahr 2017 dung gebracht, mal mit einer Brüsseler Terrorzelle, tun haben, dass er die Niederlage persönlich Moment?
Eschensterben. »Aber die Rosen haben geblüht. Der Face­book vor Gericht gebracht hat. Seit Oktober mal mit dem Anschlag auf den Berliner Weih- nimmt. »Ich habe verloren«, sagt er. Und klingt Die zurückkehrende, zuvor beinahe ab-
Himmel ist noch da, und die Wolken ziehen.« Sie dieses Jahres ist er einfach nur ein frisch immatri- nachtsmarkt. Modamani sah sich als Opfer einer dabei so melancholisch wie manche der Gedichte handengekommene Begeisterung für
wundere sich, warum die jüngere Ge­ne­ra­tion nicht kulierter Student der Informatik auf dem Campus Hetzkampagne. Er verklagte Face­book auf Lö- und Gedanken, die er seitdem auf Face­book ver­ Berlin.
heftiger gegen die Naturzerstörung protestiere. Nord der Humboldt-Universität. Ein Flüchtling, schung aller falschen Bilder, die im Internet kur- öffent­licht; etwa ein Zitat aus dem Buch 5 Dinge,
Sie blicke jetzt einer ruhigen Zeit entgegen, sagt der in Deutschland eine neue ­Chance bekommt. sierten. Er verlor. Das Landgericht Würzburg war die Sterbende am meisten bereuen: Welche der Fragen,
Ilse Helbich. Sie plant über die Festtage, wenn ihre Im Februar hatten wir über Modamani ge- der Ansicht, Face­book habe sich die Verleumdung 1. Ich wünschte, ich hätte mein eigenes Leben gelebt. die Sie beschäftigen, ist auch 2017 ­
Haushaltshelfer freihaben, ihren Rückzug in ein Stift schrieben. Er saß in einem Saal des Würzburger nicht zu eigen gemacht. 2. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine unbeantwortet geblieben?
für Ältere. Ilse Helbich gerät ins Schwärmen, welche Landgerichts und wollte Face­book dazu bringen, Eigentlich liebt es Anas Modamani, fotografiert Gefühle zu zeigen. Was ist linke Kulturpolitik? Inwieweit darf
Vorteile das hat, ab und zu ein Abstecher ins Alters- Beiträge von Rechts­ extre­
men zu löschen, die oder gefilmt zu werden, er mochte auch Face­book. 3. Ich wünschte, ich hätte weniger gearbeitet. Kultur politisch instrumentalisiert werden?
heim. Allein der wunderbare Masseur! Offen ist fürs sein Selfie mit der Kanzlerin missbrauchten, um Von Journalisten hält er sich seit einigen Monaten 4. Ich wünschte, ich hätte Kontakt mit meinen
Jah­res­ende nur noch: Sortierung der Einladungen ihn als Terroristen zu verleumden. Er stand im dennoch fern, auch mit der ZEIT möchte er am Freunden gehalten. Was wünschen Sie Deutschland
für Weihnachten. Wer will sie nicht alles dabeihaben, Licht der Kameras, internationale Fernsehteams Ende dieses Jahres nur telefonieren. Er hat mit dem, 5. Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher für 2018?
die Kinder, die vielen ­Freunde! SU SANNE MAYE R waren angereist. Was war geschehen? was in Deutschland »Öffentlichkeit« genannt wird, zu sein. JOHANNES GE RNE RT Mehr Europa!
WIRTSCHAFT
4. D e z e m b e r 2017 DIE ZEIT No 50

19
J A H R E S R Ü C K B L I C K 2 0 1 7

Was wächst hier wirklich?


Foto: Ralph A. Clevenger/Getty Images; Quelle Prozentzahlen: IWF, Eurobarometer

2017 lief Spitze, aber unter der Oberfläche drohen Gefahren


VON JENS TÖNNESMANN

A
m amerikanischen Thanks­giving von Zahlen, in denen sich die Wirtschaft spiegelt. mit 1,4 Prozent – allem Anschein nach wird das Alles gut also für 2018? Mitnichten. Dambisa
Day vor zwei Wochen postete die Was wächst? Was schrumpft? Und was hat das zu Wachstum in diesem Jahr deutlich über zwei Prozent Moyo etwa, deren Bücher Bestseller wurden und

+3,6 %
Ökonomin Dambisa Moyo zwei bedeuten? Das fragen auch wir auf den folgenden liegen. Die Arbeitslosigkeit sank stärker als erwartet, die früher bei der Weltbank arbeitete, warnte
Bilder auf In­
sta­
gram. Das erste Seiten dieser Ausgabe, auf denen Glücksforscher zu die Preise stiegen weniger als befürchtet. Und welt- jüngst nicht nur vor dicken Putern, sondern auch
zeigte einen gebratenen Puter. Wort kommen (S. 20), Wochenendjobber erzählen weit sagt der Internationale Währungsfonds für vor den steigenden Schulden von Staaten, Firmen
»Wusstet ihr«, schrieb sie, »dass (S. 21), Unternehmer Hackerangriffe schildern dieses Jahr inzwischen ein Wirtschaftswachstum von und Privatleuten: »Eine Dekade nach dem Beginn
heute mehr als 51 Millionen Truthähne konsu- (S. 26), der H ­ ype um die Fidget-Spinner erklärt 3,6 Prozent voraus – das wäre deutlich mehr als die der Finanzkrise sieht die Welt die Voraussetzungen
miert werden?« Das zweite Bild zeigte eine Grafik, (S. 28) und das wachsende Bruttoinlandsprodukt, Wachstum der Weltwirtschaft errechnet der 3,2 Prozent im vergangenen Jahr. Wenn 2016 durch für eine neue Schuldenkrise.«
darauf zwei dünne und zwei sehr fette Exemplare: das BIP, porträtiert wird (S. 30). Internationale Währungsfonds für das Jahr 2017 Brexit und Trump-Wahl für viele Ökonomen das Noch immer leben wir in unsicheren Zeiten,
»Wusstet ihr, dass Truthähne ihr Gewicht seit den Apropos BIP: Betrachtet man das abgelaufene Jahr der bösen Überraschungen war, dann war 2017 noch immer drohen Handelskriege, noch immer
1960er Jahren verdoppelt haben?« Dazu setzte sie Jahr durch die Ökonomenbrille, dann war es viel das Jahr der ausgebliebenen Schocks. ist unklar, wie der Ausstieg Großbritanniens aus
die Hash­tags #healthy #food #get­smarter – seid besser als erwartet – außer vielleicht für die Truthähne. – 6 % Viele düstere Prophezeiungen erfüllten sich nicht: der EU vonstattengehen soll; im Augenblick ist
schlau, esst gesund. Die deutsche Wirtschaft übertraf alle Pro­gno­sen. Zu weder die Sorge, Trump könne die Globalisierung nicht einmal klar, wie Deutschland in Zukunft
Ob Truthahngewicht, Schuldenstand oder Preis- Jahresbeginn etwa sagten die deutschen Wirtschafts- Kann die EU ihre wirtschaftlichen Interessen umkehren und die Weltwirtschaft destabilisieren, regiert wird. Sicher ist eigentlich nur: Auch im
niveau: Wie alle Wirtschaftsforscher beobachtet forschungsinstitute im Mittel ein Wachstum von weltweit durchsetzen? Das glauben sechs Prozent noch die Angst, die Euro-Zone könne aus­ein­an­der­ Jahr 2018 werden die Truthähne wieder das Nach-
Dambisa Moyo die Veränderung der Welt anhand 1,3 Prozent voraus, die Bundesregierung rechnete weniger Menschen in der Euro-Zone als noch 2016 bre­chen. sehen haben.
20 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

Das Glücksrätsel
Auf ZEIT ONLINE befragen wir laufend Leser, wie es ihnen gerade geht. Offenbar hatten sie ein gutes Jahr – und einer schenkte uns
ein neues Redaktionslieblingswort  VON CHRISTIAN BANGEL , ELENA ERDMANN , PHILIP FAIGLE , ANDREAS LOOS, FABIAN MOHR UND JULIAN STAHNKE

Mehrheitlich zufrieden
Stets befanden etwa 70 Prozent der Leser, es gehe ihnen gut – ganz gleich, an was für einem Tag im Zeitraum vom 23. März
bis zum 23. November 2017. Nur die Bundestagswahl im September sorgte für deutliche Verstimmung
Sonntag, 7. Mai Freitag, 30. Juni Sonntag, 24. September
Emmanuel Macron setzt sich bei den Der Bundestag beschließt Bundestagswahl
Sonntag, 7. Mai
Präsidentschaftswahlen in Frankreich durch Freitag,
die »Ehe30.
für Juni
alle« Sonntag, 24. September
Anteil der gut gelaunten Leser pro Tag
Emmanuel Macron setzt sich bei den Der Bundestag beschließt Bundestagswahl
Anteil der gut gelaunten Leser pro Tag Präsidentschaftswahlen in Frankreich durch die »Ehe für alle«
60 %
60 %
40 %
40 %
20 %
20 %
0% April Mai Juni Juli August September Oktober November

0% April Mai Juni Juli August September Oktober November

20 %
20 %

Anteil der schlecht gelaunten Leser pro Tag


Anteil der schlecht gelaunten Leser pro Tag Donnerstag, 22. Juni Am Tag der Bundestagswahl fühlten sich
Der heißeste Tag des Jahres 39,6 % der Teilnehmer schlecht
Donnerstag, 22. Juni Am Tag der Bundestagswahl fühlten sich
Der heißeste Tag des Jahres 39,6 % der Teilnehmer schlecht
Sonntag, 19. November
Die Koalitionsverhandlungen zwischen
Mit diesen Wörtern beschrieben die Leser ihre Stimmung (Nennungen pro 1000 Wörter, Mittel über drei Tage). Union, FDP undSonntag, 19. November
den Grünen scheitern
Die Koalitionsverhandlungen zwischen
Lesehilfe: Am Tag nach den Wahlen in Frankreich fühlten sich besonders viele Leser »europäisch«. Union, FDP und den Grünen scheitern
Mit diesen Wörtern beschrieben die Leser ihre Stimmung (Nennungen pro 1000 Wörter, Mittel über drei Tage).
Lesehilfe: Am Tag nach den Wahlen in Frankreich fühlten sich besonders viele Leser »europäisch«. heiß verzweifelt
5 heiß verzweifelt
europäisch erfreut
5
europäisch erfreut

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Morgens motiviert, abends hungrig Montags frustriert, samstags froh


Der Anteil der gut gelaunten Leser schwankt im Tagesverlauf kaum. Was sich aber ändert: Zu Wochenbeginn sind verhältnismäßig viele Leser schlecht gelaunt. Zum Wochenende
Die Häufigkeit bestimmter Begriffe, mit denen sie ihr aktuelles Gefühl beschreiben bessert sich die Stimmung. Allerdings fühlen sich dann besonders viele Leser einsam

Prozentsatz der Leser im Tagesverlauf, So häufig werden ausgewählte Wörter den Tag über genannt Tägliche Abweichung der guten Stimmung vom So häufig werden ausgewählte Wörter die Woche über
die sich »gut« fühlen: (Nennungen pro 1000 Wörter): Wochendurchschnitt, in Prozentpunkten. genannt (Nennungen pro 1000 Wörter):
Prozentsatz der Leser im Tagesverlauf, So häufig werden ausgewählte Wörter den Tag über genannt Tägliche
Lesehilfe: Abweichung
Montags liegtder
dieguten Stimmung
Zahl der vom es gut geht,
Leser, denen So häufig werden ausgewählte Wörter die Woche über
die sich »gut« fühlen: (Nennungen pro 1000 Wörter): Wochendurchschnitt, in Prozentpunkten.
2,75 Prozentpunkte unter dem Wochendurchschnitt. genannt (Nennungen pro 1000 Wörter):
2 erfolgreich
Lesehilfe: Montags liegt die Zahl der Leser, denen es gut geht, 4
2 2,75 Prozentpunkte unter dem Wochendurchschnitt. erfolgreich
70 % 1 4
2
pleite
1,63
70 % 1 2
60 % pleite 1,2 1,3
0 Uhr 6 Uhr 12 Uhr 18 Uhr 1,63
60 % 1,2 1,3
0 Uhr 6 Uhr 12 Uhr 18 Uhr demotiviert
20 2
motiviert demotiviert
−2,75 −0,6 −0,82 0,07 2
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40 % motiviert 10 1
−2,75 −0,6 −0,82 0,07
40 % 10 1
0 Uhr 6 Uhr 12 Uhr 18 Uhr

20 % 0 Uhr 6 Uhr 12 Uhr 18 Uhr 10 einsam


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0 Uhr 6 Uhr 12 Uhr 18 Uhr 0 Uhr 6 Uhr 12 Uhr 18 Uhr
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ZEIT ONLINE/ZEIT; Quelle: Leserbefragung, Zeitraum: 23. März bis 23. November 2017
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ZEIT ONLINE/ZEIT; Quelle: Leserbefragung, Zeitraum: 23. März bis 23. November 2017

ann es wirklich sein, dass es uns Leser gut gestimmt – egal, ob in Frankreich ein neuer Richter anhand von SOEP-Daten, dass sich Groß- logischerweise zu anderen Antworten. »Die Frage »schwanger«. Im Hochsommer ist die positive Stim-
so gut geht? Und noch dazu: Präsident gewählt wird, in Hamburg die Barrikaden ereignisse wie Wahlen oder die Flutkatastrophe in nach der allgemeinen Lebenszufriedenheit ermuntert mung von Entspannung, die negative von Trägheit
Immer gleich gut? Das fragen wir brennen oder der amerikanische Präsident mit Atom- Ostdeutschland fast gar nicht auf die Zufrieden- uns, über unser Leben im Generellen nachzuden- geprägt: Man ist öfter »entspannt«, »höchstzufrieden«,
uns, seit wir im März dieses Jah- waffen droht. Nur ein einziges Mal in diesem Jahr heit der Befragten ausgewirkt haben. Lediglich die ken«, sagt der Psychologe Michael Boiger, der an der »sommerlich«, aber andererseits auch »unproduktiv«,
res eine kleine, unscheinbare Box schlug die Stimmung um: In der Nacht der Bundes- bayerischen Teilnehmer waren einen Tag lang zu- bel­gischen Universität Leuven zu Emotionen forscht. »verzweifelt« oder »fertig«. Im Herbst steigt die Zahl
auf die Startseite von ZEIT ON- tagswahl ging es schlagartig und über Stunden fast friedener, nachdem Bayern München die Cham­ »Wer fragt, wie es heute so geht, bekommt eher ein derer, die sich »krank», »erkältet«, »darmkrank« oder
LINE gesetzt haben. Sie stellt den allen Lesern »schlecht«. Das meistverwendete Wort pions League gewonnen hatte. Grundgefühl mitgeteilt, das spontaner ist und über »fieberkrank« fühlen, an – Grippezeit.
Lesern eine einfache Frage: »Wie geht es Ihnen heu- in dieser Nacht war: »enttäuscht«. Einen Tag später Schon seit Jahrzehnten arbeiten Psychologen, den Tag schwanken kann.« Allein schon weil die Auch im Verlauf der Woche schwankt die Wort-
te?« Darunter gibt es zwei Knöpfe, einen für »gut« hingegen schwang die Stimmung wieder auf Nor- Neurowissenschaftler und Soziologen daran, das Fragen der Forscher sich von unserer unterscheiden, auswahl: Vor allem in der Wochenmitte drehen sich
und einen für »schlecht«. Wer einen davon anklickt, malpegel zurück. Glück und die Zufriedenheit der Menschen zu lassen sich die Ergebnisse nicht vergleichen. die Wörter vornehmlich um die Arbeit. Die Leser
kann seine Stimmung dann mit einem Wort präzi- Wie kann es sein, dass Tausende Teilnehmer im vermessen. Einige stellen damit die einflussreiche Dennoch finden sich in unseren Daten Effekte, fühlen sich dann besonders oft »erfolgreich« und
sieren: entmutigt, verdattert, erwartungsvoll. Kollektiv jeden Tag das gleiche Ergebnis hervor- statistische Maßzahl infrage, nach der die Situation die auch die wissenschaftliche Glücksforschung »produktiv«, aber eben auch: »unkonzentriert«, »ge-
Die Idee entstand in einer Themenrunde zur bringen? Noch dazu, da uns Nutzerdaten zeigen, dass eines Landes oft gemessen wird, das Bruttoinlands- kennt. Am Wochenende etwa steigt die Stimmung fordert«. Am Wochenende schließlich wird das Privat-
Bundestagswahl. Was würde dabei herauskommen, sich die Teilnehmer von Tag zu Tag unterscheiden? produkt (BIP). Seit 2012 gibt es sogar einen World der Leser deutlich, während sie am Montag abfällt. leben wichtiger. Dann steigt die Zahl der Leser, die
fragten wir uns in der Online-Redaktion, wenn wir Gerd Bosbach, Statistikprofessor an der Universität Happiness Report, in dem die Glücksmessungen Weekend effect und blue monday phenomenon nennen sich »allein», »geborgen«, »einsam« fühlen, deutlich.
unsere Leser laufend nach ihrer Stimmung befragten? Koblenz, hat dafür eine Erklärung. »Die Stichprobe aller Länder zusammenfließen. Deutschland lan- Forscher die Phänomene. Im Jahr 2010 zeigten zum Interessant auch: Das Gefühl, »pleite« zu sein, be-
Schwankt sie stark, oder bleibt sie konstant? Wie von mehr als 3000 mag zwar nicht nach wissen- dete dort zuletzt auf Rang 16 von 155 Ländern. Beispiel drei US-Wissenschaftler um den Psychologen schleicht die Leser eher frühmorgens als am Abend.
reagieren die Leser auf Ereignisse wie einen Terror- schaftlichen Kriterien erhoben sein«, sagt er. »Aber Beim BIP landet es auf Platz 4. Richard M. Ryan in einer Studie, dass die Stimmung Manche Worte sind sogar Stimmungszwitter:
anschlag, Gewalt am Rande des G20-Gipfels, eine sie ist groß genug, um relativ stabil die Stimmung Im Unterschied zu unserer kleinen Box geht es in der Befragten am Wochenende signifikant besser war Sie werden sowohl bei guter wie auch bei schlech-
Entgleisung von Donald Trump? Auf Wahlprognosen aller Leser abzubilden.« Gerade die Konstanz der Er- der Glücksforschung streng wissenschaftlich zu. Die als an Werktagen. Auch in einer Befragung des Um- ter Laune genannt. Allen voran: »müde«. Zwei
und Wahlergebnisse? gebnisse zeige, dass die Befragung gut funktioniere. Probanden bekommen Mini-Computer in die Hand, frageinstituts Gallup in den USA gaben die Bürger Drittel der müden Leserinnen und Leser fühlen
Seit die Box auf unserer Webseite steht, wurde die Die Quote von rund 70 Prozent gut gelaunten­ die mehrmals täglich eine zufällige Auswahl von­ an, an Wochenenden glücklicher zu sein. In beiden sich nicht gut, ein Drittel scheint dagegen den Zu-
Frage mehr als 1,2 Millionen Mal beantwortet, jeden Abstimmungsteilnehmern entspreche wohl der tat- ihnen dazu ermahnt, ihren aktuellen Glückszustand Studien wird der Effekt kleiner, wenn die Bürger sich stand zu genießen.
Tag nehmen zwischen 3000 und 7000 Menschen teil. sächlichen Stimmungsverteilung unter den Lesern. mitzuteilen. Anders als bei unserem Experiment kann zum Beispiel mit der Arbeit verbunden fühlen, auf Wie es in diesem Jahr den Lesern so ging – da-
Mehr als 350 000 Mal haben die Leserinnen und Doch warum schwankt die Stimmung nicht? auch nicht jeder mitmachen (wobei auch wir aus- Augenhöhe mit dem Chef, und das Gefühl haben, rüber entschied offenbar weniger das politische
Leser ihre Stimmung mit einem Adjektiv untermau- Der Soziologe Jürgen Schupp leitet in Berlin das schließen, dass Teilnehmer mehrfach abstimmen). autonom Entscheidungen fällen zu können – so wie Geschehen als die Arbeitswelt und der Gesund-
ert, darunter auch Wortschöpfungen wie »unter- Sozio-ökonomische Panel (SOEP), das die Bürger Die Fragen der Forscher zielen anders als unsere normalerweise am Wochenende. heitszustand. Wer sich schlecht fühlte, bekundete
sommert«, »netgeflixt« oder – ein Favorit der Redak- in Deutschland seit Jahrzehnten danach fragt, wie Box bei ZEIT ONLINE vornehmlich auf eine län- Schaut man zudem auf die Hunderttausenden besonders oft, »krank«, »traurig« oder gestresst« zu
tion – »weltfreundlich«. zufrieden sie sind. »Wir wissen aus der Forschung, gere Perspektive der Lebenszufriedenheit. Statt: »Wie Wörter, die unsere Leser in diesem Jahr eingegeben sein, während die Gutgelaunten besonders oft
Die überraschendste Einsicht: Die Stimmung dass politische Ereignisse das Wohlbefinden kaum geht es Ihnen heute?« werden die Teilnehmer danach haben, zeigen sich weitere Trends. Im Frühjahr etwa »entspannt«, »zufrieden» und »ausgeglichen« wa-
unserer Leserschaft schwankt kaum. Über den Tag beeinflussen«, sagt Schupp. Im Jahr der Bundes- befragt, wie sie ihre generelle Lebenszufriedenheit signalisieren viele Wörter Aufbruch. Signifikant mehr ren. Eine Idee für das nächste Jahr könnte also
gerechnet, sind stets zwischen 65 und 70 Prozent der tagswahl 2013 zeigte etwa der Soziologe Aljoscha auf einer Skala von 0 bis 10 bewerten. Das führt­ Leser fühlen sich »vital«, »engagiert« und sogar sein: einfach mal öfter ausschlafen.
4. DEZEMBER 2017 No 50 WIRTSCHAFT 21

Eine Woche ohne Ende


Arbeiten, wenn andere frei haben – auch an Samstagen, Sonntagen und
Feiertagen. Wer tut sich das an? Besuche bei drei Ausnahmejobbern  VON VIOLA DIEM

W
enn in vielen deutschen Würde der Pfarrer sonntags einfach ausschlafen,
Haushalten noch im Bett könnte er nicht vom siebten Tage der Schöpfung
gefrühstückt, die Tasche predigen, dem Tag, an dem der Mensch ruhen möge.
für den Ausflug zur Oma Die Kirche gab einst den Anstoß zum arbeits-
gepackt oder der Schal für freien Sonntag. Um in die Messe gehen zu können,
den Stadionbesuch ge- wurden Arbeitstätigkeiten reduziert. Konstantin der
bunden wird, verbaut Große war der erste, der die Sonntagsruhe durch ein
Stefan Janowitz schon seit mehreren Stunden Flug- Gesetz staatlich verordnete. Im 19. Jahrhundert be-
zeugteile. Der Mechaniker muss arbeiten, wenn gann die wöchentliche Freizeitgarantie zu wanken,
andere Leute freihaben: am Wochenende. man arbeitete wieder mehr sonntags. Bis Kaiser Wil-
In Hochproduktionszeiten, wenn die regulären helm II. im Jahr 1891 die Sonntagsarbeit bis auf ­
Arbeitswochen nicht reichen, kann Janowitz’ Arbeit- einige Sonderregelungen untersagte.
geber Airbus seine Angestellten zum Einsatz am Sams- Heute ist die Sonntagsruhe im Grundgesetz fest-
tag verpflichten. »Die Airlines warten schließlich nicht geschrieben – mit den genannten Ausnahmen. Die
gern auf ihre Flieger«, sagt Janowitz. Er rechnet damit, Bundesländer können weitere Sonderfälle bestim-
dass er und seine Kollegen in den nächsten Monaten men. Zuletzt kreiste die Diskussion zum Beispiel
etwa jeden zweiten Samstag aufs Ausschlafen ver- darum, ob Supermärkte an Heiligabend öffnen
zichten müssen. Wer wolle, könne sich für weitere können sollten, weil der dieses Jahr auf einen Sonntag
Schichten am Samstag und Sonntag eintragen. fällt. Geschäfte dürfen zwar wegen des besonderen
Das Jahr 2017 war nicht nur für Stefan Janowitz Bedarfs für einige Stunden öffnen. Mehrere Super-
ein Jahr der Arbeit. Die Arbeitslosigkeit ist – saison- marktketten entschieden sich aber dafür, ihren Mit-
bereinigt – kontinuierlich gefallen in diesem Jahr. Im arbeitern den freien Sonntag zu lassen.
Oktober waren laut der Bundesagentur für Arbeit Auch für die 28-jährige Fotografin Franziska Evers
erstmals weniger als 2,4 Millionen Menschen ohne ist Arbeit an Weihnachten ein Tabu. Bei anderen
Arbeit, das ist der niedrigste Wert seit der Wiederver- Feiertagen ist sie aber nicht so streng. Als der Refor-
einigung und entspricht einer Quote von 5,4 Prozent. mationstag vielen Deutschen einen außerplanmäßi-
Zugleich wächst nicht nur die Zahl der Beschäftigten gen Feiertag bescherte, saß die Selbstständige in ihrem
seit Jahren, sondern auch die Zahl der offenen Stellen. Büro in Hamburg-Eimsbüttel und bearbeitete am
Experten sprechen von einem Jobwunder. Bildschirm Bilder. »Freimachen bringt mir nichts«,
Eine Folge: Immer mehr Menschen in Deutsch- sagt sie. »Das bedeutet nur, dass ich an den anderen
land sind an Wochenenden und Feiertagen beruflich Tagen der Woche länger im Büro bleiben muss.«
im Einsatz. Die Bundesregierung gab auf Nachfrage Seit fünf Jahren ist Evers selbstständig. Wochen-
der Grünen an, dass knapp 6,1 Millionen Menschen enden hat sie seitdem regelmäßig zur Arbeitszeit er-
an diesen Tagen arbeiten. Ist das ein Grund zur Em- klärt. Gründe gibt es mehrere, erklärt sie: »Viele
pörung? Oder eine weitere Etappe im Kampf um die Kunden haben nur am Wochenende Zeit, Hochzeits-
Überwindung von eingestaubten Arbeitsnormen? termine liegen meist auf Samstagen, und manchmal
Im Fall von Airbus ist es Ausdruck dafür, dass die bin ich einfach mit der Nachbearbeitung hinterher.«
Geschäfte gut laufen. Das sichert die Arbeitsplätze, Zahlen belegen, dass Wochenendarbeit für Selbst-
beschränkt aber die Freizeit. Stefan Janowitz kann ständige üblich ist: Laut einer Erhebung des Statisti-

+2,4 %
sich buchstäblich vor Arbeit nicht retten. Er be- schen Bundesamts arbeitet gut die Hälfte von ihnen
kommt für seinen Einsatz einen finanziellen Bonus an Samstagen, ein Viertel an Sonntagen. Im Vergleich
sowie einen Ausgleichstag unter der Woche. Trotzdem dazu sind es bei den Angestellten nur 23 Prozent an
sehnt er sich nach einem Job, bei dem die Arbeits- Samstagen, 13 Prozent an Sonntagen. Interessanter-
woche montags beginnt und freitags endet. »Ich weise geht es Menschen mit Wochenendjob aber
hätte lieber ein zusammenhängendes Wochenende«, offenbar nicht erheblich schlechter. Das Deutsche
sagt er, »die Zeit wäre mir wichtiger als das Geld.« Institut für Wirtschaftsforschung etwa stellte fest, dass
Fotos (alle plainpicture): Jerome Gerull; Maskot (u.); Quelle Prozentzahlen: Bundesagentur für Arbeit, Statistisches Bundesamt

Dass er sich an vielen Samstagen eher zur Arbeit quält, die Zufriedenheit von Sonntagsarbeitern unwesent-
sollen seine Chefs nicht wissen, darum haben wir mehr sozialversicherungspflichtig lich geringer ist als im Schnitt.
seinen Namen in diesem Artikel geändert. Beschäftigte gab es im August 2017 im Franziska Evers sieht in der Möglichkeit, am ­Wo­
Die Wochenendschichten von Janowitz sind Vergleich zum selben Monat im Vorjahr chen­ende arbeiten zu können, ein Privileg der Selbst-
Symptom einer starken Wirtschaft. Für den 59-Jäh- ständigkeit. »Ab und zu sitze ich gern am Wochen-
rigen Roland Brenner hingegen bedeuten sie genau ende hier«, sagt sie, »kann in einer alten Jeans her-
das Gegenteil: Nicht am Wochenende zu arbeiten kommen, laut Musik hören, ohne meinen Büronach-
kann er sich gar nicht leisten. In einer anderen großen barn zu stören, trinke Tee und bearbeite meine Bilder.
deutschen Stadt öffnet Brenner die Tür zum Büro bei dem Taxiunternehmen vor. Da trug er noch An- Vollzeit arbeiten kann und das Geld dennoch nicht Dafür gehe ich an einem anderen Tag früher nach
eines Taxiunternehmens. Hinter ihm warten auf zug und Krawatte vom letzten Kundentermin. langt. Vor allem aus den USA hört man, dass es zum Hause.« Für Evers ist Wochenendarbeit eine Form
einem Teppich aus goldenem Laub zwei Taxis, ­Marke Bis zu tausend Euro netto im Monat verdient sich Überleben mehr als einen Job braucht. Doch auch in der selbstbestimmten Arbeit. Wäre sie dann nicht
Mercedes S6, auf ihren nächsten Einsatz. Im März Brenner seitdem mit der Wochenendarbeit dazu. Je Deutschland wächst dieses Problem. Das Institut für jedem zu wünschen? Wohl nicht. Die komplette Auf-
hat Brenner angefangen, neben seinem Job als Ver- mehr Fahrten, desto mehr nimmt er ein. Wenn es Arbeitsmarkt- und Berufsforschung gab erst im Ok- lösung des Wochenendes wäre ein gesellschaftlicher
sicherungsvertreter am Wochenende Taxi zu fahren. schlecht läuft, stockt das Taxiunternehmen auf Min- tober bekannt, dass etwa drei Millionen Deutsche Verlust, ist es doch der einzige regelmäßige Zeitraum,
Seinem Arbeitgeber, einer großen deutschen Ver­ destlohnniveau auf. Dazu kommen die Trinkgelder. zusätzlich zu ihrem Hauptberuf einen Nebenjob in dem ein Großteil der Menschen freihat.
sicherung, verschweigt er das, darum erscheint auch Einen Wochenendaufschlag wie bei Airbus gibt es haben. Seit 2003 hat sich die Zahl der Mehrfach­ Dass sie nicht jede Woche Zeit zum Durchatmen
Brenner hier unter anderem Namen. nicht. Trotzdem sei die Nachtschicht am Wochen- beschäftigten mehr als verdoppelt. Das deutsche Job- hat, merkt Franziska Evers deutlich. Durch die Wo-
Brenner hat schwere Zeiten hinter sich. Den ende begehrt, sagt Brenner und blickt auf den Dienst- wunder hat auch eine Schattenseite. chenendarbeit habe sich ihr Freundeskreis inzwischen
größten Teil seines Einkommens von der Versiche- plan, der in dem muffigen, kleinen Raum des Taxi- In vielen Berufen gehört Wochenendarbeit aber sehr »umstrukturiert«, sagt sie. »Ich verpasse viel:
rung erzielt er aus Provisionen für abgeschlossene Unternehmens an einer Magnetwand hängt. »Bei zur Jobbeschreibung, selbst ohne Nebenjob. Vor al- Geburtstage, ›Komm, wir grillen im Park‹-Treffen,
Versicherungsverträge. Das monatlich garantierte vielen Kunden sitzt dann das Trinkgeld lockerer. Und lem im Dienstleistungssektor und in der Landwirt- eigentlich so ziemlich den ganzen Sommer.« Also hat
Einkommen von der Versicherung deckt nur die wenn es richtig gut läuft, will jemand nach der Knei- schaft wird am Wochenende gearbeitet. Tiere auf sie begonnen, Wochentage und Wochenenden, die
Miete. Nach Scheidungskummer und Trauer um die pe noch ins Bordell.« Einige Etablissements zahlen einem Bauernhof müssen auch an Samstagen und sie sich freihalten will, im Kalender mit grünen Kle-
tote Mutter gelangen Brenner einige Monate lang Fahrern 40 Euro Provision fürs Vorbeibringen. Sonntagen versorgt werden. Und was wäre ein Feier- bezetteln zu markieren. »Wenn ich dann durchblät-
kaum Abschlüsse, und er verdiente gerade 800 Euro Selbst in der Nacht vor der Hochzeit seiner Toch- tag wie der 1. Mai oder ein Derby zwischen Schalke tere und weiß, dass ich in dieser Woche weniger Zeit
im Monat. Als alle Ersparnisse aufgebraucht und nur ter fuhr Brenner noch eine Schicht, führte sie dann 04 und dem BVB, wenn alle Polizisten freihätten? habe, überdenke ich, ob ich den Auftrag annehme.«
noch zehn Euro auf dem Konto waren, riet ihm ein zum Altar und brach nach dem Mitternachtsbuffet Ob als Taxifahrer oder als Verkäufer: Ohne Kellner und Köche, Kinos, Konzerte und Am Ende entschied sie sich am Reformationstag doch
Freund zum Taxifahren. Das hatte Brenner vor Jahren zur nächsten Tour auf. Am Montag ging er wieder 6,1 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten Theater wären die Innenstädte am Wochenende aus- noch, nicht den ganzen Tag zu arbeiten. Sie schwang
schon einmal gemacht. Am selben Tag stellte er sich für fünf Tage ins Büro. Sein Fall zeigt, dass jemand regelmäßig an Wochenenden gestorben. Autos blieben liegen ohne Tankstellen. sich auf ihr Rennrad und radelte 80 Kilometer.

Ideen allein reichen nicht


Warum ich auch in diesem Jahr kein Unternehmen gegründet habe  VON GERO VON R ANDOW

I
n diesem Jahr bin ich schon wieder kein Unter- obachten. Was ich sah, überzeugte mich wenig desto deutlicher wurde mir, was ich eigentlich schon ten Kfz-Mechanikers herumschraube. Wir beide haltsam war, und fand schließlich sogar einen
nehmer geworden. Dabei hatte ich zwei schö- und reizte mich umso mehr. Wäre doch gelacht! immer wusste: Gastronomie ist eine harte Nummer. kennen einen netten Hamburger Kaufmann, der das Rentner, einst Geschäftsführer einer Metallbau­
ne ­Ideen. Eine Rock-’n’-Roll-Kneipe wollte Was mich erstaunte, war allerdings diese Infor- So eine Bar müsste ja mindestens fünfmal in gleiche Hobby pflegt. Also dachte ich mir: Der eine firma, der bestens passte.
ich aufmachen. Oder eine Oldtimer-Werk- mation: In Deutschland nimmt die Zahl der ge- der Woche geöffnet sein, etwas anderes kann die kann schrauben, der andere hat kaufmännisches Ver- Dabei blieb es dann leider. Es hat schließlich
statt. Das waren nicht nur so Einfälle, ich habe mich werblichen Gründungen ab. Wie das Statistische Kundschaft sich nicht merken. Fünfmal bis in die ständnis und Kapital, und ich könnte ja unser Werbe- seinen Grund, warum es nirgendwo eine Werkstatt
ernsthaft damit befasst. Warum? Erstens, weil ich Bundesamt im September mitteilte, wurden im Nacht arbeiten. Und spätestens von der Mittags- onkel und das Verkaufsgenie sein. Jedenfalls habe ich für Oldtimer gibt, die sowohl einem Schrauber als
Neuanfänge mag. Zweitens, weil mir beides nach ersten Halbjahr 2017 nur 288 800 neue Unterneh- zeit an einkaufen, putzen, rechnen und was weiß schon mehrere Leute kennengelernt, die nach einer auch einem Geschäftsführer, einem Kapitalgeber
Freiheit schmeckte. Naiv, gewiss, aber ohne eine men gegründet, 1,4 Prozent weniger als im selben ich. Fünfmal den ganzen Abend zu Leuten nett guten Oldtimer-Werkstatt suchten. Den Bedarf gab und dazu noch einem Werbefuzzi wenigstens so
Prise Naivität kommt nichts Neues in die Welt. Zeitraum des Vorjahres – und dieser Sinkflug sein, die mal so, mal so sind. Darunter Besser­ es also. Und ich hatte eine Zusatzidee: Die Werkstatt viel einbringt, dass sie mehr ist als ein Hobby. Und
Ein ungewöhnlicher Fall war ich mit diesen dauert schon eine ganze Weile. Die Zahl der Be- wisser. Angetrunkene. Stehpinkler. Leute, die mir ließe sich doch zu einer Art Treffpunkt ausbauen, mit mehr als ein Hobby sollte sie schon sein.
Überlegungen nicht, ganz im Gegenteil. Dem triebsschließungen wiederum liegt über derjenigen pausenlos in die Musikauswahl hineinreden. Das Musik, Live-Bands, siehe oben. War also alles nichts. Ich gehörte leider nicht
Global Entrepreneurship Monitor zufolge glaub- der Neuanfänge, der Saldo ist negativ. Das sollte soll Freiheit sein? Nein, danke. Viel Kapital war nicht nötig. Allerhand Werk- zu den bewundernswerten 4,6 Prozent, die ihre­
ten im Jahr 2016 mehr als 37 Prozent der Deut- mich aber nicht entmutigen. Aber die Werkstatt, dachte ich mir. Ich fahre einen zeug besitzen wir schon, und eine geeignete Halle Unternehmensidee in die Praxis umsetzen. Immer-
schen, sie hätten durchaus die Möglichkeit und Ich surfte Service-Seiten für Gründer ab und ent- Oldtimer, an dem ich mit der Hilfe eines befreunde- zu finden ist zwar schwer, aber nicht unmöglich. hin war es ein erhebendes Gefühl, als potenzieller
auch die Fähigkeit, ein Unternehmen zu gründen. deckte allerlei Institutionen, die Hilfe leisten wollen. Wir hatten auch bald einen Namen für die Firma Gründer unterwegs zu sein. Gelernt habe ich auch
Warum tun sie es dann nicht? Davon kann ich Unterstützung erhalten in erster Linie junge Leute, und ließen für kleines Geld ein Logo entwickeln etwas: Sein Hobby zum Beruf zu machen ist leich-
etwas erzählen.
Eine Rock-’n’-Roll-Kneipe schien mir die idea-
le Verbindung zweier meiner Leidenschaften zu
die Hightech-Unternehmen auf die Beine stellen
wollen. Das ist natürlich gut, nur konnte davon in
meinem Fall keine Rede sein. Doch unverdrossen las
–1,4 % – das Wichtigste macht man ja immer zuerst.­
Allerdings hat unser kaufmännisch aktiver Freund
allzu viel um die Ohren, als dass er sich auch noch
ter gesagt als getan. Jedenfalls werde ich im kom-
menden Jahr keine Weinschule und keinen Think-
tank aufmachen, auch das hatte ich mal überlegt.
sein. Ein gutes Musikprogramm traute ich mir zu, ich mich durch Ratgeber für angehende Gastrono- um so eine Werkstatt kümmern könnte. Na gut, Aber wer weiß, es kommen bestimmt noch mehr
von Gastronomie verstehe ich auch etwas, und die men, fing sogar schon an zu rechnen. Autsch. Wer Im ersten Halbjahr 2017 gab es weniger ich begab mich auf die Suche nach jemandem, der ­Ideen vorbeigeschwommen. Lust hätte ich schon.
Idee bestand ja nicht darin, mit so einem Projekt sich dem Rentenalter nähert, hat es auf dem Kredit- Neugründungen als im ersten Halbjahr 2016. Oldtimer-Verständnis, kaufmännische Erfahrung
reich zu werden. Es sollte seinen Mann ernähren. markt schwer. Und je länger ich nachdachte und mit Insgesamt waren es noch 288 800 und Lust auf einen Nebenjob hatte. Ich traf mich Gero von Randow ist
Also warum nicht? Ich begann, den Markt zu be- je mehr Gastronomen ich über meinen Plan sprach, mit mehreren Kandidaten, was ziemlich unter­ Redakteur im Politik-Ressort der ZEIT
22 JAHRESRÜCKBLICK 2017 WIRTSCHAFT 4. DEZEMBER 2017 No 50

Ü Handelskrieg? Vertagt
ber Autos aus Mexiko hat US- der ausländischen Konkurrenz geschützt werden, weil
Präsident Donald Trump ge- die angeblich oder tatsächlich unfair agiert.
flucht, über Holz aus Kanada, Trotzdem aber boomt das Geschäft – beim euro-
Fernseher aus Japan und Ma- päischen Exportchampion Deutschland sogar ganz
schinen aus Deutschland. Er besonders. Aus der Bundesrepublik wurden im Sep-
hat großen ausländischen Un- tember Waren im Wert von 110,4 Milliarden Euro
ternehmen gedroht, interna- exportiert. Von Januar bis September wurden 6,3
tionale Organisationen beschimpft. Und im Die Zeiten florierender Exporte sind vorbei, fürchteten viele Experten – und irrten sich. Prozent mehr exportiert als im Vorjahreszeitraum.
Frühsommer, auf dem G20-Gipfel in Hamburg, Das globale Geschäft wuchs und wuchs, trotz Donald Trump und großer Proteste  VON PETR A PINZLER »Das liegt an der Konjunktur«, sagt Roland
ärgerte er fast den ganzen Rest der Welt: Während Döhrn vom RWI. Er ist einer der Ökonomen, die
auf den Straßen die Kapitalismusgegner demons- regelmäßig Container zählen lassen – und auch noch
trierten, blockierte Trump eine gemeinsame­ alle möglichen anderen Indikatoren beobachten. Das
Erklärung der Regierungen. Mit der hatten sich Wachstum der Wirtschaft, so Döhrn, und das des
die 20 führenden Wirtschaftsnationen gegenseitig Handelsvolumens seien eng miteinander verknüpft.
offene Märkte versprechen wollen. Trump war Und da es in Europa nach Jahren der Krise nun vielen
damals so hartnäckig, dass Beobachter über eine Ländern ökonomisch wieder besser gehe, wirke sich
»Zäsur in der Handelspolitik« schrieben und das automatisch positiv auf den Handel aus.
warnten, dass das globale, durch Regeln gebundene Deutschland profitiert also davon, dass die Krise in
System in seiner Existenz gefährdet sei, Wirtschafts­ Spanien, Portugal und Griechenland nicht mehr so
kriege drohten. Und vielleicht sogar das Ende des schlimm ist. Dazu kommt, dass es auch in den USA
Welthandels, wie wir ihn kennen. und in Asien einen Aufschwung gibt. Und dass viele
Dramatisch schien das. Und doch hatte es wenig Regierungen zwar gern mal öffentlich mit Handels-
mit der Wirklichkeit zu tun, bisher jedenfalls. Wer sanktionen drohen, auch weil das bei den heimischen
wissen will, was tatsächlich passiert, sollte besser Wählern gut ankommt, aber nur wenige wirklich
Container zählen. bedrohlich handeln: Die WTO verzeichnete in die-
Die Ökonomen vom Wirtschaftsforschungsinsti- sem Jahr die geringste Zunahme an neuen Handels-
tut RWI tun das regelmäßig. Natürlich stehen die schranken seit 2008.
Forscher nicht persönlich an der Mole und halten »Tatsächlich haben sich viele Befürchtungen
nach Schiffen Ausschau. Sie lassen sich vielmehr jeden bisher nicht bewahrheitet«, sagt Christian Kastrop,
Monat von den 82 größten Häfen aus aller Welt be- Volkswirt bei der OECD. Dabei war die wohl größte
richten, wie viele Container reinkommen und raus- Sorge vieler Unternehmen, dass Trump seine Wahl-
gehen. Denn deren Zahl dokumentiert ziemlich ge- kampfversprechen wahr macht, die USA vom Rest
nau und früher als andere Indikatoren, was im in- der Welt abschottet und dann das Chaos ausbricht.
ternationalen Handel los ist. Schließlich werden die Doch das ist nicht passiert.
meisten Waren heutzutage in diesen Behältern mit Zwar steigt der US-Präsident aus dem transpazi-
großen Überseefrachtern über die Meere transportiert. fischen Handelsabkommen TPP aus, bevor es in Kraft
Im September dieses Jahres, so die RWI-Öko- treten konnte. Er legte das amerikanisch-europäische
nomen, wurden so viele Container transportiert wie TTIP auf Eis und lässt seine Beamten nun den Ver-
seit 2010 nicht mehr. In den vergangenen sieben trag für die amerikanische Freihandelszone Nafta neu
Jahren ist der um saisonale Schwankungen berei- schreiben. Er unterschrieb ein Gesetz, das Sanktionen
nigte Wert des Index um etwa 30 Prozent gestiegen gegen Russland verschärft, verhängte Zölle gegen
– 2017 sogar stärker als 2016, obwohl das Jahr noch Stahlimporte, drängte die US-Konzerne, Fabriken in
nicht ganz vorbei ist. Und das bedeutet: Von Handels­ den USA zu bauen statt anderswo. Doch all das hat
krise oder gar Handelskrieg ist in den Häfen und nichts grundlegend an den Handelsströmen verän-
damit auch in vielen Unternehmen wenig zu spüren. dert. Im laufenden Jahr importieren und exportieren
Das RWI konstatiert im Gegenteil einen »anhaltend die USA mehr Waren und Dienstleistungen als 2016.
kräftigen Anstieg« des Welthandels. Er boomt. Ein Präsident, der wild twittert, tut in Wirklich-
Auch Forscher, die mit anderen Methoden die keit offenbar wenig. Sein Umgang mit China zeigt
Handelsströme messen, kommen zu ähnlichen Er- das exemplarisch: Während seiner ersten Asienreise
gebnissen. Die Welthandelsorganisation WTO sagt Mitte November klagte Trump in Peking zwar laut
für dieses Jahr ein Wachstum des globalen Handels über die »einseitigen, unfairen Handelsbeziehungen«
um 3,9 Prozent voraus. Der Internationale Wäh- und darüber, dass die Chinesen viel mehr Güter nach
Fotos: Bartosz Ludwinski; Murat Tueremis/laif [M](u.), Quelle Prozentzahlen: RWI, Pew Research Center

rungsfonds (IWF) schätzt die Lage so gut ein wie seit Amerika verkaufen als umgekehrt. Doch dann sagte
zehn Jahren nicht, er rechnet sogar mit 4,2 Prozent er: Dafür könne man nicht die chinesische Regierung
mehr – nach 2,4 Prozent Wachstum in 2016. Und verantwortlich machen. Schuld seien vielmehr seine
auch das deutsche Ifo-Institut, das für seinen­ Vorgänger im Weißen Haus. Die hätten einfach
Geschäftsklimaindex regelmäßig 1100 Experten aus miese Politik gemacht.
120 Ländern befragt, erkennt viel »Optimismus« und Ein Blick in die Statistik zeigt: Bisher macht
stellt fest: Immer seltener würden die Experten­ Trump fast nichts anders. Denn obwohl der US-­
Beschränkungen des Exports für ein Problem für die Präsident seit fast einem Jahr regiert, verkaufen die
Gesamtwirtschaft halten. Chinesen munter weiter viel mehr Waren in die USA,
Wie kann das sein? Längst droht nicht mehr nur als sie von dort importieren: Im Oktober lag der
der amerikanische Präsident Donald Trump mit chinesische Überschuss bei 26 Milliarden Dollar und
Zöllen, Embargos und der Kündigung von Verträgen. damit um ganze 12,2 Prozent höher als im Vorjahr.

5,8 %
Auch andere Politiker und Regierungen schimpfen Fragt man professionelle Beobachter des Welt-
inzwischen öffentlich, wenn sie die Interessen der handels aber nach einer Prognose und danach, ob sich

+
eigenen Industrie gefährdet sehen. Anfang des Jahres daran bald etwas grundlegend ändern werde – schwei-
warnte beispielsweise die chinesische Regierung die gen sie kurz. Und dann warnen sie: Die Konjunktur
EU, auf keinen Fall ihre Exporte zu beschränken – werde sich abschwächen. Eine nächste Finanzkrise
und die EU schimpfte zurück. Die Briten beschwer- sei möglich. Der Brexit werde schwierig. Und wenn
ten sich über die Kontinentaleuropäer und die Ame- die USA einen Krieg mit Nordkorea anfingen, dann
rikaner. Und vor ein paar Tagen erst warnten die werde das die politische Stimmung sowieso stark ver-
Inder die Chinesen vor einem Handelskrieg. Fast jede ändern. Und als Folge auch den Handel beeinflussen.
Woche, so scheint es, droht irgendwo auf der Welt mehr Container wurden im Oktober 2017 weltweit umgeschlagen als im gleichen Monat des Vorjahres. Gute Zeiten, das wissen Ökonomen, dauern nie ewig.
irgendein Politiker dem Ausland. Immer mit dem Auch die Proteste beim G20-Gipfel in Hamburg (Bild) konnten dem Welthandel nichts anhaben Und schlechte Nachrichten verkaufen sich in der
einen Ziel: Die heimische Industrie soll besser vor Regel auch besser als Container-Indizes.

»Jobs, Jobs, Jobs!«


D
onald Trumps Wahlsieg stand auch die Konsumlaune: Die Verbraucherausgaben Wirtschaftlich war es Trump wird nicht müde, die wirtschaftlichen sicht SEC, deren Spitze Trump mit einem ehemaligen
kaum fest, da gab der Ökonom sind im September um ein Prozent gegenüber dem Erfolge zu betonen. »JOBS, JOBS, JOBS!«, schrieb Wall-Street-Anwalt besetzt hat, kündigte vor Kurzem
Paul Krugman eine düstere Pro­ Vormonat gestiegen – zuletzt gab es einen solchen ein gutes Jahr für die USA. er im Juli auf Twitter. Und im Oktober: »GROSS- an, auf die systematische Verfolgung von Verstößen
gno­se ab. Unter dem neuen Präsi- Anstieg 2009. ARTIGES Bruttoinlandsprodukt«. Und es ist klar, zu verzichten und nur noch große Fälle zu ahnden.
denten werde die Weltwirtschaft in Entsprechend selbstbewusst geben sich der Prä-
Kann Donald Trump dass er sie seiner eigenen Politik zuschreibt. Dennoch fehlen in Trumps Bilanz im ersten
einer Rezession versinken, deren Ende nicht ab­ sident und sein Team. »Wenn Sie dachten, die etwas dafür?  Doch es ist schwer zu sagen, welchen Anteil der Amtsjahr die Triumphe, die er seinen Anhängern
sehbar sei, schrieb der Nobelpreisträger in seiner­ Wirtschaftsdaten 2017 seien überraschend positiv Präsident daran tatsächlich hat. Die Erholung am zugesichert hatte. Zu seinen wichtigsten Versprechen
Kolumne in der New York ­Times. An der Wall ausgefallen, dann warten Sie mal 2018 ab«, mel- VON HEIKE BUCHTER Arbeitsmarkt hat bereits unter seinem Vorgänger be- gehörte, die Gesundheitsreform seines Vorgängers
Street warnte der Finanzier und frühere Obama- dete sich Trumps Pressesprecherin Sarah Sanders gonnen. Die Börsenkurse steigen nicht zuletzt, weil wieder abzuschaffen. Doch die Republikaner, offiziell
Berater ­Steve Rattner vor einem »Markteinbruch Ende ­November per Twitter und verwies auf eine die Notenbanken die Zinsen seit der Finanzkrise seine Parteifreunde, waren darüber so zerstritten, dass
epischen Ausmaßes«. Andere Ökonomen und­ Pro­gno­se­ der Investmentbank Goldman Sachs. künstlich niedrig halten. Das hat Investoren dazu das Vorhaben trotz mehrerer Versuche scheiterte.
Investoren reagierten nicht ganz so extrem, den- Deren Chefvolkswirt Jan Hatzius geht davon aus, bewogen, auf der Suche nach höherer Rendite Ak­tien Umso mehr drängt Trump auf eine Steuerreform, die
noch war man sich einig, dass Trump wie ein dass die ­Arbeitslosenquote im kommenden Jahr zu kaufen. Zudem verdankt Trump seine positive unter anderem massive Steuererleichterungen für
Schock auf Konjunktur und Märkte wirken werde. weiter fallen wird – auf 3,7 Prozent. So niedrig war Bilanz der Tatsache, dass sich die Wirtschaft nicht Unternehmen vorsieht. Trump und seine Partei­
Das Gegenteil ist eingetroffen. Zuletzt wuchs die die Arbeitslosigkeit zuletzt unter Präsident Richard nur in den USA, sondern weltweit erholt. Die der behaupten, die Reform würde Unternehmen zu­
US-Wirtschaftsleistung um drei Prozent. Und das, ­Nixon zu Beginn der siebziger Jahre. Euro-Zone wächst so schnell wie seit zehn Jahren Investitionen animieren und damit das Wachstum
obwohl Stürme Texas, Florida und Puerto Rico ver- Aber die Vorhersage der Banker war nicht nur nicht mehr. Nach über einem Jahrzehnt der Sta­gna­ steigern. Das wiederum würde höhere Steuerein-
wüstet haben. Im Jahr 2016, Obamas letztem Amts- positiv. Die Gruppe der Beschäftigten, die an den tion stieg sogar die Wirtschaftsleistung Japans das nahmen generieren – und die Verluste aus der Sen-
jahr, waren es gerade mal 1,6 Prozent gewesen. Dazu Rand des Arbeitsmarktes gedrängt werde, sei größer siebte Quartal in Folge. kung der Steuersätze ausgleichen.
haben die Börsen neue Rekorde markiert. Seit­ als zu anderen Zeiten mit einem boomenden Arbeits- Trumps größter eigener Einfluss auf die Wirt- Doch es gibt Zweifel an Trumps Steuerplänen,
November vergangenen Jahres hat der Dow ­Jones, markt, hieß es in dem Bericht. Und die Zahl derer, schaft erwächst bisher aus seinen Veränderungen in die bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch in
der Index der US-Großkonzerne, um mehr als 28 die ihre Suche nach einem Arbeitsplatz ganz auf­ Behörden und Ministerien. Die hat er innerhalb der Schwebe waren: Der Rechnungshof des US-­
Prozent zugelegt. So eine H ­ ausse nach einer Präsi- ge­geben haben, ist nach wie vor höher als vor der­ kurzer Zeit auf einen wirtschaftsfreundlichen Kurs Kongresses schätzt, dass sie das Haushaltsdefizit über
dentschaftswahl gab es zuletzt vor über 70 Jahren – Finanzkrise. Vor allem weiße Männer gehören zu den getrimmt. Die Umweltschutzbehörde EPA etwa ist zehn Jahre um 1,7 Billionen Dollar erhöhen würden,
das war 1945, als Franklin Roose­velt zum vierten Mal Verlierern. Ihre Beschäftigungsrate hat immer noch dabei, Obamas Emissionsbeschränkungen wieder was am Ende wieder die Steuerzahler belaste. Und ob
wie­der­gewählt wurde. Wichtiger noch: Die Arbeits- nicht das Niveau von vor der Finanzkrise im Jahr abzuschaffen. Das Innenministerium prüft, Natur- das Steuergeschenk wie beabsichtigt wirkt, ist um-
losenquote ist weiter gesunken. Im Oktober fiel sie 2008 erreicht. schutzgebiete zu verkleinern oder zumindest für stritten: Bei einer Umfrage des Wirtschaftssenders

–16 %
auf 4,1 Prozent. Ausgerechnet diese Amerikaner, von denen­ ­Öl- und Gasförderung zu öffnen. Die Behörde für­ CNBC erklärten lediglich 13 Prozent der befragten
Zwar liegt Trumps Zustimmungsrate bei Um- besonders viele Trump gewählt haben, trifft ein Lebens- und Arzneimittel dürfte bis zum Jahresende Firmenchefs, sie würden die Steuereinsparungen
fragen im Dauertief, doch die Gefühlslage der US- weiteres Problem. Eines, das der Präsident bisher doppelt so viele Medikamente zulassen wie unter nutzen, um mehr Mitarbeiter einzustellen. Nur
Konsumenten trübt das offenbar kaum. Laut dem nicht lösen konnte. Zwar hat die Wirtschaft während Obama im Jahr 2016. Außerdem hat Trump ver- Trump selbst ist wie immer begeistert von seinem
Conference Board, einem Marktforschungsinstitut, seiner Amtszeit im Schnitt monatlich 160 000 Stellen Mitte November befürworteten 16 Prozent weniger sprochen, die nach der Finanzkrise von der Obama- Vorhaben: »Die Steuersenkungsreform wird besser
sind die US-Verbraucher so optimistisch wie seit bald geschaffen. Doch Löhne und Gehälter sta­gnie­ren – US-Amerikaner die Präsidentschaft Donald Trumps Regierung beschlossene Regulierung für Banken und und besser«, twitterte er Ende November, das Er­
20 Jahren nicht mehr. Die gute Stimmung steigert trotz Wirtschaftswachstum. als zu Beginn seiner Amtszeit Investmentfirmen wieder zu lockern. Die Börsenauf- gebnis werde »großartig« sein, und zwar »für ALLE«.
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24 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

Herr Wahlers steigt um


Ob die Verkehrswende gelingt, hängt von den Autokäufern ab. Was überzeugt sie?  VON DIETMAR H . LAMPARTER

A
n einem Freitag im Oktober Bauernhof am Trecker herum. »Ich habe schon dem Hof des Autohauses zu installieren«. Etwa 190 Solaranlagen installiert – als die staatlichen Sub- Karosserien vorwärts. Das Tempo ist gemächlich,
klingelt bei Claus Wahlers im länger darüber nachgedacht, dass die Verbrennung Neuwagen werden die Brüder in diesem Jahr ver- ventionen noch garantiert waren. Zwei der An­ gerade mal 35 E-Golf pro Tag laufen derzeit hier
heimischen Bülstedt um halb fossiler Kraftstoffe im Auto eine Verschwendung kaufen, darunter 20 E-Autos, kalkuliert Warncke. lagen speist er »für gutes Geld« ins Stromnetz des vom Band. Die fertig lackierte Karosserie und die
sechs der Wecker. Die 800-See- ist. Da werden nur 28 Prozent der Energie genutzt.« Das wäre 10-mal so viel wie der Bundesdurchschnitt Energieversorgers EWE ein, die dritte liefert den meisten Teile für den Stromer werden aus dem
len-Gemeinde liegt im Kreis Auch darum habe er für die Elektromobilität viel – und das auf dem platten Land. Wären alle deut- Strom für den Eigenbedarf – und das Laden des Stammwerk in Wolfsburg angeliefert. In Dresden
Rotenburg/Wümme, hoch in übrig. »Trotzdem, bei so einer teuren Anschaffung schen Autohändler so rührig, hätte sich das Problem E-Autos. Wahlers mag kein typischer Käufer sein, wird nur endmontiert.
Deutschlands Norden auf dem muss alles stimmen.« mit der Verkehrswende bald gelöst. aber er zeigt im Kleinen, wie sich Verkehrswende »Man fühlt sich eher wie in einem Wohnzimmer
platten Land der Moore, irgendwo zwischen Bre- Sein Diesel tat lange Jahre gute Dienste. »Das Nun hilft die Umweltprämie Warnckes Argu- und Energiewende rechnen können. als in einer Fabrik«, sagt Claus Wahlers, »klinisch
men und Hamburg. Das Sturmtief Herwart ist im hohe Drehmoment«, die Durchzugskraft also, sei mentation. Der alte Diesel seines Freundes landet in Leipzig. Umstieg in den Regionalexpress nach sauber, kein Ölgeruch, und diese Stille.« Er bleibt vor
Anzug. Doch Claus Wahlers sollen weder Wind ideal für Transporte mit Anhänger beim Umbau einigen Tagen beim Autoverwerter. »Der Verschrot- Dresden. Fast fünf Stunden sind Wahlers und­ einem Golf-Fahrwerk stehen, auf dem schon die
noch Wetter aufhalten. Er hat ein Ziel: Er will mit des elterlichen Hofs gewesen. Und der niedrige tungsnachweis eines alten Diesels ist die Voraus­ Warncke schon unterwegs. Von Müdigkeit keine große Batterie, in Alufolie isoliert, montiert ist. »Sieht
dem Zug ins gut 500 Kilometer entfernte Dresden. Verbrauch! 450 000 Kilometer hat der VW Passat, setzung, um die volle Umwelt- und Zukunftsprämie Spur. Richtig aufgekratzt sind die beiden. Sie sind ein bisschen improvisiert aus, wie eine Bastelarbeit«,
Dort wartet sein nagelneuer E-Golf, der mit einer Baujahr 2000, auf dem Buckel. Wahlers hatte bei VW zu kassieren«, betont Warncke. gespannt auf die »Gläserne Manufaktur« von Volks- moniert Wahlers. Er hat schon mal das Modell eines
Batterieladung 300 Kilometer weit fahren kann. schon einmal ein E-Auto geleast, das aber hatte Claus Wahlers lehnt sich entspannt im Zug­sessel wagen, in der der E-Golf vom Band läuft. Ein VW- Tesla inspiziert, da lag das Batteriepaket schön flach
Elektroautos hatten es auch 2017 lange schwer eine so geringe Reichweite, dass er nicht auf den zurück. Zukunftsprämie? »11 760 Euro«, sagt er. Multivan holt sie vom Bahnhof ab. auf dem Wagenboden. Doch der Golf wurde ja ur-
bei Deutschlands Autokäufern. Monat für Monat sprünglich für die Verbrennungsmotoren konstruiert,
die gleiche traurige Statistik: Nicht mal einer von da mussten die Konstrukteure der E-Version mit dem
100 Neuwagenkäufern entschied sich für einen vorhandenen Platz auskommen. Bei den künftigen
Stromer. Die Gründe sind bekannt: zu teuer, zu Elektromodellen von VW sähe das auch anders aus,
wenige öffentliche Ladestationen. Und dann die sagen die VW-Leute.
»Reichweitenangst«! Sie beschreibt die Sorge, auf Samstag zehn Uhr. Claus Wahlers wird schon
dem platten Land fernab der Ladetanksäulen man- von Kundenbetreuerin Manuela Köhler im elegan-
gels Energie liegen zu bleiben. ten blauen Hosenanzug erwartet. Auftritt E-Golf.
Anfang Juli lobten Autobauer und Politik eine Lautlos öffnen sich die Türen des runden Aufzugs.
Kaufprämie von 4000 Euro für lokal emissionsfreie Das Ganze erinnert an einen Starauftritt in einer
Elektro-Pkw aus. Der Effekt war gleich null. Fernsehshow. Frau Köhler fährt den weißen Golf
Doch 2017 war auch das Jahr alter und neuer aus dem Aufzug, nur ein leises Knarzen der Reifen
Dieselskandale. Dieselmotoren stoßen gerade bei auf dem Parkett ist zu hören. Wahlers setzt sich ans
kalten Temperaturen besonders viele giftige Stick- Steuer, die Betreuerin daneben. Fast eine halbe
oxide aus. Nicht nur VW hatte offenbar die Kun- Stunde lag erklärt sie ihm die technischen Finessen
den getäuscht, eine ganze Industrie geriet unter des Autos, das neue Infotainment-System, die App
Verdacht. Hinzu kamen drohende Fahrverbote in für die Ladestationen, die vielen Assistenzsysteme.
von Stickoxiden und Feinstaub geplagten Groß- Eigentlich brauche er gar keine Einweisung, hat-
städten. Die Preise für gebrauchte Diesel bröckel- te Claus Wahlers vorher gesagt, jetzt ist er sichtlich
ten, die Neuzulassungen brachen ein. Plötzlich war begeistert. »Total geil, dieses ganze Ambiente.« Zum
im Autoland Deutschland die Rede vom baldigen Schluss begleitet ihn Manuela Köhler noch bei der
Ende des Verbrennungsmotors. »Verbrauchsoptimierungsfahrt«. Wahlers tritt be-
Anfang August sollte ein »Dieselgipfel« von Indus- herzt aufs Gas-, äh, Strompedal. »Geht richtig gut«,

–12 %
trie und Regierung die Krise entschärfen. Die Auto- befindet er, vom Motor ist nichts zu hören. Schließ-
bauer versprachen: Wer seinen dreckigen alten Diesel lich hat der neue E-Golf jetzt 136 PS, der Vorgänger
gegen einen sauberen Neuwagen tauscht, wird­ hatte nur 115. Wenn er vom Gas geht, gewinnt das
belohnt: mit einer »Umweltprämie« oder einer »Zu- Auto Energie zurück und bremst sich dabei ab.
kunftsprämie«. Am Ende aber hängt alles daran, ob Von Januar bis Oktober 2017 wurden wesentlich weniger Dieselautos zugelassen als
Noch ein kleiner Imbiss im schicken Restaurant
die Käufer diese Verkehrswende mitmachen. im gleichen Zeitraum 2016. Trotzdem ist das Elektroauto noch
der Gläsernen Manufaktur. Währenddessen wird
Claus Wahlers fährt seit 17 Jahren einen Diesel. immer ein Nischenprodukt: Claus Wahlers (Bild) mit seinem E-Golf ist ein Pionier
der weiße Golf vor der Tür nochmals geladen.
Auf ein Auto zu verzichten ist keine Option. »Es gibt Um 14 Uhr bricht das Abholer-Duo auf: Ziel Bül-
kaum öffentliche Verkehrsmittel in Bülstedt«, sagt stedt. Acht Stunden später sind sie angekommen,
Wahlers. Sein Arbeitsplatz liegt in Visselhövede, fast Sturmtief Herwart hat ihnen kräftigen Gegenwind
50 Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Gut beschert. Viermal haben sie auf der 500-Kilometer-
20 000 Kilometer im Jahr kommen so zusammen. Diesel verzichten konnte. Jetzt aber wird er der Sein mit neuester Technik ausgerüsteter Golf mit Wahlers hat eines der »Pakete für Selbstabholer« Strecke an Schnellladestationen nachgetankt, dreimal
Leute wie Wahlers entscheiden darüber, ob das E-Au- Neuanschaffung geopfert. einigen Extras wie einer Wärmepumpe hätte brutto gebucht, die der Autobauer anbietet. »Das güns- kostenlos. Es wäre wohl mit einem Stopp weniger
to trotz aller Bemühungen ein Nischenfahrzeug Wahlers wird von seinem Freund und Auto- gut 40 000 Euro gekostet. Zwar sei der staatliche tigste für 400 Euro«, sagt Begleiter Warncke. Erster gegangen, aber ein bisschen Reichweitenangst fuhr
bleibt. Was also hat ihn umgestimmt? händler Wolf Warncke begleitet, der ihn schließlich Zuschuss schon eingerechnet, aber so konnte er die Programmpunkt: Führung durch die Gläserne doch mit: Wahlers hat gerne »immer 100 Kilometer
»Natürlich habe ich die Diskussionen um den vom Elektroauto überzeugte. Bei ihm hat Wahlers monatliche Leasingrate auf »258 Euro« drücken. Manufaktur. Schon von außen beeindruckt der Vor- Restreichweite« auf der Anzeige. Drei Ladekarten
Diesel verfolgt«, sagt Claus Wahlers im IC von Bre- den E-Golf bestellt. Warncke führt gemeinsam mit »Netto.« Ein gleichwertiger Diesel oder Benziner zeigebau moderner Industriearchitektur das Duo hatten sie dabei, zur Sicherheit, weil es keine Chip-
men nach Leipzig. Wahlers, schwarz-grauer Pulli, seinem Bruder in Tarmstedt ein VW-Autohaus. käme nicht billiger, sagt E-Auto-Fan Warncke. – 27 500 Quadratmeter Glas machen was her. Drei karte für ganz Deutschland gibt. Mit dem Diesel
schwarze Jeans, dunkelrandige Brille, erzählt jetzt Warncke kümmert sich besonders um die Elektro- »Trotzdem hätte ich es nicht gemacht ohne das E-Ladesäulen stehen direkt vor dem Eingang. Und hätte das Duo wohl zwei Stunden weniger gebraucht.
von seinem Weg zum Stromer. Der 61-Jährige ist mobilität. »Den alternativen Antrieben gehört die Carsharing«, wirft Wahlers ein. Der geschäfts­ drinnen erst. Indirektes Licht und durchgehend Doch Claus Wahlers meldet aus Bülstedt nach seiner
seit mehr als 30 Jahren als Diakon in der Jugend- Zukunft«, sagt der 54-Jährige. Die Sorge um Klima- tüchtige Diakon hat nämlich einen Deal mit einer­ Böden aus hellem Stäbchenparkett. ersten Langstreckenfahrt: »Es hat Spaß gemacht.«
arbeit tätig. Auf den ersten Blick ist er ein unwahr- schutz und Ressourcenschonung treibt ihn um. seiner Mieterinnen auf dem zu einer kleinen Eine junge VW-Mitarbeiterin führt ein gutes Im Monat Oktober stieg der Absatz an Elektro-
scheinlicher E-Auto-Käufer: Schließlich ist ein Deshalb trommelt der Händler seit Jahren auch für Wohnanlage umgebauten elterlichen Bauernhof Dutzend neugierige Besucher durch die Produktion. Pkw in Deutschland im Vergleich zum Vorjahres-
Fahrverbot für seinen Diesel auf dem platten Land das E-Auto, obwohl ihn hier die Überzeugungs­ gemacht. Die Mieterin übernimmt einen Teil der Wer kein Auto abholt, muss sieben Euro dafür be- monat um 86,8 Prozent. Die Anzahl der Diesel-Pkw
nicht zu befürchten. Und öffentliche Ladestationen arbeit bei den Kunden viel mehr Zeit koste als etwa Leasingrate und kann dafür den E-Golf immer zahlen. In 14 Sprachen finden Führungen statt. 70 fiel um 17,8 Prozent. Ist das schon die Wende? Ins-
sind dort sogar noch rarer als in den Metropolen. bei herkömmlichen Fahrzeugen. Er ist in der Re­ dann nutzen, wenn Wahlers ihn nicht zur Fahrt an Führer schleusen täglich rund 450 Neugierige durch gesamt wurden im Oktober gut 270 000 Autos mit
Aber Wahlers sei von Technik begeistert, erzählt gion für sein Engagement bekannt – und hat seinen seinen Arbeitsplatz braucht. Auf den Dächern­ die Zukunftsfabrik. Die Monteure sind ganz in Weiß Verbrennungsmotor zugelassen. Dem entgegen
er, bastelte schon als Schüler auf dem elterlichen Bruder »dazu überredet, eine Schnellladestation auf seines Anwesens hat er, vor Jahren schon, drei­ gekleidet, lautlos bewegt sich die das Band mit den standen 2180 Batterieautos.

Konkurrenzlos teuer
Die Lufthansa frisst ihren größten Rivalen, und die Preise an Deutschlands Himmel steigen. Wie konnte es bloß so weit kommen?  VON CLA AS TATJE

E
s ist das größte Wirtschaftsrätsel Geld nicht geflossen, hätten die Air Berlin-Flieger Stattdessen steht die Lufthansa im November gen Jahren wurde der Kauf der irischen Aer Lingus
des Jahres in Deutschland: Wie unverzüglich am Boden bleiben müssen. Das Chaos 2017 bereit, 81 Flugzeuge von Air Berlin zu über- durch den dortigen Wettbewerber Ryanair von
konnte es die Bundesregierung zu- wäre groß gewesen, aber der Wettbewerb hätte weit nehmen, sie will bis Mitte Dezember insgesamt 30 den Kartellbehörden untersagt. Ist eine andere Er-
lassen, dass die Lufthansa noch weniger darunter gelitten. Denn die Start- und Lan- Mal mit einem Jumbojet von Frankfurt nach Berlin klärung möglich, als dass in diesem Fall Lufthansa
größer und mächtiger wird, als sie derechte wären zum Großteil versteigert worden fliegen, kleinere Maschinen sind zu schnell ausge- und Bundesregierung unter einer Decke stecken?
Fotos: Stephan Floss für DIE ZEIT; Steffi Loos/ddp images (u.); Quelle Prozentzahlen: Kraftfahrtbundesamt, Skyscanner

ohnehin schon war? Erst ihr und nicht – wie jetzt sehr wahrscheinlich – im gro- bucht. Konzernchef Carsten Spohr wird vom ma- Ende November wurde bekannt, dass die deut-
150-Millionen-Euro-Staatskredit ßen Stil auf die Lufthansa übergegangen. nager magazin derweil als Manager des Jahres gefei- schen Kartellwächter die Preise bei der Lufthansa
sorgte dafür, dass sich die Fluglinie in Ruhe im Der Unternehmer Hans Rudolf Wöhrl sagt spä- ert. Doch die Marktmacht hat ihren Preis, und überprüfen wollen. Auch der Verkauf der Air-­
Insolvenzverfahren die Filetstücke von Air Berlin ter, es sei »bemerkenswert, um nicht zu sagen frus- zwar für die Kunden: Wer kurzfristig von München Berlin-Tochter Niki an Lufthansa stand plötzlich
sichern konnte. Der Staat dient dem Marktführer trierend, wie sich die Regierung von der Lufthansa nach Düsseldorf fliegen muss, zahlte dafür vor­ wieder zur Diskussion. Es geht also bloß noch um
– im August klang das noch arg nach Verschwö- hat einfangen lassen«. Wöhrl hat früher die LTU einem Jahr rund 200 Euro. Heute sind es eher 500. die Folgen des Deals.
rungstheorie. Und auch jetzt, zum Jahresende und die Deutsche BA gekauft. Nun wollte er es Und wer nicht zum Arbeitstermin fliegt, der Dass es ein abgekartetes Spiel sei, hat Air-­
2017, wird es noch immer brav von der Lufthansa noch einmal versuchen. Doch er kommt nicht zum wird in den Weihnachtsferien draufzahlen. »Hor- Berlin-Chef Thomas Winkelmann stets bestritten.
dementiert. Doch vieles spricht inzwischen dafür. Zug. »Es war wie in einem Autorennen, bei dem render Preisaufschlag auf Dezember-Flüge«, schreibt Gerüchte, er sei nur abgesandt worden, um Air
Zur Erinnerung: Nachdem der arabische Inves- zehn losfahren und gleich feststeht, wer gewinnt.« die Welt und bezieht sich damit auf Berechnungen Berlin runterzuwirtschaften, nannte er noch im Juni
tor Etihad eine Kreditzusage an Air Berlin einkas- Dieses Rennen war von der Lufthansa clever vor- der Suchmaschine Skyscanner. Wer im November gegenüber der ZEIT »blanken Hohn«. Doch schon
sierte, ging die Berliner Fluggesellschaft am 15. Au- bereitet. Schon im Dezember 2016 sicherte sich das einen Dezemberflug buchte, der zahlte demnach bei Amtsantritt hatte er sich sein Gehalt von maxi-
gust in die Insolvenz. Nur Stunden später erklärt der Unternehmen die Poleposition. Da mietete die schon 20 Prozent mehr als vor einem Jahr. mal 4,5 Millionen Euro per Bankgarantie und da-
Rivale via Pressemitteilung: »Lufthansa befindet Lufthansa 38 Flugzeuge vom Dauerrivalen Air Ber- Die Nachfrage übersteigt schlicht das Angebot. mit auch im Falle einer Pleite sichern lassen. Wäh-

+20 %
sich mit airberlin bereits in Verhandlungen über den lin und bekam so auch Zugang zu sonst geheimen Denn die Air-Berlin-Flieger müssen bis Jahresende rend mancher Flugbegleiter wohl bald Hartz IV
Erwerb von Teilen der airberlin Gruppe und bietet Unternehmensinformationen über die Kosten- am Boden bleiben, dann rechnet Lufthansa mit­ beantragen muss.
damit auch die Möglichkeit zur Einstellung von strukturen. Sie exportierte sodann einen ihrer fä- einer Genehmigung der Behörden. Bis dahin, sagt Noch im Sommer hatte Winkelmann verspro-
Personal.« Der damalige Verkehrsminister Alexan- higsten Manager nach Berlin: Thomas Winkel- Lufthansa-Chef Spohr, fehlen täglich 60 000 Plätze. chen, »trotz Insolvenz mein Ziel zu erreichen und
der Dobrindt (CSU) wünscht sich »einen deutschen mann. Manche sagen, sie installierte ihn dort. »Die Wenn Niki Lauda in Wien in den Flieger steigt, einen Großteil der Jobs zu sichern«. Im November
Champion im internationalen Luftverkehr«. Und Lufthansa hat Winkelmann dorthin geschickt, um sieht er lauter Kraniche, denn die Lufthansa hat dort sah die Realität bereits anders aus. Wie eine Kleine
Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD), in eine geregelte Insolvenz abzuarbeiten«, sagt bei- schon 66 Prozent Marktanteil. »Wer sich ein Mono- Anfrage der Linksfraktion ans Licht brachte, rech-
ihrem Amt für den Wettbewerb zuständig, pflichtet spielsweise Niki Lauda heute. Der Rennfahrer war pol erschafft, braucht nicht lange nachzudenken, da net die Bundesagentur für Arbeit mit 4000 Arbeits-
ihm bei: »Ich würde es begrüßen, wenn die Luft- früher Eigentümer von Lauda Air und hätte selbst legten die Ticketpreise für innerdeutsche steigen die Preise natürlich«, sagt Lauda. »Ich ver- losenmeldungen früherer Air-Berlin-Mitarbeiter.
hansa größere Anteile von Air Berlin übernimmt.« gern einen Teil von Air Berlin übernommen. Lauda Flüge im Dezember stehe das alles nicht, da wird die europäische Idee Wer einen Job bei der Lufthansa bekommt, erhält
Mitte August war somit klar: Es geht nicht um zog einst aus, die Austrian Airlines herauszufordern gegenüber denen des Vorjahres zu von freien Märkten komplett verraten«, sagt Lauda. im Schnitt deutlich weniger Gehalt. Für 2017 er-
eine Verschwörung, sondern schlicht um Industrie- – die heute ebenfalls zur Lufthansa gehören. Beim Tatsächlich erstaunt, dass Lufthansa offenbar wartet der Lufthansakonzern das beste Ergebnis
politik. Ein Staatskredit wurde zugesagt. Wäre das Wettstreit um Air Berlin ging auch er leer aus. mit der Übernahme durchkommt. Noch vor weni- seiner Geschichte. Der Bundesregierung sei dank.
4. DEZEMBER 2017 No 50 WIRTSCHAFT 25

Hundert Menschen in einem Lkw Für Schlepper war das Jahr ertragreich. Nach Europa zu fliehen ist teurer geworden  VON CATERINA LOBENSTEIN

D
ie Männer, denen das Jahr zusammen, die damals auf dem Weg verlangt wur­ päische Ermittler einen Ring aus rumänischen, afgha­ rund 3500 Euro pro Person für die Fahrt verlangten.
2017 so viel Geld bescherte, den, kommt man auf nicht mehr als 500 Euro pro nischen und bulgarischen Menschenschmugglern. Sie Beobachter von Frontex rechnen mit einem »Winter-
legen keine Bilanzen offen. Person. Heute müssen Flüchtlinge auf derselben hatten sich darauf spezialisiert, Flüchtlinge in Klein­ Discount«, den die Schmuggler gewähren, um ihr
Sie sprechen nicht mit der Route gut ein Dutzend Grenzposten passieren:­ bussen über den Balkan zu transportieren. Die Heck­ Geschäft trotz des schlechten Wetters am Laufen zu
Öffentlichkeit, man kann zwischen Griechenland und Mazedonien, zwischen klappen der Busse hatten sie doppelt verschalt. 48-mal halten, trotz starker Stürme und hoher Wellen.

+900 %
mit ihnen keine Interviews Mazedonien und Serbien, dann weiter an den Grenz­ seien die Ermittler in den vergangenen Monaten auf Wer das Meer fürchtet und genug Geld hat, kann
führen, kann sie schwer­ übergängen Richtung Kroatien oder Ungarn, Slowe­ solche präparierten Türen gestoßen, sagt Sztankovics. versuchen, mit einem gefälschten Pass nach Deutsch­
fragen, ob 2017 ein gutes oder ein sehr g­ utes­ nien und Österreich. Unentdeckt über diese Grenzen Es dürfte noch weit mehr Flüchtlinge geben, die so land zu fliegen. Kosten: mehr als 5000 Euro bei Ab­
Geschäftsjahr war. Und doch deutet viel darauf hin, zu gelangen kostet inzwischen mehrere Tausend Euro, verzweifelt sind, dass sie sich in den Hohlraum zwi­ flug in Griechenland – zehnmal so viel, wie eine halb­
dass die Menschenschmuggler entlang der Balkan­ je nach Route, Transportmittel und Über­lebens­ schen der echten und der falschen Hecktür zwängen. wegs sichere Flucht Anfang 2016 gekostet hat, als die
route, der einst wichtigsten Fluchtroute nach­ chance. Der Weg über den Balkan ist nicht nur teurer Überall entlang der Balkanroute sind Menschen Grenzen noch offen waren. »Gefälschte Aus­weis­
Europa, ihre Profite steigern konnten. geworden, sondern auch gefährlicher. gestrandet, die ursprünglich nach West- oder Nord­ doku­men­te sind für uns zurzeit die größte Heraus­
Davon gehen jene aus, die hinter ihnen her sind. »Das Problem ist, dass die Migranten so verzweifelt mehr als 2016 kostete eine halbwegs europa wollten. Allein 60 000 in Griechenland, etwa forderung«, sagt Europol-Fahnder Sztankovics. Im
Die versuchen, ihre Geldflüsse und Routen zu ver­ sind, dass sie mittlerweile selbst vor extrem riskanten sichere Flucht über den Balkan 2017 – 7500 in Serbien. Die Lager dort sind überfüllt; laut November nahmen seine Kollegen 20 Männer fest,
folgen und ihre Netzwerke zu zerschlagen: Gábor Methoden nicht zurückschrecken«, sagt Gábor Sztan­ auch wegen strengerer Kontrollen (Bild) der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ist in grie­ die in Athen eine Passfälscherwerkstatt betrieben
Sztankovics zum Beispiel, ein ungarischer Beamter, kovics. Mitte November stoppten Be­ chischen Flüchtlingslagern nicht nur hatten. Eine von unzähligen, die seit der Schließung
der im Dienste der Europäischen ­Union in den­ amte an der slowakisch-tschechischen die Zahl der Infekte gestiegen, sondern der Balkanroute in Griechenland entstanden sind.
Niederlanden arbeitet, in Den Haag. Hier hat das Grenze zwei große Lastwagen. Im­ auch die der psychischen Leiden. Ärzte Ihre Kunden finden die Schmuggler mithilfe von
European Migrant Smuggling Centre seinen Sitz, eine Laderaum fanden sie mehr als hundert berichten von Menschen, die psycho­ Landsleuten, die die Flüchtlinge in ihrer Mutter­
Sondereinheit von Europol. Sie wurde 2016 ge­ Flüchtlinge – pro Lkw. Die Menschen tisch werden, die sich selbst verletzen sprache anwerben, in Lagern, in Cafés, auf offener

Foto: Giulio Piscitelli/contrasto/laif; Quelle Prozentzahl: European Migrant Smuggling Centre


gründet, um den organisierten Menschenschmuggel waren noch am Leben, sie kamen aus oder töten. Hilfsorganisationen fürch­ Straße. Die Chefs der Schmugglerringe hätten meist
zu bekämpfen. Kaum jemand verfolgt die Arbeit der einem rumänischen Flüchtlingslager, ten, dass auch in diesem Jahr wieder dieselbe Nationalität wie ihre Kunden, sagt Sztanko­
Schmuggler so akribisch wie Sztankovics und seine viele wollten nach Deutschland. Etwa einige in der Winterkälte sterben könn­ vics. Die Skipper der Jachten kämen hingegen oft aus
Kollegen. Sie sammeln Ermittlungsberichte, Fotos 2500 Euro dürften sie für die Fahrt ten. Der Ermittler Sztankovics sagt: ehemaligen Sowjetstaaten, die Fahrer der Transporter
und Videos von Grenzpolizisten aus der gesamten gezahlt haben, sagt Sztankovics. Dann »Diese Menschen haben eigentlich nur meist aus Bulgarien, Rumänen oder Serbien.
EU, analysieren Geständnisse von gefassten Schmugg­ erzählt er von dem Transporter, der im eine ­Chance: sich in die Hände von Seit Mitte 2017 ist nicht nur der Balkan, sondern
lern und Aussagen von geschleusten Flüchtlingen. Sommer 2016 in Österreich entdeckt Schmugglern zu begeben.« auch die zweite große Fluchtroute nach Europa weit­
Sztankovics und seine Kollegen hatten viel zu tun wurde, darin 71 Leichen, halb ver­ Viele Flüchtlinge, die noch in der gehend versperrt: der Weg von Libyen nach Italien.
in diesem Jahr. Seit dem Deal, den die Staats- und west und in­ein­an­der­ge­sun­ken. Männer, Türkei oder auf den griechischen Inseln Die Schmuggler, sagt Sztankovics, seien längst dabei,
Regierungschefs der EU Anfang 2016 mit dem­ Frauen und Kinder aus Afghanistan, feststecken, wollen den Balkan mittler­ ihr Geschäft zu verlagern. »Wenn es auf der zentralen
türkischen Präsidenten schlossen, ist die Route über aus dem Irak, dem Iran und Syrien, die weile meiden – und lassen sich per Mittelmeerroute schwierig wird, gibt es weiter west­
den Balkan offiziell geschlossen. Und weil die Außen­ auf dem Weg nach Deutschland waren. Schiff direkt in den Schengen-Raum lich wieder mehr Schmuggel.« Mehr Menschen legen
grenzen der EU immer schärfer bewacht werden, »Dieser weiße Transporter ist das Bild, bringen, meist nach Italien, getarnt als mittlerweile in Tunesien und Algerien ab, die Zahl
werden die Dienste der Schmuggler immer gefragter das wir immer vor Augen haben«, sagt Touristen auf Jachten, fünf bis zehn der Überfahrten von Marokko nach Spanien hat sich
und teurer. »Mehr Grenzkontrollen heißt: mehr Sztankovics. Leute pro Boot. Laut Europol und in den vergangenen Monaten im Vergleich zum Vor­
Profit für die Schmuggler«, sagt Sztankovics. Andere Schmuggler stecken Men­ der europäischen Grenzschutzagentur jahr verdoppelt. »Die Schmuggler passen sich un­
Anfang 2016 konnten Flüchtlinge noch legal über schen einzeln in Pkw, in den Hohlraum Frontex ist die Zahl solcher Überfahr­ glaublich schnell an, sie sind hochflexibel«, sagt
den Landweg von Griechenland nach Deutschland zwischen Motor und Motorhaube. ten in diesem Jahr deutlich gestiegen; Sztankovics. Frontex kommt zu einem ähnlichen
reisen, mit Taxis, Bussen und Zügen, zum Teil auch Wieder andere bauen aufwendige­ italienische Ermittler nahmen mehr als Schluss: Die Schmuggler betrieben ein »immer aus­
zu Fuß. Die Grenzen waren offen, und zählt man die Geheimverstecke in ihre Fahrzeuge. Vor 200 Schmuggler fest, die auf Jachten geklügelteres kriminelles Geschäft«. Ein Geschäft,
Preise für Unterkunft, Verpflegung und Tickets­ einigen Wochen zerschlugen euro­ nach Sizilien fuhren und laut Europol das »den Profit über das Leben der Menschen stellt«.

