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Spiegel 2021 06
Spiegel 2021 06
CDU
AKTIEN
neue Merz?
an der Börse
»EINE
VERSION
MODERNE
DER MAFIA«
GEHEIME CHATS. ABSURDE DEALS.
UND EIN TOPMANAGER PACKT AUS
Deutschland
Nr. 6 / 6.2.2021
€ 5,50
Sie möchten im
Vereinigten Königreich
leben und arbeiten?
Die Bestimmungen für EU-Bürger
haben sich geändert
Wie finden Paare trotz aller Gegensätze einen ge- Young Romance und Jugendbuch.
meinsamen Weg? Antworten darauf geben Exper-
ten in SPIEGEL WISSEN »Lieben lernen«, das ab
Dienstag im Handel ist. Ebenfalls am Dienstag er- Das buch aktuell Taschenbuch-Magazin erscheint in der
scheint das neue Heft des Nachrichten-Magazins Harenberg Kommunikation Verlags- und Medien
für Kinder »Dein SPIEGEL«. Die Titelgeschichte GmbH & Co. KG, Königswall 21, 44137 Dortmund.
zeigt, wie Kinder mit der Corona-Pandemie umge-
hen. Die meisten haben zahlreiche Wochen des letz-
ten Schuljahres zu Hause verbracht, viele mussten mit den Eltern Deutsch und Mathe
pauken. Und SPD-Politiker Karl Lauterbach erklärt im Kinder-Interview, was Schulen
und Politiker besser machen müssen – und wie wir die Pandemie endlich loswerden.
kundenmagazine
DER SPIEGEL Nr. 6 / 6. 2. 2021 3 www.buchaktuell.de
Inhalt
75. Jahrgang | Heft 6 | 6. Februar 2021
Deutschland
Reporter
Leitartikel Die Produktion
der Impfstoffe muss radikal
ausgeweitet werden . . . . . . . . . . 6
Auf der Suche nach dem Familienalbum / Gibt es einen
Corona-Babyboom? . . . . . . . . . 50
neuen Messias
Seehofer für Öffnung von Eine Meldung und ihre
Friseurläden / Missbrauchsfall Durch die Niederlage von Friedrich Merz Geschichte Warum zwei Māori-
Lügde: Jugendamt unter bei der Vorsitzendenwahl haben die Konservativen Köpfe von Berlin nach Neusee-
Verdacht / BER will mit Corona- land geflogen wurden . . . . . . . 51
in der CDU ihre Galionsfigur verloren. Wie viel
Hilfen Altkredite tilgen / Die
Gegendarstellung / So gesehen: haben sie in der Union überhaupt noch zu melden? Ernährung Früher waren
Exodus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Und wer könnte Merz ersetzen? Seite 28 Schweinezüchter wohlhabend
und angesehen – und heute? 52
Parteien Nach der Niederlage
von Friedrich Merz sucht der Kolumne Neuwelt . . . . . . . . . . . 57
konservative Flügel der CDU
eine neue Führungsfigur . . . . 28
Wirtschaft
SPD Warum die Genossen
den Koalitionsfrieden auf- Condor will in Brüssel gegen
kündigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Staatshilfe für Lufthansa vorge-
Bloomberg / Getty Images
Titelfotos [M]: Leopold Fiala (2); Florian Generotzky für den SPIEGEL; Tobias Hase / dpa 5
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Baut Fabriken!
Leitartikel Die Regierung muss die Impfstoffproduktion endlich mit aller Macht ankurbeln,
sonst kann sie das gesamte Jahr 2021 abschreiben.
D
er sogenannte Impfgipfel diese Woche war schnell grassieren. Es ist nicht mehr sicher, wann überhaupt eine
entlarvt als Placebo-Kränzchen. Was aber viele im- Herdenimmunität erreicht werden kann.
mer noch nicht wahrhaben wollen: Deutschland Und was heißt das jetzt? Europa muss schnell mehr
wird keinen unbedarften Sommer haben, nicht mal Produktion aufbauen, muss die Hersteller zu mehr Kapazi-
einen halb schönen wie im vergangenen Jahr. Ganz lapidar, täten motivieren und dazu Geld in die Hand nehmen.
als wäre nichts dabei, verkündete die Bundesregierung näm- Die Politik muss endlich alle verfügbaren Kräfte mobilisie-
lich, dass erst bis Ende September allen ein Impfangebot ge- ren, alle Ressourcen des Landes, um diese Pandemie zu
macht werden könne. Und zwar nur für die erste Dosis. beenden.
Die zweite dann fast einen Monat später. Unter Vorbehalt. Zur Rettung des Urlaubsfliegers TUI stellte die Regie-
Und das Ärgerlichste ist: Die Regierung tut so, als wäre rung im Handumdrehen vier Milliarden Euro bereit. Aber
das unvermeidbar gewesen. Es gebe nun mal nicht genug bei der Impfproduktion wird erst um jeden Euro gerungen
Impfstoff, nix zu machen, ist und sich anschließend darauf
halt so. verlassen, dass die Hersteller
Wir können uns jetzt schon schon selbst dafür sorgen
innerlich darauf einstellen, dass werden, riesige Industriekapa-
sich die geimpften Amerikaner zitäten aufzubauen. Das ist
im Juli an den Stränden Kalifor- absurd und fahrlässig.
niens tummeln, die Briten auf Es ist keine allzu überra-
den Kanaren und die Israelis schende Erkenntnis, dass
am Mittelmeer. Und die Deut- Unternehmen nicht von selbst
schen größtenteils zu Hause motiviert sind, vorsichtshalber
bleiben. fünf zusätzliche Fabriken zu
Noch unbegreiflicher als die errichten. Schon zu Beginn der
Fehler der Vergangenheit ist, Pandemie hatten einige der
dass die Politik bis heute so tut, führenden Ökonomen in der
Ryan Young / NYT / Redux / laif
Die Vorstadtbande
Skandale Alle glaubten das Märchen vom erfolgreichen Weltkonzern Wirecard. Und erwachten jäh,
als der Jahrhundertbetrug aufflog. Dokumente und Insiderberichte belegen, wie Firmen-
chef Markus Braun und sein Vize Jan Marsalek Vertraute narrten und Kritiker gefügig machten.
D
a stehen sie, die mutmaßlich und schönredete. Seine faszinierende Nicht anders erging es Investoren, Ban-
größten Betrüger der deutschen Dreistigkeit macht sprachlos. kern, Analysten, Aufsehern, Politikern
Wirtschaftsgeschichte, und lä- Das fatale KPMG-Gutachten? Für und vielen Journalisten, die Braun und
cheln in die Kamera, als gälte es, Braun und Marsalek kaum der Rede wert. Marsalek hofierten und belogen. Sie alle
bloß ein paar gut gelaunte Worte zur Er- Die Aktie? Unterbewertet, sagt Braun, der wollten an das Märchen vom deutschen
öffnung der Weihnachtsfeier loszuwerden. sieben Prozent des Firmenkapitals hält. Silicon-Valley-Pendant glauben. California
Markus Braun, der Wirecard-Chef, in Corona werde Wirecard zum Gewinner Dreamin’ in Aschheim, wie verführerisch.
jenem Outfit, das ihn wie einen deutschen machen, weil das Virus die Menschen zum Doch Wirecard war nie ein erfolgreicher
Steve Jobs aussehen lassen soll: dunkler Onlineshopping zwinge. Dass ein Hedge- Techkonzern, sondern eine Chimäre, so
Anzug, schwarzer Rollkragenpullover, blass fonds seinen Rücktritt fordert, quittiert er hemdsärmelig geführt, dass er wohl früher
und ernst wie immer, aber für seine Ver- mit einem Lachen. Er genieße das Vertrau- oder später an Dilettantismus gescheitert
hältnisse auffällig fröhlich. en des Aufsichtsrats und bleibe natürlich wäre, auch ohne Betrug. Zeugen charak-
Neben ihm Jan Marsalek, sein Mann an Bord. »Wirecard stehen keine größeren terisieren die Führung als Ansammlung
fürs Tagesgeschäft und, wie man heute an- Hindernisse mehr bevor«, fasst Marsalek fragwürdiger Charaktere, den Mangel an
nehmen muss, Mastermind des Wirecard- die Lage zusammen. Kurzum, no worries. kaufmännischen Fähigkeiten als frappie-
Bluffs. Ein smarter, sportlicher Mann im Am 25. Juni, sieben Wochen später, ist rend, das Klima als frauenfeindlich.
edlen Slimfit-Anzug, das weiße Business- der Konzern insolvent, Marsalek ist da be- Eine Vorstadtklitsche, die Weltkonzern
hemd lässig aufgeknöpft, den sündteuren reits verschwunden. spielen wollte. Und die zwei Männern aus-
Chronografen am Handgelenk. Wie kann es sein, dass sich alle bis zum geliefert war, die alles dem Ziel unterord-
Es ist der 4. Mai 2020, gerade einmal bitteren Ende einlullen ließen von den Be- neten, das große Rad zu drehen.
sechs Tage ist es her, dass die Wirtschafts- schwörungen des ungleichen Wirecard-Ge-
prüfer von KPMG ein Sondergutachten spanns? Dass Mitarbeiter, Aufseher, Banken
Der Global Player
zu den Zuständen bei Deutschlands digi- den Betrug nicht witterten? Wie konnten
talem Vorzeigekonzern vorgelegt haben. Braun und Marsalek sich Wirecard so gefü- Die Digitalmesse DLD in München ist für
Eine einzigartige Abrechnung mit der Wire- gig machen, dass alle Sicherungssysteme die Techszene eine der Topveranstaltun-
card-Führung, vor allem mit Braun und versagten und selbst engste Mitarbeiter gen des Jahres. Wer reindarf, ist eine große
Marsalek: eine Milliarde Euro Cash sind ihnen treu ergeben waren, bis zum Ende? Nummer, nur ausgewählte Firmenchefs
nicht nachweisbar. Die Buchhaltung, die Auf der Suche nach Antworten hat ein werden eingeladen, das Konzernfußvolk
internen Kontrollen – ein Desaster. Eigent- Team von SPIEGEL-Journalisten Tausen- muss draußen bleiben. Für Markus Braun,
lich müsste man den Laden dichtmachen. de E-Mails, Untersuchungsberichte und eigentlich öffentlichkeitsscheu, bleibt der
Die Aktie ist abgestürzt, die Mitarbeiter Gesprächsprotokolle ausgewertet und mit Zutritt lange ein Wunschtraum.
sind verunsichert. Ein Townhall-Meeting Insidern wie Jörn Leogrande gesprochen. Erst als der Emporkömmling nicht mehr
mit dem Vorstand soll sie beruhigen, si- Der ehemalige Innovationschef von Wire- zu übersehen ist, weil Wirecard wächst
gnalisieren: Ihr habt Sorgen, wir haben card hat seine 15 Jahre im Unternehmen und wächst, laden ihn die DLD-Macher
die Antworten. »Eure Hingabe«, heißt es in Buchform verarbeitet. »Bad Company – 2013 ein. Braun ist aufgeregt, er nutzt den
in der Einladung zu der pandemiebedingt Meine denkwürdige Karriere bei der Wire- Auftritt, um sich auch äußerlich ein Mar-
virtuellen Versammlung, deren Mitschnitt card AG« erscheint an diesem Montag. kenzeichen zuzulegen. »Als Markus sah,
dem SPIEGEL zugespielt wurde, »ist so Aus den Gesprächen und Unterlagen er- dass keiner der anderen CEOs Krawatte
wichtig, um unser Unternehmen weiterzu- gibt sich das Bild einer verrotteten Unter- trug, kam er auch ohne«, sagt einer, der
entwickeln und unsere Vision zu verwirk- nehmenskultur, der Braun und Marsalek ihn gut kennt. Das dröge Businessoutfit
lichen.« Jeder könne sich einbringen und ihren Stempel aufdrückten. »Markus war mit Schlips und Oberhemd tauscht Braun
Fragen stellen, der Vorstand freue sich der größte Einzelaktionär, und er hat alle gegen den emblematischen schwarzen
schon, auf geht’s. spüren lassen, dass er glaubt, ihm gehöre Rollkragenpullover. Die Anzüge, oft eben-
Das Video der Veranstaltung, 25 Minu- die Firma«, sagt Leogrande (siehe Seite falls nachtschwarz, sind maßgeschneidert.
ten lang, hat wirtschaftshistorischen 14). Die normalen Mitarbeiter, gut 5000 Wirecard steigt zum DLD-Sponsor auf,
Charakter. Es ist einer der sehr raren An- Leute? »Haben sich dann den Arsch abge- mit eigener Bar in der ersten Etage der
lässe, bei denen Jan Marsalek zu sehen arbeitet. Die dachten ja, es geht voran.« Kongresshalle. Braun, den bis dahin eine
und zu hören ist – der Mann, der schon Sie glaubten an Brauns Erfolgsstory – und triste Workaholic-Aura umgibt, wird zum
vor seiner Flucht im Juni 2020 selbst für erwachten jäh, als der Bluff platzte. digitalen Vorzeige-CEO. Er fühlt sich oben
die meisten Mitarbeiter ein Phantom war. angekommen. Seine Benchmark sind jetzt
Ob er je wieder auftaucht oder gar tot ist: Genies wie Jeff Bezos oder Steve Jobs, von
ungewiss. Eine Klitsche, die Welt- dem er sich das Markenzeichen, den
Vor allem ist der Mitschnitt ein Ausweis schwarzen Rollkragen, abgeschaut hat.
der Unverfrorenheit und Chuzpe, mit der konzern spielen Doch hinter der Fassade des erfolg-
das Führungsduo bis zuletzt log, täuschte wollte, um jeden Preis. reichen Genies steckt ein verunsicherter
E I N E V E R R O T T E T E U N T E R N E H M E N S K U LT U R
Wirecard-Manager Braun, -Vize Marsalek bei Firmenfeier
9
Mensch, dem andere Menschen zutiefst Bord geholt haben, andere wurden von
suspekt sind. Er hat bald einen Leibwäch- Marsalek mit lukrativen Posten in Indien
ter, seinen Chauffeur Roy, der den Chef oder Singapur versorgt.
begleitet, sobald der sein Zuhause oder Wenn ihm danach ist, stutzt Braun Bud-
die Firmenzentrale verlässt. Roy gibt dem gets ohne Rücksprache mit dem verantwort-
Sonderling Halt und gehört zu den weni- lichen Manager. Dann wieder sind ihm die
gen Konstanten in Brauns Leben, das sich Kosten egal, das ganze Klein-Klein zuwider.
fast ausschließlich um Wirecard drehte. Etwa wenn sich seine persönliche Assisten-
Braun kam 2002 als Berater an Bord, tin über hohe Essensrechnungen echauffiert
stieg zügig zum CEO auf. Doch einer stand (»sehr auffällig«) und Braun den Warnruf
über ihm, Aufsichtsrat Paul Bauer-Schlich- nur matt quittiert: »Ist wirklich viel.«
tegroll. Ein König der Grauzone, er gab Tollhaus Wirecard Der CEO führt ein Doppelleben: nach
die deutsche Ausgabe des US-Sexmaga- Schlüsselpersonen des Skandals außen Workaholic, Nerd, Sozialautist, der
zins »Hustler« heraus und wusste, wie man seine Freizeit mit Frau und Kind in Wien
mit dem Abwickeln von Zahlungen für AUFSICHTSRÄTE Kontrollgremium verbringt. Tatsächlich ist Braun ein Macht-
Porno- und Gaming-Sites Millionen macht. mensch, der Einfluss und Geld nutzt, um
2009 verlässt Bauer-Schlichtegroll den Wulf Matthias Banker sich luxuriöse Fluchten aus dem Alltag zu
Konzern, Braun hat freie Bahn. Er räumt Vorsitzender 2008 bis 2020 organisieren, und der auf dem Weg in den
mit alten Seilschaften auf und baut sich Thomas Eichelmann Finanzmanager Börsenolymp das süße Leben entdeckt.
seine eigenen, mit Marsalek als Vertriebs- 2019 bis 2020, Vorsitzender ab Januar 2020 Als er seinen Wunsch nach einem grö-
vorstand; Braun führt Englisch als Unter- Alfons Henseler Banker ßeren, deutlich teureren Dienstwagen mit
nehmenssprache ein, wirft mit Begriffen 2005 bis 2019, stellvertretender Vorsitzender dem Aufsichtsrat abstimmen soll, be-
wie »Corporate Trust Center«, »Risk Plat- Stefan Klestil FinTech-Experte kommt er einen Tobsuchtsanfall; der
form« und »Standalone Product« um sich, 2009 bis 2020 Wechsel vom S-Klasse-Mercedes zum
das macht Eindruck. Wirecard, das hat sich Anastassia Lauterbach Unternehmensberaterin Maybach wird ihm schließlich gewährt.