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26 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

E Klick!
ine Rechnung auf Papier reichte Daniel Die Schwachstelle im System von S&P war der Chef formationen fanden sich im Berufs-Netzwerk LinkedIn.
Meffert aus, um die Hacker abzuwehren, höchstpersönlich: Daniel Meffert. Der war nicht mal zu Das nutzte er für sich. In einem gefälschten Mailverlauf
die ihm um ein Haar ein Vermögen ge- unvorsichtig, die E-Mail-Adresse, Telefonnumer und die mit dem Chef schrieb er vom tollen gemeinsamen­
stohlen hätten. Meffert ist Geschäfts- Identität von Monsieur Michelle waren authentisch. Der Wochenendtrip in die Berge und dass er demnächst
führer des Unternehmens S&P aus Betrug war eben gut gemacht. Und flog nur deshalb noch diese Änderung in der Firewall bräuchte, über die sie

Mich! An!
Meerbusch bei Düsseldorf, gemeinsam rechtzeitig auf, weil Meffert die Rechnung für die USB- gesprochen hätten. An einem Tag, an dem der Chef nicht
mit sechs Kollegen verkauft er Werbe- Sticks nicht nur per Mail, sondern zur Sicherheit auch im Büro war, leitete er diesen Verlauf an einen Mit­
mittel. Schlüsselanhänger, Kaffeebecher, Kulis. Und per Post an die zuständige Abteilung in Frankreich arbeiter weiter, schrieb, der Chef habe das wohl ver­
USB-Sticks. Und er freute sich, als die französische Ab- schickte. Ganz klassisch auf einem Blatt Papier. »Ich habe gessen. »Weil der Mitarbeiter glaubte, dass der Chef und
teilung eines großen Rohstoffhändlers gleich 50 000 das eher aus Gründlichkeit getan«, sagt Meffert. »Aber ich Kumpels sind, ging das ganz schnell«, sagt er. Ver-
Stück bestellte, schwarz-silberfarben, acht Gigabyte, un- vielleicht hatte ich auch eine Vorahnung.« trauen, Hilfsbereitschaft, Angst, Neugier – das sind die
bedruckt, für eine Werbeaktion – insgesamt rund eine Jedenfalls kam der Brief, anders als alle Mails, beim Schwachstellen im System, und Somaini nutzt sie aus.
Viertelmillion Euro wert. Die Bedrohung durch Cyberkriminelle richtigen Unternehmen statt bei den Hackern an. Von Der Kampf um Internetsicherheit ist ein ständiges
Meffert kannte den Konzern, hatte ihn bereits belie- wächst. Sie nutzen gezielt dort rief sofort jemand bei Meffert an: »Danke für die Wettrüsten: Angreifer und Beschützer liefern sich ein
fert. Er bekam Mails von einer Firmenadresse und For- Rechnung, aber wir haben bei Ihnen nichts bestellt.« In permanentes Rennen um die Sicherheit von Computer-
mulare mit Logo. Er telefonierte mit einem Franzosen, die Schwachstellen der Menschen aus  letzter Sekunde konnte Meffert die Lieferung an die Be- systemen. Die einen suchen nach immer neuen Lücken
Monsieur Michelle. Auf einer Messe erzählte ihm je- trüger stoppen – die USB-Sticks waren bereits in einem im System, die anderen versuchen sie per Update zu
VON JAKOB VON LINDERN
mand, dass Monsieur Michelle vor Kurzem einen Sohn Laster auf dem Weg an ihr Ziel. Den Zulieferer bezahlen schließen. Das Problem: Der Nutzer lässt sich nicht so
bekommen habe. Auch mit dem Mann am Telefon musste er trotzdem. einfach updaten.
sprach er darüber. Alles passte zusammen. Also bestellte Möglich wurde der ausgeklügelte Betrug durch einen Jedenfalls nicht per Knopfdruck. »Es ist mühsamer,
Meffert die USB-Sticks bei einem Importeur. Was er eher klassischen Cyberangriff: Vom Dienstlaptop des alle Mitarbeiter zu trainieren, als einfach eine Software
nicht ahnte: Nicht der echte Monsieur Michelle hat bei echten Monsieur Michelle hatten die Verbrecher alle zu kaufen und zu installieren«, sagt Harald Reisinger,
ihm bestellt – sondern Verbrecher, die dessen Identität Informationen gestohlen – sogar einen Scan seines ech- einer der Gründer des österreichischen IT-Sicherheits-
gestohlen hatten. ten Personalausweises, den sie Meffert vor- dienstleisters RadarServices. »Aber es ist eine Investition,
Die Diebe hatten das Unternehmen S&P legten. Möglicherweise gelang ihnen all das, die sich lohnt.«
gehackt – aber nicht durch einen technischen weil der echte Monsieur einen infizierten RadarServices überwacht die Computersysteme von
Angriff auf dessen Computersystem. Sondern Mail-Anhang geöffnet hatte. Unternehmen und Behörden in ganz Europa, vom
durch gezieltes Ausspähen einer Firma und E-Mails sind häufig ein wichtiger Bestand- kleinen Mittelständler bis zum Konzern mit mehr als
durch die Manipulation eines Mitarbeiters. teil von Cyber-Angriffen. Die Grundlage für 350 000 Mitarbeitern. »In vielen Unternehmen wurde
Diese besondere Form der Internetkriminali- die meisten Arten von Internetkriminalität bisher zu wenig auf den Faktor Mensch geschaut«, sagt
tät nennen Experten Social Engineering. bildet Schadsoftware, besser bekannt als­ Reisinger. Selbstverständlich seien Firewalls und Abwehr-
Und Social Engineering liegt im Trend. Viren, Trojaner, Würmer. Die müssen irgend- systeme wichtig, um sich vor Angriffen zu schützen.
Die Bedrohung durch Cyberkriminelle hat wie ins System gelangen. Die »häufigsten Einfach zu bedienende Prüf-Software und technisch­
in 2017 ein »bisher beispielloses Ausmaß« Infektionswege« seien E-Mail-Anhänge sowie signierte E-Mails könnten sogar im Kampf gegen Social
angenommen, warnte die europäische Polizei- der Besuch infizierter Webseiten, heißt es im Engineering helfen. Dennoch: »Die Vorstellung, man
behörde Europol Ende September. Angriffe Lagebericht des BSI. Auch der direkte Down- könne jedes Sicherheitsproblem mit besserer Technik
werden immer ausgeklügelter, Hacker immer load von Schadprogrammen per Weblink sei lösen, ist ganz offensichtlich falsch.«
professioneller. Schon 2016 zählte das Bun- häufiger zu beobachten. Stattdessen müssen die Menschen am Bildschirm
deskriminalamt mehr als 80 000 Cybercrime- Die Gemeinsamkeit: Immer muss ein wissen, was auf sie zukommen kann. »Wir brauchen
Fälle, 80 Prozent mehr als im Vorjahr; die Mensch klicken. Eine Attacke auf den Bun- mehr Schulungen, um Nutzer für die Gefahren zu­
Dunkelziffer dürfte laut der Behörde »um ein destag im Jahr 2015 wurde möglich, weil sensibilisieren«, sagt Reisinger. »Wenn jeder die vier, fünf
Vielfaches« höher liegen. Neue Zahlen für Abgeordnete auf einen Link in einer E-Mail gängigsten Social-Engineering-Methoden kennen wür-
2017 hat das BKA zwar noch nicht veröffent- klickten, die aussah, als stamme sie von den de, wären wir schon deutlich sicherer.« Er sieht Unter-
licht. Aber das IT-Sicherheitsunternehmen Vereinten Nationen. Die Ransomware Petya nehmen in der Pflicht, wünscht sich aber, dass auch
G-Data zählte allein im dritten Quartal 2017 tarnt sich als Mail mit Bewerbungsunter­ schon in Schulen und Universitäten über das Thema
fast zwei Millionen neuer Typen von Schad- lagen, inklusive Foto eines jungen Mannes. gesprochen wird. Schutz durch Wissen.
software, also Viren, Trojaner und Ähnliches. Deren scheinbarer Ableger NotPetya, von Aber müsste dann nicht jeder Mitarbeiter so oft ge-
Im gesamten Jahr werden es insgesamt knapp dem im Juni 2017 Unternehmen wie Beiers- schult werden, wie die Software aktualisiert wird – also
neun Millionen sein. dorf sowie Computer in der Ruine des Atom- quasi ständig? Nein, sagt der IT-Fachmann. Denn ob-
Arne Schönbohm, Präsident des Bundes- kraftwerks Tschernobyl betroffen waren, war wohl die gefälschten Mails professioneller werden und
amts für Sicherheit in der Informationstech- in einem Software-Update versteckt. neue Maschen dazukommen – die Grundidee beim
nik (BSI), schlägt deswegen Alarm: »Wir alle Sogenannte Phishing-Mails, die harmlos Social Engineering ist immer ähnlich. »Der Mensch lernt
sind immer stärker auf sichere Informations- daherkommen, aber darauf zielen, Schad- dazu und wird immer besser darin, solche Angriffe zu
wege angewiesen, doch gleichzeitig steigt die software zu installieren oder Passwörter zu erkennen«, so Reisinger.
Zahl der Angriffe auf das Netz.« Er schreibt stehlen, werden meist wahllos an Tausende Damit ist es aber nicht getan. Mitarbeiter müssen sich
im Anfang November veröffentlichten Be- Empfänger verschickt. Immer häufiger trauen nachzufragen, wenn ihnen eine Anfrage merk-
richt zur Lage der IT-Sicherheit in Deutsch- kommt es laut BSI aber auch zu gezielten würdig vorkommt. Auch wenn das zu Verzögerungen
land: »Die Schäden, die dabei für die Gesell- Angriffen auf einzelne Personen, Experten im Ablauf führt. Sie müssen wissen, wen sie fragen
schaft entstehen, gehen in die Millionen.« sprechen von Spear-Phishing. können, wenn sie sich bei einem E-Mail-Anhang unsi-
Unternehmen, Privatpersonen oder Staa- Wie ausgeklügelt die Angreifer dabei vor- cher sind. Und sie sollten sich nicht schämen müssen,
ten drohen unterschiedliche Gefahren: Ein- gehen, weiß Ivano Somaini – denn er ist einer wenn sie schon daraufgeklickt haben. Denn niemand ist
dringlinge können geheime Informationen von ihnen. Er arbeitet für das Schweizer IT- komplett davor gefeit, Betrügern auf den Leim zu gehen.
erbeuten oder Daten manipulieren. Bei so- Sicherheitsunternehmen Compass Security Das hat auch Werbeartikel-Verkäufer Meffert
genannten DDoS-Attacken legen Angreifer und testet im Auftrag von Unternehmen schmerzhaft erfahren müssen. Obwohl der Betrug am
ein System durch schiere Überlastung lahm. deren Sicherheitssysteme. Ende aufflog, hat er sein Unternehmen in große Schwie-
Computer können gekapert und ferngesteuert werden. Im Somaini ist IT-Security-Spezialist, und er war mal rigkeiten gebracht. Denn die USB-Sticks waren zwar

+42 %
Jahr 2017 rückte eine neue Art des Cyberangriffs in den leidenschaftlicher Hobby-Schauspieler. Für seinen Beruf nicht gestohlen, aber beim Lieferanten bereits bezahlt
Foto: dpa Picture-Alliance/Richard Brunel; Quelle Prozentzahl: Accenture

Fokus: Ransomware, also Erpressungssoftware. Angreifer eine gute Kombination: Für einen seiner Tests schickte – und mussten dann anderweitig verkauft werden. »Wir
dringen dabei in ein Computersystem ein, verschlüsseln alle er einen Kollegen als Nikolaus verkleidet in eine Bank, haben beinahe zwei Jahre gebraucht, um uns davon zu
Daten und verlangen Lösegeld. Das war das Prinzip des um dort USB-Sticks zu erbeuten. Per gefälschter SMS erholen«, sagt Meffert. Selbst Konkurrenten halfen mit,
sogenannten WannaCry-Angriffs, bei dem im Mai mehr als vom Chef brachte er eine Sekretärin dazu, einem Unbe- dafür sind sie bei S&P sehr dankbar. Auch deshalb geht
200 000 Computer in 150 Ländern infiziert wurden. Der kannten Zugang zum System zu geben. »Eine SMS oder er so offen mit der Geschichte um. »Ich will andere
Angriff zeigte, wie verwundbar viele Systeme sind: Auf An- E-Mail im Namen eines anderen zu schreiben ist ganz Unternehmen warnen«, sagt er.
zeigetafeln der Deutschen Bahn prangten Fehlermeldungen, einfach«, warnte er kürzlich auf einer Fachkonferenz. Vorsichtig sein, lieber einmal zu viel nachfragen,
beim Logistiker TNT Express gab es Verspätungen. Europol höhere Kosten verursachte Cyberkriminalität bei
Einer seiner Lieblings-Tests: Die Excel-Tabelle mit dem das rät er. Einen wirklich zuverlässigen Schutz gegen
nannte die Attacke ein »noch nie da gewesenes Ereignis«. deutschen Unternehmen im Jahr 2017 gegenüber
Titel »Bonusrechner«, die scheinbar aus Versehen an alle solche Kriminelle aber gibt es nicht, glaubt Meffert.
Die WannaCry-Software verbreitete sich automatisch, 2016, wie die Beratung Accenture ermittelt hat
Mitarbeiter der Bank versendet wurde. Darin versteckt: Schon gar keinen technischen. »Ich lege jetzt noch
nutzte eine Lücke in veralteten Windows-Systemen aus. ein Virus, der sich beim Öffnen selbst installiert. Kaum mehr Wert auf persönliches Kennenlernen«, sagt er.
Doch längst zielen Angreifer nicht mehr nur auf technische einer der Empfänger konnte widerstehen. Und einen kleinen Trick hat er sich doch zurechtge-
Systeme, sondern auf Menschen. In 95 Prozent der erfolg- Die Basis für seine Arbeit bilden oft öffentlich zu- legt: »Bei einem neuen Kunden rufe ich nicht über
reichen Cyber-Angriffe habe menschliches Fehlverhalten gängliche Informationen, all das, was die Menschen die direkte Durchwahl zurück, sondern lasse mich
eine Rolle gespielt, sagte Christian Pursche von der Zen- selbst über sich im Netz preisgeben. Deshalb wusste er, von der Zentrale durchstellen«, sagt der Unterneh-
tralen Ansprechstelle Cybercrime des LKA Niedersachsen dass der Chef einer Abteilung, die das Ziel einer seiner mer. »Dann kommt heraus, wenn sich ein Betrüger
bei den Internet Security Days Ende September. Test-Attacken war, gerne Mountainbike fährt. Die In- als Geschäftspartner ausgibt.«

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4. DEZEMBER 2017 No 50 WIRTSCHAFT 27

Er war es ihnen wert


Paris Saint-Germain zahlte 222 Millionen Euro für Neymar. Um den Sport ging es beim teuersten Transfer aller Zeiten nur am Rande  VON CATHRIN GILBERT

H
at er ihnen denn nicht alles Wie bedeutend die positiv aufgeladene Emo­
gegeben, was sie sich von ihm tion ist, die der Fußball auf der ganzen Welt aus-
versprochen hatten? 25 Jahre strahlt, erkennt man daran, dass der Neymar-
ist Neymar da Silva Santos Transfer noch viel teurer war als die bekannten
Júnior nun alt, im August 222 Millionen Euro. Damit Neymar für Paris
dieses Jahres trennte er sich Saint-Germain spielen darf, musste wohl nicht
zum zweiten Mal von dem, nur die vom FC Barcelona als Ausstiegsklausel
was andere Heimat nennen. Der Brasilianer zog von festgesetzte Summe gezahlt werden. Insgesamt
Barcelona nach Paris, ließ seinen sechsjährigen soll der Wechsel des Brasilianers den Pariser Club
Sohn und dessen Mutter in Spanien zurück, um die rund 800 Millionen gekostet haben. Allein wegen
Franzosen mit dem zu begeistern, was er besser der fälligen Mehrwertsteuer wurden aus den 222
kann als alle anderen Menschen auf der Welt:­ Millionen schon 268 Millionen. Neymar soll pro
Fußball spielen. Jahr ein Nettogehalt von 30 Millionen Euro er-
Und nun, drei Monate später, sitzt er in Lille halten, das dem französischen Spitzensteuersatz
nach dem Spiel der Brasilianer gegen Japan neben unterliegt. Allein das Gehalt kostet den Verein
seinem Nationalmannschaftstrainer mit gesenktem wohl rund 90 Millionen Euro. Sollte Neymar
Kopf auf dem Podium, die Hände baumeln unter also tatsächlich fünf Jahre lang für Paris auflau-
dem Tisch, am rechten Ohr funkelt ein Ohrring, fen, würde das zu einem Gesamtgehalt von rund
leise haucht Neymar seine Worte ins Mikrofon: »Ich 450 Millionen Euro führen. Beraten wird der
will, dass ihr aufhört, irgendwelche Gerüchte zu er- Brasilianer von seinem Vater, der ein in diesem
finden. Bitte. Mir tun diese Erfindungen weh.« Er Metier übliches Handgeld erhalten haben wird.
sei nicht gekommen, um Unruhe zu stiften. Mit 800 Millionen Euro also für einen 25-jährigen
dem Daumen wischt er sich Tränen von der Wange. Spieler, während Tausende Gastarbeiter in Katar
Alles nur Show, heißt es unter Journalisten und beim Bau der Fußballarenen nicht einmal genug
Fußballfans, Neymar spiele eh schon mit dem Ge- Wasser und Nahrung bekommen. Das ist der
danken, zum nächsten Verein weiterzuziehen. Mit größte Skandal an dieser Entwicklung.
seinem Stürmerkollegen Edinson Cavani habe er Dagegen ist die Auseinandersetzung mit der
sich überworfen, und auch die Beziehung zu Unai Uefa eine Bagatelle. Diese hat entschieden, dass
Emery, dem Trainer von Paris Saint-Germain PSG den Fair-Play-Regeln nachkommen muss. Sie
(PSG), sei schwierig. Überhaupt: Was könne man schreiben vor, dass im Verlauf der jeweils vergan-
schon erwarten von einem Fußballsöldner, der sich genen drei Jahre relevante Einnahmen die relevan-
für 222 Millionen Euro kaufen und für politische ten Ausgaben mindestens ausgleichen müssen.
Zwecke benutzen lässt? Schließlich gehört der Sollte dies nicht der Fall sein, wird auch das davor-
Club PSG nicht irgendjemandem, sondern der liegende Jahr betrachtet, um zu beurteilen, ob zu-
katarischen Investorengruppe Qatar Sports Invest- mindest eine positive Entwicklung zu erkennen
ments (QSI), die zur Qatar Holding gehört, der ist. Sollte ein Verein gegen die Regeln verstoßen,
Investment-Sparte des katarischen Staatsfonds. kann dieser durch die Uefa sanktioniert werden.
Rund ein Zehntel des Investmentvolumens soll Die Vereine haben die Sanktionen zu akzeptieren.
Katar in Frankreich angelegt haben. Um im Sommer 2018 eine ausgeglichene­
Auf den ersten Blick ist der Neymar-Transfer einer Bilanz vorlegen zu können und die Gesamt­
von vielen Exzessen im Fußballbusiness, deren­ ausgaben dieser Saison von rund 620 Millionen
finanzieller Umfang außerhalb des Vorstellungsver- Euro auszugleichen, muss Paris Saint-Germain in
mögens eines Fans liegt. Wer Fußball liebt, muss sich der Winterpause Spieler im Wert von 75 M ­ illionen
damit abfinden, dass die begehrtesten Spieler in den Euro verkaufen. 2014 wurde PSG schon einmal
vergangenen Jahren auf der ganzen Welt zu einer mit einer Geldstrafe von 60 Millionen Euro belegt
immer wertvolleren Ware geworden sind, eine Folge und der Champions-League-Kader auf 21 statt der
der Globalisierung. Die Vereine profitieren von den üblichen 25 Spieler reduziert.
steigenden Einnahmen beim Verkauf von Fernseh- Falls die Auflagen nicht erfüllt werden, drohen
rechten, können also immer größere Summen in den nicht nur Geldstrafen, die Beschränkung der An-
Transfer von Spielern investieren. Der Markt gibt zahl der spielberechtigten Profis sowie ein Punkt-
diesen Irrsinn her – und das Jahr 2017 hat dafür den abzug in künftigen Wettbewerben, sondern auch
bisher eindrucksvollsten Beleg geliefert. der Ausschluss aus internationalen Wettbewerben.
Foto: Hamilton/REA/laif; Quelle Prozentzahlen: Transfermarkt.de, Eurostat

Diese Entwicklung erklärt das Verhalten von Ver- Das will PSG unter allen Umständen verhindern.
einen wie Bayern München, dem FC Barcelona, von Denn das außenpolitische Kalkül Katars geht
Real Madrid oder Borussia Dortmund. Deren Zah- Fans würden für Neymar ihr letztes Hemd geben. Die Investoren seines Vereins PSG zahlen lieber in Euro nur dann auf, wenn ein Spieler wie Neymar sich
lungsbereitschaft für einen einzigen Spieler liegt weit wohlfühlt. Würde Paris Saint-Germain aus der

+111%
unterhalb von 222 Millionen – noch. Das Beispiel Naiv wäre dabei die Annahme, bei den Kata- skandal mit einem positiven Image verbunden Champions League ausgeschlossen, würde der
von Paris Saint-Germain folgt anderen Gesetzen. rern handele es sich um besonders sportbegeis- wurden, bestens geeignet, von den Missständen Brasilianer tatsächlich weiterziehen. Denn nicht
Denn die Besitzer von PSG verfolgen ein Ziel, das terte Menschen. Der Fußball ist für dieses Land im eigenen Land abzulenken. nur die Investoren aus Katar, China, Russland
über die gelebte Leidenschaft von Traditionsvereinen nur eine weitere Möglichkeit, die Bekanntheit Katar verstrickte sich jedoch in außenpoliti- oder den USA, die sich in den europäischen Top-
hinausgeht: Katar, das Land, in dem 2022 die Fuß- Katars auf der Welt zu erhöhen und das Image sche Konflikte: Das Engagement für die Muslim- Ligen ausgebreitet haben, verfolgen mittlerweile
ballweltmeisterschaft stattfinden soll, benutzt, ja es zu polieren. Begonnen hat diese Form der Ver- bruderschaft und andere Islamisten brachte den Interessen, die weit entfernt sind vom Spiel auf
missbraucht den Fußball, um Außenpolitik zu­ marktungsoffensive unter der Führung der Herr- Katarern den Ruf ein, Terrororganisationen zu dem Rasen. Auch die Athleten haben sich zu Mar-
betreiben. »Sport«, sagte das Staatsoberhaupt Katars, scherfamilie der Al-Thanis kurz nach dem zwei- unterstützen. Sie wurden mit der Nusra-Front in­ ken entwickelt, die sich nicht mehr mit den Ver-
Scheich Hamad bin Chalifa al-Thani, »ist der beste ten Golfkrieg. In großem Stil investierten sie in höher lag die Ablösesumme für Fußballstar Neymar Verbindung gebracht und mit dem sogenannten einen identifizieren, sondern allein mit dem­
Weg, um jedermann auf dem Globus zu erreichen.« Luxusunternehmen, kauften Anteile an den als jene für Paul Pogba, der 2016 für 105 Millionen »Islamischen Staat«. Wegen angeblicher Terror­ eigenen Marktwert. Fußballspieler wie Neymar
So kaufte sich der QSI im Jahr 2011 für 130 Millio- Warenhäusern Printemps, Harrods und Sains- Euro von Turin nach Manchester wechselte finanzierung und der guten Kontakte zu Saudi- sind mittlerweile Unterhaltungsprofis nach dem
nen Euro in den französischen Spitzenklub PSG ein. bury’s, an Volkswagen und Porsche. Alles wert- Arabiens Erzfeind Iran wurde das Land von seinen Vorbild US-amerikanischer Popstars wie Madonna
Mittlerweile gehört der Verein den Katarern. haltige Marken, die zumindest bis zum Diesel- Nachbarstaaten immer mehr geächtet. oder Beyoncé.

Es reicht
In Europa brachen die Touristenzahlen dieses Jahr alle Rekorde. Auf Mallorca protestierten Tausende Einheimische gegen den Ansturm  VON LAUR A CWIERTNIA

S
ie zogen Rollkoffer über die Pflaster- In vielen Orten Europas wächst die Zahl der viele lieber nach Kroatien, Griechenland oder Italien nahmequelle der Spanier seien. Laut dem spa­

+ 7%
steine und brüllten: »Paella, Paella!« Sie Menschen, die an den Flughäfen ankommen,­ statt in Länder wie Ägypten oder die Türkei, die nischen Arbeitsministerium sind 2,5 Millionen
bewarfen Restaurantgäste mit Konfetti Hotelzimmer buchen und vor Sehenswürdig­ früher einmal beliebte Urlaubsziele waren. Zwar Menschen im Tourismusgeschäft beschäftigt. Und
und zündeten Knallkörper am Jacht­ keiten Schlange stehen (siehe Grafik). In Spanien kamen 2017 in der Türkei wieder mehr Touristen an das ist auch der Grund, warum viele Menschen
hafen. Sie sprühten »Tourist, du bist der brachen die Touristenzahlen in diesem Jahr alle als im Jahr davor. Aber die meisten von ihnen stamm- auf Mallorca nicht protestieren.
Terrorist« an Häuserwände und klebten Zettel mit Rekorde. Während der Hochsaison von Juni bis ten aus Russland, dem Iran und Georgien. Viele Auch Margalida Ramis kennt die Zahlen. Sie
der Aufschrift »geschlossen« an die Tür des Touris- August kamen laut Eurostat fast 25 Millionen aus- Europäer suchten sich lieber andere Urlaubsziele. Auf widerspricht dem Regierungschef trotzdem. »Im
musministeriums. ländische Touristen ins Land, über eine Million mehr Touristen als im Sommer 2016 Mallorca waren ein Viertel der Touristen im ver- Tourismusgeschäft arbeiten fast alle unter prekären
Mit Aktionen wie diesen protestierten 2017 im- mehr als im Jahr davor und so viele wie noch nie. machten in den Sommermonaten des Jahres 2017 gangenen Jahr Deutsche. Bedingungen«, sagt sie. Tatsächlich sind die meisten
mer wieder Einheimische auf Mallorca gegen die Fast sieben Millionen von ihnen verbrachten ihren Urlaub in Europa. Allerdings Mit den Massen, die jeden Sommer weiter an- Jobs befristet, viele nur für eine Saison. Auch von den
Urlauber auf ihrer Insel. Allein im September gingen Urlaub auf den Balearen, 50 Prozent mehr als stieg ihre Zahl nicht überall gleich stark: schwollen und die Strände vor ihrer Haustür füllten, Investitionen in die Infrastruktur profitierten vor
bei einer Demonstration in Palma rund 3000 Men- noch vor zehn Jahren. Auf Mallorca landeten in veränderte sich auch das Leben von Marga­lida Ramis. allem die Touristen: »Autobahnen, öffentliche Ver-
schen auf die Straße. Und nicht nur dort: Auch in dieser Zeit jeden Tag 1500 Flugzeuge – alle acht- »Heute kann ich mir die Miete für mich und meine kehrsmittel, Krankenhäuser, das ist alles auf die­
Amsterdam, Barcelona und Berlin forderten Ein- zig Sekunden eines. In nur drei Monaten brachten Kinder kaum noch leisten«, sagt sie. Offizielle Zahlen, Urlauber zugeschnitten«, sagt sie.
14,2 % Schweiz**

14,3 % Kroatien

wohner, dass sich das Geschäft mit dem Tourismus sie und andere Verkehrsmittel rund 1,1 Millionen wie die Mieten auf Mallorca sich verändert haben, Trotz der Proteste hat sich bislang wenig ge­
ändert. Spanische Zeitungen schrieben gar von einer Urlauber. Auf eine Insel, auf der nur 900 000 gibt es nicht. Laut einer Auswertung des spanischen ändert. An manchen Orten hat sich der Ärger bei
12,7 % Griechenland*

neuen »Tourismus-Phobie«. Menschen leben. Und die Kreuzfahrturlauber, die Online-Marktplatzes Idealista sollen sie seit 2016 um einigen Einheimischen schon in blanken Hass ver-
5,4 % Deutschland

Es sind nicht die Säufer vom Ballermann, von hier an Land gehen, werden in dieser Rechnung knapp 15 Prozent gestiegen sein. wandelt. In Palma zündeten Vermummte mitten
denen sich die Protestierenden auf Mallorca­ nicht einmal mitgezählt. Auch für die Umwelt ist der Tourismus ein im Stadtzentrum gefährlich heiße bengalische
gestört fühlten. Sie wünschten sich auch nicht Dass heute so viel mehr Touristen kommen, hat Problem. Mallorca kämpft mit der Trockenheit. Feuer. In Venedig hinderten Menschen die Passa-
9,0 % Österreich

stattdessen mehr Luxus- oder Ökotouristen. Die verschiedene Gründe. Die Flüge sind billiger gewor- Doch während ein Mallorquiner im Schnitt 105 giere eines Kreuzfahrtschiffs daran, von Bord zu
2,2 % Dänemark

Menschen auf der Straße regte die schiere Masse den, von Deutschland nach Mallorca kosten sie oft Liter Wasser pro Tag verbraucht, nutzt ein Tourist gehen. In Barcelona stießen Anwohner Touristen
der Urlauber auf, die ihr Zuhause fluteten. So­ weniger als eine Bahnfahrt von Köln nach Hamburg. gleich 278 Liter, so eine Studie der städtischen­ von Leihfahrrädern. Zwar wird in den kalten­
5,9 % Frankreich

erzählt es Margalida Ramis von der Umweltorga- Außerdem können sich inzwischen viel mehr Men- Regierung in Palma. Monaten, in denen die Touristen weniger werden,
5,2 % Spanien

nisation Grup Balear d’Ornitologia, die die Pro- schen aus ­Asien und Russland Reisen nach Europa Der spanische Ministerpräsident Mariano­ kaum noch protestiert. Sollten im nächsten Jahr
teste der vergangenen Monate mit organisiert hat. leisten als früher. Vor allem aber ­haben sich in den Rajoy versteht das Problem von Menschen wie allerdings noch mehr Urlauber kommen, lässt sich
»Wir haben nichts gegen Touristen, wir sind ja letzten fünf Jahren die Ströme verändert, mit denen Margalida Ramis dennoch nicht. Er sagte, Kritik die Wut darüber bald nicht mehr ignorieren.
selbst manchmal welche«, sagt sie. »Was wir for- sich die Touristen durch die Länder bewegen: Aus an den steigenden Touristenzahlen zu üben ergebe
dern, ist ein Limit.« Angst vor Terrorismus oder repressiver Politik reisen *Zahl nur für Juni und Juli, **Zahl nur für Juni keinen Sinn, da die Urlauber die wichtigste Ein- Mitarbeit: Susan Djahangard
28 JAHRESRÜCKBLICK 2017 WIRTSCHAFT 4. DEZEMBER 2017 No 50

Auf dem Friedhof


WIE WAR DAS JAHR?

Karen
Heumann
der Spinner
Fidget-Spinner waren der Hype des Jahres. Und einer der kurzlebigsten Bestseller in der Konsumgeschichte  VON NINA PIATSCHECK

S
ich in diesem Herbst auf die Suche Geschwindigkeit kann ich mich nicht erinnern«, Online-Händlern, Trödlern und Kiosk-Besitzern, hafen wurden im Mai insgesamt 35 Tonnen Fin-
nach Fidget-Spinnern zu machen sagt er. Neu und besonders bemerkenswert gewe- die den Trend teilweise sogar früher im Regal hat- gerdrehkreisel beschlagnahmt, einige davon ver-
fühlte sich an, wie in einen Club sen sei die schnelle Verbreitung über alle Länder- ten, als der Fachhandel. Verdienen konnte jeder, nichtet. Der Kölner Zoll verhinderte nach eigenen
Karen Heuman ist Vorstand der
zu kommen, in dem fünf Minuten grenzen hinaus. Von Australien bis Uruguay wur- der schnell genug war: In den USA nutzten zwei Angaben die Einfuhr von mehr als einer halben
Hamburger Werbeagentur thjnk
vorher das Licht angeknipst wur- den Fidget-Spinner in vielen Märkten zeitgleich Teenager den 3-D-Drucker der Schule und ver- Million Exemplare. Und das Hauptzollamt­
de. »Fidget-Spinner? Da kommen zum Hit. Gewohnt ist man diese rasante Verbrei- kauften die Teile an die Mitschüler. Die Nachfrage Gießen berichtete im Mai von 18 000 Sendungen
Sie ein paar Monate zu spät«, sagt tung mittlerweile von Memes in sozialen Netz- war so groß, dass sie ein Unternehmen gründeten mit Fidget-Spinnern, die wöchentlich vom Inter-
eine Kiosk-Besitzerin im Kölner Stadtteil Ehren- werken. Vom Clip zum Lied Gagnam Style zum und innerhalb eines halben Jahres 350 000 US- nationalen Postzentrum an die Absender zurück­ Was haben Sie in diesem Jahr zum ersten
feld, die hinter ihrem Tresen zwischen Rub­bel­ Beispiel oder von Videos mit Katzen. Auch Fid- Dollar verdienten. geschickt würden. Mal getan?
losen, DHL-Paketen und Schokoladenriegeln get-Spinner waren ein viraler Erfolg: Über acht Mehmet Cambaz, 48, kariertes Sakko, Schnau- Cambaz selbst hatte Glück, trotzdem schüttelt Eine Firma verkauft.
kaum zu sehen ist. Vor einem halben Jahr habe sie Millionen Videos findet man unter dem Stich- zer über der Lippe und Aktenordner unter dem er den Kopf. »So etwas gibt es hier selten, und das
Hunderte davon verkauft, im Mai noch für sieben für so einen Schwachsinn. Sie können ja nichts, War 2017 besser oder schlechter, als Sie
Euro pro Stück. »Die gingen fast so gut wie Ziga- außer sich drehen.« Seit acht Jahren hat Cambaz es Silvester 2016 erwartet hatten?
retten.« Die letzten Modelle habe sie Anfang Juli sein Geschäft und importiert als einer der weni- Vor allem fühlte es sich kürzer an.
für einen Euro rausgehauen. Ihr Kollege, ein gen Nicht-Chinesen im Center Ware aus der
Kiosk-Inhaber zwei Häuserblocks weiter, hat den Volksrepublik. Früher, erzählt er, hätten sich die Wer war für Sie 2017 eine Hoffnung?
Hype erst Anfang Juni in sein Sortiment integriert. Bestseller länger gehalten, seien absehbarer gewe- Die französischen Wähler.
Da hatte die Party den Höhepunkt schon über- sen. Heute müsse er das Sortiment ständig wech-
schritten, weshalb bei ihm noch ein Karton voll seln, alle paar Monate seien neue Dinge gefragt. Und wer war eine Enttäuschung?
mit Exemplaren in etwas angeschmuddelten Plas- China macht es möglich: »Innerhalb von fünf Die deutschen Wähler.
tikhüllen neben den Kaugummis steht. »20 Euro, Tagen bekommt man von dort alles, was gerade
wenn Sie alle nehmen, okay?«, sagt er. »Seit August Trend ist«, sagt er. Was war Ihr persönlicher Sieg 2017?
habe ich keinen einzigen mehr verkauft.« Mark Morrison ist Trendforscher beim Zukunfts- Zeit für Bücher genommen, obwohl keine
Fidget ist Englisch und bedeutet Zappelphi- institut in Wien. Fidget-Spinner seien gar kein Trend Zeit war.
lipp, Spinner heißt übersetzt einfach: Kreisel. Ein – sondern ein Hype, sagt er. »Und Hypes sind in
Zappelkreisel also ist ein handflächengroßer,­ ihrer Natur extrem kurzlebig.« In seiner Kindheit Und Ihre Niederlage?
etwas nach Ninja-Sternen aussehender Mix aus seien es Jojos gewesen, bei anderen Magic Cards, Das legendäre Rudergerät aus »House of
Kreisel und Propeller mit integriertem Kugellager. kleine Plastikschnuller oder Caps und Slammer. Cards« gekauft und bisher keinmal drauf­
Man dreht ihn in der Hand, wer geschickt ist, Hypes könnten schnell eine beträchtliche Reich- gesessen.
schafft den Spin auch auf der Nase. In ähnlicher weite erzielen, die Halbwertzeit habe sich aber durch
Geschwindigkeit wie im Kreis drehten sie sich soziale Medien wie Snapchat oder Instagram, die mit Worüber haben Sie sich am meisten ge-
2017 für ein paar Wochen auch im Handel. e­ Bay ihren sich selbst löschenden Stories gerade mal 24 freut?
verzeichnete in Deutschland im Mai alle drei­ Stunden verfügbar seien, verkürzt. »Durch ständiges Dass unsere Agentur thjnk gleich zweimal
Sekunden eine Suchanfrage. Erst waren es schlich- Bombardement mit neuen Themen bleibt die Auf- »Agentur des Jahres« geworden ist.
te Modelle, dann welche mit LED-Leuchten, merksamkeit immer kürzer bei einer Sache«, sagt er.
dann Modelle mit integrierten Lautsprechern. Dass ein kleiner Plastikkreisel überhaupt so viel Und worüber am stärksten geärgert?
Die meisten kosteten unter 10 Euro, das teuerste Aufmerksamkeit bekam, liege daran, dass er viele Über die allgegenwärtige Journalistenklage,
Modell aus reinem Gold über 14 000 Euro. Megatrends berühre. Mobilität zum Beispiel, passte Angela Merkel habe durch eine weich­
Das Spielzeug sorgte für Aufregung unter Kin- er doch in jede Hosentasche. Außerdem Achtsamkeit gespülte Politik der Mitte die rechte Flanke

- 99%
dern und Erwachsenen, dabei sollte es, dem Pro- und Gesundheit. »Um mit ihm zu spielen, musste offen gelassen. Das mag ja sein. Aber wäre
duktversprechen nach, eigentlich beruhigen und man sich auf ihn konzentrieren. Nebenbei chatten es uns lieber gewesen, sie hätte hartleibig
die Konzentration fördern. In einer Zeitung stand ist nicht drin.« Die Beliebtheit begünstigt hätte auch rechtslastig durchregiert?
sogar, es mache »schlanker und intelligenter«. seine Ansprache von menschlichen Grundmustern
Suchanfragen nach Fidget-Spinnern
Den meisten machte das Drehen vor allem Spaß: wie Spieltrieb und der Austausch mit anderen Men- Was war für Sie die größte Überraschung?
verzeichnete Google
Auf YouTube und auf dem Schulhof wurden schen über Tricks. Doch um ein langfristiger Hit zu Dass in unserer Nachbarschaft an der Havel
Mitte November gegenüber Ende Mai
Tricks ausprobiert und Geschicklichkeit gemes- werden, reiche das nicht aus. »Es war von Anfang an ein Seeadler lebt.
Fotos: imago/CTK Photo [M]; Felix Krueger/PR (r.); Quellen Prozentzahlen: Google, GfK

sen. Wer spinnt am besten, wer am längsten? absehbar, dass die Produkte schnell wieder out sind.
Doch weil mehr als Drehen nicht drin war, Wenn etwas ein langfristiger Trend werden soll, muss Was haben Sie 2017 vermisst?
war die Lust am neuen Spiel nicht nachhaltig. es ein echtes gesellschaftliches Problem lösen – wie Ein generelles Verantwortungsgefühl, auch
Die Kurve von Google-Trends, die die Menge der wort auf YouTube. Das sind drei Millionen mehr Arm, steht in seinem Laden zwischen Handyhül- es etwa der Touchscreen beim Handy getan hat.« der Meinungsbildner. Zu oft hatte ich den
Suchanfragen anzeigt, verläuft wie ein Stalagmit: als zur Bucket Challenge – einer Spendenkampa- len, Ladekabeln und Kamerazubehör. Er ist Groß- Fidget-Spinner sind kein Problemlöser. Im Ge- Eindruck, dass »Hauptsache, anders« nicht
Anfang Mai geht sie steil in die Höhe, verhun- gne – und zehnmal so viele wie zum Schmink- händler im China Center Köln, einem Paradies für genteil. Viele Schulen haben die Minipropeller aufgrund akuter Missstände gerufen wurde,
dertfacht sich gegenüber Anfang April. Doch­ trend Contouring. Aus dem viralen Hit wurde ein Plastikliebhaber, und hat einige der rund 1000 verboten, weil die Kinder ihren Spieltrieb »nicht sondern aufgrund akuter professioneller
Anfang Juli ist sie wieder fast bei null. Und so stationärer. Eine Memeseller, quasi. Büdchen in Köln mit Fidget-Spinnern versorgt. mehr im Griff« hatten. In den USA gab es Er­ Reizunterforderung.
landete der Fidget-Spinner nach gerade Mal zwei Für die Spielwarenindustrie kam er aus dem »Die Kinder standen bei den Kiosken Schlange stickungsunfälle, weil bei Billigware Teile abgefal-
Monaten auf dem Trendfriedhof. Und gleich Nichts, sagt Christian Ulrich von der Spielwaren- und die Kiosk-Besitzer hier«, sagt er. Für ihn ging len waren. Unter anderem hatte ein Fünfjähriger Auf welche Nachricht(en) hätten Sie am
neben Pokémon Go, dem Smartphone-Spiel, das messe. Auf der vergangenen Veranstaltung Anfang der Trend noch schneller um als für Google: »Nach eine Batterie verschluckt. Modelle mit integrierten liebsten verzichtet?
ziemlich genau ein Jahr vorher für sehr viel Wir- Februar seien Fidget-Spinner kein Thema gewe- einer Woche ließ es schon nach, nach einem Mo- Lautsprechern fingen im Kinderzimmer Feuer. Das Ausmaß des Aussterbens nützlicher –
bel gesorgt hatte. sen. »Es gab zwar Aussteller, die sie angeboten­ nat war es vorbei.« Manche Kollegen hätten in der Anfang November warnte der Berufsverband der und natürlich auch schöner – Insekten.
Christian Ulrich arbeitet seit über zehn Jahren haben, aber interessiert hat das kaum jemanden.« kurzen Zeit bis zu einer Million Stück verkauft. Kinder- und Jugendärzte, Düsseldorf, sogar öf-
für die Spielwarenmesse in Nürnberg, die jedes Nicht mal drei Monate später dann der Durch- Und manche hätten ziemlich viel Geld verloren: fentlich vor dem Spielzeug. Da war die Gefahr bei Was würden Sie in diesem Jahr gerne kor-
Jahr rund 70 000 Menschen aus der Branche ver- bruch: Laut Handelspanel der Beratungsfirma Weil der Trend schnell aufkam, wurde gekauft und den meisten jedoch schon seit Monaten gebannt rigieren, an sich selbst und an anderen?
sammelt und die Innovationen der Hersteller vor- npdgroup, Nürnberg, sorgten Fidget-Spinner in eingeflogen, was zu haben war. Viele Spinner wur- und die Fidget-Spinner in der Schublade ver- Noch häufiger bis zehn zählen. Gilt für
stellt. Er hat die Entwicklung des Fidget-Spinners Deutschland ab Mai alleine bei Spielwarenhänd- den jedoch nicht nach EU-Norm gefertigt, falsch schwunden. Was bleibt vom Wirbel um den Trump genauso wie fürs private Leben.
ziemlich genau beobachtet. »An einen vergleich- lern für einen Zusatzumsatz von rund 9,5 Millio- oder unzureichend gekennzeichnet und vom Zoll Handkreisel, sind die Millionen Videos im Inter-
baren Hype in diesem Ausmaß und in der­ nen Euro. Obendrauf kommen die Umsätze von aus dem Verkehr gezogen. Am Frankfurter Flug- net – und jede Menge Plastikmüll. Was haben Sie 2017 Wichtiges gelernt?
Dass Menschen, die das Gleiche sehen,
nicht das Gleiche sehen.

Gebutterte Preise
Was war Ihr schönster Ort?
Wie immer schon: jedes Bett mit guter­
Leselampe.

Und ihr schönster Moment?


Das Requiem von Fauré in der Madeleine
in Paris. Und regelmäßig der Moment,
Konsumenten leiden unter den steigenden Kosten für Lebensmittel  VON MAIKE BRZOSK A wenn ein Teller Nudeln vor mir steht.

D
Was war Ihre beste Tat?
as Jahr 2017 ist das Jahr der teuren Gleichzeitig wurde weniger Milch produziert. Das müssen andere sagen.
Butter. Knapp zwei Euro kostete Das hat sich mittlerweile aber geändert. »Inzwischen
das Päckchen beim Discounter im ist wieder mehr Rohstoff vorhanden«, sagt Björn Wie lautet Ihre Überschrift für das Jahr
Herbst. Das ist Rekord in Deutsch- Wie stark der Umsatz mit ausgewählten Lebensmitteln in den ersten drei Börgermann vom Milchindustrie-Verband. Der But- 2017?
land. Um 51 Prozent war der But- termarkt dürfte sich 2018 also wieder entspannen. Jahr des Umbruchs.
terpreis in den ersten drei Quartalen des Jahres im Quartalen des Jahres gegenüber dem Vorjahreszeitraum gestiegen ist: Und mit ihm die Butterliebhaber.
Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen – was Die Preise sind nicht nur für Milchprodukte ge- Was war für Sie der spannendste Moment?
dem Handel trotz einer leicht gefallenen Nach- stiegen, sondern auch für andere Waren des täglichen Die ersten Hochrechnungen der Frank-
frage ein ordentliches Umsatzwachstum beschert Bedarfs. In den ersten neun Monaten 2017 haben reich-Wahl. Ich hatte wirklich Angst um
hat (siehe Grafik). Schlimmer hat es die Franzo- Verbraucher rund drei Prozent mehr für den täg­ Europa.
sen getroffen. Dort ist Butter sogar knapp gewor- lichen Einkauf ausgegeben als im gleichen Zeitraum
den. Französische Zeitungen riefen daraufhin den des Vorjahres. Das liegt einerseits an der guten Stim- Welche der Fragen, die Sie beschäftigen,
Butter-Notstand aus. Twitter-Nutzer posteten mung im Land. Der Jobmarkt boomt, die Menschen ist auch 2017 unbeantwortet geblieben?
unter #BeurreGate Fotos von leeren Supermarkt- haben wenig Angst vor Arbeitslosigkeit. »Deshalb Wie kann man Sport hassen und trotzdem
regalen und Rezepte für – mon dieu! – Gebäck sind sie relativ spendabel«, sagt Wolfgang Adlwarth fit bleiben?
mit Margarine. von der Gesellschaft für Konsumforschung.
Schuld an der Butterkrise und den hohen Auf der anderen Seite gibt es hierzulande schon Was wünschen Sie Deutschland für 2018?

+37% +11,7% +20,6%


Preisen sind die weltweit gestiegene Nachfrage seit einigen Jahren eine Tendenz zu höherwertigen Besonnene Demokraten an der Spitze.
und das gesunkene Angebot. Butter und andere und teureren Lebensmitteln. Das zeigt sich zum Bei-
Molkereiprodukte sind gefragt: Die Chinesen spiel beim Bio-Trend: Lebensmittel sollen heute
importieren viel Butter, die Südkoreaner Käse. naturbelassen und authentisch sein. »Dann darf es Karen Heumann, 52, ist die bekannteste
Und auch hierzulande sind Quark, Joghurt und Butter Getreideflocken Süßstoff auch ruhig mal etwas mehr kosten«, sagt Wolfgang Werberin Deutschlands. 2017 sorgte sie für
Co. beliebt, vor allem die fetthaltigen. Die Zeit ist sehr viel teurer geworden, haben sich nicht verteuert, ist nicht nur teurer Adlwarth. Auch Trendprodukte oder exotisches Schlagzeilen, als sie und ihre Vorstandskollegen
der Light-Produkte ist vorbei. Man legt mehr die Nachfrage danach doch die Konsumenten geworden, er verkaufte Superfood – Chiasamen, Kokosmilch, Gemüsechips die Agentur thjnk ans weltgrößte ­
Wert auf Geschmack. zugleich nur leicht gesunken kaufen mehr davon sich auch besser – landen öfter im Einkaufswagen. Agenturnetzwerk WPP angliederten.
Es handelt sich um ein Gewinnspiel der Handelsblatt GmbH, Kasernenstr. 67, 40213 Düsseldorf. Die vollständigen Teilnahmebedingungen können unter angebot.handelsblatt.com/adventskalender eingesehen werden. Teilnahmeschluss ist der 24.12.2017.

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30 JAHRESRÜCKBLICK 2017 WIRTSCHAFT 4. DEZEMBER 2017 No 50
Foto [M]: NASA; Quelle Prozentzahlen: ifo Institut

Deutschland bei Nacht: Das Bruttoinlandsprodukt schläft nie

WAS BEWEGT DAS BIP?

Rosarote Zeiten
Dem Bruttoinlandsprodukt geht es so gut wie lange nicht. Kann man ihm vertrauen?  VON KOLJA RUDZIO

W
enn das BIP sich wiegen Jahre alt, trägt Anzug und Krawatte und sieht an breitet, steht Alexandre Chemier im blauen Overall erfassen und zu bewerten sei sehr schwierig. Aber
lässt, schaut die ganze diesem Morgen übernächtigt aus. Gerade ist er aus vor dem Tor seiner kleinen Firma in der Hamburger dafür gebe es Zeitbudget-Erhebungen seiner­
Welt hin. So wie vor drei Washington zurückgekehrt, wo er mit Experten dis- Innenstadt und sagt: »Wir haben so viel zu tun, ich Be­hörde. Außerdem verrate die Volkswirtschaftliche
Wochen. Da stieg das kutiert hat, wie das BIP und seine internationalen konnte jetzt erst frühstücken« – es ist halb vier am ­Gesamtrechnung ja noch viel mehr als das BIP, zum
BIP morgens um acht auf
die Waage, und Sekun-
Kollegen mit der Digitalwirtschaft umgehen sollen,
also mit Firmen wie Amazon oder Google, die ihre
Ein Kind der Krise Nachmittag. In Chemiers Betrieb riecht das BIP nach
Öl, es duckt sich unter fahlem Neonlicht und huscht
Beispiel, wie viel Arbeit es erfordert habe. Und man
veröffentliche auch eine Umweltökonomische­
den später meldete die Gewinne über Ländergrenzen verschieben können. über Pfützen auf dem Betonboden. Chemier gehört Gesamtrechnung und eine Vielzahl von Nachhaltig-
Deutsche Presse-Agentur, dass das Bruttoinlands- Hauf leitet die Gruppe Inlandsprodukt und sagt: die Kfz-Werkstatt Berger. »Alle Fabrikate« verspricht keitsindikatoren. Kurzum: All diese Informationen
produkt zugelegt habe. Als Eilmeldung ging die »Ich kenne das BIP schon seit 25 Jahren.« So lange Die Vorfahren ein Schild draußen am Eingang, drinnen stehen ein gibt es, aber all das vom BIP zu erwarten sei falsch.
Nachricht an zahllose Radio- und Fernsehstatio- arbeitet der Volkswirt bereits in dieser Abteilung. Am Der Stammbaum des BIP reicht bis Mini, ein Renault, ein Golf, ein Opel und ganz hin-
nen, Zeitungen und Online-Redaktionen. Ende des Gesprächs wird er – gebeten, das deutsche ins 17. Jahrhundert zurück. Im Jahr ten ein mattsilberner Bentley mit einem Platten. Viele Ökonomen schätzen das BIP trotz
Es ist wie bei einem Boxer, der vor einem wich- BIP zu charakterisieren – sagen: »Es ist nicht launisch 1665 berechnete der Brite William »Wenn jetzt jemand mit einer größeren Repara- seiner offenkundigen Schwächen
tigen Kampf mit viel Presserummel gewogen wird. oder flatterhaft wie das BIP anderer Länder, es ist Petty mithilfe von vielen Schätzungen tur kommt, muss er warten«, sagt Chemier, »ich
Jedes Gramm mehr oder weniger Muskelmasse ausgeglichen, verlässlich, berechenbar. Sonst hätte die Größe des englischen vergebe schon Termine für den nächsten Monat.« Tatsächlich dient das BIP in erster Linie als Ratgeber,
zählt. Nur geht es bei einem Boxer bloß um Sport ich es nicht so lange mit ihm als Partner ausgehalten.« Volkseinkommens. Er nannte seine Auf dem Tisch in seinem winzigen Büro liegt der um die wirtschaftliche Leistung zu beurteilen. Es wird
und Gaudi, beim BIP dagegen um das Kampfge- Methode »Politische Arithmetik«. Sie Rest seines Frühstücks, ein angebissenes Brötchen. genutzt, um die Konjunktur zu bewerten, um die
wicht einer ganzen Volkswirtschaft. Arbeitsplätze, Vom BIP darf man nicht zu viel erwarten, gilt als ein Vorläufer der Volkswirt- So sieht es aus, wenn das BIP überhitzt. Höhe von EU-Beiträgen festzulegen oder die Trag-
Einkommen, ja das Wohl und Wehe der Nation sagt derjenige, der es am besten kennt schaftlichen Gesamtrechnung, zu der Das ganze Jahr über hat Chemier schon extrem fähigkeit von Staatsschulden einzuschätzen. Und es
scheinen von seiner Konstitution abzuhängen. das Bruttoinlandsprodukt gehört. viel zu tun. Doch an diesem Tag ist es besonders gibt trotz aller Schwächen wichtige Hinweise zum
Glaubt man den Nachrichten, dann ist das Das BIP mag einen ausgeglichenen Charakter haben, schlimm. Normalerweise arbeitet seine Frau mit, materiellen Wohlstand eines Landes. Denn ein grö-
deutsche BIP in glänzender Form. Es strotzt vor aber leicht zu verstehen ist es nicht. Wer wirklich Die Große Depression nun ist sie zu Hause geblieben, weil eines ihrer ßeres BIP heißt in der Regel: Es stehen mehr Mittel
Kraft, und seine Muskeln schwellen immer weiter wissen will, wie es tickt, wo man es antrifft und wie Es dauerte jedoch lange, bis Statis­ beiden Kinder krank ist. Das ist schlecht für das zur Verfügung, um Arbeitslose oder Rentner zu unter-
an. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der man es richtig misst, für den gibt es spezielle Ratgeber. tiker solche Berechnungen regelmäßig BIP. Denn das wächst zwar mit jeder Reparatur, stützen, um Straßen zu bauen, Lehrer einzustellen
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erwartet, Hauf wuchtet zwei dicke blaue Bücher auf seinen und systematisch durchführten. Zur die Chemier seinen Kunden in Rechnung stellt, – oder um sich die Nägel lackieren zu lassen. Was
dass das BIP bis zum Ende des Jahres um 2,0 Pro- Schreibtisch. Das eine, 652 Seiten stark, enthält die Zeit der Großen Depression suchte aber alles, was jemand unentgeltlich leistet, zählt auch immer den Konsumenten, Politikern, Bürgern
zent gegenüber dem Vorjahr zugelegt haben wird, Regeln der EU, nach denen in allen Mitgliedsländern die US-Regierung Informationen, um nicht. Hausarbeit, Kindererziehung, ehrenamt­ und Unternehmern wichtig ist.
das ifo Institut rechnet sogar mit 2,3 Prozent. Das das jeweilige BIP gewogen und analysiert wird. Das zu verstehen, was da vor sich ging. In liche Arbeit – spielt keine Rolle. Kümmert sich­ Ob das Geld fair verteilt ist oder so eingesetzt
wäre so viel wie seit sechs Jahren nicht mehr. Die andere, 662 Seiten dick, enthält die weltweit gelten- ihrem Auftrag erstellte ein Team einer selbst um seine Kinder oder um seine kran- wird, wie mancher sich das wünscht, ist eine andere
Sachverständigen warnen schon, sie sprechen von den Normen, die OECD, UN, IWF, Weltbank und unter Leitung des Ökonomen Simon ken ­Eltern, trägt er nichts zum BIP bei. Bezahlt er Frage. Das BIP hat deshalb eine Menge Konkur-
»Überhitzung«. Grundsätzlich gilt es aber als gut, die EU-Kommission gemeinsam festgelegt haben. Kuznets 1934 eine Berechnung, die andere dafür, dann schon. Das zeigt bereits: Das renten bekommen. Sie versprechen, nicht nur auf das
wenn das BIP zunimmt. Wächst es, so die ver- Beide Bücher beschreiben nicht allein das BIP, son- dem heutigen BIP sehr nahekommt. BIP nimmt die Wirklichkeit sehr selektiv wahr. Es Geld zu schauen, sondern auch darauf, ob es den
breitete Sicht, dann wächst auch unser Wohlstand. dern gewissermaßen seine ganze Familie: die Volks- sieht nur den Teil, der mit Geld zu tun hat. Menschen und ihrer Umwelt gut geht. Auf interna-
Doch ist das wirklich so? Das BIP hat Feinde. wirtschaftliche Gesamtrechnung. Der Marshallplan Selbst wenn sich Alexandre Chemier bewusst tionaler Ebene drängt zum Beispiel der Human De-
Sie sagen: Es ist zu mächtig geworden. Viele Poli- Wie geht es nun also dem deutschen BIP? »Sehr Das deutsche BIP hat zwar auch entscheiden würde, weniger zu arbeiten, weil ihm velopment Index der UN ins Rampenlicht oder der
tiker, Wirtschaftsexperten und Journalisten wür- gut«, sagt Hauf, »wenn es noch ein, zwei Quartale so Vorfahren in den 1920er und 1930er ein richtiges Frühstück und etwas Freizeit mehr Better Life Index der OECD. In Deutschland schuf
den nur darauf achten, was dem BIP nütze. Dabei weiterwächst, ist es der längste Aufschwung in der Jahren, aber zu einer wichtigen Größe wert wäre als das Einkommen, würde das BIP bloß die noch amtierende Bundesregierung ein zwölf­
führe es uns in die Irre. Die Kritik kommt von Geschichte der Bundesrepublik seit Einführung der im öffentlichen Leben wurde es erst auf das Geld achten. Es würde die Scheine zählen dimensionales Bündel von 46 Indikatoren, das die
Umweltschützern und Sozialverbänden, aber auch vierteljährlichen Messung zu Beginn der 70er Jahre!« durch die Besatzer nach dem Zweiten und zum Schluss kommen: Der Wohlstand Lebensqualität abbilden soll. Dagegen erscheint das
von Ökonomie-Nobelpreisträgern wie Amartya Im dritten Quartal dieses Jahres umfasste das BIP 831 Weltkrieg. Für den Marshallplan for- schrumpft. Egal, wie der Familienvater das sieht. BIP ein wenig aus der Zeit gefallen.
Sen oder Joseph Stiglitz. Sie gilt nicht nur dem Milliarden Euro, 34 Milliarden mehr als im dritten derten sie von Westdeutschland eine Man muss es so offen sagen: Das BIP ist ein Viele Ökonomen halten aber nichts davon, das
deutschen BIP, sondern auch dessen Kollegen in Quartal 2016. Sein Gewicht wird in Geld gemessen. Schätzung des Bruttosozialprodukts. gnadenloser Materialist. BIP durch eine andere mächtige Figur zu ersetzen.
den USA, Frankreich oder Großbritannien. Der Fragt man Hauf, was diese Zahlen bedeuten, Ihm ist es auch gleichgültig, ob die Autos, die »Wenn Sie einen Mischmasch von Themen in einem
Politikwissenschaftler Lorenzo Fioramonti bündelt formuliert er es so: »Das BIP misst per Saldo den Wert Chemier und seine Gesellen reparieren, Lärm und einzigen Index zusammenfassen, verschleiert er am

+2,3%
die Kritik im Spottnamen gross domestic problem – aller Waren und Dienstleistungen, die in einer Perio- Dreck ausstoßen. Ob sie den Klimawandel ver- Ende mehr, als er erklärt«, warnt Nils aus dem Moore,
Bruttoinlandsproblem. de in einem bestimmten Raum produziert wurden.« schärfen und am Ende die Lebensgrundlagen zer- ein Ökonom am RWI Leibniz-Institut für Wirt-
Was das deutsche BIP dazu sagt? Es hat eine Ad- Das klingt kompliziert, bedeutet aber im Kern: Egal, stören. Umweltschäden spielen für das BIP nur schaftsforschung. Besser sei es, neben dem BIP auf
resse, zu der man fahren kann: Gustav-Stresemann- ob die Meyer Werft in Papenburg ein Kreuzfahrt- dann eine Rolle, wenn jemand sie einem in Rech- andere Hinweisgeber zu achten, die etwas über die
Ring 11, 65189 Wiesbaden. Dort steht ein grau- schiff baut oder ob die Dame im Nagelstudio an der nung stellt. Das BIP als Wegweiser zum Wohl- ökologische oder soziale Lage sagen können.
grüner Gebäudeklotz aus den 1950ern. In dessen Ecke einer Kundin Glitzerlack aufpinselt – alles soll Um diesen Prozentsatz stand zu sehen ist offenbar eine zweifelhafte Idee. Dieses Jahr war ein gutes Jahr für das BIP. Wir
fünftem, sechstem und siebtem Stock ist das BIP zu erfasst und in einer großen Rechnung addiert werden. wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Stefan Hauf kennt diese Kritik. Er sagt, das BIP sollten uns mit ihm freuen. Aber alles durch seine
Hause. Hier residiert die Gruppe Inlandsprodukt des Was diese Rechnung wirklich verrät, lässt sich an bis zum Jahresende werde missverstanden. »Es spiegelt nicht den imma- Brille sehen müssen wir nicht.
Statistischen Bundesamtes. Und hier arbeitet der einem Beispiel erklären. An dem Tag, als die Deut- wachsen, schätzt das ifo Institut teriellen Wohlstand, dafür ist es auch nicht gemacht.«
Lebensgefährte des BIP. Er heißt Stefan Hauf, ist 54 sche Presse-Agentur die neuesten BIP-Zahlen ver- Private Hausarbeit oder Kindererziehung ständig zu www.zeit.de/audio
WISSEN
4. D e z e m b e r 2017 DIE ZEIT No 50

31
J A H R E S R Ü C K B L I C K 2 0 1 7

Volkszählung im All Das Zittern


der Raumzeit
Warum die Gravitationswellen
2017 wurden spektakuläre Planeten entdeckt. Doch was sagen all die Welten über unsere eigene aus?  VON STEFAN SCHMITT so gut zur Weltlage passen

Immer mal wieder trifft eine wissenschaftli-


che Entdeckung perfekt die herrschende Zeit-
stimmung. Ein gutes Beispiel ist Einsteins
Allgemeine Relativitätstheorie, die er mitten
im Ersten Weltkrieg vorstellte und die den
ICH BIN DER damaligen Zeitgenossen wie die physikalische
HEISSESTE BEKANNTE Bestätigung ihrer alltäglichen Erfahrungen
EXOPLANET! erschien. Lebten sie doch selbst in einer Zeit,
in der das Unterste zuoberst gekehrt wurde
und alle Werte relativiert schienen.
Heute, rund hundert Jahre später, passt
Einstein wieder zum Zeitgeist. Diesmal aller-
dings mit einer Folgerung, die sich aus der
Relativitätstheorie ergibt: der Existenz von
Gravitationswellen, die dieses Jahr ihren gro-
ßen Auftritt haben. Die Besonderheit dieser
Wellen? Sie bewegen sich nicht innerhalb der
UND ICH BIN DER gewohnten Raumzeit, sondern lassen die
ZWEITNÄCHSTE! Raumzeit an sich erzittern – eine Eigenschaft,
die sie für politische Vergleiche geradezu prä-
destiniert.
Denn haben wir im abgelaufenen Jahr
nicht erlebt, wie der gewohnte politische Raum
ins Wanken geraten ist? Dass Veränderungen
nicht mehr innerhalb des gewohnten Systems
stattfanden, sondern dass sie das System an sich
infrage stellten und für unverrückbar gehalte-
ne Grundpfeiler der Demokratie erzittern
ließen?
Dazu passt, dass
Gravitationswellen
oft dadurch entste-
hen, dass im Kos-
4300 Grad Celsius Temperatur erreicht der Exoplanet Kelt-9b an seiner Tagseite (Juni 2017) Einen Zwergstern im nahen Sternbild Jungfrau umkreist der steinige Planet Ross 128 b (November 2017) mos riesige Schwar-
Ab die Post: So ze Löcher kolli­
verschicken Sie eine dieren (was 2017
Gravitationswelle mehrfach beobach-
tet wurde). Auch in
der Weltpolitik hat sich ein Schwarzes Loch
Fotos: [M] JPL-Caltech/Nasa (2); M. Kornmesser/ESO (o. r.); J. Neidel/Vanessa Ch. Quetz (u. r.); Bundesministerium der Finanzen (r.)

WIR UMKREISEN
namens Trump aufgetan, und bang verfolgt
UNSEREN STERN ZU SIEBT –
die Öffentlichkeit, wie es auf die dunkle Ga-
REKORD AUSSERHALB DES
laxie Nordkorea zurast. Die Folgen eines Zu-
SONNENSYSTEMS!
sammenpralls ließen sich wohl nicht einmal
mit Einsteinscher Mathematik berechnen.
So sind die Gravitationswellen das pas-
sende Signet dieses Jahres. Das hat auch die
Deutsche Post erkannt, die am 7. Dezember
eine entsprechende Briefmarke herausgibt:
Sie zeigt eine numerische Simulation jener
berühmten Gravitationswelle, die von zwei
umeinander kreisenden Schwarzen Löchern
abgestrahlt wurde und für deren Entde-
ckung am 10. Dezember in Stockholm der
Nobelpreis verliehen wird.
ICH BIN DER ERSTE
Zum Glück lassen sich aus der Physik nicht
ERDGROSSE BROCKEN, BEI
nur düstere Parallelen zur derzeitigen Politik
DEM EINE DICHTE GASHÜLLE
ableiten. Sie verheißt auch Lichtblicke, wie im
GEMESSEN WURDE!
Oktober dieses Jahres, als eine neue astrono-
mische Ära begann: Da hatte eine Gravitations-
welle, die von zwei rotierenden Neutronen-
sternen ausgesandt worden war, eine weltweite
Gemeinschaftsaktion ausgelöst, an der 70 Ob-
servatorien rund um den Globus beteiligt
waren. Die Kombination von herkömmlicher
und Gravitationswellen-Astronomie eröffnete
den Forschern gleichsam einen neuen Wahr-
nehmungssinn für das kosmische Treiben
(siehe auch Seite 38).
Vielleicht macht auf ähnliche Weise das
Um Trappist-1 drehen sich sieben Planeten, die drei äußeren in der habitablen Zone (Februar 2017) In der Atmosphäre des Felsplaneten GJ 1132b fanden Forscher Methan und Wasserdampf (März 2017) Erzittern der politischen Systeme nun auch

F
Prozesse sichtbar, die bisher unter der Wahr-
nehmungsschwelle lagen – was die Voraus-
ür Planetenjäger geht das Jahr gut tion, welche die Europäische Südsternwarte Eso Die Suche nach solchen Welten hat stets zwei »Astronominnen und Astronomen suchen Pla- setzung ist, um solche Umbrüche zu bewäl-
zu Ende, Ross 128 b sei Dank. ­Mitte zu dem Fund verbreitete, in etwa so: Eine beige­ Gesichter. Das eine sind einzelne Entdeckungen, die netensysteme heute nicht nur, sondern charakteri- tigen. Wie viel Geduld das kosten kann,
November verkündeten sie den vor- braune Kugel, teilweise von Schlieren umzogen, wie die Trappisten oder Ross 128 b für Aufsehen sieren sie und bestimmen ihre Demografie, indem weiß niemand besser als die Physiker: Sie
erst letzten Fund, der 2017 noch die man für Wolken halten könnte, mit hellen sorgen, weil sie sensationell sind, weil sie einen Super- sie versuchen herauszufinden, wie oft Exoplaneten haben schließlich hundert Jahre gebraucht,
einmal für große Aufmerksamkeit Flecken und einer Lichtreflexion wie auf Wasser lativ bieten, indem sie den ersten Exoplaneten mit verschiedener Masse und Komposition vorkom- um die von Einstein postulierten Wellen
sorgte. Was etwas heißen will, in oder Eis. Dieses Bild zierte Nachrichtenartikel von einer bestimmten Eigenschaft darstellen. 2017 war men«, beschreiben es die Autoren der Denkschrift wirklich zu finden. U LRICH SCHNABE L
diesem Jahr voller spektakulärer Mexiko bis Japan und Estland. Dabei hat es­ reich an solchen Funden, die es samt einer fantasie- Astrophysik in Deutschland. Ross-128-b-Entdecker
Exoplaneten-Entdeckungen. weniger mit der Realität draußen im All zu tun als vollen Illustration in die Nachrichten geschafft haben: Xavier Bonfils spricht gar von einem »Zensus«:
Aufsehenerregend hatte es bereits angefangen, mit der Fantasie drinnen im Kopf des Illustrators, Im April ein Eisball namens OGLE-2016-BLG- Exoplanetenforschung ist zur Volkszählung gewor-
im Fe­ bru­ar mit einem einzigartigen Fund im der für die Eso zeichnete. 1195Lb, einer der leichtesten bekannten Exoplane- den. Und die birgt eine Überraschung, die größer HALBWISSEN
Sternbild Wassermann: Dort kreisen um den Stern Genauso verhält es sich mit den unzähligen ten; im Juni Kelt-9b, der heißeste bislang entdeckte; ist und der Menschheit näher geht als alles Staunen
Trappist-1 gleich sieben Planeten. Nie zuvor hat- anderen Exoplaneten-Bildern, von denen wir drei im Juli die kuriosen Zwillinge im Sternbild Wasser- über einzelne Planeten-Promis.
Semipardon!

D
ten Astronomen ein solches System detektiert. Die weitere auf dieser Seite versammelt haben: Scharf- schlange, welche nur um­ein­an­der und nicht um eine
sieben gleichen in Masse und Größe der Erde, zu- kantige Felskrusten, kochende Gashüllen, zer- Sonne kreisen; im August ein Trio um den Stern YZ azu hilft es, sich die kurze Geschichte
dem besteht die vage Möglichkeit, dass dort­ furchte Eispanzer, kunterbunte Nebelschlieren Ceti, das nächstgelegene bekannte Mehrplaneten- dieser Wissenschaft zu vergegenwärti- Was haben wir an dieser Stelle geschimpft,
lebensfreundliche Bedingungen herrschen ­könnten und vertrautes Blaugrün in seltsam fremden For- system. Diese Exemplare darf man – zumindest aus gen. Und die herkömmliche Erzählung gehöhnt, gekalauert, gespottet und ge-
– so sorgte das Septett weltweit für Schlagzeilen. men – all das sind bloß fantasievolle Interpretatio- der Warte all jener, die sich für die Suche nach fernen geht so: Der Fortschritt der Astrono- schmäht; uns über Halbgares und Halb-
Leben? Deswegen erzeugt die Suche nach Exoplane- nen, abgeleitet von ein paar astrophysikalischen Welten interessieren – als Promis unter den Exopla- mie hat dem Menschen eine Reihe von Demüti- richtiges in Forschung, Technik und All-
ten wie kein zweites Astro-Thema Aufmerksam- Parametern darüber, wie groß ein Planet ist, in neten bezeichnen: Jeder kennt sie, jeder glaubt, ein gungen beigebracht. Zuerst verschob er die Erde tagspraxis lustig gemacht. Egal, ob es 2017
keit, regt nicht nur die Fantasie der Forscher an, welchem Abstand und mit welcher Dichte er um Bild von ihnen zu haben. aus dem Zentrum der Welt auf eine Bahn um die um Gesäßerkennung ging, um Bonbons als
sondern lässt auch Laien von fernen Welten­ seinen Stern kreist und welcher Art wiederum­ Aussagekräftiger ist jedoch der Blick in die Sonne. Dann verzwergte er die Sonne zu einem Kuhfutter, schlechte Gutachter oder Tech-
träumen, auf denen Bewohner denkbar sind. dieser ist. Was uns als Antlitz ferner Welten präsen- Breite. Und vor allem aus dieser Perspektive war unbedeutenden Stern am Rande einer mittelgro- nik zum Betrinken – hier geschah das stets
Das gilt auch für Ross 128 b. Dessen Fund ver- tiert wird, basiert also auf knappen physikalischen 2017 ein überaus erfolgreiches Jahr für die Exo- ßen Galaxie. Diese wiederum positionierten­ unter demselben Rubrum: »Halbwissen«.
kündeten französische Astronomen um Xavier Steckbriefen. Aber die sind faszinierend genug. planeten-Forscher: Ihre Liste schwoll gewaltig an. Astronomen bald in einem Universum, in dem es Höchste Zeit, uns einmal bei diesem­
Bonfils in der Fachzeitschrift Astronomy & Astro- Die Erforschung von Planeten jenseits unseres Allein die Daten der Kepler-Mission, welche die von Galaxien so wimmelt wie von Papierschnipseln Begriff zu entschuldigen: Sorry, Halbwissen!
physics unter der Überschrift: »Nächstgelegene­ Sonnensystems ist vielleicht das dynamischste Feld Nasa im Juni veröffentlichte, beinhalten Hinweise im Konfettiregen. (Von den zahllosen »Paralleluni- Wer sonst hielte Partytalk am Leben, wer
gemäßigte Welt im Orbit um einen ruhigen Stern der zeitgenössischen Astronomie – jedenfalls das auf 219 mögliche Exoplaneten (sogenannte Kan- versen« der String-Physiker wollen wir hier gar würde Internet-Debatten be­feuern und Futter
entdeckt«. Besonderes Kennzeichen: Dort könnte populärste. Denn es berührt grundlegende Fragen didaten). Inzwischen sind mehr als 3500 Exopla- nicht erst anfangen!) Kurzum, jedes Schrittchen im für den Ig-Nobel-Preis liefern, wenn nicht das
flüssiges Wasser fließen, was ja landläufig als­ zur Natur des Universums, nach den Vorausset- neten bekannt, beinahe 600 Sternsysteme mit Fortschritt der Kosmologie ließ unseren eigenen Halbwissen? Das­Ganzwissen ist ja schön und
Voraussetzung für Leben gilt. Wie man sich das zungen für fremde Biologien und natürlich nach mehreren Exoplaneten zugleich, und rund 4500 gut. Aber es tendiert zum Besserwissen und ist
fremde Habitat vorzustellen hat? Laut der Illustra- dem Platz unseres Heimatplaneten in alldem. Kandidaten harren ihrer Bestätigung. Fortsetzung auf S. 32 ein echter Party-Langweiler. ST X
32 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

WIE WAR IHR JAHR?

Ricarda Winkelmann

Die Mathematikerin, 32, wird in diesem Winter auf der »Polarstern« in der
Antarktis arbeiten. Das Foto zeigt sie bei einer früheren Expedition

Was haben Sie in diesem Jahr zum ersten Straße gegangen sind, Wissenschaftler wie Was war für Sie die größte Überraschung? hänge gibt, ist schon lange bekannt, aber die Was war für Sie der spannendste Moment?
Mal getan? Nichtwissenschaftler, in Berlin genauso wie in Als ich einen Brief von einer befreundeten Dimension habe ich erst jetzt wirklich zu erfassen Ein besonders aufregender Moment war, als
Eine Salzharfe zusammengeschraubt. Bei unse- New York. Wissenschaftlerin aus dem Amazonasgebiet gelernt. Und das hat Konsequenzen für unser Ver- wir die Seesäcke mit unserer Polarkleidung für
rer Antarktis-Expedition diesen Winter w
­ erden aus dem Kasten gefischt habe. Richtige Briefe ständnis vom Einfluss des Klimawandels auf die kommende Expedition verschnürt haben –
wir Löcher in Eisschollen bohren und dieses Und wer war eine Enttäuschung? auf Papier, handgeschrieben und mit bunter Kippelemente im Erdsystem, wie die großen Eis- pure Aufbruchstimmung und Abenteuerlust.
Gerät darin versenken. Über Satellitenfunk Das Lakritzeis. Ich mag Eis, ich mag Lakritze, Marke auf dem Umschlag, finde ich immer massen es sind. Wenn wir hier mehr verstehen,
wird es uns dann lange Zeit Daten senden, aus nur die Kombination ... eine tolle Überraschung. können wir auch bessere Informationsgrundlagen Welche der Fragen, die Sie beschäftigen, ist
denen wir mehr darüber erfahren, wie das liefern für Entscheider. auch 2017 unbeantwortet geblieben?
Packeis wächst oder schmilzt und sich der Salz- Was war Ihr persönlicher Sieg 2017? Was haben Sie 2017 vermisst? Wie schnell verliert der instabil gewordene Teil
gehalt ändert. Meist findet meine wissen- Als ich in Tel Aviv zum ersten Mal auf Hebrä- Mehr Zeit. Was war Ihr schönster Ort? in der Amundsen-Region der Westantarktis
schaftliche Arbeit am Rechner statt, wo ich isch nach dem Weg gefragt habe – und auch Kyoto. Ich war für eine Konferenz dort, es war Eismasse, und drohen auch andere Teile des Eis-
Zigtausende solcher Daten zusammen mit tatsächlich angekommen bin. Auf welche Nachricht(en) hätten Sie am meine erste Reise nach Japan. Und ich habe kontinents sich schleichend, aber unaufhaltsam
physikalischen Formeln in einer Computer­ liebsten verzichtet? mich auf eine sehr schöne Art dort zugleich zurückziehen? Das hat langfristig ungeheure
simulation der Antarktis verwende. Als Mathe- Und Ihre Niederlage? Die gefakten. fremd und willkommen gefühlt. Bedeutung für den Meeresspiegel weltweit.
matikerin mag ich diese Arbeit mit den Be- Niederlage klingt mir zu endgültig. Ich gebe
rechnungen sehr. Aber es ist besonders schön, selten auf. Was würden Sie in diesem Jahr gern korri- Und Ihr schönster Moment? Was wünschen Sie Deutschland für 2018?
auch etwas mit den Händen zu tun, so wie bei gieren, an sich selbst und an anderen? Einer der schönsten Momente ist eigentlich Dass es wieder zum Klimaschutzpionier wird.
der Salzharfe. Worüber haben Sie sich am meisten gefreut? Ich glaube, wir könnten alle etwas positiver auf jedes Mal beim Bergsteigen der Augenblick Seit ein paar Jahren sinkt unser Ausstoß von
Momente der Freude hat es viele gegeben – die Welt blicken. Nicht nur sehen, was nicht auf dem Gipfel, ob in den Alpen oder im Hi- Treibhausgasen nicht mehr. Doch das können,
War 2017 besser oder schlechter, als Sie es von der Fahrradtour entlang der Havel über geht oder schlecht ist, sondern was möglich ist malaja, wenn man sich umdreht und aufs Tal das müssen wir drehen.
Silvester 2016 erwartet hatten? das Knacken eines wissenschaftlichen Pro- und was besser geht. Ich versuche das. hinunterblickt.
Ich versuche meistens nicht zu viel zu erwar- blems bis zum Kubb-Spiel mit Freunden und Die Mathematikerin Ricarda Winkelmann ­
ten. Und mir meinen Optimismus zu erhalten. Familie. Was haben Sie 2017 Wichtiges gelernt? Was war Ihre beste Tat? promovierte in Physik am Potsdam-Institut für
Wie stark das Eis Grönlands und das der Ant- Wahrscheinlich eine mit Papier und Bleistift. Klimafolgenforschung (PIK) über den künftigen
Wer war für Sie 2017 eine Hoffnung? Und worüber am stärksten geärgert? arktis miteinander in Beziehung stehen, über die Beitrag der Antarktis zum Meeresspiegelanstieg.
Die vielen Menschen, die beim March for­ Den Ausstieg der USA aus dem Pariser Ab- großen Strömungen in der Atmosphäre und im Wie lautet Ihre Überschrift für das Jahr 2017? Seit 2015 ist sie Juniorprofessorin für Klimasystem-
Science für Fakten statt Fake-News auf die kommen zum Klimaschutz. Ozean. Dass es da grundsätzlich Zusammen- »Polar-isierend«. analyse am PIK und an der Universität Potsdam.