Braun vorgenommen, soll ein Global Play- 2018 bis 2020 Privat ordert Braun schon mal Wein für
er werden und Mitglied im Dax, der deut- Vuyiswa V. M’Cwabeni SAP-Managerin gut 22 000 Euro, die Wochenenden ver-
schen Börsenelite. Sein Antrieb? Macht. 2016 bis 2020 bringt er gern an der Côte d’Azur. Um keine
»Markus hat sich immer alles genommen, Susana Quintana-Plaza Zeit zu verlieren und Menschenmassen am
was er wollte«, sagt eine Ex-Mitarbeiterin. Venture-Capital-Spezialistin Gate zu vermeiden, bucht er Privatjets der
Seine Vision braucht eine Aufstiegs- 2018 bis 2020 Firma Avcon Jet, direkt nach Nizza oder
geschichte – und ungestümes Wachstum. Hyères. Für die Anfahrt zu seiner Nobelvilla
Der Umsatz? Musste um 30 Prozent wach- VORSTANDSMITGLIEDER
im Badeort Ramatuelle stehen ein Mercedes
sen, weil der Chef es anordnete. Der Ge- GLC und ein V-Klasse-Bus bereit. Vor Ort
winn? Immer ein Drittel vom Umsatz. lässt er es sich gut gehen: auf der Jacht »Lady
Markus Braun verhaftet
Weil Vision und Realität nicht in Einklang S« für knapp 500 000 Euro Miete pro Wo-
Vorstandsvorsitzender (CEO) 2002 bis 2020
finden wollten, schufen Braun und seine che, in den angesagten Bars der Côte wie
Mitstreiter offenbar ein Betrugsmodell, Jan Marsalek untergetaucht dem Le Club 55 oder dem Loulou, wo die
Vorstand (COO), zuständig für
das auf dem Papier Traumrenditen ermög- Vertrieb und Asiengeschäft
Trüffelpizza 45 Euro kostet. »In der Firma
lichte. So stellt es sich heute dar. 2010 bis 2020 war nie die Rede davon, dass der Chef auf
Wie an Wirecard ist auch an Braun vie- einer Jacht schippert, da gab er sich sehr as-
Burkhard Ley
les Fassade. Der vermeintliche Techpapst Finanzvorstand 2006 bis 2017
ketisch«, sagt eine frühere Mitarbeiterin.
etwa, über den geschrieben wurde, er lese In München entwickelt Braun ein Faible
selbst nachts aktenweise Material zu Ar- Alexander von Knoop für das Hearthouse, den ersten Private
Finanzvorstand (CFO) seit 2018
tificial Intelligence. Die »wenigen Men- Member Club der Stadt mit gehobener
schen, die Markus je getroffen haben, wis- Susanne Steidl Cuisine, strengem Bewerbungsverfahren
Produktmanagerin (CPO) seit 2018
sen, dass das nur Legendenbildung war«, und 900 Euro Jahresbeitrag. Das Edelkon-
so Leogrande. Tatsächlich sei Braun ein zept frisst Geld, aber die Betreiber gewin-
Freund des Oberflächlichen gewesen. MARSALEK-VERTRAUTE und Geschäftspartner nen den Wirecard-Chef als Big Spender.
Im Konzern kriegen nur wenige mit, Seine private MB Beteiligungsgesellschaft
dass unter der Maske des asketischen Vor- Oliver B. Kronzeuge, verhaftet leiht dem Hearthouse eine Million Euro.
denkers ein lausiger Manager steckt. Er Geschäftsführer einer Wirecard-Gesellschaft in Dubai Im Sommer 2019 pumpen die Heart-
übernimmt Firmen wie am Fließband, um Henry O’Sullivan untergetaucht house-Jungs Braun erneut an und schmei-
deren Integration schert er sich nicht. Wer Marsalek-Geschäftspartner in Indien und Singapur cheln ihm: »Gratulation zu der gelungenen
daran Kritik übt, bekommt zu hören: Brigitte Häuser-Axtner und Carlos Häuser Jahreshauptversammlung. Die Presse singt
»Wenn dir improvisieren nicht passt, dann Singapur ja in den höchsten Tönen von Dir!«
bist du im falschen Unternehmen.« Hamid »Ray« Akhavan verhaftet Brauns Bling-Bling-Leben kontrastiert
Kollegen, die mit Problemen zu ihm alter Freund, Geschäftspartner mit einer skurrilen Unsicherheit im Zwi-
kommen, habe er behandelt, als hätten sie Ahmad »Andy« Khawaja schenmenschlichen. In Gesellschaft muss
nicht alle Tassen im Schrank, erzählt eine ihn eine Kollegin aus der Presse- oder Per-
Tobias Hase / picture alliance / dpa
Wirecard-Großkunde
Ex-Mitarbeiterin. Ist ihm fad, lässt er Mit- Christopher Bauer mutmaßlich verstorben
sonalabteilung begleiten, damit er nicht
arbeiter kommen und dekretiert Unmög- Wirecard-Geschäftspartner auf den Philippinen* Gefahr läuft, allein herumzustehen.
liches: »Denk nach, wie wir die gleichen Tuschelthema im Konzern ist der Auf-
Mark Tolentino
Leute anheuern wie Google oder Apple!« Treuhänder auf den Philippinen*
stieg von Mitarbeiterinnen, die die Kolle-
Er nimmt hin, dass sich Friends & Fa- gen nicht der Kategorie Leistungsträger
mily im Konzern einnisten. Ein Topmana- * Dort verschwanden rund 2 Mrd. € bzw. waren nie existent. zuordnen können. Seine Menschenscheu,
ger soll seine halbe Fußballmannschaft an so scheint es, kann Braun bisweilen able-
10
Titel
gen. Immerhin verheiratet ist er, mit Sylvia, es um die EY-Prüfer, die Dokumente für Einigkeit Risse. Immer wieder vertröstet
intern zuständig für »Strategic Allian- den Jahresabschluss anmahnen. Marsalek D., die ihn nach Dokumenten
ces & Business Development«. Sie habe »Du weißt ja sicher, dass EY sich mal wie- fragt. Inzwischen wollen sogar zwei Prüfer
ihre Energie eher in die Inneneinrichtung der beim AR (Aufsichtsrat –Red.) beschwert Papiere sehen, EY und KPMG. Ständig ist
der Zentrale gesteckt, Tupperware und hat ...«, schreibt D. und bietet ihm Unter- Marsalek auf dem Sprung, hetzt zum Flie-
Kaffeetassen durch Designergeschirr er- stützung an. Die braucht Marsalek nicht, er ger oder in eine Besprechung, verspricht,
setzt und teure Vitra-Wanduhren aufge- zaubert die Unterlagen schließlich selbst her. sich pronto zu melden, und taucht dann ab.
hängt, wie es im Konzern heißt. Die Vor- Die Finanzfrau ist begeistert. »Jan, du soll- Sein Zauber scheint langsam zu verflie-
standsbüros richtet sie nach Feng-Shui- test wirklich unter die Schriftsteller gehen.« gen. »Verteidige Dich grad bei Control-
Harmonielehre aus. Dass das Paar recht Marsalek lobt D. für ihre Arbeit, sie ling«, berichtet D. ihm. Auf seine Rückfra-
spät noch ein Kind bekommt, weiß jeder revanchiert sich mit Leckereien. Und hält ge »Wegen?« antwortet sie: »Allem, Jan.
im Konzern, allerdings nicht vom CEO die Prüfer hin, damit der Meister seine Allem«. Ihr Zorn wächst, das Misstrauen
selbst: Braun spricht fast nie über Privates. Ruhe hat. D. ist für Marsalek die nützliche auch. »Es ist unfair, dass Ihr mich wieder
Brauns Anwalt erklärte, sein Mandat kön- Idiotin, ihre Beziehung die Businessvari- mal loslaufen lasst und Ihr im Hintergrund
ne sich zu verfahrensrelevanten Sachver- ante des Stockholm-Syndroms. Euer Ding macht«, schreibt sie im Februar
halten wegen der anstehenden Entschei- D. glaubt, dass sich die Welt gegen Wire- 2020. »Macht Ihr seit 15 Jahren.«
dung im Haftprüfungsverfahren nicht äu- card verschworen hat. »Die wollen uns Marsalek wird nun öfters harsch, seine
ßern. Andere gegen ihn vorgebrachte Un- echt das Licht ausdrehen, oder?«, fragt sie gut gelaunte Coolness weicht. »Markus
terstellungen seien »unzutreffend und teil- Marsalek Anfang 2020. Der Druck der entscheidet, wann die letzte Sekunde ist«,
weise durch Fakten widerlegt«. Prüfer auf Wirecard wächst und schweißt lässt er D. wissen, als mal wieder eine
die beiden zusammen. Regelmäßig scher- Frist verstrichen ist. »Doch nicht für die
zen sie über ihren »Plan B«: die Eröffnung Bank«, widerspricht D. Marsaleks Antwort
Der Manipulator
eines Katzencafés. EY-Prüfer Gregor Fich- kommt in Großbuchstaben: »DOCH«.
Jan Marsalek geht es nicht gut im Herbst telberger verspotten sie als »Fichtlwichtl«. »Du hast wirklich 2 Gesichter«, stellt D.
2018. Seit dem Oktoberfest, wo er wie je- Doch bald darauf bekommt die traute im Mai 2020 fest. Das Ende ist jetzt nah.
des Jahr mit Geschäftspartnern und Kol- »Was bildet sich Wirecard eigentlich ein?
legen gefeiert hat, plagt ihn eine schwere Wie geht Ihr denn mit Menschen um?«
Grippe. »Fühlt sich aber an wie eine russi- Mies, müsste Marsalek antworten, wäre
sche Bio-Waffe«, schreibt er einer Kollegin er ehrlich. Tatsächlich plant er da wohl
auf dem Messenger-Dienst Telegram. bereits die Flucht. Zurück lässt er ein Netz-
Doch nicht nur die Viren und sein Dau- werk treuer Helfer. Leute wie Brigitte Häu-
erleiden, ein Bandscheibenvorfall, quälen ser-Axtner, zuständig für Kunden aus dem
ihn. Die Wirtschaftsprüfer von EY hängen Schmuddelmilieu, ihren Gatten Carlos
Marsalek im Nacken. Sie wollen endlich Häuser, den als cholerisch geltenden
die Geschäftsabschlüsse von Partnerfir- Chefbuchhalter Stephan von E. und
men aus Asien und die Businesspläne von Dubai-Statthalter Oliver B. Mit ihnen fei-
Tochterfirmen sehen. »Ansonsten haben erte Marsalek Partys, kümmerte sich,
wir folgende Risiken«, schreibt ihm seine wenn es für sie nicht rundlief. Besonders
enge Mitarbeiterin D., eine Finanzexper- eng soll die Beziehung zu Häuser-Axtner
tin: »Abwertung der Wandelanleihen = ne- gewesen sein, die er in sein Schattenreich
gativer Ergebniseffekt EUR 21.5 m.« nach Singapur holte. Und deren Mann
21,5 Millionen. gleich mit, nachdem er den erhofften Vor-
Marsalek vertröstet sie. Wochen später, standsjob nicht bekommen hatte.
am 3. Dezember 2018, tippt sie schüchtern Marsalek hatte für jeden eine Rolle. Renn-
in ihr Smartphone: »Hallo Jan, ich frag auto-Fan Oliver B. bildete in Dubai die
jetzt mal lieber nicht wie es Dir geht.« Und Schnittstelle zu Wirecards Drittpartnern, die
wird fürsorglich: »Und obwohl du nix ge- angeblich den Löwenanteil der Gewinne bei-
liefert hast und es Dir so nicht verdient trugen, aber wohl die Basis des Betrugssys-
hast: Es ist Weihnachtsplätzchen-Zeit und tems waren. B. manipulierte auf Anweisung
ich wollte fragen, ob Du ein paar magst?« ihre Abrechnungen. Er ist bisher der Einzige,
Im Moment könne sie etwa Nougatkipferl, der gestanden hat, unter anderem auf seine
Vanillekipferl und Husarenkrapferl anbie- Aussagen stützt die Staatsanwaltschaft ihre
ten. »Wenn Du welche magst, schick ich Vorwürfe gegen Braun und Marsalek.
Dir morgen ein paar per Kurier.« Extern zählte Marsalek auf Männer wie
Was Braun mit der Aura des unnahba- Hamid »Ray« Akhavan, der mit ihm Kon-
ren Techgurus gelingt, erreicht Marsalek takte ins Geheimdienstmilieu teilte. Der
mit Wiener Schmäh: Menschen in seinen »Porno-Baron« gehörte früh zu den engen
Bann zu ziehen, sie für seine Zwecke zu Kumpels von Marsalek. Weihnachten 2015
missbrauchen, ohne rabiat zu werden. Die schickte »Ray« ihm einen Apple-Fern-
wenigen Mitarbeiter, zu denen er Kontakt seher. Die Zollgebühren übernahm Wire-
hat, verfallen der Mischung aus Charme card, auf Marsaleks Anweisung.
und Lässigkeit, Sexappeal und seiner Fä- Beinahe zärtlich klingt ein Mail-Wechsel
higkeit, sich aus allem herauszuwinden. zwischen den beiden Männern vom April
Zu seinem Glück klappt die Masche bei 2016. »Darling Let’s discuss the below, there
seiner Kollegin D. Die Finanzexpertin GELD UND CHARME may be a good opportunity here … Love
tauscht mit ihm täglich Dutzende Tele- Weinrechnung an Braun, Ray«, schreibt Akhavan. »Hey my love,
gram-Nachrichten aus. Immer wieder geht E-Mail von Marsalek Just saw this«, antwortet Marsalek. »Looks
»Ein noch größerer Sauhaufen« mitnehmen durften und das interne Netz-
werk des Verfassungsschutzes eine Verbin-
dung zum Internet habe – beides absolute
No-Gos in der Agentenwelt. Von der
Straße aus konnten die ausländischen Be-
Viel Schlaf bekam Martin W., 57, in heimdienst endgültig in die Liga der amten den Besprechungsraum des
der Wiener Gefängniszelle nicht. Bananenrepubliken katapultiert. BVT belauschen – das Fenster stand offen.
Nach einem Kaffee am Morgen entschied Der Ruf des Amts ist seit Jahren ram- Wie schwach das Land der Ski-Asse
er auszupacken. poniert. Unter europäischen Partnern gilt und des Topfenstrudels in der Terror-
Was folgte, war das Geständnis eines das BVT als bedingt leistungsfähig und abwehr ist, zeigte sich beim islamistischen
Mannes, der bis vor wenigen Jahren einer wenig zuverlässig. Rundschreiben werden Anschlag im November. Die Österreicher
der mächtigsten Geheimdienstbeamten teils mit der expliziten Anweisung ver- hatten mehrere Hinweise auf den späteren
Österreichs war. Martin W. schilderte, wie schickt, diese nicht nach Österreich zu Wien-Attentäter und sein radikales
er dem Wirecard-Vorstand Jan Marsalek senden. Zu groß ist das Misstrauen, dass Umfeld bekommen, auch von deutschen
jahrelang dubiose Dienste leistete – und sensible Informationen in den falschen Behörden. Trotzdem konnte der Mann
ihm am 19. Juni zur Flucht nach Belarus Händen landen könnten. Ein vertrauliches vier Menschen ermorden.