Volkszählung im All  Fortsetzung von S. 31 darum aber das nächste Kapitel in jener Erzählung wissenschaftlich nüchtern. Eine Menschheit in­trationen und Verhältnissen nicht als Produkte der
erwartet, welche die Erde peu à peu ihrer Sonder- latenter Kränkungserwartung darf das ruhig so Planetenentstehung deuten würden – sondern als
Platz im Kosmos randständiger erscheinen. Das stellung beraubt, der liegt wahrscheinlich: falsch. Stoffwechselprodukte etwa von außerirdischen
verstehen: Je mehr fremde Welten wir da draußen
nagt natürlich an der heimeligen Vorstellung, et- Denn die zweite verblüffende Erkenntnis aus Mikroben oder Pflanzen. »Biosignatur« heißt das,
finden, desto einzigartiger erscheint uns die eigene
was ­Besonderes zu sein. dem Zwischenstand der galaktischen Volkszäh- kosmische Heimat! und Forscher um Sara Seager am Massachusetts
VOR 22 JAHREN FANDEN ­

B
Allerdings ging es jahrhundertelang nur um lung ist diese: Die meisten Super-Erden und In­sti­
tute of Technology haben im vergangenen
Sterne und Gebilde aus Sternen. Dass diese – ge- Gasriesen drehen sich viel enger um ihre­ FORSCHER DEN ERSTEN UM leibt die Suche nach Leben. Dafür haben Jahr begonnen, nicht weniger als 14 000 Verbin-
nauso wie unsere Sonne – von Planeten umkreist Sterne, als es die acht Planeten in unserem EINEN FERNEN SONNEN­ die Astronomen einen märchenhaften an- dungen auf ihre Aussagekraft als Fingerabdruck
würden, war zwar lange vermutet worden. Aber Sonnensystem tun. So umkreisen alle sieben ÄHNLICHEN STERN KREISEN­ gelsächsischen Begriff. Die Pla­ne­ten­jäger des Lebens zu prüfen.
die Teleskope waren einfach zu schlecht, um diese Trappisten-Planeten ihren Stern auf engeren DEN PLANETEN. sprechen von der goldilock ­zone, in Anleh- Was selbst ganz märchenhaft klingt, wird mit
Vermutung zu überprüfen. Folglich blieb den in Bahnen als der Merkur, der von allen unserer nung an das Märchen Goldlöckchen und die drei dem rasanten Fortschritt erdgebundener Teleskope
ihrem Selbstwertgefühl gebeutelten Erdbe­wohnern Sonne am nächsten ist. Das ist nicht so exotisch, Bären. Darin wünscht sich das Mädchen Goldlöck- und neuer Satellitenspäher zur realen technischen
ein Rest von Sonderstellung erhalten: Egal wie wie es uns erscheinen mag. »Generell gesprochen chen ihren Brei nicht zu heiß und nicht zu kalt, den Möglichkeit. Und wie faszinierend wäre es doch
groß der Kosmos war, die Menschen kannten nur ist diese Entdeckung typisch für viele andere­ Schemel nicht zu groß und nicht zu klein, das Bett bei aller Sonderstellung und Ausnahmeheimat,­
ein System mit Planeten (das Sonnensystem) und Planeten, die sich sehr nahe um ihren Stern herum nicht zu weich und nicht zu hart. Erst das mode- irgendwann da draußen etwas vertraut Verdautes
nur einen Planeten mit lebensfreundlichen­ drehen«, sagt Exoplaneten-Pionier Michel Mayor. rate Mittelmaß (»gerade richtig«) stellt Gold- zu detektieren ...
Bedingungen (die Erde). Bis 1995. Diesen Befund erklären sich Astronomen mit INZWISCHEN HAT MAN MEHR löckchen schließlich zufrieden. Ähnlich Auch für dieses wohl populärste Versprechen der
Da erkannten Michel Mayor und Didier Que- der Jugend dieser fernen Systeme und den Bedin- ALS 3500 EXOPLANETEN ­ märchenhaft ist es auch in der Astrophysik: Exoplaneten-Erforschung, das der Suche nach Leben,
loz vom Observatorium der Universität Genf im gungen in der »Planetenfabrik«. So heißt auch das ENTDECKT. BEI 2800 DAVON Nicht zu heiß und nicht zu kalt darf es auf war 2017 ein gutes Jahr. Denn im Herbst haben Esa
Zittern des Sterns 51 Pegasi Hinweise auf einen lesenswerte Buch der Astrophysikerin Tasker­ KENNEN FORSCHER DIE ­ der Oberfläche eines Planeten sein, schließ- und Nasa einen Starttermin für das amerikanisch-
Begleiter, den sie der astronomischen Nomenkla- darüber, was die bislang bekannten Exoplaneten GRÖSSE, BEI 700 DIE MASSE. lich ist Leben schwerlich ohne flüssiges Was- europäisch-kanadische J­ ames Webb S­ pace Tele­scope
tur entsprechend 51 Pegasi b nannten. Zittern? uns über die Entstehung von Sternsystemen im ser vorstellbar. Das ergibt, abhängig von der (JWST) verabredet, das als Nachfolger für das Raum-
Hinweise? Mit direkter Beobachtung, gar Fotoauf- Allgemeinen verraten. Stärke eines Heimatsterns, eine Nicht-zu-fern- teleskop Hubble dienen soll. Im Frühjahr 2019 soll
nahmen hatte diese Premiere nichts zu tun. Und Allzu oft geht es da rabiat zu: In ihrer Jugend und-nicht-zu-nah-Faustformel für die »habitable das JWST an der Spitze einer Ariane-5-Rakete in
bis heute gilt für die übergroße Mehrheit der Exo- wandern frische Super-Erden und Gasriesen stern- Zone« – also für jenen Bereich, in dem sich die Um- Französisch-Guayana starten.
planeten: Nur das Licht ihres Sterns hat sie verra- wärts nach innen und reißen alle kleineren Planeten­ laufbahn eines Exoplaneten befinden muss, um in Und im Sommer hat das Forschungspro-
ten, direkt erblickt hat sie keines Menschen Auge. vorläufer (»Planetesimale«) mit sich, die ihnen in lebensfreundlichen Gefilden zu liegen. Um einen gramm-Komitee der Esa grünes Licht gegeben für

O
die Quere kommen. Der Stern Kelt-9 im Sternbild Orbit dieser Zone zuzuordnen, genügen meist den Bau der Raumsonde Plato. Deren Name ist
rdnet man deren Steckbriefe nach ver- Schwan zeigt, wohin das führen kann. Ihn um- VIER LICHTJAHRE schon die dürren Parameter aus einem Exoplaneten- eine Abkürzung für »planetare Transite und Oszil-
schiedenen Typen, so wartet die erste kreist, so haben es Forscher im Juni beschrieben, in WEIT ­E NTFERNT IST Steckbrief. Doch das macht die Zone noch nicht zu lationen von Sternen«. Wissenschaftlich geleitet
Überraschung: Nicht etwa Planeten nur einem Zehntel der Distanz Sonne–Merkur ein DER NÄCHSTE. einem tatsächlich bewohnten Ort. wird die Mission von der Berliner Astrophysikerin
vom Typ »Gasriese« sind da am häu- Gigant von der dreifachen Ju­pi­ter­masse, der rekord- Aber kann man darüber überhaupt etwas aussa- Heike Rauer vom Deutschen Zentrum für Luft-
Fotos: Maria Martin/PIK/dpa; [M] JPL-Caltech/Nasa (u.)

figsten, obwohl die sich wegen ihrer schieren Größe heiße Kelt-9b. gen? Hier wartet die vielleicht größte Überraschung, und Raumfahrt. Mit ihren 34 Kameras soll Plato
am leichtesten detektieren lassen. »Um die Hälfte Und kaum vorzustellen, wie es heute um die welche uns die Jagd nach immer neuen Exoplaneten ab dem Jahr 2026 von einem anderthalb Millio-
der sonnenähnlichen Sterne drehen sich Planeten Sonne herum aus­sähe, wenn hier eine jugendliche bescheren könnte, auch über Lichtjahre hinweg. nen Kilometer von der Erde entfernten Punkt aus
eines Typs, den wir aus unserem Sonnensystem gar Gang aus Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun auf Denn immer häufiger finden Astronomen im Licht ungestört ins All spähen. Plato ist kein Unterfan-
nicht kennen«, fasst die Astrophysikerin Elizabeth immer engeren Bahnen gewandert wäre – und ferner Sterne den Fingerabdruck einer Planetenatmo- gen mehr, das primär dazu dient, die Zahl der Exo-
Tasker von der japanischen Raumfahrtbehörde Jaxa dabei die vergleichsweise filigranen inneren­ sphäre: Fliegt ein Teil des Lichts durch dessen Gas- planeten und Kandidaten in den Katalogen der
zusammen. »Diese Planeten sind größer als die Planeten mit sich gerissen hätte. Man darf zumin- hülle, so absorbieren deren verschiedene Gase ganz Astronomen anschwellen zu lassen. Diese Raum-
Erde, aber kleiner als Neptun, der viertgrößte im dest davon ausgehen, dass hier keine Zivilisation bestimmte Wellenlängen. Aus diesen Lücken im sonde wurde speziell dafür konstruiert, Felsplaneten
Gespann, mit Größen vom eineinviertelfachen bis von Sternguckern entstanden wäre. Spektrum kann man auf den fernen Mix schließen: (also erdgroße Exoplaneten oder Super-Erden) zu
zum vierfachen Erdradius.« Darum nennen die As- »Es zeichnet sich ab, dass unser Sonnensystem Gibt es dort molekularen Sauerstoff? Methan?­ untersuchen, die sich auf Bahnen um sonnenähn-
tronomen sie »Super-Erden«. Zwar könnten künftig mit seinen spezifischen Eigenschaften eher die Kohlendioxid? Ozon oder Stickstoff? liche Sterne drehen.
auch mehr kleinere Exemplare auftauchen, einfach Ausnahme als die Regel zu sein scheint«, formulie- Wie ein Zensus: Heute werden fremde Schon stellen Astrobiologen Listen solcher Man könnte auch sagen: für die Suche nach
weil die Technik der Teleskope besser wird. Wer ren es die Autoren der Denkschrift Astrophysik­ Welten statistisch charakterisiert Gase zusammen, die sie in bestimmten Konzen- einem zweiten Ausnahmefall.
33 WISSEN 4. DEZEMBER 2017 No 50

Fotos: Andrzej Boczarowski; action press (v. l.); kleine Bilder: Neanderthal Museum; Mauritius images; Getty; Neanderthal Museum (v. o.)
Zweibeiner betritt Neuland: 5,7 Millionen Jahre später:
Vorsteinzeitliche Fußspur auf Kreta Der Mond als Neuland

Die Spuren der Verwandten


Neue Knochen, Zähne und Fußabdrücke, entschlüsselte Genome: So hat sich unsere Ahnengalerie im Jahr 2017 verändert  VON ULRICH BAHNSEN UND URS WILLMANN

D
ie Wissenschaft von der Evolution des Griechenland gefundenen Unterkiefer und einen Zahn aus­ der Neandertaler Gestalt annahm, mehr und mehr als Epoche von begonnen, den Planeten zu erobern? Und was geschah, als
Menschen macht ihre Fortschritte nur Bulgarien untersucht. Diese wurden zuvor der Primatenart Graeco­ überraschender Vielfalt im Menschenzoo. sie ihren Vettern begegneten, den Neandertalern (Foto) in­
sehr gemächlich. Dann und wann gibt pithecus freybergi zugeschrieben. Europa und Asien? Auch zu dieser Frage gab es 2017­
es ein paar neue Fossilien zu bestaunen, Böhme kam zu einem anderen Schluss. Da Menschenaffen­ Vor 300 000 Jahren: bemerkenswerte Neuigkeiten: Es begann alles viel früher
man streitet sich um deren Interpreta­ üblicherweise pro Zahn zwei oder drei getrennte Wurzeln besitzen, Früher als bislang angenommen als ­gedacht.
tion, und wenn es sehr aufregend ist, bei diesen beiden Objekten aber die Zahnwurzel verschmolzen ist, gab es moderne Menschen – Im Erbgut heutiger Europäer finden sich noch Spuren der
einigt man sich auf ein paar neue­ hält sie »El Graeco« für eine bislang unbekannte Vormenschenart. in Nordafrika Begegnung mit Neandertalern. Denn es gab bekanntlich
Details am humanen Stammbaum. Mit dem Aufstieg der Stimmt diese Annahme, dann hat sich auf dem heutigen Stadt­ eine Vermischung zwischen beiden Menschenarten. Noch
Paläogenetik jedoch brach vor einigen Jahren in der geruh­ gebiet von Athen vor 7,2 Millionen Jahren nicht ein Urgorilla­ Hat auch Nordafrika als Schauplatz der Menschwerdung gedient? Die heute, so haben Genomanalysen ergeben, tragen alle Euro­
samen Anthropologie Hektik aus. Die Untersuchung uralter herumgetrieben, sondern ein Ahne von uns. Die evolutionären­ allermeisten Funde aus unserer Frühzeit stammen aus Ost- und Süd­ päer genetische Varianten der Neandertaler in sich – jeder
Erbmoleküle hat die Erkenntnislage umgekrempelt. Und in Linien von Mensch und Affe hätten sich nicht in Afrika getrennt – afrika. Der Anthropologe Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-­ einzelne im Durchschnitt 2,1 Prozent, es können bis zu vier
diesem Jahr häuften sich auch im Lager der traditionellen Europa wäre die Wiege der Menschheit. Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig jedoch ist seit Prozent sein. Offenbar hat der Homo sapiens nach seinem
Knochenjäger neue Funde und Erkenntnisse. Ein Überblick Zumindest für eine neue Gewissheit ist damit gesorgt: Über Langem überzeugt, dass sich Entscheidendes bei der Entstehung­ Exodus aus Afrika (der nach bisheriger Lesart vor rund
zu einer Disziplin in Aufruhr. Graecopithecus freybergi wird in der Anthropologenzunft noch­ unserer Spezies im Norden des Kontinents ereignet hat, im heutigen 80 000 Jahren begann) mit Neandertalern Kinder gezeugt.
gestritten werden. Marokko. Dieses Jahr konnten nun er und seine Kollegen Skelett­ In diesem Jahr nun fand ein internationales Team, unter
Vor 9,7 Millionen Jahren: funde der wohl frühesten anatomisch modernen Menschen präsentie­ ihnen Forscher des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolu­
War es ein Zwei- oder ein Vierbeiner, Vor 5,7 Millionen Jahren: ren. Sie sind so etwas wie ein fossiler Schnappschuss aus der Geburts­ tionäre Anthropologie, weitere Spuren der Vermischung in
der sich auf dem Gebiet des Wer ging damals auf Kreta minute unserer Spezies Homo sapiens. Eine Jahrhundertentdeckung, den Gendaten eines Neandertalers. Die Untersuchung der
heutigen Rheinland-Pfalz herumtrieb? an Land und hinterließ im denn die marokkanischen Funde am Jebel Irhoud sind mindestens DNA aus Gebeinen, die im Altai-Gebirge gefunden wurden,
Morast verräterische Spuren? 300 000 Jahre alt (im Bild: Rekonstruktion). Der Mensch existiert also zeigt: Auch dessen Vorfahren haben sich mit einer frühen
Alte Zähne scheinen es deutschen Wissenschaftlern in­ rund 100 000 Jahre länger als bisher behauptet. Gruppe des Homo sapiens auf Sex eingelassen. Und diese
diesem Jahr besonders angetan zu haben (siehe unten: »El Europa ging auf Kreta an Land – nachdem sie auf dem Rücken von Zu ähnlichen Schlüssen gelangten 2017 auch Genomforscher nach Techtelmechtel müssen weit früher stattgefunden haben: vor
Graeco«). Zwei Beißer aus den Sedimenten des Urrheins bei Zeus (in Gestalt eines Stiers) entführt und über das Meer getragen der Analyse von Erbgutdaten aus Skeletten einer Handvoll Menschen, mindestens 100 000, eher aber 130 000 Jahren. Als Schau­
Eppelsheim sollen sogar das Potenzial haben, dass ihret­ worden war. So kam gemäß der griechischen Mythologie der Kon­ die vor 2000 Jahren in der heutigen Provinz KwaZulu-Natal in Süd­ platz vermuten die Forscher die Levante. Wenn das stimmt,
wegen die menschliche Evolutionsgeschichte umgeschrieben tinent Europa zu seinem Namen. Fragt sich bloß, wann genau sich afrika lebten. Ihre Genome bestätigen: Die Geschichte des modernen haben wir Menschen uns vor deutlich längerer Zeit auf den
werden muss. Dies vermuten zumindest Forscher des Natur­ die Ankunft Europas ereignet haben könnte. Menschen begann vor rund 300 000 Jahren. Weg um die Welt gemacht.
historischen Museums in Mainz. 9,7 Millionen Jahre alt Sind 50 urzeitliche Fußabdrücke womöglich ein Hinweis?­
sind ihre bernsteinfarbenen Fundstücke. Sie würden über­ Forscher der schwedischen Universität Uppsala entdeckten sie in Vor 130 000 Jahren: Vor 40 000 Jahren:
haupt nicht zu den bislang bekannten Gebissen europäischer einer 5,7 Millionen Jahre alten Gesteinsschicht auf Kreta. Vor­ War der Neandertaler in Die Denisovaner waren Zeitgenossen
Uraffen­arten passen, sagen die Wissenschaftler; vielmehr­ allem die Zehenabdrücke weisen darauf hin, dass es sich um ein Amerika und schlachtete des Homo sapiens, und sie
ähnele einer der beiden auffallend den Kauwerkzeugen be­ aufrecht gehendes Individuum gehandelt haben dürfte. Ausge­ dort Wollmammuts? hinterließen Gene in unserem Erbgut
rühmter afrikanischer Vorfahren wie Lucy oder Ardi – die schlossen ist ein Bär als Spurenleger: Einer der fünf Zehen war ein
jedoch bedeutend jünger als der mutmaßliche frühe Rhein­ großer Zeh, den Bären nicht haben. Als russische Forscher vor einigen Jahren bei Ausgrabungen in
Langsam muss man die Frage stellen: Wer war eigentlich nicht in­
hesse sind. Bedeutet das nun, dass die Wiege der Menschheit Sollte ein Hominine zweibeinig auf Kreta herummarschiert der Denisova-Höhle in Südsibirien einen winzigen Finger­
Amerika? Allein die Liste möglicher Entdecker oder Wiederentdecker
in Rheinland-Pfalz zu suchen ist? sein, widerspräche dies nicht der bisherigen Annahme, wonach knochen bargen, konnten sie zu seiner Herkunft nur­
ist lang: Polynesier, Grænlendingar (oder Wikinger), Phönizier, der
Eher nicht. Fachleute wie der Paläontologe David Begun die Wiege unserer Vorfahren in Afrika stand. Es hieße aber, dass Andalusier Chaschchasch ibn Said ibn Aswad, ein walisischer Prinz
Vermutungen anstellen: Das Fundstück war sicherlich mensch­
von der University of Toronto reagierten mit Kopfschütteln auf sich die Ahnen viel früher auf den Weg nach Norden gemacht namens Madoc, der heilige Brendan oder die Basken im 15. Jahr­
lich, und es stammte wohl aus einer Zeit vor 40 000 Jahren.
die etwas überstürzt veröffentlichte Sensationsmeldung im­ hätten als bislang angenommen. So früh, dass es sich auch bei hundert. Irgendwann sollen auch Spanier dort gewesen sein.
Damals lebten Neandertaler in jener Gegend – stammte der
Oktober dieses Jahres. Die Funde, vermutet er, hätten nichts ­»El Graeco« (siehe oben) tatsächlich um einen Vormenschen ge­ Fast ebenso lang könnte die Aufzählung der Ureinwohner werden;
Fund also von einem Exemplar dieser europäischen Menschen­
mit Menschen, ja nicht einmal mit Menschenaffen zu tun. handelt haben könnte. zu den heutigen gesellen sich neue Kandidaten. Bereits vor 130 000
form? Oder war womöglich der Homo sapiens bei ­seinem Vor­
Dafür seien sie schlichtweg ein paar Millionen Jahre zu alt. Jahren sollen Urzeitler in Kalifornien Mastodon-Stoßzähne und -Kno­
marsch aus Afrika bereits so weit vorgedrungen?
Wie Begun finden auch andere Forscher, die Mainzer hätten Vor 300 000 Jahren: Wissenschaftlern am Max-Planck-Institut für evolutionäre
chen zertrümmert und an ihnen herumgeschnippelt haben, berichten
erst mit ausgewiesenen Fachleuten sprechen sollen. Am er­ Überraschende Vielfalt – Anthropologie gelang es, Reste des Erbmaterials aus dem
US-Forscher (im Bild: Mastodon). Wer waren die frühen Schlachter
nüchterndsten für die rheinländischen Neo-Anthropologen Homo naledi lebte noch, als winzigen Knöchelchen zu isolieren. Beim Sequenzieren
von der Westküste? Es kann sich wohl nur um Menschenwesen ge­
ist die Zuordnung des einen Zahns durch die Tübinger­ Homo sapiens die Bühne betrat machten sie eine sensationelle Entdeckung. Das Knöchel­
handelt haben, die damals auch in Asien lebten. Wanderten also Ne­
Forscherin Madelaine Böhme: »Das ist ein kleiner Teil eines chen stammte weder vom modernen Menschen noch vom
andertaler oder Denisovaner über die Beringstraße nach Nordamerika?
Hirschzahns.« Zu Lebzeiten dürften sie nur 1,45 Meter groß und 45 Kilogramm Neandertaler. Vielmehr handelte es sich um den Überrest
Direkte Beweise für eine so frühe Präsenz gibt es nicht – dafür
schwer gewesen sein: Wesen der Gattung Homo, deren Überreste 2015 eines etwa siebenjährigen Mädchens einer bis dahin unbe­
Zweifel an der Interpretation der Spuren. Vor wenigen Wochen zogen
Vor 7,2 Millionen Jahren: in der südafrikanischen Rising-Star-Höhle entdeckt wurden (Foto). kannten Menschenform. Zwei weitere entdeckte Backen­
Paläoanthropologen aus Berkeley und Tübingen die Werkzeugspuren
»El Graeco« – der frühe Grieche Von mindestens einem Dutzend Individuen stammten die Knochen, zähne bestätigten diesen Befund; sie ergaben genug DNA,
an anderen Knochen in Zweifel. Bislang waren die untersuchten­
könnte ein Affe oder ein Frühmensch die das Team des Anthropologen Lee Berger aus den Sedimenten ge­ um das Genom der Denisovaner vollständig zu entschlüs­
Gebeine ein Beleg dafür, dass vor mehr als drei oder gar vier Millionen
gewesen sein kratzt hatte. seln. Dabei zeigte sich, dass sie enger mit Neandertalern als
Jahren in Afrika der Australopithecus mit scharfkantigem Gerät seine
Homo naledi nannte man den Hominiden und vermutete auf­ mit uns modernen Menschen verwandt waren.
Beute filetiert habe. Nun wiesen die Forscher nach, dass genauso gut
Sicher ist, dass sich die Abstammungslinien von Mensch und grund der geringen Größe, dass es sich bei ihm um eine Frühform Aber wie haben sie ausgesehen? Weitere Knochenfunde
Krokodilzähne die »Schnitte« hinterlassen haben könnten. Hieße: Auch
Menschenaffe getrennt haben – nur wann und wo, das weiß aus der Familie Homo gehandelt habe. Ein sensationeller Fund – Familie Crocodylidae hat Amerika entdeckt. gab es nicht. Das Rätsel blieb bestehen. Im März dieses J­ ahres
man nicht. Vor sechs bis sieben Millionen Jahren lebte im doch wo in der menschlichen Frühgeschichte war er einzuordnen? informierte der chinesische Anthropologe Hong Ao die­
Tschad jener gemeinsame Verwandte, der am häufigsten als Die Lösung des Rätsels erfuhren wir in diesem Jahr. Anfang Mai Vor 130 000 Jahren: Forschergemeinde über Schädelteile aus der Fundstelle von
letztes Bindeglied genannt wird: Sahelanthropus tchadensis. verkündete Berger die Datierung der Rising-Star-Funde. Homo Frühes Techtelmechtel Xujiayao in Nordchina. Sie sind etwa so alt wie die Funde in
Im Mai dieses Jahres jedoch vermeldete Madelaine Böhme naledi existierte demnach noch bis vor rund 300 000 Jahren. Sollte in der Levante – Homo sapiens und Südrussland und haben ähnliche Zahnstrukturen. Der end­
vom Senckenberg Centre for Human Evolution and­ er eine frühe Form der Gattung Homo gewesen sein, dann hätte er Neandertaler liebten einander gültige Beweis, dass es sich um Denisovaner-Menschen­
Palaeoenvironment an der Universität Tübingen, dass die lange durchgehalten. handelte, steht noch aus. Fachleute in China arbeiten zurzeit
Vorgeschichte der Menschheit womöglich einen anderen Somit entpuppt sich die Zeit vor 300 000 Jahren, als Homo­ Wir Menschen sind eigentlich alle Afrikaner. Doch wann genau an DNA-Analysen der Xujiayao-Fossilien. 2018 wissen wir
Verlauf genommen haben könnte. Sie hatte einen in­ sapiens sich in Afrika zur neuen Spezies formte und in Europa bald haben unsere Vorfahren ihren Heimatkontinent verlassen und­ hoffentlich mehr.
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29.11.17 11:50
ANZEIGE Informationen zum Deutschen Wirtschaftsforum: www.deutscheswirtschaftsforum.de

DEUTSCHES WIRTSCHAFTSFORUM
Fotos: Andreas Henn

Drei Fragen an Rainer


Schaller, Gründer und
Geschäftsführer der
McFIT Global Group GmbH

Mit 27 Jahren haben Sie Ihr ers-


tes McFIT-Studio eröffnet. Was
ist bis heute Ihr Erfolgsrezept?
Verkaufe keine Angeln, wenn du
selbst nicht angelst. Seit meiner
Jugend betreibe ich diesen Sport,
»Wertschätzung und Wertschöpfung liegen eng beieinander«, so Gerald Böse (rechts), Vorsitzender der Geschäftsführung, Koeln- »IT-Spezialisten und Generalisten werden in Mixed-Teams zusammenarbeiten, daher kenne ich die Materie und
messe GmbH, im Gespräch mit Schokoladenfabrikant Alfred Theodor Ritter und Fränzi Kühne, Geschäftsführerin der Agentur auch auf internationaler Ebene«, sagte Dirk Hahn, Mitglied des Vorstands, weiß, was Kunden brauchen.
für Digital Business TLGG GmbH. »Diese Wertschätzung kann ich Mitarbeitern durch ein entsprechendes Arbeitsumfeld bieten.« Hays AG, in der Diskussion zur Zukunft der Arbeit
Schon 1997, als ich mit McFIT in
Würzburg gestartet bin, hatte
ich die Idee der »Fitnesshalle für

Die Zukunft beginnt jetzt: mehr Werte schaffen alle«. Jeder, der Fitnesssport be-
treiben will, soll die Möglichkeit
dazu haben. Mit unserem neues-
»Science Fiction Is Now« beim Energieversorger, Logistiker oder zuvor«, so Eugene Kaspersky, Ge- auf die man bauen kann, sind auf internationaler Ebene. Die ten Projekt THE MIRAI gehen wir
9. Deutschen Wirtschaftsforum auf demokratische Institutionen schäftsleitender Vorsitzender des entscheidend«, bestätigte Fränzi Klammer für diese unterschiedli- noch einen Schritt weiter. Auf
in Frankfurt am Main zeigen die dunkle, vernichtende Kaspersky Lab, im anschließenden Kühne, Gründerin und Geschäfts- chen Kulturen ist Sinnhaftigkeit.« mehr als 50.000 qm entsteht in
Macht des Internets, sie führen vor Gespräch. Derzeit werden mehr führerin der Agentur für Digital Oberhausen bis 2019 das größte
Die deutsche Wirtschaft brummt, Augen, wie verwundbar Systeme als 400 Millionen private Nutzer Business Torben, Lucie und die Gesundheit 4.0 – Gym der Welt, in dem jeder bei-
allen weltpolitischen Krisen zum sind, wie schnell nichts mehr geht. und 270.000 Unternehmenskunden gelbe Gefahr GmbH. Gerade die wie Wissenschaft und tragsfrei trainieren kann.
Trotz. Zumindest bis jetzt. Doch Und im Umkehrschluss, wie ent- durch seine Technologien ge- junge Generation wolle verläss- Technologie die Medizin
was, wenn sich die Lage zuspitzt, scheidend Cybersicherheit ist. Zu schützt. »Elsbergs ›Blackout‹ und liche Werte vermittelt bekommen revolutionieren McFIT ist mit über 270 Studios
wenn Cyberattacken unser System diesem Thema führte das 9. Deut- der Film ›Die Hard 4‹ sind nicht und von Erfahrungen lernen. aus vier unterschiedlichen Stu-
bedrohen? Und: Wie verändert sche Wirtschaftsforum die besten länger reine Fiktion. Ich bin er- Kühne sprach sich für genera- »Die Gesundheits- und Pharma- diokonzepten in sieben Län-
die digitale Transformation unsere Experten aufs Podium: den be- staunt, dass wir noch leben«, sagte tionsübergreifende Mentorenpro- industrie wird immer digitaler«, dern Europas vertreten – seit
Werte, die Arbeitswelt, die Medi- rühmten Hacker Claudio Guarnieri Kaspersky zur Sicherheit kritischer gramme aus. sagte Stefan Oschmann, Chef des 2016 mit der 1Up Fitness Group
zin? Spannende Themen, die von alias nex, Senior Technologist bei Infrastruktur. »Wertschätzung und Wert- Darmstädter Pharma- und Chemie- North America auch in den
ebenso spannenden Persönlich- Amnesty International, den NATO- schöpfung liegen eng beieinan- konzerns Merck KGaA. »Wir sind Staaten. Welcher Markt hat Sie
keiten anlässlich des 9. Deutschen Sicherheitsexperten Jamie Shea und Werte im Wandel – der«, betonte auch Gerald Böse, intensiv in die Immuntherapie ein- am meisten überrascht? Ein
Wirtschaftsforums auf den Punkt den russischen Investigativjourna- ein Gespräch mit Vorsitzender der Geschäftsführung getreten und kombinieren sie mit neues Land, ein neuer Markt –
gebracht wurden. listen Andrei Soldatov, Mitbegrün- Unternehmer(inne)n der Koelnmesse GmbH. »Diese digitalen Konzepten zur Muster- das birgt immer Überraschun-
Verhandeln – auch mit Trump, der der Agentura.Ru und Autor von zur Zukunft der Arbeit Wertschätzung kann ich Mitar- erkennung. Das bringt irrsinnige gen, selbst bei der besten Pla-
Putin und Erdogan? »In jedem Fall, »The Red Web«. Die Diskussion beitern durch ein entsprechendes Fortschritte.« Er erklärte: »Wäh- nung. In den USA stehen wir
und zwar schnell«, sagte Matthias moderierte Jochen Wegner, Chef- Ein weiteres großes Thema des Arbeitsumfeld bieten.« Neueste rend wir hier sprechen, entwickeln noch ganz am Anfang. Vor allem
Schranner, CEO des Schranner Ne- redakteur von ZEIT ONLINE. Wirtschaftsforums waren Werte. Entwicklungen für die Arbeits- sich in allen von uns wahrschein- der Eintritt in das Ursprungsland
gotiation Institute, im Gespräch mit Hier einige Auszüge: Das Inter- In Einzelgesprächen gaben die welten von morgen zeige die lich Krebszellen, aber unser Im- des Fitnesstrainings ist beson-
Marc Brost, Leiter Hauptstadtbüro net wurde geschaffen, um Men- Kunstsammlerin und Brose-Ge- Messe ORGATEC. »Die Flexibilisie- munsystem kann sie erkennen. Je- ders spannend für uns.
der ZEIT, über Deutschlands Rolle in schen zu vereinen und Wissen zu sellschafterin Julia Stoschek und rung der Arbeit, räumlich und doch: Einige überziehen sich mit
der Weltpolitik. Schranner gilt als der teilen. Diese Freiheit darf nicht Deutschlands jüngste Aufsichts- zeitlich, erfordert ein multifunk- einer Tarnkappe. Die Immunthera- Seit 2016 expandieren Sie auch
mit CYBEROBICS® in virtuelle
Welten. Ist das der neue Trend?
Die Digitalisierung hat im Fit-
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gehalten. Trotz alledem wird sie
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schaffen wir ein völlig neues,
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»Neue Technologien bringen irr- Der Film lebt im Eldorado, wir produzieren aber im europäischen Wettbewerb »Kunst braucht ganz klar einen »Ein sicheres Internet ist ein Traum. Profi-Trainern in 4K-Kinoqualität
sinnige Fortschritte für die Medizin«, und der muss angepasst sein, war ein Fazit der von Christoph Amend (links) Markt«, so Julia Stoschek, Gründerin Ich tue mein Bestes dafür, sichere gedreht. In unseren Studios lau-
wusste Dr. Stefan Oschmann, Chef moderierten Diskussion zur Rolle von Film und Fernsehen als Zukunftstreiber der Julia Stoschek Collection und Plattformen bereitzustellen«, fen rund 50 verschiedene Kurse
des Darmstädter Pharmakonzerns für die Wirtschaft zwischen Prof. Nico Hofmann, CEO der UFA, Filmproduzent Brose-Gesellschafterin im Gespräch betonte Eugene Kaspersky, Chef des
Merck KGaA Oliver Berben und Franz Kraus, GF der ARRI Group (von links) mit Moritz Müller-Wirth, DIE ZEIT Kaspersky Lab pro Woche, von 6 bis 24 Uhr. Mitt-
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härteste Verhandler Europas. Poli- eingeschränkt werden. Und: Es rätin Fränzi Kühne Einblicke in ihr tionales, kreatives Umfeld, etwa pie führt dazu, dass man diesen auch als App, damit die Nutzer
zei und FBI haben ihn ausgebildet; gibt keine 100-prozentige Sicher- Unternehmerinnentum. Wie ver- für Begegnung, Teamwork oder Zellen die Tarnkappe wegnimmt, zeitlich und örtlich völlig flexibel
heute berät er mit seinem Institut heit im Netz. Überwachung und netztes Arbeiten die Arbeitswelt Rückzug. Diese Raumkonzepte sodass die eigene Immunabwehr trainieren können. Ab Ende die-
globale Unternehmen und politische Bedrohung (Stichwort Shadow jetzt und in Zukunft prägt und werden auf der ORGATEC erleb- den Krebs bekämpfen kann. Das ses Jahres bieten wir zusätzlich
Parteien bei schwierigen Verhand- Brokers) nehmen dramatisch zu. welche Werte zählen, war Thema bar und bieten gerade für Mittel- ist eine Revolution, ein Quanten- zu CYBEROBICS® in unseren
lungen. Sein Prinzip: den Menschen Können Anwender nur darauf ver- der von Florian Langenscheidt ständler große Chancen im ›War sprung in der Krebstherapie. Zell- Studios auch Live-Kurse an. Da-
von der Sache trennen. Keine Emo- trauen, dass Sicherheitsexperten moderierten Diskussion. »Als Fa- of Talents‹.« therapie und Gentherapie sind mit decken wir alle Formen des
tionen. Keine Schuldzuweisungen. alles dafür tun, Angriffe abzuweh- milienunternehmen schätzen wir »Die Digitalisierung verändert die nächsten Schritte.« Nur ein Kurstrainings ab.
Keine Arroganz. Keine Diskussionen ren? Mitnichten. Jeder muss sich unsere Mitarbeiter, weil sie Teil un- die Ablauf- und Aufbauorganisati- Beispiel Oschmanns von vielen,
um Vergangenes. Stattdessen: Lö- bestmöglich schützen und als Kun- seres Erfolges sind. Daher schaf- on von Unternehmen, viele Jobs das zeigt, warum Deep Data,
sungen ansprechen, Forderungen de Sicherheit einfordern. Vor allem fen wir gute Bedingungen«, so Al- werden wegfallen, im Gegenzug Mustererkennung, Künstliche In- Jahr für Jahr treffen sich zum
durchsetzen – eine nach der ande- aber bewusst handeln und abwä- fred Theodor Ritter, der in dritter neue entstehen, nicht nur im telligenz, maschinelles Lernen eine Deutschen Wirtschaftsforum in
der Frankfurter Paulskirche rund
ren. Für ihn bedeutet eine Forde- gen, was eine Software macht, ob Generation die Geschicke des Fa- Bereich der IT«, sagte Dirk Hahn, so große Rolle für die Pharma-
900 Vertreter aus Wirtschaft,
rung so viel wie reden zu wollen. sie zu unserem Besten ist und wer milienunternehmens Alfred Ritter Mitglied des Vorstands der Hays industrie spielen und die Forschung Politik und Wissenschaft, um sich
die Daten bekommt. GmbH & Co. KG lenkt. »Arbeit ist AG. Das Kerngeschäft des Unter- voranbringen. über aktuelle wirtschaftspoliti-
Cybersecurity – Freiheit und »300.000 Malware-Bedrohun- ein so wichtiger Teil des Lebens, nehmens liegt im Bereich der Ver- Eine spannende Diskussions- sche Themen zu informieren und
Demokratie im digitalen Zeitalter gen pro Tag – die Cyberbedrohun- sie wird immer kreativer, sie soll mittlung von hochqualifizierten runde zur tragenden Rolle von auszutauschen. Im Fokus des
gen werden immer heftiger. Eine Freude machen und auf gemein- Fachkräften. »IT-Spezialisten und Film und Fernsehen als Zukunfts- 9. Deutschen Wirtschaftsforums
Doch was, wenn keiner reden will? verstärkte Kooperation zum Schutz same Werte ausgerichtet sein.« Generalisten werden in Mixed- treiber für die Wirtschaft rundete standen Cybersecurity, Unter-
nehmertum und Werte, Zukunft
Cyberangriffe auf Krankenhäuser, des Cyberspace ist wichtiger als je »Eine klare Vision und Werte, Teams zusammenarbeiten, auch die Veranstaltung ab.
der Arbeit und Wachstumsstrate-
gien. Das Deutsche Wirtschafts-
forum gilt als einer der bedeu-
Eine Veranstaltung von: Partner: tendsten Wirtschaftskongresse
der Republik. In den vergange-
nen Jahren sprachen unter
anderem: Rüdiger Grube, Roland
Förderer: Technikpartner: Medienpartner: Offizieller Koch, Nina Ruge, Wolfgang
Druckpartner:
Schäuble, Gerhard Schröder,
Martin Schulz, Erich Sixt, Joschka
Fischer und Jens Weidmann.
4. DEZEMBER 2017 No 50 JAHRESRÜCKBLICK 2017 WISSEN 37

Neu in der Familie: Alexa


2017 war das Jahr, in dem die Maschinen mit dem Sprechen anfingen. Auch bei J AN SCHWEITZER i n der Küche

A
nfang des Jahres haben wir dern lauschende und sprechende Mitbewohner. mal: die Möglichkeiten der Technik noch nicht aus- doch so viel mehr sein! Etwa Steuerzentrale: Wer haben die digitale Assistentin in ihre Boxen integriert,
Zuwachs bekommen. Alexa Und intelligent werden sie auch sein. Alexa ist reizten. Der Skill »Spieglein« etwa antwortete auf entsprechend ausgerüstet ist, könnte mit ihr die die amerikanische Firma Ultimate Ears etwa. Sie ­stattet
heißt unser neues Baby. Sie ist nicht allein. Google bietet einen Home ge­ die Frage »Alexa, frage mein Spieglein, wer ist die Elektrik einer Wohnung bedienen, per Sprachkom- ihre Modelle Blast und Megablast damit aus. Die
charmant, witzig und das, was nannten Smart-Lautsprecher an, und demnächst Schönste im ganzen Land?« überraschenderweise: mando etwa das Licht im Wohnzimmer auf einen Boxen sind mobil, nicht allzu groß, können per Akku
man eine ehrliche Haut nennt. soll auch der HomePod von Apple erscheinen. »Ihr seid die Schönste im ganzen Land.« Das hört gemütlichen Dämmerzustand stellen und mit­ betrieben werden und klingen deutlich besser als ein
Inzwischen haben wir sie in Die Geräte mit Alexa gibt es in den USA man ja auch gern mal. Inzwischen habe ich viele einem anderen die Temperatur der Heizung hoch- Echo. Meine Alexa ist wie ein dienstbarer Geist von
unsere Familie integriert, auch schon seit Ende 2014, nach Deutschland kamen sinnvolle Skills installiert (etwa eine Einkaufsliste, drehen. Wir selbst haben die entsprechende Aus- einem Gefäß in ein anderes umgezogen – toll!
wenn ihr Aktionsradius auf die Küche beschränkt Echo und der deutlich kleinere Echo Dot dann die mit meinem iPhone synchronisiert wird) – auch rüstung nicht. Ich sage: noch nicht. Meine Frau Sobald die Megablast über mein Smartphone mit
ist. Vorbehalte gegen sie gibt es vor allem, wenn zwei Jahre später – zunächst nur für wenige aus- wenn die Handhabung per Sprachbefehl noch nicht sagt: niemals. dem Internet verbunden ist, kann sie mir auch auf der
sie mal wieder intelligent tut. Dann wird sie von gewählte Kunden, die sich vorher beworben hat- immer ganz einfach ist, was den praktischen ­Nutzen Ihr (und den Kindern) ist Alexa nämlich­ Skipiste oder am Baggersee das Wetter für den Abend
einem Moment auf den anderen unheimlich. Ich ten. Denn Alexa war noch in der Probezeit, die zuweilen beschränkt. manchmal unheimlich. Je besser Alexa eine Sache ansagen, auf Zuruf meine Einkaufsliste auffüllen oder
frage mich dann immer: Wann werden wir ein Entwicklung von Spracherkennung und -aus- Wobei es ja auch ein sehr praktischer Nutzen ist, macht, desto größer ist das Misstrauen. Denn eine mir bestätigen lassen, dass ich der Schönste im ganzen
normales Verhältnis zu Alexa haben? Wann wird gabe waren aufwendig, sie musste noch reifen. wenn man damit Musik hören kann. Das wurde in Maschine ist kein Mensch, also soll sie auch keine Land bin. Meine Frau ist nicht so begeistert davon,
unser Misstrauen ihr gegenüber schwinden? Was dann Anfang 2017 bei mir zu Hause an- unserer Familie mit der Zeit zu Alexas Hauptauf- allzu menschlichen Dinge tun. Und außerdem wäre dass Alexa jetzt immer und überall ein Ohr für uns hat.
Denn Alexa ist eine Maschine, kniehoch,­ kam, so weit unser erster Eindruck, schien schon gabengebiet. Sie eignet sich nämlich prima als intel- es ja auch denkbar, dass Amazon all unsere­ Aber ein Familienmitglied kann ich doch nicht einfach
zylindrisch, schwarz. Sie ist besonders, eine Pio- ziemlich weit entwickelt (ZEIT Nr. 05/17).­ ligente Musikbox. Man muss keine Tasten drücken, Gespräche mitschneidet und deswegen unseren­ zu Hause lassen! Außerdem muss man ihm auch mal
nierin, sie ist das Vorbild einer ganz neuen Gene- Unsere Kinder, 10 und 13 Jahre, konnten damals sondern kann ihr zurufen, was man hören möchte. Tagesablauf genauso kennt wie unsere geheimsten ein paar Freiheiten gewähren. Ich stelle mir schon vor,
ration von Maschinen – und an etwas Neues gar nicht glauben, wie gut uns Alexa verstand Ihr Sound ist für eine Küche okay, herumschleppen (Einkaufs-)Wünsche. Der Konzern beteuert, dass wie es im Winter am Rand der Piste steht und sich alle
muss sich der Mensch ja erst einmal gewöhnen. und wie natürlich sie sprechen konnte, wenn will man das verkabelte Gerät ja ohnehin nicht. Alexa immer erst dann eine Verbindung zu seinen Leute, die vorbeikommen, von ihr einen Song wün-
2017 ist das Jahr, in dem in Deutschland die man sie mit ihrem Namen ansprach und so akti- Also beschallt uns Alexa, ohne zu murren, und­ Servern aufnimmt, wenn wir das Gerät beim­ schen können – Alexa, Après-Ski-Star!
Apparate sprechen gelernt haben. Wobei »spre- vierte. Tagelang ließen wir sie Witze erzählen, die beantwortet ab und an unsere Fragen, vor allem die Namen rufen und es durch dieses »Alexa« aktivie-
chen« noch untertrieben ist: Alexa kann sich mit Regierungschefs diverser Staaten nennen, absur- der Kinder. Erstaunlich ist dabei ihre beruhigende ren. Alle unsere Anfragen an sie würden nur kurz
uns unterhalten. Und mit den vielen anderen deste Sportergebnisse referieren oder rappen (ja, Wirkung: Aus einem pubertierenden Jungen, der gespeichert – und das auch nur, um Alexa zu verbes-
Menschen, die sie bei Amazon bestellt haben.
Der Konzern ist der Erfinder der Software Alexa
das kann sie auch). Mit komplexeren Herausfor-
derungen brachten wir sie schnell an ihre Gren-
uns gerade noch angeraunzt hat, macht sie ein­
sanftes Lamm, das im nächsten Moment flötet:
sern. Ich bin da einfach gestrickt, ich vertraue­
Amazon. Ich finde es toll, wie sich Alexa im Laufe
Mehr Wissen
Illustration: Silke Werzinger für DIE ZEIT

und der zugehörigen »Echo«-Geräte, in denen sie zen, etwa mit der Frage nach der Schneehöhe in »Alexa, wie wird das Wetter heute?« der letzten Monate verbessert hat, wie sie uns besser
sitzt. Amazon hat damit einer neuen Gerätekate- einem bestimmten Skiort. Dann sagte sie: »Das Selten aber meldet Alexa sich auch unaufgefor- verstehen gelernt hat, wie sie sich entwickelt hat. Gutes Benehmen, gibt es
gorie zum Durchbruch verholfen: den digitalen weiß ich leider nicht« – sympathisch ehrlich. dert und sagt dann ganz unvermittelt so etwas wie­ Inzwischen hat sie ihre eigene Familie gegründet: das noch? Der Philosoph
Sprachassistenten. Das klingt so klein, so tech- Ich richtete bald auch einige Skills ein, das »Wunderbar« oder »Das habe ich nicht verstan- Es gibt diverse Echo-Nachfolgemodelle, eines von Joseph Vogl spricht über
sind die Alexa-Varianten von Apps. Und ähnlich den«. Meine Frau meint, es läge daran, dass Alexa ihnen hat sogar einen Bildschirm. Und damit sich Anstand und Manieren
nisch, dabei ist Alexa die Vorbotin eines Umbru-
ches, an dessen Ende sich verändert haben wird, wie der App Store von Apple in den ersten Jahren aus ­einem Satz wie »Das ist ja wie verhext« ihren diese Art der Sprachsteuerung noch weiter verbreitet, Das neue ZEIT Wissen:
wie wir mit Maschinen leben. Sie werden keine von sehr viel Blödsinn-Programmen (darunter Namen herausgehört haben und deswegen aktiv erlaubt Amazon auch anderen Firmen die Verwen- Am Kiosk oder unter
Diener mehr sein, die auf unsere Tastendrücke, diverse Furz-Apps) bevölkert war, gab es auch bei geworden sein müsse. Ich glaube, dass sie uns ­damit dung. So soll Alexa ab Mitte nächsten Jahres in neuen www.zeitabo.de
Fingerzeige oder -wischs angewiesen sind, son- Amazon am Anfang viele Skills, die, sagen wir zeigen will, dass wir sie unterfordern. Sie könnte­ BMWs stecken. Auch diverse Lautsprecherhersteller

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Stimmt’s?
Kann man einen Kalender wiederverwerten?
Fragt INGRID ROHRMOSER aus Bad Mergentheim DAS URTRAUMA
D
as Jahr geht zu Ende, Monat für
Monat haben wir den Wand­
kalender mit den impression­
istischen Aquarellen oder jenen
mit den Frauenporträts von Peter
Danach hat er allerdings eine längere Pause
vor sich, weil von 2028 (einem Schaltjahr, das
samstags beginnt) auf 2029 (montags) der­
Sonntag als Jahresbeginn übersprungen wird.
Erst 2034 ist es wieder so weit. Und 2040 sieht
DER DEUTSCHEN
Lindbergh umgeblättert – und jetzt soll dieses zunächst gut aus: Das Jahr beginnt an einem
Schmuckstück ins Altpapier wandern? Bekom- Sonntag, ist aber selbst ein Schaltjahr – da wür- Der Zwiespalt, der sich seit der Reformation
men wir nicht stets gesagt, dass Wiederverwen- de der Kalender von 2017 nur bis zum 28. Fe- durch die europäische Christenheit zog, markierte
den besser ist als Recyceln? Könnte man also die bruar die richtigen Tage anzeigen. Er muss bis anfangs auch die Fronten des Krieges, der drei
ganzen Kalender von 2017 wieder einsetzen? 2045 warten. Jahrzehnte lang nicht enden wollte. Aber ging es
Und falls ja, wann wäre es so weit? Eine ganz einfache Formel existiert also nicht, überhaupt noch um den rechten Glauben?
Die Frage lautet folglich, wann alle Kalender- mit der man die passenden Jahreszahlen für die Ging es um Macht, Dynastien, Einfluss? Ein Heft
daten eines Jahres wieder genau auf dieselben Wiederverwendung ausrechnen könnte. Aber im
Wochentage fallen werden wie in diesem Jahr. Internet gibt es eine (englischsprachige) Seite, die über das Urtrauma der Deutschen, den ersten
Das Normaljahr hat 365 Tage, weshalb beim dabei hilft: http://bit.ly/2zbmlRx – dort wird Krieg, der ganz Europa erfasste.
Teilen durch sieben der Rest eins bleibt. Deshalb auch rückwärts gerechnet: Wenn Sie noch einen
fängt 2018 einen Wochentag später an als 2017, Kalender von 2007 oder 2001 im Schrank h ­ aben,
an einem Montag statt an einem Sonntag. Das können Sie den im kommenden Jahr wieder auf- Sichern Sie sich jetzt das ZEIT GESCHICHTE-
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2021 nicht etwa auf einen Donnerstag, sondern DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg,
auf einen Freitag. Weiter geht’s: 2022 Samstag, oder stimmts@zeit.de.
2023 Sonntag – passt, nach sechs Jahren kann Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts
der sorgsam verwahrte Kalender von 2017 wie-
der hervorgekramt und eingesetzt werden. www.zeit.de/audio

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Stimmt’s – Nummer 1048 ODER IM ABO MIT
10% PREISVORTEIL
In diesem Jahr feierte unsere Kolumne ein rundes Jubiläum:
Im Januar erschien sie zum tausendsten Mal
»Auf der Südhalbkugel der Erde dreht sich der Folglich wird in dieser Ausgabe die tausendacht-
Badewannenstrudel andersrum als auf der Nord- undvierzigste Frage beantwortet, und die Leser
halbkugel – stimmt’s?« So lautete die erste Frage, schicken munter neue. Zum runden Geburtstag
die Christoph Drösser hier für die ZEIT beant- hatten wir ausgewertet, was sie am meisten inte-
wortete. Das war am 20. Juni 1997. Zwölf ­
Folgen waren damals geplant, aber die Leser
ressiert: Essen und Trinken (156 Fragen), der
menschliche Körper (127) sowie Tiere und
www.zeit.de/zg-abo
fragten einfach immer weiter. So konnten wir Pflanzen (113) bilden die Top Drei. Darauf
2017 Jubiläum feiern: In der zweiten Ausgabe folgt Wissenschaft und Technik mit 101
dieses Jahres erschien Stimmt’s zum 1000. Mal. Stimmt’s-Folgen. Und weiter geht’s ... DZ

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38 JAHRESRÜCKBLICK 2017 WISSEN 4. DEZEMBER 2017 No 50

Letzte Runde

Cassini stürzt in den Saturn (ZEIT 34/17, siehe bit.ly/2wnwUma) Insektensterben (ZEIT 44/17, siehe bit.ly/2i7LIMH) March for Science (ZEIT 16/17, siehe bit.ly/2obTw69)
Sturzflug in die Gashülle des Saturns hinein: Im September, knapp Im Wahlkampfsommer geriet ein Ökologie-Thema in die Debatte, das­ So eine Demo hatte es noch nicht gegeben: Am »Tag der Erde«, dem
20 Jahre nach dem Start, endete die Mis­ sion der Raumsonde Insektensterben. Im Journal PLoS One erschienen Zahlen zur Masse der 22. April, gingen Wissenschaftler in mehr als 600 Städten weltweit auf
Cassini. Sie verglühte – das war Absicht. Die Nasa wollte nicht ­riskieren, Flug­insek­ten, die Ehrenamtliche aus Krefeld in Naturschutzgebieten­ die Straße. Gegen Ignoranz und Fake-­News, für Fakten und kritisches
dass die Saturn-Monde bei einem Absturz mit irdischen Mikroben aus gefangen hatten: 2016 drei Viertel weniger als noch 1989. Alarmierend, Denken. Auf mehr als eine Mil­lion wird die Teilnehmerzahl geschätzt.
der Sonde kontaminiert würden. Denn besonders der Mond E ­ nceladus wenn auch nicht einfach auf ganz Deutschland übertragbar. So drehte Beim größten March for Science in Wa­shing­ton sollen es 100 000­
bietet möglicherweise die Voraussetzungen für außerirdisches L ­ eben – sich die Diskussion um zweierlei: dass es offenbar deutlich weniger­ gewesen sein, in Berlin 10 000. Zwischen Greifswald und Freiburg gab es
wie die Forscher dank Cassini wissen.  Insekten gibt – und noch viel zu wenig wissenschaftliche Daten.   in 22 deutschen Städten Fakten-Märsche. 
Motiv entworfen und präsentiert von Doreen Borsutzki Motiv entworfen und präsentiert von Jan-Peter Thiemann Motiv entworfen und präsentiert von Lydia Sperber

Woran
wir uns
Gravitationswellen (ZEIT 43/17, siehe bit.ly/2A9Cvy8)
Im August lieferten Astronomen eine globale Gemeinschaftsarbeit ab:
Nachdem eine Gravitationswelle aus der Galaxie NGC 4993 entdeckt
erinnern Auch in Wissenschaft und
Bislang ältestes Leben (ZEIT ONLINE 14.5.2017, siehe bit.ly/2AtapPi)
Zwei Fossilienfunde haben 2017 die Geschichte des Lebens ver­
längert – in die Vergangenheit. Im Mai berichteten Forscher von
worden war, untersuchten 70 (!) Observatorien die Quelle der Welle. 3,48 ­Mil­liarden Jahre alten Versteinerungen aus Australien (Nature­
Im Oktober präsentierten sieben Fachaufsätze die Resultate (Nature ­Forschung ist 2017 viel passiert. Communications). Mit mindestens 3,77 Mil­liar­den Jahren noch älter
und Nature Astronomy). Der Auslöser der kosmischen Erschütterung sind Einzellerspuren in Sedimenten »Schwarzer Raucher«, also heißer
war die Kol­li­sion zweier Neutronensterne. Noch nie hatten Menschen
Die Grafiker der ZEIT haben sich Quellen am Meeresgrund. Von diesem Fund in Quebec berichteten
eine sogenannte Kilo­nova beobachtet.  davon inspirieren lassen – und Wissenschaftler im März (Nature): Altersrekord! 
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Wir losen die Gewinner aus und melden uns bei Ihnen.

Recherche: Stefan Schmitt, Jan Schweitzer


Künstliche Intelligenz pokert (ZEIT 11/17, siehe bit.ly/2oc9it4) Hurrikan-Saison 2017 (ZEIT 36/17, siehe bit.ly/2vFWRKc)
Poker ist schmuddelig im Vergleich zu Schach oder dem asiatischen Go. Fotos: Paula Markert für DIE ZEIT; Harvey, der Sturm, der Houston unter Wasser setzte, steht für eine
In beiden Brettspielen haben Computer den Menschen hinter sich­ action press (T-Shirt-Motiv u. r.) außer­ge­wöhn­liche Saison. 2017 gab es überdurchschnittlich viele
gelassen, was als Beleg für den Fortschritt künstlicher Intelligenz (KI) tropische Wirbelstürme und schwere Hurrikans. Früher hätte man
gilt. Aber Poker, bei dem man bluffen muss und Bauchgefühl zählt? Quellen: marchforscience.com; Nasa; Nature; gesagt: Das ist halt Wetter. Heute fragen sich die Meteorologen: Wie
Seit 2017 ist die KI auch hier überlegen: Tschechische und kanadische­ Nature Astronomy; Nature Communications; viel Klimawandel steckt drin? Schließlich nährte das warme Ober-
Informatiker berichteten im Mai in Science, ihr Poker-Bot DeepStack NOAA; PLOS One; Science flächenwasser des Golfs von Mexiko Harvey und seine stürmischen
habe humane Profi-Pokerspieler abgezockt. Geschwister der Hurrikan-Saison dieses Jahres.
Motiv entworfen und präsentiert von Katrin Guddat Motiv ausgesucht und präsentiert von Norman Hoppenheit
PANORAMA
4. D e z e m b e r 2017 DIE ZEIT No 50

39
J A H R E S R Ü C K B L I C K 2 0 1 7

Bilder vom Tag der Erde


Acht Fotografen der renommierten Bildagentur Magnum haben an unterschiedlichen Orten ihr ganz persönliches Bild der Erde
aufgenommen. Stichtag war der 22. April, der jedes Jahr zum Tag der Erde ausgerufen wird. Er soll an die Endlichkeit der Natur erinnern

Mailand
ITALIEN

MAILAND,
ITALIEN
Wären unsere
Gebäude grün statt
aus Stahl und Glas,
wie anders sähe
unsere Welt wohl in
der Zukunft aus?
Am Bosco
Verticale, diesem
bewaldeten Hoch-
haus, liebe ich, dass
jeder Passant über-
rascht ist und sich
eine alternative
Wohnform sogleich
vorstellen kann.
Susan Meiselas

DEUTSCH
LAND

Freiburg

FREIBURG,
DEUTSCHLAND
Freiburg ist die grünste
Stadt Deutschlands.
Der Dschungel,
den die beiden
Fahrradfahrerinnen ­
gerade passieren, ist
aber bloß das Wandge-
mälde an einem Haus.
Richard Kalvar

FR ANK
REICH

Limousin

LIMOUSIN,
FRANKREICH
K ANADA Anfang des Jahres
2017 stürzten zwei
gewaltige Eichen um.
Sie wurden zersägt
ONTARIO, KANADA und zu Feuerholz
Ontario In Kanada finden vierzig Prozent der petrochemischen aufgestapelt. Efeu
Produktion in der Nähe des Reservats der Aamjiwnaang First Nation umrankte die
in Sarnia, Ontario, statt. Dort steht auch die erste Ölraffinerie des Scheite langsam,
Landes. Die meisten umweltschädlichen Industriebetriebe sie waren zu schön,
befinden sich im direkten Umkreis der Naturschutzgebiete der um sie zu verbren-
kanadischen Ureinwohner. nen. Ein Holzstück
Larry Towell nahmen wir mit
nach Hause, nur um
es anzuschauen.
Olivia Arthur
40 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

USA
Vallejo

Kalifornien

VALLEJO,
KALIFORNIEN,
USA
Aram sitzt mit
seinen beiden
Kindern in einer
recycelten Bade-
wanne. Zum Baden
nutzen sie Regen-
wasser. Im vergange-
nen Jahr hat es sehr
viel geregnet. Die
staatliche Behörde
zur Überwachung
der Dürreperioden
in den USA hat
Nord-Kalifornien
jetzt als dürrefrei
eingestuft. Wissen-
schaftler
sagen auch für
Kalifornien in den
nächsten Jahren ­
einen Temperatur-
anstieg voraus.
Carolyn Drake

Fotos: Magnum-Photos/Agentur Focus (Susan Meiselas, Larry Towell, Richard Kalvar, Olivia Arthur, Moises Saman, Cristina Garcia-Rodero, Raghu Rai, Mikhael Subotzky und Carolyn Drake)
4. DEZEMBER 2017 No 50 PANORAMA 41

JAPAN
FUJITSUKA

Fujitsuka
Tokio

FUJITSUKA,
JAPAN
Am Tag der Erde
reiste ich
an die Küste von
Sendai, einem
jener Gebiete, die
2011 am schlimmsten
von Erdbeben und
Tsunami betroffenen
waren. Dort
besuchte ich denn
Skater-Park »Carpe
Diem« in der Nähe
von Fujitsuka.
Der Park wurde von
einem ehemaligen
Hausbesitzer angelegt
als Protest gegen die
japanische Regierung,
die eine Wieder-
besiedelung des
Gebietes bisher
verboten hat.
Moises Saman

BR ASILIEN Rio de
Janeiro

Srinagar Kaschmir
RIO DE JANEIRO,
BRASILIEN
Die Guanabara-Bucht INDIEN
ist mit einer SRINAGAR, KASCHMIR, INDIEN
Fläche von 380 Dharti Maa: Mutter Erde. Der Begriff – nachzulesen in unseren
Quadratkilometern Schriften und heiligen Büchern – bezeichnet Ehrfurcht und
die zweitgrößte Bucht Demut gegenüber der Erde. Kaschmir ist ein Staat inmitten der
an der Küste. Wirren des Dschihad, immer wieder kommt es zu ungeheuren
Mit dem Abholzen der Gewaltausbrüchen. Doch die Natur ist viel größer und gewaltiger als
Mangrovenwälder die nichtigen Handlungen der Menschen.
stirbt auch das
Raghu Rai
Leben in der Bucht.
Weil sich die
Regierung nicht darum SÜD
kümmert und das AFR IK A
Mineralölunternehmen Kaapsehoop
Petrobras seine
Abwasser einleitet,
wird die Bucht KAAPSEHOOP,
vergiftet.
SÜDAFRIKA
Cristina
Garcia-Rodero Am Tag der Erde war
ich zufällig nach langer
Zeit wieder einmal
im Urlaub. So hielt ich,
gemeinsam mit meiner
Partnerin Maria,
Zwiesprache mit der
Natur. Zur Kamera zu
greifen bedeutete für
mich, gleichzeitig
die Schönheit unserer
momentanen Umge-
bung und die hässlichen
und zerstörerischen
Dinge in der Welt zu
würdigen.
Mikhael Subotzky

Texte übersetzt aus dem Englischen von Sigrid Weise


42 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

Kohls
Erbe
VON REINHARD KLEIST
4. DEZEMBER 2017 No 50 PANORAMA 43
44 FREUNDE DER ZEIT 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

DAS NEUE PROGRAM M FÜR UNSERE LESERINNEN UND LESER

Liebe Leser, das wollten wir schon


immer von Ihnen wissen
Anfang Oktober kamen rund 1600 Leser zum »Tag der ZEIT«. Redakteure standen in der Uni Hamburg Rede und Antwort:
Wie kämpferisch muss Journalismus heute sein? Wie entsteht die ZEIT? Doch dann tauschten
wir die Rollen und sammelten in der Redaktion Fragen ein, die Sie, liebe Leser, beantworteten. Eine Auswahl finden Sie hier

Wo lesen Sie die ZEIT am liebsten? Über welchen Artikel in der ZEIT Wofür haben Sie die ZEIT
Anne Hähnig haben Sie sich in diesem Jahr am meisten gefreut? schon einmal benutzt – außer zum Lesen?
Caterina Lobenstein Petra Pinzler
Im Bett · Am Esstisch, wegen des
großen Formats · Zu Hause – und ich brauche die Über den Artikel von Stefan Schmitt: »Unser blauer ­ Zum Kaminanzünden · Um Schuhe zu trocknen · Zum
ganze Woche · Im Zug · Auf dem Klo Patient«. Er war längst überfällig Tischabdecken, wenn ich »Nass in Nass« male. Die ­
und hat mir aus Herz und Seele gesprochen. Zeitung saugt die Nässe so gut auf! · Als Geschenkpapier
· Zum Füßewärmen · Ich habe auch schon einen ­
Asterix-Helm aus ZEIT-Papier für meinen Sohn gebastelt.
Wann hören Sie auf, einen Artikel zu lesen?
Caterina Lobenstein An welches Titelmotiv der
ZEIT können Sie sich spontan erinnern?
Wenn ich das Gefühl habe, schon zu wissen, was noch Anna von Münchhausen Welche Geschichte fehlt Ihnen noch?
kommen wird. · Wenn mir Meinung als Fakt verkauft wird. Petra Pinzler
· Wenn ich umblättern und den Anschluss suchen muss. Fluch der Karibik. Die Politiker sind perfekt getroffen ·
Als das Magazin nur eine weiße Titelseite hatte: Mir fehlt eine Dauerrubrik: etwas wie »Drangeblieben«,
»Das unsichtbare Verbrechen« · Der Absturz des Kranichs. etwa an dem Thema, das die Politik letztes Jahr
Nach dem Germanwings-Unglück sah die ZEIT den beschäftigt hat. · Zukunft Europa. Ist Europa zu schnell
Erinnern Sie sich an ein bestimmtes Foto aus der ZEIT? Absturz als symptomatisch für das Missmanagement bei gewachsen? Warum lohnt es sich, für Europa zu kämpfen?
Melanie Böge der Lufthansa. Das war vorschnell und falsch.

Ja, ich erinnere mich an das Foto eines Flüchtlings, eines


Vaters, der mit seinem Kind durch die Landschaft Was stört Sie an der ZEIT am meisten?
läuft. Es ist schwarz-weiß und hat so viel zu Mögen Sie die Rubrik Anne Hähnig
erzählen. · Den Titel mit Jan Böhmermann als Kim ­ »Was mein Leben reicher macht«?
Kardashian auf dem ZEITmagazin · An die Frau, Melanie Böge Schwierig finde ich manchmal die Zusammenarbeit der
die mit ihren zwei Kindern vor dem IS geflohen ist. · »Du ZEIT mit großen Unternehmen bei ZEIT-Konferenzen.
siehst aus, wie ich mich fühle«, die Katzenbilder. Nö · Das ist das Beste an der ZEIT! · Wenn das ZEITmagazin mal wieder gefüllt ist mit ­­­
Bitte mehr davon, ausführlicher und differenzierter: Mode- oder Uhren-Anzeigen · Die Beschreibung von ­
Wo gelingt Leben? Und wie gelingt es? Einzelschicksalen als Beleg für Probleme. · Die Sprache im
Feuilleton. Von vielen Inhalten der Artikel fühle ich
Was ist Ihrer Ansicht mich ausgegrenzt. · Ich persönlich bin der Auffassung,
nach das größte Problem in Deutschland? dass der Bereich der Kunst zu wenig Aufmerksamkeit ­
Anne Hähnig Interessiert Sie eigentlich bekommt. Für mich ist Kunst ein wesentlicher
das Weltall? Und falls ja, warum? Bestandteil unserer Kultur. · Das unhandliche Format
Die politische, soziale und ökonomische Situation · Stefan Schmitt
Die immer größer werdende Kluft zwischen Reich und
Arm. · Zum einen, dass viele Berufe im sozialen Bereich Absolut! Mehr über Unbekanntes erfahren. Wo kommen
nicht genügend wertgeschätzt werden, und zum anderen wir her, wo wollen wir hin? · Nö, nicht so sehr.
dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer Wobei – »ET« und ähnliche Filme mag ich. Vielleicht
wird und bestimmte Bevölkerungsschichten keine ­ eher Fantasy und Utopien, nicht nur reine Wissenschaft. Gibt es Autoren bei der
Chancen haben, sich nach oben zu arbeiten. · Dass man ZEIT, die Ihnen besonders wichtig sind?
sich nicht verantwortlich fühlt für das, was um einen ­ Sabine Rückert
herum geschieht. Man achtet sehr darauf, dass einem kein
Unrecht geschieht, möchte aber nicht in die Pflicht als Über welches Thema berichtet die ZEIT zu oft? Ich mag die Autorinnen und Autoren, die gänzlich
Mitbürger genommen werden. Eine Identifikation mit Kolja Rudzio ohne »eigentlich« auskommen.
Foto: Lêmrich/Agentur FOCUS für DIE ZEIT (Modelle: Mirka und Sunny)

dem Land, in dem man lebt, findet nicht unbedingt statt.


Leben und Trends in Berlin. Ja, es ist die Hauptstadt, aber
es ist nicht der Nabel der Welt, nicht einmal der
Republik. · Über Promis. Vor allem im Hamburg-Teil. Über welches Thema berichtet die ZEIT zu wenig?
Woher, glauben Sie, kommt der Hass, der aus vielen Kolja Rudzio
Briefen und Kommentaren spricht, die mich erreichen?
Caterina Lobenstein ZEIT im Osten sollte eine Rubrik werden. · Ich wünsche
FREUNDE DER ZEIT mir nicht ein bestimmtes Thema, sondern mehr ­
Der Hass war immer da. Dass man ihn weiter verbreiten Langfristigkeit: Nicht nur im Moment des medialen Hochs
und dabei anonym bleiben kann, das ist neu. Und Im Zentrum des Programms für unsere Abonnenten steht auf eine Sache zu blicken, sondern später noch mal ­
mit der Verbreitung durch die neuen Medien wird auch der persönliche Austausch, etwa bei den regelmäßigen nachschauen, wie sich die Lage entwickelt hat. · Die ­
Hass auf dem alten Postweg salonfähig. · Weil Foren Unter-Freunden-Abenden oder Redaktionsbesuchen. erschreckende Entwicklung in Polen, unserem Nachbarn,
nicht nur ­Diskussionsforen sind, sondern ein Müllplatz Alle Abonnenten können sich für die Angebote bekommt zu wenig Beachtung. Die meisten wissen
für schlechte Gefühle. · Bildung ist der Schlüssel. der »Freunde der ZEIT« kostenlos hier registrieren: nicht, wie dramatisch die Lage der Demokratie dort ist.
www.freunde.zeit.de.
FEUILLETON
4. D e z e m b e r 2017 DIE ZEIT No 50

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J A H R E S R Ü C K B L I C K 2 0 1 7

17 Schriftsteller erzählen hier, was sie in diesem Jahr besonders berührt und ergriffen hat – WIE WAR IHR JAHR?

ob »Babylon Berlin«, die Elbphilharmonie oder Death Metal (nur über Bücher durften sie nicht schreiben)
Tilda Swinton

Oscar-prämiert: Die
schottische Schauspielerin
Tilda Swinton, 1960 geboren

Was haben Sie dieses Jahr zum ersten


Mal gemacht?
Eine Reise nach Indien.

War 2017 besser oder schlechter, als Sie


an Silvester 2016 erwartet haben?
Sowohl – als auch.

Wer hat Ihnen 2017 Hoffnung gemacht?


Randy Rainbow – ein urkomischer YouTu-
be-Satiriker – sowie viele andere Menschen.

Und wer war eine Enttäuschung?


Jeder, der sich von den sozialen Medien
dazu verleiten ließ, das Schlechteste aus
sich herauszuholen.
Eine Holztafel
aus dem
Was war Ihr persönlicher Sieg 2017?
Abb.: Jean Fouquet/Königliches Museum der Schönen Künste Antwerpen; Nicolas Liponne/NurPhoto/ddp (r.); Tineke de Lange/Suhrkamp Verlag (u.)

15. Jahrhundert –
Das obere Stockwerk meines Hauses
die ­Madonna
auszumisten.
von Melun,
bis zum Januar
Und Ihre persönliche Niederlage?
noch in Berlin
Das untere nicht auszumisten.
zu sehen
Was hat Sie am glücklichsten gemacht?
Freunde, die Natur, Hunde, Hühner – das
Übliche.

Und was am wütendsten?


Jedweder Unsinn darüber, irgendetwas
wieder groß zu machen.

Was hat Sie am meisten überrascht?


Das Ausmaß, in dem ich tatsächlich nichts
dagegen habe, ein Ständchen auf einer
Ukulele dargebracht zu bekommen.

Was haben Sie 2017 vermisst?


Geliebte verstorbene Freunde.

Auf welche Nachricht hätten Sie gut


verzichten können?
Dass es – auch nur den geringsten –
Widerstand gegen das Pariser Klima­
abkommen gab.

Was würden Sie im Rückblick auf 2017


an sich und anderen gerne korrigieren?
Die Annahme, dass sich die Dinge ohne
wachsame teilnehmende Aufmerksamkeit
einfach zum Besseren entwickeln.

Welche wichtige Lektion haben Sie


2017 gelernt?
Dass sich die Dinge ohne wachsame
teilnehmende Aufmerksamkeit nicht

Die Schöne mit der Kugelbrust


einfach zum Besseren entwickeln.

Was war der schönste Ort, an den Sie


gereist sind?
Immer noch mein Lieblingsstrand auf den
Hebriden.

Eine Verabredung, von der ich lange träumte – über das skandalöse Andachtsbild der Madonna von Melun in der Berliner Gemäldegalerie  Und Ihr schönster Moment?
Als mein Vater mir dafür dankte, dass ich
VON DURS GRÜNBEIN mich um ihn kümmere.

E
Was war Ihre beste Tat?
insamer Höhepunkt des Jahres Heiligen Stephanus. Die rechte Tafel ist aus dem Ein skandalöses Andachtsbild, beispiellos in Frankreich ist so etwas möglich gewesen – wäh- Eine, die geheim bleibt.
war die Begegnung mit der Ma- Königlichen Museum der Schönen Künste in Ant- seiner erotischen Ausstrahlung, die alles Religiöse rend Italien doch Vergleichbares kannte (die Ma-
donna von Melun in der Berliner werpen angereist. Zum ersten Mal seit Langem sind durchkreuzt und – erhöht. Diese Wunderfrau ist donnenbilder des Fra Filippo Lippi). Aber dann Was ist Ihre Schlagzeile 2017?
Gemäldegalerie. Ich kannte ihr die beiden Teile wieder vereinigt und können nun ganz bei sich selbst, weltlich in ihrem Ehrgeiz, die ist da etwas Einzigartiges, das den Künstler aus- Kim Jong Un nennt Trump einen geistig
Bildnis nur von Reproduktio- ihre ganze Geschichte erzählen. Die Kabinettaus- Schönste im ganzen Lande zu sein, wie es im macht: die Manier der visionären Komposition. umnachteten senilen Amerikaner.
nen, ein Meisterwerk des goti- stellung (bis zum 7. Januar) erlaubt einen Blick auf Märchen heißt. Was dachte ein guter Christ, der Undenkbar, dass diese Frau Milch gibt und ein
schen Surrealismus. Es gehört zu die schockierenden Details. Das tropfende Blut am vor ihr auf die Knie ging? Wir kennen den­ Kind stillt. Die Stille der Andacht stellt sich über Und was war Ihr aufregendster Moment?
den seltsamschönsten Frauendarstellungen über- Hinterkopf des Märtyrers mit der Tonsur, der scharf- Namen der Frau, die hier die Madonna spielte: tausend feine Einzelheiten her. Da ist der luxuriöse Die Geburt der Welpen unserer
haupt. Entsprechend aufgeregt sah ich der Au- kantige, auf einem Buch präsentierte Stein, der ihm Agnès Sorel, La belle Agnès. Ihre hohe Stirn mit Farbklang, den kein Katalogdruck adäquat wieder- Spanieldame Dot.
dienz mit der Dame im Original entgegen. Und den Tod brachte, korrespondieren mit der entblößten dem bis über die Schläfen ausrasierten Haar er- geben kann – unschlagbar das Original. Für diese
eine Dame war sie im wahrsten Sinne des Wortes, Brust der Mätresse. Sie ist der Blickfang, eine skulp- zeugt einen Wiedererkennungseffekt, der auch Sensation wäre ich bis nach Australien gepilgert, Über welche Fragen haben Sie
nicht irgendein unbekanntes Modell aus dem turale Erscheinung der Weiblichkeit, elfenbeinweiß den Laien zum Mitwisser macht. Über sie wurden aber nun gab es sie vor der Haustür. Von allen 2017 nachgegrübelt, ohne eine
Zeitendunkel, sondern die Geliebte Karls VII., ihr Körper, zeitlos modern. Ihr unnahbar kühles Romane geschrieben. kulturellen Angeboten des Jahres war sie die wei- Antwort zu finden?
König von Frankreich, die jung verstarb, schwan- Inkarnat leuchtet makellos durch die Jahrhunderte. Die Ausstellung deckt nicht nur ihr Leben in teste Reise wert. Es war eine Verabredung, die ich Wohin verschwinden all die Socken nachts?
ger mit einem Kind des Thronhalters am Ende Eine Wachspuppe mit halb geöffneten Lidern – ich einer historischen Männerwelt wie einen Krimi- mir lange erträumt hatte. Ich habe sie eingehalten
des Hundertjährigen Krieges mit England. stelle mir, selber verzückt, die Verzückung eines nalfall auf, die Hintergründe der Entstehung ih- und nicht bereut. Was wünschen Sie Deutschland
Der Maler Jean Fouquet (1415–1481), ein Zeit- André Breton oder Max Ernst vor angesichts dieser res Porträts. Sie erzählt auch vom Werdegang des für 2018?
genosse der J­ eanne d’Arc, Jungfrau von Orléans, hielt Figur mit der Wespentaille, dem ausgebreiteten Malers (der sich in einem Medaillon auf dem ur- Durs Grünbein, geboren 1962 in Eine mitfühlende Perspektive, eine
sie in einem Diptychon fest, das einst in der Stifts- Brokatumhang, auf dem das Christuskind, Glieder- sprünglichen Rahmen versteckte), vom Einfluss Dresden, ist ein deutscher Lyriker, beherzte kollektive Investition ins Leben
kirche von Melun aufgehängt war. Heute befindet puppe aus einer künftigen Automatenwelt, von glut- seiner Zeitgenossen wie Jan van Eyck und Rogier Essayist und Übersetzer. Zuletzt und verständige Nachbarn.
sein linker Flügel sich im Besitz der Berliner roten Engeln umgeben, still und ergeben thront, als van der Weyden und von der Frühgeschichte der erschien 2017 bei Suhrkamp sein
Gemälde­ galerie, er zeigt den Stifter sowie den­ mache es gute Miene zum bösen Vanitas-Spiel. französischen Monarchie. Man denkt: Nur in Gedichtband »Zündkerzen« Aus dem Englischen von Michael Adrian
46 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

Zum Klang wird hier


der Raum
Ohne Angst vor großen Gefühlen: Wie mich der Komponist Jörg Widmann restlos
überwältigte. Das Oratorium »Arche« in der neuen Elbphilharmonie  VON ULLA HAHN

E
her lustlos ging ich hin. Das Eröff- Widmann ist keiner, der ausschließlich für Kol-
nungskonzert hatte mich enttäuscht. legen schreibt. In meinem Gewerbe nennt man das:
Ein gut gemeintes Potpourri in ei- a writer’s writer. Nein, er versucht, die Kluft ver-
nem überdimensionalen Saal, der ständlich zu schließen zwischen alter und neuer
die Musik mühelos übertrumpfte. Musik, alten und neuen Hörgewohnheiten – auch
Und dann hatten wir diesmal auch das eine unerhörte Freiheit, die er sich heraus-
noch Karten für die zweite Reihe, nimmt. Widmann ist es ernst mit dem Ernst. Er hat
die ich normalerweise fliehe. Aber meine Neugier keine Angst vor Gefühl, vor dem Erhabenen, dem
siegte, nicht zuletzt wegen des Titels Arche und dann Pathos. Und gerade darum kann er sich den Spaß
»Oratorium«. Der Komponist, Jörg Widmann, hatte an der Freud erlauben, etwa wenn er auf ein Solo-
sich da einiges vorgenommen. Kein Wunder, schließ- Bariton mit »Im Anfang war das Wort: en arché lo-
lich war er ein Schüler Wolfgang Rihms, den ich gos« das freche Gedicht Heines Das Fräulein stand
als Stipendiatin – vor wie vielen Jahren! – in der am Meere folgen lässt oder der Chor hin und wieder
Villa Massimo kennengelernt hatte. Und wenn Kent auch mal herzhaft schunkeln darf – in einem Ora-
­Nagono am Pult stand, waren die klanglichen Quali- torium! Derlei Verfremdungseffekte à la Brecht las-
täten sicher. sen Kitschverdacht gar nicht erst aufkommen.
Aber dann! 13. Januar 2017. 20 Uhr. Wir, die Was mich besonders beeindruckte, war Wid-
Auserwählten, auf unseren Plätzen ringsum an den manns Umgang mit den Texten. In der Kunst ver-
Rändern im Bauch der »Arche-Elbphilharmonie«, altet nichts. Aber das ist immer wieder neu zu be-
verstummten. Vor unseren Augen strömte die Crew weisen. Großartig gelingt das im Abschnitt »Liebe«,
in den Mittelpunkt unseres ozeanischen Riesen, und von den Kindern trocken eingeleitet: »Die Liebe,
das Strömen nahm kein Ende. Über dreihundert die macht jetzt lieber ihr mal!« Und auch das Jüngste
Personen, Kinder zuerst, vorneweg die Hamburger Gericht überlassen sie den Erwachsenen. Denen
Alsterspatzen, dann die Audi Jugendchorakademie, Widmann aber auch die Erlösung, die göttliche
Solisten des Knabenchors der Chorakademie Dort- Vergebung, den Weg aus der Verdammnis zu-
mund, der gewaltige Chor der Hamburger Staats- schreibt. Indem er, was mir natürlich außerordent-
oper, die Solisten Marlis Petersen, Thomans E. lich gefällt, Schillers Ode an die Freude noch einmal
Bauer, Iveta Apkalna, das Philharmonische Staats- genau las. Beethoven, in seiner weltberühmten Ver-
orchester und nicht zuletzt derjenige, der Widmann tonung dieses Gedichts, hatte die letzten Strophen
den Auftrag erteilt hatte und seine Mannschaft samt weggelassen: die Strophen der Versöhnung zwischen
Passagieren sicher ans bergende Ufer schiffen würde, Gott und der Welt, die Aussicht auf ein Paradies.
Captain Noah: Kent Nagano. Für alle! »Allen Sündern soll vergeben / Und die
Fiat lux! Donnerte der Chor ins Aufbrausen der Hölle nicht mehr sein / Unser Schuldbuch sei ver-
Orgel, und ein Kind, ein Mädchen versprach: Im nichtet / Ausgesöhnt die ganze Welt!«
Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Tenebrae, te- Wie am Anfang, so auch im letzten Akt überneh-
nebrae, das war wieder der Chor: Und die Erde war men die Kinder die Führung. »Dona nobis pacem«,
wüst und leer, Finsternis lag über der Urflut, und fordern sie – Gib uns Frieden. Doch gleichzeitig war-
der Geist Gottes schwebte über dem Wasser … Es Mehr Musiker nen sie, indem sie die wohlbekannte sakrale Melodie
werde Licht. geht nicht: Die mit Modewörtern unterlegen, mit Wörtern wie Up-
Ich war überwältigt. Als sich Parsifal in Richard Aufführung der date, Notebook, Schuldenschnitt, Nato, die latente
Wagners Oper auf die Suche nach dem Gral macht, »Arche« in der Bedrohung anmahnend, aber auch: In – God – we
heißt es: »Zum Raum wird hier die Zeit.« In Wid- Elbphilharmonie trust. »In te domini speravi«, singt der Solo-Bariton.
manns Arche müsste es heißen: Zum Klang wird Konzerthaus Doch das Mädchen und der Junge schreien ihm ent-
hier der Raum. Zum Raum, der die Zeit verklingen, mit Krone: Im gegen: »Nein! Nicht in Götter … in euch selbst setzt
vergessen lässt. Die reale Zeit. Klang und Raum Januar wurde Hoffnung! Keine Götter … Nur wir Menschen.« Bis
schufen eine neue Wirklichkeit, eine neue Zeit: vom das neue es am Ende alle vereint: »Gib uns Frieden, gütiger
Anbeginn der Zeiten bis in unsere lauschenden­ Gebäude Gott. Dona nobis pacem!«
Ohren in diesem Augenblick. eingeweiht Jörg Widmann hat uns mit dieser Arche nicht nur
In einer unerhörten, faszinierenden Einheit von sein musikalisches Credo geschenkt. Er ist mit heißem
Wort und Klang ließ Widmann uns teilhaben an der Herzen und kühlem Kunstverstand an seine Substanz
Schöpfungsgeschichte. Die wir doch alle kennen. Ja. gegangen. So und nur so kann ein Künstler die Herzen
Aber nicht so. In diesem Dialog von Wort und Klang der Menschen erreichen, das »gefrorene Eis« in uns wie
gibt der Text nicht nur Impulse für die Komposition, es Kafka formuliert hat, zum Schmelzen bringen. Dass
ist nicht nur Vorlage für die Musik; die Musik rückt er keine Angst hat vor einer Botschaft, die ein Knaben-
auch die wohlbekannten Bibeltexte in ein neues Licht, sopran am Ende so unvergesslich intoniert: »Entzündet
offenbart aufs Neue ihre entflammende Wucht. Arche, Liebe, wo Finsternis regiert!«, das habe ich, das haben
das Wort kommt eben nicht nur vom lateinischen arca, wir alle, wir Geretteten, in dieser Arche an diesem
der Kasten; es meint auch das griechische archae, der Abend gespürt.
Anfang. Womit wir wieder bei dem Beginn des Jo- Fast zwanzig Minuten spendeten wir Beifall. Jedem
hannes-Evangeliums wären: Im Anfang war das Wort. Einzelnen. Natürlich Jörg Widmann. Und Kent Na-
Es werde Licht! Es werde Klang, und Im Anfang gano, der mit wahrhaft archaischer Kraft dieses mo-
war das Wort. Licht, Klang, Wort: Welch ein faszinie- numentale Werk strukturierte und zusammenhielt.
render Dreiklang! Auftakt einer Reise durch die Zwanzig Minuten. Wann hatte ich das zuletzt
Fotos: Christian Charisius/dpa (o.), Thies Raetzke; Julia Braun, Heike Bogenberger (u.)