verhalf. Ein Bekannter habe zwei Piloten Papier des finnischen Geheimdienstes In Berlin hatte man gehofft, dass der
organisiert, die Marsalek mit einem Jet an Partner in der Europäischen Union war österreichische Verfassungsschutz unter
vom Typ Cessna 510 nach Minsk brachten. 2018 mit dem Hinweis versehen: der neuen Regierung aus Konservativen
Seitdem ist Marsalek verschwunden. »Except BVT Vienna« – außer an Wien. und Grünen endlich Reformen auf den
Auch nach dessen Flucht, so berichtete Als bisheriger Tiefpunkt galt eine Razzia Weg bringen würde. Die Wirecard-Affäre
Martin W., habe Marsalek sich bei ihm im BVT im selben Jahr, bei der Polizisten belegt nun, wie tief die Abgründe im BVT
über verschlüsselte Messenger gemeldet, unter Führung eines Beamten mit Partei- sind. »Das kaputte Amt«, titelte das öster-
unter anderem von einer russischen Num- buch der rechtspopulistischen FPÖ geheime reichische Nachrichtenmagazin »profil«.
mer. Um sich zu erkennen zu geben, habe Akten beschlagnahmten – auch Unter- Die Ermittler glauben, dass Marsalek
Marsalek gefragt, was seine »Schaukel- lagen aus Deutschland. Danach musste mithilfe des Ex-BVT-Abteilungsleiters
figur« mache – die stand in einer Villa in sich das BVT aus dem »Berner Club« Martin W. geheime Informationen über
München-Bogenhausen, in der Marsalek zurückziehen, einem informellen Zirkel mindestens zehn Personen einholen ließ –
und der Ex-Geheimdienstmann zweifel- der europäischen Geheimdienste. eine Art Background-Check in Behörden-
haften Geschäften nachgegangen waren. Aus den Reihen des Klubs der Spione datenbanken. Es sei ihm vorgekommen,
Martin W. leitete bis zu seiner Be- stammt auch eine Bestandsaufnahme über als wollte Marsalek »auch ein Geheim-
urlaubung 2018 im Bundesamt für Ver- die laxen Sicherheitsstandards des BVT. agent sein«, sagte W. laut Vernehmungs-
fassungsschutz und Terrorismusbekämp- Mehrere ausländische Partner, darunter protokoll, über das zuerst die Wiener
fung (BVT) die wichtige Abteilung 2 der britische MI5 und das deutsche Bun- »Presse« berichtete und das dem SPIEGEL
für »Informationsbeschaffung und Ermitt- desamt für Verfassungsschutz, hatten den vorliegt. Marsalek habe ihm eine Liste mit
lung«. Nun rückt er ins Zentrum eines Dienst unter die Lupe genommen – und Namen ausgedruckt. Er habe diese dann
Skandals, der den österreichischen Ge- ein vernichtendes Urteil gefällt. an einen alten Spezl weitergereicht.
Der österreichische Beamte, der Martin
W. bei den Datenabfragen geholfen
haben soll, ist Egisto O. Er arbeitete eben-
falls viele Jahre im BVT, zuletzt im Refe-
rat für verdeckte Ermittlungen. Neben
der Wirecard-Vorwürfe hegen die Fahnder
noch einen anderen schwerwiegenden
Verdacht gegen ihn: Er soll Staatsgeheim-
nisse verraten haben – auch an einen
russischen Geheimdienst. O. sitzt in Unter-
suchungshaft, während W. nach seinem
Geständnis auf freien Fuß kam. Seine
Anwältin hält die Vernehmung jedoch für
rechtlich nicht verwertbar, da sie nicht
hinzugezogen wurde. Egisto O. soll die
Jeff Mangione / Kurier / picture alliance
Die Claqueure S Ü S S E S L E B E N A U F D E M W E G I N D E N B Ö R S E N O LY M P
Konzernchef Braun auf der Weihnachtsfeier 2012
Während Marsalek sich um die dunkle Sei-
te der Macht bemühte, umgarnte Braun die
Politik. Noch im vergangenen April bot Hinzu gesellten sich Berater wie die Ex- 1,3 Millionen Euro. Die Rechnung sorgte
Wirecard an, den Freistaat Bayern mit einer Chefs der »Bild«-Zeitung, Kai Diekmann intern für Nachfragen, die Marsalek mit
Million Corona-Masken und Schutzklei- und Hans-Hermann Tiedje. »Bleiben Sie der Ankündigung abwiegelte, »aufgrund
dung aus China zu beliefern. Leider seien stark!«, textete Diekmann noch kurz vor der veränderten Rahmenbedingungen vor-
»alle Unterlagen unzureichend«, kabelte dem Kollaps an Braun. Zuvor hatte Tiedjes erst keine weitere Unterstützung« mehr
die Mitarbeiterin einer staatlichen »Unter- Agentur WMP Wirecard ein PR-Konzept zu benötigen. Er sollte recht behalten:
stützungsgruppe Beschaffungen« nach namens »Drachenblut« angeboten. Es soll- Zwei Wochen später war Wirecard pleite.
Aschheim. In Nordrhein-Westfalen wollte te Wirecard unverwundbar gegenüber Kri-
ausgerechnet Wirecard Corona-Hilfsanträ- tikern machen, der Erfolg blieb aus.
Das Finale
ge auf Betrug prüfen. Das ist doppelt grotesk: Wirecard bezahlte allein 2019 fast
Die Staatsanwaltschaft München glaubt, 45 Millionen Euro für Kommunikations-, In der Nacht auf den 19. Juni 2020, nur
dass illegal erschlichene Corona-Hilfen Rechts- und andere Berater. Sie sollten sechs Wochen nach dem denkwürdigen
über Wirecard-Konten gewaschen wurden. auch Nörgler auf Linie bringen. Gelang »Townhall«-Auftritt, stellt sich Braun noch
Womit und wie genau der vermeintliche das nicht, schäumte Braun. Als die Inter- einmal mit seinen Vorstandskollegen,
Vorzeigekonzern eigentlich Geld verdien- netseite MCA-Mathematik 2019 Betrugs- ohne Marsalek, vor eine Videokamera.
te, verstand in der Politik niemand. Wie vorwürfe erhob, schrieb er wütend an die Brauns Stimme klingt leer und teil-
auch? Selbst Analysten und Banker mach- Leiterin seiner Rechtsabteilung: »Es ist nahmslos. Es könne nicht ausgeschlossen
ten lange Gesichter, wenn sie Wirecards schon ärgerlich, dass wir es nicht schaffen, werden, sagt er, »dass die Wirecard AG in
Geschäftsmodell erklären sollten. Kaum derartige falsche und Kriminelle Websites einem Betrugsfall erheblichen Ausmaßes
einer blickte durch bei all den »conversion kurzfristig herunternehmen zu lassen.« zum Geschädigten geworden ist«. Wer den
rates«, »forward-looking payment ser- Um Kritiker unter Journalisten und Betrug begangen hat, sagt er nicht.
vices« und »risk management solutions«, Hedgefonds mundtot zu machen, engagier- Mittlerweile ist seine Welt sehr klein
von denen Braun schwadronierte. Hängen ten Braun und Marsalek »Spezialberater« geworden. Eine Zehn-Quadratmeter-Zelle
blieb, dass Wirecard wuchs und expandier- wie die Atlas Group, die »Research im in der Justizvollzugsanstalt Augsburg-Gab-
te, vor allem in Asien, und alle reich zu Umfeld der div. Short-Attacken« machte. lingen ersetzt das Feng-Shui-Büro in Asch-
machen schien, die sich dranhängten. Für zwei Monate Arbeit verlangte Atlas heim, die Luxuswohnung in München-
Dem Wunderkind wollten viele dienen. Bogenhausen, das Haus in Wien, die Villa
Die früheren Landeschefs von Hamburg in Kitzbühel. Es heißt, Braun komme gut
und Schleswig-Holstein, Ole von Beust zurecht; er könne seine Ansprüche herun-
und Peter Harry Carstensen, spannte terschrauben, wirke aufgeräumt. Er studiert
der Konzern als Experten für Glücks- Ermittlungsakten, zweimal in der Woche
spielregulierung ein. Bayerns Ex-Lan- kommt sein Verteidiger Alfred Dierlamm.
despolizeichef Waldemar Kindler half, Wenn Braun eines Tages vor Gericht
einen Waffenschein für Brauns Fahrer Roy steht, will er seine Version der Geschichte
zu besorgen. Ex-Geheimdienstkoordina- erzählen. Die Staatsanwaltschaft kennt sie,
tor Klaus-Dieter Fritsche beschaffte Kon- er hat sie in rund einem halben Dutzend
takte ins Kanzleramt. Und Karl-Theodor Vernehmungen vorgetragen. Braun ist da-
zu Guttenberg, einst Verteidigungsminis- rin das ahnungslose Opfer.
ter, lobbyierte bei Angela Merkel so inten- Tim Bartz, David Böcking, Martin Hesse,
siv, dass die Kanzlerin Wirecard bei der NICHTS PRIVATES VOM CEO Nicola Naber, Gerald Traufetter
Expansion in China behilflich wurde. Braun-Gattin Sylvia
13
Titel
SPIEGEL: Herr Leogrande, Sie waren einer Kritiker soll er einen Boxer vorbeige- SPIEGEL: Bauer ist ein Mythos, es gibt kein
der Topmanager bei Wirecard, haben schickt haben, um ihn mundtot zu machen einziges Bild von ihm im Netz. Warum
direkt an Markus Braun berichtet – welche – was Bauer allerdings dementiert. verließ er die Firma 2009?