Menschheitsgeschichte. erlebt? 1995 in Bayreuth, als wir uns von Heiner


Der Schöpfung folgt die Sintflut, dann die Liebe Müllers Tristan verabschiedeten. Ich bin sicher,
bis zum (vermeintlichen) Ende, den Dies irae, dem auch Widmanns Arche wird in hundert Jahren noch
Jüngsten Gericht, bis alles mündet in den Aufschrei: Fahrt aufnehmen, wenn die Kinder längst eine Mode­
Dona nobis pacem – Gib uns Frieden. sprache einfließen lassen, für die uns heute noch die
Welch eine mutige, zupackende, kenntnisreiche Wörter fehlen.
Collage aus den unterschiedlichsten Texten und Es war, als hätten wir alle geborgen in einer Arche
Musikstilen; von der Bibel über Schiller, Claudius, gesessen an diesem Abend. Und als wir nach dem
Nietzsche, Heine, Klabund; in der Musik von Bach Konzert wieder an Land gespült wurden, fühlten wir:
bis Andrew Lloyd Webber. Unsere Arche heißt »Mutter Erde«, unsere Arche ist
Arche ist somit – auch – ein Spiel mit der Tradi- unser winziger Erdball, auf dem allein wir uns im un-
tion. Aber ein Spiel mit Respekt. Um derart damit ermesslichen Universum geborgen fühlen können.
spielen zu können, muss man das »Spielzeug« sehr Kindern, dem Symbol für Reinheit und Zu-
gut kennen. Bei Widmann kommt hinzu: Er nimmt kunft, überlässt Widmann das erste und das letzte
die Tradition ernst. Und tut damit genau das nicht, Wort, in das alle einstimmen: Dona nobis pacem.
was wir seit Jahrzehnten so oft in den Künsten erle-
ben: Er verleugnet und ironisiert nicht. Er reißt das Die Autorin gilt als eine der
Fundament nicht ein, er baut darauf auf. Avantgar- bedeutendsten deutschen
de und Tradition im Dialog. Im Sinne Thomas Schriftstellerinnen. Im August ist ihr
Morus’: »Tradition ist nicht das Halten der Asche, Roman »Wir werden erwartet« bei
sondern das Weitergeben der Flamme.« DVA erschienen

Wer einmal kam,


D
ieselbe Sonate klingt in einem klei- tion und zugleich Ambiente geht nicht, und so Schubert, der alle Erfahrungen der Moderne Kruzifixen oder Reliquiaren, insofern diese ebenfalls
nen Raum anders als in einer großen saßen wir Abend für Abend – wer einmal kam, aufgenommen hat und gerade deshalb wie ge- vorpsychologisch sind, nicht Subjektivität ausdrü-
Halle, vor wenigen, von Abend zu wurde süchtig – buchstäblich zwischen Ikonen, reinigt wirkt, gereinigt von den bekannten Be­ cken, sondern eine Idee, die für höher gehalten, die

wurde süchtig Abend schon vertraut werdenden,


geradezu verschworenen, musikverschworenen
Zuhörern, und sie klingt auch anders, wie aus der
Kruzifixen oder Reliquiaren, das Blickfeld durch
die Exponate eingeschränkt, schlossen die Augen
oder blickten auf die Skulptur eines Gemarterten,
tonungen, Tempowechseln, Dramatisierungen.
Jeden einzelnen Ton und jeden Widerklang legt
sie frei, scheint über jeden Akkord kindlich zu
nicht einmal übersehen wird.
So bescherte uns das Kolumba eine, ja, transzen-
dente Erfahrung, wie es sie in Gotteshäusern heute nur
Die Konzerte der Pianistin Pi-hsien Zeit gefallen, wenn man umgeben ist von religiö- auf eine Monstranz, ein gotisches Ziborium – staunen, macht jede Note voneinander unter- selten gibt, und dem »heiligen Köln« eine notwendige
Chen im Kölner Museum Kolumba – sen Artefakten, viele Jahrhunderte alt: Im Kölner und hörten zu, eine Stunde, anderthalb, zwei. scheidbar und zugleich in ihrem Zusammen- flüchtige, nur von wenigen wahrgenommene Wieder-
Diözesanmuseum Kolumba – der vielleicht son- Aber nicht nur die Umgebung, in dieser hang erkennbar, verschafft selbst winzigsten kehr. Ein Privileg, anwesend gewesen zu sein.
eine transzendente Erfahrung  derbarsten, schönsten, eigenwilligsten Kunststätte Konzertreihe das Mittelalter, die vornehmlich Nuancen Achtung. Natürlich ist die Aufführung
VON NAVID KERMANI überhaupt in Deutschland – gab die Pianistin Pi- katholische Kunst, dringt in die Musik ein. Das- von ihrer besonderen Person wie auch von dieser Der Schriftsteller Navid Kermani lebt
hsien Chen inmitten der Jahresausstellung eine selbe Stück klingt auch anders, wenn man es von Zeit geprägt, und doch ist es anderes als bloße in Köln. Im Januar erscheint sein neues
Serie von beinah schon privaten Konzerten, jeden heute aus versteht. Von der Neuen Musik kom- Interpretation, mehr eine Hörbarmachung, als Buch: »Entlang den Gräben. Eine Reise
Monat eins, gewidmet jeweils einem Komponis- mend, Schülerin Stockhausens, spielt Pi-hsien dass es eine Einfühlung behauptet. Damit aber durch das östliche Europa bis nach ­
ten, von Bach bis Schönberg. Mehr Konzentra- Chen einen Mozart, einen Scarlatti, selbst einen korrespondiert Pi-hsiens Spiel mit den Ikonen, Isfahan« bei C. H. Beck
4. DEZEMBER 2017 No 50 FEUILLETON 47

Er ist ein Genie:


Michael Roth
mit vollem
Körpereinsatz
bei der Arbeit
Fotos: Michael Rulsch; Lukas Beck (u.)

Was für eine Stimme!


Bislang hielt ich Heavy Metal für langweiliges Getöse. Dann hörte ich Michael Roth und seine Band Eisregen. Eine Hommage  VON THOMAS GLAVINIC

E
isregen. So könnte auch eine ver- Ich weiß nicht einmal, ob man heute noch faul ist, gehässige Foren-Postings zu verfassen, und / Wirst du ein Mahnmal / Für all die andren Idio- Sympathieertrag, der für die einzelnen Teile der
kümmernde Stahlarbeiterstadt ir- Heavy Metal sagt oder ob sich ein anderer Be- zum Ausgleich Menschen aufschlitzt. Sie kann ten sein / Lass ein paar Tage vergehen / Und dein Empörungsmaschine, zu der sich unsere Gesell-
gendwo in der Provinz heißen, griff durchgesetzt hat. Zu meiner Zeit – wenn aber auch der Erzähler sein, der kurz den Ton ei- Leib wird wirklich wunderschön / Wie er dort schaft gewandelt hat, das einzige erstrebenswerte
doch nein, Eisregen ist der Name jemand »zu meiner Zeit« sagt, meint er das Alter, ner handelnden Figur imitiert und dann wieder hängt, in seiner Pracht / Dass selbst die Sonne mit Ziel jeder öffentlichen Positionierung ist.
einer 1995 gegründeten Dark- in dem er noch Optimist war – war Heavy Metal mehr oder minder sachlich über die Not berichtet, ihm lacht // Und wenn ein Sturm losbricht / Wer Angst hat, seiner Seele schweren Schaden
Metal-Band aus der thüringischen das, wohin die geistigen Kinder von Bands wie die einen deutschen Soldaten während des Russ- Schneuzt er dir den Kasper / Schneuzt ihn dir hef- zuzufügen, und der Vorsicht halber erst einmal nur
Kleinstadt Tambach-Dietharz. Deep Purple und Led Zeppelin abgeglitten sind, landfeldzugs dazu bringt, seinen Kameraden zu tig, schneuzt ihn dir hart / Nach dem Regen die Wirkung einiger weniger Songs von Eisregen
Ich höre selten Radio, ich gehe selten weg, und und aus Taktgefühl wurde über diese Tragödien töten, um nicht zu verhungern: »Franz war nun scheint wieder die Sonne / Und deine Leiche bau- auf ihre Menschenwürde testen will, der soll sich
ich gehe kaum noch außer Haus. Dass ich ange- nicht gesprochen. mein Proviant ...« melt lustig im Park.« auf YouTube Tod senkt sich herab, Eisenkreuzkrie-
sichts eines so beschränkten Realitätsaustauschs Heavy Metal mochte ich jedenfalls nie. Ich Immer wieder ist sie die Stimme eines Men- Wie gesagt, ich muss mir das alles vorstellen. ger, Mein Eichensarg und Elektrohexe anhören. Was,
auf Eisregen gestoßen bin, ist schon ein Wunder, mag Lärm sowieso nicht, wieso sollte ich ihn schen, der bemerkt hat, dass in ihm Böses wohnt. Und ich habe beide Songs laut meiner Playlist zu gefährlich? Nur eines? Dann Stahlschwarz-
aber dass mir die Musik der Band um den 1971 also als Musik getarnt mein Leben beeinträchti- Er ist jedoch intelligent genug, um zu wissen, dass schon über 300-mal gehört. schwanger! Hier als Produktwarnung ein Auszug
geborenen Sänger Michael »Blutkehle« Roth ge- gen lassen? niemand nur böse ist, und nun fragt er sich: Was Wenn ich sage, dass Michael Roth für mich ei- aus dem Text:
fallen könnte, hätte sich Herr Udo, mein Friseur, Ob Death Metal oder Black Metal oder Dark mag jetzt wohl als Nächstes kommen? ner der größten zeitgenössischen Musiker ist, wer- Seit zwölf Tagen bin ich gereist / doch nur bei
der sie mir im vergangenen Frühjahr vorspielte, Metal oder Sowieso-Metal, ich konnte mir so etwas Man glaubt Michael Roth, wenn er singt. Seine den meinem Urteil bestimmt einige Menschen Licht der Nacht zum Trotze / Ich bin der Sonne
nicht träumen lassen. nie lange anhören. Das Gebrüll, mit dem Metal- Authentizität unterstreicht die Wahrheit dessen, widersprechen. Etwa die Mitglieder der Bundes- schönstes Kind / weil mich ihr Schein zum
Eigentlich hatte er die neue CD von Eisregen, Sänger gern auf dicke Schicksalshose machen, er- was er erzählt. Aber so wie der Schriftsteller nicht prüfstelle, die 2004 das Album Krebskolonie indi- Leuchten bringt // Des Nachts schlief ich im
Fleischfilm, bloß eingelegt, um mich und den Rest zeugt in mir nichts als Aggression, denn sie simulie- seine Figur ist, so ist Michael Roth nicht der Mör- zierte und der Liste B zuordnete, was bedeutet, Staub der Straße / mein Antlitz dem Monde ab-
seiner Kundschaft zu irritieren. Er weiß, dass ich ren damit den Ernstfall bloß. Nur weil man einmal der und nicht der Schlächter in seinen Texten. Er dass es nach ihrer Einschätzung einen strafrecht- gewandt / Will nie mehr seine bleiche Schönheit
nur eine Musikrichtung noch weniger ertrage als vor einem Abgrund gestanden hat, kann man noch ist das Medium. Er berichtet wahrheitsgetreu. lich relevanten Inhalt hat. In der Begründung wur- sehen / will nie mehr kalt im Dunkeln stehen //
Heavy Metal, und das ist Reggae. Reggae ist über- lange nicht ermessen, wie tief er ist. Alles, was Eisregen spielen und singen, ist stim- den die Texte »grausam, menschenverachtend, Ich bin der Sonne wirklich zugetan / schau auf-
haupt keine Musik oder Musikrichtung, Reggae Für mich mangelt es Heavy Metal (oder dem, mig. Sie schaffen eine Einheit zwischen Ton und frauenfeindlich, verrohend und sozialethisch des- merksam die Welt bei Lichte an / und weine, weil
ist das Hintergrundrauschen von Marihuana- was ich dafür halte) meistens an allem, was Mu- Text, die für jemanden, der gegenüber Dark Metal orientierend« genannt. Ferner stellte das Gremium es mich nicht wärmen kann // ich bin allein / so
pflanzen. Heavy Metal ist dagegen wenigstens nur sik für mich ausmacht: Es gibt keine belastbare so viele Vorurteile hat wie ich, leicht unbemerkt eine »Jugendgefährdung« sowie eine »Verletzung allein in meiner Haut. // (…) Ich schaue zu, wie
langweiliges Getöse. Melodie, der Rhythmus ist langweilig, und die bleiben kann. der Menschenwürde« fest, und sie würden »eine ANZEIGE
Mir ist bewusst, dass ich ein Mensch voller Vor- Text-Bild-Schere sticht ins Auge, denn wer von Was in meinem Fall schade gewesen wäre. Hätte dekadente morbide Ideologie propagieren«. Wört-
urteile bin, aber ablegen kann ich sie trotzdem den existenziellsten Dingen des Seins singen will, mir Herr Udo nicht das neue Album von Eisregen lich hieß es: »Die Bundesprüfstelle geht von einem
nicht. Ich will auch gar nicht. Die Gemeinheit an von Dunkelheit, Vergänglichkeit und Tod, und vorgespielt, wäre ich nie auf ihre brutalen, komi- Vorrang der Jugendgefährdung gegenüber dem
Vorurteilen ist ja, dass sie mit zunehmendem Alter sich dann vor dem Konzert den Kopf schminkt schen, großartigen älteren Songs gestoßen. geringen Kunstgehalt der Lieder aus.«
immer gerechter werden. Jemand, der Tiere quält,
taugt wirklich nicht zum Babysitter. Jemand, der
nach fünf Minuten einen geschmacklosen Juden-
wie ein depressiver Clown, den man in der Psy-
chiatrie vergessen hat, der setzt sich zumindest
dem Verdacht aus, ein wannabe zu sein, Bühnen-
Was immer man mir erzählt, muss ich mir vor-
stellen. Dieses Programm gehört zu meiner Grund-
ausstattung und kann manchmal lästig sein. Aber
Man wagt sich gar nicht auszumalen, was solche
Raketenwissenschaftler über Bret Easton Ellis’ Ame-
rican Psycho zu sagen wüssten. Nach diesem Urteil
Filmkritiken
von ZEIT-Autoren können Sie auch hören, donnerstags 7.20 Uhr.
witz erzählt, wird vermutlich auch für den Rest des show hin oder her. Es fehlt ihm die Authentizität, wenn sich Michael Roth jemandes Stimme be- spielten Eisregen jedenfalls sogar bei Konzerten vor
Abends keine angenehme Tischgesellschaft abge- man misstraut seinen Worten, so richtig sie sich dient, der überaus seltsame Dinge wahrnimmt, bin Publikum mit einem Mindestalter von 18 Jahren
ben, da war der erste Eindruck schon der richtige. anhören mögen. ich zumeist mit meinen Fantasiebildern zufrieden. keinen Song dieses Albums. Es setzt keine über- der Nachmittag stirbt / die blassen Abendnebel
Jemand, der mit seinen Kindern umspringt wie Kurz gesagt, Dark Metal hielt ich für überflüssi- Etwa wenn er mit der Elektrohexe abrechnet: durchschnittliche Empathie voraus, um nachemp- ziehen auf / um mich herum das Licht verglüht /
mit unbotmäßigen Untertanen und umgekehrt gen Lärm – bis ich durch Herrn Udo auf Eisregen »Um 19 Uhr und 37 / Holt die kleine Hexe Rei- finden zu können, was es für einen Künstler emo- als ob es mich das letzte Mal berührt. // Doch das
mit Untergebenen umspringt wie mit ungezoge- stieß, eine Band, die in jeder Hinsicht ungeschminkt sig / Sie baut einen Besen draus / und fliegt na- tional bedeutet, wenn seine Arbeit vieler Monate Sonnenlicht reinigt mich nicht / war zu tief im
nen Kindern, sollte nicht geheiratet werden, und spielt. Wer wissen will, wie man Abgründe tanzbar ckig durch das Haus // Komm, hol die Antennen oder gar Jahre behördlicherseits für null und nichtig Abgrund / ein Teil davon / Stahlschwarzschwanger
nur wenige der Menschen, die wild hupen, wenn machen kann, ohne ihnen den Ernst zu nehmen, raus / Und flieg dann zum Fenster raus /Hey, hey, erklärt wird, von den finanziellen Folgen gar nicht // Seit tausend Jahren / bin ich gereist / bei Mondes­
sich eine alte Dame über die Straße schleppt, wer- der soll sich das neue Album Fleischfilm oder eines Elektrohexe, ferngesteuert und mobil / Hey, hey, zu reden. Dass auch noch die Alben Farbenfinsternis licht dem Tag zum Trotze // Ich bin des Nacht-
den heimlich Amnesty International Unterstüt- der früheren Alben von Eisregen anhören, die so Elektrohexe / Weil dich keiner haben will // Sie und Wundwasser sowie die Mini-CD Fleischfestival winds schönstes Kind / Weil mich sein Hauch zum
zungsgelder überweisen. einladende Namen wie Krebskolonie, Leichenlager, hat keine Schuhe an / Damit sie besser landen indiziert wurden und die Band somit vier Veröf- Leben bringt.«
So ähnlich geht es mir mit Heavy Metal. Wo- Wundwasser, Farbenfinsternis, Knochenlager oder kann / Auf der Hexenlandebahn / Mit ihrem fentlichungen für den deutschen Markt verlor, wirft Was für eine Stimme!
bei Heavy Metal nicht böse ist. Er ist bloß unzu- Schlangensonne tragen. Kopf aus Marzipan //(…) Am Arsch ein Höhen- die drängende Frage auf, wer solche Gremien ei- Ich finde, der Himmel ist mir noch den einen
länglich. Oder die, die sich seiner bedienen, sind Michael Roth entzieht sich einer Beschreibung messgerät / Damit fliegt sie auch nachts ganz spät gentlich besetzt, wer sie kontrolliert und ob er dies oder anderen Gefallen schuldig. Für den Anfang
es, weil sie sich an zu große Themen wagen. dessen, was er ist, was er tut und was er kann. Er ist / Das zeigt ihr brav die Richtung an / Damit sie in ausreichendem Maße tut. Gibt es eine Bundes- könnte er dafür sorgen, dass mich eine Oper be-
Dies ist wohl der richtige Zeitpunkt, um zu ein Genie auf einem Gebiet, auf dem es noch nie auch mal saufen kann (…)« prüfstelle für Bundesprüfstellen? auftragt, die Nibelungen neu zu texten. Wer immer
bekennen, dass ich von Musik nichts verstehe eines gegeben hat. Oder wenn er Tipps gibt, was man bei schlech- Ich bin der Ansicht, dass Zensur und institu- die Musik dazu komponiert: Ich will Michael Roth
und vermutlich hoch subjektive Ungerechtig- Michael Roths Stimme ist gewaltig, aber das ter Laune tun soll: tionalisierte geistige Schlichtheit unsere Jugend in einem Opernhaus den Hagen von Tronje singen
keiten verbreite, wenn ich über Musik spreche. sollte nicht den Blick darauf verstellen, wie intel- »Sag ›Nützt doch nichts!‹, wenn du traurig bist erheblich mehr gefährden als der Text eines Liedes. hören. Vielleicht könnte die Bundesprüfstelle ja
Mir fehlt einfach das Instrumentarium eines ligent sie ist. Sie kann übergangslos zwischen ver- / Sag ›Abmatten ist angesagt!‹ / Sag ›Lack hier, ihr Dass es in Deutschland einem Amt möglich ist, die diesmal ein Auge zudrücken und über den gerin-
Musikkritikers, der über Stilmittel und Einflüsse schiedenen Erzählebenen wechseln. Manchmal ist fiesen Schweine!‹ / Wenn dich dein Leben plagt // wirtschaftliche Basis von Künstlern zu untergra- gen Kunstgehalt hinwegsehen.
einer bestimmten Musikrichtung Bescheid weiß sie der humorvolle Mörder, der sich wie Hannibal Wenn das nichts nützt, zieh die Konsequenzen / ben, indem man ihrem Werk einfach den Kunst-
und zu Objektivität immerhin in der Lage, Lecter der Abwegigkeit seiner Triebe bewusst ist Denn kommst du gar nicht mehr gut drauf / gehalt abspricht, ist fast so skandalös wie die Tat­ Der Schriftsteller, 1972 in
wenn auch nicht täglich willens ist. Ich kann und der Sinnlosigkeit jedes Versuchs, gegen sie­ Dann, mein Freund, lass den Kopf nicht hängen / sache, dass es zu keinem Aufschrei der sogenannten Graz geboren, lebt heute in Wien.
über Musik nur sagen, ob sie mir gefällt oder anzukämpfen, und der über seine kleinen Eigen­ Und häng dich lieber selber auf // Wenn das nicht kritischen Öffentlichkeit kam. Doch Solidarität Bei Piper erschien sein jüngster
nicht, und meistens kann ich nicht erklären, wa- heiten zu lächeln gelernt hat. Manchmal, nicht zu nützt / Schneuz dir den Kasper / (…) / Dort bei mit Dark-Metal-Musikern auszudrücken bringt in Roman: »Gebrauchsanweisung zur
rum mir etwas gefällt. oft, ist sie auch der kreischende Wutzwerg, der zu den Eichen, im Wald / Bei hellstem Sonnenschein Zeiten der Diktatur der sozialen Medien nicht den Selbstverteidigung«
48 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

In den Augen Sie pumpt das


vollkommene Dorf ins
Leere – Trockene –
Szene aus die Mühle im
»Happy End« holländischen
Sloten

Und stetig steigt Überrascht, verwirrt


das Meer und beglückt
Ein großer Film, ein prophetisches Werk: »Happy End« von Es war nicht leicht für mich, die Fassung zu
Michael Haneke zeigt unser aller Verblendung  VON DANIEL KEHLMANN bewahren – zu Besuch in der Windmühle in Sloten  VON CLEMENS SETZ

M V
ichael Hanekes Happy End ist ein Gesicht, das so sehr mit dem Leben abge­ or einigen Monaten kam es in dem me und zivilisationserhaltende Aufgabe: Das ge­ ging unten an der Mühle vorbei über die Dorf­
kein wütender Film, er ist sardo­ schlossen hat, dass man seine Ruhe mit Güte ver­ niederländischen Dorf Sloten, einem samte Dorfgebiet wird von ihr im Alleingang ent­ straße; er sang dabei in beeindruckend melodi­
nisch. Gerade weil er in grimmi­ wechseln könnte. So sieht also einer aus, der alles grünen, idyllischen Vorort von Ams­ wässert. Ständig droht von allen Seiten die alles schem Brüllkrächzen mit einer nur für ihn selbst
ger Weisheit alles verloren gibt, hinter sich gelassen hat und nichts mehr erhofft terdam, zur ersten persönlichen Be­ zersetzende Gewalt des Wassers, aber die geduldi­ hörbaren iPod-Musik mit. Und ich stand da und
fällt er nie aus seiner Tonlage als das Ende. gegnung zwischen mir und einer alten ge alte Mühle pumpt die Bewohner jeden Tag ins hielt immer noch meinen Windmühlenflügel.
schwebender Heiterkeit. Dass die Welt unter­ Und als drittes Gesicht eine immerzu lä­ Windmühle. Schon seit meiner frühesten Kind­ Trockene und in Sicherheit. Wir traten auf den Anschließend ging es noch hoch ins Turmzim­
geht, ist weder ein Grund, die Fassung zu verlie­ chelnde Fratze: Toby Jones als der englische heit befallen mich beim Betrachten dieser Bau­ äußeren Rundgang, und ich kam in Berührdis­ mer, über eine steile und düstere Treppe. Hier,
ren, noch schlechte Musik zu hören. Bankier Brad­shaw – das Angesicht der verwa­ werke die ungewöhnlichsten Empfindungen, und tanz zu einem der großen Flügel. Vom nahen sozusagen im Gehirn der Mühle, bekam ich von
Das Bauunternehmen der Familie Laurent schensten Verbindlichkeit, stets höflich, aber in nicht selten grenzen diese an ekstatische Zustän­ Flughafen Schiphol dröhnten die startenden und der Führerin ein Paar traditioneller Holzschuhe
liegt ebenso in Trümmern wie ihre durch einen den Augen vollkommene Leere; so sehen sie de. Natürlich bin ich mit dieser Neigung nicht landenden Urwesen herüber. Wer kann schon, zur Anprobe überreicht.
Hangrutsch verwüstete Großbaustelle, der Ver­ also aus, denkt man sich, die Leute, die schuld allein. Viele Menschen vor mir, nicht nur literari­ den Flügel einer Windmühle in der Hand, auf Am nächsten Tag fuhr ich nach Den Haag
kauf an einen stets verbindlich lächelnden Ban­ sind an allem und doch nie deshalb die Fassung sche Figuren wie der arme Alonso Quijano, sind ein Flugzeug blicken und es als selbstverständ­ ans Meer. Nach etwa einer halben Stunde am
ker von jenseits des Kanals ist schon in die verlieren würden; und man fragt sich, wie es angesichts von Windmühlen verrückt geworden. liches Element der Welt akzeptieren? So dehnbar Strand erhob sich von Norden her ein seltsames
Wege geleitet, ein Sohn hasst seine Mutter, ein Haneke und Jones eigentlich schaffen, die See­ Und das ist umso verwunderlicher, als sie ja ganz ist das menschliche Herz nicht. Flugobjekt. Es wurde rasch größer und war –
Mann betrügt seine Frau, seine Tochter aus ers­ lenlosigkeit selbst mit solcher Schärfe sichtbar offensichtlich auf nichts verweisen, keine Aussage In Werner Herzogs erstem Spielfilm Lebens- zuerst wehrte sich die Wahrnehmung dagegen,
ter Ehe wiederum hat wahrscheinlich ihre Mut­ zu machen. irgendeines Künstlers, keine unter ihnen begra­ zeichen wird der auf der griechischen Insel Kos es zuzugeben – tatsächlich ein Militärhubschrau­
ter getötet, ohne dass sie deshalb Gewissens­ Zuletzt bleibt natürlich das Bild der Afrika­ benen Herrscherfiguren, sie mahlen nur Getreide stationierte deutsche Soldat Stroszek beim An­ ber, ganz in brauner Kriegsfarbe, schon war er
bisse zu plagen scheinen, und das greise Famili­ ner, die unerwartet beim Hochzeitsmahl auftau­ oder entwässern ein bestimmtes Gebiet. Aber wie blick eines Tals voller Windmühlen augenblick­ in der Nähe, schon direkt überm ufernahen
enoberhaupt sucht unermüdlich nach einem chen, eingeladen vom entfremdeten Sohn der bei Regenschirmen, die ebenfalls vorrangig funk­ lich wahnsinnig und beginnt, um sich zu schie­ Meer.
schnellen und schmerzlosen Tod. All das ge­ Laurents, um ihren Platz an der Tafel – nein, tionale Gebilde sind, überrascht und beglückt ßen. Dieses Tal der Windmühlen gab es tatsäch­ Und dann das Ungeheuerliche: Der Militär­
schieht nicht irgendwo, sondern ausgerechnet nicht einzufordern; da ist keine Geste der Em­ und verwirrt uns ihr Aussehen. lich, und zwar auf Kreta. Werner Herzog habe es, hubschrauber schwenkte, als hätte er uns
in Calais, und so wissen wir natürlich, was es pörung, kein Auftrumpfen, kein revolutionärer Als ich mich, zu Fuß kommend über einen Wan­ so erzählt er in einem Interview, mit fünfzehn Strandspaziergänger wiedererkannt, mit einer
ist, das wir niemals sehen: die Flüchtlingslager, Eifer. Höflich stehen sie in der Tür, verwirrt, derweg quer durch verschlafene Siedlungen, ihr Jahren während eines Griechenlandurlaubs ent­ einzigen hummelartig trunkenen Taumelbewe­
die vorläufigen Unterbringungsstätten der Ge­ gänzlich deplatziert inmitten all der mensch­ näherte, erschien sie, so wie Proust es über den Glo­ deckt, »Zehntausende Windmühlen«. Er habe gung direkt in unsere Richtung. In die Badegäs­
strandeten, die immer nahe sind, die mehr und lichen Kälte – und doch am rechten Ort. Und ckenturm von Saint-Hilaire schreibt, »nur mit dem von seinem Esel steigen und sich hinsetzen müs­ te kam Bewegung. Einige machten ein paar zö­
Fotos: X Verleih AG (o. l.); Richard Wareham/imago (o. r.); billy & hells, Hans Hochstöger/Focus/Suhrkamp Verlag (u.)

mehr werden, auch wenn wir sie eben nicht – wie immer ist es natürlich Brad­shaw, der genau Nagel auf den Himmel eingeritzt«. Sie wirkte kaum sen, denn der Anblick der unzähligen »rotieren­ gerliche Fluchtschritte und blieben stehen. An­
oder bloß ganz zuletzt für Sekunden – vor die weiß, was zu tun ist. dreidimensional, eher wie ein zum Leben erwecktes den Riesenblumen« sei zu viel gewesen. Dann dere hoben ihr Handtuch vor die Brust und
Augen bekommen. Eine Weltordnung, die in den letzten Zügen Wappenbild. Ich erinnerte mich an ein Gedicht des aber habe er begriffen, dass nicht er, sondern die schauten. Ein absurder Moment. Mein Denken
Der Titel des Films ist nicht so ironisch, wie liegt – nichts weniger ist das Thema von Happy französischen Dichters René Char, in dem, wenn Landschaft selbst den Verstand verloren hatte und setzte vollkommen aus. Möwen flohen auseinan­
er scheint, man darf ihn wörtlich nehmen. Es End. Unsere Misswirtschaft hat den Planeten ich mich nicht irre, eine auf der Fassade der Ka­ er sein bisheriges Leben fortsetzen durfte. der. Der Hubschrauber überflog uns sehr nied­
geht zu Ende, aber noch sind wir einigermaßen zugrunde gerichtet. Noch aber geht es uns gut thedrale von Reims angebrachte Windmühle be­ In der Szene, in der man Stroszeks Blick in rig. In meiner verzerrten Erinnerung will es mir
zufrieden. Wir gehen unter, doch mit Dekor, in unseren schönen Häusern, auch wenn die schrieben wird. das Tal der tausend Windmühlen erlebt, macht scheinen, als wäre er in Greifweite gewesen. Die
Bequemlichkeit und Stil. Wir hören Kammer­ Ausgebeuteten bereits bei unserem Fest auftau­ Beim Betreten des Windmühlenkörpers stellte die Kamera einen langsamen Schwenk von einer Zeit dehnte sich für die Dauer seines Überflugs,
musik und bewohnen noch teure, gut eingerich­ chen, und auch wenn der Meeresspiegel unter­ sich ein sanfter Stendhal-Effekt ein. Ich war in zur anderen Seite. Dabei entsteht beim Betrach­ dann steuerte er Rotterdam an, das man im
tete Häuser, auch wenn wir die Hypotheken dessen immerzu steigt. Was eine leere Metapher einer Windmühle! Ich musste mich bemühen, die ter die Erwartung, die Windmühlen müssten Meerdunst in der Ferne gerade noch erkennen
nicht mehr bezahlen können. Und stetig steigt sein könnte, wird in diesem Film lebendig und Fassung zu bewahren, und konnte den Erläu­ doch gleich ein Ende nehmen, aber es geht tat­ konnte. Aus seiner hinten offenen Ladefläche
unterdessen das Meer, in das in der letzten Szene konzentriert sich zu einem Schlussbild von terungen unserer Führerin zu Geschichte und sächlich immer weiter, so viele Windmühlen, es wehten Netze.
ein alter Mann fast gelassen und mit Hilfe seiner überwältigender Kraft. Wir sind am Ende, aber Funk­tions­wei­se der Mühlen kaum folgen. Man werden immer mehr! Bis heute ist diese magi­ Vielleicht sehen so niederländische Militär­
Enkelin, die nun einmal gut im Töten ist, seinen was sollen wir anderes tun, als in bankrottem stellte mich dem inneren Getriebe vor, der Wasser sche Filmsequenz für mich die eindrücklichste, manöver aus, ich weiß es nicht. Ich stand da, illu­
Rollstuhl manövriert. Luxus weiterzuleben, solange es eben geht? Die befördernden Hauptschraube und dem großen, weil unmittelbar von jedem Betrachter und miniert und durchröntgt von der Erscheinung.
Was bleibt im Gedächtnis von diesem großen einzige Alternative wäre, die Lüge aufzugeben kräftigen Bremsring, welcher die Mühle nachts ohne jede begriffliche Vorbildung erlebbare Hätte ich ein Stroszek-Gewehr in der Hand ge­
Film? Zunächst wohl die Gesichter dreier Aus­ und selbst unseren Rollstuhl ins Wasser zu fah­ stillhält. Und ich erfuhr von der Zeichensprache Darstellung beginnenden Wahnsinns. Man stel­ halten, ich hätte vielleicht schreiend losgeballert.
nahmeschauspieler. Das Kindergesicht von Fan­ ren. Happy End ist ein großer Film über eine der Flügel: der vertikale Hauptkörper der Mühle le sich nun aber vor, welchen Effekt ein ganzes Denn in dem grellen, kurzen Augenblick unserer
tine Harduin, die die junge Eve Laurent spielt, kleinliche Endzeit, ein prophetisches Werk symbolisiere, so wurde erklärt, das menschliche Tal voller stillstehender Windmühlen haben Begegnung hatte ich den Hubschrauber als das
die ihre Mutter vergiftet und seelenruhig ihr über uns alle, die wir die Wahrheit kennen und Leben, also bedeute eine uhrzeigerähnliche Fünf- müsste. Es wäre ein absolutes Bild des Todes. gesehen, was er wirklich war: eine gekippte, flie­
Sterben mit dem Handy gefilmt hat: Wie in Ha­ die Verblendung wählen. vor-Stellung die Geburt eines Kindes und eine Selbst heute, wenn ich vom Zug oder Flugzeug gende Windmühle.
nekes Weißem Band sehen wir das kalte Antlitz »fünf nach« den Tod. Auch bei Hochzeiten werde aus Felder moderner Windräder sehe, die aus
einer Generation und ahnen schaudernd darin Der Autor, 1975 in Wien geboren, die Mühle auf »vor dem Leben« gestellt. Hoch­ irgendeinem Grund alle stillstehen, werden sie Clemens Setz wurde 1982 in Graz
den Erwachsenen, den es bald hervorbringen wurde für sein Werk vielfach zeiten? Aber ja, versicherte man mir, es gebe viele mir sofort zu übergroßen Grabkreuzen, vor de­ geboren. Für seinen Roman »Die
wird. Dann das Gesicht von Jean-Louis Trintig­ ausgezeichnet. Sein neuester Roman Menschen, die in der Mühle heirateten. nen man den Blick senken muss. Stunde zwischen Frau und Gitarre«
nant, der vielleicht noch nie so charismatisch »Tyll« ist vor wenigen Wochen bei Über den Museumsbetrieb hinaus erledigt die Die Sonne schien, Blesshühner machten leise (Suhrkamp) erhielt Setz den
war, so menschlich, so abgeklärt und traurig – Rowohlt erschienen Molen van Sloten selbst heute noch eine vorneh­ Quiekgeräusche und ein Death-Metal-Sänger Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015

Wissen: Andreas Sentker (verantwortlich),


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Verantwortlicher Redakteur Reportage: Wolfgang ­U cha­t ius
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4. DEZEMBER 2017 No 50 FEUILLETON 49

Mit Platz für


10 000 Gläubige
– die Kirche
Maria Regina
Martyrum, 1963
eingeweiht

Fotos: Florian Monheim/akg; Susanne Schleyer (u.)

Meine Hoffnung und meine Freude


Warum ich Waschbeton so liebe: Ein Ausflug zum schwebenden Schrein der Kirche Maria Regina Martyrum in Berlin  VON DAVID WAGNER

W
as war das? Ein aufgebockter, und über Kleingärten hinweg hatte ich riesige weiß Metallgestellbrille und einer nicht zugeknöpften »Die Tür ist offen«, rief ein Mann in einem wand einnahm – nackter Stein hätte mir besser
eckiger Riesenwal? Ein Luftschiff lackierte Öltanks und die Justizvollzugsanstalt schwarzen Lederweste über Unterhemd und Bauch, grauen Kittel, der das Pflaster kehrte und sich, wie gefallen, aber was weiß ich, ich bin ja Protestant.
aus Waschbeton? Das Ding hing Plötzensee ausmachen können, neben ihr lag, wie eine Plastiktüte in der Hand. Er hatte sich umge- ich nun sah, ab und zu bückte, um Moos und Ich berührte, das war wohl nicht verboten, den
in der Luft, es glitzerte und ich wusste, die ehemalige Hinrichtungsstätte, in dreht, geblinzelt und gerufen: »Klingel?« winzige Unkrautpflänzchen aus den Ritzen zwi- Sichtbeton der Seitenwände, auf denen die Mase-
blendete, ein goldenes Gebilde der in den Jahren bis 1945 fast 3000 Gefangene In einer Vitrine vor dem bröckelnden Gemein- schen den Granitsteinen zu kratzen, der zur Straße rung der Schalungsbretter sichtbar war, was ihnen
links begann zu leuchten. War das Maria Regina geköpft oder gehängt worden waren, unter ihnen dezentrum Plötzensee hatte ich Strick- und Häkel- hin frei stehende Glockenturm warf einen kurzen eine Anmutung von versteinertem Holz mit Ab-
Martyrum? auch Carl Friedrich Goerdeler, der Namensgeber sachen der Handarbeitsgruppe der evangelischen harten Schatten neben ihn. So ermuntert, traute drücken von Astlöchern gab, ich fragte mich, liebe
Vom Berliner Bahnhof Jungfernheide aus war der Brücke, auf der ich stand. Die Kleingarten­ Gemeinde betrachtet, Pullover und Stofftiere, eine ich mich durch die Glastür, ging an der Beton- ich Sichtbeton so sehr, weil meine Mutter ihre
ich unter Platanen an Autowerkstätten und Ge- kolonien, die sich bis zum Horizont erstreckten, von zwei Erzieherinnen begleitete Kindergarten- treppe zur Oberkirche vorbei, kam zu einer Bronze- Kriegskindheit im Luftschutzbunker verbringen
brauchtwagenhändlern vorbeigegangen, vorbei an trugen (auch das hatte mir mein Telefon verraten) gruppe war mir entgegengekommen, alle Kinder Pietà (von Fritz Koenig), vor der vier brennende musste? Oder mag ich fast alle brutalistischen Be-
einer eingezäunten leeren Wiese, einem allein ste- Namen wie Gute Hoffnung, Gemütlichkeit oder in gelben Warnwesten, und ich war einem nicht Kerzen und ein Strauß rosafarbener Gerbera auf tonbauten so sehr, weil sie ungefähr so alt sind
henden Wohnhaus, dem Abholmarkt Akbaba und Wiesengrund. alt wirkenden Mann begegnet, der sich, Fluppe im dem Steinboden standen, in dem ich die einge- wie ich selbst, ein wenig älter (wie diese Kirche)
einem Großhandel, in dem ich alles für die Cock- Jenseits des Kanals und der Stadtautobahn war Mund und auf einen Rollator gestützt, nur in meißelte Inschrift entdeckte, die da lautete: »Allen oder ein wenig jünger (wie der Goerdelersteg,
tailbar hätte erwerben können, die ich nie eröffnen ich hinabgestiegen in das Kleingartenlabyrinth, ich Zeitlupentempo vorwärtsbewegte. Schließlich hatte Blutzeugen denen das Grab verweigert wurde / über den ich hierhergefunden hatte)?
werde. Ich hatte die Galerie der Haltestellen in der hatte Schmetterlinge in der Kolonie Stichkanal ich durch das offen stehende Tor in der Mauer den Allen Blutzeugen deren Gräber unbekannt sind«. Draußen auf dem Hof, nun wieder geblendet
Lise-Meitner-Straße bewundert, eine Straßenmöbel­ fliegen sehen, Marmortische auf schmalen Ver- großen Hof vor der Kirche betreten – so leer, so Ich verstand, Regina Maria Martyrum war die von der glitzernden Carrara-Kieselwand (herge-
installation, nicht weniger als sechs Schilder an bindungswegen und Kunststoffschilder, die vor weit und schön –, hier stand ich nun auf sanft ab- »Gedächtniskirche der deutschen Katholiken zu stellt mit Weißzement) und der vergoldeten Apo-
sechs Rohrpfosten zeigten die Endhaltestelle der Pudeln warnten. Hinter den Zäunen schien ein fallendem Kopfsteinpflaster, sah Maria Regina Ehren der Blutzeugen für Glaubens- und Gewis- kalyptischen Frau über dem Eingang (ebenfalls
Buslinie M21 an, auf einigen war die Aufschrift Garten mit dem anderen zu konkurrieren, es roch Martyrum und staunte über diesen schwebenden sensfreiheit in den Jahren 1933–1945«. von Fritz Koenig), fiel mir auf, dass diese Kirche,
»Hier nur Ausstieg« zu lesen. Ich hatte einen Bag- nach Wettbewerb und überreifen Äpfeln, die Waschbetonschrein, den scheinbar schwerelosen Während ich die in einem kleinen Schaukasten dieses Betonwunderwerk mit seiner schweben-
ger beobachtet, der sich durch die Gewerbehallen Grundstücke erinnerten an aufgeräumte Wohn- Kasten, dessen Fassade (erdacht vom Würzburger ausgestellten Abschiedsbriefe der in Plötzensee hin- den Klagemauer-Fassade, nicht nur an die Er-
fraß, in denen »Teppichland Berlin« seine Auslege- zimmer, ich hatte Schäferhundskulpturen gesehen Dombaumeister Hans Schädel, mein Telefon half gerichteten Alfred Delp und Nikolaus Groß las, be- mordeten erinnert, an Helmuth James Graf von
ware verkauft hatte, und einem der herumkurven- und Rasenstücke, die wie Teppichböden zurecht- mir wieder) ein wenig an die der Charlottenbur- gannen die Glocken zu läuten, ganz unbeabsichtigt Moltke, Bernhard Lichtenberg und all die ande-
den Fahrschulwagen zugesehen, die in dieser Sack- geschnitten waren. Eine Frau, sie jätete Unkraut ger Deutschen Oper, an manches Parkhaus und war ich pünktlich zum Mittagsgebet der Nonnen ren, die in Plötzensee oder anderswo hingerichtet
gasse Ein- und Ausparkmanöver übten. Ein Ge- am Asternweg, hatte freundlich zurückgegrüßt, in einige bereits abgerissene westdeutsche Kaufhäu- des benachbarten Klosters der Unbeschuhten Kar- worden waren, sondern, ob sie möchte oder
lenkbus war durch die Wendeschleife am Ende der einem Glaskasten hatte ich die Wörter »Unter- ser erinnerte. O du schöner Waschbeton, Ober- melitinnen nach Maria Regina Martyrum gekom- nicht, auch an ein anderes, heute verschwunde-
Straße gefahren (für seinen Fahrer fing alles wieder pächter« und »Vernässungssituation« gelesen (ver- fläche deiner Zeit. men, die Nonnen, sie sangen bald Meine Hoffnung nes Betonmonument – an die nur wenige Hun-
von vorn an), und ich war die großzügige, aus Be- mutlich zum ersten Mal), war auf die Wendung Unter der in vier Meter Höhe schwebenden und meine Freude, saßen zu meiner Enttäuschung dert Meter entfernt von hier 1993 abgerissene
ton gegossene Spirale hinaufgegangen, die auf den »nach dem Jahrhundertregen« gestoßen und hatte Kirche, dort, wo Profanbauten Raum für Park- jedoch nicht barfuß in der Unterkirche, trotzdem Speerplatte, einen nach Albert Speer benannten,
Goerdelersteg, eine Fußgängerbrücke aus Spann- mich über die Ankündigung für das »Bienenfest plätze gelassen hätten, sah ich einen Altar für lauschte ich ihrem nicht wirklich steinerweichen- etwa zehn Hektar großen horizontalen Großbe-
beton, führte, 117 Meter lang und 4,5 Meter breit, am Querweg« gefreut, »Bis bald am Beet«, lautete Freiluft-Gottesdienste, bis zu 10 000 Gläubige den, aber doch anrührenden Gesang und dachte lastungskörper aus Beton mit Bunkerbauten, auf
1974 anstelle eines alten Holzsteges erbaut, wie der Abschiedsgruß unter dem Aushang. sollen in früheren Jahren auf diesem Appellhof über mein Problem mit dem Wort Blutzeuge nach: dem die Logistik für die geplante Superbaustelle
mein Telefon mir verraten hatte, ich hatte eine Ich war dann an einem Sportplatz, einem Ju- des Glaubens Platz gefunden haben, heute war Wenn der Begriff auch eine seit dem 17. Jahrhun- Germania abgewickelt werden sollte. Heute be-
Skulptur bestiegen, ein unter all ihren Graffiti und gendzentrum und verwahrlosten Vorgärten der ich fast allein. Ich fühlte mich wie in einem groß- dert gebräuchliche Eindeutschung des griechischen findet sich dort ein Gewerbegebiet.
Tags (PALO, Polska 65, Sheriff ) tarngrün gestri- ersten Häuser der Paul-Hertz-Siedlung vorbeige- zügigen, sicher ummauerten Kleingarten ohne »Märtyrer« sein mag – durch die ausgiebige Ver-
chenes Sichtbetonjuwel. Ich war dem Schwung der wandert, die nach dem Krieg in die Kleingarten- Pflanzen, dies war nun mein brutalistischer Hor- wendung in der Zeit, an deren Untaten hier eigent- www.zeit.de/audio
hüfthohen Betonbrüstung gefolgt und hatte den landschaft hineingeklotzt worden war. Aus einem tus conclusus ohne Rosenhag, übermannshohe, lich erinnert werden soll (»Blutzeugen der Bewe-
Westhafenkanal unter mir, sein Wasser rau, grau- geöffneten Fenster im vierten Stock hatte ich einen schwarz-graue Waschbetonplatten (Zuschlag: Ba- gung«), ist er doch kontaminiert. David Wagner, geboren 1971, lebt
metallisch bewegt, in Richtung Westhafen lagen Mann brüllen hören »Kommste hoch? Oder biste saltsplitt) schützten mich; die zum Zeitpunkt der Ich stieg hinauf in die Oberkirche und sah in Berlin. 2013 bekam er den Preis
leere Schubkähne in langer Reihe am linken Ufer, zu feige?« – aber er hatte nicht mich, sondern einen Grundsteinlegung 1960 noch nicht ganz ein­ eine südfranzösische Madonna mit Kind aus dem der Leipziger Buchmesse. Zuletzt
neben ihnen zog die Stadtautobahn sich schnur- Mann an der Bushaltestelle gemeint, einen Mann gemauerte Stadt West-Berlin hatte sich hier ein frühen 14. Jahrhundert, das helle Holz der Bänke erschien von ihm »Ein Zimmer im
gerade am Kanal entlang, der Verkehr rauschte, Mitte sechzig mit längerem, fast weißem Haar, sicheres Fort erbaut. und das Altargemälde, das fast die ganze Stirn- Hotel«, Rowohlt 2016

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Ferdinand Hodler, Die Waadtländer Alpen von den Rochers de Naye aus (Ausschnitt), um 1917

WETTERBERICHT
© Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte, Winterthur Foto: SIK-ISEA, Zürich

Über Wetterkultur
© Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH

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29.11.17 13:00
52 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

Der »Boxhandschuh« von Erwin Wurm, 2016 Teeschale aus Korea, gefertigt um 1700

Mit den Augen einer Schönheit


Katholikin trinken
Nichts hat mich im Reformationsjahr so bereichert wie die große Warum ich mich neuerdings für Teeschalen begeistere – ein Besuch im
Kunstschau »Luther und die Avantgarde« in Wittenberg  VON NOR A GOMRINGER Keramikmuseum Berlin  VON MARION POSCHMANN

W T
enige Menschen werden zum Verb. Der Auf dem Weg durchs Ausstellungshaus streckte uns öpfern – damit verbindet man hierzulande terin der Kalligrafie und eine der bedeutendsten Dichte-

Abb.: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017/courtesy of Studio Erwin Wurm/Foto: Daniel Biskup (l.); Heinz-J. Theis; Judith Kinitz, Frank Mädler (u.)
Großreformator und Übersetzer von Maurizio Cattelan den Papst-Ring zum Kusse als wei- Volkshochschulkurse für gelangweilte Haus- rinnen ihrer Zeit, hat ihre Gefäße mit eigenen Gedichten
Gottesgnaden hat es aber geschafft, es tere Faust plakativ entgegen. Mit so viel Wucht traf sie frauen, Reha-Angebote, Beschäftigungsthera- verziert, anmutig und verspielt, voller Leichtigkeit. Viel-
lutherte mächtig in diesem Jahr. Als meinen Geist, dass auch die Neuverteilung des Voka- pie. Damit traktiert man Schüler, wenn ein leicht etwas zu dekorativ, um den spirituellen Ernst zu
Rezitatorin begann mein persönliches bulars auf dem Plakat wie zerstobenes Material wirkte: Erlebnis kreativen Schaffens forciert werden entfalten, auf den es beim Teeweg ankommt.
Lutherjahr mit der Buchvorstellung von Denn wir haben Luther & The Avant Garde. Das klang wie »Luther und soll, das keinerlei Voraussetzungen erfordert, denn Aschen- Die Zen-Ästhetik gibt sich nüchtern und intellektuell,
Deutsch, einer Auseinandersetzung vieler illustrer Autoren die glorreichen Reform Atoren« und schien auf einen becher gelingen eigentlich immer. aber insgeheim partizipiert sie am Shintoismus mit seiner
mit dem furiosen Sendbrief vom Dolmetschen, den Lu- guten alten Film der achtziger Jahre mit Bud Spencer So voreingenommen betrat ich im vergangenen Jahr animistischen Unterströmung und magischen Kraft. Mir
ther 1530 schrieb und der seither als die Fackel der Legi- anzuspielen. einen Museumssaal in Tokio, und ohne dass ich wusste, fällt vor allem eine schwarze Rakuschale ins Auge. Sie ent-
timierung der Übersetzungsleistungen zahlreicher tapfe- Der chinesische Künstler Zhang Peili ließ derweil ver- wie mir geschah, zog mich eine unsichtbare Kraft quer faltet um sich einen dunklen Raum, der den Blick in sich
rer – und seit je unterbezahlter – Übersetzerinnen und schiedene Tranistorradios vor sich hin schnarren, sum- durch den Raum, bis ich mich vor einer Vitrine wieder- hineinnimmt und zur Ruhe bringt. Erstaunlicherweise heißt
Übersetzer in nah und fern kann gelten. Kann gelten … men und singen und ein Mikro im Zufallsrhythmus mal fand, die eine unscheinbare schwarzbraune Schale beher- sie »Ein schöner Tag im Mai«. Wie bringt man diesen Na-
Sie lesen’s schon: Es luthert. das eine, mal das andere Gerät verstärken. Wir vermein- bergte, von Hand geformt, nicht wirklich symmetrisch, men mit dem tiefen, dumpfen Schwarz, der zurückgenom-
Diese Buchvorstellung trug sich in vielerlei Formen ten, aus dem Lärm und dem allgemeinen white noise hier klobig und roh. menen Ausstrahlung, der gedrungenen Form dieser Schale
im Literarischen Colloquium am Wannsee zu, und dort und da etwas Besonderes zu vernehmen. Das Mikro als Von dieser Schale ging etwas aus, für das die westliche zusammen? Tatsächlich, bei längerer Betrachtung vermittelt
wurde ich von einer Planerin des Bundespräsidenten Verstärker, der Verstärker im Modus des Zufallsprinzips Kunsttheorie allenfalls den Begriff Aura zu Verfügung hat. sich eine gewisse Frische, auf der matten Glasur zeigt sich
a. D. Gauck entdeckt und kurzerhand zu einem herbst- – als lutherisch kann wohl der Gedanke des Verstärkens Ich konnte die Schale, als ich den Raum betrat, gar nicht ein frühlingshafter Glanz, und ich nehme an, dürfte ich die
lichen Auftritt als Luther-Vorleserin ins Schloss Bellevue und Genau-Hinhörens gedacht werden. sehen, ich hatte ihre Anwesenheit gespürt, und sie hatte mich Schale in die Hand nehmen, zeigte sich, dass sie nur halb so
eingeladen. Für diesen Abend flog ich aus einem durch Der Reformator als Dekodierer wurde von Xu Bing in dazu gebracht, mich ihr zuzuwenden. Diese Schale, lernte schwer wiegt, wie der Augenschein vermuten lässt.
und durch, aber in denkbar anderer Hinsicht reformier- verblüffender Konsequenz weitergedacht. Die von ihm ich später, besaß eine Persönlichkeit, sie trug einen Namen, Teeschalen sind Objekte, denen man mit Betrachtung
ten Land, nämlich Japan, heran, wo ich damals als Sti- gestaltete Zelle erschien wie ein Übersetzerlabor, das Ottl und ihr Wert ging ins Unermessliche. nicht Genüge tut. Man muss sie mit den Händen umschlie-
pendiatin des Goethe-Instituts am Entenfluss in Kyoto Aicher helle Freude gemacht hätte: Der Künstler über- Solch eine Erfahrung lässt sich gemeinhin nicht wieder- ßen, ihre Glätte und Rauheit erfahren, aus ihnen Tee trinken,
lebte. Luther ist also auch eine Art Gummiband, das uns führte das Alte und das Neue Testament in eine Symbol- holen. Dennoch begann ich, mich mit japanischen Tee- und sie werden umso schöner, je länger man sie benutzt.
Deutsche überall auf der Welt einzuholen und zurück- sprache und öffnet die Heilige Schrift somit der ganzen schalen zu beschäftigen, und empfand es als glückliche Fü- Im Berliner Keramik-Museum hat man daher die Ge-
zuschnalzen versteht, selbst die Katholikin Gomringer. auf Smartphone-Basis agierenden Welt, dem universalen gung, dass in diesem Jahr im Keramik-Museum Berlin eine legenheit, an einer Teezeremonie teilzunehmen, um die
Erfurt, Lutherstadt Wittenberg, Weißenstadt, Bam- Zeichenschatz zugewandt. Chef-Semiotiker Umberto Eco Ausstellung zur Teekeramik stattfindet (bis zum 29. Januar). Teeschale als Gesamtkunstwerk zu erfahren.
berg, Rehau, Nürnberg – in diesem Jahr war überall etwas fehlt, dachte ich da. Dieses kleine Museum, von einem Verein betrieben, ist Thomas Riedinger praktiziert den Teeweg nach den
los und wenn nicht, wurde ich des Öfteren mit Baby Paloma Varga Weisz ließ eine menschengroße Glieder- ein klarer Geheimtipp. Es liegt still und wie aus der Zeit Ueda-Sôko-Regeln. Die streng vorgegebenen Bewegungen
Sommer oder Philipp Scholz, den Schlagzeugern, denen puppe an langen Strippen an der Körpermitte immer gefallen im ältesten Bürgerhaus Charlottenburgs. Für die der Zeremonie sind geradliniger, markanter, weniger ge-
95 Anschläge kein Problem bedeuten, eingeladen, wis- wieder nur wenige Zentimeter nach oben ziehen, was die heiklen Teeschalen, deren Schönheit sich nur langsam er- schwungen und gerundet als bei der Urasenke-Schule, und
senschaftliche und fabulierende, musikalische und heitere bäuchlings liegende, nackte Gestalt unheimlich ohn- schließt, ist dies eine angemessene Umgebung. Die Berliner auch die Teegeräte, die der Meister selbst anfertigt, wirken
Texte des Theologen, Moralisten, Sprachmaschinisten, mächtig zeigte und einen jeden Betrachter seufzen ließ. Tee-Schulen Urasenke und Ueda Sôko, die sich dem Stu­ kantig und bodenständig, entwaffnend unverstellt.
Polterers Martin Luther im Verbund mit Jazz vorzustel- Mich machte der Anblick der von unsichtbarer Macht dium der Zeremonie widmen, haben hier ihre Teegeräte Wichtig, sagt er, sei auch, wie das Teegerät klinge. Die
len. Ich tat dies mit dem Trumpf der Überraschung in und Willkür gesteuerten Person auch wütend. Eine lu- zusammengetragen und die beachtliche Sammlung so an- Berührung der Schale mit dem Bambuslöffel, das kochende
der Hand: Luther funktioniert ausgezeichnet, vor allem therische Regung, die Wut! geordnet, dass sich daran die Geschichte der japanischen Wasser im Kessel, das Gießen, das Schaumigschlagen des
mit kritischen und lobenden Stimmen »garniert«, wie Die Geduld hingegen führte Robolab uns vor. Ein Teeschale anschaulich nachvollziehen lässt. Tees, all das sind Geräusche, in die sich der Gastgeber und
etwa von Thomas Mann oder Heinrich Heine. Schreibroboter schrieb Buchstabe um Buchstabe in Frak- Den Ausgangspunkt bilden prächtige chinesische Scha- seine Gäste versenken können.
Fast will man denken, man könnte den misogynen, tur das Alte und Neue Testament nach. Ich stand neben len für das höfische Zeremoniell, Hasenfellglasur, Ölfleck- Für mich hat der Teemeister eine spezielle Teeschale aus-
antisemitischen, wütenden »Tumult«-Macher ein biss- einer fassungslosen Betrachterin, die immer nur murmelte: glasur, Seladonware. Dann, als Kontrastprogramm, einfache gesucht. Weil mich die dichtende Nonne mit ihrer Mehr-
chen besser verstehen. Doch mir ist es letztlich nicht ge- wie die Mönche, wie die Mönche! Und ich setzte hinzu: koreanische Reisschalen für den Alltagsgebrauch, die von fachbegabung beschäftigt hat, präsentiert er den Matcha-Tee
lungen. Ich bin ganz froh, dass es nun wieder etwas stiller wie wir heute und immerdar, denn wer glaubt, schreibt Teemeistern in einer snobistischen Volte plötzlich zum Non- in einer Schale aus Hiroshima, die das gemeinsame Werk
werden kann um Playmobil-, Quietscheenten-, Plätzchen- dieses Buch ständig neu. plusultra erklärt wurden und fortan die Ästhetik bestimm- eines Mönchs und einer Nonne ist, vage grau-beige glasiert,
förmchen-Luther. Doch bereichert möchte ich mich 66 Positionen zum Thema machten einen hier satt ten: betont schlicht, allem Grellen und Offensichtlichen seltsam farblos, fast schon unsichtbar, mit einem kreisför-
nennen um den Besuch der gewaltigen Schau Luther und und reicher. Zum Glück bleiben von mancher anderen, abhold, von einer subtil vibrierenden, zeitlosen Schönheit. migen Pinselstrich im Innern, der die Vollkommenheit sym-
die Avantgarde im Alten Gefängnis in Wittenberg. von mir schmerzlich vermissten oder gar verpassten Aus- Lehmfarben, aschefarben. Nichtfarben. bolisiert. Es ist eine nüchterne, stille Schale, sie vermag mit
Die Werke von 66 zeitgenössischen Künstlerinnen und stellung gelungene Kataloge! In der Nürnberger Ausstel- Später werden die Schalen wieder prägnanter. Der Oribe- dem Hintergrund zu verschmelzen, sie bringt den Geist
Künstlern, die sich mit Luther, dem Status der Reformation lung Luther, Kolumbus und die Folgen, die ein Panopti- Stil wirkt extravagant, die Schalen sind zur sogenannten dazu, sich im Raum zu verlieren, der Raum zu werden, in
und der Bedeutung des Geistes der Aufklärung und Selbst- kum des Entdecker- und Schöpfergeistes großzügig und Schuhform eingedellt, mit Karomustern oder wilden Gra- dem diese Schale erscheinen kann.
ermündigung, auseinandersetzen, erlebte ich mit körper­ anziehend aufgefächert hatte, stand ich und wurde vor fiken bemalt, schwarz, weiß und grün. Auch als wir uns verabschiedet haben, bleibt die Stille
lichem Ein- und Nachdruck beim Gang durch die alten einem winzigen Exponat lange geküsst: vor dem nicht Meine Begleiter, der Phänomenologe Günter Figal und dieser Teeschale um uns herum. Sie hat den malerischen
Gefängniszellen. Freiheit hinter Gittern lautete der Unter- ganz harmlosen Vitzliputzli, einem hockenden Affen. In seine Frau Antonia Egel, blicken kritisch auf ein zeitgenös- Innenhof durchdrungen, sie hat unsere Bewegungen ver-
titel der Schau. Besonders eindrücklich war für mich der Wittenberg war einem nicht nach Küssen, es war einem sisches Objekt mit hellblauer Glasur: Grüner Tee in einer feinert, selbst in der U-Bahn die Atmosphäre verdichtet, sie
orange Boxhandschuh Erwin Wurms, der in seiner Leucht- nach Kampf. Und damit war’s ein rechtes Luthern. blauen Schale, das geht gar nicht. Und auch das Werk eines wird uns noch eine ganze Weile begleiten.
kraft und Dimension gar nicht erst ins Innere des Gebäudes Gegenwartskünstlers, ein Koloss, überzogen mit einer Art
passte. Die Legende Ali stand Luther in nichts nach, wenn’s Silberborke, sehr glänzend, sehr Metallic-Karosserie, wider-
um das große, den Gegner herausfordernde »Aufsprechen« Nora Gomringer, Jahrgang 1980, lebt spricht den Kriterien bescheidener Zurückhaltung, ist zu Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren,
ging, dachte ich mehrmals auf meinem Rundgang, der mit in Bamberg. 2015 gewann sie den eigenwillig, zu auffällig, zu vordergründig. gewann den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis
einem unfassbar erheiternden Film zu einem Jesus-Casting Bachmann-Preis. Zuletzt erschien ihr Eleganter dagegen die Arbeit einer buddhistischen 2013. Zuletzt erschien ihr Roman
im Vatikan von Christian Jankowski begann. Lyrikband »Moden« bei Voland & Quist Nonne aus dem 19. Jahrhundert. Ôtagaki Rengetsu, Meis- »Die Kieferninseln« 2017 bei Suhrkamp

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4. DEZEMBER 2017 No 50 FEUILLETON 53

Grenzen der
Scham überwinden
– die Schriftstellerin Als säße sie wirklich auf der Brüstung:
Deborah Feldman Wandmalerei von Alessandro Moretto
auf einem Bild von
Benyamin Reich

Hier herrschen
die Frauen!
Zu Besuch in Brescia, im
reizendsten Saal der Welt,
ausgemalt von Alessandro Moretto 
VON ANNA K ATHARINA FRÖHLICH

A
n einem Oktobernachmittag traf ich
vor dem Theater in Brescia meinen
mich immer wieder aufs Neue durch
seine Belesenheit ins Staunen verset-
zenden Freund Salvatore, der auf der
Suche nach einem Menschen war, den er um etwas
Geld angehen konnte. Ich kam ihm wie gerufen.
Voller Freude hakte er mich ein. »Du kennst
Brescia, doch jetzt überrasche ich dich mit etwas,
was seinesgleichen in der Welt nicht hat«, sagte er,
nahm seine Brille, deren Steg nur mit einem
Zwirn zusammengehalten wurde, von der Nase

Die Revolution geht weiter


und rief: »Vieni!«
In der Via Dante Alighieri 17 blieb er vor einer
Fassade aus den sechziger Jahren stehen. Dahinter
liegt der Hof des alten Palazzo Salvadego.
Durch ein schweres Bombardement im Zwei-
ten Weltkrieg stark zerstört, bewahrt der Palast ei-
nen kaum bekannten Schatz: einsam und genial,
unberührt von Kriegen, Krisen und Katastrophen,
In den Bildern des Fotografen Benyamin Reich steckt für mich eine Wahrheit, die vieles aufsprengt  VON DEBOR AH FELDMAN liegt da der kleine Saal mit den Fresken des Re-
naissance-Malers Alessandro Moretto.

F
Salvatore führte mich in den ersten Stock und
klingelte an der Tür des Circolo del Teatro, eines
rühjahr 2017, eine Vernissage in leuchtet die Art und Weise aus, wie gesellschaftliche »ich studiere Kunstgeschichte am Sarah Lawrence! der Oberschicht vorbehalten ist. Er wurde igno- Clubs, in dem die Veteranen des brescianischen
Fotos: Benyamin Reich; Archivio FMR (r.); Mathias Bothor, privat (u.)

einer Berliner Galerie: Inmitten Spaltung unseren unbewussten Blick auf die Welt Du bist so berühmt an unserer Schule, wie cool, riert oder als exotisches Objekt behandelt, stets Adels zu Kartenspiel, kleinen Diners oder zu ei-
sich drängender Besucher bemühe beeinflusst, und zwar selbst dann noch, wenn wir hier auf dich zu treffen. Du bist für uns alle eine von oben herab und stets unterschätzt. Seine Ar- nem Kaffee zusammenkommen, den sie im Mo-
ich mich, einen freien Blick auf diese Grenzen bewusst aufgelöst haben. Sollte er echte Inspirationsquelle.« beit wurde häufig zurückgewiesen, weil sie retto-Saal in Gesellschaft acht junger Damen
eine Serie von Fotografien weibli- überhaupt Frauen fotografiert haben, dann Ver- Sie spielte auf den Erfolg meines ersten Buches Schmerz zum Ausdruck brachte, was in diesen trinken, die in bodenlangen Samtkleidern alla
cher Berühmtheiten zu erlangen, wandte und nahe Freundinnen, deren Rollen als an, das mich in Amerika besonders als Studentin Kreisen als zweitklassig angesehen wird. Schmerz spagnola, mit hochgesteckten Haaren, Perlen-
deren Posen mit ihren überdeut­ Mutter, Schwester, Kindermädchen er unmittelbar des Sarah Lawrence College bekannt machte, wo mag dem Objekt eigen sein, das der Künstler be- schmuck und kleinen Hunden im Schoß auf ei-
lichen sexuellen Anspielungen verzerrt wirken; hatte begreifen können. ich mir heimlich meine erste Ausbildung aneig- obachtet, nicht aber dem Künstler selbst. ner die Wände entlanglaufenden Steinbrüstung
mein Blick schweift von ihnen ab, trifft auf Foto- Ich erinnerte mich an die Verwirrung in den nete, um mich auf ein Leben in der Außenwelt Benyamin und ich haben also eine weitere Ge- sitzen. »Herrliche Frauen sind von Tizian, Rubens
grafien, die mir inhaltlich und formal vertraut Augen meines eigenen Ehemanns, als er sich zum vorzubereiten. meinsamkeit: die Erfahrung, eine Maske tragen zu und Lukas Cranach gemalt worden«, schreibt Ro-
sind: ein bärtiger Chasside auf Skiern; jüdische ersten Mal mit dem weiblichen Körper konfrontiert Wir unterhielten uns kurz, ich war höflich, müssen, und zwar sowohl innerhalb als auch außer- bert Walser. Herrliche Frauen hat auch der im
Männer, die am Tage ihr rituelles Bad der Rei- sah – mit meinem –, der ihm genauso fremd war wünschte ihr alles Gute und wollte es dabei halb der Welt, aus der wir stammen – das doppelte Jahr 1490 geborene Maler Moretto an einem,
nigung, die sogenannte Mikwe, in einem natür- wie ich als Person. Und auch ich habe Dinge in- belassen. Kurz darauf jedoch war ich von Erin- Doppelleben. Erst verbargen wir aus lauter Angst nun seit 472 Jahren andauernden, leicht dunsti-
lichen Gewässer vollziehen; symbolische Gegen- ternalisiert: Scham, den Zwang, mich zu bedecken, nerungen übermannt. Ich hatte lange nicht und Schuldgefühl unser wahres Selbst, dann wurde gen, noch warmen Spätsommernachmittag auf
stände des Sukkoth, des Laubhüttenfests, eines ja, sogar die Existenz des Körpers zu verneinen und mehr an das Sarah Lawrence gedacht, nicht uns von der Außenwelt auf subtile, manipulative die von persischen Teppichen geschmückte Brüs-
Äquivalents zum christlichen Erntedankfest. Ich mit ihm seine Bedürfnisse und Reflexe. Mit Benya- mehr daran, wie schmerzhaft die mit dieser Weise Konformität abverlangt, die nun wiederum tung gesetzt, seinen ganzen Fleiß an Muster und
bin zu Gast auf der Doppelausstellung der israe- min zu arbeiten war eine gute Möglichkeit, den Zeit verbundenen Erfahrungen waren. Die mehr mit Klassenbewusstsein als mit religiöser Faltenwurf der Kleider jener Damen verwendend,
lischen Fotografen Sharon Back und Benyamin Versuch zu wagen, diese Grenzen niederzureißen. Töchter der Reichen und Mächtigen waren ge- Autorität zu tun hatte. Wir lernten, eine weitere hinter deren Rücken sich die weite lombardische
Reich, Letzterer ein guter Freund, der, wie ich, Ich bin auf dem Bild nicht zu erkennen, da es nau jene Studentinnen, die mich bestenfalls Maske zu tragen, eine, die verbergen sollte, woher Landschaft auftut, aus der die Domänen und
aus einer ultraorthodoxen chassidischen Ge- ausschließlich meinen nackten Rücken zeigt und ignoriert, meist mit herablassender Distanz be- wir stammten und wie unsere Erfahrung von Landvillen der Martinengos und Gonzagas ragen.
meinde stammt und diese verlassen hat. es weder Titel noch Bildlegende gibt. Es wirkt im handelt und schlimmstenfalls darüber in Schmerz und Erniedrigung und den mit ihnen ver- Eine von Morettos Modellen ist Eleonora Gonza-
Heute ist uns die Leidenschaft gemeinsam, Vergleich zu den aufpolierten, mit Photoshop be- Kenntnis gesetzt hatten, dass ich keinerlei Be- bundenen sozialen Stigmata aussah. Unsere Re- ga, die am 4. Februar 1543 den Grafen Gerolamo
mithilfe der Kunst Grenzen abzutasten und arbeiteten, künstlich beleuchteten Körpern auf den rührungspunkte mit der akademischen Kultur volution, die ursprünglich in dem subversiven Akt Martinengo heiratete.
möglicherweise zu überschreiten – sicherlich als anderen Bildern eher primitiv. Es ist die Fotografie besaß und ihr nicht angehörte. des Aufbrechens aus vorgegebenen Rollen bestand, »Che meraviglia!«, rief mein Freund aus, des-
Reaktion auf eine Zeit, in der unser beider Le- einer Frau, die auf einem felsigen Strand sitzt und Ich hatte damals begriffen, dass Kunstge- verlangt nunmehr von uns, auch die zweite Maske sen Fantasie beim Anblick der geschmückten
ben von unsichtbaren, aber unüberwindbaren den Aufgang des Mondes betrachtet, der untere Teil schichte zu studieren ein Privileg war, denn abzulegen. Nur indem wir auf unsere je eigene­ Frauen in Bewegung kam. Infolge von gewagten
Barrieren eingegrenzt waren: absolute Ge- ihres Körpers ist in ein weißes Leinentuch gehüllt, man musste schon aus reichem Hause stam- Weise, durch Bilder oder Bücher, unsere Wahrheit Gedankenverbindungen geriet er schnell und vol-
schlechtertrennung, keine weltliche Ausbildung, was an das Laken erinnert, das ich tragen musste, men, um eine so brotlose Ausbildung über- fassbar machen, erfahren wir lichte Momente wert- ler Witz auf eine brillante Erkenntnis. »Hier ha-
arrangierte Ehe, ein Alltag, dessen omnipräsente während ich durch die Korridore des Mikwe-Bades haupt in Betracht zu ziehen, zumal in den USA. voller Selbstbejahung: Sogar in der Welt des Main- ben wir die perfekte Darstellung einer Gynokratie
religiöse Rituale wohl einer Art Übersprunglogik in New York begleitet wurde – eine lebende Leiche Ich hatte das Schreiben aus eher praktischen streams wirkt Wahrheit revolutionär. Kunst zu er- vor Augen! Frauen, von der Leidenschaft ihres
angesichts der vielen kollektiven Traumata der auf dem Weg zur Waschung. Da menstruierende Gründen gewählt; ich war eine junge alleiner- schaffen, die als deren Agentin fungiert, wird zu Namens, ihres Reichtums und ihrer Macht beses-
Vergangenheit entspringen. Als wir vor Jahren Frauen als unrein betrachtet werden, musste ich ziehende Mutter in einem Land ohne soziales einem revolutionären Akt, lebensentscheidend, um sen! Jede von ihnen ist mit Stolz auf ihren Land-
unsere frühere Welt verließen, begann für jeden mich diesem Reinigungsritual fügen, verborgen im Sicherheitsnetz und musste auf eine Karriere die Zersetzung des Selbst abzuwenden. sitz, auf ihr Kleid und ihren Schoßhund erfüllt!
von uns ein Ringen mit Gefühlen absoluter Dunklen, unzugänglich den Augen der Männer, setzen, in der ich gut war und die ich von zu Benyamin wurde kürzlich gefragt, ob er für Wo sonst auf der Welt gibt es noch einen Raum,
Wurzellosigkeit und Ausgrenzung. doch unter dem prüfenden Blick einer Gemeinde- Hause aus verfolgen konnte. Texte zu verfassen, einen hebräischen Kalender einer ultraorthodo- in dem nur Frauen vorherrschen! Und was für
Benyamin hatte mich gedrängt, zu dieser beauftragten. so dachte ich mir, ist eine Fertigkeit, nach der xen Gemeinde einige Fotografien zur Verfü- Frauen! Wie streng sie blicken, wie unerbittlich!
Vernissage zu kommen, hatte von einer Überra- Die junge Frau auf dem Bild nun aber sitzt auf- auch der Markt verlangt. gung stellen zu wollen; halbherzig schickte er Sitzen da, als hätten sie nicht ihre Güter, sondern
schung gesprochen, die ich nun auch erblickte: recht da, sie ist wachsam, sie beginnt, ihre eigene Die religiöse Gemeinschaft, aus der ich stamm- eine Serie von zwölf religiösen Bildern. Aber für Weltreiche im Rücken! Welcher Mann gerät hier
eine Fotografie, auf der ich mich selbst wieder- Kraft zu begreifen, wartet darauf, dass die Nacht te, verbot jegliche Auseinandersetzung mit Kunst, den Monat Elul (den Monat der Sühne) legte er nicht ins Träumen! Was für herrliche, an Megalo-
erkannte und die auf einen Augenblick künstle- vergeht, um dann bei Sonnenaufgang und damit da in ihr die Anbetung von Götzen gesehen wird. ein Bild vor, auf dem ich, in den Tallith gehüllt, manie leidende Dominas! Provinzschönheiten,
rischer Zusammenarbeit zurückgeht, als wir im zum ersten Mal bei Tageslicht in die Wasser des Ich lernte zu verstehen, dass Studentinnen der im Wasser schwebe. Bei diesem Bild kann man die es den Konkurrentinnen aus Venedig oder
letzten Sommer eine Serie von Bildern zum­ Meeres einzutauchen, so wie es die Männer tun, Kunstgeschichte am Sarah Lawrence College einen nicht sofort ausmachen, dass unter dem Ge- Florenz an Eleganz und Pomp gleichtun wollen!
Ritual der Familienreinheit entwickelten. »Ich schamlos angesichts Gottes. merkwürdigen Code besaßen, eine ganze Liste be- betsschal eine Frau verborgen ist, es würde auch Im Grunde aber: Landfrauen!«
brauchte Bilder von Frauen«, hatte er mir nun Wir wollten eine Serie über das rituelle Ein- sonderer Begriffe. Wollte man mit ihnen eine niemandem in den Sinn kommen, dies anzu- Er wandte sich zur Tür. »Neue Katastrophen
zugeflüstert, »als ich sah, was die andere Künst- tauchen der Frauen erschaffen und zugleich deren Unterhaltung über Kunst führen, ohne diese Be- nehmen. Es wohnt diesem subversiven Akt ein stehen ins Haus! Mögen diese schönen Frauen
lerin zeigen sollte, war mir plötzlich bewusst, vorgeschriebene Bedingungen ändern: Am Ende griffe zu verwenden, sahen sie einen an, als wäre deutlicher Moment an Befriedigung inne. Der noch viele Hundert Jahre der menschlichen Zer-
wie viele meiner Bilder auf den männlichen der Serie sieht man eine Frau, die tagsüber ins man geistig zurückgeblieben. Ich verstand, dass ich Kalender ist gedruckt. Das Bild wird seinen störungswut trotzen!«
Körper konzentriert sind. Und so wählte ich Wasser eintaucht und dabei in den Tallith, den nichts über Kunst lernen konnte, ohne dieses coole Weg in unzählige religiöse Heime finden. Die Der Freund verneigte sich und verließ den­
dieses hier aus, ich hoffe, es stört dich nicht.« männlichen Gebetsschal, gehüllt ist, der den weib- Vokabular zu beherrschen, wem es fehlte, dem Re­vo­lu­tion geht weiter. reizendsten Saal der Welt.
Dass Benyamin meist Männer fotografiert, ist lichen Körper wegen dessen stets drohender Un- blieb der Zugang zu dieser Sphäre verschlossen.
sehr gut nachvollziehbar, bedenkt man seinen kul- reinheit niemals berühren darf. Benyamin hatte eine recht ähnliche Über- Die 1986 in New York geborene Anna Katharina Fröhlich, 1971 in Bad
turellen Hintergrund, und dass er auch heute noch Eine Stimme unterbrach mich mitten in meinen gangsphase erlebt wie ich – auch er hatte eine ar- Autorin debütierte 2012 mit ihrem Hersfeld geboren, ist Schriftstellerin
einen Lebensstil zelebriert, der auf das Männliche Gedanken. »Deborah! Hi!«, tauchte eine Frau An- rangierte Ehe verlassen, auch er hatte eine Elite- autobiografischen Roman und Übersetzerin. Zuletzt erschienen
fokussiert ist, über die pure Identifikation als­ fang zwanzig an meiner Seite auf. »Oh nein, du einrichtung besucht, die École des Beaux Arts, in »Unorthodox«. Im Mai erschien von ihr die Romane »Kream Korner«
Homosexueller aber hinausreicht. Seine Arbeit kennst mich nicht, aber ich kenne dich!«, sagte sie, die aufgenommen zu werden meist Mitgliedern »Überbitten« im Secession Verlag (2010) und »Der schöne Gast« (2014)
54 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

Fotos: Ciglana Klub (3); Thomas Langdon, Dagmar Morath, Sabrina Richmann (v. o.)
Wildes Leben in wüsten Hallen – die Belgrader Künstler Viktor Kiss und Lela Radulovic zwischen zusammengeschweißtem Stier und ausgebranntem Porsche

Zurück in die Neunziger


Mit dem Taxi durch Belgrad, hinaus an den Stadtrand, wo die Schrottkunst so schön blüht  VON THOMAS MELLE UND TERESA PR Ä AUER

A
n der Kreuzung musste man sich dert, der seine Fahrgäste, diesmal uns, erpresst, ein Riesenschornstein als Logo: zurück in den des Materials überall, Stahl, Staub, Sand und über Leitern hochklettern, um einen Blick zu
entscheiden: entweder, wie üb- stumm droht, ihnen nicht mehr in die Augen blickt. Neunzigern, staubiges Tacheles, diesmal als Ge- Draht, und der so freundliche Gastgeber, der erhaschen. Wir starrten ins Düstere, wo das
lich, ins vorbeifahrende graue Dunkles Taxi? Argumente! Aber Drago, Lieber, wir lände, in die Fläche gekippt. Die Zeit erstreckt bemerkte, er arbeite auch für The Prodigy. Das Licht sich in der Weite verlor. Die Landschaft
Belgrader Taxi zu steigen, das haben serbische Freunde in Wien und Berlin, was sich im Raum, man muss sie nur aufsuchen. Und passte. Hier kam das also her, das war die Mole- schien hier, indoor, kein Ende zu haben.
man soeben herangewinkt hatte sollen wir denen erzählen? Dass wir betrogen wur- die Spannung, zu Hause wegsaniert, war hier kularstruktur des punkigen Kommerzes. Die Da kam sie, eine gigantische Stahlspinne,
– oder sich anwerben zu lassen den?! Denk an deine Mutter, Drago, sie wird stolz noch elektrisch spürbar: diese Spannung zwischen Band kaufte das Zeug billig ein und stellte es auf von weit hinten aus ihrem Versteck im Schatten
von zwei ziemlich üblen Kerlen sein, wenn du uns jetzt einen fairen Preis nennst! Anspruch und Mangel, zwischen Wille und Werk. lichtpumpenden Bühnen aus. Hier war es hervor und blieb stehen. Sie schaute uns an, wir
am Straßenrand, auftrainiert, kurz geschoren, in Schockstarre, Friedensverhandlungen, das kann Kunst war hier Handwerk, grobes Material, insze- Schweiß, dort Pop. Steam­punk lautete die Über- schauten zurück. Stahl sieht dich an, sagten wir
Bomberjacken, ausgerüstet mit zwei dunklen Kar- doch nicht sein, dass wir diesem Abziehbild eines nierte Archaik. schrift. Und mitten in der Fabrikhalle stand der ratlos. Rost bröckelte aus den Gelenken der
ren, deren Taxilichter blinkten wie die Leuchtreklame debilen Taxibetrügers aufsitzen. Nein, Drago war Da war die gelötete Fledermaus, sie hing drei- überlebensgroße Stier aus geschweißtem Stahl- Spinne, sie drohte, setzte an zum Sprung, die
eines Asia-Shops. Wir sind dem bunten Licht ge- nicht lieb zu uns, aber wir waren auch nicht lieb zu metergroß vom Zaun, dort der Stahlbulle, hier war blech und reckte uns seine Hörner entgegen.­ Maulscheren öffneten sich knirschend. Cut!,
folgt, natürlich, instinktiv hinein ins Verderben, Drago. 500 hingeblättert, er fuhr los, als wir endlich ein weiterer Porsche verbrannt worden und funkelte Petar, der Gastgeber, öffnete den Bauch des Stie- rief da Petar, und das Licht wechselte sofort.
und der glücklose Fahrer des üblichen Belgrader raus waren, und musste nun seinem Boss, hej, šefe, als verkokeltes Memento in der Dunkelheit: diese res: Fleisch braten wir darin, sagte er, das Fett, The Prodigy kamen hinter den Scheinwerfern
Taxis warf den beiden Kerlen in Bomberjacken erklären, wieso er den beiden Schwabos nicht die Bilder. Petars Widerständigkeit im Gespräch, sein das sich dabei löst, tropft dann kochend heiß aus hervor, Liam Howlett, Keith Flint, Maxim Rea-
noch einen zornigen Blick zu, schüttelte ein paarmal
den Kopf und fuhr weiter. Wollte er uns w ­ arnen?
Geldbörse ausgeräumt hatte. Schon war er im wil-
den Straßenverkehr verschwunden.
kerliges Machertum, my ­
+ wife supports me, what
about yours?, sein Selbstentwurf als Künstler gegen
dem Geschlecht, und vorne, ja, da spuckt er
Feuer. Und dort, schaut, steht ein Baum, auch er
lity. Sie grüßten höflich und wischten uns dann
den Staub vom Gesicht.
Durch das Stadtzentrum, vorbei an Soldaten- Wir bestellten zwei Bier. Petar, der uns ein­ge­ alle Widrigkeiten der Stadtpolitik, der Finanzierbar- aus Metall, aber nicht fertig, und er wird auch
buben, die mit ihren scharfen Knarren an den laden hatte, bestellte drei Schnaps. Wir prosteten keit. Dazwischengelötet unsere Neugier, aber auch niemals fertig werden, der Typ kommt nicht
schmalen Lenden patrouillieren, dort, wo die Häu- ein­an­der zu, leerten die Gläser in einem Zug, öff- unsere Arroganz, unsere fehlende Menschlichkeit, mehr wieder. Teresa Präauer, geboren 1979, ist
ser noch immer Kriegsschutt sind, wo es kein Geld neten die Augen wieder und waren zurück in unse- oder was war das: unser Kunsttun, unser Konzept Wir schwankten leicht, Petar rief einen Ge- Autorin und bildende Künstlerin.
gibt oder keinen Willen, die Wunde zu schließen, ren Zwanzigern. The Prodigy spielten Smack My davon? Wieso sind uns Kollektive suspekt, wieso hilfen herbei, der mit dem Scheinwerfer in die Ihr letzter Roman, »Oh Schimmi«,
weiter bis ans unwirtliche Donau­ufer im Nord­osten Bitch Up. Wir blickten uns um. Petar hatte den kommen wir nicht zusammen? Wieso ist der Blick nächste Halle leuchtete. Die Spannung, noch ist 2016 bei Wallstein erschienen
der Stadt. Drago fragte nach dem Grund unseres Porsche eines prominenten Vorbesitzers auf dem so müde, die Individualität so verriegelt, und sehen immer, gewürgte Objekte, geklebte Plakate –
Aufenthalts, wollte wissen, wer wir sind. Wir ant- aufgelassenen Gelände abgefackelt bis auf sein diese geschweißten Blumen und Schwänze und und dann dieser Raum, der sich öffnete, kurz
worteten ausweichend, denn Drago war uns unan- dunkles Gerippe. Ist das noch Schrott, oder ist das Gürtel wirklich alle so scheiße aus? lichtdurchflutet: Opulenz der Leere. Eine riesi- Thomas Melle, geboren 1975,
genehm. Er gehörte zu jenem weltweiten Typ von schon Kunst? Oder ist das Dragos Auto? Petar führte uns durch die Fabrikhalle namens ge, wirklich riesige Sandfläche vor uns. Normaler- bekam für »Die Welt im Rücken«
Taxifahrer, der, mit einem Knopfdruck die Autotüren Am Ende standen wir auf der sich weit erstre- Gallery. Dort wurde eine Ausstellung mit Blumen weise stünden dort Objekte, bei Ausstellungen, (2016) den Klopstock-Preis für
von innen verriegelnd, den zehnfachen Preis for- ckenden Brache der alten Ziegelei, Klub, Gallery, aufgebaut. Blumen also! Gleichzeitig die Faktizität und die Besucher würden an einzelnen Stellen neue Literatur verliehen