Rolle spielte der Konzern in Ihrem Leben? Leogrande: Er hatte einen Hang zur Halb- Leogrande: Ich glaube, dem wurde alles zu
Leogrande: Meine Frau hat immer gesagt, welt und war schon ein Despot. Bei Wire- öde und popelig. Paul wollte international
dass Wirecard mein Leben komplett über- card hat sich kaum jemand getraut, mit wachsen, sah aber, dass Porno und Gamb-
nommen hat. Das stimmt, ich werfe mir ihm zu sprechen. Selbst Markus und Jan ling in die Illegalität gedrängt wurden. Vor-
das auch selbst vor. Ich habe dort 15 Jahre waren devot. Intern hat er gesagt, Jan wür- mittags rauchte er Joints, um durch den Tag
lang gearbeitet und mich stark mit dem de unter ihm niemals Vorstand. Paul hat zu kommen. Im Prinzip hat er wohl alle ver-
Unternehmen identifiziert. Ich war be- alles bestimmt, auch noch als er 2005 in achtet. Irgendwann hatte er genug und hat
geistert von der Innovationsdynamik. Von den Aufsichtsrat wechselte und Braun ihm mit viel Geld, angeblich 500 Millionen Euro,
dem mutmaßlichen Betrug rund um den nachfolgte. Wirecard verlassen. Heute soll er in Kam-
Konzern habe ich bis zur Insolvenz nichts SPIEGEL: Was hatte er gegen Marsalek? bodscha oder Laos ein Ökohotel führen.
gewusst. Leogrande: Jan war Schulabbrecher, hatte SPIEGEL: War sein Abgang der Startschuss
SPIEGEL: Sie haben 2005 angefangen? sich Programmieren selbst beigebracht, für Marsalek und Braun?
Leogrande: Ja, da war Wirecard noch eine aber einige Projekte in den Sand gesetzt. Leogrande: Absolut. Markus wollte immer
Klitsche, ein unauffälliger Mittelständler Paul hat es ganz offensichtlich genossen, ihn CEO werden, Jan Vorstand. Beide hatten
mit miserablem Marketing, der Zahlungs- zu demütigen, etwa wenn er ihn zwang, auf brutalen Ehrgeiz. Sie haben Pauls Leute
verkehr abwickelte, fast ausschließlich für Messen unseren Stand zu reinigen. gefeuert und deren Posten mit Vertrauten
die Porno- und Glücksspielbranche. Das besetzt. Vom Kerngeschäft, der Abwick-
kann man moralisch verwerflich finden, lung digitaler Zahlungsströme, hatte mei-
es war aber legal und lukrativ. ner Meinung nach vor allem Markus Braun
SPIEGEL: Wann sind Sie Markus Braun nur wenig Ahnung. Dem Wirtschaftsinfor-
und Jan Marsalek erstmals begegnet? matiker Markus mussten wir einmal sogar
Leogrande: Das war 2006. Ich sollte ein erklären, wie ein Algorithmus funktioniert.
neues Marketingkonzept präsentieren. SPIEGEL: Was waren denn überhaupt die
Markus war CEO und Technikvorstand, Stärken von Braun und Marsalek?
kam im Anzug und wirkte verschlossen. Leogrande: Jan kannte sich mit der Technik
Jan war Bereichsleiter Technik, trug Jeans, und den Prozessen aus; er wusste immer
Cowboystiefel und eine Art Irokesen- genau, welche Server die besten sind, wel-
schnitt. Viel zu sagen hatten sie nicht. che Gebühren passen. Markus hat verstan-
SPIEGEL: Warum? den, wohin sich die digitale Welt entwickelt,
Leogrande: Paul Bauer-Schlichtegroll, da- und alle permanent angetrieben. Der redete
mals Aufsichtsrat, war der Alleinherrscher. schon früh davon, Wirecard in den Dax zu
Seine EBS, die Zahlungen im Porno- und bringen. Das hat er ja auch geschafft.
Florian Generotzky / DER SPIEGEL
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re, Analysten. Markus wollte immer Chef
eines Weltkonzerns werden, da war er wie
Paul Bauer. Sein Maßstab waren die Tech-
Giganten in den USA und China. Elon
Musk, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg. In
dieser Liga hat er sich gesehen.
SPIEGEL: Sie haben acht Jahre lang direkt
an Braun berichtet, waren mit ihm auf Rei-
sen. Was für ein Mensch ist er?
Leogrande: Es klingt krass, aber ich weiß
es nicht. Er hat immer nur über die Arbeit
geredet, er kannte nichts anderes. Wie
sieht die digitale Welt von morgen aus,
welche Branchen überleben? Fürchterlich
eindimensional. Und er hat manisch auf
dem Handy den Kurs der Wirecard-Aktie
verfolgt. Wenn der gefallen war, hat man
ihn besser gemieden. Eine soziale Persön-
lichkeit war er nicht.
SPIEGEL: In Ihrem Buch schreiben Sie
vom »gepflegtem Autismus« des CEO.
War er im Unternehmen für die meisten
überhaupt sichtbar?
Leogrande: Markus ist morgens von der
Tiefgarage in sein Büro gegangen und
abends wieder zurück. Dem Bodenperso-
nal ist er eigentlich nur auf der jährlichen
Sommerparty und der Weihnachtsfeier
erschienen. Da hat er immer eine kurze
Rede gehalten, und jeder hoffte, vom Meis-
ter erwähnt zu werden. Einmal habe ich
den Ritterschlag erhalten, für ein Projekt,
das ich mit Produktchefin Susanne Steidl
in Russland aufgesetzt hatte. Auf der Som-
merfeier 2011 war das, er taufte Susanne
und mich »Batwoman and Robin«. Das
Projekt ist dann trotzdem gescheitert.
SPIEGEL: Was war das Privateste, das er
Ihnen erzählt hat?
Leogrande: Dass er sich sehr für die öster-
reichische Politik interessiert und Kanzler
Sebastian Kurz gut findet, den hat er ja
beraten. Intimer wurde es nie. Seine Frau,
sein kleines Kind? Darüber hat er nicht
gesprochen. Am schlimmsten war es,
wenn wir essen waren, nur er und ich.