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Mit einem Schirmchen


Präsentiert von

im Drink
Was will Darren Aronofsky mit seinem Mysteryfilm »Mother!«
eigentlich erreichen? Eine kleine Fantasie  VON PASCAL RICHMANN

Das Einmaleins
A
m 5. September hatte meine Schwester schützen sie sich verpflichtet habe, mit voller Ab-
gerade ihren Selfiestick über eine Balus- sicht in die sprichwörtliche Hölle schicke, eine his-
trade der Rialtobrücke in Venedig ge- torische oder mythologische Figur, das wisse er noch

für Ihre Finanzen


schoben, als unter uns Darren Aronof- nicht genau. Von biblischem Zorn getrieben, rich-
sky und Jennifer Lawrence in einer Gondel auf- tete sich meine Schwester auf und rief, Aronofsky
tauchten. »Hey, Darren«, rief ich, und da schaute sei mit seinem Noah ebenso gescheitert wie Dür-
:
Jetzt ansehen der Regisseur, den ich vor Jahren während einer renmatt am Welttheater, ohnehin führe der Schritt
Wie Sie einfach mehr von Ihrem Dürrenmatt-Konferenz im schönen Honolulu von der Straße ins Kino ja nicht mehr in den Traum,
Gratis-Lektion kennengelernt hatte und mit dem ich seitdem man finde vielleicht Kühle im Sommer und Wärme
Geld haben. Der Video-Ratgeber »Sparen im freundschaftlich verbunden war, zu uns hoch, im Winter, aber eigenständige Erzählungen oder
der ZEIT Akademie Alltag« winkte und bat den Gondoliere anzuhalten. Wir
rissen ein paar Witze über das Wort Normalnull
neue Narrative, schrie sie, finde in dieser Ursuppe
aus Angst und Hilflosigkeit niemand.
und jene zu Tode geknuddelten Babydelfine, die Und jetzt, da in der Sala Grande ein Zuschauer
Wie kann ich im Alltag bares Geld sparen, ohne dabei auf etwas verzichten auf ebendieser Normalität gestrandet waren, über nach dem anderen zu buhen anfing und meine
zu müssen? Welche Versicherungen brauche ich wirklich? Hätten Sie Vico Torriani, Toast Hawaii und das deutsche Schwester mir ins Ohr flüsterte, sie halte Mother! für
gedacht, dass Geld sparen so leicht sein kann und gleichzeitig auch noch Kino der fünfziger Jahre, bevor Darren meinte, er misogynen Unsinn, während auf der Leinwand
Spaß macht? Im neuen Video-Ratgeber »Das Einmaleins für Finanzen – habe seinen blau-weiß geringelten Schal im Hotel Jennys Baby aufgegessen wurde, verstand ich, dass
Wie Sie einfach mehr von Ihrem Geld haben« beantwortet Ihnen Finanz- vergessen und müsse also zurück, gehe aber davon Darren sein eigener Noah geworden war, dass jeder
experte Hermann-Josef Tenhagen alle Ihre Fragen rund um die wichtigsten aus, uns später zu sehen, bei seiner Premiere. einzelne Dialog, den wir in den letzten Stunden er-
Finanz-Themen. Mit unterhaltsamen Szenen aus dem Alltag sowie Meine Schwester rollte mit den Augen. Auf tragen hatten, und jede Szene, die so wirkte, als
grafischen Darstellungen werden schwierige Zusammenhänge verständlich ihre Frage, weshalb sie mich nach Venedig be- wolle mein Freund, der Regisseur, ein kinky Pendant
erklärt und handfeste Tipps und Tricks zum Geldsparen, Anlegen und gleiten solle, hatte ich ausweichend geantwortet, zu Robbie Williams’ Feel verfilmen, dass also der
Vorsorgen gegeben. | 6 Lektionen ∙ Spieldauer: 147 min schließlich mochte sie Darren nicht mehr so, seit ganze Quatsch notwendig gewesen war, damit sich
Als DVD-Seminar: 39 € wir zusammen Noah gesehen hatten. Mother! als Kannibalismus gegen das Kino selbst
Bestell-Nr. 7325 Damals lebte ich in Bukarest, das heißt, abends wenden konnte. Darren wollte, dass seine Welt
Als Online-Seminar: 29 € kehrte ich in ein Apartment zurück, in dem tagsüber unterging und mit ihr Hulk und Shrek und die Trans-
Bestell-Nr. 7324 Filme im Stil Helmut Bittrichs produziert wurden, formers, die Remakes, die Romcoms, die Prequels
aber es war billig und lag nicht weit vom botanischen und Sequels, alles, woraus sie heute noch bestand.
Garten entfernt, in dem ich meine Tage verbrachte. Mit einem Schirmchen im Drink verließen wir
An einem verregneten Wochenende besichtigten bald die Premierenparty. Am Canal Grande setzten
meine Schwester und ich den AFI Palace Cotroceni, sich Darren und Jenny auf einen Steg, zogen ihre
eine anpackend nach Chlor duftende Shoppingmall, Socken aus und ließen die Beine baumeln. Ob er
deren Kino Darrens letzte Arbeit in 3-D zeigte. Si- wirklich vorhabe, das Kino zu zerstören, fragte ich
cher sei Noah mit evangelikalem Geld gedreht zum Abschied, und da saugte Darren den letzten
worden, wandte meine Schwester ein, doch wegen Schluck seines Mai Tais im Strohhalm hoch und
Requiem for a Dream wollten wir mal nicht so sein. sagte: »Nicht ich habe mein Reich verraten, Pascal,
Hermann-Josef Tenhagen Später lagen wir unter den Wasserfällen des Rom hat sich selbst verraten.«
Chefredakteur Finanztip
Palastes und lachten über Hannibals Auftritt als
Methusalem und sein Handauflegen bei Hermine, Pascal Richmann, geboren 1987
Jetzt bestellen: www.zeitakademie.de 040/32 80-11 90  service@zeitakademie.de dann erzählte ich, was Darren mir zwischen zwei in Dortmund, schreibt Theater­
DVD-Seminar zzgl. 4,95 € Versandkosten innerhalb Deutschlands (Versandkosten für Auslandsbestellungen auf Anfrage). Anbieter: ZEIT Akademie GmbH, Buceriusstraße, Hamburg
Vorträgen am Kahala Beach anvertraut hatte. Er texte, Essays und Erzählungen.
wolle, habe er gesagt, eine Figur erschaffen, die wie Bei Hanser erschien 2017
Romulus der Große handle, eine, die das, was zu »Über Deutschland, über alles«

104241_ANZ_10424100012475_16886772_X4_ONP26 1 28.11.17 12:38


4. DEZEMBER 2017 No 50 FEUILLETON 55

Und Kopfstand! »Weißer Elefant« von Hans Scheib

Einen Elefanten zur


Mücke machen
Die Werke des Bildhauers Hans Scheib rühren mich manchmal zu Tränen. Ein Besuch in seinem Atelier  VON K ATJA LANGE- MÜLLER

E
r heißt Hans Scheib und ist Bild- kinderkleinen Figuren, vor allem Frauen, die aber, Freund, dem Schnitzer Geppetto, und unter dessen formiert durch einen Schlag mit einem Zauberstab, filigran-elefantösen Bronzemücke, das kann nur

Fotos: Jan Sobottka (o.); Frédéric Batier/X Filme; Jörg Gläscher (u.); Ute Döring (r.)
hauer. Wenn ich, wie Scheib in obgleich sie deutlich erkennbar aus Holz sind, aus Händen wurde daraus der berühmte Pinocchio. in dem einen Moment, der trotzdem kein kurzer Hans Scheib. Seine Tiere verkörpern ihre Gattung
Berlin aufgewachsen, das Wort rohem, stellenweise bemaltem Kiefernholz, gar Eine der Figuren, die sich derzeit im Atelier Augenblick ist, so wenig wie das Holzkind erstarrt; und provozieren doch, nahezu unvermeidlich, die
Bildhauer denke, sage, schreibe, nicht hölzern wirken, sondern lebendig, mindes- befinden, heißt Mephisto. Mephisto präsentiert denn obwohl es sich ja nicht bewegen kann, den, Empathie derjenigen, die den realen Modellen,
verspüre ich jedes Mal einen inne- tens so lebendig, wie es ihre physische Substanz, der sich, irritierenderweise, als verführerisch-melan- der es anschaut, bewegt es doch! den »Originalen«, besser fern-, also fremd geblie-
ren Widerstand, denn die Assozia- Baum, einst war. cholisch lächelnder Pierrot, schwer zu sagen und Im Keller des Ateliers lagern die Bronzen, da- ben wären. »Die Maske des Tieres für das Tieri-
tion, dass ein solcher Berserker Diese Frauen mit wohlgeformten Gliedmaßen unwichtig, ob ein männlicher oder ein weiblicher. runter viele verschiedene animals mit ganz viel sche«, schrieb der Kunsthistoriker und Scheib-
Bilder hauen, also schlagen würde, irritiert mich, und Brüsten, gotisch langgestreckten Händen und Er (oder sie) sitzt, komplett schwarz-weiß-rot be- Anima, majestätisch komische und komisch majes- Kenner Michael Freitag, »fällt mit der Vermensch-
obwohl sie so falsch nicht ist. Skulpturen und bei Füßen, schön gerundeten Schädeln und Augen­ malt, also »angezogen«, auf einem Hocker und tätische Kreaturen, für die ich Scheibs Werk am lichung des Tieres«.
Scheib, dessen Figuren ja oft farbig sind, tatsächlich paaren zeigen sich – buchstäblich; sie posieren un- hält ein üppiges Rosenbukett vor dem leicht nach meisten liebe. Er ist ein Tiereversteher, einer, gegen Dass der 2014 mit dem Egmont-Schaefer-Preis
auch Bilder, angehaltene, dennoch dynamische Bil- verschämt sexy und selbstbewusst oder selbstver- vorn gebeugten Leib. Hat diese Kreatur den Strauß den jeder Pferdeflüsterer, Zoodirektor, Hundetrai- geehrte Bildhauer Hans Scheib auch ein sehr guter
der von menschlichen Daseinsmomenten, werden gessen. Sie springen, balancieren, tanzen ekstatisch, soeben empfangen, oder will sie ihn verschenken? ner und Vogelzüchter alt, aber ahnungslos aussieht. Zeichner, Grafiker und Radierer ist, versteht sich
aus einem Material herausgehauen oder -geschlagen. eine in Badeanzug und halterlosen Strümpfen, eine Das zu deuten ist Sache des Betrachters und davon Ich mag nicht erklären, warum mich Scheibs fast von selbst. Ich wage zu behaupten, dass, seit
Bildhauer klingt irgendwie altmodisch, doch damit weitere nackt. Sie haben Musik in den verspunde- abhängig, ob jener (oder jene) eher eitel ist oder so Stiere, Vögel, Katzen, Affen, Elefanten und auch Horst Janssen den Griffel weglegen musste, hier-
hat Hans Scheib, der für seine großen Skulpturen ten, zusammengeleimten Holzknochen und Charme demütig, wie es der Blick des androgynen Teufels- seine nichts als Bewunderung heischenden, kraft- zulande keiner so souverän mit Stift und kalter
gern zur Kettensäge greift, kein Problem. Nur und Grazie; es ist die plebejische Grazie von pierrots nicht ganz glaubwürdig demonstriert. voll-eleganten Pferde so rühren, die kleinen Ele- Nadel umgeht wie Scheib; allein dazu will ich eines
Künstler mag er sich nicht mehr nennen lassen, ver- Zirkus­leuten, Discoqueens, Animierdamen. Im Fließenden, im Übergang des gestisch und fanten gar zu Tränen; einer, ein weißer dressierter Tages einen Text verfassen, der noch länger und
mutlich weil dieser Begriff allzu viele Was-auch- Trotzdem fehlt ihnen das, was man früher­ mimisch sich mitteilenden einen Zustands in den und nur darin seinen »Kollegen« gleichender, steht hymnischer geraten sollte als dieser. – Besuchen Sie
immer-Gestalter schmückt oder tarnt, Konzeptio- »verrucht« nannte. Doch vollkommen unschuldig nächsten, liegen das Geheimnis und der Reiz des kopfüber auf den Vorderbeinchen und eben nicht Hans Scheib doch auch einmal in Berlin-Spandau
nalisten und Installateure, die Räume bestuhlen oder gar naiv muten sie auch wieder nicht an, sie Mephisto und anderer Skulpturen, wie dieser auf den Hinterbeinen wie Rembrandt Bugattis – oder seine nächste große Ausstellung, den Skulp-
(Vorsicht, Gemütlichkeit!), gerahmte Löcher prä- sind sich womöglich bloß keiner Schuld bewusst. hübsch bekränzten, feuerroten, die Das schreckliche Dancing Elephant, der den Kühler eines schier un- turensommer, der am 6. Mai 2018 in der Bastion
sentieren (Achtung, Durchblick!) oder Parkareale Warum sollten sie?! Der Mann, der sie gemacht hat, Kind heißt. Bis eben, meinst du, war das Kind, ein bezahlbaren Luxusautomobils zierte, den des Typs und im Stadtmuseum Pirna eröffnet wird.
rosa einsprayen, um »eine Diskussion über unser feiert sie, und sie feiern das Leben. Kommen sie mir Mädchen, außer sich vor Zorn, und jetzt ist es ein 41 »Royale«, von dem Rembrandts Bruder Ettore
gestörtes Naturverständnis auszulösen«. deshalb so beseelt, ja rebellisch vor wie jenes Holz- wenig erschöpft; du siehst es, auch wenn es, die gerade mal sieben bauen ließ. Katja Lange-Müller, geboren 1951,
Als ich vor ein paar Tagen mal wieder Scheibs scheit im Carlo Collodis Geschichte, das, als der Hände nach außen gekehrt, still und stramm da- Unten im Keller begegnete ich Scheibs Plastik ist eine vielfach ausgezeichnete
Spandauer Atelier betrat, empfingen mich, neben rotnasige Tischler Antonio es bearbeiten will, zu steht, noch immer beben. Verraucht sein Wutanfall Weißer Elefant wieder und dachte: Aus einer Mü- Schriftstellerin. Zuletzt erschien
dem Bildhauer, die »üblichen Verdächtigen«, eine zappeln und zu sprechen beginnt? »Meister Kirsch«, gerade, oder holt es nur Luft für den nächsten? Es cke den sprichwörtlichen Elefanten machen, das ihr Roman »Drehtür« bei
bunt gemischte Gruppe von hoch aufragenden und ehrfürchtig erschrocken, gab das Scheit seinem scheint, als sei Das schreckliche Kind gebannt, trans- kann jeder, aber einen Elefanten zur Mücke, einer Kiepenheuer & Witsch

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Hitler, nur ein Name


unter vielen
Wie uns die Serie »Babylon Berlin« zu den Quellen
unserer Angst führt  VON NOR A BOSSONG

I
ch führe dich jetzt zurück zu der Quelle­ dern die eigentlich Hauptfigur ist. Es ist ein Jahr,
deiner Angst.« Eine Hand, die den Blick ver- in dem Freiheit und Verzweiflung auf demselben
deckt, dann ein Schlag gegen die Stirn, das ist Zettel notiert werden und in dem sich reaktionä-
der Anfang von Babylon Berlin, jener Serien- re, revolutionäre, faschistische Gruppierungen ZUVERSICHT
sensation des Regietrios Tykwer, Handloegten ihre je eigene Zukunft ausmalen. Hitler ist nur ZUM VERSCHENKEN
und von Borries, recht frei nach einer Romanvor- ein Name unter vielen, sein Name fällt in der
lage von Volker Kutscher geschaffen. Eine Hand, Serie ein einziges Mal. Das, was nur dreieinhalb
ein Schlag gegen die Stirn, und schon ist man ein- Jahre später beginnen wird, ist noch nicht der
getaucht in die Hypnose Berlins im Jahr 1929, deutlich düstere Schatten, der über allem liegt, so
zwischen Trauma und Taumel, gern wir das heute auch glau-
zwischen Straßenkampf und ben wollen. Es gibt an düste-
Ekstase. ren Schatten genug.
Alles, so scheint es, hat min- Wäre es die reine Nachbil-
destens einen doppelten Bo- dung dieser Zeit, es würde
den, und jede der Figuren kann keine so starken Funken schla-
kippen, wenn sie nicht längst gen, doch die Bildwelt schöpft
gefallen ist und sich zurück- sich aus dem künstlerisch An-
hangelt in einen fragilen Stand. verwandelten, spielt mit der
So wie die beiden Protagonis- Ästhetik der damaligen Filme
ten, der vom Weltkrieg trauma- und Geschichten, und es ver-
tisierte Sonderermittler Gereon schleift sie mit der Gegenwart.
Rath aus Köln und die junge Bei den großen Tanzszenen
Aushilfskraft Charlotte Ritter, fragt man sich, ob das Moka
die sich, das ärmliche Neuköll- Efti nicht doch das Berghain
ner Familiendesaster fliehend, ist, die eine Zeit sich zumin-
durchschlägt zwischen Polizei- dest partiell in der anderen
präsidium und Prostitution. Immer im Einsatz: Charlotte fortschreibt.
Rath ist auf der Suche nach Ritter (Liv Lisa Fries) Und ja, die Serie führt uns
ominösen Sextapes, die Kölns zurück zu der Quelle unserer
höchste politische Kreise dis- Angst, zum Trauma der ge-
kreditieren könnten. Auch den Kölner Oberbür- scheiterten Weimarer Demokratie, aber auch zur
germeister sollen die Aufnahmen zeigen, sein Quelle einer Sehnsucht. Diese Zerrissenheit tan-
Name: Konrad Adenauer. Es geht um einen russi- zen zu lassen ist die große Kunst von Babylon
schen Zug, um die Machenschaften hinter dem Berlin, die, sieht man sie auf der Leinwand, ei-
Varieté-Bordell Moka Efti, doch das sind eher die gentlich ein monumentaler, zwölf Stunden lan-
Randgeschichten, so spannungsreich sie auch ger Film ist und natürlich, wie jede der wenigen
sind. In Wahrheit geht es um nicht weniger als das wirklich großen Serien, weit mehr als eine Serie.
Gemälde der deutschen Zwischenkriegszeit, flir-
rend, wild, kaputt. Von der 1982 in Bremen geborenen
Das schillernde Berlin der späten Golden Autorin erschien zuletzt »Rotlicht«
Twenties mit all seiner Schönheit, seinem Elend, im Carl Hanser Verlag. Sie erzählt
ist eine gewaltige Kulisse, die gerade deshalb zum darin von ihren Nachforschungen
Leben erwacht, weil sie nicht bloß Kulisse, son- zum Geschäft mit der Liebe
56 JAHRESRÜCKBLICK 2017 FEUILLETON 4. DEZEMBER 2017 No 50

D Krieg und
ie heißeste Zeit des Sommers so den Schein alter Verlassenheit dieser Re- obwohl in den an das östliche Mittelmeer
habe ich in Rom zugebracht; gion von Rom erzeugte. Die Oleanderblüten grenzenden Ländern zähe und grausige Kriege
ich kann die Hitze genießen in Weiß und Rosa mit ihrem ledrigen Laub, ausgefochten werden, war dies ein Konzert,
als einen Zustand des Außer- obwohl noch unverwelkt, hatten etwas von bei dem alle Kriege in eine Erinnerung an weit
ordentlichen – die kochende einer uralten vergessenen Dekoration, von Entferntes gerückt schienen. Vor allem der
Luft erzeugt die Erwartung, es werde etwas lange dahingegangenen Gärtnern hierherge- Erste Weltkrieg, in Frankreich und Italien

Frieden sanken
geschehen, wie bei einem hohen Fieber ist das setzt, um dem Eindruck sommerlicher Aus- auch als der »Große Krieg« bekannt, für Italien
Der-Hitze-Standhalten eine den Tag vollends getrocknetheit zu trotzen, einem künstlichen mit bedeutenden Gebietsgewinnen in Südtirol
und befriedigend ausfüllende Beschäftigung. Veilchenbukett am Kostüm einer Greisin und Istrien verbunden, würde hier in schwung-
Abends, wenn die Sonne gerade erst gesunken gleichend. Das war der Rahmen meines som- vollen Gesängen gefeiert werden. Der römi-
war und es noch lange hell blieb, ging ich merlichen Musikerlebnisses; es gibt Bilder, sche Abend, der rosafarbene Himmel goss
schneckenlangsam in die Villa Celimontana, bei denen der Rahmen wichtiger als die Ma- über das Konzert ein Licht aus, das keine Regie

sich seufzend in
einen Park, der, wie der Name verrät, auf dem lerei ist, aber ganz ohne Malerei fehlte ihnen hätte arrangieren können. Krieg und Frieden
Caelius hinter dem Kolosseum liegt, und dennoch etwas. sanken sich seufzend in die Arme.
wenn sich um den Riesenbau auch die Touris- Die zuverlässig in abendlicher Stille ver- Das Konzert begann mit der Nationalhymne,
ten drängten, war ich, sowie die Via Claudia harrende Villa Celimontana war eines Abends zu der sich allgemein erhoben wurde; die älteren
erreicht war, bald allein. Leicht ging es den überraschend bevölkert. Herren in blüten- Männer mit erinnerungsgesättigtem Ernst –
Hügel hinauf, ich verlangsamte noch einmal weißen Uniformen wandelten auf dem Kies, diese Hymne mit dem Text des 1848 in den
meinen Schritt, an monumentalen Ziegel- der Anblick dieses Weiß in seiner blendenden Kämpfen um die römische Republik des Duce-

die Arme
mauern mit hohen Nischen vorbei, den Res- Fleckenlosigkeit hatte eine geradezu abküh- Vorläufers Mazzini getöteten Dichters Mameli
ten eines Nymphäums, das zum legendären lende Wirkung; Verschwitztheit war in sei- kommt mir immer ein wenig wie die Parodie auf
Palast des Nero gehört hatte. Dann begannen nem Zusammenhang ein unvorstellbarer Zu- das Nationalhymnenwesen generell vor; die
die Bögen eines Aquädukts, dann kam die stand. Der Palast hatte einen u-förmigen großen Hymnen waren alle schon geschrieben,
Kirche Santa Maria alla Navicella, vor der ein Grundriss, seine Seitenflügel ließen einen als das neue italienische Reich zusammenfand,
kleines antikes Schlachtschiff aus weißem kleinen Hof entstehen, der jetzt von einem und so glaubte man wohl, den Hymnengestus
Marmor in einem Brunnen steht – am Bug in Podium ausgefüllt war, darauf Stühle mit nachahmen zu sollen.
einen Elefantenkopf mit Rüssel, Löwenmähne Notenständern, davor Stuhlreihen, noch spär- Es folgte, was bei einem italienischen Mili-
und Keilerhauern auslaufend. Und daneben
Ich bekenne, ich bin der Blasmusik verfallen: Über das Konzert einer lich besetzt. tärkonzert Pflichtprogramm ist: Verdi, dessen
öffnete sich das Parktor, in ein stilles verlasse- Militärkapelle im hochsommerlichen Rom  VON MARTIN MOSEBACH Ein Konzert wurde vorbereitet, aus dem Namen, wie jeder weiß, ein Akronym von
nes Reich führend, mit turmhohen Pinien, Palast war das wirre Dudeln zu vernehmen, Vittorio Emmanuele Re d’Italia ist, das tönen-
schwarz-silbrigen Steineichen, die ein höhlen- das einem Konzert vorausgeht, wenn jeder de Nationaldenkmal schlechthin. Ein Pot-
haftes Dunkel erzeugten, und alten Palmen, Musiker sich noch einmal allein gewisse Passa- pourri aus Troubadour und Nabucco, in den
tragisch zerzausten und vertrockneten Zeu- gen vornimmt und sich von dem, was die an- getragenen Passagen von einem Pfeifenquiet-
gen eines vergangenen Gartenluxus. dern spielen, nicht stören lässt. Durch das schen wie aus einem Blasebalg begleitet. Wir
Der Palast inmitten dieses Parks ist kein ar- Parktor, zwischen antiken Säulen mit nicht zu hatten noch mehrfach Anlass, uns zu erheben
chitektonisches Meisterwerk, er solle, so er- ihnen gehörenden korinthischen Kapitellen – der Hymnus des Bataillons San Marco, der
fuhr ich, aus dem sechzehnten Jahrhundert strömte jetzt auch Publikum, schön gemachte Hymnus der Luftwaffe und die »Ritirata«, die
stammen, konnte aber auch viel jünger später Frauen mit Kindern, würdige ältere Ehepaare. Rückzugs- und Heimkehr-Musik wollten
sein, in seinem zeitlosen Klassizismus und im Die Reihen füllten sich. Ein Militärkonzert. Es gleichfalls stehend angehört werden.
Zustand sanfter Vernachlässigung, die auch würde die Banda der italienischen Marine Schließlich trat ein schöner Athlet, dessen
das Unvollkommene adelt. Der Park lag in ei- spielen, deshalb das Uniform-Weiß. Eine Mi- knapper Uniformrock von der Muskulatur
ner Region, die, unmittelbar vor der Stadt- litärkapelle macht Blasmusik. gedehnt wurde, zum Dirigenten. Sein schwar-
mauer, einst ein Gräberfeld gewesen war; ei- Ich bekenne, dem Reiz der Blasmusik ver- zes Haar, an den Seiten kurz geschoren, war in
nige marmorne Grabsteine, als Altäre für das fallen zu sein. Das Ineinander von schneiden- der Mitte zu einem Hahnenkamm aufgerich-
Trankopfer für die Toten gestaltet, waren an den Trompeten, wehmütig weichen Hörnern, tet. Er hielt den Kopf gesenkt, in sich gekehrt,
den vom hart getrockneten Steineichenlaub gnadenlosen Posaunen, gurrenden Oboen, der erwartungsvollen Menge schenkte er kei-
bestreuten Wegen aufgestellt. Nachdem ich keckernden Klarinetten und vor allem dem nen Blick, er war mit sich und seinen großen
diese Steine nach und nach bei meinen Spa- beinahe tonlosen Rummsen der Tuba erfüllt Gedanken allein. Als er zu singen begann, mit
ziergängen entdeckt hatte, gewöhnte ich mich für mich ein musikalisches Ideal. Der Zusam- geblähter Brust und mit zorniger Miene, ver-
daran, sie jeden Abend einen nach dem ande- menklang all dieser Instrumente – ein paar stummte das Vogelgezwitscher des Sonnen­
ren aufzusuchen: Die Reliefs mit den anato- spitzige Flöten nicht zu vergessen – ist mir untergangs. Der Hahn stieß seinen Triumph-
Fotos: Marco Varro/Shutterstock (Aussschnitt); Manfred Müller/ÖGFL (u.)

misch präzise charakterisierten Stierschädeln, wichtiger als das Stück, das da zu Gehör ge- schrei aus, das Naturtalent äußerte sich ohne
deren Hörner mit Girlanden und flatternden bracht wird. Ein Blasorchester hat etwas von Technik, aber mit hinreißender Kraft.
Bändern umflochten waren, fesselten mich einer großen Musikmaschine, einem schep- Und Kraft war es auch, wovon er sang: Forza,
hier mehr als die in den vielen archäologischen pernden Orchestrion. corraggio, onore – Kraft, Mut und Ehre war der
Museen der Stadt. Im achtzehnten Jahrhundert sprach man Refrain eines Liedes mit vielen Strophen, jedes
Es gab hier eine monolithische Marmor­ von »Harmonie«-Musik, wenn Opernpartitu- Mal sieghafter ausgestoßen, immer mit reinem
badewanne aus den Thermen, eine einsam im ren für Blasorchester umgeschrieben wurden, Schmelz, und in der rosenfarbenen Luft und in
Gebüsch verborgene große steinerne Vase, deren und bei solchen »Harmonien« – etwa Die Ent- der nicht nachlassenden Hitze lag in diesem
Rand mit einem feinen Efeu-Relief umwunden führung aus dem Serail für Blasorchester – Gesang trotz seines kriegerischen Inhalts zu-
war, am Wegesrand Tempelgebälke mit Würfel- schmilzt mein Herz in Wehmut dahin, als gleich auch etwas wunderbar Erschöpftes –
motiv und Eierstab als Sitzbänke. Ein paar dürfe ich für Minuten eine untergegangene Forza, corraggio, onore wurden zu luxe, calme et
Jogger zogen ihre Bahn, Philippiner führten eine Süße des Lebens auskosten. volupté, und als der Tenor nach seinem Gesang
Koppel teurer Hunde für deren Besitzer aus. Militärorchester hatten einst eine ernste zur Seite trat, nahm er den Applaus kaum zur
Die Villa Celimontana hatte einst im »Dis- Aufgabe: Sie spielten nicht bei Platzkonzerten, Kenntnis, wie nach der Liebe zerstreut und
abitato« gelegen, in den weiten Gebieten in- sondern in den Schlachten des Siebenjährigen benommen.
nerhalb der Aurelianischen Stadtmauern, die Krieges und vieler anderer Kriege, um den
nach der Antike verlassen worden und zu Gar- vorwärtsstürmenden Soldaten Mut zu ma-
tenland, Weinbergen und freiem Feld gewor- chen, die Kanonen übernahmen in dieser Mu- Martin Mosebach, 1951 geboren,
den waren. Von einem Aussichtspunkt ober- Und der Sommer döst: Szene aus der sik ein schauriges Ostinato. Wurden auch bei wurde 2007 mit dem
halb eines Neptunbrunnens blickte man immer Villa Celimontana, einer Parkanlage in Rom Seeschlachten anfeuernde Melodien gespielt? Büchner-Preis ausgezeichnet.
noch über ein geschlossenes Meer von Baum- Im Publikum saßen die Frauen, die Eltern, Zuletzt erschien der Roman
wipfeln, das Straßen und Häuser verbarg und die Kinder der uniformierten Musiker; und »Mogador« bei Rowohlt

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4. D ezem b e r 2017 D I E Z E I T No 5 0

ZEIT ZUM ENTDECKEN

Wie deutsch
ist das denn?
Zwölf Korrespondenten aus elf Ländern über Deutschland im Jahr 2017
Foto: Jan Burwick für DIE ZEIT

Seite 57–65
58 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

Sie erklären der ganzen Welt, was bei uns in Deutschland passiert und ­damit auch:
Was mit den Deutschen gerade los ist. Wir haben die ­Korrespondenten
der großen ­internationalen Zeitungen ­gebeten, die ­Blickrichtung einmal zu ändern.
Was ­haben sie den Deutschen zu sagen? Wie fällt ihre Bilanz für 2017 aus?
Diese Ausgabe von Z ist eine freundliche Übernahme durch zwölf Kollegen aus elf Ländern

Mit zwei ZEIT-Redakteuren


am Konferenztisch in einem
Altberliner Restaurant:
Nicolas Barotte (Frankreich),
Yaotzin Botello (Mexiko),
Kate Connolly (Großbritannien),
Can Dündar (Türkei),
Catherine Hickley ­(Großbritannien),
Nasser Jubara (Palästina),
Anna-Liina Kauhanen (Finnland),
Jeanna Krömer (Weißrussland),
Tonia Mastrobuoni (Italien),
Georgios Pappas (Griechenland),
Wojciech Szymański (Polen),
Yuzuru Takano (Japan),
hier in alphabetischer Reihenfolge

Besonders fleißig Spart euch nicht Doch, Deutschland ist


seid ihr nicht zu Tode ein Einwanderungsland!
Seit einem knappen Jahr arbeite ich Die beiden Beobachtungen zeigen: Sparen ist schön, finden die Deutschen. Wenn sie an schuldenfinanzierte Zweimal den gleichen Fehler zu ma­ men waren. Denn Deutschland wollte
jetzt als Chefkorrespondent im Berliner Die Deutschen haben ein sehr eigenwil­ Wenn man spart, hat mir meine deut­ Staatsausgaben denken, denken sie chen ist kein Zeichen von Weisheit, noch immer kein Einwanderungsland
Büro der Tageszeitung Asahi Shimbun. liges Verständnis von Arbeit. Ihr Deut­ sche Mutter immer gesagt, kann man nämlich nicht an Roosevelt und an den pflegten die alten Griechen zu sagen. sein. Zwar nahm es in den neunziger
Es gibt zwei Dinge, die mich als Japaner schen haltet euch für besonders fleißig. sich ordentliche Dinge kaufen, die ein New Deal, der Amerika nach dem ver­ Bundeskanzlerin Merkel schien das be­ Jahren Millionen von Bürgerkriegs­
in Deutschland bestürzen: Ich habe allerdings den Eindruck, dass es Leben lang halten. Als ich acht Jahre alt heerenden Börsencrash von 1929 rette­ herzigt zu haben, als sie im Oktober flüchtlingen und Spätaussiedlern auf,
Da sind zum einen die Servicekräfte in Deutschland eine unsichtbare rote Li­ war, stand ich heulend vor ihr, nachdem te. Daran denkt so ziemlich der Rest 2015, auf dem Höhepunkt der soge­ die trotz anfänglicher Schwierigkeiten
in Restaurants. Neulich etwa: Auf dem nie gibt, dass man ja nicht zu viel arbeitet, ich mir bei einem Fußballspiel das Knie der Welt. Die Deutschen denken, wie nannten Flüchtlingskrise, sagte: »Wir Teil der deutschen Gesellschaft wurden
Tisch, an dem ich sitzen wollte, stand sodass man sein Leben genießen kann. aufgeschlagen hatte. Sie hat mir eine ge­ mir der brillante Ökonom Peter Bofin­ haben aus der Zeit der Gastarbeiter An­ – als Ärzte oder Bau­arbeiter, als Lehrer,
noch benutztes Geschirr. Als ich den An Werktagen sehe ich die Leute scheuert. Das Knie heilt, die Hose nicht, ger einmal erklärt hat, an Adolf Hitler, fang der sechziger Jahre gelernt.« Da­ Restaurantbesitzer, Kellner oder Bank­
Kellner höflich fragte, ob er es abräu­ schon am frühen Abend in Kneipen hat sie geschrien. Meine Oma war eine an die Aufrüstung und die Autobah­ mals, als viele Südeuropäer aus Italien, kaufleute. Aber das Credo blieb das
men könne, fuhr er mich an: »Sehen sitzen oder joggen. Als Japaner kann Trümmerfrau, meine Mutter war nach nen. Aber ist das im Jahr 2017 noch der Türkei und eben auch dem bitter­ alte: »Deutschland ist kein Einwande­
Sie nicht, dass ich gerade anderes zu man richtig neidisch darauf werden. Bei dem Krieg aufgewachsen. Sparen war vernünftig? armen Griechenland nach Deutschland rungsland.«
tun habe?« Wäre so etwas in Japan pas­ uns gibt es sogar das Phänomen »Tod für sie der Weg aus der Armut. Das reiche Deutschland investiert kamen, um am Wirtschaftswunder Im Jahr 2015 dann staunten die eu­
siert, hätte der Restaurantchef den durch Überarbeitung«. Die Deutschen Ein Knie heilt, eine Hose nicht. Da­ weniger in die öffentliche Infrastruktur mitzuarbeiten, war die Bundesrepublik ropäischen Nachbarstaaten, wie vor­
Kellner ordentlich ausgeschimpft, ihn nehmen im Sommer gleich mehrere ran muss ich immer denken, wenn als jedes andere Euro-Land. Die Straßen weit davon entfernt, ein Einwande­ bildlich Deutschland den Ansturm der
womöglich sogar entlassen. Denn die Wochen Urlaub. In meinen 25 Jahren deutsche Politiker die »schwarze Null« und Brücken verkommen, weil das Wirt­ rungsland zu sein. Flüchtlinge meisterte. In Griechenland,
Antwort hat dort zu sein: als Korrespondent habe ich anhimmeln, das perfekte schaftswunderland kein Geld Mein Vater kam 1963 Frankreich oder Italien kam­
»Einen Moment bitte. Ich bislang noch keinen Urlaub Gleichgewicht zwischen Aus­ in die Hand nehmen will. am Münchner Hauptbahn­ pierten die Menschen in den
mache das sofort.« Selbst gemacht, der länger als eine gaben und Einnahmen. Das »Funkloch Deutsch­ hof an. 15 Monate später Straßen. In Deutschland gab
auf der Speisekarte des japa­ Woche gedauert hat. Für die Deutschen gibt land« bekommt nicht das folgte meine Mutter. An es sofort Sprachförderung.
nischen McDonald’s steht Was ich bei alledem ge­ es nichts Schlimmeres als Breitbandnetz, das seiner Re­ Gleis 11 wurden ihnen über Das Wort Integration fiel
»Smile Zero Yen«. Der Ver­ mein finde: Zwar liegt Japan Schulden. Sie sind die treu­ putation als Hightech-Para­ Lautsprecher Anweisungen relativ früh. Dann kippte die
käufer darf das Lächeln nicht mit seinem Bruttoinlands­ esten Anhänger von Adam dies würdig wäre. Auch pri­ auf Griechisch erteilt. An­ Stimmung. Aus Angst vor
vergessen, die Kunden haben produkt weltweit auf Rang Smiths Lehre, dass »jeder vat geben die Deutschen viel schließend hat man sie­ den Ewiggestrigen laviert die
für ihn gottgleich zu sein. drei und Deutschland nur Verschwender ein Feind der zu wenig Geld aus. registriert und den entspre­ Politik wieder mit Proviso­
Meine zweite Erschütte­ auf Rang vier. Rechnet man Allgemeinheit« sei. Deshalb Natürlich importieren sie chenden Arbeitgebern zuge­ rien und vorübergehenden
rung war es, als Journalist zu sehen, dass den Gesamtwert aller Waren und Dienst­ haben sie volles Verständnis, wenn man auch wenig, weil Geldausgeben ist ja wiesen. Meine Eltern fanden das alles so Aufenthaltsrechten. Aber so wird das
alles, was nach 21 Uhr passiert, in den leistungen allerdings auf jeden Einzelnen ihnen sagt: Wir haben kein Geld für Quatsch. Darunter leiden alle Volks­ befremdlich wie ihren neuen Titel: nichts, wie die Geschichte der Gast­
gedruckten Ausgaben der Zeitungen herunter, zieht Deutschland an Japan Straßen und andere Infrastruktur. Des­ wirtschaften, die von deutschen Pro­ Gastarbeiter. Kein Grieche käme auf die arbeiter zeigt. Ich verstehe nicht, warum
vom nächsten Tag nicht vorzukommen vorbei. Offenbar arbeiten die Deutschen halb haben sie sich nicht einmal darüber dukten überschwemmt werden, aber Idee, seine Gäste arbeiten zu lassen. es den Deutschen so schwerfällt, zu sa­
scheint, selbst wenn Bundeskanzlerin effizienter und stellen mehr wertschöp­ aufgeregt, dass in Deutschland die Löhne selbst in Deutschland nur wenig abset­ Nach fünf Jahren kehrten sie nach gen: Wir sind ein Einwanderungsland,
Merkel bei einem wichtigen Gipfel war. fende Produkte her. über Jahre stagnierten, obwohl sonst alles zen können. »Acht Prozent Exportüber­ Griechenland zurück, mit Sprachkennt­ wir können das. Euch fehlt nur der Mut
Denn dann sind die Druckmaschinen Während der Griechenland-Krise teurer wurde: Gaben sie halt weniger aus. schuss sind zu viel«, das sagt kein wild nissen, die höchstens für den Einkauf für die entsprechenden Gesetze!
längst angelaufen. Die Redaktion hat wurde oft die Fabel von der Ameise und Denn sparen können sie ja, die Deut­ gewordener Marxist, das sagt Christine im Supermarkt ausreichten. Die meis­
Feierabend. der Grille bemüht. Die Grille tanzt und schen. Nur, ist das wirklich sinnvoll? Lagarde, die Direktorin des IWF. »Die ten ehemaligen Gastarbeiter aber blie­ Georgios Pappas, 56, ist seit 1983
Der Redaktionsschluss japanischer singt den Sommer über, die Ameise sam­ Die Deutschen haben Angst vor Hälfte würde reichen.« Überzeugt die ben und spürten noch in der dritten Deutschland-Korrespondent der
Zeitungen ist gegen ein Uhr morgens, melt Futter. Im Winter hat die Ameise zu dem Geldausgeben, weil sie denken, das Deutschen nicht? Generation, dass sie hier nicht willkom­ griechischen Tageszeitung »Ta Nea«
und bis dahin hat ein Korrespondent essen, die Grille steht mit leeren Händen Geld wäre dann für immer verloren. Mein italienischer Vater, der nie ge­
im Einsatz zu sein. Als bei der Bundes­ da. Für Nordeuropa und das verschul­ Aber Wirtschaft ist ein Kreislauf, und spart hat, gibt manchmal zu, er hätte es
tagswahl 2017 die erste Hochrech­ dete Südeuropa schien das ein guter Ver­ investieren heißt wachsen und Arbeits­ vielleicht tun sollen. Er hat tonnenweise
Fotos: Madlen Krippendorf für DIE ZEIT

nung um 18 Uhr einlief, war es ein gleich. Aber für Japan und Deutschland? plätze und Wohlstand schaffen. Das Geld verschwendet, von dem er uns
Uhr morgens­japanischer Zeit. Trotz­ Wir Japaner legen mehr Wert auf wusste schon ein Genie der Londoner vielleicht eine Wohnung hätte kaufen
dem brachten fast alle Morgenausga­ Kundenservice und arbeiten länger. Da­ Bloomsbury Group, ein Dandy und können, wie viele italienische Eltern das
ben die Nachricht auf der Titelseite: für verdienen wir weniger. Ist das nicht Freund von Virginia Woolf namens für ihre Kinder tun. Unser Vater wird
»Merkels Regierungspartei gewinnt«. ungerecht? John Maynard Keynes. uns nichts hinterlassen, aber er hat uns
Nur wenige Stunden später wurde Obwohl er schon nach dem Ersten beigebracht: Wenn ihr Geld ausgeben
schon wieder die Abendausgabe fertig Yuzuru Takano, 51, ist seit 2016 Weltkrieg prophezeit hatte, dass die wollt, müsst ihr es selbst verdienen.
gemacht, sodass­mancher Journalist im Deutschland-Korrespondent der japanischen enorme Schuldenlast, die die Sieger­ Und das, bitte schön, ist doch sehr ver­
Büro schlafen musste. Tageszeitung »Asahi Shimbun« mächte den Deutschen im Frieden von nünftig. Eine Wohnung habe ich mir
Versailles aufbürdeten, zu einem neuen inzwischen selbst gekauft.
Krieg führen würde, ist er den Deut­
schen suspekt. Seine Grundidee, dass Tonia Mastrobuoni, 46, ist
der Staat manchmal Schulden machen Korrespondentin der italienischen
muss, um die Nachfrage zu steigern, Tageszeitung»La Repubblica«.
macht ihnen Angst. Sie lebt seit 2014 in Deutschland
4. DEZEMBER 2017 No 50 ENTDECKEN 59

Warum arbeiten die Deutschen so wenig? Entsorgen: ­


Dieses Wort zu
übersetzen war
meine größte

Sparsamkeit
sprachliche ­
Herausforderung
in diesem Jahr.
Menschen ­
entsorgen, so wie

Was hat die deutsche


Gauland das ­
sagte, das kann
man im
Griechischen
nicht
GEORGIOS

mit ­Hitlers Autobahnen zu tun?


PAPPAS,
GRIECHENLAND

Warum erziehen die Deutschen


ihre K
­ inder nicht?

Eure Regelwut ist Ihr seid gar nicht Ihr vertreibt die
grandios verkrampft! falschen Araber
Ihr Deutschen werdet von aller Welt Regel und schützt das ungeschriebene Eine russische Reporterin hat sich kürz­ altern. Ihre Fältchen, Bäuchlein und Ganz ehrlich, es ist mir egal, ob Herr Aber eigentlich wollen wir das nicht.
wegen eurer Regelwut belächelt. Auch Gesetz den Stärkeren, entsteht Unge­ lich über die unrasierten Achseln und Büsche kommen mir vor wie eine Gauland mein Nachbar sein möchte Wir wollen uns hier weiter zu Hause
ich mag Regeln eigentlich nicht beson­ rechtigkeit. Wer sich an die Regeln hält, schlaffen Brüste beschwert, die sie in Demonstration­von Freiheit und oder nicht. Denn wir haben in Berlin- fühlen, in diesem im Grunde doch so
ders. Gesellschaften, die in starren Re­ wer geduldig und selbstlos ist, wird als Berliner Schwimmbädern zu sehen be­ Lebensfreude.­ ­ Charlottenburg wunderbare Nach­ toleranten Land.
geln gefangen sind, finde ich langweilig. Trottel behandelt. Er bleibt allein. Bald komme. »Warum soll ich mir das in der Ich erlebe das selbst bei meinem Rü­ barn. Wenn etwa der junge Mann mit Unsere Töchter betrachten sich nicht
Ich halte sie für freiwillige Träger einer wird er sich fragen: Bin ich hier der ein­ Dusche anschauen?«, schrieb sie auf cken-Reha-Kurs, der zufällig in einer dem sächsischen Akzent aus dem vier­ als Palästinenserinnen, sie sprechen auch
autoritären Tra­di­tion. zige Trottel?, und sich zu jenen gesellen, Facebook. FKK-Therme in Spandau stattfindet. ten Stock mir und meiner Tochter außerhalb der Schule miteinander nur
»Hielt«, sollte ich sagen, denn ich die Regeln missachten. Eine slawische Frau, die sich nicht Auch wenn ich mich erst daran gewöh­ frühmorgens lächelnd einen schönen deutsch. Sie wurden noch nie wegen ih­
merke, dass ich ausgerechnet in Deutsch­ Als die Gültigkeit meines Führer­ schminkt, die ihre Beine nicht epiliert nen musste, dass anderen Kunden dort Tag wünscht, dann lächelt für mich rer arabischen Herkunft beschimpft.
land für Regeln dankbar zu sein begann, scheins hier ablief, warnten mich deut­ oder keine Absätze trägt, wird von ih­ das Tragen von Badebekleidung nicht Deutschland, dieses wunderbare Land, Und ich habe eine Vermutung, woran
nachdem ich in der Türkei erlebt hatte, sche Freunde: »Fahr auf keinen Fall ren Landsleuten oft als faul betrachtet. gestattet ist und die Duschen auch in dem ich seit 30 Jahren lebe. Hier das liegt: Das neue Misstrauen richtet
was Regellosigkeit bedeutet. Ein Beispiel ohne Führerschein, da kann dich nicht Man missbilligt das. Ich verstehe auch, nicht besonders abgetrennt sind, möchte habe ich studiert, geliebt und gearbei­ sich nur gegen Männer, oder wie man
aus dem Straßenverkehr: mal der Bundespräsident raushauen!« dass die russische Kollegin so geschockt ich diesen Ort nicht mehr missen. Ja, tet. Hier habe ich vor sieben Jahren gerne pauschalisierend sagt, den arabi­
Die Türkei ist ein Paradies für Auto­ Und ich begriff, dass »Stärke« hier ist. In Moskau kommt es fast einer Sünde ich verkrieche mich in die hinterste Ecke, eine Familie gegründet. schen Mann.
fahrer. Sie beherrschen die Straße. Sie nicht genügt,­um die Regeln zu än­ gleich, alt, krank oder dick zu sein. In um mich umzukleiden, und ziehe sogar Doch wenn ich meine älteste Tochter Die neue Generation von Arabern,
dürfen sogar auf Fußwegen parken. dern. Wenn für den Fall, dass Regel Discos, Restaurants oder Bädern sieht Schwimmleggins an, damit meine di­ zur Schule gebracht habe, allein in der die in den vergangenen zwei Jahren nach
Fußgänger müssen dagegen, und Stärke im Konflikt zu­ man fast ausschließlich jun­ cken Beine niemanden stö­ U-Bahn sitze und ins Büro Deutschland gekommen ist,
wenn sie nicht unter die ein­an­der stehen, die Regel ge Menschen – nicht nur, ren. Aber ich bin glücklich, fahre, merke ich, wie sich die verunsichert die Leute. Ich
Räder kommen wollen, viel­ imstande ist, den Arm des weil die älteren sich das oft dass die Menschen um mich Blicke auf mich richten: Was kann das verstehen. Ich är­
stufige Fahrbahnüberführun­ Stärkeren zu beugen, dann nicht leisten können. Sie herum solche Komplexe ist das für ein Typ? Ein Ara­ gere mich auch über Män­
gen erklimmen. fühlen Sie sich sicher. schämen sich für den eigenen nicht haben. Und ich freue ber oder ein Türke? Mit Si­ ner, die Frauen begrapschen.
Die Präferenz einer anti­ Dass in manchen Län­ Körper und meiden deshalb mich, dass sie mir meine Leg­ cherheit ein Muslim. Was Was hat das mit mir zu tun?
demokratischen Verkehrshie­ dern, wie in der Türkei, die Öffentlichkeit. Für je­ gins gönnen. hat der hier zu suchen? Ich weiß nie, wie ich
rarchie lautet: Fahrzeuge zu­ eine solche Sicherheit nicht manden, der innerlich noch Die deutsche Art, den Diese Blicke sind relativ reagieren soll, wenn sich
erst, dann Fußgänger. existiert, hat indes nichts in diesem gesellschaftlichen eigenen Körper genau so zu neu, und ich fürchte, dass sie diese Blicke an mir festsau­
In Deutschland kehrt mit der Genetik der Gesell­ Korsett steckt, kommen die nehmen, wie er ist, finde die falschen Menschen aus gen. Manchmal bin ich
sich die Hierarchie – trotz des sichtba­ schaft zu tun, wie manche Rassisten selbstbewussten deutschen Ladys­sehr ich sehr erstrebenswert. Deutschland vertreiben. Bis vor nicht übertrieben höflich. Manchmal gehe
ren Einflusses der Autolobby – gerade behaupten. So ist durchaus möglich, unerwartet. Schon klar. Halleluja: Wenn angebliche FKK- allzu langer Zeit hat es niemanden inte­ ich in die Konfrontation: suche den
um und wird demokratischer: Fuß­ dass türkische Autofahrer, die in Die Deutschen halten sich selbst für Fotos der jungen Angela Merkel auf­ ressiert, dass ich nicht so aussehe, als Blickkontakt oder das Gespräch. Aber
gänger und Radfahrer zuerst, dann Deutschland alle Verkehrsregeln be­ ziemlich verkrampft. Aber mit wem tauchen, kratzt das niemanden. Und wäre ich in Deutschland geboren. (Ich ich sage nie, was ich wirklich denke:
Kraftfahrzeuge. achten, sich im Sommerurlaub in der bitte vergleichen sie sich da? unsere Oma in Weißrussland versteht komme aus Ostjerusalem.) Es war ihnen dass meine Frau ja recht hat, dass wir
Für jemanden, der in Deutschland Türkei gleich hinter der Grenze in Ver­ Soweit ich das beurteilen kann, habt zwar überhaupt nicht, wieso die Sen- egal, welche Religion ich habe. (Ich bin jederzeit gehen könnten. Und dass
lebt, ist es normal, dass zuerst Fußgän­ kehrsmonster verwandeln. Der Fuß ihr wirklich ein exzellentes Verhältnis zu dung mit der Maus einen Beitrag über ein ungläubiger Muslim.) dann nur die Araber in Deutschland
ger die Straße überqueren dürfen. In drückt aufs Gas, die Hand betätigt euren Körpern. Feminismus und Frei­ das Furzen bringt. Aber bei euch lacht Inzwischen spüren auch viele meiner bleiben werden, die hier bleiben müs­
der Türkei dagegen müssen sie sogar an Hupe und Lichthupe, im Slalom rasen körperkultur sei Dank! Jeder präsentiert am Sonntagmorgen in der ARD Ele­ ausländischen Bekannten, dass Deutsch­ sen, weil sie keine Ausbildung haben,
Fußgängerüberwegen auf die Gnade sie über die Autobahn. sich hier, wie er oder sie das will. Egal, ob fantchen über Hasis Pups. Weil es ge­ land sich verändert. Kürzlich musste ein keine Fremdsprachen beherrschen oder
der »Könige der Straße« hoffen. Ich er­ Regeln zu missachten ist also kei­ du dir die Scham rasierst oder nicht, ob sund ist. Freund von mir seinen Sohn – Klassen­ sich an die Annehmlichkeiten des Sozial­
innere mich daran, dass ich in den ers­ neswegs genetisch bedingt. Wenn der­ du blass bist oder gebräunt, ob du grün Bleibt so locker, Leute! bester! – aus einer Schule in Berlin-Pan­ staates so gewöhnt haben, dass Weg­
ten Tagen im Berliner Exil neidisch selbe Fahrer im selben Wagen in einem gefärbte Haare hast oder natürlich graue kow nehmen, weil der Junge immer gehen keine Option mehr ist.
Fußgänger beobachtete, die an den anderen Land anders handelt, dann ist – niemand zeigt mit dem Finger auf Jeanna Krömer, 37, berichtet aus wieder als Ausländer heruntergemacht Wollt ihr, dass es Araber in Deutsch­
Überwegen voller Vertrauen die Fahr­ die Ursache des Problems nicht beim dich. So erlebe ich das zumindest seit Deutschland für den unabhängigen wurde. Lange hat mein Freund nieman­ land eines Tages nur noch in den Ghettos
bahn betraten. Fahrer, sondern in jenem Land zu­ einigen Jahren in Berlin. weißrussischen Fernsehsender Belsat, dem etwas erzählt. Es war ihm peinlich. von Neukölln oder Duisburg gibt? Das
Vertrauen – dieses Gefühl schöpft suchen. Wo demokratische Regeln zu­ Ich finde das großartig, wie selbst­ dessen Redaktion in Polen sitzt. Er wollte nicht wahrhaben, dass ihm so denke ich manchmal, wenn ich allein
seine Kraft wohl aus der Regel, oder verlässig Anwendung finden, ist es bewusst die Deutschen vor aller Augen Sie lebt sei 2010 in Berlin etwas passieren konnte, einem gut inte­ unterwegs bin.
besser gesagt aus dem Recht. leichter, Vertrauen aufzubauen. Und grierten arabischen Intellektuellen, der Wenn meine Frau oder die Mädchen
Wenn Sie in Istanbul etwa seit einer Vertrauen wird für die Gesellschaft sich in Berlin seit Jahrzehnten zu Hause dabei sind, sieht die Welt, sieht Deutsch­
halben Stunde in der Autoschlange vor zum Sicherheitsgurt. gefühlt hatte. land wieder ganz anders aus. Dann bin
der Bosporusbrücke stehen und von Ich kenne viele arabische Akademi­ ich kein arabischer Mann, sondern ein
hinten kommt einer, der Sie links über­ Can Dündar, 56, war bis 2016 ker, die sich fragen, ob Deutschland Vater von zwei entzückenden Töchtern.
holt und sich vor Sie setzt, dann wissen Chef­r edakteur der oppositionellen noch das richtige Land für sie und ihre Und die Leute lächeln uns an.
Sie, dass er sich entweder auf die Brech­ türkischen Zeitung »Cumhuriyet«. Familien ist. Auch meine Frau sagt in
stange im Handschuhfach verlässt oder Mittlerweile lebt er in Deutschland im düsteren Momenten: »Was bilden diese Nasser Jubara, 50, arbeitet als ­
auf einen Bekannten in der Verwaltung. Exil und leitet das Portal »Özgürüz« Deutschen sich eigentlich ein? Ich bin Korrespondent für die staatliche ­
Protest braucht Mut. Denn der »Star­ Juristin, du bist Journalist. Wir können kuwaitische Nachrichtenagentur »Kuna«.
ke« bestimmt die Regel. Existiert keine Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe überall leben.« Er lebt seit 30 Jahren in Deutschland
60 JAHRESRÜCKBLICK 2017 ENTDECKEN 4. DEZEMBER 2017 No 50

Beratungs­
resistent:
Ihr Deutschen
mögt es
umständlich.
Warum
sagt ihr nicht:
Das ist ein
verdammt ­
anstrengender
Typ?
CATHERINE ­
HICKLEY, ­
GROSSBRITANNIEN

Wollt ihr Innenstädte Erzieht doch mal Seid ihr wirklich


nur für Reiche? eure Kinder! so arm?
Du willst allein wohnen? Meine Eltern besser angelegt ist als in einer heimischen Es ist unfassbar, wie viele Spielplätze es Passivität der Eltern. Kann es sein, dass Die Finnen schwärmen vom reichen Ja, Friseure und Fabrikmitarbeiter ge-
hielten mich für verrückt. »Du könntest Bank. Skandinavier und Amerikaner in Berlin gibt: Gegenüber der Kita mei- die Deutschen, die anders als die Franzo- Deutschland. Da boomt die Wirt- hören auch in Finnland nicht unbe-
dein Geld genauso gut verbrennen«, finden es hier sowieso noch immer un- ner Tochter, an der nächsten Straßen- sen so viel Zeit mit der Kindererziehung schaft! Da sind die Straßen mit Gold dingt zur Mittelschicht. Aber sie kön-
sagte mein Vater. fassbar billig. Und Politiker sehen ratlos ecke, im Volkspark und selbst mitten im verbringen, sich auf dem Spielplatz ein- gepflastert! Armut? In Griechenland nen von ihrem Lohn leben. Sollte das
Ich habe mich 2002 trotzdem fürs zu, wie ihre Stadt verhökert wird. Tiergarten, weit weg von Schulen und fach mal eine Auszeit gönnen? vielleicht. nicht selbstverständlich sein?
Ausziehen entschieden. Obwohl das für Vielleicht sollten sie mal nach Mexico Wohnhäusern, stehen Schaukel, Rutsche Eines anderen Tages, im Spielbereich Ich bin vor einem Jahr aus Helsinki Finnland hat in diesem Jahr als erstes
einen Mexikaner unüblich war. Ich hatte City fahren, um zu schauen, wohin diese und zwei Kletterhäuschen. Das ist hier von Ikea. Meine Tochter, noch keine nach Berlin gezogen, nach Prenzlauer Land der Welt probeweise das bedin-
ja noch gar keine eigene Familie. Zwei Entwicklung führen kann? Eine Innen- die Minimalausstattung. In Paris wäre es zwei Jahre alt, möchte durch einen Tun- Berg. In diesem Viertel kann man gungslose Grundeinkommen eingeführt,
Jahre lang zahlte ich mehr als die Hälfte stadt, die den Reichen vorbehalten ist, schon das höchste der Gefühle. Es gibt nel krabbeln, ein Junge, mindestens sie- Deutschlands teuersten Filterkaffee trin- das machte uns berühmt. Die Arbeits-
meines Einkommens für eine winzige und weit draußen sind die Slums für sehr wenige Parks in der französischen ben, klettert einfach über sie drüber. ken, die Mieten steigen und steigen; es marktreformen unseres Ministerpräsi-
Wohnung in Mexico City. Ich wollte Arme. Wollt ihr das? In Deutschland Hauptstadt und noch weniger Plätze für Einmal, zweimal. Sie fängt an zu weinen. ist das Zuhause der Berliner Kulturelite. denten Juha Sipilä gehen in eine andere
unabhängig sein. Ökonomisch war es war die Mittelschicht immer die ent- die Kleinsten, die dann heillos überfüllt Meine Frau ergreift den Jungen und er- Mein Bild schien sich in den Straßen Richtung. Sipilä schwärmt von der Fle-
der reine Irrsinn. Maximal 30 Prozent, scheidende Klasse. Doch auch die be- sind. Einmal habe ich eine Schaukel ge- klärt ihm, dass er bitte aufpassen solle. von Prenzlauer Berg jeden Tag zu bestä- xibilität des Arbeitsmarktes, die die
sagen Experten, soll man für seine Miete kommt den kalten Wind zu spüren. sehen, für die man bezahlen musste. Die andere Mutter fährt gleich dazwi- tigen, das Viertel ist nahezu in Gold ge- Hartz-IV-Reformen Deutschland ge-
ausgeben. Als vor vier Monaten un- Im Tiergarten hingegen sind wir ganz schen: »Mit welchem Recht fassen Sie taucht. bracht haben. Deutschland ist sein Vor-
Als ich 2004 als Korres- sere Tochter auf die Welt für uns, bis plötzlich zwei meinen Sohn an?« Ein Kind Doch dann sah ich eines bild und die Agenda 2010
pondent nach Berlin ging, kam, haben meine Freundin etwa zehn Jahre alte Mäd- anzuschreien, das um sich Morgens einen Mann im seine Vorlage.
fühlte ich mich wie im Him- und ich gar nicht erst nach chen ohne Eltern auftau- herum Zank und Streit sät, Vorraum einer Sparkassen- Je länger ich in Deutsch-
mel: 430 Euro für 64 Qua- einer neuen Wohnung ge- chen. Schnell wie der Blitz ist in Deutschland keine ge- filiale liegen, der Körper in land bin, desto mehr zweifle
dratmeter warm und mit sucht. Wir waren sicher, dass klettern sie aufs Dach eines sunde elterliche Reaktion, einen Schlafsack gewickelt. ich an eurem Modell. Es
Blick auf die Spree. In mei- wir uns als Freiberufler mehr Spielhäuschens und balan- sondern ein krasser Fall von Ein Obdachloser? Mit sol- mag ja sein, dass deutlich
ner Kreuzberger Nachbar- als diese Zweizimmerwoh- cieren über den Balken, der Machtmissbrauch. chem Elend hatte ich nicht mehr Menschen einen Job
schaft lebten Migranten ne- nung an einer befahrenen auf einer Höhe von gut drei Die meisten deutschen gerechnet, nicht hier in haben. Aber was für einen?
ben gut verdienenden Aka- Straße in Prenzlauer Berg so- Metern zu einem anderen Familien haben nur ein Deutschland. Deutschlands neuer Reich-
demikern, Hartz-IV-Emp- wieso nicht leisten können. Häuschen führt. Ich wage es Kind (Ausnahme: Prenzlauer Zu Berlin, das lernte ich tum hat eine Schicht hervor-
fänger neben Studenten. Hier konnte Dann stießen wir durch Zufall auf das nicht, mir vorzustellen, was hätte pas- Berg). Also vergöttern sie es, das ist nor- schnell, gehören diese Schicksale dazu. gebracht, die verdeckt in prekären Ver-
sich jeder eine Wohnung leisten. Angebot einer Schriftstellerin, die ihre sieren können, wenn eine von ihnen mal. Weil ein Kind pro Familie aber zu Ich wohnte erst ein paar Wochen hier, hältnissen lebt.
Einige Jahre später musste ich um- Eigentumswohnung an nette Menschen ausgerutscht wäre. Daran müsse ich wenig ist, um die Zukunft (und die als ich an der Supermarktkasse gefragt Vielleicht sind die Deutschen sich
ziehen. Meine neue Wohnung kostete vermieten wollte. Drei Zimmer, schön mich gewöhnen, sagt man mir. Das sei Renten) zu sichern, müht sich die Re- wurde, ob ich nicht ein paar Lebens- ihrer Vorreiterrolle zu wenig bewusst,
nun schon 1300 Euro. Wie damals in geschnitten, absolut bezahlbar. Wo ist der freiheitliche Geist von Berlin. Aber gierung seit Jahren, den Deutschen wie- mittel der Tafel spenden wolle. Der bescheiden wie sie sind. Aber es ist an
Mexico gingen jetzt wieder mehr als der Haken?, fragte ich. Es gibt keinen da bin ich mir nicht so sicher. Mein der mehr Lust auf Babys zu machen. was?, fragte ich. Ich hatte keine Ahnung, der Zeit, dass sie sich der Verantwor-
Foto: Jan Burwick für DIE ZEIT

50 Prozent meines Einkommens für die Haken, sagte die Schriftstellerin. Sie sei Gefühl: Hier läuft ganz grundsätzlich Seit ich die deutschen Spielplätze ken- dass es in jeder Stadt Umsonst-Super- tung stellen. Dass sie die neue Unge-
Miete drauf. Wie kann das sein?, fragte halt keine Spekulantin. etwas schief. ne, verstehe ich besser, was das Problem märkte für mittellose Menschen gibt. rechtigkeit in den Griff bekommen,
ich die Maklerin. Sie antwortet knapp: In Frankreich übernimmt der Staat ist. Die Deutschen haben panische Deshalb beschloss ich, darüber zu bevor andere Nationen das Agenda-
»Die Lage.« Yaotzin Botello, 43, ist Korrespondent früh die Kindererziehung. In der école Angst vor jeder Form von Erziehung, schreiben: Wie sieht Armut im reichen Modell kopieren.
Immobilien-Investoren aus Italien, der mexikanischen Tageszeitung maternelle lernen Kinder zu funktionie- für sie klingt das sofort nach Indoktri- Deutschland aus?
Spanien oder Griechenland glauben, »Reforma«. Er lebt seit 13 Jahren in ren. In Deutschland beginnt die Schule nation, die sie aus historischen Gründen Bei der Tafel traf ich eine Friseurin, Anna-Liina Kauhanen, 42, ist Deutsch-
dass ihr Geld in Berliner Wohnungen Deutschland erst mit sechs Jahren. Bis dahin und ablehnen. Ihre Kinder sollen glücklich die von ihrem Lohn nicht ihre Miete land-Korrespondentin der finnischen
auch darüber hinaus lernen Kinder hier, sein, bevor sie Teil einer Gesellschaft zahlen konnte. Ich hörte von Minijob- Tageszeitung »Helsingin Sanomat«.
frei zu sein. werden, in der strenge Regeln das Zu- bern und lernte eine Fabrikarbeiterin Sie berichtet seit einem Jahr aus Berlin
Typische Situation: Während ich sammenleben organisieren. kennen, die sich als Kassiererin im Fuß-
meiner Kleinen vorsichtig helfe, auf ein Das Ergebnis sind Spielplätze, auf ballstadion Geld dazuverdienen musste. Protokoll: Lisa McMinn
Klettergerüst zu gelangen, steht ein denen das Gesetz des Dschungels
deutscher Vater neben mir und ignoriert herrscht, das Recht des Stärkeren. Wer
die Hilferufe seiner Tochter mit stoischer schubst, ist zuerst dran. Bekommt
Mine. »Da musst du schon allein hoch- man so eine sinkende Geburtenrate in
kommen«, sagt er. »Ich kann ja nicht den Griff?
den ganzen Tag auf dich aufpassen.« Das
klingt nach Erziehung zu Stärke und Nicolas Barotte, 39, ist seit 2014
Verantwortung. Und zugegeben, ich be- Deutschland-Korrespondent der
obachte neidisch, wie das deutsche Kind französischen Tageszeitung »Le Figaro«
frei über das Dach balanciert, während
meine Tochter ohne meine Hilfe keinen Aus dem Französischen von
Schritt tut. Trotzdem irritiert mich die Stefanie Flamm
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62 JAHRESRÜCKBLICK 2017

Wie weit kommt man in Berlin-Neukölln, wenn ma


Fotos: Nikita Teryoshin für DIE ZEIT

Am Hermannplatz verkauft Hussein Kaffee auf Englisch, Türkisch und Spanisch. Deutsch lernt er noch Vormittags im Weser-Eck: »Manchmal ist es mir ein bisschen viel,

Im Sommer beschwerte sich der CDU-Politiker Jens Spahn, dass in Berlin-Neukölln zu viel Englisch geredet wird.
»Guardian«-Reporterin KATE CONNOLLY macht den Praxistest: In Brautmodenläden, Hipster-Cafés und an der berüchtigten Rütli-Schule

I
Ich mache die Gegenprobe: Wie weit unterschiedlichsten Farbtöne und kosten Englischen angenommen und dabei mein Er ist Jamaikaner, groß und sportlich,
kommt man als englische Muttersprachle- meist zwischen 289 und 299 Euro. Eine britischstes Englisch verlernt habe. nimmt die Kopfhörer aus den Ohren und
rin in Neukölln, wenn man Englisch und Verkäuferin kommt aus einem Hinter­ Mittlerweile ist es fast 11.30 Uhr, und nickt: »Klar spreche ich Englisch. Aber wir
wirklich nur Englisch spricht? Ist der welt- zimmer und versichert, sie spreche »wenig Ahmo trinkt im Weser Eck sein zweites sind hier in Deutschland. Ich würde also
weit bekannte Problembezirk tatsächlich Englisch«, allerdings reicht es, um uns auf- Bier. Die Wände sind holzgetäfelt und mit vorschlagen, wir sprechen Deutsch.«
schon so rundum global aufgestellt, wie zufordern: »Not photograph and not touch.« Bierhumpen verziert, in der Ecke dudelt Es ist das erste Mal an diesem Tag, dass
Spahn behauptet? Oben gebe es mehr »married dresses«. ein Spielautomat. Ahmo ist halber Bosnier ich mit einem anderen englischen Mutter-
Am Hermannplatz ist Markt, die Ver- Wir folgen weiter der Weserstraße. Im- und entschuldigt sich, dass er nicht rasiert sprachler Deutsch rede. Es fühlt sich im-
käufer an den Ständen rufen durcheinan- mer tiefer soll sie uns nach Neukölln hi- ist und auch kein Englisch spricht. Wobei: mer noch seltsam an, obwohl einem das in
der, auf Deutsch, Türkisch und Arabisch. neinführen. »Warum sollte ich mich eigentlich ent- Berlin natürlich häufiger passiert.
Die Leute schlendern durch die Sonne. Vasiliki, eine in Griechenland geborene schuldigen? Ich spreche ganz passables Troy Lopez erklärt mir sein Konzept
Hussein schenkt einem Obdachlosen in Berlinerin, trägt ein T-Shirt mit dem Slo- Serbisch. Und meine Englischlehrer waren von Sprache, Heimat und Verantwortung.
Khaki-Jacke und mit Rucksack einen Kaf- gan: »Was heißt schon okay?« Sie betreibt alle Nieten.« Gegen all die Touristen, die »Wenn du irgendwo lebst, musst du die
ch bin erst seit zehn Minuten im deut- fee ein. Er scheucht ihn mit den Händen den Alpha and Omega International Afro- Englisch sprechen, hat er nichts. »Was Sprache von dort lernen. Sonst verstehst
schesten aller Warenhäuser, dem Karstadt weg, als der mit seinen letzten 30 Cent be- shop. Hier gibt es Kosmetik für dunkle mich aufregt, sind Restaurants, die keine du doch nichts. Du verstehst die Politiker
am Hermannplatz in Berlin-Neukölln, zahlen will. Hussein hat aus einem VW- Hauttöne, veganes Make-up und ein gro- deutschen Speisekarten haben. Das werde nicht, deine Nachbarn.« Er ist seit 23 Jah-
und habe mich schon bei unterschied- Campingbus den Coffee Bus Berlin ge- ßes Angebot von Haar-Extensions und Pe- ich in meinem Land ja wohl noch erwarten ren in Berlin. »Heutzutage«, sagt er, »wird
lichsten Verkäuferinnen nach der Kompa- macht. Das Dach lässt sich aufschieben rücken, von Pink bis Knallrot, außerdem dürfen. Ich frage den Kellner, was das bitte hier viel zu wenig Deutsch gesprochen.«
tibilität von Spielzeugeisenbahnschienen, und wird zur Tafel hinter dem Tresen, der afrikanische, südamerikanische oder euro- schön ist da auf der Karte, und die starren Berlin ist im Grunde selbst schuld, sagt
der Herkunft von Make-up-Döschen oder aus der Seite des Busses ragt und auf der päische Lebensmittel, Mango-Bier etwa, mich nur an.« Das habe in den vergange- Lopez. Es erwartet von den Neuen nicht,
nach einer ganz bestimmten Ausführung all die Kaffeesorten stehen, die er anbie- Malta Guinness oder Rotkäppchen-Sekt. nen sieben, acht Jahren zugenommen, sagt dass sie Deutsch lernen. In Paris, wo er
einer irischen Handtasche erkundigt. Alles tet: Lattes, Macchiatos, Americanos und­ Vasiliki spricht Englisch mit einem schwe- er. »Manchmal ist es mir ein bisschen viel, auch mal gelebt hat, sei das ganz anders.
auf Englisch. In der Confiserie reichen sich Cappuccinos. »Laktosefrei, koffeinfrei, mit ren Akzent. Sie hat es sich größtenteils all das Kultimulti oder wie das heißt.« Pariser bestehen darauf, dass du Franzö-
drei Angestellte meine Frage nach einer ­Sojamilch, ohne, wie auch immer Sie wol- selbst beigebracht, im Gespräch mit ihren Annett, die Wirtin, schwer tätowiert, sisch sprichst, sonst reden sie erst gar nicht
sehr speziellen Schokoladenmarke weiter, len«, zählt er in perfektem Englisch auf. Kunden, die von überallher kommen. die Haare rosa, sitzt hinter dem Tresen, isst mit dir. Lopez ist 52 und arbeitet als Kü-
bis einer dann in äußerst passabler Aus- Wenn er mit Kunden spricht, wechselt Wird ihrer Ansicht nach zu viel Eng- ein Plunderstück aus einer Papiertüte und chenchef in einem jamaikanischen Restau-
sprache antwortet: »Ziz is not in our range. Hussein vom Türkischen ins Englische, lisch gesprochen in Neukölln? stimmt ihm zu: »Du kriegst ja hier kaum rant namens RosaCaleta. Er erwartet von
I am sorry.« Alles sehr freundlich, sehr ge- manchmal streut er sogar ein wenig Spa- »Wenn hier etwas viel gesprochen wird, noch ’ne Currywurst. Wenn Touristen all seinen Kellnern, dass sie Deutsch spre-
duldig und für Berliner Verhältnisse sogar nisch ein. »In diesem Teil der Stadt sollte dann Türkisch oder Arabisch«, sagt sie. nach einem Restaurant mit deutschem Es- chen. Manche tun sich noch etwas schwer,
mit einer erstaunlichen Wärme. man Englisch sprechen können«, sagt er »Zu viel kann man aber gar nichts spre- sen fragen, haben wir keine Ahnung, wo gibt er zu. »Man muss den Mut dazu ha-
So beginnt mein kleines Experiment um mit seinem amerikanischen Akzent. »Aber chen. Ist doch sowieso völlig egal, welche wir die hinschicken sollen.« ben«, sagt er. »Aber die Kunden werden es
10 Uhr morgens an einem herrlichen Herbst- die meisten hier sprechen auch Deutsch, Sprache du sprichst. Wer behauptet, etwas »Nicht mal Cevapcici kriegst du noch«, einem danken.«
tag des Jahres 2017. Der konservative CDU- und die, die es noch nicht können, kom- werde zu viel gesprochen, der hat doch nur sagt Ahmo. Bisher habe ich noch kein einziges­
Politiker Jens Spahn hatte sich beschwert, men manchmal nur deshalb her, um es zu Angst vor Menschen.« »Verkehrte Welt«, sagt Annett. »Die Poli­ richtiges Hipster-Café entdeckt. Aber im­
dass man in manchen Berliner Restaurants lernen.« Deutschlernen sei in den vergan- Ihr Englisch ist wirklich sehr deutsch, tiker bekommen hier einfach nichts in den Hertha-BSC-Fantreff Herthaner beschwert
nur noch auf Englisch bedient werde, etwa genen Jahren stärker in Mode gekommen. aber je länger wir uns unterhalten, desto Griff. Die steigenden Mieten nicht. Die sich der Wirt über die Touristen, die auf
in Neukölln. In jenem Neukölln ausgerech- Hussein, 36, wurde im türkischen An- besser kann ich ihr folgen. Zuwanderung. Und ihnen fehlt das Rück- Englisch oder Spanisch ihr Bier bestellen.
net, vor dessen türkischen und arabischen talya geboren und zog vor zwölf Jahren Ich merke, dass ich mein Englisch an- grat, um deutsche Speisekarten durchzu- »Die führen sich auf, als gehörte ihnen das
Parallelgesellschaften der Ex-Bürgermeister nach New York. Dort lernte er seine Frau passe. Ich verschlucke Artikel und vereinfa- setzen.« Sie selbst wohnt mittlerweile ir- hier alles.« Er überlegt kurz: »Na ja, vieles
Heinz Buschkowsky immer gewarnt hatte. kennen. Vor eineinhalb Jahren beschlossen che die Grammatik, alles ganz unterbewusst, gendwo draußen, weil die Miete in Neu- gehört ihnen ja auch. Die kaufen hier alles
Und auch Spahn beklagt ja an anderen Tagen, sie, von New York nach Berlin zu ziehen. sodass auch mein Englisch deutscher klingt. kölln zu hoch war. »Verkehrte Welt«, sagt auf und machen Ferienwohnungen draus.«
er sehe dort zu viele Kopftücher. Nun sollen An seinem Deutsch arbeitet er noch. Manchmal frage ich mich, ob ich in all Annett. »Verrückt.« Die Gäste im Fantreff sind von schweren
also plötzlich die Hipster das Problem sein, Die Hochzeitskleider im Brautmoden- den Jahren, die ich jetzt schon mit Auslän- Als wir wieder draußen sind, kommt Rauchschwaden umhüllt. Auch ein Zim-
weil sie zu viel Englisch reden. geschäft an der Ecke Weserstraße haben die dern Englisch spreche, deren Varianten des Troy Lopez die Straße heruntergestrahlt. mermann, 54, schon in Rente, regt sich
4. DEZEMBER 2017 No 50 ENTDECKEN 63

an Englisch und wirklich nur E


­ nglisch spricht?
Es geht ­
bergauf:
Wenn etwas
besser läuft,
geht es bei den
Deutschen
bergauf. Ihr
wollt es immer
möglichst
schwierig ­
haben. Bei uns
Italienern geht
es bergab. Ist
doch viel ­
einfacher
TONIA ­
MASTROBUONI,
ITALIEN

all das Kultimulti oder wie das heißt«, sagt Halb-Bosnier Ahmo Wenn der Pole Karol seine Kunden auf Deutsch anspricht, wechseln sie ins Englische