SPIEGEL: Was war so schlimm daran? GUTE STIMMUNG BIS ZUM SCHLUSS
Leogrande: Es war unmöglich, sich mit Wirecard-Führungskräfte Marsalek, Steidl, Braun, Häuser-Axtner
ihm zu unterhalten. Ich war jedes Mal froh,
wenn es vorbei war. Ich hatte kein persön-
liches Verhältnis zu ihm, das hatte nie- zehnte zurückliegen. So wirkt er am Bahn- te tolle Manieren. Wer mit Jan auf Tele-
mand. Er war unglaublich menschenscheu. steig und im Zug alles andere als entspannt. gram kommunizierte, war relevant. Man
Entsetzt blickt er in alle Richtungen. Diese konnte super ausgehen mit ihm. Luxus
In seinem Buch, das der SPIEGEL hier in ganzen Massen und diese ständige Bewe- war ihm wichtig, es musste immer der
Auszügen abdruckt, schildert Leogrande gung überall … Das alles ist so gar nicht die teuerste Wein sein, das beste Steak. Hö-
einen gemeinsamen Businesstrip nach Welt des kultivierten Dr. Braun. Nachdem hepunkt des Jahres war für ihn das Ok-
Fotos aus privatem Besitz von Wirecard-Mitarbeitern
Moskau, der für Braun zur Hölle wird: er die Fahrt trotz überall lauernder Gefahren toberfest. Der Champagner wurde in Bier-
Markus möchte eigentlich mit dem Taxi zum überlebt hat, ist er so euphorisch wie ein Berg- krügen ausgeschenkt. Jan hat sich mit
Flughafen aufbrechen, aber das dürfte an- steiger nach der erfolgreichen Route über Vitaminspritzen fit machen lassen, um
gesichts des Moskauer Feierabendverkehrs den Großglockner. In diesem Hochgefühl alles durchzustehen.
viel zu lang dauern. Ich mache ihm schließ- beugt er sich zu mir, legt seine Hand auf SPIEGEL: Doping für die Wiesn?
lich den Vorschlag, dass wir schnell und un- meine Schulter und bietet mir das Du an. Leogrande: Ja, der ist jeden Tag in seiner
kompliziert den Aeroexpress-Zug nehmen. Lederhose hin und war der King. Wir hat-
Das ist für Markus ein ziemlich ungewöhn- SPIEGEL: War Jan Marsalek unterhaltsa- ten durchgehend mehrere Tische gebucht
licher Reiseplan. Seine letzte Erfahrung im mer? und immer Gäste, meist aus Asien. Jan saß
öffentlichen Nahverkehr dürfte seinem Ver- Leogrande: Absolut. Er war offen, welt- an seinem Tisch im Hippodrom-Zelt, hat
halten nach zu schließen schon einige Jahr- männisch, sprach sehr gutes Englisch, hat- alles kontrolliert und dabei zugesehen, wie
sich andere besoffen in die Haare kriegten. seine Freundin nicht geheiratet: Er glaubte litär. Mit russischen Paramilitärs ist er nach
Nach Wiesn-Schluss gingen alle ins P1 und nicht, dass eine Hochzeit so perfekt wer- Syrien gefahren, in Libyen wollte er eine
feierten weiter, auf Wirecard-Kosten. Das den könnte, wie er sich das vorstellt. Söldnerarmee aufbauen. Wie passt das
war extrem teuer und lief total aus dem SPIEGEL: Hat der Mann einen Knall? alles zusammen?
Ruder. Erst als irgendwann Fotos dieser Leogrande: Sicher. Trotzdem war Jan der Leogrande: Jan quatschte ständig über Li-
Wiesn-Orgien auf Twitter gepostet wur- intelligenteste Typ, den ich je kennenge- byen, Syrien, Afghanistan, das Militär. Bei
den, musste er das zurückschrauben. lernt habe. Smart, eloquent, auf den Punkt, diesen Themen hatte man ihn sofort. Wie-
SPIEGEL: Es heißt, Marsalek habe stets mit stets das richtige Argument, den richtigen so? Ich weiß es nicht. Er war ja nicht ein-
Bargeld bezahlt, um keine digitalen Spu- Spruch, die richtige Sicht. mal beim österreichischen Bundesheer. Er
ren zu hinterlassen. Stimmt das? meinte, ich solle mal nach Libyen oder
Leogrande: Nein. Meistens hat er mit seiner Seine Synapsen funktionieren in Milli- Syrien fahren, es sei total cool dort. Wenn
schwarzen Centurion-Kreditkarte von Ame- sekunden. Vielleicht liegt das auch an den ich ihm sagte, dass es dort doch brand-
rican Express bezahlt, die haben in Deutsch- Alzheimer-Medikamenten und halb lega- gefährlich sei, sagte er bloß: »Schmarrn,
land nur ein paar Tausend Leute. Das war len Dopamin-Bomben, die er aus China du ziehst eine Weste an, dann bist du safe.«
ihm als Statussymbol total wichtig. importiert, um die Fähigkeiten seines Ge- SPIEGEL: Halten Sie ihn für gewalttätig?
SPIEGEL: Sie beschreiben Marsalek als hirns zu erweitern. Es ist jedenfalls immer Leogrande: Nein, er war der perfekte
smartes Feierbiest, aber auch als Pedanten. beeindruckend, die Klarheit und Schärfe Gentleman.
Leogrande: In Präsentationen hat er sofort seines Verstandes zu beobachten. Er durch- SPIEGEL: Wie war sein Verhältnis zu
und als Einziger die winzigsten Fehler ent- schaut Zusammenhänge sofort, die andere Braun?
deckt. Wenn im Konferenzraum Tische – mich eingeschlossen – in Stunden nicht Leogrande: Markus hat sich als Jans Men-
und Stühle nicht total symmetrisch zu- auf die Reihe bekommen. Das alles gepaart tor aufgespielt, zumindest anfänglich.
einander standen, ist er nervös geworden. mit augenzwinkerndem Wiener Charme, Wirklich vertraut kamen mir die beiden
Und erst sein Sportfimmel. Er hat immer perfektem Austria-Englisch und tadellosen indes nie vor. Im Gegenteil: Markus war
erzählt, dass er irgendeinen Kampfsport Manieren. zu Jan sehr distanziert, obwohl beide von
betreibt und mal einen Marathon durch Anfang an dabei waren und aus Wien ka-
die Wüste gelaufen ist. Ihm war Perfektion SPIEGEL: Marsalek hatte Verbindungen zu men. Markus war der größte Einzelaktio-
extrem wichtig. Deswegen hat er auch Geheimdiensten und einen Hang zum Mi- när, und er hat alle spüren lassen, dass er
glaubt, ihm gehöre die Firma. Jan hat sich schnack. Das wäre weltweit einzigartig ge- SPIEGEL: Das hätte das Ende sein können.
irgendwann ein Schattenreich aufgebaut. wesen, wir hätten das für die Londoner Leogrande: Ja, wir mussten über Note-
SPIEGEL: Sie meinen das dubiose Geflecht Tube, die Subway in New York und Tokio books die Kernsysteme wieder hochfah-
an Drittpartnern in Asien, über die Wire- weiterentwickeln können. ren, alles manuell. Erst nach einer Woche
card Zahlungsvorgänge abgewickelt hat, SPIEGEL: Was war das Problem? war Wirecard wieder halbwegs im Nor-
weil der Konzern dort keine Lizenzen Leogrande: Dass die Moskauer U-Bahn malzustand. Ein Desaster, aber draußen
hatte. Es gilt heute als Kern des Betrugs- auf dem Niveau der Dreißigerjahre ist und hat niemand etwas mitbekommen.
modells. Wie kam es dazu? wir nicht die technologischen Vorausset- SPIEGEL: Sind Braun und Marsalek nicht
Leogrande: Ich denke, das muss mit dem zungen hatten! Das war wieder so ein Luft- explodiert?
»Black Friday« begonnen haben. Am schloss, um die Wachstumsillusion am Le- Leogrande: Marsalek trieb sich irgendwo
15. April 2011 ließ die US-Regierung plötz- ben zu erhalten. So lief es ständig: Markus herum, der war ja meistens weg, erst recht
lich fast alle großen Pokerseiten und und Jan hatten irre Ideen, die Mannschaft nach seinem Bandscheibenvorfall. Markus
Glücksspielseiten im Internet sperren. musste versuchen, sie umzusetzen, ob- ist richtig aufgelebt und hat angepackt.
SPIEGEL: Das FBI verhaftete die Top- wohl das oft aussichtslos war. Wie beim Wenn es heiß wurde, war er cool.
manager von Pokerkonzernen und den Facebook-Projekt ab 2011. SPIEGEL: Neben geplatzten Deals gab es
beteiligten Zahlungsabwicklern. Online- SPIEGEL: Was war da los? echte Kooperationen und Übernahmen.
Casinos wurden zu dreistelligen Millionen- Leogrande: Jan wollte eine Kreditkarte für Wieso haben die nicht gereicht, um zu
strafen verurteilt, einige gingen pleite. Facebook entwickeln und sie Zuckerberg wachsen?