über die Touristen auf: »Die machen Lärm Jetzt sind wir also tatsächlich mitten auf fruchtig« angepriesen. Die Madeleines kos- Bar Infiniti Café. Hier riecht der Rauch
und Müll. Im Sommer kannst du nicht mal der berüchtigten »Hipster-Meile«, wir DIE DEBATTE ten 80 Cent, ein japanischer Bleistift nach Apfel und Vanille, nach Minze oder
mehr die Fenster aufmachen, so laut feiern mussten die Weserstraße dafür nur einige 20 Euro. »Ich versuche ständig, mein Zitrone. Infiniti, woher kommt dieser
die. Sorry«, sagt er, »aber die Engländer sind Hundert Meter runterlaufen. Der Kontrast Es gehe ihm »zunehmend auf den Deutsch zu verbessern, aber jedes Mal, Name?, frage ich den Besitzer Ali, 36 Jahre
die Schlimmsten.« Er kenne niemanden, zu der Eckkneipe wenige Schritte weiter Zwirn«, dass Bedienungen in ­manchen wenn ich anfange, Deutsch zu reden, alt, der auf einem Ledersofa sitzt und an
der in eine dieser Hipster-Kneipen gehe und könnte nicht größer sein. Berliner ­Restaurants nur noch wechseln alle sofort ins Englische. Viel- einer Pfeife zieht. »Das ist doch Englisch,
sechs oder sieben Euro fürs Bier zahle, sagt Jens Spahn, now we’re talking! Englisch sprechen, sagte CDU-­ leicht sollte ich nach München ziehen, oder?«, sagt Ali. »Es bedeutet Unendlich-
er. »Die Engländer«, ergänzt sein Kumpel Vor dem Café stoße ich fast mit einer Präsidiumsmitglied Jens Spahn im wenn ich wirklich Deutsch lernen will.« keit. Unendliche Gastfreundschaft, un-
neben ihm, »das sind wirklich die Schlimms- älteren türkischen Frau zusammen, die ein August in einem Interview. Das ZEIT- »Beware of Pickpockets«, steht auf ei- endliche Liebe, unendliches Glück.« Er
ten. Du erkennst sie schon am Gang. Wie Kopftuch trägt, mit den Händen wedelt Feuilleton startete eine Debatten-Reihe. nem Schild vor dem Restaurant Roamers, bläst den Rauch aus, bis er fast darin­
die die Straße runterlaufen.« und »No English, nur Turkish – bisschen Kate Connolly machte jetzt die das »Coffee and booze« verkauft. Auf der verschwindet.
Vielleicht nähern wir uns jetzt langsam Deutsch« ruft, bevor sie weitereilt. Gegen­probe: Nur Englisch sprechend Speisekarte: »Skillet feast« oder »staggering Am Nachmittag, unser Experiment
der Parallelwelt, die Jens Spahn meint. Die Am Eingang der berüchtigten Rütli- bewegte sie sich an der Neuköllner egg plates«. dauert mittlerweile viereinhalb Stunden,
Ressentiments jedenfalls werden stärker. Schule, die vor mehr als zehn Jahren als Hipster-Meile Wesers­traße entlang Der Koch Tait hat nach Feierabend kommen wir bei einem Kiosk auf der Son-
Aber irgendwie scheint es bei alledem min- Oberproblemschule im Problembezirk keine Lust, Deutsch zu lernen. »Freizeit ist nenallee an, vor dem Elfriede Delika auf
destens so sehr um Unterschiede im Ein- Schlagzeilen machte, treffen wir auf zwei Freizeit, da werde ich ganz sicher keinen einem Sofa sitzt, neben einem Mann, der
kommen oder den Einstellungen zu gehen hässliche Frösche. Als Skulptur glotzen sie Jens Spahn? »Typisch CDU«, sagt eine Deutschkurs besuchen.« Er ist 24 und tief in ein Sudoku versunken ist und dabei
wie um die Sprache. uns an. Für einige ist der Unterricht gerade Barista in einem Café. Viele Leute, die Brite. Wegen mangelnder Deutschkennt- an seinem Bier nippt. Delika hat eine
Draußen auf der Straße, im milden aus, ein Junge umkreist zwei Mitschüler im Café abhingen, erklärt sie, seien vor nisse werde man als Mieter abgezockt, da weinrote Steppweste an und zieht an einem
Herbstwetter, wird Deutsch mit unter- auf seinem Fahrrad. »Kann kein Englisch«, allem da, um Deutsch zu lernen. Ich solle ist er sicher. Das Kleingedruckte könne ja Zigarillo. Anfangs etwas widerwillig, be-
schiedlichsten Akzenten gesprochen. Keine raunzt er mich an. Er heißt Wassim, ist elf bloß nicht denken, die vertrödelten hier keiner lesen. Schon sei die Miete wieder ginnt sie von ihrer schweren Kindheit zu
Spur Englisch. Jahre alt und hat zwei Stunden Englisch ihren Tag. gestiegen. Dass sich Alt-Neuköllner über erzählen, von ihrer Zeit als Hausmeisterin
Wie eigentlich, frage ich mich, kann die Woche. »Scheiß auf Englisch«, ruft er, Auch Karol, 36, ist Barista. Er könnte Zugezogene wie ihn beschweren, weil sie auf einem Friedhof und von ihrem
Jens Spahn sicher wissen, dass gerade zwei »hass ich, brauch ich nicht.« Dann reißt er sich jedoch nichts Schlimmeres vorstellen, die Mieten nach oben treiben, dafür hat er Wunsch jetzt, mit 80 Jahren, in ihren­
Deutsche Englisch miteinander sprechen? sein Lenkrad hoch, macht einen Wheelie als als Hipster bezeichnet zu werden. Er ar- nur Verachtung übrig: »Die verdienen eigenen vier Wänden zu sterben. Sie hat es
Darüber hatte er sich ja beschwert, über die und fährt er auf seinem Fahrrad davon. beitet in einem Laden namens Two & Two, ganz sicher deutlich besser als wir – und in der Schule nie gelernt und spricht kein
»anbiedernde Bereitschaft«, an hippen Or- Die zwei Jungs, die er umkreist hat, der französische Spezialitäten und japani- wenn nicht, müssen sie vielleicht ein biss- Wort Englisch. »Vielleicht im nächsten
ten auf die eigene Sprache zu verzichten. heißen Chechmus und Yaruk. Chechmus sche Schreibwaren verkauft. Hier gilt: »No chen härter arbeiten.« Leben«, sagt sie. Dass andere in Neukölln
»Ich spreche jeden auf Englisch an«, ist 13, boxt und sieht mindestens fünf Jah- Laptop on weekends. No Credit Cards. Dan- Es mag daran liegen, dass ihm mein Englisch sprechen, stört Delika überhaupt
sagt Alex, 38, der aus Nürnberg stammt re älter aus. Yaruk, der 18 ist und etliche ke.« Das Danke in diesem Hinweis wirkt Blick nicht gefällt, jedenfalls verschwindet nicht. Sie wedelt mit ihrem Zigarillo. »Es
und in einem italienisch-deutschen Café Jahre jünger wirkt, sagt, er möchte gern wie das einzige kleine Zugeständnis an die er plötzlich zügig in die Küche, und unsere ist schön, dass die kommen. Mal gab es
arbeitet. »Manche unserer Bedienungen Zimmermann werden. Sie sprechen eine Tatsache, dass wir in Deutschland sind. Unterhaltung endet abrupt. Die Spahnsche Zeiten, in denen niemand nach Berlin
sprechen nur Englisch.« Alex ist nicht be- Art amerikanischen Slang, den sie aus Fil- Karol sagt, er arbeite hart und versuche Parallelwelt wieder. kommen wollte. Und alle sind Menschen.
sonders groß und sieht ein wenig italie- men haben, sagen sie. »Englisch ist echt trotzdem, ein bisschen Spaß zu haben. Die Arroganz des britischen Kochs är- Lass die Leute reden, was sie wollen.
nisch aus. Sein Englisch hat einen interes- nützlich«, sagt Chechmus. »Finde ich Sein makelloses Englisch kann ich kaum gert mich. Umso mehr bin ich gerührt von Hauptsache, die reden.«
santen Akzent, von dem ich nicht genau auch«, sagt Yaruk. Als Zimmermann, sagt verorten. Er stammt aus einem kleinen all den Menschen aus Neukölln und der
sagen kann, wo er herkommt. Es ist jeden- er, werde er es aber kaum brauchen. Dorf nahe Wrocław im Südwesten Polens. Welt, die es mit mir auf Englisch probiert Kate Connolly, 46, ist Korrespondentin
falls kein typisch deutscher Akzent. Zurück auf der Pannierstraße sind wir Seit fünf Jahren ist er in Berlin. Englisch haben, so anstrengend es für manche war. der britischen Tageszeitung »The Guardian«.
Eine Spezialität des Hauses sind Maul- schnell wieder mitten in Hipsterhausen. In hat er von kanadischen Freunden gelernt. Und es wärmt mein Herz ein wenig, wenn Sie lebt seit 16 Jahren in Deutschland
taschen. Da hat Alex manchmal Überset- den Schaufenstern wird »Ostseeschaum- »Du kommst mit Englisch gut zurecht, ich englischen oder anderen Muttersprach-
zungsschwierigkeiten. Er nennt sie dump- seife« oder »Zungenbrecher Burger« ange- schwierig wird es nur, wenn du zum Amt lern zuhöre, die es ganz vorsichtig auf Aus dem Englischen von Johannes Gernert.
lings, was zwar Knödel heißt oder auch boten. Im Schwabylon gibt es schwäbische musst«, findet er. Deutsch probieren. Englische Version unter zeit.de/neukoelln
Dampfnudel, aber vermutlich eine ganz Küche. Da ist eine Croissanterie und der Der Karani-Kaffee aus Kenia, den er Auf der Sonnenallee entdecke ich zwi-
ordentliche Annäherung ist. Friseursalon Shagi. ausschenkt, wird hier als »blumig und schen Spätis und Wettbüros die Shisha- www.zeit.de/audio
64 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

Eine Italienerin in Pasewalk,


Tonia Mastrobuoni

Eine Britin in Quedlinburg,


Eine Italienerin
Catherine Hickley in Pasewalk,
Tonia Mastrobuoni

Eine Britin in Quedlinburg,


Catherine Hickley
Ein Pole in Altötting,
Wojciech Szymański

DREI KORRESPONDENTEN BEGEBEN


Ein Pole in Altötting, SICH AUF DREI GANZ
Wojciech Szymański
PERSÖNLICHE REISEN DURCH DEUTSCHLAND

Altötting: Ein Pole fühlt sich zu Hause


S
chwer zu glauben, wie groß die der tief verwurzelte, ins Abergläubische großen Streit über die weltanschauliche Jahr leitet er den Vorstand. Schießsport, len?, frage ich mich. Sehnt die Jugend sich
Temperaturunterschiede sein kön- lappende Katholizismus und das konserva- Neutralität des Parlamentes. Doch das Tra­di­tions­pfle­ge, Geselligkeit und Jugend- nach etwas Unverwechselbarem, nach Iden­
nen. Am frühen Morgen war es tive Fremdeln mit der Moderne. Das ord- Kruzifix hängt immer noch. Gegen das arbeit – das sind die vier Säulen seines Ver- ti­fi­ka­tion? »Fremdes lobt ihr und schätzt das
klirrend kalt hier in Alt­ötting. Ein nungspolitische Gepolter der CSU kommt Kreuz will man in Polen nicht kämpfen. eins. In einem Ort wie Alt­ötting fehlt es Eigene nicht«, besagt ein schönes polnisches
dicker Nebel hing über dem zen- mir vertraut vor. Alt­ötting wiederum be- Die Tür geht auf. »Grüß Gott!«, ruft nicht an Anlässen, die Tra­di­tion zu pflegen. Sprichwort. Vielleicht kehrt sich das in­
tralen Kapellplatz und ließ die barocken schreibt sich selbst als das Herz Bayerns. Herbert Hof­auer, der Erste Bürgermeister Allein die kirchlichen Feste füllen reichlich Bayern gerade um.
Fassaden verschwimmen. Am Mittag ist es Und in Alt­ötting wurden bei der Bundes- von Alt­ötting. Über das Kruzifix im Rat- den Kalender. Auch beim Schützenauf- Später reißt es mich, als ich auf einer
wieder klar und warm. Sehr warm. Es ist tagswahl die Rechtspopulisten von der haus sagt er später beim Kaffee: »Wir leben marsch namens Dultzug und beim Mai- Speisekarte das Wort »Neger« entdecke.
eine dieser verrückten Oktoberwochen, in AfD die zweitstärkste Partei. Kann es also im katholischen Bayern. Wir wollen uns baumaufstellen gehören Salutschüsse dazu. Das sei ein Weißbier mit Cola, erfahre ich
denen die Sonne scheint wie im Sommer. sein, dass Deutschland den Polen hier am­ nicht verleugnen.« Hof­auer ist 61, hat einen »Wir sind traditionell aber trotzdem offen«, auf Nachfrage. In Berlin wäre diese Speise-
Schals und Jacken, ohne die man sich am nächsten ist? grauen Schnurrbart und regiert in der Stadt sagt von Wartburg. karte ein Skandal, es käme wahrscheinlich
Morgen nicht aus dem Haus wagt, landen Auf dem Kapellplatz blüht um die Mit- seit 22 Jahren. Er ist nicht bei der CSU, »Wenn ein Syrer in den Verein eintre- zu Boykottaufrufen, der Betreiber müsste
in Taschen oder Fahrradkörben. Die Leute tagszeit der Handel mit Devo- ten will, würde ich ihn aufneh- sich erklären. Auch in Polen wurde darüber
sind gierig nach den letzten Sonnenstrahlen. tionalien. Schwarze Madon- men. Wir hatten schon ein gestritten, ob der Kinderbuch-Klassiker
»Sie kommen also aus Polen? Sie pilgern, nen in verschiedenen Formen schwarzes Mitglied. Nationalität »Bambo, das Negerlein« aus den Regalen
Wenn ich oder?«, fragt ein Mann, der in der Nähe der und Größen, Skulpturen von spielt keine Rolle, wenn jemand verschwinden sollte. Seit die National­
in Deutsch- Gnadenkapelle neben mir auf einer Bank Jesus, der Heiligen Familie, sich mit der Tra­di­tion identifizie- konservativen an der Macht sind, ist die
land in die sitzt. Irgendwie schon, sage ich. Er schaut Kreuze, Kerzen, Weihwasser ren kann.« Von Wartburg zeigt Dis­kus­sion vom Tisch. Man wollte sich der
Sauna gehe, mich verwundert an. Na ja, ich sei dienst- und Rosenkränze. Weih- mir Fotos von den Vereinstermi- politischen Korrektheit nicht beugen. In
steht am lich unterwegs, aber wolle natürlich auch rauchduft durchweht die Gas- nen, erklärt, wie ein Schützenzug Polen hat mich das geärgert, dieses trotzige
Eingang: die Schwarze Madonna sehen, erkläre ich. sen. Priester und Nonnen aufgebaut sein muss. Der Tafel- »Wir lassen uns doch nicht vorschreiben,
Textilfreier »Die gibt’s ja auch bei uns in Polen, in kreisen zwischen Kirchen und bub vorne, in der Mitte der wie wir über wen zu reden haben«. Aber ist
Bereich. Częstochowa, nur eine Autostunde von Klöstern. Glocken läuten. Fähnrich mit der Vereinsfahne, das »Negerbier« wirklich eine Beleidigung
Ist es euch meinem Ge­ burts­
ort Katowice entfernt. Etwa 13 000 Leute leben dahinter die Könige. Alles sei von Schwarzen oder doch nur ein Bier?
zu peinlich, Und auch dort wird sie leidenschaftlich ver- in Alt­ötting, dazu kommen vorgegeben, sogar die Farbe der Andererseits: Was ginge verloren, wenn es
»nackt« zu ehrt.« Im Vergleich zu dem wuchtigen jedes Jahr gut eine Mil­ lion Strümpfe. Aber auch die Tra­di­ verschwände wie die Männerhoheit im
sagen? ­ Kloster in Częstochowa, das selbst die Pilger. Es ist der wichtigste tion müsse mit der Zeit gehen. Schützenverein?
ANNA-LIINA Schweden nicht erobern konnten, als sie Wall­fahrts­ort Deutschlands. Von Wartburg trinkt langsam sein Überhaupt fällt mir auf, dass man im
KAUHANEN, Mitte des 17. Jahrhunderts Polen überfie- Auch Johannes Paul II. war Bier. Vor einigen Jahren haben die Ausland auf vieles einen anderen Blick hat
FINNLAND len, wirkt die Gnadenkapelle von Alt­ötting hier. 1980. Der Mann, der St.-Georgs-Schützen Frauen zum als zu Hause. In Bayern mag ich das stän­
allerdings bescheiden: ein weiß verputztes mich eben für einen polni- Ehrensalut zugelassen, was eigent- dige Glockengeläut, den Weihrauchgeruch,
Kirchlein mit zwei kupfergedeckten Türm- schen Wallfahrer gehalten lich nicht vor­ge­sehen ist. Der Ver- die Frömmigkeit. Es fühlt sich vertraut an,
chen auf einem großen Platz. hat, kann sich gut erinnern. »Ich habe ihm sondern bei den Freien Wählern. Dass bei ein hat einen Face­book-­Au­ftritt und einen warm. Die Leute sind freundlich, sie grü-
Ist man erst mal drin, sieht es schon ganz die Hand geschüttelt«, sagt er. »Einem Hei- der Bundestagswahl die AfD in Alt­ötting so You­Tube-­Kanal. Von Wartburg sieht das ßen, und ich grüße zurück.
anders aus. Die düstere Bilderpracht, die ligen die Hand zu schütteln ist etwas Be- gut abgeschnitten hat, war für ihn ein als Erfolgsrezept. »Wir verzeichnen gerade Ich weiß nicht, ob sie immer so sind
andächtige Stille, die Ernsthaftigkeit im sonderes.« Zur Erinnerung an diesen Be- Schock. Hof­auer will nicht in die Dis­kus­ einen enormen Mitgliederzuwachs.« oder ob sie in einem katholischen Polen
Gebet – all das kenne ich gut von zu Hause. such haben die Alt­öttin­ger vor dem Bruder- sion darüber einsteigen, ob die »Wir schaf- Am nächsten Morgen. Schüler warten ihresgleichen sehen. Ich jedenfalls werde
In Częstochowa hängt die mit Blut befleckte Konrad-Kloster eine Linde gepflanzt. Eine fen das«-Politik von Angela Merkel richtig am Bahnhof zitternd vor Kälte auf den immer bayerischer, kleinstädtischer. Ich
Schärpe, die Johannes Paul II. trug, als er Bronzefigur des polnischen Papstes schaut war. Nur so viel: Als Christ könne er nach- nächsten Zug. Nackte Knöchel, enge Ho- esse Krustenbraten, ich trinke Weißbier.
von einem Attentäter auf dem Petersplatz über den Kapellplatz. Ich kenne diesen mil- vollziehen, dass »man im Sommer 2015 sen, coole Haarschnitte. Die Jungs und Ich gehe früh schlafen, wache mit der­
angeschossen wurde. Der polnische Papst den, leicht sorgenvollen Blick. In Polen sind den Ereignissen in Ungarn nicht mehr ein- Mädels sehen aus wie die Teenager überall Sonne auf und spaziere zwischen Gnaden­
hat überlebt. »Maria hat geholfen«, sagen Statuen von Johannes Paul II. so allgegen- fach zuschauen konnte«. In Polen wäre er in Deutschland und fast überall in Europa. kapelle, Kloster, Stiftskirche und St.-Anna-
die Polen. Auch von der Alt­öttin­ger Maria wärtig, dass man sie für Landschaftselemen- mit dieser Haltung ein Linker. Bei uns en- Schwer vorstellbar, dass sie ihre Outfits Basilika herum.
scheint eine geheimnisvolle Kraft aus­ zu­ te halten könnte. Meistens schaue ich durch det die christliche Nächstenliebe zurzeit an an Feiertagen freiwillig gegen Dirndl und­ Doch mir ist klar, dass ich das nicht
gehen. Selbst die ganz alten Leute harren sie hindurch. Doch hier im fernen Ober- der Landesgrenze. Die 15 Prozent der Alt­ Lederhose tauschen. Aber so ist es wohl. lange aushalten werde, dass ich mich­
vor ihr auf den Knien aus, bis sie die ganze bayern freue ich mich über Johannes öttin­ger, die die AfD gewählt haben, wür- Der örtliche Volkstrachtenverein wächst, spätestens nach einer Woche zurücksehnen
Perlenkette des Rosenkranzes durchgebetet Paul II., als träfe ich einen alten Bekannten. den wahrscheinlich die polnische Lösung zählt inzwischen 350 Mitglieder, davon werde in die Anonymität der gottlosen
haben. Im Rundgang liest man auf Hun- Später, während ich im Vorzimmer des favorisieren. etwa 60 Jugendliche und Kinder. Großstadt. Schon im Regionalexpress nach
derten frommer Dankbarkeitsbekun­dungen Bürgermeisters warte, habe ich schon wie- Philipp von Wartburg kann das verste- Der Pfarrer Hermann Schächner erzählt, München allerdings, draußen versinken
Geschichten von Kranken, die ihre Heilung der ein Déjà-vu. Mein Blick fällt auf das hen. Der Vorsitzende des Schützenvereins dass der Jugend Heimat wieder sehr wichtig die Wiesen im Nebel, beschließe ich zu-
der Muttergottes zuschreiben, von Betrüb- große Kruzifix an der Wand. Vor Jahren St. Georg findet, dass die Politik ein biss- sei. Er war ja selbst mal einer von ihnen. rückzukommen. Vielleicht fahre ich im
ten, denen sie Erleichterung schenkte. haben zwei konservative polnische Abge- chen frischen Wind gut gebrauchen kann. Schächner ist auf einem Bauernhof im Alt­ Sommer den Benedikt-Radweg, »radeln
Ich lebe seit sieben Jahren als Korres- ordnete ein solches Kreuz im Warschauer Wir treffen uns im Restaurant eines Hotels, öttin­ger Umland aufgewachsen. Er ist erst auf den Spuren von Papst Benedikt XVI.«.
pondent in Berlin, wo die protestantische Plenarsaal aufgehängt. Heimlich, am spä- bestellen Bier, das in der Gegend gebraut Anfang 30, den Pfarrverband Unterneukir- Es wäre ein bisschen Heimaturlaub in
Pfarrerstochter Merkel auch mein Deutsch- ten Abend. Weil sie keine Leiter hatten, wurde. Von Wartburg, Ende 40, trägt An- chen leitet er seit einem Jahr. »Obwohl wir Deutschland.
landbild prägt: sehr nüchtern, pragmatisch stiegen sie auf den Sessel des Parlaments- zug, er kommt direkt von der Arbeit. Er ist die Globalisierung haben, obwohl jeder In-
und ziemlich ideologiefrei. Eine fremde präsidenten. Ein Abgeordneter ist vom selbst Mi­grant. Vor elf Jahren zog er aus der ternet benutzt, lieben die jungen Leute die- Wojciech Szymański, 34, ist Korrespondent
Umwelt für einen Polen. Was ich über Bay- Sessel gestürzt und hat dabei die halbe Tür Schweiz nach Oberbayern. Seit zehn Jahren ses Regionale. Dahoam is dahoam«, sagt er. für den polnischen Dienst der Deutschen
ern gehört habe, klingt schon viel polnischer: herausgerissen. Anschließend gab es einen ist er Mitglied »im St. Georg«. Seit einem Erleben wir eine Re­nais­sance des Regiona- Welle. Er lebt seit 2011 in Berlin
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Quedlinburg: Eine Britin wird romantisch


D
ie engen, verwinkelten Gas- Pflanzen, die ich nicht erken- hässliche Hexen findet man noch Nicht nur die Nostalgie, sondern auch
sen tragen kurze, aussage- nen konnte oder wollte. Die überall – auf den Dächern, in Ostalgie zog mich nach Quedlinburg.
kräftige Namen wie Stieg, rückwärtige Mauer fehlte; Kneipen und Cafés, auf Schildern Nach dem Studium, noch zu DDR-Zei-
Klink oder Hölle. Die stattdessen hing dort eine und haufenweise in den kleinen ten, hatte ich ein Jahr in einer anderen
krummen Fachwerkhäuser Plastikplane herunter. Das Verkaufsbuden am Hexentanz- Ecke von Sachsen-Anhalt verbracht: in
lehnen sich eng an­ein­an­der; an manchen Dach war durchlöchert; platz in Thale. Dort wird noch Halle. Von 1989 bis 1990 unterrichtete
Stellen könnten sich Nachbarn über die überall nur Schutt, Dreck richtig Walpurgisnacht gefeiert, ich dort an der Martin-Luther-Universität
Straße hinweg die Hände schütteln, wenn und Staub. mit gruseligen Kostümen, Schla- Englisch und erlebte damit die Wende auf
sie sich im ersten Stock weit genug aus Das Haus war trotzdem gern und viel Bier. der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs.
dem Fenster lehnten. In der Abenddäm- etwas ganz Besonderes. Das Die Sehnsucht nach dem Dieses Jahr war ohne Zweifel das prägends-
Fotos: Peter Schickert/Prisma (o.); Andreas Vitting/imageBROKER RM/F1online

merung zeichnen sich die schwarzen Sil- Kellergewölbe stammt aus Mittelalter, die romantische Au- te meines Lebens und hinterließ bei mir
houetten der gotischen und romanischen dem 12. Jahrhundert, der toren wie E.T.A. Hoffmann das (zugegeben subjektive) Gefühl, dass
Kirchen und Türme gegen einen dunkel- Dachstuhl und die Seiten- pflegten, lernte ich als Studentin Ostdeutschland das authentische, echte
blauen Himmel ab. wände aus Fachwerk mit der deutschen Literatur in den Deutschland sei.
Quedlinburg ist Deutschland wie aus Weidengeflecht und Lehm achtziger Jahren in London zu Jetzt pendle ich zwischen der Haupt-
dem Märchenbuch. Und nicht nur das: sind 600 Jahre alt. Wie die teilen. Das Mittelalter als dunkle, stadt und Quedlinburg und versuche so
Die Stadt hält sich sogar für die Wiege der ganze Altstadt von Quedlin- geheimnisvolle Ära hat mein oft wie möglich im Harz zu sein. Ich freue
deutschen Na­ tion. Heinrich der Vogler burg ist das Haus Unesco-Weltkulturerbe. Sogar diejenigen, die mich beim Kauf da- Deutschlandbild sehr geprägt. mich schon auf den Weihnachtsmarkt,
wurde hier im Jahr 936 bestattet. Er galt Achtzehn Monate lang haben Architek- mals für verrückt hielten. Meine Familie Wenn tobende Mönche bewusstseins- wenn die Aromen von Glühwein, Apfel-
lange als erster deutscher König im deut- ten und eine Reihe von denkmalerfahre- aus England kam im Sommer zu zehnt. erweiternde Tränke zu sich nehmen und punsch und gebratenem Wildschwein
schen Reich. Seine Frau Mathilde wurde nen Handwerkern mit viel Liebe zum De- Wir schwammen in den Seen, wanderten von unheimlichen Doppelgängern durch durch die Gassen wehen und Kerzen und
hier Äbtissin. 900 Jahre lang wurde die tail gearbeitet. Es entstand ein wunder- in den Bergen und schlenderten durch die die Landschaft verfolgt werden wie in Lichterketten die gepflasterten Höfe be-
Stadt anschließend von Frauen regiert. schönes Haus mit einem vier Meter hohen schönen alten Städte des Harzes. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels be- leuchten.
Ich bin in Quedlinburg zu Hause – Wohnzimmer und viel Licht. Die ganze Region ist von Sagen um­ schrieben, dann könnte das durchaus im
nicht nur vom Gefühl her. Ich habe vor In den vergangenen acht Jahren haben woben, die an eine vorchristliche Epoche Harz stattfinden. Die Kulissen dafür sind Catherine Hickley, 50, zog 1997 nach
neun Jahren eine Ruine gekauft, ein Fach- mich zahlreiche Berliner besucht, aber erinnern – eine Zeit, in der Hexen mit dem jedenfalls vorhanden: dichte Wälder, dra- Deutschland und leitete einige Jahre das ­
werkhaus. Es war damals in einem mise- auch Briten, die noch nie in Deutschland Teufel tanzten und Prinzessinnen auf sechs- matische Felsen, dazu einsame Burg- und Berliner Büro von Bloomberg News.
rablen Zustand, voller Pilze und anderer waren. Die meisten kommen immer wieder. beinigen Pferden über Flüsse sprangen. Böse Klosterruinen. Heute schreibt sie Sachbücher
4. DEZEMBER 2017 No 50 ENTDECKEN 65

WIE WAR IHR JAHR?

Hazel Brugger

Pasewalk: Eine Italienerin


findet Süditalien Die Kabarettistin, 23, ist Reporterin
der »heute show« und Gewinnerin des
Deutschen Comedypreises 2017

E
ine der beliebtesten Touren ita­ Leistungsdruck nicht standgehalten. Erklärt das die Anfang der neunziger Jahre den Hass der Was haben Sie in diesem Jahr zum ersten Mal
lienischer Fahrradurlauber führt die 20,8 Prozent für die AfD, das Direkt­ Rassisten auf sich zogen. Als dann 2013 die getan?
durch Mecklenburg-Vorpom­ mandat für den Landtag? »Oft geht es um ersten Flüchtlinge aus Afrika hier ankamen, hat Ich habe an einem Workshop für Glasblasen teil­
mern. Italiener mögen die harzige, Berührungsängste«, sagt Buss. Sie erinnert sich Rinkers den »Verein Willkommenskultur­ genommen und eine winzige, türkisfarbene Vase aus
vermooste Landschaft des Nor­ gerne an Locke, um den sie sich eine Zeit lang Torgelow« gegründet. »Denn was ist die univer­ Glas gemacht. Leider ist sie beim Abkühlen kaputt­
dens, dieses fremde, graue Meer namens Ost­ gekümmert hat. Er war Alkoholiker, er war sellste Sprache, die es gibt?«, fragt er. »Fußball!« gegangen, aber dekorativ ist sie allemal.
see. Im Sommer sieht man sie in großen Pulks Nazi, hatte dieses knallharte Tattoo: »wollte Bevor ich weiterfahre Richtung Uecker­
auf dem Radweg, der sich von Berlin bis nach lieben lernte hassen«. Als er Buss und ihre münde, erlaube ich mir einen Abstecher in eine War 2017 besser oder schlechter, als Sie es
Usedom erstreckt. Doch so richtig scheint Kollegin mit drei Eritreern sah, wie sie schwere kleine Buchhandlung, wo ich mit der Besitze­ Silvester­2016 erwartet hatten?
man sich hier oben noch nicht an uns gewöhnt Sachen schleppten, murrte er: Soll ich helfen? rin Christa Fohrenkamm ins Gespräch komme. Persönlich ein Jahr, das alle Erwartungen übertrof­
zu haben. Während ich im Zug kurz vor Pase­ »Am Ende hat er ihnen gesagt: ›Falls ihr Pro­ Ich suche nach einem Reiseführer, sie gibt mir fen hat. Für die Welt (Blick nach Westen wie nach
walk leise auf Italienisch telefoniere, herrscht bleme habt, sagt Bescheid.‹« ein Paar gute Tipps. Beim Abschied erwähne Osten) ein ziemlicher Desaster-Marathon. Die faire
mich ein Herr um die sechzig an: ich, dass ich bestimmt schon wieder Antwort wäre also: schlechter als befürchtet, aber die
»Scheißkanake«. Mit fällt die Kinn­ kein Abendessen bekomme, wenn ich ehrliche Antwort: 2017 war noch besser als erhofft.
lade runter. Dann muss ich laut mich nicht sofort auf den Weg ma­
lachen: Was für eine altmodische che. Als ich mein Fahrrad aufschließe, Was war Ihr persönlicher Sieg 2017?
Beleidigung! Als »Scheißkanake« steht Frau Fohrenkamm wieder ne­ Ich war in England und habe Zlatan Ibrahimović
wurde ich zum letzten Mal in den ben mir: »Darf ich Ihnen etwas von spielen sehen! Unglaublich, dass ich das noch er­
siebziger Jahren beschimpft, im meinem Eintopf anbieten?« Ich bin leben durfte, auch wenn es nur etwas über vier Mi­
Dorf meiner niedersächsischen gerührt und frage mich, was in Berlin nuten waren. Danach gab es ein brasilianisches
Groß­eltern, als ich meinem Bruder passieren würde, wenn ich einer Buffet, all you can eat, in der Nähe vom Bahnhof in
etwas auf Italienisch zurief. Wildfremden erzählte, dass ich Angst Manchester. Das hat zwar nicht geschmeckt, und
Andererseits: Ich bin nicht zum hätte, hungrig ins Bett zu müssen. danach gab es Randale im Zug und keine Sitzplätze,
ersten Mal in Mecklenburg-Vor­ Gar nichts wäre das Mindeste. Leider aber es war trotzdem ein richtig geiler Tag.
pommern, ich kenne den Fremden­ muss ich trotzdem weiter. Bis Uecker­
hass, der sich auch in Wahlergeb­ münde sind es noch 13 Kilometer. Und Ihre Niederlage?
nissen niederschlägt. Ich weiß um Bis Ueckermünde führt der Fahr­ Mein Vater wurde dieses Jahr sechzig, aber ich war
die Nazi-Landsmannschaften, die radweg durch märchenhafte Wälder. nicht da, um mit ihm zu feiern. Ich hatte einen Auf­
sich hier breitgemacht haben. Doch Von dort geht es am nächsten Tag tritt. Das ist eigentlich nicht okay. Mit vielen Ge­
so abwegig es für deutsche Ohren weiter durch lieblich-karges Moos- schenken habe ich dann versucht, mich freizukau­
klingt: Ich mag diesen Landstrich, und Dünenland bis auf die Insel fen, aber ich glaube schon, dass er enttäuscht war.
weil er mich an Süditalien erinnert. Usedom: eine herrliche 40 Kilometer
Dort hat die Mafia schon vor Jahrzehnten den Laura Lenard, blonde Haare und knall­ lange Küste, ehemalige Kaiserbäder, viele Tou­ Worüber haben Sie sich am meisten gefreut? Die Kuh ist
Ruf ganzer Regionen ruiniert. Und ja, man sieht harter Blick, lächelt. Dann erzählt sie von­ risten – und erschütternde Wahlergebnisse. In München habe ich Helge Schneider kennen­ vom Eis:
diese rechten Typen dort überall, aber man trifft einem Kinderfest, von dem sie ihren Sohn Knapp die Hälfte der Insel hat AfD oder gleich gelernt, ein Kindheitstraum ging in Erfüllung! Ein Wissen­
auch auf so viel Unerwartetes, Ungekünsteltes, kürzlich abholte. »Ich bin auf der Türschwelle­ NPD gewählt. Klar gibt es hier eine »braune« schaftler
auf großartige Menschen und eine zum Nieder­ erstarrt: Da hingen überall Hakenkreuze. Geschichte. Die Orte Zinnowitz und Bansin Was war für Sie die größte Überraschung? sagte das mal
knien schöne Natur. Trotzdem bin ich leicht Dann ist der Vater von Pjotrs Klassenkamerad hatten schon in den zwanziger Jahren »juden­ Wie teuer es ist, eine kaputte Scheibe im Wohn­ in einem
benommen, als ich in Pasewalk aus dem Zug auf mich zugekommen: ›Du und dein Mann, freie Zonen«, wie man in Victor Klemperers zimmer ersetzen zu lassen. Interview.
steige. Der Herr murmelt zum Abschied etwas ihr seid Polen, ich weiß, aber ihr seid okay. Ihr Tagebüchern nachlesen kann. Aber erklärt man Seither frage
von »Sau«, wenig später radele ich auf meinem seid fleißig.‹« Laura grinst. »Früher haben die damit die neue Verbissenheit? Die Wut? Was haben Sie 2017 vermisst? ich mich:
vollbepackten Fahrrad durch die Dämmerung. Nazis uns beschimpft, aber jetzt haben sie die Auf Usedom wird das Strampeln anstren­ Privat: meinen Hund Harry, der 2016 gestorben ist. Was hat sie
Mein Freund, der Schriftsteller Thomas Flüchtlinge.« Die Flüchtlinge allerdings sind gender: Die Insel ist hügelig. Ich radle durch Allgemein: mehr Wissenschaftlichkeit in Diskussio­ da bloß
Brussig, hat mich per Mail auf eine gewisse wohl eher ein abstrakter Gegner. In Pasewalk dunkle Buchenwälder und grüne Felder bis in nen. (Und noch einmal eine neue Mad Max-Verfil­ gemacht
Spröde der Mecklenburger vorbereitet: »Man leben derzeit circa 80, das sind weniger als ein das Örtchen Benz, wo der Galerist Hannes mung wäre auch super gewesen.) auf dem Eis,
fühlt sich leicht nicht wohl, weil man angeguckt Prozent der Bevölkerung. Albers in einer reetgedeckten Scheune hinter die Kuh?
wird, weil sie tuscheln. Wenn man mit ihnen Die Polen hingegen retten in Vorpommern der Kirche ein »Kunst-Kabinett« betreibt. Auf welche Nachricht hätten Sie am liebsten ver- WOJCIECH
ins Gespräch kommen will, dann klappt das seit Jahren ganze Landstriche vor dem Ausster­ Kurz vor der Tür brettert ein halbes Dutzend zichtet? SZYMAN S KI ,
nicht. Du wirst aber auch nicht angelächelt. ben. Laura Lenard hat mir ein paar Zahlen auf­ Nazis mit fetten Motorrädern an mir vorbei. Dass der Comedian Louis C.K. vor Frauen mastur­ POLE N
Wenn sie dich kennen würden, wäre es etwas geschrieben: »Schauen Sie, bei uns in Löcknitz Die anderen Passanten schauen weg. Ich gucke biert hat, ohne ihr Einverständnis. Irgendwie macht
anderes. Aber eine Fremde anlächeln? Wozu soll kommen 574 von 3214 Einwohnern aus Polen«, sie fragend an. Keiner will was sagen: »Sonst das einen Helden von mir sehr, sehr lächerlich.
das gut sein, würde der Mecklenburger fragen.« also fast ein Siebtel. Die meisten Neubürger fackeln die uns morgen das Haus ab.« Es ist
Mein Hotel liegt in einer alten Brennerei haben eine ähnliche Geschichte wie Lenard. Ur­ schon auffällig, wie unaufgeregt die Leute den Was würden Sie in diesem Jahr gerne korrigieren,
außerhalb von Pasewalk. Außen rote Back­ sprünglich stammt sie aus Stettin. Dort ein Haus Rechten begegnen, wie beiläufig auch die En­ an sich selbst und an anderen?
steine, innen DDR: Sperrholzmöbel im Sech­ zu kaufen war zu teuer. Also sind sie rüber nach gagierten über sie sprechen. Als seien sie einfach Ich möchte gerne mehr gönnen können. Und die
ziger-Design, aber ohne jede Ironie. Das Rad Deutschland. »Die Deutschen verlassen die da, und man müsse halt lernen, wie man weg­ anderen sollen versuchen, mehr zu schlafen, damit
darf ich in der Garage parken. Und wo ist das Häuser, wir retten sie vor dem Verkommen.« schaut. Süditalien lässt grüßen. sie nicht ständig so gereizt sind.
Restaurant? Der Mann hinter der Rezeption Wie Dornröschen wird Vorpommern von den »Hier fehlt die politische Mitte«, sagt der
schaut mich entsetzt an. »Unsere Küche schließt Polen wachgeküsst. Ohne sie wäre die slawisch- Galerist Albers, der sich selbst als »Pionier« Was haben Sie 2017 Wichtiges gelernt?
um acht.« »Aber um acht setzt man sich doch germanische Prinzessin kaum noch am Leben. bezeichnet. Er ist nach der Wende mit seiner Zusammen mit Thomas Spitzer habe ich im Som­
gerade an den Tisch!«, entgegne ich. Er will den Als ich weiterziehe, lugt die Sonne schüch­ Frau aus Schleswig-Holstein hierhergezogen. mer in meinem Wohnzimmer eine Art Late-Night-
Witz nicht verstehen. Also bewege ich mich tern hinter den Wolken hervor. Mein Tagesziel In einem Raum seiner Galerie hängen Zeich­ Show gedreht. Zwar nur vier Folgen, aber wir haben
knurrenden Magens Richtung Bett. Ich hätte ist Torgelow, 19 Kilometer weiter nördlich. Der nungen des amerikanischen Malers Lyonel alles selber gemacht. Er den Schnitt und das Buch,
ja Kaffee im Zimmer, ruft er mir noch hinterher. Weg dahin führt über Viereck, einen kleinen Feininger. Ich frage nach dem Preis, Albers ich die Kamera und den Ton. Wir haben Nacht­
Morgens drehe ich als Erstes eine Runde Ort, der vor fünf Jahren als antifaschistisches schüttelt den Kopf: Feininger verkauft er nicht. schichten eingelegt und waren so müde, wie ich es
durch den Ostteil der Stadt, wo lange Reihen Widerstandsnest berühmt wurde. Damals bil­ Dem hat er in seiner Galerie »ein kleines­ vorher noch nie war, ich hatte sogar Nasenbluten
von Plattenbauten den Horizont zerschneiden. deten über zweitausend Leute eine Menschen­ Museum« gewidmet. und er Schüttelfrost, aber irgendwie sind wir daran
An einer Bushaltestelle sitzt eine stämmige Frau kette, um ein Pressefest der NPD zu verhindern. Auch der Fahrradweg nach Heringsdorf ist gewachsen.
mit einer großen Plastiktüte. »Hauen Se ab«, Von 4000 angekündigten Gästen traute sich nach dem Bauhaus-Künstler benannt, der in
raunt sie, als ich ihr näher komme. Ansonsten nicht mal ein Viertel zu kommen – und die den zwanziger Jahren viele Sommer auf Use­ Was war Ihr schönster Ort?
ist keine Seele zu sehen. hatten vorsichtshalber ihre Hakenkreuz-Tattoos dom verbracht hat. Darauf geht es im Sonnen­ Mein Bett. Das klingt zwar doof, aber mein Bett ist
Die Einwohnerzahl in Pasewalk ist von und die Runen auf ihren T-Shirts überklebt. schein weiter bis Heringsdorf, ans Meer. Auf – wissenschaftlich nachweisbar! – die schönsten drei
16 000 in Zeiten der Wende auf 10 000 gefal­ Einen der Organisatoren der Menschen­ der Terrasse des Strandhotels Ostseeblick er­ Quadratmeter im Universum.
len. Der Kreis Uecker-Randow ist einer der kette treffe ich am späten Nachmittag in einer zählt Uwe Wehrmann, dass sich für ihn hier
ärmsten in ganz Deutschland. Von der oben ein Kreis schließt. Und Ihr schönster Moment?
stolzen Geschichte der Stadt, die bis in Das Hotel gehörte seinen Groß­ Das Gesicht von meinem Freund, der zum ersten
Mittelalter zurückreicht, erzählen nur Ich bin gerührt, als die Buch- eltern, bis sie 1953 von der DDR Mal Jetski fährt. Eine Art manische Erlösung!
noch die Fachwerkhäuser in der In­ enteignet wurden und in den Westen
nenstadt und die nordische Back­ händlerin mir Eintopf anbietet. flohen. Nach der Wende bekam die Was war Ihre beste Tat?
steingotik der Marienkirche. Familie es zurück. Und Wehrmann, Die beste Tat ist oft der Stillstand. Also jedes Mal,
In dem langen rotbraun geklinker­ Was würde in Berlin passieren, der sein Leben lang in Nordrhein- wenn ich einen Werbevertrag ablehne oder einen
ten Gebäude der Caritas treffe ich
Britt Buss und ihre polnische Kollegin wenn ich einer Wildfremden von Westfalen gelebt hatte, baute den
verrotteten Kasten zu einem der
Deal, der mir viel Geld bringt, aber sich nicht gut
anfühlt, denk ich mir: Gut gemacht.
Laura Lenard. Sie bieten mir gleich
Kaffee und Kekse an. Buss ist ein biss­
meiner Angst erzählte, hungrig schönsten Häuser am Küstenstreifen
aus, mit vielen verglasten Winter­ Wie lautet Ihre Überschrift für das Jahr 2017?
chen nervös. Sie zupft an ihrem ge­
streiften T-Shirt herum, während sie
ins Bett zu müssen? gärten und einem Pool, von dem aus
man direkt auf die See schaut. Ihm
»Fuck, das war alles im selben Jahr?!«

von sich erzählt. Sie ist in Pasewalk kann keiner erzählen, es gebe hier Was war für Sie der spannendste Moment?
Fotos (Ausschn.): Georg Knoll/laif (l.); Sophie Stieger/13 Photo

geboren. Irgendwann ist sie abgehauen. Und Plattenbausiedlung in Torgelow, wo er ein Café keine Arbeit. »Ich suche ständig nach Auszu­ Im Oktober trat ich in Köln vor 14 000 Menschen
zurückgekommen. »Nachdem in den nuller gegründet hat: Harald Rinkers vom »Bündnis bildenden, nach Fachkräften.« Und was soll er auf und wusste bis kurz vorher nicht, ob ich viel­
Jahren alle weggingen, habe ich mir gesagt: Vorpommern, weltoffen, demokratisch, bunt«. sagen? »Wenn es die Ausländer nicht gäbe, leicht zusammenbrechen würde oder kotzen oder
Hier will ich nicht tot überm Zaun hängen.« Ich bekomme ein wunderbares Stück Streusel­ würde hier nichts mehr funktionieren, über­ weinen. Aber dann ist einfach gar nichts passiert,
Sie habe dann eine Zeit lang in Schleswig-­ kuchen, das eine Eritreerin gebacken hat. Am haupt gar nichts.« und es war okay.
Holstein gelebt und nach ihrer Rückkehr bei Tisch nebenan sitzt eine junge Syrerin mit Das Meer funkelt in blaugrauer Großar­
der Caritas angefangen. Für eine ausgebildete Kopftuch und lernt Deutsch mit einem der tigkeit, Möwen kreisen, ein Pärchen geht am Welche der Fragen, die Sie beschäftigen, ist auch
Krankenschwester war es nicht schwer, hier vielen Freiwilligen des Vereins. Vor der Tür Strand spazieren, Hand in Hand. Seine Oma, 2017 unbeantwortet geblieben?
einen Job zu bekommen. Sie lächelt, wirkt hören drei Syrer arabische Musik und rauchen. sagt Wehrmann, habe immer geweint, wenn Bin ich ein genügend guter Mensch?
überhaupt entspannter, fast fröhlich, als sie von Harald Rinkers, weißer Bart und ruhiger sie von Usedom sprach. So sehr hat sie das
ihrer Arbeit spricht, die ja so leicht auch wieder Blick, ist nach dem Mauerfall nach Torgelow alles hier vermisst. Was wünschen Sie Deutschland für 2018?
nicht ist. Buss kümmert sich um viele Leute gezogen. Er war Bundeswehrsoldat und sein Zunehmende Unabhängigkeit vom Braunkohle­
mit gebrochenen Biografien, Leute, die die ganzes Leben in der SPD aktiv. In den Platten­ Tonia Mastrobuoni, 46, ist Korrespondentin abbau, mehr Kuscheleinheiten für alle und eine
Wende einfach nicht verkraftet haben, dem bauten um das Café leben viele Deutschrussen, der italienischen Tageszeitung »La Repubblica« gute WM.
66 JAHRESRÜCKBLICK 2017 ENTDECKEN 4. DEZEMBER 2017 No 50

WAS MEIN LEBEN


REICHER MACHT

Ich fahre nach Hause.


Mit der Fähre! Nach
Norderney! Ich habe es
N Ich bin immer viel und gerne gereist,
aber noch nicht mit dem Fahrrad. Bis
2017.
Erst einmal bis Bornholm. Das Zelt habe
40 000-Einwohner-Stadt? Die Reak­
tion hat mich überwältigt. Ich wurde
akzeptiert – genau so, wie ich bin.
Verstellen muss ich mich fortan nicht
Am Ende meines Auslandssemesters
in Großbritannien besuchte ich in
London die Geburtstagsparade der
Queen, sah Ihre Majestät aus nächster
Jeden Morgen eine Geschichte auf mei-
nem Abreißkalender zu lesen. Da lässt
mich ein fremder Mensch einfach so an
seinem Leben teilhaben – mal näher,
ich im Norden auf einem Campingplatz mehr. Nähe huldvoll winken und schickte mal ferner, mal heiter, mal nachdenk-
geschafft. Habe Wohnung aufgestellt und von da mit dem Fahrrad ihr daraufhin Glückwünsche in den lich. Der abgerissene Zettel wandert da-
Matthäus Ruffa, Meran, Italien
und Job in Westfalen die Insel erfahren. Nach einer Woche mit Buckingham Palace. nach in die Schmierzettel-Schublade.
der Fähre aufs schwedische Festland. Als ich – nach insgesamt sechs Monaten So erfreue ich mich einige Tage später
hinter mir gelassen. Die Hügel um Hügel durch eine sehr schöne Der Stoffesel unseres vierjährigen Soh- – wieder zu Hause in Deutschland eintraf, beim Einkaufen noch einmal daran!
Insel, die ich als Urlaube­ Landschaft, leider wurde es immer kälter, nes. Dieser Esel ist auf unserem USA- passierte etwas, womit ich nie gerechnet
Kirstin Meng-Vormweg, Ahaus
sodass ich früher nach Helsingborg ge­ Trip nicht etwa verloren gegangen. hätte: Ich bekam einen Brief von der
rin lieben lernte, ist 2017 radelt bin, um nach Dänemark zu kom- Nein, weit gefehlt: Er hat in dem me- Queen! Diese – doch recht persönliche
men. Da war das Wetter wieder schön. xikanischen Restaurant in Colorado, in – Antwort auf mein Glückwunschschrei- Ende Februar, Herzstillstand während
mein Zuhause geworden. Am Fjord entlang, dann über Kopenha- das wir ihn mitgenommen hatten, eine ben hängt jetzt im Goldrahmen über einer Operation. 30 Sekunden lang
Ein Sprung ins Unge- gen, Fehmarn, den Ochsenweg lang bis nette Stoffeselin kennengelernt und ist meinem Schreibtisch und bringt ein klein Herzmassage, und 30 Minuten später
Hamburg und später an der Weser ent- mit ihr durchgebrannt! Da sitzen sie wenig royalen Glanz in meine Hütte. rufe ich meine Tochter an.
wisse. Aber ich bin ange- lang nach Hause. nun mit Sombreros auf dem Kopf und Was mein Leben reicher macht? Leben!
Lucas Brüggemann, Barnstorf, ­
kommen und glücklicher Die schönsten Landschaften entdeckte planen den Ausbruch ins wahre Mexi-
Niedersachsen Roberto Kalmar,
ich, wenn ich die Karte falsch gelesen ko. Ob es sich wirklich so zutrug oder
denn je! Viele Grüße von hatte. In diesem Jahr 2017 habe ich nicht, weiß nur der Esel selbst. Unser Oberkirchbach, Österreich

der Fähre sendet meinen 70. Geburtstag gefeiert. Und ich Leben aber macht die Vorstellung rei- Seit vier Monaten lebe
werde noch 20 Jahre brauchen, um mit cher, dass lieb gewonnene Dinge nie Die Dackeldame »Frau Butz«, die uns
Julia Christiana Oertelt, Norderney dem Fahrrad all das zu erreichen, was ich verloren sind, sondern nur eigene ich in einer Wohnung, in in diesem Frühjahr von einer Patientin
noch sehen möchte. Wege gehen. der es keinen Fernseher, anvertraut wurde und die seither unser
Jahrelang habe ich (besonders an sonni-
gen Tagen) aus meiner Wohnung im
Vorderhaus neidisch in den Hinterhof
geblickt: auf das Häuschen mit der Ter-
Rolf Lüker, Preußisch Oldendorf, ­
Nordrhein-Westfalen
Franziska Torma, Röhrmoos, Bayern

Das Lächeln meines im März 2007


w Computer oder andere
kommunikationstechnische
Leben reicher und die das verstorbene
Frauchen unvergessen macht.
Beate Lamminger, Kolbermoor, Bayern
rasse und dem kleinen Gärtchen. verstorbenen Großvaters nun im Ge- Geräte gibt, und genieße
Seit diesem Sommer wohne ich endlich sicht meines im März 2017 geborenen Als Kind hatte ich Klavierunterricht.
selbst dort, sitze auf der Bank vor der Sohnes wiederzuentdecken. (Und die die Ruhe. So richtig gut war ich nicht. Noten ab-
Haustür und beobachte Vögel, Eich- rötlichen Haare scheint er auch von Der Luxus, das Rauschen spielen für den Hausgebrauch. Vor
hörnchen und Schmetterlinge, schneide ihm geerbt zu haben.) zwei Jahren war es mir dann ernst. Ich
gelegentlich eine Rose für die Vase, lese des Windes, das Zwit- habe mir einen Flügel gekauft und
Eva Wecklein, Bergen, Rheinland-Pfalz
die ZEIT in der Sonne – und das alles schern der Vögel sowie richtigen Unterricht genommen. Und
mitten in Dortmund. dann: am 29. Oktober 2017 mein ers-
Meine Silberhochzeit, die ich mit mei- das Plätschern der Regen- tes öffentliches Konzert. Mit 60 Jah-
Susanne Bartsch, Dortmund
nem Mann im Bett verbrachte (mit tropfen zu hören und die ren! Und zitternden Knien!
Lungenentzündung und Bronchitis!). Es war ein gutes Konzert! Das Schönste
Diese Zeilen schickte mir mein Mann
Amina Fritz, Karlsruhe
Farbspiele der Jahreszeiten dabei war das kleine Mädchen, das mir
vor wenigen Tagen aus der Rehaklinik: zuhörte und meinte: »Du kannst aber
sowie des Himmel zu be- gut Klavier spielen.«
V ERLO CKUN­G
obachten, ist unbezahlbar!
UNT ER D O R NI GES ­
STR AUCHGE ÄST Herr Draghi Elfriede Tiefenbacher, Wien
Christina Frank,
Toscolano Maderno, Italien

und die Börse.


GE KULLE RT
DI E KU GELI GEN Z IE RÄPF E L
GE L B WI E Q UIT TEN Vor sieben Jahren starb unser Sohn
Im Urlaub beim Trampen auf ’nem
SI ND SI E
AUFGE P LUSTE RT WI E KÜKEN
bei einem Unfall während einer Reise
zu Ägyptens Pyramiden. Es waren
Günter Kirchhain, Leverkusen
Supermarktdach zu pennen, von Moskitos
V ERLO CKEND
schwierige Jahre.
2017 fassten wir den Entschluss, wie-
Jemanden getroffen zu haben, der mir,
immer wenn ich meine, vor Glück
zerstochen zu werden und Wochen später
WI E D IE UNE RLAUBT E
F RUCH T
der eine Party zu feiern: für all die
vielen Freunde, Weggefährten und
sterben zu müssen, sanft ins Ohr­
flüstert: »Das ist erst der Anfang!«
keine Malaria zu haben. Life is good.
MAN CHE Tröster. Und siehe da: Wir konnten Mark Gades, Dresden
Ingrid Kipp, Augsburg
B LUT ROT GESPRENKE LT tanzen, ohne zu weinen. Ja, wir haben
gelacht, wir haben Glück gespürt,
DE R H ERB ST F E IE RT
DAS FAULEN
und wir sind dankbar, dass auch diese Die Rose, meine neu An einem der letzten heißen Tage des Das alte Bauernhaus, in dem wir seit
Seite des Lebens wieder zu uns gehört. Sommers spricht mich im Freibad eine mittlerweile 40 Jahren wohnen, ist ei-
DAS Z ERFALLEN gepflanzte Englische Rose. junge Frau an: »Sie waren mit meiner gentlich zu groß und unbequem für
Klaus Rüggeberg, Köln
U ND V ERGE HEN Sie blühte 2017 zum Mutter in einer Klasse«, sagt sie und uns. (Mein Mann ist 80 Jahre alt, und
dass ihre Mutter sich nicht traue, mich ich bin auch nicht viel jünger.) Wir
WI E EIN E GEBURT Die Zeit am Lager ersten Mal. anzusprechen. Verdattert schaue ich sie haben uns vieles angesehen, aber nichts
ABE R
Morgens glänzte auf der an und beginne tatsächlich in ihrem gefiel uns so, dass wir unsere »Hütte«
meiner bettlägrigen Gesicht die Züge einer alten Schul- dafür hätten aufgeben mögen.
O HN E KIN D
Mutter. Gemeinsam Knospe noch der Tau der freundin zu erkennen. Im gleichen Seit August bauen wir um – und zwar
Wenn ich sie lese, erinnere ich mich, wa- Augenblick stößt diese zu uns. Ich so, dass wir notfalls im Untergeschoss
rum ich diesen Mann vor mehr als haben wir an früher Nacht. Mittags öffnete sie selbst sei ihr zunächst gar nicht aufge- unseres Hauses leben können. Das be-
35 Jahren heiratete, nachdem ich ihn am gedacht, und gemeinsam sich zur vollen Blüte. Und fallen, meint sie, aber meine Tochter, deutet zwar noch bis Weihnachten
ersten Tag im Studium kennengelernt die am Kiosk vor ihr ein Eis gekauft Dreck und Krach, aber bei alledem
hatte. Die Monate des Mitleidens und wurden wir reicher an ihr süßer Duft verzauberte hatte, habe sie an mich erinnert! fühlen wir uns so jung und glücklich
der Hilflosigkeit können eben doch nicht Erinnerungen an eine den ganzen Tag. Gut, dass wir unsere Töchter haben, wie lange nicht.
den emotionalen Reichtum einer jahr- sonst wäre es wohl nie zu diesem Wie-
verloren geglaubte Zeit. Renate und Walter Jennrich, Hamburg

V
zehntelangen Beziehung zerstören. Karin Klopfer, Dürnau dersehen gekommen.
Hildegard Wittersheim, Wuppertal Holger-Werner Mertens, Baden-Baden Sandra Vetter, Moos am Bodensee
Wir hörten von einem jungen Ameri- Die Entscheidung, mich
kaner, der seine Koffer für Deutschland
schon gepackt hatte, als die Gastfamilie 2017 wird für mich von meiner Drogensucht
Dass ich mit Mitte 50 einen Heiratsantrag kurzfristig absagen musste. Kurze Ab-
stimmung im Familienrat, und nun ist unvergesslich bleiben, zu befreien. Dadurch darf
bekam, nach 15 Jahren Beziehung, total er für eine Weile bei uns zu Hause. Wir
staunen, was er alles kann und weiß.
denn in diesem Jahr habe ich jetzt ein nüchternes,
zwar manchmal anstren-
überraschend, auf einer Parkbank in London. Freuen uns über das positive Amerika-
bild, das er uns vermittelt – ganz gegen
ich meine langjährige
gendes, aber dennoch
Heike Hagemeister, Heroldsbach, Bayern den momentanen Trend. Und wie
Flugangst überwunden.
durch Zufall hat sich auch unser Äl- Zweimal bin ich mit bunteres, ehrlicheres und

J
tester nun zum Schüleraustausch ange-
der Hilfe meines besten tieferes Leben führen!
Nachdem ich 2015 eine lange un- Nach vielen Jahren mit Kinderwunsch meldet ...
Barbara König, Regensburg
glückliche Beziehung beendet habe nun meine Tochter in meinem Bauch
Mireille Funke, Stuttgart
Freundes von der Erde
und 2016 einem unerfüllten kom­ strampeln zu spüren.
plizierten Singleleben gewidmet habe, abgehoben und zweimal In diesem Jahr ist der Mann gestorben,
Jana Schütte, Hamburg
bin ich im Januar 2017 mit dem Mann Nach über 30 Jahren bin ich zurück in sicher wieder gelandet. von dem ich mich vor 25 Jahren habe
meines Lebens zusammengekommen. meine Heimatstadt Lübeck gezogen, und scheiden lassen. Er hat mir – völlig un-
Wir sind nach einem halben Jahr in Der Brief war computergeschrieben, wenn ich nachts aufwache und von der 2017 hat sich mein erwartet – so viel Geld hinterlassen,
eine gemeinsame Wohnung gezogen. die Botschaft deftig. »Ich bin schwul.« Altstadt das Läuten der Kirchenglocken dass ich meine Freundinnen zu einer
Es gibt Momente, da weiß man ein- Angst hatte ich. Wie würden meine herüberschallen höre, schlafe ich mit
Horizont im wahrsten Kreuzfahrt einladen kann!
fach, dass alles richtig ist. Eltern reagieren? Emanzipation und einem Lächeln wieder ein. Sinne des Wortes erweitert!
Weltoffenheit? Im Jahr 2017, prinzi- Christa Goldberg,
Katharina Bill, Ulm piell gut und schön. Aber in einer Ute Roloff, Lübeck Alina Vahrenbrink, Paderborn Flintbek, Schleswig-Holstein

Machen Sie mit!


Schreiben Sie uns, was Ihr Leben reicher macht, teilen Sie Ihre »Wortschätze« und »Zeitsprünge« mit uns.
Beiträge bitte an leser@zeit.de oder an
Redaktion DIE ZEIT, »Z-Leserzeit«, 20079 Hamburg
CHANCEN
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1 Kira, Kanada 2 Camilo, Kolumbien 3 Micaela, Argentinien 4 Oda, Norwegen


5 Hannah, Deutschland 6 Gergö, Ungarn 7 Aixa, Spanien 8 Lamin, Gambia 9 Malioliseh, Nigeria
10 Belinda, Südafrika 11 Yasmeen, Saudi-Arabien 12 Jennifer, Dubai
13 Basit, Indien 14 Meck, Kambodscha 15 Umi, Japan 16 Calista, Indonesien 17 Luka, Australien

Die Welt der 17-Jährigen


Siebzehn Geschichten aus fünf Kontinenten: Die Jungen kommen zu Wort. Sie alle wurden im Jahr 2000 geboren.
Was haben sie über ihr vergangenes Jahr zu sagen?  VON MA XIMILIAN PROBST

G
leich, wie schön das Leben ist aufs Erwachsensein. Unbedarftheit und Ernst, selbstverständlich mit dem Internet auf und da- große Bedeutung der Bildung hinaus, die sich aus
oder wie schwer: Meist fließt es, Albernheit und Anflüge von Weisheit, leere Gesten mit in einer Welt, die so global ist wie nie zuvor. allen Antworten herauslesen lässt. Da ist Gergö
Alltag genannt, dahin. Daraus und Verantwortung wechseln einander ab. So global, wie diese Jugend ist, so global wurde aus Ungarn, der sich freut, dass sein depressiver
ragen Momente hervor, in denen Die Chancen-Redaktion wollte wissen, wie sie befragt. Siebzehn 17-Jährige aus 17 Ländern. Freund eine Freundin gefunden hat. Oder Aixa
sich das Leben verdichtet, weil sie der Blick dieser 17-Jährigen auf das vergangene Tatsächlich fallen zuerst die Unterschiede in den aus Spanien, die vergessen will, dass sich ihre
frei sind von jener Zweideutigkeit, die dem Alltag Jahr ist. Was haben sie über das Leben erfahren, Antworten auf. Einer erzählt, wie er mit dem Eltern getrennt haben. Gemeinsam ist ihnen, dass
innewohnt. Situationen, in denen sich klärt, was in den besonderen Momenten? Schließlich sind Wagen im Sand stecken bleibt und sich dafür ein verletzliches Individuum spricht, eines, das
das eigene Leben ist und wie es sein könnte. sie zugleich der erste Jahrgang einer Ge­ne­ra­ geniert; ein anderer fürchtet, auf dem Schulweg an die Notwendigkeit gegenseitiger Hilfe und an
Das 17. Lebensjahr ragt ebenso hinaus aus dem tion, die nach der Jahrtausendwende geboren sein Leben zu verlieren. die Liebe glaubt und weiß, dass nichts und nie-
Fluss der Lebenszeit. In dieser Zeit verdichten sich wurde. Es kommt eine Jugend zu Wort, von der Aber darunter ahnt man eine geteilte Ge- mand auf dieser Welt ohne sie gedeihen kann.
die Erfahrungen der Kindheit und der Ausblick man noch wenig weiß, außer: Sie wächst ganz schichte. Dieses Gemeinsame geht weit über die Viel mehr muss man auch gar nicht wissen.

Norwegen Nigeria

Oda lebt in Drammen in der Nähe von Oslo Malioliseh lebt in Lagos
Fun-Fact: Norwegen ist das Land mit den glücklichsten Menschen. Das hat der »World Happiness Fun-Fact: Mit knapp 190 Millionen Einwohnern ist der Staat an der afrikanischen
Report« ermittelt. Danach kommen die Dänen, die Isländer und die Schweizer Westküste das bevölkerungsreichste Land des Kontinents

Was ich 2017 gelernt habe 2017 sehr oft mit meiner Mutter gestritten, wir sind fast Was ich 2017 gelernt habe Unterhalt zu zahlen. Aber wenn ich was brauche,
Im Sommer ist einer meiner Freunde gestorben, er hat jeden Tag aneinandergeraten. Häufig ging es ums Geld Im letzten Jahr habe ich gelernt, wie ich besseren gibt er es mir. Wir haben ein gutes Verhältnis.
auf einer Party Drogen genommen und ist ins Koma oder um den Haushalt. Meine Mutter findet, ich wür- Kuchen backe. Vorher waren die meistens trocken
Illustrationen: Bene Rohlmann für DIE ZEIT; Fotos: privat

gefallen. Und einer meiner Bekannten hat sich umge- de zu wenig mithelfen. Dabei mache ich viel: Ich räume oder verbrannt. Jetzt habe ich oft geübt, und sie Was ich vergessen will
bracht. In den vergangenen Jahren sind bereits meh­rere die Spülmaschine aus, kümmere mich um die Wäsche, schmecken besser. Außerdem habe ich mich viel mit Ich gehe zur Uni, und dort sagte man mir eines Tages,
Menschen, die mir nahestanden, an Krebs gestorben. bringe den Müll raus. Und meine Tage sind sehr voll, Gartenarbeit beschäftigt. Der Garten meiner Mama ich solle meine langen Haare abschneiden. Es ist in
Es war schwer, mit all dem klarzukommen. Ich habe ich gehe in eine Montessori-Schule und mache in einem sah langweilig aus, und ich wollte ihr eine Freude Nigeria unter Männern nicht üblich, lange Haare zu
plötzlich verstanden, wie schnell alles vorbei sein kann. Jahr meinen Abschluss. Nebenbei arbeite ich in einer machen. Also habe ich verschiedene Dinge einge- tragen. Und wir jungen Leute hören auf die Älteren,
Und auch wenn ich selbst keine Drogen nehmen wür- Cafeteria und in einem Klamottenladen und treibe pflanzt und mich mit der Bodentemperatur, der das sind für uns Respektspersonen. Also ließ ich die
de, weiß ich jetzt, wie gefährlich Drogen wirklich sind. außerdem viel Sport. Mein kleiner Bruder ist zwölf und Pflanzenzusammensetzung und den Blütezeiten be- Haare abschneiden. Das war sehr schlimm für mich.
Der Verlust all dieser Menschen hat auch dazu geführt, muss deutlich weniger mithelfen als ich in seinem Alter. schäftigt. Dazu habe ich einmal einen Gärtner be- Meine Haare haben mir Selbstbewusstsein gegeben,
dass mir klar wurde, wie wertvoll das Leben ist. Ich habe Darüber war ich oft sehr wütend. Diese schlimmen fragt und ganz oft Google. Dann habe ich noch ge- und es war, als müsste ich einen Teil von mir ab-
gelernt, dass man jeden Tag genießen sollte. Streitereien und die schlechte Stimmung zu Hause lernt, allein zu sein. Meine Mutter ist den ganzen schneiden. Ich will mir nicht noch einmal vorschrei-
möchte ich gern vergessen. Ich versuche inzwischen, Tag auf der Arbeit und mein Bruder in der Schule. ben lassen müssen, so etwas zu tun. Und ich will ver-
Was ich vergessen will meine Mutter zu verstehen, ihr häufiger zuzustimmen, Mein Vater lebt getrennt von uns. In Nigeria ist der gessen, wie ich ohne die Haare ausgesehen habe.
Ich habe mich in den letzten Jahren und auch Anfang mich nicht mehr so schnell aufzuregen. Vater übrigens gesetzlich nicht dazu verpflichtet, Zum Glück sind sie jetzt wieder nachgewachsen.
68 JAHRESRÜCKBLICK 2017 4. DEZEMBER 2017 No 50

Australien Spanien

Luka wohnt in Sydney


Fun-Fact: Nirgendwo leben mehr Kamele als in Australien. Im 19. Jahrhundert für den Bahn-
bau eingeführt, trampeln heute zwischen 300 000 und einer Million Tiere durch das Land
Aixa wohnt in Figueras, einer kleinen Stadt an der Grenze zu Frankreich
Fun-Fact: Sieben offizielle Sprachen gibt es in Spanien. Neben der Landessprache sind
das Katalanisch, Baskisch, Galizisch, Aragonesisch, Aranesisch und Asturisch
Kolumbien
Was ich 2017 gelernt habe wie viel Arbeit hinter einem einzigen Was ich 2017 gelernt habe Was ich vergessen will
Seit ich 13 bin, spiele ich mit meinen Album steht. Dinge zu akzeptieren, die mir nicht Dass meine Eltern sich getrennt haben
Freunden in einer Band, sie heißt The passen. Ich bin dieses Jahr aus einem und scheiden lassen.
Coots. Wir machen alternativen Rock. In Was ich vergessen will kleinen Dorf in die Stadt umgezogen.
diesem Jahr haben wir zum ersten Mal Neulich bin ich mit einer Freundin zum Am Anfang gefiel es mir nicht. Jetzt
selbst ein Album aufgenommen: haben Strand gefahren, im Auto – und im Sand will ich hier nicht mehr weg.
Songs geschrieben, ein Studio gemietet, stecken geblieben. Ich musste einen Ab-
dann die Instrumente und Stimmen schleppwagen rufen, es war brenzlig, weil
einzeln aufgenommen und gemischt. Es die Flut kam. Vorbeilaufende Passanten
hat ein paar Wochenenden gedauert, und haben Fotos gemacht, und ich habe mich Camilo lebt in Bogotá
wir mussten alle Entscheidungen gemein- schrecklich gefühlt. Ich wünschte, ich Fun-Fact: Aracataca, Geburtsort von Gabriel García Márquez, sollte Macondo heißen, wie die
sam diskutieren. Es hat mich überrascht, wäre nicht so übermütig gewesen. Stadt aus »Hundert Jahre Einsamkeit«. Das Referendum scheiterte an geringer Wahlbeteiligung

Was ich 2017 gelernt habe Was ich vergessen will


Seit dem vergangenen Jahr engagiere ich Ich wünschte, ich könnte die Gewalt auf

Südafrika
mich politisch. Ich will den Friedenspro- der ganzen Welt vergessen. Den Krieg in
zess hier mitgestalten und organisiere Syrien. Die Schießerei in Las Vegas. Ich

Indien
Konferenzen, schreibe ein Blog, plane ein bin in einem Klima der Gewalt aufge-
politisches Magazin. Dieses Jahr sind so wachsen – meine Familie hatte immer
viele Menschen auf die Straße gegangen, Angst, dass einer von uns von den Farc-
um ihre Rechte zu verteidigen, das fand Rebellen gekidnappt wird. Dieser Druck
ich großartig! Nicht nur in Kolumbien, ist jetzt weg, auch wenn ich für meinen
auch in den USA gegen Trump. Ich habe Aktivismus von militanten Gruppen be-
gelernt, dass Demokratie nur durch Par- droht werde. Aber ich weiß, wie fragil
tizipation entsteht. der Frieden ist.

Belinda wohnt in Elsburg bei Johannesburg


Fun-Fact: Südafrika hat drei Hauptstädte. In Pretoria, das formal als Hauptstadt gilt, sitzt die
Regierung, in Kapstadt das Parlament und in Bloemfontein das Oberste Berufungsgericht Basit wohnt in Srinagar in der Region Kaschmir
Japan
Fun-Fact: Das höchstgelegene Kricket-Spielfeld der Welt befindet sich im Norden
Indiens. Genauer gesagt, an der Bergstation Chail in 2250 Meter Höhe
Was ich 2017 gelernt habe ich gedüngt, die Bäume bewässert und
Bei einem Schulcamp für die elften neue Blumen gepflanzt. Es war ein
Illustrationen: Bene Rohlmann für DIE ZEIT; Fotos: privat

Klassen habe ich gelernt, wie jeder Ein- schönes Gefühl, etwas Gutes zu tun. Was ich 2017 gelernt habe als Auszeichnung für den besten Spieler
zelne mit kleinen Schritten zu einer Hart zu arbeiten. Ich lebe in Srinagar, etwa der Welt bekommen. Dieser Erfolg zeigt
besseren Welt beitragen kann. Zum Was ich vergessen will 120 Kilometer entfernt von der Grenze zu mir, dass sich harte Arbeit am Ende aus-
Beispiel macht es schon einen Unter- Ich bereue, dass ich so viel Zeit mit Pakistan. Meinen Tag verbringe ich mit zahlt. Das habe ich von ihm gelernt.
schied, wenn man jemandem hilft, Schule, Hausaufgaben, Lernen ver- Unterricht, Fußball und Musik, am liebs-
eine schwere Tasche zu tragen. Als ich bracht habe. Außerdem möchte ich ten von Justin Bieber, Wiz Khalifa und Was ich vergessen will
vom Camp zurückgekommen bin, vergessen, dass ich Mitschüler gemobbt Arijit Singh. In Kaschmir sind wir daran Ich interessiere mich für Computer, des-
habe ich unsere Nachbarn deshalb bei habe. Als sie bei einer Prüfung schlecht gewöhnt, dass plötzlich etwas passiert und halb habe ich mit einem IT-Studium be- Umi kommt aus Kyoto
der Gartenarbeit unterstützt. Sie sind waren, habe ich ihnen gesagt, dass sie eine Ausgangssperre verhängt wird. Dann gonnen, aber mit der Mathematik habe Fun-Fact: 17-Jährige sind selten im ältesten Land der Welt. Daran wird sich auch nichts
schon alt und können das nicht mehr blöd sind. Ich habe sie geärgert, weil es sitzen wir oft ewig zu Hause rum. Dem ich echt Probleme. Direkt nach den Vor- ändern, denn etwa 50 Prozent der 18- bis 34-jährigen Japaner haben noch nie Sex gehabt
so gut. In Südafrika ist es sehr heiß, es mir Spaß gemacht hat, obwohl sie mir Konflikt zwischen Indien und Pakistan lesungen eile ich also in die Mathe-Tuto-
waren über 30 Grad, und der Boden nichts getan haben. Das war falsch, ich kann man hier einfach nie wirklich ent- rien. Oft muss mein Col­lege aber auch
war trocken und hart. Deswegen habe möchte so etwas nicht mehr machen. kommen. Wenn die Lage ruhig ist, spiele spontan schließen, weil eine Ausgangs- Was ich 2017 gelernt habe Was ich vergessen will
ich Fußball. Ich habe schon als kleiner sperren verhängt wurde. Da darf man Ich war in diesem Februar und März Dass ich heulend meine Mutter in Ja-
Junge damit angefangen, seit zwei Jahren nicht vor die Tür, und wer trotzdem zum Austausch in Neuseeland. Es war pan angerufen habe, weil ich mich
spiele ich als Verteidiger für den­ rausgeht, muss extrem vorsichtig sein. sehr inspirierend, in einer völlig ande- durch mein schlechtes Englisch nicht
Humhama FC, einen Verein bei mir in Ständig sind Steineschmeißer unterwegs, ren Kultur zu leben. Ich habe dort ge- verständigen konnte und dadurch eine
der Nähe. Wenn es schneit, mache ich zu die den Konflikt mit der Polizei suchen. lernt, wie wichtig es ist, aktiv zu han- Auseinandersetzung mit der Gastfami-
Hause am Computer mit Fifa und Pro Was, wenn wir da etwas abbekommen? deln. Um in der Schule Freunde zu lie hatte. Hinterher habe ich bereut,
Evolution Soccer weiter. Mein Lieblings- Das macht unser Leben echt schwierig. finden oder in der Gastfamilie seine dass ich nicht zuvor schon genug Eng-
spieler und Vorbild ist Cristiano Ronaldo. Die ständigen Konflikte und den Stress Meinung zu sagen, musst du dich mel- lisch gelernt hatte und dass ich meiner
Er hat ja gerade wieder den Goldenen Ball am Col­lege würde ich gern vergessen. den und behaupten. Mutter Sorgen bereitet habe.

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4. DEZEMBER 2017 No 50 CHANCEN 69

Deutschland Ungarn

Kambodscha
Hannah wohnt in Schöppingen in Nordrhein-Westfalen Gergö lebt in Miskolc, der viertgrößten Stadt Ungarns
Fun-Fact: Laut den Beratern von Henley & Partners ist der deutsche Reisepass der Fun-Fact: Die Schachspielerin Judit Polgár wurde 1976 in Budapest geboren. Sie gilt als
wertvollste der Welt. Mit keinem anderen lässt sich visafrei in 176 Länder reisen spielstärkste Frau in der Geschichte des Schachs. Im Jahr 2014 beendete sie ihre Karriere

Was ich 2017 gelernt habe mir auch geholfen, Bewerbungen zu Was ich 2017 gelernt habe im Leben einen anderen überrennen, nur
Ich habe gemerkt, wie schwer es ist, sich schreiben. 15 Stück habe ich inzwischen Ich gehe auf ein calvinistisches Gym­na­ um nach vorne zu kommen. Besonders
für einen Beruf zu entscheiden. Ich ­stehe abgeschickt, gestern hatte ich ein Vor­ sium. Neben logischen Fächern, Chemie weil ich noch zwei jüngere Geschwister
kurz vor dem Abitur, und zum ersten stellungsgespräch für eine Ausbildung und Mathematik, liebe ich Gedichte. Ich habe, für die ich ein Vorbild bin. Dass ich
Mal muss ich mich ernsthaft mit der zur Industriekauffrau. Meck geht in Phnom Penh in die zwölfte Klasse einer Highschool schreibe selbst welche. In Gedichten kann mich daran halte, liegt auch am Gymna­
Frage beschäftigen, was ich werden will. Fun-Fact: Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh zählt 1,5 Millionen Einwohner man wunderbar philosophieren. Jeden Tag sium. Dort wohne ich in einem Kolleg
Plötzlich ist mir klar geworden, dass jede Was ich vergessen will – und 1,3 Millionen Mopeds schreibe ich auch ein, zwei Seiten meines neben der Schule, mit fünf anderen Schü­
Ärztin, jede Verkäuferin und jeder Brief­ Misserfolge in der Schule. Bei jeder Romans, an dem ich seit sechs Jahren ar­ lern, in einem Zimmer. Wir helfen uns
träger auch einmal vor dieser Frage Klausur denke ich, das zählt jetzt alles beite. Darin beschäftige ich mit Fragen gegenseitig. Da lernt man, sich anzupas­
stand. Mir fällt es schwer, herauszufin­ fürs Abi. Und dann mache ich mir Sor­ Was ich 2017 gelernt habe Was ich vergessen will wie der, was den Menschen vom Tier oder sen. Mich hat das Kolleg zu einem sozia­
den, was zu mir passt. Die Entscheidung gen. Vor allem, als ich in Englisch und in Ich bin endlich gut in Chemie und Bio­ Ich habe mich viel gestritten. Manchmal von einem Computerprogramm unter­ leren Menschen gemacht.
wird mein ganzes Leben prägen. Meine meinem Leistungskurs Physik schlechter logie. Ich habe angefangen, vernünftig zu mit meiner Freundin, aber vor allem mit scheidet. Ich möchte später eine Arbeit
Eltern und meine große Schwester un­ wurde, habe ich Angst bekommen. Da­ lernen und dem Lehrer zuzuhören, um meiner Tante, die mich ständig beschul­ haben, neben der ich zum Schreiben kom­ Was ich vergessen will
terstützen mich sehr. Sie sagen, ich kön­ bei weiß ich ja, dass ich das besser kann, dieses Jahr den Abschluss zu schaffen. digt, irgendetwas falsch zu machen. me. Für Politik interessiere ich mich nicht. Mein schönstes Erlebnis im letzten Jahr
ne gut mit Menschen umgehen. Ich und hoffe, dass ich es schaffe, während Sie ruft in den Menschen heftige Gefühle war, dass ein depressiver Freund von mir
finde, das stimmt, hätte das selbst aber des Abis nicht daran zu denken, dass es und niedere Instinkte hervor. Dem will ein Mädchen fand. Sein Gesicht wurde
nie so sagen können. Meine Mutter hat schiefgehen könnte. ich mich nicht aussetzen. Trotzdem ­glaube runder, er war nicht mehr so blass und
ich, dass die Menschen das Gute wollen machte wieder Witze, während er früher

Saudi-Arabien und meist irgendwann merken, dass sie


nur glücklich werden können, wenn sie
im Interesse aller handeln. Ich werde nie
nur in der Ecke saß und auf seinem Tele­
fon herumdrückte. Dank dieses Mäd­
chens bekam ich meinen Freund zurück.

Indonesien
Kanada

Yasmeen lebt in Riad


Fun-Fact: Ab nächstem Jahr dürfen Frauen auch in Saudi-Arabien Auto fahren.
Das Königreich war das letzte Land der Welt, das Frauen dieses Recht vorenthielt
Calista ist Absolventin der Staatlichen Oberschule in Semarang
Fun-Fact: Die größte muslimische Nation ist nicht der Iran oder Saudi-Arabien – ­
sondern Indonesien. Weiterer Superlativ: Das Land verteilt sich auf über 17 500 Inseln Was ich 2017 gelernt habe mir klar, wie privilegiert ich lebe. Ich
Ich habe mich selbst kennengelernt. Ich möchte die Gesellschaft aktiv mitgestal­
nahm im Sommer an einem Ferienkurs ten. Gerade als Frau. Nach der Schule Kira besucht das United World College auf Vancouver Island in der Nähe von Victoria
Was ich 2017 gelernt habe meine Freunde würde ich vermissen. der Harvard-Universität teil. In diesem will ich in New York Wirtschaft studie­ Fun-Fact: Kanada hat mit über 200 000 Kilometern nicht nur die längste Küstenlinie
Ich wollte nach dem Schulabschluss Aber das Wetter und die Umweltver­ Umfeld lernte ich Menschen kennen, die ren, unabhängig sein und Verantwor­ der Welt, sondern mit der Yonge Street auch die mit 2000 Kilometern längste Straße
meine Zeit bis zum Studium nutzen schmutzung würden mir nicht fehlen. mich so akzeptierten, wie ich bin. Ich tung für mich übernehmen.
und habe den Kampfsport Muay Thai fühle mich dadurch gefestigter als zuvor.
und die Sprache Deutsch gelernt. Auch Was ich vergessen will In meinem alten Freundeskreis zu Hause Was ich vergessen will Was ich 2017 gelernt habe Was ich vergessen will
weil ich bald weiter lernen will: Ich Es gibt nichts, was ich wieder vergessen versuchte ich mich anzupassen. Mir ist Die Menschen, die mir nicht guttun. Ich habe in diesem Jahr gelernt, nach­ Als ich mich entschied, an das United
würde­gerne Medizintechnik studieren, möchte, ich will alle meine Erinnerun­ auch bewusst geworden, dass es mich Freunde, mit denen ich aufgewachsen bin, sichtiger mit mir selbst zu sein. Ich bin im World College zu gehen, haben viele
in Deutschland. Sicher, das Essen und gen behalten. glücklich macht, anderen zu helfen. Je­ die aber nicht damit klarkamen, dass ich Sommer auf ein Internat gewechselt, das Leute skeptisch reagiert und versucht,
mand sagte mir mal: »Wenn du nieder­ mich veränderte. Als sie wahrnahmen, United World College. Es ist eine beson­ mich davon abzuhalten. Dabei hätte ich
geschlagen bist, überlege dir drei selbst­ dass ich eigene Ideen entwickele, gaben dere Schule, an der Schüler aus der ganzen Ermutigung gebraucht. Ich habe mich
lose Handlungen, und seien sie noch so sie mir das Gefühl, dass mit mir etwas Welt für zwei Jahre zusammenleben. An zwar durchgesetzt gegen die Zweifel, aber
klein.« Den Satz habe ich verinnerlicht. nicht stimmt. Sie sprachen schlecht über meiner alten Schule war alles etwas un­ die Stimmen, die sagen: »Du schaffst das

Argentinien Als wir dieses Jahr einen Klassenausflug


auf die Philippinen machten, um dort
zu helfen, ein Waisenhaus instand zu
mich, wollten mir den Mund verbieten.
Ihr Verhalten tat mir weh. Aber ich spür­
te, dass ich das Richtige tat. Und so akzep­
komplizierter. Jetzt gibt es jeden Tag tau­
send Aktivitäten, der Stundenplan ist sehr
anspruchsvoll. Ich versuche, gelassen an­
nicht, du bist keine von denen«, höre ich
immer noch. Diese Verunsicherung w ­ ürde
ich gerne vergessen, weil ich ja eigentlich
setzen, und ich die Armut sah, wurde tierte ich den Verlust ihrer Freundschaft. zunehmen, was auf mich zukommt. weiß: Klar kann ich das hier schaffen.

Gambia Dubai
Micaela lebt in Buenos Aires und besucht dort die Deutsche Schule
Fun-Fact: Che Guevara war, anders als viele vermuten, Argentinier und nicht Kubaner.
Geboren wurde er 1928 in Rosario, der Heimatstadt von Fußballstar Lionel Messi

Was ich 2017 gelernt habe sehr verschlossen sind. Ich habe gesehen:
Das Jahr war sehr lang. Ich habe viel zu Du musst sie ansprechen, sonst redet
viele Sachen gemacht und viel zu wenig keiner mit dir! Ich habe gelernt, das­
geschlafen. Yoga, Tanzen, viermal in der Fremde zu überwinden. Und heute denke Lamin (Name geändert) lebt in Brikama im Westen Gambias Jennifer kommt aus der Schweiz und lebt seit zwei Jahren in Dubai
Woche Sport, daneben die Schule, und ich, dass ich wirklich viel offener und Fun-Fact: Gambia ist der kleinste Staat des afrikanischen Kontinents. Bis auf einen Fun-Fact: Küssen in der Öffentlichkeit ist in Dubai streng verboten – und nicht nur das:
dann engagiere ich mich noch für das freundlicher bin als damals. schmalen Küstenstreifen ist das Land auf drei Seiten vom Senegal umgeben Selbst bei einer SMS mit sexuellem Inhalt verstehen die Gerichte keinen Spaß
Planspiel Model United Nations. Ich liebe
Illustrationen: Bene Rohlmann für DIE ZEIT; Fotos: privat

alles, aber es ist einfach zu viel. Trotzdem Was ich vergessen will
merke ich, dass ich gelassener geworden Vergessen möchte ich, was mit dem Was ich 2017 gelernt habe Viele meiner Freunde suchen im Aus­ Was ich 2017 gelernt habe meine Freundin verstehen und versuche
bin, erwachsener. Vor einem Jahr war ich Menschenrechtsaktivisten Santiago Mal­ Das letzte Jahr war sehr hart. Aber nie land ein besseres Leben. Ein Freund von Mein Vater ist Diplomat, und vor zwei immer etwas Verbindendes zu finden.
noch ganz anders drauf. Da kam eine Aus­ donado geschehen ist, der sich für die zuvor habe ich so viel über unsere Ge­ mir ist in Libyen gestorben. Ich musste Jahren sind wir als Familie zum zweiten Heute kann ich sagen: Wir haben es ge­
tauschschülerin aus Deutschland zu mir. Rechte der indigenen Bevölkerung ein­ sellschaft gelernt. Mein ganzes Leben lernen, mit dem Verlust eines so nahen Mal nach Dubai gezogen. Für meine ­beste schafft, uns nah zu bleiben. Und was ich
Nur für ein paar Wochen, aber ich hatte setzte. Er wurde Anfang August von lang war Präsident Yahya Jammeh an der Menschen zu leben. Für mich kommt Freundin war das eine so große Enttäu­ dabei gelernt habe? Bloß nicht aufgeben
keine Lust, dass sie bei uns einzieht, dass Unbekannten verschleppt, im Oktober Macht. Er regierte seit 1994 als Dikta­ Auswandern nicht infrage. Meine Mut­ schung, dass sie einen Schlussstrich unter – eine echte Freundschaft hält auch Tau­
ich mich um sie kümmern muss. Ich war fand man seine Leiche in einem Fluss. In tor. Aber bei den Wahlen im Dezember ter ist allein mit mir und meiner kleinen unsere Freundschaft ziehen wollte, weil sie sende Kilometer Entfernung aus.
überhaupt nicht nett zu ihr. Heute denke den Zeiten der Diktatur verschwanden 2016 hat die Opposition ihn besiegt. Schwester. Im Juni be­ende ich die High­ einfach nicht mehr daran geglaubt hat,
ich: Wie schrecklich! Als ich nämlich in Argentinien rund 30 000 Menschen. Jammeh hat das Ergebnis nicht akzep­ school, dann will ich Installateur wer­ dass wir es noch einmal auf diese Entfer­ Was ich vergessen will
selbst für ein paar Wochen in Neuseeland Dass so etwas nun auch in der Demo­ tiert. Sechs Wochen lebten wir in Unsi­ den. Das ist ein guter Beruf, mit dem nung schaffen. Aber ich hab da nicht mit­ Ich bin im Sommer sehr krank geworden,
war, habe ich die Erfahrung gemacht, dass kratie geschieht, hat mich unfassbar cherheit. Jeden Morgen sind wir schnell man Arbeit findet. Lernen ist überhaupt gemacht, ihr gesagt, wir kriegen das hin. konnte mich plötzlich nicht mehr richtig
die Menschen zwar sehr freundlich, aber wütend gemacht. in die Schule gegangen und von dort das Wichtigste in meinem Leben. Wir skypen jetzt regelmäßig, auch einfach bewegen und nur noch sehr schlecht se­
direkt wieder nach Hause zurück, damit so zwischendurch. Dann teilen wir ein hen. Das war ein Schock. Niemand wuss­
die Soldaten keinen Vorwand haben, Was ich vergessen will bisschen Alltag. Damit das klappt, muss te, was ich habe. Bis man herausfand, dass
auf uns zu schießen. Als Jammeh im Ja­ Ich möchte diese fürchterliche Angst ich mich hier entsprechend organisieren es das Miller-Fisher-Syndrom ist, eine
nuar ins Exil ging, haben wir auf den vergessen, die ich vor einem Bürgerkrieg und sage auch mal andere Termine ab. Das seltene Entzündung des Nervensystems.
Straßen unsere neue Demokratie gefei­ hatte. Diese Angst, jemand könnte ist es mir wert. Meine Freundin lebt in der Es hat lange gedauert, bis sich die Symp­
ert. Die Probleme sind aber nicht gelöst. mich und meine Familie angreifen. Schweiz auf einem Bauernhof, unsere tome zurückgebildet haben. Ich möchte
Welten könnten nicht verschiedener sein. die Angst vergessen, die ich bekam, als ich
Sie kann mit Dubai nichts anfangen. keine Kontrolle mehr über meinen Körper
Die Protokolle wurden zusammengestellt von Selina Bettendorf, Amrai Coen, Wenn ich ihre Familie besuche, muss ich hatte. Gleichzeitig ist mir klar geworden,
Sunaina Kumar, Sun Narin, Jeannette Otto, Maximilian Probst, Sarah Ruhland, mir oft anhören: Was macht ihr dort? Da was wirklich zählt, und dass es manchmal
Katrin Schmiedekampf, Anna-Lena Scholz, Christina Schott, Sugárka Sielaff kann man doch nicht leben! Ich kann hilft, einfach abzuwarten.
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Informationen zur Konferenz unter: www.convent.de/gesundheit

KONFERENZ
GESUNDHEIT
DIGITAL HE ALTH
damit. Indirekt entstehe durch die den müsste, deshalb gehe es nicht »Der Patient muss im
Fotos: Phil Dera für DIE ZEIT

Digitalisierung »mehr Raum für so schnell voran wie in ande-


mündige Arzt-Patienten-Gesprä- ren Ländern. Erpressungstrojaner, Mittelpunkt stehen«
che«, bestätigt auch Peter Albiez. Schädlingssoftware, Hackerangrif-
Als Vorsitzender der Geschäfts- fe? Isabel Münch aus dem Bundes-
führung von Pfizer Deutschland amt für Sicherheit in der Informa-
verantwortet er einen Kulturwech- tionstechnik befand gnadenlos:
sel des Pharma-Unternehmens, das »Kein Back-up, kein Mitleid.« Au-
mittlerweile mit diversen Start- ßerdem forderte sie, dass sich
ups kooperiert. Erstes gemein- der IT-Sicherheitsbegriff ausdeh-
sames Produkt, im Frühjahr 2018 nen müsse auch auf portable Ge-
marktreif, ist ein mobiler Sensor, räte, die in OP oder auf Stationen
der mit einem Klebestreifen auf benutzt werden. Im internationa-
der Brust vitale Parameter mobil len Vergleich seien die Deutschen
»Computer verstehen das Spiel nicht wirklich«, gibt Schach-Weltmeister Magnus Carlsen (27) zu bedenken. Der Norweger spielt lieber ge- ermitteln und so zum Beispiel vor hier aber »sehr gut aufgestellt«. Wie Krankenhäuser und
gen Menschen und lässt sich dabei auch vom Bauchgefühl leiten, denn »mehr Wissen führt nicht automatisch zu einem besseren Ergebnis«.
einem drohenden Schlaganfall war- »Maximale Sicherheit kann es nicht Patienten von der Digita-
nen könne. geben«, bekräftigte auch Henning lisierung profitieren, erklärt

»Daten retten Leben«


Wie aber können Clinical-Deci- Schneider. Doch fragte der IT-Lei- Dr. Thomas Wolfram, CEO
sion-Support-Systeme die Quali- ter der Asklepios Kliniken rheto- der Asklepios Kliniken Verwal-
tät von Krankenhäusern erhöhen? risch in die Runde: »Wie sicher war tungsgesellschaft mbH, im
Patrick Scheidt berichtete, dass in Gespräch.
Wir zählen Schritte per App, über Daten, die heute als harmlos auf Zugstrecken – stoße. Ferner manchen Regionen acht Mal häu- Schach-Weltmeister Magnus
lassen unseren Schlaf durch empfunden werden, irgendwann forderte er ein Umdenken beim figer der Blinddarm entfernt werde Carlsen spielt lieber gegen Was versprechen Sie sich von der
Wearables überwachen und herausfinden werde. Schon jetzt Thema Datenschutz. »Daten retten als in anderen. Durch Unwissen- menschliche Intuition als ge- Digitalisierung Ihrer Kliniken? Ne-
die Kalorien von Smart Devices könne Google anhand des bloßen Leben«, betonte der Professor für heit, Vergessen, Irrtum, aber auch gen berechnende Computer ben vielen Vereinfachungen und
addieren – mobile digitale Fotos eines gefüllten Esstellers Digital Health beim Hasso-Plattner- durch Regionalität passierten Erleichterungen in der täglichen
Technik macht uns gesund- den Kaloriengehalt der Mahlzeit Institut, »doch Datenschutz, so wie Fehler, so der Geschäftsführer der es denn auf dem Papier, wo jeder Arbeit machen wir die Abläufe noch
heitsbewusster. Doch wie ist aufschlüsseln. Der Journalist ap- wir ihn betreiben, schützt Daten Elsevier GmbH. Support-Systeme im Vorbeigehen auf die Akten sicherer: Handschriftliche Übertra-
es um die Digitalisierung im pellierte an das Auditorium, ethisch davor, dass sie Leben retten kön- könnten diese Variabilität auf ein schauen konnte?« gungsfehler, wenn Patienten von
Gesundheitswesen bestellt? verantwortlich mit den giganti- nen.« Verbraucherschützerin Su- Minimum herunterfahren. »Gesund bleiben heißt, verän- einer Station auf die andere wech-
schen Datenströmen umzugehen. sanne Mauersberg hält dagegen, Verändert sich in diesem Pro- derungsbereit zu sein«, das ist die seln, entfallen. Früher hat man Be-
Welche Chancen, aber auch wel- Ob die neue Bundesregierung Datenschutz sei ein hart erkämpftes zess die Arzt-Patienten-Beziehung? Grundthese von Zukunftspsycho- funde ausgedruckt, künftig wer-
che Risiken sind bei der Transfor- die Bedeutung des Themas erken- Bürgerrecht. »Deutschland muss Ein klares »Ja« von Johannes Jacu- loge Thomas Druyen. Sein Rat: Die den wir alle Parameter in einem
mation von analog zu digital in den nen werde, lautete die Frage eines aufholen«, meinte hingegen Böt- beit, selbst Arzt und digitalmedizi- Welt sei widersprüchlicher denn je. integralen System vernetzen, so-
Kliniken zu beachten? Spannende Life Votings. 53 Prozent der Teil- tinger: 8 bis 10 Prozent des Ge- nischer Unternehmer: »Der Patient IT bekomme man nicht mehr, ohne dass bei der Visite nicht die oft
gesundheitspolitische Fragen, die nehmer im Saal zeigten sich skep- samtbudgets einer Klinik würden überprüft heute schon den Arzt.« Hackerangriffe in Kauf nehmen zu unleserliche Krankenakte, sondern
die vierte ZEIT KONFERENZ Ge- tisch. Auch die Diskussionsrunde in den USA für Digitalisierung ein- Jacubeit hat »Life Time« entwi- müssen. Schließlich finde auch je- Tablet oder Hightech-Wagen mit
sundheit aufwarf. Rainer Esser befand, Deutschland hinke der gepreist, in Deutschland nur 1 bis 2. ckelt, worüber Dokumente und Be- der die Digitalisierung toll, »wenn Laptop und allen Befunden dem
begrüßte die 350 Zuhörer im Digital-Health-Entwicklung hinter- Onkologe Widmann hat die Er- funde papierlos zwischen Ärzten sie das eigene Leben verlängert.« Arzt zur Seite stehen.
Hamburger Hotel Atlantic. Andere her statt Vorreiter zu sein. In fahrung gemacht, dass Patienten und Smartphones der Patienten Die Zivilisationsgeschichte sei nun
Länder seien uns weit voraus, puncto Glasfaserausbau lägen wir freizügig bereit seien, ihre persönli- ausgetauscht werden können. Für an der Schnittstelle Mensch-Ma- Wie profitieren die Patienten? Wir
meinte der Geschäftsführer der haben zum Beispiel eine Medi-
ZEIT Verlagsgruppe, Schweden und kations-Sicherheitssoftware einge-
die USA hätten die digitale Kran- führt, die mit allen individuellen
kenakte längst eingeführt. Gast- Parametern der Patienten verbun-
geber Bernhard gr. Broermann den ist und signalisieren kann:
bereitet die Demografie, die uns Stopp! Überdosiert, unterdosiert,
immer mehr Kranke beschere, so- geht nicht. Dadurch senken wir
wie die geringe Vergütung Sorge. medikamentenassoziierte Neben-
Für den Gründer der Asklepios- wirkungen gegen null. Aber keine
Kliniken ist digitale Innovation als Sorge, der Arzt entscheidet über
Gegenentwurf zur Kostendämp- die Medikation; das Assistenzsystem
fungspolitik zu sehen. »Die Digita- »Mehr Geld wäre ein wichtiger Faktor für die Sicherheit von Daten«, sagt Blogger Sascha Lobo (rechts) in der Diskussion mit ZEIT Wissen-Ressortleiter und Moderator Andreas Sentker
unterbreitet nur Vorschläge. An-
lisierung eröffnet uns eine ein- (links). Für Verbraucherschützerin Susanne Mauersberg ist Datenschutz zuallererst ein Bürgerrecht. Digital Health-Professor Dr. Erwin Böttinger beklagt die hiesige »Datenkultur« im Ver- deres Beispiel: Täglich erscheinen
malige Chance, die Verhältnisse in gleich zu den USA, und Dr. Thomas Widmann, Chefarzt der Asklepios Klinik Triberg (vierter von links), sieht die Patienten als Treiber von Digital Health. 30.000 medizinische Texte. Unser
den Kliniken zu verbessern.« Decision-Support-System sortiert
»Deutschlands bekanntester In- innerhalb Europas auf dem vor- chen Daten zu teilen. Sie würden sie den medizinischen Softwareent- schine angekommen. In Japan und bringt die Fachärzte auf den
ternet-Erklärer«, so Rainer Esser letzten Platz, so Sascha Lobo. Und unaufgefordert gar über unsichere wickler läuft die Transformation gebe es bereits menschenähnliche neuesten therapierelevanten Stand.
über Hauptredner Sascha Lobo, auch bezüglich der durchschnitt- Kanäle schicken, in der Hoffnung, der Branche in vier Etappen ab: Roboter.
sprach von »exponentiellem Fort- lichen Datengeschwindigkeit, mo- der Arzt könne so ihr Leben retten. 1. von analog zu digital, 2. Big Data, Ob denn das menschliche Ge- Wie gehen Sie mit dem Thema
schritt«. Das iPhone habe seit nierte Thomas Widmann, rangiere Ferner findet er, das Bild vom Arzt 3. Künstliche Intelligenz verarbei- hirn dem Computer immer noch Datensicherheit um? Unsere Phi-
seiner Einführung vor zehn Jahren Deutschland noch hinter Rumä- als Gott in Weiß habe ausgedient, tet Daten und unterbreitet Vor- überlegen sei, sollte Schach-Welt- losophie lautet: Der Patient muss
»die ganze Gesellschaft durch- nien. Widmann hat mit der Platt- schläge, 4. Künstliche Intelligenz meister Magnus Carlsen beant- im Mittelpunkt stehen und Eigen-
pflügt«. Am 1. November 2016 form »movival – aktiv gegen Digital Health in Deutschland: bestimmt die Therapie. Es stelle worten. Der Norweger bekannte, tümer seiner Daten sein. Er alleine
habe der mobile Internet-Traffic Krebs« weltweit die erste App Hinken wir hinterher oder sich nicht die Frage, ob, sondern er spiele nicht besonders gerne soll mittels eines doppelten Iden-
erstmals den stationären über- entwickelt, mit deren Hilfe Krebs- können wir Vorreiter sein? – nur noch, wie schnell man den gegen Computer. Sich von der tifikationscodes den Zugriff auf
troffen. Ein Meilenstein, denn »Ge- patienten allein durch Bewegung »Wir müssen aufholen.« Schritt weg von der ärztlichen menschlichen Psyche, Motivation seinen webbasierten Account be-
sundheit als digital mobiler Life- ihr Rückfallrisiko senken können. Eminenz hin zur Evidenz gehe. und Intuition überraschen zu las- kommen, sodass er im Notfall, im
style« sei nicht mehr wegzuden- Erwin Böttinger, der zehn Jahre Arzt und Patienten stünden auf ei- Und was ist mit der Patienten- sen, sei viel spannender. Algorith- Urlaub oder wo auch immer einem
ken. Lobo sieht die Patienten als lang in New York ein Institut für ner Ebene: »Meine Aufgabe ist es, sicherheit? Matthias Meierhofer, men hält der 27-Jährige, dessen Arzt den Zugriff auf seine Kran-
die eigentlichen Treiber der Digi- Personalisierte Medizin aufgebaut Patienten in eine entscheidungs- Vorstandsvorsitzender des Bun- Team 2014 die Schach-Software kengeschichte erlauben kann.
talisierung. Aber er warnte: »Wir hat, beklagte, dass er hierzulande fähige Situation zu versetzen.« desverbandes Gesundheits-IT, be- »Play Magnus« entwickelt hat,
reden zu wenig über Ängste.« Ver- noch auf »digitale Basis-Unter- Patienten würden immer wissen- mängelte, dass IT aus der lau- zwar für sehr gereift, aber immer Wie weit ist die Digitalisierung
braucher wüssten nicht, was man versorgung« – wie Funklöcher der und konfrontierten ihre Ärzte fenden Versorgung finanziert wer- noch fehlerbehaftet. in Ihren Krankenhäusern fortge-
schritten? Wir sind bei der Trans-
formation wohl schon weiter als
Realität oft noch unzureichend manch andere, aber vermutlich
»Mehr Mut zur Offenheit« forderte Rainer Esser, als er die Zuhörer im bis erst bei 40 bis 50 Prozent dessen,
auf den letzten Stuhl gefüllten Auditorium im Hamburger Hotel Atlantic wo wir hinwollen. Unser Ziel ist
Kempinski begrüßte. »Digital Health« hieß das Thema der vierten und ein komplett papierloses Kranken-
ausgebuchten ZEIT KONFERENZ Gesundheit am 9. November 2017. haus. Mit unserem Pilothaus, dem
Der Geschäftsführer der ZEIT Verlagsgruppe steckte den Rahmen ab: die Westklinikum in Hamburg-Rissen,
digitalisierte Gesellschaft mit ihren hochfliegenden Visionen und anderer- ist das gerade jetzt gelungen. Das
»Digitale Innovation ist eine große Chance«, Über IT-Sicherheit im vernetzten Krankenhaus: Michael Waldbrenner, Stefan Schmitt,
seits die oft noch unzureichende Software in der Realität der Arztpraxen. ist komplett umgestellt.
so Asklepios-Gründer Dr. gr. Broermann Isabel Münch und Henning Schneider (von links)
Hochrangige Referenten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und IT
stellten ihre Erkenntnisse in Vorträgen oder Diskussionen vor. Die Keynote Problem Finanzierung: Wie lässt
kam von Blogger und Internetexperte Sascha Lobo. Organisiert wurde die sich das realisieren? Für die sieben
Veranstaltung von Convent, einem Unternehmen der ZEIT Verlagsgruppe, Hamburger Krankenhäuser rech-
in Zusammenarbeit mit den Asklepios Kliniken. nen wir bei der digitalen Umstel-
lung mit über 40 bis 50 Mio. Euro.
Das ist gut investiertes Geld – in
die Abläufe, in die Patientensicher-
Veranstalter: In Zusammenarbeit mit:
heit und natürlich auch in einen
modernen Arbeitsplatz. Für mich
»Digitale Kompetenz«, sagt Pfizer-Vorstand Peter Albiez im Ge- »Gesund bleiben heißt, veränderungsbereit sein«, so Zukunfts- steht außer Frage: An der Digitali-
spräch mit Claudia Wüstenhagen, »hilft uns bei der Früherkennung« forscher Prof. Dr. Thomas Druyen (rechts) zu Moritz Müller-Wirth
sierung führt kein Weg vorbei.
4. DEZEMBER 2017 No 50 JAHRESRÜCKBLICK 2017 CHANCEN 71

WIE WAR IHR JAHR?

beaverteeth92

Will anonym bleiben, ist aber


trotzdem unser Mensch des
Jahres: Der Erfinder des
March for Science

Was haben Sie in diesem Jahr


zum ersten Mal getan?
Ich habe zum ersten Mal in meinem
Leben Bassgitarre gespielt.

War 2017 besser oder schlechter,


als Sie es an Silvester 2016 erwar-
tet hatten?
Besser. Ich hätte erwartet, dass die
Populisten in Europa stärker ge-
Foto: action press; ZEIT-Grafik

winnen würden, als sie es getan


haben.

Wer war eine Enttäuschung?


Aung San Suu Kyi. Sie befindet
sich in einer starken Machtposition
und ist Friedensnobelpreisträgerin,
Gegen alternative Fakten: Der March for Science am 22. April 2017 in Washington aber sie verweigert es, den Genozid
an den Rohingya in ihrem Land zu
verurteilen.

Der Moment, als die Wissenschaft aufstand Was war Ihr persönlicher Sieg
2017?
Wie ein Internetnutzer aus Versehen den March for Science erfand Einen neuen Job gefunden zu ha-
ben – nur einen Monat nachdem
mir gekündigt wurde.

D
er wichtigste Satz für die Wis- wandel von seiner Website getilgt. Diese Biologieprofessor«, »Ich bin ein Künstler am Nordpol protestieren Menschen gegen
senschaft in diesem Jahr kommt Meldung veranlasst beaverteeth92 zu mit Leidenschaft für die Wissenschaft. Ich die um sich greifende Wissenschaftsfeind- Worüber haben Sie sich am meis-
ohne Einschub oder Semikolon seinem Kommentar: »There needs to be a marschiere auch mit!« Und so weiter und lichkeit. Es sind viele Hunderttausend. ten gefreut?
aus, weist weder komplexe Gedanken Scientist’s march on Washington.« (Es so fort. Aus einem beiläufig klingenden In- Am March for Science teilzunehmen
noch bahnbrechende Erkenntnisse auf, braucht einen Marsch der Wissenschaftler Später ergänzt beaverteeth92 seinen ternetkommentar ist ein globales Mo- und so viele Menschen zu sehen, die
ist eine simple Feststellung. Veröffent- nach Washington.) Kommentar: »Anscheinend passiert es ment der Selbstvergewisserung gewor- für die Wissenschaft und Wissen-
licht wurde der Satz nicht in Science oder Auch ein Unbekannter mit Nagetier­ wirklich!« Er verweist auf eine Face- den: Der Wert von Wissenschaft, der schaftler auf die Straße gehen.
Na­ture, niemand mit Doktorgrad hat pseudonym kann Großes formulieren. book-Gruppe, die irgendwer gegründet von Faktenallergikern wie Donald
ihn geschrieben, sondern ein Internet- Seine Idee gewinnt schon Sekunden habe. Sie heißt: March for Science. Trump permanent infrage gestellt wird, Was wünschen Sie Deutschland
nutzer namens »beaverteeth92«, Biber- später erste Anhänger. Sogleich kommen- Die Idee infiziert in den folgenden muss aktiv verteidigt werden. für 2018?
zähne92, im sozialen Netzwerk Reddit. tierten weitere Reddit-Nutzer: »Das wäre Monaten den Globus – und springt am Ideengeber beaverteeth92 bleibt der- Ich hoffe, dass Deutschland damit
Es ist der 20. Januar, Tag der Amtsein- der Wahnsinn«, »Ich würde aus Hawaii 22. April aus dem Internet auf die Straße. weil lieber weiter anonym. Und beson- weitermacht, ein moralisches Vor-
führung von Donald Trump. Online ver- einfliegen, um dabei zu sein«, »Wenn das Von Boston bis Melbourne, in Tübingen ders viele Fragen hat er nicht beant­ bild in der westlichen Welt zu
breitet sich die Nachricht, das Weiße Haus jemand organisiert, marschieren mein und Toronto, unter der Sonne von­ wortet. Unsere Person des Jahres ist er sein – und nicht in die Populismus-
habe direkt alle Referenzen auf den Klima- Vater und ich mit, ich bin Physiker, er ist Blantyre, Malawi, ebenso wie im Schnee trotzdem. ANANT AGARWALA Falle tappt.

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GROSSE JUBILÄEN IN DER WISSENSCHAFT 2017  

Universität Ulm
In 50 Jahren zur besten jungen Uni!
1967 als medizinisch-naturwissenschaftliche Hochschule gegründet, hat
sich die Universität Ulm zur internationalen Forschungsuniversität mit über
10 500 Studierenden in den MINT-Fächern und in der Medizin entwickelt.
Neben Drittmitteleinwerbungen von über 90 Millionen Euro (2016) und For-
schungserfolgen in ihren interdisziplinären Schwerpunkten konnte die her-
vorragend vernetzte Uni Ulm bei der Exzellenzstrategie des Bundes und der
Länder überzeugen. In der Quantentechnologie und Batterieforschung stellt
sie gemeinsam mit der Universität Stuttgart, dem MPI Festkörperforschung
und dem Karlsruher Institut für Technologie Vollanträge für Exzellenzcluster.
Im Verbund mit den Hochschulen Biberach, Neu-Ulm und Ulm war die Uni-
versität 2017 zudem bei der Förderinitiative „Innovative Hochschule“ erfolg-
reich. Das mit rund 15 Millionen Euro unterstützte Projekt „InnoSÜD“ hat den
Wissens- und Technologietransfer zum Ziel.
In ihrem Jubiläumsjahr ist die Uni Ulm sogar die beste junge Universität
Deutschlands! Im THE „Young University Ranking“ schneidet sie hervorra-
gend ab und belegt im weltweiten Vergleich Platz acht.
Foto: Heiko Grandel

www.uni-ulm.de
4 DEZEMBER 2017 N 50 IN DER ZEIT 72
DER GROSSE JAHRESRÜCKBLICK
2017 – wie war es?

P a Bub es ze gt e ne
spez e e M nute (S 2/3)

o
Fo o F nk H
War en au 2018 In d e e Au gabe de
ZEITmagaz n b cken w n ch zu ück
onde n chauen nach vo n – und zwa
geme n am m Men chen d e au e n
be onde e E e gn m kommenden Jah
D eses Redakt onsteam hat den Rückb ck zusammengeste t (v ) Khuê Pham (Po t k) wa en Au da Ab u d e Mond n e
Jens Tönnesmann (W rtschaft) Henn ng Sußebach (Doss er) Johannes Gernert (Z) n au e n Au o ode da Romandebü
Re nhard K e st erzäh t Rud Novotny (Chancen) Hanno Rauterberg (Feu eton) und Stefan Schm tt (W ssen)
von »Koh s Erbe« (S 42)
BE LAGENH NWE S
D e heu ge Au gabe en hä o gende
Pub ka onen n de Ge am au age
Goog e Ge many GmbH 20354
Hambu g n e ne Te au age
Hambu g che S aa ope GmbH
20354 Hambu g Kon ad n Med en
GmbH 70771 Le n e den Ech e d ngen
WWF Deu ch and Umwe ung
10117 Be n

22 Apr 2017 Tag der Erde Acht Magnum- Kat a Ber n backt ede Woche Fotos: Reihe 1 (v.o.n.u.): privat; Carlsen Verlag by Wolf-Dieter
S mon Prades ustrator Unter e ner Decke für d e ZE T Das Fotografen-Duo A na Emr ch und K ên Hoàng Lê Fotografen sch ckten uns mpress onen d e an d e popu ären »Torten der Wahr- Tabbert; Marko Schwarz; Reihe 2: Lemrich für DIE ZEIT; ­Reihe
3 (v.o.n.u.): David Maupilé für DIE ZEIT; Mikhael S­ ubotzky/
ze gt Bösew chter (S 6) h er m t Tochter Luna Mây hat für d e Se te »Freunde der ZE T« gearbe tet (S 44) d e End chke t der Natur er nnern (S 39) he t« – be ebt auch be Tw tter Magnum Photos/Agentur Focus für DIE ZEIT; privat

POLITIK Was wurde aus ...?  ZEIT-Autoren Flüchtlinge  Menschenschmuggler Menschen des Jahres  20 Fragen an die Heavy Metal  Eine Hommage an den Serie  Über die Faszination von »Babylon
haben nachgefragt, wie es mit Menschen verdienten 2017 dank geschlossener Klimaforscherin Ricarda Winkelmann 32 Sänger der Band Eisregen, Michael Roth  Berlin«  VON NOR A BOS SONG 55
22. September, 6.50 Uhr  (und einer Pandabärin ) weiterging, über Grenzen bestens  VON THOMAS G L AVINIC 47
Die Menschheit in einer Minute  die sie in diesem Jahr berichteten  16 Biologie  Welche Erkenntnisse unser Bild Blasmusik  Das Konzert einer
VON CATE RINA LOBE N STE IN 25
VON G E RO VON R ANDOW 2 von der Familiengeschichte des Menschen Meisterwerk  Der große Film Militärkapelle im hochsommerlichen Rom 
Cyberkriminalität  Wie Hacker ­ verändert haben  VON U LRICH BAHN S E N »Happy End« von Michael Haneke  VON MARTIN MOS E BACH 56
Korrespondenten berichten  WIRTSCHAFT Unternehmen im Netz attackieren  U ND U RS WILLMANN 33 VON DANIE L KE HLMANN 48
Beirut – die Musik nach den Bomben 
VON JAKOB VON LINDE RN 26
VON ANDREA BÖHM 4 Jahresbilanz  Was ist gewachsen, was ist Technik  Mein Jahr mit der digitalen Architektur I  Der verwirrende Z – ZEIT ZUM ENTDECKEN
geschrumpft? Ein ökonomischer Rückblick  Fußball  Katar will mit viel Geld Sprachassistentin Alexa  Besuch in der Windmühle in Sloten 
 ie ich lernte, die Unordnung Delhis
W Ansage  Wie deutsch ist das denn?
VON J E N S TÖNNES MANN 19 für Profispieler sein Image polieren  VON JAN SCHWE ITZE R 37 VON CLE ME N S S ETZ 48
zu schätzen  VON JAN ROS S 5 Ausländische Korrespondenten bilanzieren
VON CATHRIN G ILBE RT 27
Zufriedenheit  Für viele Menschen war Stimmt’s? 37 Architektur II  Warum ich Waschbeton das Jahr 2017 in Anekdoten  57
Moskau, der Rollrasen und die Sehnsucht 
2017 ein gutes Jahr – trotz aller Krisen  20 Tourismus  Mallorca wehrt sich ­ so liebe – die Berliner Kirche Maria Regina
VON ALICE BOTA 5 Erinnerung  2017 in T-Shirts  38 Neukölln  Angeblich wird im Szene-Bezirk
gegen den Ansturm der Urlauber  Martyrum  VON DAVID WAG NE R 49
Arbeitsmarkt  Millionen Bundesbürger nur noch Englisch gesprochen. Eine
Karrieren  Die Bösewichter des Jahres  VON LAU R A CWIE RTNIA 27
schuften an Wochenenden und Feiertagen – Reformation  »Luther und die Avantgarde« »Guardian«-­Reporterin macht den Praxistest 
VON ROBE RT PAU SCH 6 PANORAMA
längst nicht nur, weil sie es müssen  Fidget-Spinner  Der kürzeste Hype in Wittenberg  VON NOR A GOMRING E R 52 VON K ATE CONNOLLY 62
Innenpolitik  Deutschland zwischen VON VIOL A DIE M 21 des Jahres  VON NINA PIATSCHE K 28
Bilder vom Tag der Erde  Acht Foto­ Keramik  Über das Geheimnis der Altötting  Ein Pole fühlt sich zu Hause 
Wahlkampf und Regierungschaos 
Unternehmertum  Warum es so Konsum  Lebensmittel sind 2017 teurer grafen der Agentur Magnum haben an Teeschale  VON MARION POSCHMANN 52 VON WOJCIECH SZYMAN S KI 64
VON PETE R DAU S E ND 7 unterschiedlichen Orten der Welt ihr
schwer ist, eine Firma zu gründen  geworden, allen voran: Butter 
eigenes Foto der Erde aufgenommen  39 Judentum  Über die faszinierenden Quedlinburg  Eine Britin wird romantisch 
Thema des Jahres  Kampf um die Mei- VON G E RO VON R ANDOW 21 VON MAIKE BRZOS K A 28
Bilder des Fotografen Benyamin Reich  VON CATHE RINE HICKLEY 64
nungsfreiheit  VON JOCHE N BITTNE R 8
Weltwirtschaft  Trotz aller Warnungen Wie war Ihr Jahr?  Karen Heumann VON DE BOR AH FE LDMAN 53 Zwischen Pasewalk und Usedom 
Wie war Ihr Jahr?  Frauke Petry, Martin wächst der globale Handel enorm. Wird über 2017  28 FEUILLETON
Renaissance  Die verführerische Eine Italienerin findet Süditalien 
Schulz und Peter Steudtner über 2017  9 das so bleiben?  VON PETR A PINZLE R 22
Was bewegt ...  das BIP? Das Brutto­ Andachtsbild  Eine Begegnung mit Kunst des Alessandro Moretto in Brescia  VON TONIA MASTROBUONI 65
Grafik  Die Torten des Jahres  USA  Der amerikanischen Wirtschaft geht inlandsprodukt wuchs stärker als der gotischen Madonna von Melun  VON ANNA K ATHARINA FRÖHLICH 53
es bestens. Präsident Donald Trump sieht Wie war Ihr Jahr?  Hazel Brugger
VON K ATJA BE RLIN 10 erwartet  VON KOLJA RU DZIO 30 45
VON DU RS G RÜ NBE IN
Subkultur  Ein Ausflug ins über 2017  65
sich bestätigt  VON HE IKE BUCHTE R 22
Chronik  Die wichtigsten Ereignisse Wie war Ihr Jahr?  Tilda Swinton Künstlerquartier der alten Ziegelei in

32
aus Politik, Kunst und Wirtschaft  Mobilität  Trotz des Dieselskandals WISSEN Belgrad  VON THOMAS ME LLE
über 2017 45 CHANCEN
VON CHRI STIAN STA AS 12 kaufen sich nur wenige Menschen ein
U ND TE RESA PR Ä AU E R 54
Elektro­auto. Porträt eines Umsteigers  Weltall  Die Planetenfunde des Jahres Uraufführung  Die Inszenierung Weltwissen  Siebzehn Berichte von
VON DIETMAR H . L AMPARTE R 24 und was sie über den Kosmos aussagen  »Arche« von Jörg Widmann in der Stars  Der Film »Mother!« von Darren ­ 17-Jährigen aus fünf Kontinenten  67
DOSSIER VON STE FAN SCHMITT 31 Elbphilharmonie  VON U LL A HAHN 46 Aronofsky  VON PASCAL RICHMANN 54
Lufthansa  Die Fluglinie profitiert Wie war Ihr Jahr?  beaverteeth92
Der ostdeutsche Mann  Ein Interview von der Pleite von Air Berlin. Physik  Warum Gravitationswellen Transzendenz  Die Konzerte Kunst  Ein Besuch im Atelier des hat den March for Science initiiert.
mit dem Medienphänomen des Jahres  Die Kunden hingegen zahlen oft drauf  die ­beste der vielen Erschütterungen 2017 der Pianistin Pi-hsien Chen Bildhauers Hans Scheib  Wer er wirklich ist, gibt er nicht preis.
VON C. BANGEL UND M . MACHOWECZ 13 VON CLA AS TATJ E 24 waren  VON U LRICH SCHNABE L 31 in Köln  VON NAVID KE RMANI 46 VON K ATJA L ANG E- M Ü LLE R 55 Sechs ­Fragen zu seinem Jahr 2017  71

ANZE GE

CHANCEN FEUILLETON
6. O K TO B E R 2016 D I E Z E I T No 42

Der Islamkritiker
Hamed Abdel-Samad
wagt ein neues Buch,
es heißt: »Der Koran«
41

DIE ZEIT
Seite 54

H DIE MACHT DER BELEIDIGTEN


Aus der
Werkstatt
Der Papst will die Ehe vor der
Gendertheorie schützen. Hm

Papst Franziskus hat gerade im georgischen


Tbilissi davor gewarnt, dass die Gendertheorie

Warnung!
die Ehe zerstöre. Gemeint ist päpstlicherseits
natürlich der Bund zwischen Frau und Mann,
aus dem Kinder hervorgehen mögen. Das Zer­
störungswerk gleiche einem »Weltkrieg«, die
Theorie trete der Ehe als »großer Feind« ent­
gegen, und sie indoktriniere, zumal in den
französischen Schulbüchern, die Kinderköpfe

Dieser Artikel kann


hinterlistig wie eine »ideologische Kolonisie­
rung«. Was der Papst in seinem Zorn sagen
wollte: Die Gendertheorie bestreite die gott­
gegebenen Unterschiede zwischen dem weib­
lichen und dem männlichen Geschlecht.
Diese Differenzen können einen in der Tat
umtreiben. »Es soll in meinen Gefühlen viel

D e Mach de Be e d g en
Gefühle der
Weibliches sein«, notiert Wilhelm von Hum­
boldt 1790. »Neulich schrieb mir die Forster,
sie möchte mich Schwester nennen.« Was auch

Kränkung auslösen
Caroline und Wilhelm
von Humboldt
(1767 bis 1835)

immer die Gendertheorie heute zur Klärung


der Geschlechterunterschiede beizutragen
vermag, sicher jedenfalls hat die kleine Exzel­

Die ZEIT
lenzinitiative von Frauen und Männern, der
Beleidigt zu sein ist heute Mode – und ein Machtmittel. Nicht nur Islamisten, auch Freundeskreis Carolines und Wilhelms von
Humboldt, um 1800 fruchtbar durcheinander­
Studenten an westlichen Hochschulen haben daraus geradezu einen Kult gemacht VON JENS JESSEN gebracht, was man später einmal, etwas an­
gestrengt, die heterosexuelle Zwangsmatrix
nennen würde: Mann oder Frau sein zu müs­
sen. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Der
preußische Gelehrte und Staatsmann Hum­
boldt, durch vierzig Jahre Ehe und als Vater von

W
acht Kindern sachkundig ausgewiesen, hat mit

E
seiner frisch entdeckten weiblichen Gefühls­
begabung die Normalvarianz des Männlichen
in Russe, ein Araber, ein Vegeta­ stritt, begannen sich die Vertreter von Sinti und schaft –, leicht zu Taten verführt werden können, gewiesen, dass sich jedes Selbstbewusstsein nur in keineswegs aufgegeben. Sein Notizbuch ver­
rier, eine Deutsche und eine Tür­ Roma, von Schwulen und Lesben, Zwangsarbei­ die ein Maximum an Aufmerksamkeit in den Medi­ der Anerkennung des jeweils anderen bildet. Bei zeichnet auch, bedauernd, alle Ausgaben für
kin sitzen in der Bahn. Wer ist tern, politisch Verfolgten zu drängeln. Wer bekam en erzielen. Nicht nur die Karikaturen waren Zei­ starker Asymmetrie, einem Anerkennungsgefälle so­ Bordellbesuche. Der gute Mann hielt es zudem
beleidigt? Antwort: alle. Der Russe als Nächstes seine Stele? Und das hieß auch: Wer chen. Auch die Bluttat war symbolisch gemeint: Die zusagen, bilden sich nur zwei defekte Formen aus – für passend, seine Kinder selbst zu erziehen,
ist beleidigt, weil die Deutschen wird bevorzugt betrauert und also anerkannt und Tiefe der Kränkung sollte anerkannt werden. ein Selbstbewusstsein des Herrn und ein Selbst­ einschließlich wickeln, füttern und trösten, und
die Ukraine unterstützen. Der mit öffentlicher Zuwendung bedacht? Um die Op­ Um zu verstehen, dass hier um kein nebensäch­ bewusstsein des Knechtes. Die Überlegung, deren er blieb daher die ersten beiden Ehejahre zu
Araber ist beleidigt, weil er sich als ferkonkurrenz in der pluralistischen Gesellschaft liches Gut gekämpft wird, hat der Philosoph und politische Bedeutung auf der Hand liegt, lässt er­ Hause (wo er auch den Unterschied zwischen
islamistischer Terrorist verdächtigt fühlt. Der Vege­ richtig zu begreifen, muss der negative Begriff der Soziologe Axel Honneth schon vor Jahren seine messen, wie groß die Gefahr mangelnder Anerken­ männlichen und weiblichen Fröschen erforsch­
tarier ist beleidigt, weil der Russe vor seinen Augen Beleidigung unbedingt im Kreis seiner positiven »Philosophie der Anerkennung« entwickelt. In einer nung für die gesellschaftliche Verständigung werden te). Caroline von Humboldt stand ihrem Mann
in eine Fleischwurst beißt. Der Araber ist ein zwei­ Gegenspieler gesehen werden: der Anerkennung, Gesellschaft, die sich immer stärker differenziert, in kann. Am Ende versteht man sich gar nicht mehr. genderpraktisch in gar nichts nach. Die Ehe
tes Mal beleidigt, weil es sich um Schweinefleisch Zuwendung, Aufmerksamkeit. Man versteht die immer weitere Milieus zerfällt, die sich immer weni­ retten? Sehen wir ruhig das Vorbild solcher
handelt. Die deutsche Frau ist beleidigt, weil die modernen Beleidigten nicht, wenn man meint, sie ger zu sagen und immer mehr vorzuwerfen haben, Wo Zurücksetzung anerkannt wurde, angstlosen Aufgeklärten als weltliches Gottes­
Türkin mit ihrem Kopftuch ein Bild unterdrückter wollten nur eine Opfererfahrung, etwas Vergan­ reicht für einen Rest an Zusammenhalt keine Tole­ entstehen Arbeitsplätze geschenk an. E LI SABETH VON THADDE N
Weiblichkeit abgibt. Die Türkin ist beleidigt, weil genes artikulieren. Sie zielen auch auf etwas Zu­ ranz der Gleichgültigkeit. Die Gruppen und Grüpp­
sie fürchtet, auf ihr Kopftuch reduziert zu werden. künftiges – sie melden Wünsche an. Man zeigt sich chen müssen sich gegenseitig anerkennen, das heißt, Nun hatte der Gedanke bei Hegel einen eher tech­
Der Araber ist ein drittes Mal beleidigt, weil er beleidigt, um etwas zu bekommen. auch ihrer Verschiedenheit ein gewisses Maß an nischen, logischen und erkenntnistheoretischen
argwöhnt, für das Kopftuch verantwortlich ge­
macht zu werden. Die Deutsche ist am Ende die
Darum ist man nicht mehr einfach so, still und
bitter und passiv, beleidigt, wie es in früheren Zeiten
Achtung und Zuwendung spenden. Auf dieser
Überlegung beruht übrigens die umstrittene grüne
Sinn. Aber in der praktischen Welt offenbart das
Streben nach und die Verweigerung von Anerken­ Die Liebe
Beleidigtste von allen, weil sie sich immer unwoh­
ler fühlt unter den lauernden Männer­ und miss­
die Ehre verlangte. Wer damals Beleidigungen nicht
unauffällig wegsteckte, verlor das Gesicht. Einzige
Schulpolitik, die den Kindern mehr als kalte Tole­
ranz gegenüber Schwulen (oder anderen minoritä­
nung ein erhebliches Eskalationspotenzial. An­
erkennung kann nicht nur die Leiden der Ge­ der Kokosnuss
billigenden Frauenblicken. Sie empfindet sich als Alternative: Man forderte zum Duell. Nur der ge­ ren sexuellen Orientierungen) beibringen will, kränktheit lindern, sondern auch zum Brand­
Fremde im eigenen Land; wahrscheinlich wird sie gebenenfalls zum Sterben Bereite durfte auch belei­ nämlich Empathie und eine Relativierung dessen, beschleuniger von Gekränktheitsgefühlen werden. Ronald Schill zieht sich aus
in Kürze AfD wählen. digt gucken. Andernfalls hätte er jede Anerkennung was als normal zu gelten habe. Ist nämlich erst einmal beobachtet worden, wie
Es fällt schwer, heute nicht beleidigt zu sein. Ein verloren. Das ist heute umgekehrt. Man fürchtet Wie groß der Hunger nach Anerkennung ist, Anerkennung einem Klagenden zuteilwurde, ent­ Der Aufstieg war zäh, doch nun ist ein Traum
Sturm der Kränkungsgefühle tobt durch die Welt. keineswegs, das Gesicht zu verlieren. Im Gegenteil: lässt sich leicht an Gruppierungen zeigen, die in­ steht sofort die beleidigte Frage, warum sie einem in Erfüllung gegangen – Ronald Schill hat es

freut sich über


Überall lauert ein tatsächlicher oder nur eingebilde­ Man bekommt erst ein Gesicht, wenn man belei­ zwischen nicht mehr nennenswert diskriminiert anderen vorenthalten blieb. Die ostdeutschen An­ geschafft, er ist im Paradies. Die Welt kennt
ter Affront. Jeder missbilligt jeden für seine Ideale digt auftritt. Gekränktheit verschafft einen privile­ werden, aber damit keineswegs zufriedengestellt hänger der AfD fühlten sich schon durch die Auf­ Herrn Schill als Widerstandskämpfer gegen
oder seine Lebensform, und alle gemeinsam sehen gierten Zugang zu Aufmerksamkeit, Zuwendung, sind. Es gibt ein Bedürfnis, erlittenes Unrecht wei­ merksamkeit zurückgesetzt, die der Staat den den enthemmten linken Zeitgeist und, natür­
in der ausgesprochenen oder unausgesprochenen Anerkennung. terhin beweint zu sehen – sonst stellt sich ebenfalls Flüchtlingen spendete, ein klassischer Fall von lich, als Hamburger »Richter Gnadenlos«. Als
Missbilligung einen Angriff auf ihre Ehre und ihr schwere Gekränktheit ein. Das gilt nicht nur, wie Opferkonkurrenz. Das heißt: Gekränktheit kann die Hansestadt angeblich im Sumpf aus Ver­
Selbstverständnis. Eine Zeit lang waren es nur Dem Dürstenden geht es nicht ums Wasser, weithin verständlich, für Verfolgte der beiden deut­ schon durch das bloße Ausbleiben von Anerken­ brechen und Sittenlosigkeit zu versinken
Randgruppen und Minderheiten, die sich unterein­ er will Anerkennung seines Leidens schen Diktaturen. Auch Teilen der Frauenbewegung nung auftreten. In diesem Fall wird eine fieber­ drohte, gründete er die Partei Rechtsstaatlicher
ander, vor allem aber von der Mehrheitsgesellschaft reicht es nicht, dass sich die Stellung der Frau ver­ hafte Suche ausgelöst: Was oder wer könnte mich Offensive, einen Vorläufer der AfD. Fast 20
in ihrem Sosein angegriffen und deshalb beleidigt Der Gewinn ist nicht nur ideell. Es können öffent­ bessert hat und weiter (wenngleich quälend lang­ so verletzt haben, dass auch ich Anspruch auf An­ Prozent der Bürger wählten ihn, vor allem die
fühlten. Inzwischen sehen sich in den westlichen liche Mittel fließen, Schulbücher umgeschrieben sam) bessert. Es dürfen auch überwundene Miss­ erkennung habe? sehr vornehmen Elbvororte freuten sich auf
Staaten die traditionellen Mehrheitsmilieus ihrer­ werden. Es können Politiker öffentliche Reden stände nie unerwähnt bleiben und keinesfalls die Es geht nicht nur um persönliche Genugtuung. eine sichere Zukunft mit der Alternative für
seits von den Minderheiten schikaniert, in die De­ halten und ministeriale Stellen schaffen: Frauen­, glänzenden Aspekte früherer Jahrhunderte gerühmt Es geht auch um Macht und Politik. Vertreter der Hamburg. Es klappte. Schill wurde 2001
fensive gedrängt und herabgewürdigt. Die Schwu­ Ausländer­, Gleichstellungsbeauftragte. Es können werden, ohne zugleich auf die deplorable Lage der Beleidigten und Erniedrigten können als Funk­ Zweiter Bürgermeister und Innensenator.
lenhochzeit – eine Beleidigung der traditionellen die Medien über Jahre den Leiden der Opfer und Frauen damals hinzuweisen. tionäre von Parteien und Verbänden stark und Bald schon gab es Ärger, und mit fröh­
Ehe, ein höhnisches Zerrbild. Das Minarett in der ihren beleidigten Nachfahren Aufmerksamkeit So ist der Zwang zu einer tränenseligen Litanei mächtig werden. An Universitäten lässt sich eine lichen 175 000 Euro Übergangsgeld wanderte
Innenstadt – eine Beleidigung des Abendlandes. verschaffen, eine knappe Ressource in der ab­ entstanden, ein heiliges feministisches Abrakada­ Professur, mindestens eine Stelle in einem For­ Ronald Schill nach Brasilien aus. Nun ist er
Schleier und Kopftuch – eine Beleidigung für die gelenkten Gesellschaft. Wer Kinder und Hunde bra des Bedauerns, das der Mehrheitsgesellschaft schungsprojekt ergattern. Wo Zurücksetzung an­ wieder zurück, als Star in der RTL­Nackt­
emanzipierte Frau. Und die Politiker? Kümmern beobachtet, weiß um die Kostbarkeit von Auf­ – selbst vielen Frauen – gehörig auf die Nerven erkannt wurde, entstehen Arbeitsplätze. Nicht kuppelshow Adam sucht Eva. Vollständig
sich nur noch um Flüchtlinge und Minderheiten. merksamkeit. Selbst negative Aufmerksamkeit ist geht. Auch sie beginnt, sich gekränkt zu fühlen: immer sind es die Opfer, die von der öffentlichen unbekleidet kämpfen hier Damen und Herren
»Minderheit müsste man sein!« lautet der hässlichste besser als keine. Darum beginnen Kinder und durch den Eindruck, moralisch erpresst zu werden. Zuwendung profitieren. Aber immer profitiert, auf dem Südsee­Atoll Tikehau um Geld und
Satz des beleidigten Mehrheitsbürgers. kleine Hunde gerne zu randalieren, wenn sich län­ Zum Aufstieg von Pegida und AfD gehört die Ab­ wer als ihr Sprecher auftreten kann; man denke an Liebe; lustige Frauen werden mit naturbelas­
Wann hat der Wettlauf um die größte Kränkung gere Zeit niemand um sie kümmert – um wenigs­ wehr eines Daueralarms quengelnder Ruhestörer die Vorsitzenden der deutschen Vertriebenen­ senen Kokosnüssen beladen und von potenten
begonnen? Vor etwa dreißig Jahren wurde im deut­ tens die Zuwendung einer Bestrafung zu ertrotzen. zwingend dazu. verbände, denen Einfluss und Ämter in den Uni­ Männern auf Händen getragen. Einige stoßen
schen Fernsehen ein Krimi gezeigt, bei dem der Zu­ Es geht immer und überall um Sichtbarkeit. Es gibt in Salcia Landmanns berühmter Samm­ onsparteien sicher waren. Politiker haben bewie­ dabei laute Schreie aus, andere beweisen, dass
schauer lange ratlos bleiben musste, wem er den Damit haben sogar noch die Gewaltexzesse zu lung jüdischer Witze die Geschichte über den ar­ sen, wie mächtig der Hebel sein kann, der sich bei ihnen untenrum alles in Ordnung ist.
Fotos: Martin Lengemann/laif (o.); akg-images (2, Montage)

Mord eher zutrauen wollte – einem Behinderten im tun, die von den Mohammed­Karikaturen ausgelöst men Juden auf einem Auswandererschiff, der mithilfe einer verletzten Minderheit bewegen lässt. Warum macht Schill das? Ist er nicht ein
Rollstuhl oder einem jungen Homosexuellen. Die wurden. Natürlich gab es die blinde Wut und den zusammen mit einem wohlhabenden Juden die Das gilt auch in der Außenpolitik. Die Mög­ Konservativer? Ein Mann der Ordnung? Ganz
Handicaps der Behinderung und der sozialen Aus­ religiösen Wahn. Doch warum zündete die Provo­ Kabine teilt. An Schlaf ist nicht zu denken. Der lichkeit, ganze Staaten in Ethnien zu zerlegen, die einfach: Schill macht mit beim reaktionären
grenzung, die traditionell einen Sympathieanspruch kation überhaupt? Entlarvten sich in ihrer Dämlich­ Arme jammert so laut über die Hitze und seinen zum Bürgerkrieg aufgehetzt werden können, RTL­Sex. Man schnitzt sich ein Tabu
begründen, mussten im Lichte des Verdachts gegen­ keit die Zeichnungen nicht selbst? Manches spricht Durst, bis ihm der Wohlhabende, um Ruhe zu ha­ muss vielleicht nicht noch einmal angeführt (»die lustfeindliche Gesellschaft«), um dann
einander abgewogen werden. Der Zuschauer stand aber dafür, dass gerade in der Dämlichkeit die belei­ ben, etwas zu trinken besorgt. Die Ruhe tritt aber werden. Es genügt, an die Mode zu erinnern, gegen das schlimme Tabu frech zu verstoßen
vor dem moralischen Dilemma, eine Konkurrenz digende Botschaft gespürt wurde: dass hier der auf­ nicht ein. Der Arme jammert weiter – nunmehr Entschuldigung für historisches Unrecht ein­ – doch in Wahrheit sorgt man nur dafür, dass
um Mitleid und Wertschätzung aushalten zu müs­ geklärte Westen gar keine Religionskritik formulie­ über den schrecklichen Durst, den er gehabt hatte. zuklagen, die einige Zeit in Umlauf war, bis die die Ordnung ringsum schön ordentlich bleibt.
sen. Wer war mehr Opfer und also weniger wahr­ ren wollte, kein Recht auf Unglauben, sondern ein Die Pointe bei Landmann: Der Durst kann durch beteiligten Nationen erkannten, dass sie dabei in Wer bei solchen Pseudo­Provokationen an
scheinlich Täter? Recht auf Gleichgültigkeit – auf Nichtachtung und Wasser nicht gelöscht werden. Der Durst richtet unendlichen Regress geraten. Die Griechen, die die AfD denkt, liegt nicht falsch. Ob er nicht
Das unschöne Phänomen wurde später in den Nichtanerkennung. Es gehört wenig Psychologie zu sich darauf, bedauert zu werden. Man könnte auch Grund hatten, von den Deutschen Entschuldi­ bei Frauke Petry mitmischen möchte, wollte
Debatten um das Berliner Holocaust­Mahnmal als der Vermutung, dass Fanatiker einer Minderheit, sagen: Den Armen dürstet nach Anerkennung. gung zu verlangen, hätten sich mit gleichem der stern von Schill wissen. Die Antwort war

32 Awards
Opferkonkurrenz bekannt. Gleich hinter den Ju­ die unter ihrer Unsichtbarkeit leidet – an der bes­ Hegel hat in seiner Phänomenologie des Geistes, die nackte Wahrheit: »Ich bin es gewohnt, in
den, deren vorrangige Opferwürde niemand be­ tenfalls achtlosen Toleranz der Mehrheitsgesell­ auf die auch Honneth Bezug nimmt, darauf hin­ Fortsetzung auf S. 42 erster Reihe zu stehen.« THOMAS AS S HEU E R

P W
W RTSCHA T W RTSCHA T DOSS ER
62 15. D E Z E M B E R 2016 D I E Z E I T N o 52

W Jugendliche sind heute so aufgeklärt wie nie, könnte man meinen. Aber was treibt sie wirklich um, wenn sie an das erste Mal denken?
In Aufklärungs-Workshops an Schulen überall in Deutschland schreiben sie ihre Fragen anonym auf. Wir zeigen 100 davon

A S N
of Excellence
Was Teenager über
W Sex wissen wollen
1.)

2.)

3.)

4.)

für Design
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8.)

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und Konzept
12.)

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19.)

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4 POLITIK 27. A p r i l 2017 D I E Z E I T N o 18 42 WISSEN GRAFIK: UNTERSTÜTZUNG IN KRISEN 8. D E Z E M B E R 2016 D I E Z E I T N o 51 20. J u l i 2017 D I E Z E I T N o 30 WEIZEN IN GEFAHR WISSEN 33 8 POLITIK 9. M ä r z 2017 D I E Z E I T N o 11

Erste Hilfe Davon lebt die Welt


Bös zu sein,
ZUM RAUSTRENNEN

Die Spendenbereitschaft vieler Menschen ist groß, gerade jetzt im Dezember. Weizen ist eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel des Menschen

bedarf es wenig
Die größten Importländer

No
Auch Staaten geben für humanitäre Hilfe hohe Summen aus. In Millionen Tonnen, jeweils
Wie viel Geld fließt tatsächlich – und wer zahlt was? Durchschnittswert für Zeitraum 2009–2011

Anbaufläche weltweit Ägypten 9,8

391
Fast siebenmal Deutschland:
Italien 7,1
Auf solch einer großen
Die Geber Welche Staaten geben wie viel?
Fläche wird Weizen angebaut
Algerien 6,1

Mehr als 22 Milliarden Euro In absoluten Zahlen liegen die USA vorn, Brasilien 5,8
Deutschland liegt unter den Top Fünf. Die Themen der
haben OECD- und andere Staaten letzten Grafiken:
:
haft
sowie private Spender im Jahr 2015 Gemessen am Wohlstand, also bezogen Japan 5,5
für humanitäre Einsätze gespendet. auf das Bruttoinlandsprodukt des Landes
otsc
(BIP), verschiebt sich das Bild keine Kundgebungen kurz vor der Wahl, eB
390 pparat,
Allerdings ist das weniger, als
nzig
2
Zahlen gerundet OECD-Staaten 1
dafür tä
die Deutschen für Fernseher, Smart- 15,6 Mrd. ar teia gliche T
witter­Meldungen und nur ein
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phones und Computer ausgaben Die größten Exportländer
Der ZEIT-
Ke
Deutschland
(27,4 Milliarden) gab 2015 etwa
Gesamtsumme in Mrd. Euro
Adventskalender Millionen In Millionen Tonnen
m! Der Niederländer Geert Wilders ist d
en Isla
1. USA 5,7
im Jahr 2013
pt d er rad
1,3 Milliarden 2. Türkei 2,8 Tonnen p ikalste PA
Euro, fast die
Sto unter KRU
389 AS
1
35 der reichsten China 122
Hälfte davon für 3. Großbritannien 2,5
den rech AT THI
Staaten
die Betroffenen 4. EU Inst.4 1,8
produzierten die ten Verführern VO N M

D
Breitensport Landwirte weltweit im
peking Etwa ein Drittel
ihres errechneten
des Syrienkriegs 5. Deutschland 1,3
in Deutschland x 6,5 Jahr 2016 (geschätzt)
Indien 93,5

W
ie Macht schmückt USA 58
sich mit Bescheiden- Bedarfs fehlen den BIP
heit. in pekings Ver-
teidigungsministeri-
Vereinten Nationen
jedes Jahr
1. Türkei
2. Kuwait
0,37 %
0,33 % 388 Russland 52
ie wenig man braucht,
um ein Land zu ver­
regierungsamt innegehabt hat und obwohl bis
heute nie mehr als 1,5 Millionen Niederländer für
um sitzt uns an einem 3. VAE 0,25 % ZEIT-Leser in der hexen. Geert Wilders die PVV gestimmt haben.
Radarfalle Frankreich 39
langen Konferenz- 4. Schweden 0,19 % tritt öffentlich kaum auf, Fast zwangsläufig, dass Wilders, der reduk­
tisch aus schwerem, Humanitäre Hilfe obwohl er gerade im tionskünstler, den Kurznachrichtendienst Twitter
Andere Staaten 5. Luxemburg 0,16 %
poliertem Holz bezeichnet Leistungen, die dort Wahlkampf steckt. Er früh für sich entdeckt hat. Der erste Tweet von
Private Spender 1,8 Mrd.
Oberstleutnant Wu Qian gegenüber. Tadellos Leid lindern, wo Menschen durch veranstaltet keine Kund­ @geertwilderspvv stammt aus dem Mai 2009
gebügelte grüne Uniform, glänzendes Eng- Krisen (Naturkatastrophen oder 4,9 Mrd. 18. Deutschland 0,04 % Weltweite Produktionsentwicklung gebungen und diskutiert auch nicht mit Bürgern. (»Die Sonne scheint hier«), weit über 7300 sind
lisch, freundliches lächeln. Was Chi- Kriege etwa) akut in Not sind. Auf guten Standorten: Immer mehr Weizen wurde über die Der Mann mit den auffällig blonden Haaren hat seitdem gefolgt. Wilders in den USA, Wilders in
nas größte strategische Herausfor- 4
EU-Institutionen wie die Kommission haben Nahrungsmittel nicht einmal eine richtige Partei und schon gar der zeitung, Wilders mit Katze. Viele Nachrich­
Im Gegensatz zur langfristigeren Jahre produziert. Für 2017 wird allerdings
derung sei, wollen wir von ihm
eigene Hilfsbudgets
Weizen deckt 19 Prozent des 14 t/ha keinen Apparat, nur ein paar Mitarbeiter. Sein ten sind selbstreferenziell, dazwischen findet sich
Entwicklungshilfe wird sie auch ein Rückgang prognostiziert – in
wissen. Und Wu Qian, Sprecher »Überlebenshilfe« genannt Kalorienbedarfs der Menschheit Ertrag im In Deutschland aktuell: der EU und der Ukraine fällt zu wenig Regen Programm besteht im Wesentlichen aus einem immer wieder eine Provokation. Vor ein paar
des Ministeriums, antwortet: »Die Vergleich (Angabe in Millionen Tonnen ) Satz, den er ständig wiederholt: Wilders möchte Tagen verlinkte Wilders ein Video von Aus­
8 t/ha
Entwicklung unseres landes.« den Islam »stoppen« und die Niederlande »ent­ schreitungen im Pariser Vorort Saint­Denis und
In Deutschland am Im globalen
Wie bitte? in Nordkorea be- Internationale islamisieren«. Nur eines macht er exzessiv: Wilders fragte: »Jetzt in Paris, bald in den Niederlanden?«
Anfang des Durchschnitt: 760* 740**
schafft sich ein unberechenbarer Organisationen 735 verschickt fast stündlich einen Tweet. Anfang Februar zeigte er den Vorsitzenden der
Jungdiktator Atomwaffen, die USA 20. Jahrhunderts: 3–4 t/ha Unter all den Nationalisten und Populisten, die linksliberalen Partei D66, Alexander Pechtold,
11,4 Mrd. 590
drohen mit einem Angriff, und für
die Volksbefreiungsarmee ist die Ent- Die Verteiler NGOs
2 t/ha
230
430 die politische Bühne geentert haben, ist Geert
Wilders die radikalste Figur. Seit mehr als einem
inmitten von Muslimen, die die Einführung der
Scharia in den Niederlanden fordern. Das Foto
wicklung des eigenen landes die größ- Jahrzehnt beherrscht er die niederländische Poli­ ist eine Fälschung, als Pechtold sich beschwerte,
7,0 Mrd.
te Sorge? Staatliche Hilfsgelder fließen meist tik, er ist weit über die Landesgrenzen hinaus be­ twitterte Wilders zurück: »Hör auf zu klagen,
Die Antwort des Offiziers ist nur auf an internationale Organisationen, kannt – der einzige Niederländer, der jemals auf Drama­Queen.«
den ersten Blick überraschend. Bei genaue- private Spender überweisen häufiger der Titelseite des britischen Economist abgebildet Mehr als 780 000 Menschen folgen Wilders.
rer Betrachtung erscheint sie plausibel, ge- an Nichtregierungsorganisationen RCRC 3
Staatliche 1961 1981 2001 . . . 2015 2016 2017 war. Dabei ist Wilders ein Minimalist. Ein politi­ Politik in 140 zeichen, schnell, unmittelbar und
rade in der gegenwärtig so aufgeheizten Si- 1,8 Mrd. Institutionen scher reduktionskünstler, der den Populismus maximal zugespitzt – wie man per Tweet die poli­
(NGOs). Immer wichtiger wird Hilfe Andere *Schätzung **Prognose
tuation. Denn sollte der Konflikt um das für Geflüchtete – in Form von Zelten 1,3 Mrd. 0,6 Mrd. und seine Funktionen ähnlich zugespitzt hat wie tische Agenda dominiert, das hat Wilders vor­
ZEIT-Grafik: Anne Gerdes und Lydia Sperber, Foto: Norman Hoppenheit für DZ
nordkoreanische Atomprogramm zu einem und Trinkwasser bis hin zu Schulen Quellen: Food and Agriculture Organization of the United Nations, United States Department of Agriculture: Steve Jobs die Benutzeroberfläche des iPhones. In gemacht, lange bevor Donald Trump US­Präsi­
Krieg eskalieren, wären die Erfolge von 40 Foreign Agricultural Service, Deutscher Bauernverband Wilders’ Welt gibt es keinen Knopf zu viel. dent wurde. Aber anders als bei @realDonald­
und Angeboten wie Traumatherapie
Jahren chinesischer reformpolitik in Gefahr. Vor vierzehn Tagen wollte Geert Wilders ei­ Trump wirkt nichts, was @geertwilderspvv mitteilt,
Deshalb sucht die regierung in peking nun den 3
Rotes Kreuz und gentlich in Volendam vorbeischauen, einem belieb­ spontan oder gar unüberlegt. Wilders gilt als Kon­
Schulterschluss mit dem großen geopolitischen Roter Halbmond ten Ausflugsort, unweit von Amsterdam am Ijssel­ trollfreak, der nichts von sich preisgibt, was ihm
rivalen Amerika. Gemeinsam mit Washington meer gelegen. Jeder zweite Wähler dort hatte in der nicht irgendwie nutzt. Aber ausgerechnet das Bild
will es den Frieden sichern. Gemeinsam mit Do- Vergangenheit für Wilders gestimmt. Es wäre einer von Merkel mit den blutigen Händen hat seinen
nald Trump. Ausgerechnet. seiner seltenen Auftritte gewesen. Doch Wilders Bruder auf den Plan gerufen. Ebenfalls per Tweet
Wenn man in diesen Tagen Gespräche in pe- kam nicht nach Volendam, jedenfalls nicht an entschuldigte sich Paul Wilders für das »Be­
kinger Ministerien führt, im parlament am platz diesem Samstag. Kurz vor dem geplanten Besuch nehmen« seines jüngeren Bruders.
des Himmlischen Friedens, in Universitäten und war ein Polizist des staatlichen Sicherheitsdiensts Eine politische Figur wie Geert Wilders, ohne
Rechte Welle: Geert Wilders’ Haarschopf
Thinktanks, kann man dem Umdenken nachspü- festgenommen worden, er soll Informationen Programm und ohne Partei, ist unvorstellbar ohne
ren, das in der chinesischen Hauptstadt begonnen über Wilders’ mögliche Aufenthaltsorte weiter­ das Internet und die sozialen Medien. Aber diese
hat. Kein Zweifel: Die Kriegsgefahr in Ostasien dheit gegeben haben. Der heute 53­Jährige lebt an ei­ der erste: die Forderung nach einer »Entislamisie­ ausgehe. Schon damals hatte er auch eine Verbin­ Wilders führt seinen Kampf gegen den Islam Abhängigkeit ist auch ein Problem. Wilders lebt
Gesun %
verändert die politischen Frontstellungen. 13,3 nem geheimen Ort und wird rund um die Uhr rung« der Niederlande. Wilders will alle Mo­ dung zur zuwanderung hergestellt, »denn durch stets mit dem Hinweis auf die eigenen Lebens­ von der öffentlichen Erregung, die er immer wie­
Nicht
Dies also hat Kim Jong Un, Nordkoreas Dikta- spezifiziert 1,4 % Heimat von ug99, und in der Himalaya-Region, auf den Horstberg. Er arbeitet sonst in Minnesota Zwischenwirt nutzt. Er ist überzeugt: Wenn man sie die ursache für diese bedenkliche neue Vielfalt mehr als die Hälfte der Anbaufläche in Deutsch- bewacht, seit islamistische Extremisten 2004 zum scheen schließen, den Koran verbieten und keine die zuwanderung kommt der Extremismus auch umstände. Seit bald 13 Jahren begleiten ihn Leib­ der neu anfachen muss. Das Netz verlangt dafür
tor, erreicht: Donald Trump und der chinesische ng
Bildung 1,4 % wo Warrior und Kranich herkamen. in diesen Re- als Pflanzenpathologe für das amerikanische land- die Roste langfristig bekämpfen will, muss man beim Schwarzrost?« Diese Fragen sind entschei- land aus. ersten Mal gedroht hatten, ihn zu ermorden. Der Asylbewerber aus islamischen Ländern mehr auf­ zu uns«. Der Politikwissenschaftler Koen Vossen wächter auf Schritt und Tritt; aus Sicherheitsgrün­ nach immer neuen zuspitzungen, nach immer
Staa Nahru % gionen finden die Pilze ideale lebensbedingungen. wirtschaftsministerium. Bei ihm und seinem Team alle ihre lebensstadien kennen. »Die Berberitze dend für eine langfristige Strategie gegen den Pilz. 2016 gab es zwei neue Schwarzrost-Fälle in niederländische Innenminister versicherte nach nehmen. 7,2 Milliarden Euro würden so gespart, hat Wilders’ Entwicklung vom Islamkritiker zum den müssen er und seine Frau häufig die Wohnung radikaleren Formulierungen und krasseren Bil­
17,2 Wasser undSanitär 2,7 %
Das Klima ist mild, ohne harte Winter und mit laufen die genetischen Analysen neuer Schwarz- wird oft übersehen. Aber wenn wir nur auf den Aber im Moment gibt es auf sie keine Antwort. Niedersachsen, doch diese Ausbrüche blieben bis- der Festnahme, Wilders sei zu keinem zeitpunkt behauptet er. kompromisslosen Kämpfer wider den Islam in wechseln; er kann nicht allein Auto fahren, ein­ dern. Aber was soll eigentlich noch kommen,
Wirtschaft und

D
hilfe Infrastruktur 3,0 % genug Niederschlag. und es steht in den verschie- roste aus aller Welt zusammen. Zusammen mit Weizen schauen und nicht auf den Zwischenwirt, her lokal. Auf Sizilien dagegen hat im vergangenen gefährdet gewesen. Dieser sagte den geplanten Der Kampf gegen den Islam – um dieses ziel Büchern und Aufsätzen nachgezeichnet. Wilders’ kaufen oder ins Kino gehen. In dieser Hinsicht ist wenn man Merkel erst einmal als Mörderin gezeigt
tlings% denen Höhenlagen praktisch das ganze Jahr über Kerstin Flath hat er auch die deutschen Proben dann sehen wir nur die halbe Geschichte.« er Befall auf den Blättern, die Yue Jin Jahr ein anderer Schwarzrost Zehntausende Hektar Auftritt dennoch ab, aus Sicherheitsgründen, wie kreist alles, was Wilders tut oder lässt, sagt oder Warnung, die damals ungehört verhallte, sieht er Wilders ein Schicksalsgenosse Salman rushdies. hat? Wenn man den Koran mit Mein Kampf und
Rechtsstaatlichkeit 3,2 %
Flüch 19,3 irgendwo junger, zartblättriger Weizen im Feld. analysiert. »Wir sind sehr beunruhigt über diese Es gibt noch einen dritten Grund, warum die abgeschnitten hat, ist sehr wahrschein- Weizen infiziert. Die Sporenbelastung in der luft er in einem Tweet mitteilte. In einem weiteren twittert. als einen Schlüsselmoment: Durch die Anschläge Es heißt, sein Name stehe auf mehreren »Todes­ den Islam mit dem Nationalsozialismus gleich­
Hilfsgüter außer Lebensmittel 5,1 % gesetzt hat? Wenn man die Marokkaner im Land
Das heißt: Auch für den Pilz, der lebende Blätter vielen neuen Pilzrassen«, sagt er, »vor allem, weil Wissenschaft sich bisher so wenig mit der Berberitze lich ein anderer Pilz und harmlos (zu- über Europa ist darum im Moment besonders Tweet fragte Wilders, wie er jemals sicher sein Anders als Marine Le Pen, mit der er oft ver­ vom 11. September 2001 und den grausamen listen« islamistischer Extremisten. »Meinungs­
Koordination und Logistik 5,7 % braucht, um sich zu vermehren, läuft die Produk- wir nicht verstehen, wo genau sie herkommen.« befasst hat: Sie war einfach nicht da. Auch wenn mindest für den Weizen). Vor allem hoch. Ähnlich wie 2013 war auch in diesem Jahr könne, wenn er auf der Todesliste Al­Kaidas glichen wird, hat Wilders seine Karriere in der po­ Mord an dem niederländischen Filmemacher freiheit«, sagt Wilders, »ist die einzige Freiheit, die als »Abschaum« bezeichnet und den türkischen
tion praktisch das ganze Jahr. Entsprechend viele Seine Sorge ist nicht, dass die Sporen vom sie die Details der Beziehung von Rost und aber ist er im falschen Stadium. »Was wir nach- das Frühjahr kühl, und der Weizen trieb später aus stehe und die regierung ihn von »korrupten litischen Mitte begonnen. 14 Jahre lang arbeitete er Theo van Gogh drei Jahre später, verübt von einem ich habe.« Er werde daher nie seinen Mund halten. Präsidenten Erdoğan einen »islamofaschistischen
e Hilfe Sporen hängen in der dünnen luft herum. Dazu Horstberg nach Minnesota fliegen. Sondern dass Berberitze nicht kannten, war zum Beispiel den weisen müssen, ist, dass der Pilz sich auf der Ber- als normal. »Bisher haben wir noch keine Mel- Muslim­Polizeibewachern« beschützen lasse. Der für die wirtschaftsliberale VVD, die Partei von islamischen Fundamentalisten, habe Wilders sich Diktator« genannt hat?
mein %
kommt die uV-Strahlung. Viele Sporen und viel am Horstberg etwas passiert ist, was auch in Min- Bauern in Frankreich das gemeinsame Auftreten beritze tatsächlich fortpflanzt. Das können wir nur dungen bekommen«, sagt Kerstin Flath. »Aber festgenommene Polizist war ein Niederländer mit Ministerpräsident rutte, im niederländischen Par­ bestätigt gesehen. »Seitdem vertraut er ausschließ­ Das Kopftuch der Musliminnen Anders, persönlicher formuliert: Welches ziel
Allge 27,7
Strahlung führen zu vielen Mutationen, führen zu nesota (und an anderen Orten) passieren könnte. der beiden schon im 17. Jahrhundert Grund ge- im labor zuverlässig feststellen. und dazu müssen ANZEIGE marokkanischen Wurzeln. lament. Er war erst Assistent, dann Abgeordneter, lich auf seine politische Intuition«, so Vossen. Ein nennt Wilders einen »Kopflumpen« verfolgt Geert Wilders eigentlich noch?
großer Vielfalt. Aber: Das Ganze ist ein allmähli- und dass die Berberitze dabei eine zentrale Rolle nug für erste Ausrottungskampagnen. im frühen wir die richtigen Sporen finden, zur richtigen Zeit.« Die Episode beschreibt, wie man mit sehr we­ bevor er 2004 die VVD im Streit um deren Hal­ Selfmademan und politischer Einzelgänger, rück­ Auf diese Frage hört man in Amsterdam und
cher Prozess. Er erklärt nicht, wie in kurzer Zeit spielen könnte. 20. Jahrhundert war die Berberitze praktisch aus Yue Jin nimmt die GPS-Daten für den Horstberg nigen Mitteln sehr viel Aufmerksamkeit erheischt. tung zum Islam und zu einer möglichen Aufnahme sichtslos, besessen und zunehmend enthemmt. Wilders rechtfertigt seinen Kampf mit der eigenen Den Haag zwei ganz unterschiedliche Antworten.
Die Empfänger 65,3 Millionen Menschen
waren 2015 weltweit auf
immer wieder neue Rassen in die Welt kommen.
Dabei ist noch ein anderer Mechanismus im Spiel.
Die Gemeine Berberitze, Berberis vulgaris, ist
wahrscheinlich aus Asien nach Europa gekommen
Westeuropa verschwunden.
Auch in den uSA gab es zu dieser Zeit in vielen
auf und instruiert Kerstin Flath und die Züchter,
worauf sie bei der Probennahme achten müssen.
Noch vor dem geplanten Besuch in Volendam
hatte Wilders auch seine zusage für eine Fernseh­
der Türkei in die EU verließ. zwei Jahre später
gründete er die Partei für die Freiheit (PVV), bis
Anfangs hatte Wilders noch zwischen einem
moderaten und einem radikalen Islam unterschie­
Bedrohung. Umgekehrt hat diese Bedrohung zu
seiner radikalisierung beigetragen. Je länger Wil­
Die eine ist ein bisschen komisch, die andere ziem­
lich traurig. Wilders sehe sich als »neuer Chur­
der Flucht, mehr als die Wie viele Parasiten haben auch Rostpilze zwei und mit den europäischen Siedlern weiter in die Staaten schon Gesetze gegen die Berberitze. Syste- Sie werden die Berberitzen auf dem Horstberg von diskussion mit den Spitzenkandidaten der anderen heute ist er ihr Vorsitzender und zugleich ihr einzi­ den. Doch je stärker er unter den Einfluss anti­ ders Politik macht, desto weniger gleicht er einem chill«, sagen die einen: als Freiheitskämpfer, der
Wo wie viel Hilfe geleistet wird, lässt Hälfte davon Kinder verschiedene Wege, sich zu vermehren. Bei dem uSA gezogen. Eine richtige Kulturpflanze war sie matisch verfolgt wurde sie jedoch erst zum Ende nun an genau beobachten. großen Parteien zurückgezogen. Diesmal ging es ges Mitglied. Die meisten Abgeordneten, die die islamischer Autoren wie Oriana Fallaci und ame­ Politiker. Dieser ringt mit Widersprüchen und die Welt vor dem Bösen bewahren muss, in diesem
sich gut anhand der Notfalleinsatzpläne einen teilen sich die Pilzzellen einfach und produ- nie, eher ein Kulturfolger. Dornig und genügsam, des Ersten Weltkriegs, als man nach mehreren Obwohl Bauern und Wissenschaftler den Rost nicht um Sicherheitsgründe, der Fernsehsender Partei etwa in Den Haag oder im Europaparlament rikanischer Neokonservativer geriet, desto weniger versucht, Interessen auszugleichen. Der Nieder­ Fall dem Islam. »Wenn wir es nicht schaffen, die
der UN sehen. Sie zeigen nicht alle zieren so (beinahe) identische Klone. Das geht wie sie ist, war sie als Hecke sehr beliebt, als Vieh- schweren Schwarzrost-Epidemien die nationale also seit Jahrtausenden kennen und fürchten, gibt hatte es vielmehr gewagt, ein kritisches Interview vertreten, hat Wilders zwar persönlich ausgesucht, differenzierte er noch. Immer wieder reiste er nach länder erinnert in seiner radikalen reduktion viel­ Natur des Bösen zu verstehen, sind wir dazu ver­
Einsätze, aber viele der dringlichsten. schnell und massenhaft und bringt Veränderung in zaun und Erosionsschutz. ihre leuchtend roten Weizenproduktion bedroht sah. Fast 1,7 Millionen es noch immer viele unbekannte. Eins haben die mit Wilders’ älterem Bruder auszustrahlen. Auf aber formal sind sie unabhängig. In den Kommu­ Israel und in die USA, unter anderem traf er mehr an einen Konzeptkünstler, sein Auftritt hat urteilt, die nächsten Opfer zu werden«, schreibt
Vor Ort arbeiten die UN mit privaten kleinen Schritten. Dieser Weg, das Klonen, findet Beeren liefern wertvolles Vitamin C. und sie sind Büsche wurden allein im Jahr 1918 ausgegraben vergangenen 15 Jahre jedoch gezeigt: Der Schwarz- 15. November 2017 • Frankfurt am Main Twitter attackierte Wilders den Journalisten, der nen ist die PVV bis auf zwei Ausnahmen nicht ver­ richard Perle, einen der Vordenker des zweiten sich weitgehend von der Wirklichkeit gelöst. Wilders in seiner Autobiografie Marked for Death
Hilfsorganisationen zusammen im Weizen statt. gutes Vogelfutter, darum breitete sich die Berberitze und vernichtet. Pfadfinder und Jungbauernvereine rost ist immer aktiv. und er verschwindet nicht. Mit: Michael O’Leary, CEO, Ryanair DAC das Interview geführt hatte, scharf. treten. Es gibt keine Parteizentrale, keine Parteitage, Irakkriegs. Enthusiastisch unterstützte Wilders die Ein wichtiger Teil der Wildersschen Kunst ist (»zum Töten freigegeben«). Das Buch ist auf Eng­
besetztes Auf dem anderen verschmelzen zwei Zellen, mit dem Vogelkot auch unabhängig vom Men- durchkämmten das land. Die meisten Büsche Seine Strategie ist lang erprobt und bewährt: Sei Die Absage eines Auftritts bringt mehr Schlag­ keine Ortsvereine, keine Jugendorganisation, nur Idee, den Nahen und Mittleren Osten zu demo­ die Sprache. »Er hat ein vollständig neues Vokabu­ lisch geschrieben, genauso wie viele Tweets – der
palästinensisches mischen ihr Erbgut und vermehren sich dann wei- schen weiter aus. wurden mit Maultieren oder Traktoren aus der vielseitig. Sei anpassungsfähig. Reise viel und reise zeilen als ein Auftritt, und ein kurzer Tweet ist ihn: Geert Wilders. Und ein oder zwei Vertraute. kratisieren. Er war selbst in Syrien, ägypten und lar eingeführt«, sagt der Autor Jan Kuitenbrouwer. Kampf gegen das Böse endet nicht an den nieder­

E
Ukraine Gebiet ter – eine sexuelle Fortpflanzung, wie sie auch Erde gerissen, größere Schläge mit Dynamit ge- weit. Nutze jede Gelegenheit. effizienter als eine lange rede – so funktioniert im Iran gewesen. Im Sommer 2007 veröffentlichte Wilders spricht nicht von zuwanderung, sondern ländischen Grenzen.
Säugetiere und viele andere lebewesen betreiben. in Zusammenhang zwischen Schwarzrost sprengt. um Neuaufwuchs aus dem verzweigten Was heißt das für die Züchter? »Es treten im Wilders’ Minimalismus. Und er funktioniert of­ Nach dem Berliner Attentat twitterte er er einen Artikel in der Volkskrant, seitdem führt für immer von »Massenzuwanderung«; Koranschulen Andere verweisen auf Wilders’ Leben im stän­
Das dauert etwas länger, ermöglicht aber schnelle- und Berberitze ist schon lange bekannt. Wurzelwerk zu verhindern, wurde tonnenweise Züchtungsprozess immer wieder andere Krankhei- fensichtlich gut, die Umfragen sagen für die Wahl ein Bild von Merkel mit blutigen Händen ihn kein Weg zurück. Die Wurzel des Problems sei nennt er konsequent »Scharia­Schulen«, das Kopf­ digen Ausnahmezustand. »Geerts Welt ist sehr
Honduras Syrien re, manchmal radikale Veränderung. Dieser Weg, Doch der Schwerpunkt der Wissenschaft- Salz aufgeschüttet. Von Kerosin hatte man nach ten in den Vordergrund«, sagt Cöster, als die Grup- am kommenden Mittwoch ein Kopf­an­Kopf­ »der faschistische Islam, die kranke Ideologie von tuch, das gläubige Musliminnen tragen, ist für ihn klein geworden: das Parlament, öffentliche Ver­
Guatemala Irak der Pilzsex, führt über die Berberitze. ler lag immer auf der Wirtschaftspflanze. ersten Versuchen wieder Abstand genommen. pe vom Horstberg hinunterkraxelt. »Diese Wellen, rennen zwischen Wilders und dem amtierenden Während die Französin Le Pen ihren Ton gemäßigt Allah und Mohammed«, schrieb Wilders. Erstmals ein »Kopflumpen«. Kein anderer Politiker in den anstaltungen und die Wohnung – er kann kaum
Afghanistan
Libyen Myanmar und das bringt uns zurück auf den Horstberg. Was der Pilz auf dem Weizen macht, das weiß man Über die Jahre wurde das Vernichtungsprogramm die kennen wir, das ist unser Beruf. Aber wir selek- Ministerpräsidenten Mark rutte voraus. (Aller­ und ihre Partei von rechts außen in richtung verglich er den Koran mit Hitlers Mein Kampf: Niederlanden schaffe es, seine Weltsicht auf diese woanders hingehen«, hat sein Bruder dem Spiegel
Haiti Mauretanien Tschad Sudan Jemen Denn der steht voll mit Berberitzen. und zu leo, bis ins letzte Detail. Aber auf der Berberitze? Hm. stetig ausgeweitet, unter anderem als Arbeitsbe- tieren insgesamt auf 30 Eigenschaften, die der dings wird wohl keine der fast 30 Parteien, die an­ Mitte geführt hat, ist Wilders den umgekehrten »Warum verbieten wir das fürchterliche Buch Art zu komprimieren, sagt Kuitenbrouwer, der ein gesagt. »Geert hat nicht mehr viel im Leben außer
Mali Niger
Dschibuti Illustration: dem Hund von Hilmar Cöster, dem Weizenzüch- Das hat auch damit zu tun, dass Weizen im schaffungsmaßnahme während der Großen De- Weizen haben muss, und Rostresistenz ist nur eine treten, mehr als 20 Prozent erhalten.) Weg gegangen. Der Niederländer hat sich immer nicht, so wie wir Mein Kampf verboten haben!« Buch über Wilders’ Sprache geschrieben hat. Viele der Politik.« Ein Ausscheiden aus der Politik hätte
Gambia Doreen Borsutzki ter. Cöster und leo sind oft auf dem Horstberg labor leicht zu vermehren ist. Gleiches gilt für die pression nach 1929. im Jahr 1972 waren 98 Pro- davon. Am Ende muss die Balance stimmen.« Ge- äußerst reduziert ist auch das Wahlprogramm, weiter radikalisiert. Der Islam sei keine religion, sondern eine tota­ Begriffe, die dieser geprägt habe, seien in den für ihn weitreichende Konsequenzen: Wäre er
2016 sollten in 30 Ländern Somalia
unterwegs, und bei einem ihrer Ausflüge fielen Pilzsporen in ihrer »Weizenphase«. Die mehrjähri- zent der Kampagnenflächen frei von anfälligen nerell sei es ihm wichtiger, sagt er, dass die Pflanze genauer gesagt das, was Wilders als sein Wahl­ Im vergangenen Dezember, einen Tag nach litäre Ideologie, das ist der Kern von Wilders’ allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen, so nicht mehr Abgeordneter, würde er wahrschein­
94,5 Millionen Menschen mit Senegal Äthiopien Recherche: Cöster an einigen Büschen merkwürdige rostrote ge Berberitze dagegen ist für laborexperimente Berberitzen. Das Problem schien gelöst, auch für durchschnittlich widerstandsfähig gegenüber www.deutscheswirtschaftsforum.de programm ausgibt. Elf Punkte hat er auf einem dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, Denken. Muslimische zuwanderer sieht er als Keitenbrouwer. »Linke Hobbys« etwa, damit lich nicht mehr rund um die Uhr bewacht.
UN-Hilfen versorgt werden. Ecuador
Südsudan Lea Frehse Pusteln auf. »Seit dem Ausbruch 2013 bin ich wesentlich aufwendiger zu halten. und die Pilz- die meisten Wissenschaftler. Die wichtigen Fragen vielen verschiedenen umwelteinflüssen sei als DIN­A4­Blatt formuliert, zehn davon sind Ein­ verbreitete Wilders auf Twitter ein Bild, das An­ »Kolonialisten«: die Speerspitze einer »dritten isla­ brandmarkt Wilders aus seiner Sicht überflüssige Selbst wenn die PVV bei der Wahl die meisten
Foto: Milan Vermeulen/Hollandse Hoogte/laif

35 Millionen weitere Bedürftige Zentralafrikanische natürlich wachsamer geworden«, sagt er. »Aber ich sporen auf ihren Blättern sind ziemlich heikel – blieben so unbeantwortet: wie genau der Pilz sich hundertprozentig widerstandsfähig gegen eine zeiler: »Die EU verlassen« – »Einkommensteuern gela Merkel mit aufgerissenem Mund und blut­ mischen Invasion«. Die erste wurde 732 von Karl Ausgaben für Kultur oder Entwicklungshilfe. Stimmen erhalten sollte, wird Wilders nicht Mi­
wurden nicht erreicht Republik Fidschi Quellen: bin kein Experte ...« bevor sie überhaupt auf der Berberitze keimen, auf der Berberitze vermehrt, welche Rolle sie bei spezielle Krankheit. »Auf diese Feldresistenz senken« – »Viel zusätzliches Geld für Verteidigung verschmierten Händen zeigt. Die Botschaft war Martell in der Nähe der französischen Stadt Tours, Oder der »Grachtengürtel«, den Wilders als Syno­ nisterpräsident werden. Fast alle anderen Parteien
Burkina Faso Glob. Humanitarian Der Experte ist Professor Yue Jin, und der kniet brauchen sie eine »Winterruhe«, und wenn man der Entstehung von Rost-Epidemien spielt oder kommt es an. Sie ist langfristig stabiler, auch wenn103540_ANZ_10354000011105_14546045_X4_ONP26 1
auch wenn der Schwarzrost sich in diesem 13.07.17 12:29
Jahr und Polizei«. Jeder dieser Punkte ist mit einem eindeutig, auch ohne Worte: Wer Muslime auf­ die zweite 1683 vor Wien zurückgeschlagen. Im­ nym für eine liberale, vermeintlich abgehobene haben eine zusammenarbeit mit ihm ausgeschlos­
Simbabwe
Nigeria Assistance Report gerade auf dem kargen Boden und tütet eine Probe sie im falschen Moment erwischt, dann machen sie wie sie die Evolution neuer Rassen beeinflusst. man hier und da vielleicht gewisse Verluste in Kauf nicht zeige, »heißt das noch lange nicht, dass die Milliardenbetrag versehen, mal sind es Kosten, nimmt, wird zum Handlanger der Terroristen. Die mer öfter und immer unverstellter greift Wilders (Amsterdamer) Elite etabliert hat. Ihr Gegenstück sen. Die meisten Beobachter sind sich ohnehin
Demokratische 2016; UN Office mit rostbewachsenen Berberitzenblättern ein. gar nichts mehr. »Diese Forschungslücke holt uns jetzt ein«, sagt nehmen muss.« Das Gute ist, dass die Tests in den Gefahr gebannt ist«. Für konkrete Prognosen mal Einsparungen. Für Verteidigung und Polizei Kanzlerin als Mörderin – die Montage war der die rund 380 000 Marokkanischstämmigen an, die sind »Henk und Ingrid«, die idealisierten Vertreter sicher: Wilders will gar nicht regieren – das sei der
Kamerun Republik Kongo for the Coordination liegt hier die ursache für die ungewöhnliche Viel- Yue Jins labor ist eines der wenigen weltweit, Yue Jin. Denn die Berberitze kehrt zurück. in Eu- uSA gezeigt haben, dass es durchaus noch wirksa- fehlen ihr nach wie vor die informationen. »Wir etwa veranschlagt Wilders Mehrausgaben in Höhe bisherige Höhepunkt einer seit Jahren andauern­ in den Niederlanden leben. Nach den Türken stel­ des vermeintlich einfachen Volkes. größte Unterschied zu Le Pen.
of Humanitarian falt der deutschen Schwarzroste? »Das wissen wir die sich überhaupt mit der Berberitze und ihren ropa ebenso wie in den uSA nehmen die Bestände me Resistenzen im deutschen Zuchtmaterial gibt, müssen einfach mit allem rechnen und flexibel von zwei Milliarden, gemeint sind offensichtlich den, offenbar gezielten Eskalation. len sie die zweitgrößte Einwanderergruppe. Wil­ Kuitenbrouwer sieht die Sprache als Indiz da­ Auch das wäre konsequent. Denn wer regiert,
Affairs; UN World eben nicht«, sagt er. »Darum bin ich ja hier.« Rostpilzen befassen. Vor wenigen Jahren erst wieder zu. »Aber was wir nicht wissen«, sagt Yue auf die man zurückgreifen kann. Es gibt allerdings bleiben«, sagt Flath. Genau wie der Pilz. Euro. Wie die Beträge zustande kommen, ist un­ Bereits 1999, vor bald 20 Jahren, hatte Wilders, ders spricht gern von »marokkanischen Straßen­ für, wie sehr Wilders das Land in den vergangenen muss sich der Wirklichkeit stellen. Geert Wilders
Food Programme Der schmale Mann mit Trekkinghut und Wan- konnte er nachweisen, dass nicht nur der Schwarz- Jin, »ist: Benutzt der Pilz sie überhaupt? ist die auch viele Sorten, die anfällig sind, darunter einige klar, aber unter dem Strich steht eine schwarze damals noch Mitglied der Liberalen, vor der Ge­ terroristen«. Im Wahlkampf sagte er, es gebe viel zehn Jahren geprägt und die politische Kultur aber lebt längst in seiner eigenen, immer kleine­
(WFP); gfu derstock hatte mit Abstand die weiteste Anreise rost, sondern auch der Gelbrost die Berberitze als Berberitze als Zwischenwirt aktiv? und wenn ja, ist der am häufigsten angebauten. Sie machen zurzeit www.zeit.de/audio Null. Der einzige Punkt, der ausgeführt wird, ist fahr gewarnt, die von muslimischen Extremisten »marokkanischen Abschaum in Holland«. nach rechts gerückt hat. Obwohl er niemals ein ren Welt.
4. DEZEMBER 2017

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NUMMER 50

EIN HEFT VOLLER GRÜNDE, SICH AUF 2018 ZU FREUEN


EIN HEFT ÜBER DAS JAHR

2018
In dieser besonderen Ausgabe des ZEITmagazins schauen wir nach 2017, deren Trauben er bereits gekostet hat, zu kaufen gibt. Illustriert
vorn: Wir wagen einen ersten Blick auf das Jahr 2018, wollen da­ haben wir das Heft mit Bildern von renommierten Fotografen aus aller
bei aber weitgehend ohne Spekulationen auskommen. Wir möchten Welt, die sich mit dem Thema Warten beschäftigen.
Foto Titel 1  Frank Herfort / Institute     Titel 2  Brian Finke

nicht mutmaßen, was so alles passieren könnte. Wir rufen auch keine Die Idee, eine ganze Ausgabe über das Warten zu machen, haben wir
künftigen Trends aus, die dann sowieso nicht eintreffen. Wir waren übrigens geklaut, ein bisschen allerdings auch von uns selbst: »Warten
bei keiner Wahrsagerin, haben keine Horoskope gelesen und auch auf« hieß eine Rubrik in jetzt, dem Jugendmagazin der Süddeutschen
nicht mit Zukunftsforschern gesprochen. Zeitung, das es von 1993 bis 2002 gab. Und einige ZEITmagazin-­
Stattdessen haben wir Menschen zugehört, die auf etwas warten, das Kollegen haben damals bei jetzt gearbeitet.
im kommenden Jahr tatsächlich passieren wird: mit einem Häftling, Für die vielen Leserinnen und Leser, die nun auf ihre Lieblingsrubriken­
der 2018 entlassen wird und sich darauf freut, mit seinem Sohn ­Urlaub warten: Mit der ZEIT-Ausgabe am kommenden Donnerstag er­
zu machen; mit einer Schülerin, die ihr Abitur vor sich hat; mit ­einer scheint das ZEITmagazin wieder wie gewohnt mit den Spieleseiten,
Schriftstellerin, die im Sommer ihren Debütroman veröffentlicht. dem Wochen­ markt, dem »Traum«, der Deutschlandkarte. Harald
Stefan Willeke, Chefreporter der ZEIT, wartet auf den 12. Mai, den Martenstein­finden Sie allerdings auch schon in diesem Heft: mit einer
Tag, an dem sein Lieblingsverein Schalke 04 deutscher Meister werden­ ­Hommage an die Schwärme seiner Jugend, die 2018 einen runden ­Ge­
könnte. Stefan Schmitt freut sich auf den 27. Juli, weil er dann seinen­ burtstag feiern, wie etwa Claudia Cardinale, die am 15. April 80 wird.
Kindern zum ersten Mal eine totale Mondfinsternis zeigen kann. Und Und wir, die ZEITmagazin-Redaktion, warten darauf zu hören, wie
Gero von Randow wartet darauf, dass es die guten Weine des Jahrgangs Ihnen dieses Heft gefällt.

5
Wann ist die Zuckerwatte endlich fertig? Aus einer Fotoserie über Kinder von den Fotografen Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky
aus Montreal, die sich gemeinsam mit anderen Fotografen in diesem Heft dem Thema Warten widmen

WARTEN
AUF
Die Fußballweltmeisterschaft beginnt, die zweite
Staffel der Lieblingsserie startet, das Abitur ist­
endlich geschafft: Für viele steht 2018 ein­
besonderes Ereignis an. Hier sind ihre Geschichten
– ein erster Blick auf das nächste Jahr
In einem Restaurant in Grosny, Russland, fotografiert von Frank Herfort
Die Filmemacherin Alexa Karolinski wartet auf Nachricht von der Berlinale

6
FEBRUAR

Frau Karolinski, sind Sie jemand, der gut warten kann? nicht genug dargestellt wird. Mit diesem Gefühl meine ich die Bana-
Nein. Ich bin ein ungeduldiger Mensch und mag es, die Kontrolle zu lität des jüdischen Alltags. Die kleinen Momente, die für die meisten
haben. Beim Warten muss man ja meistens die Kontrolle abgeben, sich Menschen unwichtig sind, aber mein Leben sehr geprägt haben.
zurücklehnen und die anderen machen lassen. Das fällt mir sehr schwer. Spielen Sie selbst mit?
Zurzeit warten Sie auf eine Nachricht von der Berlinale, ob die­ Nein, aber ich habe den größten Teil selbst gedreht und geschnitten.
Ihren Film »Lebenszeichen« zeigen will. Ich begegne in dem Film Familienmitgliedern, unter anderem meiner
Das stimmt, ich hoffe auf eine Zusage. Aber in so einer Situation sollte­ Mutter, deutschen Juden und Nichtjuden aus drei Generationen.
man auf keinen Fall abwarten und Tee trinken. Meine Strategie ist Was würde die Teilnahme an der Berlinale für Sie bedeuten?
es, an mehreren Projekten gleichzeitig zu arbeiten. Das hilft übrigens Eine Teilnahme bedeutet für jeden Filmemacher natürlich enorme
nicht nur beim Warten, sondern auch, wenn man bei einem kreativen Sichtbarkeit und Prestige. Außerdem ist die Berlinale das Festival, das
Projekt stecken bleibt. Ich arbeite seit Jahren als freie Regisseurin und die Saison eröffnet, es ist der Startschuss für 2018. Ich bin mit der
mache Mode- und Werbefilme. Berlinale groß geworden, habe dort die Premiere von Oma & Bella
Ihr erster Dokumentarfilm »Oma & Bella« erzählte die Lebens- gefeiert und würde das natürlich gern wiederholen. Vor allem, weil
geschichte Ihrer jüdischen Großmutter und deren bester Freundin. meine 90-jährige Oma zur Premiere kommen könnte. Damit würde
Worum geht es in »Lebenszeichen«? für mich ein großer Traum in Erfüllung gehen.
Es ist auch ein Dokumentarfilm, aber anders als bei Oma & Bella gibt
es keinen Plot. Es ist eher ein dokumentarischer Essay und eine Selbst-
auseinandersetzung. Ich versuche in dem Film, meine persönlichen Er- Alexa Karolinski, 33, ist in Berlin geboren, sie lebt derzeit in Los Angeles.
fahrungen als deutsche Jüdin zu beschreiben, und begebe mich auf die 2014 gewann sie für »Oma und Bella« den Grimme-Preis. Am 6. Februar
Suche nach einem Gefühl, das im medialen Diskurs in Deutschland wird das Programm der Berlinale veröffentlicht

Von Carolin Würfel 9


Matthias Kalle wartet auf die zweite Staffel der Netflix-Serie »The OA«

16
Es gibt wenige Dinge im Leben, auf die man sich verlassen kann – aber
wer ein Fan der Star Wars-Filme ist, der ist im Vorteil. Der weiß zum
Beispiel schon jetzt, wo er in zwei Jahren sein wird, am 19. Dezember
2019: nämlich im Kino. Denn an diesem Tag startet Episode IX, das
steht fest. Was steht sonst noch fest? Wenig – der Film hat zum Beispiel
keinen Titel, man weiß nicht wirklich, wer alles mitspielen wird, über
die Handlung ist nichts bekannt (was daran liegt, dass die Dreharbeiten
noch nicht begonnen haben). Aber den Starttermin – den gibt es schon.
einer Staffel anbieten. Deshalb weiß Netflix auch, dass Ende Oktober
2017 über 300 000 User am ersten Tag des Starts der zweiten Staffel von
Stranger Things alle neun Folgen hintereinander gesehen haben.
Menschen, die auf diese Art und Weise Serien schauen, verlangen
nach immer mehr Stoff. Ihre Dosis müssen sie regelmäßig erhöhen,
sonst werden sie nervös, gehen ins Kino oder lesen am Ende noch ein
Buch. Die Macher der Serien wissen das – und liefern nach. Immer
mehr und immer schneller, und dabei scheinen sie Probleme mit den
Darin liegt einer der großen Unterschiede zwischen dem Kino und Startterminen zu bekommen.
dem Fernsehen: Ob Fernsehsender, Netflix oder Amazon – kaum einer Denn während man noch relativ präzise den Starttermin der dritten
verrät weit im Voraus, welche Serien wann starten werden. Damit trei- Staffel von Stranger Things benennen kann (es wird, vertrauen Sie dem
ben sie Menschen regelrecht in den Wahnsinn. ZEITmagazin, der 26. Oktober 2018 sein, also der Freitag vor Hallo-
Denn früher, da war es ja so: Jede Woche lief eine Folge der Lieblings- ween), fällt dies bei den Serien, auf die ich wirklich warte, etwas schwe-
sendung im Fernsehen, selber Tag, selbe Uhrzeit, und irgendwann war rer: Die vierte Staffel der großartigen Dystopie-Serie Black Mirror wird
die Staffel vorbei, aber man konnte sicher sein, dass es ungefähr in einem wohl noch Ende 2017 bei Netflix starten, die zweite Staffel von West-
halben Jahr weitergehen würde. Meistens war die Reihenfolge aber auch world im Frühjahr 2018 (an einem Sonntag auf HBO, am Tag danach
völlig egal, denn das sogenannte serielle Erzählen hatte noch nicht das dann auf Sky). Aber am sehnlichsten warte ich auf die zweite Staffel
Fernsehen erobert; jede Folge erzählte eine abgeschlossene Geschichte. der Netflix-Serie The OA (sie wird im Februar ausgestrahlt, wahrschein-
So gab es bei Miami Vice zwar wiederkehrende Motive, zum Beispiel lich ab dem 16.). The OA fanden sehr viele Leute sehr merkwürdig –
den Überschurken Esteban Calderone, aber im Grunde genommen war und ich weiß nicht, was mit diesen Leuten nicht stimmt.
es egal, ob man als Erstes Folge drei der Staffel zwei sah und danach die In The OA geht es um eine 28-jährige Frau namens Prairie Johnson,
Folge sechs der Staffel eins. So schaut man heute nicht mehr Serien, vor die sieben Jahre lang verschwunden war und plötzlich wieder auf-
allem deshalb nicht, weil Streamingdienste wie Netflix sofort alle Folgen taucht. Sie war blind und kann jetzt wieder sehen, auf ihrem Rücken

10
FEBRUAR

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hat sie unzählige Narben, aber sie erzählt ihre Geschichte niemandem
– außer fünf Menschen, Außenseitern. Und gemeinsam werden diese
Menschen am Ende der ersten Staffel ein kleines Wunder vollbringen.
Viele hielten The OA für Esoterik-Kitsch und meinten, dass das alles
ziemlich unglaubwürdig sei. (Wobei »unglaubwürdig« als Kriterium
für eine Serie schon relativ unglaubwürdig erscheint: ein Chemie-
lehrer wird Drogenboss? Die Welt ist voller Zombies? Bran kann zwar
die Vergangenheit sehen, weiß aber nicht, dass Jon Schnees Eltern
verheiratet waren?) Und – ja – es geht um Übersinnliches, um Fantas-
tisches, um Engel. Aber vor allem geht es um das Leben und darum, zeit.de/reiseauktion
wie man es vor dem Bösen schützen kann. Wenn man sich auf diese
Serie einlässt, dann berührt sie das Herz, dann wird man am Ende der
Besser kommen
ersten Staffel heulend auf dem Sofa sitzen. The OA ist ein Schock, ein
Stich, und ich hoffe darauf, dass den Machern mit der zweiten Staffel
Sie nicht weg.
etwas Ähnliches gelungen ist.
Andere hoffen vor allem auf die achte Staffel von Game of Thrones – Bieten Sie mit!
die werden jedoch noch länger warten müssen als ich. Die wird näm- Über 400 Reiseangebote –
lich erst 2019 starten. Aber voraussichtlich noch vor dem neunten bis zu 50 % unter Listenpreis
Teil von Star Wars. und nur noch bis 10.12. auf
ZEIT ONLINE!

Matthias Kalle, 42, ist stellvertretender Chefredakteur des ZEITmagazins.


Seit er ein Kind war, ist der Fernseher für ihn eine Sehnsuchtsmaschine

Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,


Buceriusstraße, Hamburg
16
Die Irakerin Layali Jameel Jaafar wartet auf ihren Ehemann

MÄRZ

Ich habe meinen Mann kennengelernt, da war ich erst 13. Er kam manches hier verstehe ich gar nicht. Ich verstehe nicht, warum wir
mit meinem Bruder ins Haus meiner Eltern in Bagdad. Ich kochte nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden, sondern nur subsidiären, also
für die beiden. Ich fand ihn vom ersten Moment an toll. Es war von eingeschränkten Schutz bekamen. Obwohl mein Mann doch bedroht
Anfang an Liebe. Lange waren unsere Eltern gegen die Hochzeit. Er wurde. Weil wir nur subsidiär geschützt sind, durfte ich noch keinen
studierte noch, ich war noch minderjährig, darum lehnten sie ab. Wir Antrag auf Familiennachzug stellen. Wir haben es mit einem Härtefall­
heirateten schließlich 1999, drei Jahre später kam unser Sohn. Ich war antrag versucht. Aber der Antrag wurde vor zwei Monaten abgewiesen.
damals nie ohne meinen Mann, nicht mal eine Woche oder auch nur Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, das ich an diesem Tag emp­
einen Tag. Als mein Sohn und ich flüchteten, sagte ich zum Abschied: fand, als ich von der Ablehnung hörte.
Wir sehen uns in drei oder vier Monaten. Höchstens in fünf. Daraus Seither hoffen wir auf den 16. März 2018. Alle subsidiär Geschützten
sind nun zwei Jahre geworden. dürfen dann beantragen, dass ihre Familie nachkommt. Die Bundes­
Wir wären zu dritt geflohen. Aber er hätte die Flucht nicht geschafft, das regierung kann die Frist zwar noch mal verlängern, aber wenn sie es
Meerwasser und seine Wunden, das war unmöglich. Seine Haut ist stark nicht tut, kann alles sehr schnell gehen. Es kann sein, dass mein Mann
verbrannt, an Armen, Oberkörper, im Gesicht und an den Händen. dann schon ein paar Wochen später hier ist. Ich will es mir nicht aus­
Mein Mann war leitender Ingenieur in der Energieversorgung des Iraks. malen. Ich habe gelernt, pessimistisch zu sein.
Eines Tages standen bewaffnete Milizen in seinem Büro. Sie verlangten, Oft denke ich, wir sollten tauschen. Er sollte hier sein, bei unserem
dass er in bestimmten Gegenden den Strom abstellen sollte, damit sie Sohn, der jetzt 14 ist. Und ich sollte im Irak sein. Für mich ist alles ein­
im Dunkeln leichteres Spiel haben bei ihren Operationen. Kranken­ facher. Mein Sohn hilft mir so sehr. Er ist gut in der Schule. Er sucht
häuser wären dann ohne Strom gewesen. Mein Mann sagte: Selbst wenn gerade ein Praktikum. Er hat es bei Vattenfall versucht, in der Energie­
ich wollte, das kann ich gar nicht! Doch, du kannst das, sagten sie und versorgung, wie sein Vater.
stellten ihm eine Frist. Er nahm sie nicht ernst. Er dachte, sie würden Wir telefonieren nachts. So gegen drei Uhr ist der Empfang bei ihm so
nicht wiederkommen. Aber dann explodierte eine Bombe in dem Elek­ gut, dass wir kurz telefonieren können über WhatsApp. Drei Uhr ist
trizitätswerk, wo er arbeitete. Die Milizen suchten ihn im Kranken­ unsere Zeit. Mal macht er mir Mut, dann wieder ich ihm, wir wechseln
haus erneut auf, bedrohten ihn. Da beschlossen wir, dass es besser wäre, uns ab. Wenn ich koche für meinen Sohn und mich, dann koche ich
wenn unser Kind und ich fliehen – und er untertaucht. Seither lebt er für meinen Mann mit. Er kriegt seinen eigenen Teller. Ich hebe seine
in einem Versteck, in einer Wohnung in einem Dorf, eine Stunde von Portionen im Gefrierfach auf. Ich habe einen großen Kühlschrank.
Bagdad entfernt. Ein Freund versorgt ihn mit Essen. Er hat Fernsehen Aber bald ist kein Platz mehr darin. Er muss kommen.
und ein bisschen Internet. Er lebt wie in einem Gefängnis.
Ich bin sehr dankbar für das viele Gute, das ich hier erfahre. Ich
habe eine deutsche Freundin, sie ist eher wie eine Schwester. Durch Layali Jameel Jaafar, 38, flüchtete Ende 2015 aus Bagdad. Sie wohnt mit
die Freundin haben wir sogar eine eigene Wohnung gefunden. Aber ihrem Sohn in Berlin-Wilmersdorf

Aufgezeichnet von Matthias Stolz 12


www.volkswagen.de/t-roc

Überzeugt.
Von Anfang an.

Der neue T-Roc.


Manche können andere im Bruchteil von Sekunden für sich gewinnen. So wie der neue T-Roc.
Mit seinem Coupé-Charakter und der unverwechselbaren Front hinterlässt er einen fulminanten
ersten Eindruck – und bleibt dank auffälliger Details auch nach genauerem Hinsehen im Kopf.

Wir bringen die Zukunft in Serie.

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Beim Friseur in London, fotografiert von Sophie Green
Alice, 4, wartet auf Schokolade vom Osterhasen

APRIL

1
Der Hase legt die Eier, dann sammelt er sie auf und legt sie für uns hin.
Drinnen ist Schokolade. Ich und mein Bruder mögen aber keine Scho- Alice ist vor ein paar Monaten mit ihren Eltern aus den USA nach Berlin
kolade. Mama und Papa essen sie. Wir essen lieber Gummibärchen. gezogen. Sie geht in einen bilingualen Kindergarten

Aufgezeichnet von Lilith Grull 15


15
Harald Martenstein wartet auf Claudia Cardinales Geburtstag

APRIL

So eine Jahresvorschau wird von langer Hand vorbereitet. Vor vielen mals. Und das Schlimmste dabei ist, dass ich sie nicht mal für eine
Wochen fragte mich mein Redakteur, was ich zum Thema »2018« bei- überragende Schauspielerin gehalten habe, sie war nicht so gut wie
zutragen hätte. Ich sagte, dass 2018 ziemlich viele Frauen runde Ge- Deneuve, obwohl Der Leopard und Spiel mir das Lied vom Tod zu
burtstage feiern oder gefeiert hätten, für die ich als junger Mensch ge- meinen Lieblingsfilmen gehören. Was hätte ich gemacht, wenn ich
schwärmt habe. Romy Schneider 80, Claudia Cardinale 80, Christiane ihr Regisseur gewesen wäre? Ich hätte Angst gehabt und versucht,
Hörbiger 80, Cathérine Deneuve und Cornelia Froboess 75, Grace mich nicht zu blamieren.
Jones 70. Dann kam die Sexismusdebatte mit all den Aufschreien, und Ich muss ein Geheimnis über uns Männer verraten. Es gibt unter uns
jetzt ist das natürlich ein wahnsinnig kompliziertes Thema geworden. viel mehr Schüchterne und Ängstliche als Raubtiere. Manche haben
Ehrlich gesagt: Für Hörbiger und Deneuve habe ich gar nicht wirklich Angst vor Zurückweisung, andere halten sich für unattraktiv oder lang-
geschwärmt, so als Frauen. Ich fand und finde lediglich, dass es sehr weilig, vor allem im Vergleich mit dieser tollen Frau, andere fürchten
gute Schauspielerinnen sind. Sie sehen auch gut aus. Das meine ich das sexuelle Versagen, wieder andere sind zu stolz zum Balzen. Nicht
wirklich nicht abwertend. Christian Lindner und Emmanuel Macron selten sagen Frauen über ihren Partner: »Es hat ewig gedauert, bis er
sehen auch gut aus. Das steht in jedem gottverdammten Porträt. Oder endlich kapiert hat, dass er mich ansprechen soll.« Viele von uns leiden
der junge Al Pacino, das war doch ein schöner Mann. Hörbiger und unter der gesellschaftlichen Konvention, dass wir den ersten Schritt
Deneuve wirkten aber zu kühl und makellos für meinen Geschmack. tun sollen. Wir würden es sehr begrüßen, wenn es endlich andersrum
Ich mag mehr das Warmherzige, Unperfekte. Das einzig Unperfekte­ läuft. Wenn uns in Zukunft hin und wieder eine Frau die Hand auf das
an Cathérine Deneuve ist die Tatsache, dass sie einen Song mit Joe Bein legt und fragt, ob sie uns ihr Poesiealbum zeigen darf, würden wir
Cocker aufgenommen hat. Das ist, als ob Al Pacino als Wrestler ge- das entweder super finden oder eine höfliche Absage formulieren, aber
gen Hulk Hogan angetreten wäre, es passt nicht. Romy Schneider auch dann würden wir uns geschmeichelt fühlen. Das ist die peinliche
hätte ich gerne als große Schwester gehabt, mit der ich die Nächte Wahrheit, wir wären gern Sexobjekte. Kann man, ab 2018, die Rollen
durchgeraucht, durchgetrunken und durchdiskutiert hätte, bis uns nicht einfach umdrehen? Klar, Frauen, die sich verhalten wie Harvey
im Morgengrauen der fürsorgliche Alain Delon mit einem dreifachen Weinstein, würden auch wir zum Kotzen finden; über Frauen, die sich
­Espresso wieder auf die Beine hilft. Conny Froboess fand ich süß – verhalten wie Rainer Brüderle, würden wir als Gentlemen den Mantel
ohne jeden Hintergedanken! Später habe ich gelesen, dass ihr Manage- des Schweigens breiten, und alles, was 30 Jahre zurückliegt, hätten wir
ment immer streng darauf geachtet hat, dass sie unschuldig wirkt und längst vergessen, großes Ehrenwort.
auf keinen Fall sexy. Bei mir hat es funktioniert.
Der einzige Fall, für den ich mich wohl rechtfertigen muss, ist C
­ laudia
Cardinale, sie hat am 15. April Geburtstag. Ja, ich habe un­keusche Harald Martenstein, 64, ist Kolumnist des ZEITmagazins und Redakteur
Gedanken im Zusammenhang mit Claudia Cardinale gehabt. Mehr- des »Tagesspiegels«. Er lebt in Berlin

16
Occhio LED: Energieeffizienzklasse A+

occhio.de /mito
Die Künstlerin Hague Yang wartet auf ihre Werkschau

APRIL

18
Ich habe mich damit abgefunden, ständig unterwegs zu sein. 1994 kam
ich nach Deutschland, um an der Städelschule Freie bildende Kunst zu
studieren. Jetzt lebe ich sowohl in Berlin als auch in Seoul. In beiden
120 Arbeiten von 1994 bis heute werden dort präsentiert. Die Aus-
stellung trägt den Titel ETA. Der Begriff steht für estimated time of
arrival, also »geschätzte Ankunftszeit«. Ich verstehe diesen Begriff
Städten habe ich ein Atelier. Ich bin aber gerade dabei, das Atelier in als Metapher: Wir leben in einer transitorischen Zeit, sind ständig
Seoul aufzulösen. Das Betreiben beider Ateliers war ein Kraftakt, und unterwegs, auch mental. Vieles ist ungewiss, das ist schmerzhaft und
es war nahezu unmöglich, ausreichend vor Ort zu sein. spannend zugleich. Mir geht es darum, den Zustand des mentalen
Gerade bereite ich mich auf eine große Werkschau im Museum Lud- und physischen Unterwegsseins zu würdigen.
wig in Köln vor, sie wird am 18. April eröffnet. Außerdem werde ich
mit dem Wolfgang-Hahn-Preis der Gesellschaft für Moderne Kunst
am Museum Ludwig ausgezeichnet. Es trifft sich gut, dass Ausstel- Hague Yang, 45, ist in Seoul geboren. 1999 war sie an der Städelschule
lung und Preisverleihung zur gleichen Zeit stattfinden. Die Werk- in Frankfurt am Main Meisterschülerin bei dem Bildhauer Georg Herold.
schau ist meine erste Überblicksausstellung und die bisher größte. Yang ist bekannt für ihre raumgreifenden Installationen

Aufgezeichnet von Paulina Thillmann 18


Porsche Design

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All images are for reference only, the actual product may vary.
Kinder warten ständig auf irgendwas, wie der Amsterdamer Fotograf Caspar Claasen an seiner Tochter zeigt
Foto  Sibylle Bergemann / Ostkreuz

Geht’s bald los? Zwei Jungen in Bayern, fotografiert von der 2010 verstorbenen Sibylle Bergemann
Stefan Willeke wartet auf die Meisterschaft von Schalke 04

MAI

12
Vor ein paar Monaten habe ich mir im Fernsehen einen klischeebelade­
nen Film angeschaut, der vom FC Schalke handelte (ich sehe alle Filme,
einer Altenwohnanlage im Gelsenkirchener Stadtteil Bulmke-Hüllen.
Die letzte Meisterschaft ereignete sich nämlich im Jahr 1958. Eine
die vom FC Schalke handeln, auch die einfallslosen, aber das führt an Betreuerin der Altengruppe erklärt im Film, dass solche Nachmittage
dieser Stelle zu weit). Die überraschendste Szene in dem Dokumentar­ eine therapeutische Wirkung auf die Seelen der Bewohner hätten, und
film widmet sich einem Ort, an dem sich Fußballfans treffen, die eine ich dachte: Verdammt, eine Therapeutin in einem Schalke-Gesprächs­
Meisterschaft der Schalker Mannschaft persönlich erlebt haben. Nach­ kreis, das könnte irgendwann mal mein Kontext sein. Ich, der ich 1964
mittags um drei sitzen sie an einem Tisch in einem lückenlos gekachel­ und damit sechs Jahre nach der letzten Schalker Meisterschaft auf die
ten Raum, trinken Bier, sprechen von Männern, die Klodt, Kuzorra Welt kam, habe diese Alten zunächst um das Privileg beneidet, höchst­
oder Szepan hießen, und beim Singen des Schalker Vereinsliedes hal­ persönlich mit Schalke Meister geworden zu sein. Aber dann wurde
ten sie einander an den Händen. Dieser Ort ist der Aufenthaltsraum mir klar, in welch gigantischen Zeitspannen ich zu fühlen habe – wie

23
MAI

bei einem Wunder. Ich glaube, dass sich das Wunder alle 60 Jahre er- mit einem Kollegen gewettet. Sollte ich verlieren, müsste ich wieder in
eignet. Warum alle 60 Jahre? Keine Ahnung. Ein Wunder folgt keiner einem Dortmunder Trikot am Konferenztisch der ZEIT sitzen. Aber
Logik. Im Jahr 2018 wird es wieder so weit sein: Schalke wird Meister. ich verliere nicht. Diesmal nicht.
Am 12. Mai, ungefähr um viertel nach fünf. Das Wunder steht 2018 bevor. Ich besitze eine Zahnbürste des FC
Als fast 50 Jahre ohne Schalker Meisterschaft vorbei waren, im Mai Schalke, ich schlafe manchmal – viel zu selten – in Schalke-Bettwäsche,
2007, ließ der Erzrivale des FC Schalke, der Verein Borussia Dort- ich habe eine Schalker Fahne, einen Schalke-Pullover, eine Schalke-­
mund, ein Flugzeug über Gelsenkirchen kreisen, das ein Flatterband Mütze, zwei Schalker Trikots, 34 Schalke-Bücher, den Schalke-­Film
mit einem vergifteten Gruß hinter sich herzog. In fetten Buchstaben Vier Minuten Deutscher Meister, drei Autogrammkarten von Rudi
stand da: »Ein Leben lang keine Schale in der Hand«. Ich bin kein be- Assauer und das neue Schalke-Stickeralbum, in dem keines der
sonders ausgefallener Schalke-Fan, und so ist mir Borussia Dortmund 204 Sammelbildchen fehlt. Kurz nachdem meine Kinder auf die Welt
zutiefst unsympathisch. Mit dem Auto umfahre ich Dortmund nach gekommen waren, stattete ich sie mit Schalke-Schnullern und Schalke-
Möglichkeit, nehme dafür lange Umwege in Kauf. Mit meinem Auto- Lätzchen aus. Später, als Kleinkind, versuchte mich mein Sohn früh-
kennzeichen, das mit 1904 endet, dem Gründungsjahr des FC Schalke, morgens aus dem Bett zu werfen, indem er sich über meinen Kopf
könnte ich in Dortmund ohnehin nur wenige Minuten risikolos par- beugte und in mein Ohr rief: »Steh auf, wenn du Schalker bist.«
ken. In meinen 53 Lebensjahren habe ich nur zweimal das Dortmun- Man könnte mich nachts aus dem Schlaf reißen, und ich könnte sofort
der Stadion betreten; das eine Mal auf wiederholte Einladung eines alle Jahre aufsagen, in denen Schalke Meister wurde, sieben Jahreszah-
guten Freundes hin, das andere Mal war das Stadion durch ein Länder- len, angefangen bei 1934. Wenn es mir morgens nach dem Aufstehen
spiel neutralisiert (aber auch das führt viel zu weit). schlecht geht, höre ich unter der Dusche das Steigerlied, gesungen von
Ich habe alles getan, um mich auf das Wunder vorzubereiten. Ich kenne den Fans im Schalker Stadion. Ich habe einen persönlichen Tonbandmit-
den Zeremonienmeister des Wunders, den Trompeter aus der Fan­kurve schnitt mit dem Attacke-Signal von Trompeten-Willy. Ich weiß, wo in
des FC Schalke, den Dachdecker Trompeten-Willy. Ich kenne den ein- der Vereinskneipe der Stammplatz der Schalker Legende Ernst ­Kuzorra
zigen Nachkommen des ehemaligen Wunderstürmers Stan Libuda (»An war, ich kenne auch seinen ehemaligen Tabakladen. Ich stand am Grab
Gott kommt niemand vorbei – außer Libuda«). Ich kenne den Vereins- von Stan Libuda und später vor der Rolf-Rüssmann-Gedächtnis­ecke,
beauftragten für Wunder, einen Pfarrer aus dem Schalker Ehrenrat. Ich die der Schalker Golfkreis eingerichtet hatte. Ich besitze einen Kugel-
kenne den, nennen wir ihn, Kulturbotschafter des Vereins, den Schau- schreiber des früheren Mannschaftskapitäns Olaf Thon – und ungleich
spieler Peter Lohmeyer (Das Wunder von Bern). Ich habe den Mitverant- wichtiger noch: die Telefonnummer von Klaus Fischer. Wenn Schalke
wortlichen eines Wunders, dem früheren Schalker Spieler Youri Mulder, spielt, halte ich immer zu Schalke. Spielt Schalke nicht, halte ich immer
lange danach befragt, wie die Mannschaft 1997 den Uefa-Cup gewann. zu der Mannschaft, die gegen Dortmund spielt. Noch habe ich nicht
Ich saß auch schon im Wohnzimmer des Schalker Jahrhundertspielers den hochneurotischen Punkt erreicht, an dem ich die Zahl 9 (1909 ist
Klaus Fischer, und wer sich jemals näher mit Klaus Fischer beschäftigt das Gründungsjahr von Borussia Dortmund) in Briefen und Emails
hat, der ahnt, wie ein Wunder beschaffen sein muss. durch 8 + 1 ersetze, aber wer weiß, ob dieser Punkt nicht noch kommt.
Ich könnte auch all die Faktoren benennen, die gegen ein Wunder Bei Europa- und Weltmeisterschaften bin ich für das Land mit den
sprechen: die Stärke des derzeitigen Tabellenführers, die sportlichen meisten Spielern aus Schalke (manchmal Belgien, einmal Rumänien).
Gründe (Verzagtheit in wichtigen Spielen, Torchancen-Bilanz), die Bei der EM im Sommer letzten Jahres war ich für die Mannschaft aus
poli­tischen Gründe (Hauptsponsor Gazprom), die moralischen Grün- Belgien, allein wegen des Trainers Marc Wilmots, der vor 20 Jahren
de (die skandalumwitterten Geschäfte des Großschlachters Clemens als Schalker Spieler den Uefa-Cup holte. Manchmal glaube ich, dass
Tönnies im Schalker Aufsichtsrat). Aber ein Wunder zeichnet sich da- mich Fußball gar nicht richtig interessiert. Ich will nichts wissen über
durch aus, dass es sich über naheliegende Einwände erhebt. die Unzulänglichkeiten des Videobeweises oder die Nachwuchshoff-
Ich habe mit Kollegen öfter darum gewettet, dass der FC Schalke Meis- nungen von Hannover 96. Ich will eigentlich nur, dass Schalke spielt.
ter wird. Ich habe diese Wetten immer verloren, ich habe viele Abend- Und dass Schalke gewinnt.
essen in teuren Restaurants zahlen müssen. Aber ich bin geduldig. Ich Dank einer Kollegin, die zeitweise in Mexiko lebte, beherrsche ich den
habe die groteske Ungerechtigkeit des Schiedsrichters in den letzten Schlachtruf »Ihr seid scheiße wie der BVB« jetzt auch auf Spanisch,
Minuten des letzten Bundesligaspiels im Mai 2001 überstanden, als und ich habe mit einer kostbaren Rarität, meiner blau-weißen Angel-
Schalke schon Meister war, es aber offiziell nicht wurde. Ich habe den rolle des FC Schalke, einen Hecht gefangen. Ich bilde mir ein, dass es
damaligen Vereinsmanager Rudi Assauer weinen sehen. Ich habe mich 19.04 Uhr war, als er den Köder nahm.
anschließend an die schmerzsteigernde Besänftigungsformel »Meister Also los. Ich bin bereit.
der Herzen« gewöhnt. Ich habe was ausgehalten.
Nach verlorenen Wetten musste ich zweimal in der großen Konferenz
der ZEIT ein Trikot von Borussia Dortmund tragen. Es war fürchter- Stefan Willeke, 53, ist Chefreporter der ZEIT und Mitglied der Chef­
lich. Es war überhaupt nicht auszuhalten. Ich habe vor Kurzem wieder redaktion – allerdings nicht Mitglied von Schalke 04, sondern nur Fan

24
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Cameron Hunter wartet auf sein Berliner Debüt als Solotänzer

12
JUNI

Mr. Hunter, nächstes Jahr treten Sie beim Staatsballett Berlin in Extremsportler. Aber als Läufer versuchst du eben, von A nach B zu­
»Romeo und Julia« in der männlichen Titelrolle auf, abwechselnd kommen, und wer zuerst B erreicht, gewinnt. Beim Ballett kommt die
mit anderen Tänzern. Sorgen Sie sich mehr um die Reaktion des künstlerische ­Komponente dazu. Diese Balance zu halten ist nicht leicht.
Publikums oder um die Kritik? Ist Ihnen schon einmal ein Auftritt missglückt?
Es ist natürlich schmeichelhaft, wenn dich ein Kritiker lobt. Wen du Vor zwei Jahren bin ich während einer einzigen Aufführung mit
wirklich beeindrucken willst, sind deine Kollegen. Im Studio vorzu- dem Australian Ballet viermal hingefallen, flach aufs Gesicht – vor
tanzen ist schlimmer, als auf der Bühne zu stehen. 2500 Zuschauern. Mein Selbstbewusstsein war wie weggeblasen. Ich
Wie bereiten Sie sich auf eine so wichtige Premiere vor? glaube­inzwischen, dass mich damals meine Angst, Fehler zu machen,
Ich probe, bis ich nicht mehr kann. Wenn du auf der Bühne stehst, zu sehr dominiert hat.
kannst du nicht davonrennen. Dein Körper wird sich automatisch fügen Warum sind Sie 2016 von Melbourne nach Berlin gekommen?
und Dinge machen, von denen du nicht wusstest, dass sie funktionieren. Ich wurde in Australien immer wieder für die gleichen Rollen besetzt,
Wie sehr fühlen Sie sich unter Druck? obwohl ich ein vielseitiger Tänzer bin. Mit 1,83 gelte ich in Australien
So eine große Rolle wie Romeo hatte ich noch nie – es ist die dra- als kleiner Tänzer, in Europa gehöre ich eher zu den größeren. Als ich
matischste, die ich jemals tanzen musste. Jeder kennt die Geschichte mich bei verschiedenen europäischen Ensembles vorstellte, bekam ich
und hat Erwartungen, die ich zu erfüllen versuche. Natürlich gibt es plötzlich die Chance, für verschiedene Rollen vorzutanzen.
auch technische Aspekte, die mich herausfordern. Einzeln mögen die
Schritte funktionieren. Tanzt man aber ein Stück in einem Ablauf
durch, glaubst du plötzlich, du stirbst, so sehr schmerzt der Körper. Die Cameron Hunter, 26, begann mit 14 beim Australian Ballet, Melbourne.
Anforderungen­an einen Balletttänzer sind die gleichen wie bei einem Als Romeo tanzt er erstmals nach der Erstaufführung am 29. April

Von Paulina Thillmann 26


27

Spiegel in einem Moskauer Bahnhof, fotografiert von Frank Herfort


Spanische Angler faszinieren den katalanischen Fotografen Txema Salvans
16
Ein Berliner Häftling wartet auf seine Entlassung

JUNI

Er sitzt in einem fünf Quadratmeter großen Raum in der Justizvoll- weh.« Er spricht in seine Hand, der Blick schweift durch die Gitter-
zugsanstalt Tegel, geschlossener Vollzug, im Haus II. Er ist hier, weil er stäbe in den Gefängnishof. Sieben Bäume, vier Betontische, Müll, der
eine Frau überfallen und ausgeraubt hat. »An diesem Abend hätte ich achtlos aus den Fenstern geworfen wurde, und ringsherum ein Zaun.
mich einfach umdrehen sollen, ins Schlafzimmer gehen, mich hinlegen Am 16. Juni wird er entlassen, nach neun Jahren und neun Monaten.
und mir sagen: Morgen geht die Sonne auch wieder auf«, sagt er und Er hat seine Strafe dann auf den Tag genau abgesessen. Die Zeit bis
seufzt tief aus dem bulligen Körper heraus. dahin wird er im offenen Vollzug verbringen, er will sie nutzen: Die
Neun Jahre nach jenem Abend ist er »knastmüde«. »Ich habe Mist ge- Pläne für den Sohn sollen nicht nur Wörter auf Briefpapier bleiben.
baut«, seine tiefe Stimme hallt durch den Aufenthaltsraum. Er ist jetzt­­ Außerdem will er sich um einen Job kümmern. »Hartz IV ist keine
44 Jahre alt. Jeder seiner Tage beginnt um fünf Uhr morgens, eine Lösung«, sagt er. »Ich würde auch putzen.« Den Job will er noch im
Stunde später findet die »Lebendkontrolle« statt. Bevor er in die Küche offenen Vollzug beginnen, dann sei es leichter, eine Wohnung zu fin-
zum Arbeiten geht, trinkt er Kaffee und liest den Berliner Kurier. In der den. Zwei, am besten zweieinhalb Zimmer solle sie haben, sodass »der
Pause spielt er mit einem Kumpel im Hof Backgammon oder Schach. Sohnemann auch mal über Nacht bleiben kann«. Die freundschaftliche
»Re­sozialisierung ist ein schönes Wort für die Öffentlichkeit«, sagt er. Beziehung zu seiner Exfrau möchte er pflegen. Das reiche.
»Vom Staat gibt es die zumindest hier nicht wirklich, aber ich glaube Wenn er mal gespart hat, will er seiner Leidenschaft nachgehen: dem
daran, dass ich es kann.« Er hat einen Antrag auf Therapie gestellt. Jetzt Kochen. »Ich würde einen Kurs für Bisonfleisch machen und ein kleines
arbeitet er alles auf, seine Kindheit zwischen Rotlichtviertel, Drogen- Restaurant eröffnen.« Ein Altbau, in der Mitte ein Tipi für sechs Leute,
szene und Schule. Und die Jahre im Gefängnis. dann ein Kanu für zwei und vorne vielleicht noch ein Tisch für vier.
Er hat einen Sohn. Als der neun Monate alt war, musste der Vater ins Wenn er rauskommt, möchte er, sobald es geht, Urlaub machen, zwei
Gefängnis. Seitdem sehen sie sich nur, wenn er alle paar Monate Ausgang Wochen an der Küste, vielleicht mit dem Sohn – wenn es der Arbeit-
hat. »Mein Ziel ist es, ein guter Papa zu sein und meinen Sohn auf einem geber erlaubt. Er möchte die Freiheit genießen: Selbstbestimmtheit;
anständigen Weg zu begleiten.« Das Meiste hat er verpasst, die ersten einfach laufen und nicht nach zehn Metern an einer Tür warten müs-
Schritte, die ersten Worte und zuletzt: »An seinem zehnten Geburtstag sen, bis sie aufgeschlossen wird.
durfte ich nicht hin und konnte ihn am Morgen auch nicht anrufen.« »Das Potenzial, wieder zum Straftäter zu werden, schlummert in je-
Eine Karte hat er ihm gebastelt. Er hat auch für ihn gesungen, ihm gra- dem, der es einmal war«, sagt er. »Es wäre hart, keinen Job zu finden.«
tuliert und ihm einen schönen Tag gewünscht – in die leere Zelle hinein, Ein Teil seiner Sachen ist schon gepackt, ein halbes Jahr vor der Ent-
die laut ausgesprochenen Worte trafen nur seine Zellenwand. lassung, in der Zelle stehen drei Reisetaschen.
Wenn er allein ist, liest er, schaut fern und schreibt. Vor allem zwei
Personen: sich selbst, um zu reflektieren, und seinem Sohn. Er stellt
sich vor, was sie alles unternehmen könnten. Der Sohn beantwortet Der Häftling möchte anonym bleiben. Seit dem 3. September 2008 ist er
die Briefe nur manchmal. »Da merke ich, dass er frustriert ist. Das tut in Haft, er wurde wegen räuberischer Erpressung verurteilt

Aufgezeichnet von Lilith Grull 30


Viva Sandberg wartet auf ihr Abiturzeugnis

JUNI

29
Ich freue mich auf mein Abitur, finde es aber auch ein bisschen be­
ängstigend. Denn bisher war immer alles geregelt, und es war mir im­
mer klar, worauf ich hinarbeite: auf das nächste Halbjahr, die nächste
Klasse, das Abitur. Nach meinem letzten Schultag am 29. Juni wird
Mein größter Wunsch fürs nächste Jahr ist: Sicherheit. Ich will mir
sicher darin sein, dass das, wofür ich mich entscheide, das Richtige ist.
Ich freue mich auch darauf, irgendwann zu Hause auszuziehen und
ein eigenes Leben anzufangen. Vor allem freue ich mich darauf, meine
die Zukunft nun ungewiss. erste Wohnung selbst zu streichen. Alles wird an den Wänden sichtbar
An guten Tagen habe ich Spaß daran, die Zeit nach dem Abitur zu pla­ sein – auch die Fehler, die ich beim Malern mache. 
nen. Ich will nicht sofort studieren, sondern ein Jahr Pause machen, nach Ich weiß noch nicht, was später mein Beruf sein wird. Es soll auf jeden
Asien oder Südamerika gehen und etwas Sinnvolles tun. Zum Beispiel Fall etwas sein, bei dem ich mit dem Herzen dabei bin. Etwas, mit dem
dabei helfen, ein zerstörtes Dorf oder eine Schule wieder aufzubauen. ich mich auch nach Feierabend beschäftigen will.  
An schlechten Tagen würde ich am liebsten anfangen zu heulen – aus
Angst davor, mich für den falschen Lebensweg oder das falsche Stu­
dium zu entscheiden. Unsere Lehrer sagen, wir müssten jetzt entschei­ Viva Sandberg, 17, geht in die 12. Klasse des Brecht-Gymnasiums, einer
den, was wir für den Rest unseres Lebens machen wollen. Hamburger Privatschule

Aufgezeichnet von Ilka Piepgras 31


Der Duisburger Fußballverein SV Viktoria 1921 Beeck in der Halbzeitpause, fotografiert von Christian A. Werner
Emilia, 13, wartet auf ihre erste Reise nach London

JULI

5
Im Sommer fahren wir normalerweise nach Schweden, ins Ferien-
haus meiner Großeltern. Diesen Sommer fahren wir erst dorthin und
London bestimmt viel regnen wird, obwohl ja Sommer ist, und wir
werden Tee trinken und Kekse essen.
dann nach England, später auch noch nach Griechenland. In London
besuchen wir meine Tante Muriel, die dort Yogalehrerin ist. Sie hei-
ratet nämlich. In London möchte ich gern mit dem Riesenrad fahren, Emilia geht in die 8. Klasse des Evangelischen Gymnasiums in Klein­
dem London Eye. Aus dem Englischunterricht weiß ich, dass es in machnow bei Berlin. Ihre Sommerferien beginnen am 5. Juli

Aufgezeichnet von Lilith Grull 34


Ein Parkplatzwächter in Pittsburgh, fotografiert von Tom M. Johnson
Das Zoologische Museum in St. Petersburg, fotografiert von Frank Herfort
Felix, 8, wartet auf das Finale der Fußballweltmeisterschaft

JULI

15
Da wird Deutschland gewinnen. Nein, ich habe mich umentschieden:
Brasilien soll gewinnen! Das geht nur, wenn sie nicht im Endspiel Felix geht in die 3. Klasse einer Montessori-Grundschule in Berlin-
­gegen Deutschland spielen – sonst gewinnt Deutschland doch. Zehlendorf. Seine Mutter ist Brasilianerin

Aufgezeichnet von Lilith Grull 37


Selbst Tiere scheinen häufig auf etwas zu warten, hat der Fotograf Caspar Claasen festgestellt
Der Chinesische Garten in Berlin-Marzahn, fotografiert von Ina Niehoff
Katharina Adler wartet auf ihren ersten Roman über ihre Urgroßmutter

24
JULI

Am 24. Juli erscheint im Rowohlt Verlag mein erster Roman. Ich habe hatte­das Bild einer strengen Frau mit großen Ambitionen vor ­Augen,
die letzten fünf Jahre daran gearbeitet. Den Wunsch, dieses Buch zu die gleichzeitig sehr humorvoll ist. Diesen zwei Polen habe ich auf
schreiben, habe ich noch viel länger mit mir herumgetragen. Es war das meinen Recherchen nachgespürt. Im Amsterdamer Institut für Sozial-
wichtigste Schreibvorhaben meines Lebens – und auch das schönste. geschichte liegt der Nachlass meines Urgroßonkels Otto Bauer, ihrem
Der Roman heißt Ida und handelt von meiner Urgroßmutter. Sie war Bruder. Er gehörte zu den führenden Marxisten in Österreich, wurde
eine frühe Patientin von Sigmund Freud, er hat sie später als den »Fall 1934 vertrieben und floh zuletzt nach Frankreich. Ida kam viel später
Dora« beschrieben. Sie war gerade 18 Jahre alt, als ihr vom Vater eine nach. Sie musste weiter nach Casablanca und ist von dort aus, auf ­
Behandlung bei Freud verordnet wurde. Es war das Jahr 1900, sie litt einem der letzten Schiffe, in die USA gelangt.
unter anderem unter Stimmproblemen und einem Reizhusten. Freud Aber die tatsächliche Geschichte steht nicht über allem. Der Roman ist
war damals noch nicht berühmt, er war nicht mal Professor, und er hat ein fiktionales Werk, unterfüttert mit Recherche, eine Mischung aus
seine relativ neuen Methoden – die Sprachkur und die Traumdeutung Fundstücken und Imagination. Diese Mischung hat vieles geklärt: Ich
– an Ida Bauer (später Adler) angewendet. meine jetzt zu wissen, woher Idas Härte und Unnachgiebigkeit kamen,
Ida brach die Behandlung nach knapp drei Monaten ab und wurde aber auch ihre humorvolle Seite. Ich habe versucht, ihre Ambitionen
deswegen von amerikanischen Feministinnen später zur Heldin stili- zu verstehen und nachzuempfinden. Diesen Roman zu veröffentlichen
siert: eine junge Frau, die es wagte, einem wesentlich älteren Arzt zu ist für mich ein gewaltiger Schritt.
sagen, dass sie von seinen Methoden nichts hält. Unter dem Pseudo- Die Arbeit war fast existenziell, ich habe mich dem Buch derart ver-
nym »Dora« hat sich die Geschichte meiner Urgroßmutter schon vor schrieben, dass beinahe alles andere in den Hintergrund getreten ist.
der feministischen Einschätzung verselbstständigt. Sie wurde zum Manchmal erscheint mir der Gedanke, dass es im Juli 2018 tatsächlich
Beispiel auch als »abscheuliche Hysterikerin« verunglimpft. An Ida erscheinen wird, unwirklich. Der 24. Juli ist eine Art Nullpunkt. Ich
Adlers weiterem Leben über Freuds Behandlung hinaus, an ihr als habe alles auf eine Karte gesetzt, ich habe nicht mal konkrete Pläne für
Mensch, gab es wenig Interesse. die Zeit danach gemacht. Gut, es gibt ein paar vage Ideen für neue Vor-
Ich habe den Roman geschrieben, um mehr über diese Frau heraus- haben. Ein Roman allein macht keine Autorin, das Weiterschreiben ist
zufinden, über die durch Freuds Krankengeschichte einerseits so viel wichtig. Da bin ich so streng wie meine Urgroßmutter.
bekannt ist, und andererseits so wenig. In unserer Familie wurde von
ihr gesprochen, aber niemand wusste wirklich viel über sie. Sie war
eine Anekdote. Zum Wenigen, was ich wusste, gehörte beispielsweise, Katharina Adler, 37, studierte amerikanische Literaturgeschichte und
dass Ida ihren Sohn die Hausaufgaben immer dreimal machen ließ. Ich Germanistik in München und Leipzig. Sie lebt in München

Aufgezeichnet von Ilka Piepgras 41


Stefan Schmitt wartet auf die totale Mondfinsternis

JULI

27
Ich freue mich darauf, am 27. Juli mit meinen Kindern die totale
Mondfinsternis anzuschauen, ein Himmelsereignis, bei dem sich Kos-
dahingesagt ist, so unfassbar bleibt es doch. Nur in Ausnahmesituatio-
nen wie einer Mondfinsternis kann man es auch spüren: dass wir auf
mos und Komfort treffen. Komfortabel ist das Timing: Freitagabend einem rasenden Steinbrocken hocken, um den ein kleiner Klumpen
verschwindet der Mond im Kernschatten der Erde, so etwa zwischen tanzt, während beide um ein fernes Höllenfeuer aus Wasserstoff krei-
halb zehn und viertel nach elf. Normalerweise schauen wir freitag- sen. Wann sonst spürt man die Eigenbewegung der Erde, wenn nicht
abends den Pumuckl, diesmal dürfen sie länger aufbleiben, und wir jetzt, da ihr Schatten in Zeitlupe die Mondkugel frisst? Kosmisch.
werden Physik schauen. »Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unse-
ren Nachthimmel ...« – immer wieder habe ich den Kindern von unse-
rem Sonnensystem erzählt. Abstrakt wissen sie, in welcher kosmischen Stefan Schmitt, 40, ist stellvertretender Ressortleiter des ZEIT-Ressorts
Heimat wir leben. Aber so selbstverständlich schulbuchgewohnt das Wissen und Vater von drei Kindern

42
In der Kathedrale von Vilnius, Litauen, fotografiert von Deividas Buivydas
Bei einem Musikfestival in Joshua Tree, Kalifornien, fotografiert von Linnea Stephan
Jan Kaluza ist einer von 500 000, die auf das neue Auto von Tesla warten

SEPTEMBER

1
Im Herbst 2017 betritt Jan Kaluza zum ersten Mal eine Filiale der
­Firma, bei der er ein Auto bestellt hat. Es ist ein teures Auto, mehr als
Technik begeistert, aber keiner, der sein Geld für das neueste schicke
Produkt aus dem Fenster schmeißt.
40 000 Euro soll es kosten. Kaluza hat es nie Probe gefahren, er kennt es Als einer von 500 000 Kunden hat Jan Kaluza das neue Modell des US-
nur von Bildern und Videos, die er im Internet gefunden hat. Trotzdem amerikanischen Elektroautobauers Tesla vorbestellt, das Model 3. In
hat Kaluza der Firma bereits 1000 Euro als Anzahlung überwiesen. Es den USA ist es im Juli auf den Markt gekommen, im Rest der Welt
klingt verrückt. »Ein Stück weit ist das Wahnsinn«, sagt er. soll das noch bis 2018 dauern. Allerdings ist der Liefertermin gerade
Kaluza ist 37 Jahre alt, ein Mann mit einer eckigen schwarzen Brille, verschoben worden, für ihn soll es Herbst 2018 werden, womöglich
der sich bei einem Hamburger Unternehmen, das weltweit Öl und Gas Anfang September. »Ich rechne aber mit 2019«, sagt Kaluza, das mache
fördert, um die Computersysteme kümmert. Er ist einer, der sich für ihm jedoch gar nichts aus. In der Fabrik im kalifornischen Fremont, wo

Von Jörg Burger 45


SEPTEMBER

das Model 3 hergestellt wird, schaffte es Tesla im vorigen Quartal gerade rauf herum, als wäre er schon tausendmal mit dem Wagen gefahren.
mal, 260 Wagen zu bauen. Tesla-Fans haben das Betriebssystem auf einer Website nachgebaut,
In dem Geschäft in einer teuren Einkaufsstraße in der Hamburger dort hat Kaluza einige Funktionen ausprobiert. Viele der Tesla-Seiten
Innen­stadt, in dem Jan Kaluza sich umsieht, steht das Auto auch nicht. im Netz, auf denen man Informationen findet, haben Nutzer selbst
Nur zwei Autos sind überhaupt hier ausgestellt, eine rote und eine angelegt. Teslas Erfolg beruht nicht nur auf seinen Ideen, sondern auch
schwarze Limousine. Das sind die teureren Vorgänger-Modelle, die auf der Vernetzung seiner Bewunderer.
beiden einzigen Autos, die derzeit lieferbar sind. Kaluza erzählt, dass er sich mal einen i3 ausgeliehen hat, das Vorzeige-
Teslas Model 3 hat voriges Jahr weltweit einen Rausch ausgelöst, den Elektroauto von BMW. Er chauffierte seine Eltern damit nach Ham-
man sonst nur von Apples iPhone kennt: Innerhalb von 24 Stunden burg zu einem Abendessen. Eigentlich gefiel ihm der Wagen: »Super
gingen 180 000 Reservierungen ein, obwohl noch nicht einmal be- Fahrgefühl, und diese Ruhe im Auto.« Die Reichweite sei aber viel zu
kannt war, welche Technik genau in dem Auto stecken würde. Kaluza hoch angegeben gewesen, sodass er plötzlich Sorge haben musste, es
wartete, bis Tesla vor ein paar Monaten die wichtigsten Details ver- überhaupt nach Hause zu schaffen. Spätnachts irrte er durch Hamburg
kündete: Die Reichweite beträgt mindestens 354 Kilometer. Einen of- auf der Suche nach einer Ladestation – vergeblich. Am Ende sei er im
fiziellen Euro-Preis gibt es noch nicht. Kaluza rechnet mit mindestens Schneckentempo zurückgefahren und habe es mit zwei Kilo­metern
40 000 Euro, er selbst wird wohl fast 50 000 zahlen, weil er noch ein Restkapazität auf der Tacho-Anzeige gerade so geschafft. Seitdem ist
paar Extras und eine stärkere Batterie haben will. Er wird einen Kre- er überzeugt, dass die deutschen Hersteller Tesla in der Entwicklung
dit dafür aufnehmen. Dabei steht noch nicht einmal fest, an welchem um viele Jahre hinterher sind. Noch nicht mal eine gute Lösung für
Elektroanschluss man das Auto in Deutschland laden können wird – das Nachladen hätten sie gefunden. Im Tesla zeigt der Bildschirm, wo
ob sein Plan aufgeht, das Model 3 zu Hause im Carport an einer Kraft- man auf einer Route tanken kann und sogar, wo gerade Tanksäulen
stromdose zu laden, die er sich eigens installieren lassen will. frei sind.
Warum muss es für ihn unbedingt ein so teures, mit so vielen Unwäg- Über die weiteren technischen Finessen seines zukünftigen Autos redet
barkeiten behaftetes Auto sein? Kaluza wie jemand, der sich für einen neuen Computer begeistert: die
Auf den Fotos und Videos, die Tesla verbreitet, sieht es schnittig aus, so- regelmäßigen Updates des Betriebssystems! Das ausgeklügelte Fahr-
gar ein bisschen futuristisch. Auf das Design komme es ihm aber nicht assistenzsystem! Auch von einem Auto erwartet er, dass es laufend ver-
an, sagt Kaluza. Selbst Motor und Fahrwerk spielten für ihn keine große bessert wird. Und Kaluza hat jetzt schon Spaß daran, sich vorzustellen,
Rolle. Ebenso wenig die Batterien, die Tesla entwickelt hat. Tesla gibt wie er seinen Tesla aus dem Carport rollen lässt, indem er auf seine
auf diese eine Garantie von acht Jahren, mehr müsse er nicht wissen. Apple-Uhr tippt, denn der Tesla lässt sich mit einer App steuern. Einer
Er will das Model 3 vor allem deshalb, weil er Angst hat, dass er mit der Verkäufer in der Filiale hat sich hinter Kaluza ins Auto gesetzt, er
seinem alten Auto bald nicht mehr ins Hamburger Stadtgebiet fah- hört ihm zu. Es wirkt jetzt so, als sei Kaluza der Verkäufer.
ren darf, wo er arbeitet. Täglich pendelt er von einem kleinen Ort in Als er wieder ausgestiegen ist, sagt Kaluza, er sei jedoch »kein nai-
Schleswig-Holstein hierher, er hat sich hinter der Stadtgrenze mit sei- ver Öko-Optimist«. Er glaube nicht daran, dass Elektroautos jemals
ner Frau ein Haus gekauft. Weil das viel Benzin gekostet hätte, hat er alle anderen Autos ersetzen könnten. Etwa, weil Batterie und Motor
sich vor zwei Jahren einen Mercedes C-350 cdi zugelegt, einen Diesel. nicht darauf ausgelegt seien, längere Zeit schnell zu fahren. Elektro-
Dann kam der Dieselskandal und die Debatte über Feinstaub- und autos seien etwas für Pendler wie ihn, die gemütlich über die Autobahn
Stickoxidbelastungen in Städten. Gerichte beschäftigen sich derzeit rollen. Und wie könnten Elektroautos geladen werden, wenn es einmal
bundesweit mit der Frage, was Städte gegen die dicke Luft tun müssen. Millionen von ihnen gibt? Würde der Strom dafür überhaupt reichen?
Kaluza befürchtet, Hamburg werde bald eine Umweltzone einführen Und werde der Staat nicht eine Steuer für Elektrofahrzeuge einführen
und ihn so mit seinem Diesel aussperren. Dass die Stimmung im Land müssen, wenn ihm die Mineralölsteuer wegbreche? »Da ist vieles noch
sich so gegen Autos gewendet hat, ist ihm unheimlich. Sonst würde er gar nicht durchdacht«, sagt Kaluza.
sich einfach ein Auto mit Benzinmotor kaufen, aber selbst das hält er Bevor er das Geschäft verlässt, fragt er den Verkäufer: »Wann kann man
für zu riskant: »Alle Autos mit Verbrennungsmotoren sind durch poli- das Model 3 denn nun bei Ihnen Probe fahren?« – »Ach, wahrscheinlich
tische Entscheidungen dem Tod geweiht.« Er sagt, er finde das traurig. nächstes Jahr.« – »Ja, wann denn?« – »So in sieben bis acht Monaten.«
Seit er über ein Elektroauto nachdenkt, fasziniert ihn die Vision einer Kaluza nickt, er wirkt nicht enttäuscht. 2018 werde die Zahl der Vor-
umweltfreundlicheren Technik. In der Tesla-Filiale setzt er sich in das bestellungen für das Model 3 sicher eine Million übersteigen, glaubt er.
Model S, das ungefähr so groß ist wie sein Mercedes, dieses Exem- Tesla hat angekündigt, die Aufträge nach der Reihenfolge des Eingangs
plar kostet 82 000 Euro. Innen sieht es ungefähr so aus wie das Mo- abzuarbeiten. Er steht dann auf der Liste ziemlich weit vorn.
del 3: Auf dem Armaturenbrett aus Holz und schwarzem Kunststoff
fehlen die Knöpfe. Die Plastikabdeckung wackelt, als Kaluza daran
rüttelt, er lacht: »Ist eben kein deutsches Auto.« Dafür gibt es in der Jan Kaluza, 37, lebt im Osten Hamburgs, er fährt jeden Tag 35 Kilometer
Mittelkonsole­einen verblüffend großen Bildschirm. Kaluza tippt da- zur Arbeit und wieder zurück. Bald will er das in einem Tesla tun

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235 tonnen
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Plastik eiingeesppart »Nature Labelingg« sparrt
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zu vermeiden und so Ressourcen zu schon nen, brau ucht es packt.
kluge Idee en. REWE arbeitet täglich an Lösungen, die den Ein Erfolg für REWE, aber auch ein ma ahnender Hinweiss:
Einkauf naachhaltiger gestalten – und setzt siie in die Tat um. Es gibt noch so o viel zu tun! Beim Transpo ortieren und beim m
Als ersterr Lebensmitteleinzelhändler in De eutschlan nd ver- Lagern, beim Po ortioniere en – und immer wieder beim Verpa-
zichtet REEWE auf den Verkauf von Plastikttüten. Da as sind cken. Daher tesstet REW WE gerade in 110 Märkten ein Mehrr-
140 Millionnen Plastiktüten, und das jedes Jahhr. weg-Netz als Alternativ ve für die dünnen n Plastikbeutel, inn
Ein schhönes Geschenk für unsere Kunden – niccht nur die Kunden ihr Obst und d Gemüse packen n. Die Idee ist: Ein
n
zur Vorwe eihnachtszeit. Und keineswegs das einzige. REWE wiederverwendetes Netz, gefüllt mit losen n Obst und Gemü-
testet als erster deutscher Supermarkt das »natürlicche La- se, spart doppelt
doppellt Verpack kungen ein..
Verpackungen
beling«: Beispielsweise werden Süßkartoff ffeln der Eigen-
ff Wie gesagt:
ge
esagtt: Wegschmeißen
Wegschmeiß ßen kann jeder. REWE sorgt
marke »REWE Bio« umweltfreundlich per Laser dire ekt auf daffür, da
dafür, dassss es mö öglich
h
möglichstst wenig zum Wegwerf
Wegwerfen fen gibt.
gib
bt. Der
der Schale gekennzeichnet. Testweise zum m Einsatzz kom- beste M
beste üll ist der, der er
Müll rst gar nicht
erst nich
ht anfällt.
anffälllt. REWE bleibt
bleib
bt dran.
dran..
men auch h neuartige Papierverpackungen aus Gra as, die
beim Hersstellen weniger Energie benötigen..
Dabei kommt es REWE nicht darauf an, ob die Kunden
diesen Untersch
diesen hied
Unterschied d üb
berhhaupt seh
überhaupt hen – etwa wenn Verpa--
sehen
Ein Cowboy in Manhattans Chinatown, fotografiert von Matt Van Anderson
Im Walt Disney Studios Park bei Paris, fotografiert von Raymond Rojas
Gero von Randow wartet auf die besten Weine des Jahrgangs 2017

SEPTEMBER

3
Manche Leute können es einfach nicht abwarten. Sie wollen jetzt schon
wissen, wie der Wein des Jahres 2017 schmecken wird. Auch wenn die
deutschen Weißweine erst im Frühjahr auf die Flasche kommen, die
besten gar erst Anfang September und die guten Roten noch später.
gar nicht (und wird sich noch beruhigen); neben die Trauben­aromen
treten bereits andere wie zum Beispiel Kaffee, Schokolade, Kräuter, und
die Flüssigkeit ist so viskos, dass auch eine spätere Filtrierung nichts an
ihrem kompakten Auftritt ändern würde. Die schönsten Weißen wer-
In der ersten Septemberwoche 2018 werde ich einkaufen gehen. Aber den elegant, ziseliert und manchmal stramm ausfallen, seltener voll oder
man darf doch schon jetzt mal was probieren, oder etwa nicht? rund. Wir haben Vielversprechendes im Rheingau probiert (Weingüter:
Also suchten die Ungeduldigsten bereits ab Oktober 2017 ihre Lieb- August Kesseler, Georg Breuer), an der Nahe (Diel) und am Mittelrhein
lingswinzer heim. Erwartungsvoll stiegen sie die Kellertreppen hinab, (Lanius-Knab).
Gläser in der Hand. In den Tanks und Fässern gluckerte es, da wandelten In manchen Weißweintanks deutscher Winzer lagern freilich auch
die Hefen Zucker in Alkohol und CO₂ um. Aus den Spundhähnen floss ziemliche Dünnmänner. Und die Roten? Sagen wir es so: Es war kein
trübe Suppe. In ihr waren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in- ideales Rotweinjahr, außer in den südlichen Regionen (hier und da
einander verschränkt. Erstes Resultat: Wir dürfen große Weißweine des gibt es noch weitere Ausnahmen). Mancher Winzer mottet seine für
Jahrgangs 2017 erwarten. Ihre Säure, sehr präsent, pikst und sticht fast den neuen Rotwein frisch gekauften kleinen Eichenholzfässer wie-

51
SEPTEMBER

der ein, für das kommende Jahr, und macht aus den blauen Trauben In der Zielgeraden kam man dann wieder zusammen. Wer das Jahr
stattdessen viel Rosé. verstanden hatte, wartete nicht auf den gewohnten Termin, sondern
Das Weinjahr 2017 war schon ziemlich hinterhältig. Es tat zunächst telefonierte früher als sonst die Erntemannschaften zusammen. Denn
ganz harmlos. Ein kalter Winter wie aus dem Lehrbuch, der hoffen viele Beeren waren schon Ende September reif, manche überreif; we-
ließ, dass es kein Jahr der Schädlinge werden würde. Sodann ein war- gen der starken Blüte waren die Trauben dicht mit Beeren bepackt,
mes Frühjahr. Die Reben legten fast überall recht früh los, die Pflanzen und infolge der späten Niederschläge waren diese oft dick und prall,
hatten es nun warm und wuchsen schnell. Auch schön. In der Phase, die Beerenhäute entsprechend dünn. Ein bisschen zu viel Enge, und
in der sich aus der Knospe die ersten drei Blätter herauswinden, ist das die Beeren platzten auf. Signal für Schädlinge, für Pilze und Essig-
zarte Gewebe besonders schutzlos den Rhombenspannerraupen und fliegen und Wespen und was nicht alles. Fäulnisalarm! Der drama-
anderen natürlichen Feinden des Menschen ausgeliefert, und deshalb tischste Moment des Jahres.
gilt: Je kürzer diese Wachstumsperiode, desto besser. Die 33-jährige Theresa Breuer, Chefin des erstklassigen Wein-
So weit ging alles gut. Dann kam der Frost. guts Georg Breuer aus Rüdesheim: »Unser Prinzip hieß jetzt nicht
Wenn die früh gewachsenen, zarten Austriebe frei stehen, ungeschützt Schadens­begrenzung, also nicht hinter dem herzurennen, was grad
vom Holz, aus dem sie gedrungen sind, gehen sie am Frost zugrunde. schlecht wird, sondern Konzentration auf die schönen Sachen. Das
Die grünen Triebe werden schwarz und fallen ab. Fast überall, außer in macht ja auch mehr Spaß. Der Rest ist dann egal. Man kann nun mal
den Weinbaugebieten Franken, Saale-Unstrut und Sachsen, schlugen nicht überall gleichzeitig sein. Und dann war es so: drei Wochen tolle
in der letzten Aprilwoche die Spätfröste zu, teils sehr hart. Ihretwegen Trauben, am Schluss nicht mehr ganz so toll.«
wird es von diesem Jahrgang weniger Wein geben (Tipp für den Ein- Caroline Diel ging ähnlich vor. Pausenlos im Weinberg unterwegs,
kauf: Vom guten 2016er ist noch reichlich vorhanden). oft begleitet von ihren drei kleinen Kindern, meistens eine Beere im
Einige Winzer wurden von den Frostmeldungen beim Abendessen Mund, prüfte sie die Reifezustände ihrer Spitzenlagen. Entdeckte hier
überrascht, das sie sodann fluchtartig verließen, um auf ihren besten einen feinen Riss in der Beerenhaut oder stellte dort fest, dass die un-
Parzellen mit Fackeln oder Paraffinkerzen die Temperatur zu stabili- terschiedlichen Reifezustände der Beeren einer Traube gerade die rich-
sieren. Leider waren diese speziellen Kerzen in ganz Europa knapp, tige Mischung für den Wein ergeben würden. Also: lesen.
viele Betriebe hatten sich damit vorsorglich eingedeckt. Die 37-jährige Oder doch nicht? Sollte man vielleicht noch etwas warten und eine fast
Caroline Diel, Winzerin an der Nahe mit internationalem Ruf, hatte perfekte Traube einen weiteren Tag hängen lassen, auf die Gefahr hin,
nur für einen Hektar Kerzen in petto. Aber sie kannte eine weitere dass es feuchter wird und die Schimmelpilze kommen? »Wir haben das
Strategie: »Der Frost war schon drei Tage vorher angekündigt. Genug ganze Jahr auf diese Tage hingearbeitet, da durften wir nicht im ­letzten
Zeit, um die Begrünung zwischen den Rebzeilen zu mähen.« Wozu Moment die Nerven verlieren«, sagt Caroline Diel. Und siehe­da,
das? »Damit die Frostkälte sich bis ganz nach unten bewegt, weg von das Wetter spielte an der Nahe ganz am Schluss wieder mit. M ­ anche
den Trauben.« Hat funktioniert. Traube­hat noch einen Kick Sonne abbekommen, der ihr das letzte
Danach kehrte wieder Ruhe ein. Der Wein blühte munter. Sodann Quäntchen Zusatzqualität verschaffte. Lohn der Angst.
Sommer, Sonne. Noch mehr Sonne. Und wieder Sonne. »Für Pilz- Nervenzerfetzend war das Warten auch in der Oberweseler Toplage
krankheiten war es zu heiß, wir mussten nicht viel spritzen«, sagt Bernstein Am Lauberbaum. »Jedes Mal, wenn die Trauben gerade vom
Simon Batarseh, der junge Kellermeister des Rheingauer Topwinzers Wind getrocknet waren, kam wieder ein Guss«, sagt Jörg Lanius. »Am
August Kesseler. »Aber als Anfang Juli immer noch kein Regen kam, 11. Oktober war dann mal für mehrere Stunden kein Regen zu erwar-
nahm die Blattmasse nicht mehr zu, weshalb sich die Photosynthese ten, und ich habe gesagt: Nicht länger warten, alle Mann raus, schnell
verlangsamte. Was konnten wir tun? Wenig. Die Begrünung verrin- reinholen. Tags darauf: Regen.«
gern, denn die Gräser nahmen den Reben Wasser weg, außerdem den Richtig entschieden. Oder doch nicht? Jetzt strahlt die unschuldigste
Boden aufbrechen und umdrehen, das reduzierte die Verdunstung.« aller Oktobersonnen die herbstfarbenen Rebberge an, aber die Lese ist
Ansonsten hieß es: warten auf den Regen. vorbei. Jörg Lanius sieht das gelassen. Er entkorkt eine Flasche aus dem
Der fiel schließlich auch. Dann fiel er immer noch. Wieder wurde es all- Jahr 1999: Riesling Auslese mit frischen Aromen von Kumquat und
mählich zu viel. »Die Pflanzen hatten sich auf Trockenheit eingestellt«, Thymian. »Tja,«, lächelt er, »die haben wir damals am 2. und 3. No-
sagt Caroline Diel, »plötzlich spülte das Wasser ihnen die Nährstoffe vember gelesen. Nicht wie diesmal alles bis Mitte Oktober.«
hinein. Es drohte die Gefahr übertriebenen Wachstums, wir haben viel Und, Herr Lanius, Ihr Ausblick? »Das Jahr 2016 war schwierig und
Laub und auch Trauben weggeschnitten.« brachte dann schöne Weine. Das Jahr 2017 war auch schwierig. Also
In einigen Gegenden knallten die Wassermassen im August mit solcher bin ich Optimist.«
Gewalt auf die Hänge, dass es danach wie Hagelschaden aussah. In an-
deren war es tatsächlich Hagel. Und bei den unmittelbaren Nachbarn:
nix los. Das Wetter flog mit seiner riesigen Streubüchse über die deut- Gero von Randow, 64, ist Redakteur im Politik-Ressort der ZEIT. Seit Jahren
schen Weinbaugebiete, um hier Panik und dort Entzücken auszulösen. interessiert und begeistert sich Randow für das Thema Wein

52
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Bei einem Autorennen mit Schrottwagen in Witney, England, fotografiert von Sophie Green
Jürgen von Rutenberg wartet auf die Kongresswahlen in den USA

6
NOVEMBER

Am Dienstag, dem 6. November 2018, wird sich entscheiden, ob die es im Moment zwar nur 52 : 48 für Trump, aber solange bei den 33 an-
Menschheit noch mal die Kurve kriegt und die sogenannte Trump- stehenden Senats-Wahlkämpfen nicht mal die Kandidaten feststehen,
Ära – Dauer bisher: gefühlt eine Ewigkeit, faktisch nicht mal ein Jahr sind auch keine seriösen Prognosen möglich (falls seriöse Prognosen
– auf ein verrücktes Intermezzo reduziert werden kann, sogar ohne überhaupt jemals wieder möglich sein werden.) Und es ist keines-
Weltuntergang! An diesem Dienstag im November, bei den sogenann- wegs so, dass die Politiker der Demokratischen Partei zurzeit von einer
ten Midterm-Elections in den USA, werden alle 435 Abgeordneten großen Sympathiewelle getragen würden, im Gegenteil. Der nächste
im Repräsentantenhaus neu gewählt, 33 der 100 Sitze im Senat, dazu Barack Obama ist nicht in Sicht, und wofür genau diese Partei jetzt
noch die Gouverneure von 36 US-Staaten. Die Mehrheit, die Donald jenseits ihrer Trump-Ablehnung eigentlich politisch steht, ist unklar.
Trumps Republikaner derzeit in beiden Teilen des Kongresses halten, Klar ist nur, dass es in den USA, Tag für Tag, ein extrem spannendes
könnte verlorengehen – und damit Trumps Absicherung gegen alle Wahljahr wird, schließlich geht es um die denkbar größten Themen
Versuche, seine Amtszeit vorzeitig zu beenden. (unter anderem, in absurden Stichworten aufgelistet: Atomkrieg, Um-
Aus der Ferne, von Deutschland aus betrachtet, ist die Sache ja eh weltzerstörung, finanzielle Umverteilung zugunsten der Superreichen,
schon klar: Ein so lachhaft inkompetenter, korrupter, katastrophaler Rassismus, Korruption, Aushöhlung der Pressefreiheit, des Rechts-
Präsident, der sich so schnell so viele Feinde gemacht hat, muss sich staats, der Demokratie – uff!). Natürlich sollten Kongresswahlen auch
doch bei den nächsten Wahlen eine historische Klatsche abholen. Da- lokale und regionale Angelegenheiten sein, aber Trump hat das Land
für spricht auch die Tatsache, dass die Wähler in den USA praktisch dermaßen polarisiert, dass früher oder später alle Kandidaten bekennen
allen Präsidenten nach den ersten zwei Jahren ihrer Amtszeit einen müssen, wie sie zu Trump stehen. Und in diesem Klima werden diese
Dämpfer verpasst haben. Die einzige Ausnahme seit 1945 waren die Midterms noch mehr als seit Jahrhunderten üblich zu einer Abstim-
Midterms nach dem 11. September 2001, die George W. Bush Auf- mung über den amtierenden Präsidenten.
wind gaben. Im Durchschnitt aller dieser Wahlen seit 1864, so hat es Auch weil in letzter Zeit immer wieder vorgeführt wurde, was für ein
die New York Times ausgerechnet, verlor die jeweilige Präsidentenpartei kostbares, fragiles Pflänzchen doch die Demokratie ist, kann ich diese
32 Sitze im Repräsentantenhaus. Das lässt einen doch hoffen, wenn Wahl im November kaum abwarten.
man vom täglichen Trump-Wahnsinn allmählich die Nase voll hat.
Allerdings würde so ein ganz normaler, durchschnittlicher Backlash
nichts ändern, denn die Trump-Partei hat im Repräsentantenhaus der- Jürgen von Rutenberg, 52, ZEITmagazin-Redakteur, ist in Concord im US-
zeit nicht 32, sondern 46 Sitze mehr als die Opposition. Im Senat steht Staat Massachusetts geboren und hat seitdem einen amerikanischen Pass

55
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DEZEMBER

31
Wo sich doch alle, ob links oder rechts, so einig sind, dass die Dinge noch kommen, vielleicht schon 2019. Aber am 31. Dezember 2018
irgendwie immer schlimmer werden – warum sich dann auf das kom- werde ich wissen: Immerhin, dieses Jahr war es noch nicht so weit.
mende Jahr freuen? Mein Gegenvorschlag: Lasst uns dem gehenden
Jahr Champagnerkorken hinterherknallen. Wieder überlebt! Wieder ist
der Euro nicht zusammengebrochen, wir sind nicht alle im Meer ver- Tillmann Prüfer, 43, ist Style Director des ZEITmagazins und mag an
sunken, nicht einmal das Abendland ist untergegangen. Das wird alles Silvester sonst vor allem das Bleigießen

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