Leogrande: Das war heftig, schließlich er- persönlich vorstellen. Das war für ihn das Leogrande: Einige sehr erfolgreiche Pay-
wirtschaftete Wirecard einen Teil der Um- Schlüsselprojekt für Wirecards Zukunft. ment-Firmen sehen komplett von Über-
sätze im Pokerbusiness. Eigentlich waren Die mit Facebook in Kontakt stehende in- nahmen ab. Denn mit dem Zukauf erwirbt
wir an diesem Tag am Ende. Denn im Ver- dische Milliardärsfamilie Mittal sollte ihn man immer neue technische Systeme, die
gleich zum Glücksspiel ist die traditionelle mit Zuckerberg zusammenbringen. Jan zumeist nicht kompatibel sind. Bloß bei
Zahlungsabwicklung im Supermarkt oder prahlte herum, dass er die kennen würde. Wirecard haben die Chefs auf aggressives
im Internet deutlich weniger ertragreich. SPIEGEL: Wie hätte das gehen sollen? Mar- Wachstum über Merger gesetzt. Auch die
Die Stornoquoten sind geringer, die Ge- salek ist nie in die USA gereist, aus Angst, Kooperationen waren ein Problem, vor
bühren, die Zahlungsabwickler verlangen wegen Wirecards Glücksspielgeschäften allem wegen Jan.
können, ebenfalls. vom FBI festgenommen zu werden. SPIEGEL: Wieso?
SPIEGEL: Ersatzgeschäft musste her, ande- Leogrande: Das fiel ihm dann auch ein. Leogrande: Er hat in der Regel alles ver-
renfalls wäre alles Makulatur gewesen: das Sie müssen wissen: Jan hat eine Aufmerk- schenkt. Sein Ding waren die Revenue
Umsatzwachstum von 30 Prozent, der stei- samkeitsspanne von höchstens zwei Mi- Shares. Dabei teilen sich Wirecard und der
gende Aktienkurs, die Vision, in den Dax nuten, dann langweilen ihn Themen, und jeweilige Kunde zukünftige Gewinne. Die-
aufzusteigen. er denkt nicht weiter. Diese operative Stre- se Deals sind jedoch extrem risikoreich.
Leogrande: Genau. Markus und Jan brü- cke, die notwendig ist, um Projekte wirk- Alles hängt am Erfolg der Projekte. Jan
teten eine Idee nach der anderen aus, neue lich umzusetzen, wollte er nie gehen. Er hat also oft auf klassisches Geschäft über
Produkte, neue Kooperationspartner. Das hat die Dinge nie durchgezogen, sonst Gebührenumsätze verzichtet.
Muster war immer gleich. wäre er vielleicht tatsächlich auf legalen SPIEGEL: Weshalb?
SPIEGEL: Erzählen Sie! Wegen erfolgreicher gewesen. Und er hat- Leogrande: Es ging ihm, wie Markus, mei-
Leogrande: Es gab unzählige Projekte, aus te überhaupt kein Team. Es gab in Asch- ner persönlichen Einschätzung nach oft
denen nie etwas wurde. Mit der russischen heim fast niemanden, der eng mit ihm zu- darum, den Aktienkurs zu pushen. Braun
Telefongesellschaft MegaFon sollten wir sammengearbeitet, dem er vertraut hat. wollte jeden zweiten Tag eine Pressemit-
Prepaid-Kreditkarten entwickeln, die an SPIEGEL: Wie ging es mit Facebook weiter? teilung haben, mit tollen neuen Deals. Das
einen bestimmten Handytarif gekoppelt Leogrande: 2015 gab es immerhin ein Tref- war alles, was zählte. Für die Details inte-
sind. Treue Kunden hätten Kredite und fen mit Facebooks Europachef in Aschheim, ressierten sich Markus und Jan nicht, das
Versicherungen abschließen und Guthaben- das ging völlig in die Hose: Jan kam im wurde nach unten delegiert. Die normalen
punkte sammeln können, Wirecards Um- maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug aus Mitarbeiter haben sich dann den Arsch ab-
satz sollte allein durch diesen Deal jährlich der Savile Row, am Arm eine fette Panerai- gearbeitet. Die dachten ja, es gehe voran.
um hundert Millionen Euro wachsen. Luxusuhr, der Facebook-Mann in Jeans Hätten wir nicht Umsätze verschenkt,
SPIEGEL: Anrüchig ist das nicht. und Parka. Nach fünf Minuten war klar, wären wir vielleicht erfolgreich gewesen.
Leogrande: Nein, mit vielen Ideen waren dass es nicht passt. Nach vier Jahren Arbeit! Zumal wir die Kosten im Griff hatten, trotz
wir der Realität zehn Jahre voraus. Das SPIEGEL: Sie schreiben im Buch, dass es Jans horrender Ausgaben.
war ja oft das Problem: Wir waren tech- 2016 im Konzern einen kompletten Sys- SPIEGEL: Ausgerechnet Wirecard hatte die
nisch nicht mal im Ansatz so weit, trotz- temausfall gab, der damals nicht heraus- Kosten im Griff?
dem sollte alles rasend schnell umgesetzt gekommen ist. Herrschte Panik? Leogrande: Verrückt, oder? Markus per-
werden, damit Markus weiter seine Wachs- Leogrande: Absolut, es hat nichts mehr sönlich hat meine Abrechnungen durch-
tumsstory erzählen und irgendwann Mil- funktioniert. Meine Mitarbeiter sind ins geschaut, der war total pingelig. Auch Vor-
liardär werden konnte. Büro gekommen und haben festgestellt: ständin Steidel, zuletzt meine direkte Vor-
SPIEGEL: Was wurde aus dem MegaFon- Es sind keine Daten mehr da, alle Server gesetzte, war extrem kostenbewusst. Aber
Projekt? leer! Das Licht ging noch, sonst nichts. wir hatten schlicht zu wenige Einnahmen.
Leogrande: Die Russen haben es nach end- SPIEGEL: Dafür ein Betrugssystem, das
losen Meetings platzen lassen. Wie auch Einnahmen vortäuschte, die es nie gab,
die Kooperation mit der Moskauer U-Bahn.
Jan wollte die mit einem komplett neuen
Oliver B. zockte »Call und das von Marsalek aufgebaut war. Ahn-
ten Sie, was er in Asien so alles anstellte?
Bezahlsystem für den öffentlichen Nahver- of Duty«, Markus Leogrande: Ich habe irgendwie geahnt, dass
kehr ausrüsten, mit automatischer Passa-
giererkennung per Bluetooth, intelligenter
hatte Welteroberungs- da was nicht ganz koscher ist. Aber dass
1,9 Milliarden Euro fehlen und das Drittpart-
GPS-Reiseplanung und allem Schnick- fantasien. nergeschäft praktisch nicht existiert, konnte
17
Titel
sich niemand vorstellen. Das Ganze war so und überhaupt allen crazy shit, Alter. Oli- hatte meiner Meinung nach etwas von
undurchschaubar, dass selbst die engsten ver ist daneben auch der Welt größter Fan einem britischen Hooligan!
Mitarbeiter nicht wussten, wie es funktio- des Ego-Shooters »Call of Duty« und bal-
niert. Auch die Bilanzprüfer waren blind. lert sich über den 24-Zoll-Monitor, den er Mr. O’Sullivan (ist) einige Jahre lang auch
SPIEGEL: Was wusste Braun? eigens dafür in seinem Büro anbringen der erfolgreichste Kundenvermittler der
Leogrande: Schauen Sie: Wenn es ständig ließ, endlos und gut vernehmbar für an- Wirecard … Er sorgte beispielsweise für
Vorwürfe gibt, dass die Bilanzen gefälscht dere in Rage … einen Deal mit Monarch Airlines. Die bri-
sind, ist es unwahrscheinlich, dass sich der Seine offen gezeigte Ausländerfeindlichkeit tische Billigfluglinie führte lange Jahre das
Chef das nicht genauer ansieht, oder? Vor ist legendär und gefürchtet. Ich finde mich Ranking der transaktionsstärksten Kunden
allem ein analytischer Typ wie Markus, etwa in einer Situation wieder, in der sich von Wirecard an. Für die Anbahnung
der sich extrem für Geld interessiert. Oliver in Anwesenheit eines farbigen Mit- dieses Geschäfts kassierte Henry Monat
SPIEGEL: Wer blickte noch durch? arbeiters bei mir entschuldigt, dass er seinen für Monat Hunderttausende Euro an Pro-
Leogrande: Marsalek hatte noch den Über- Hund noch nicht richtig auf Schwarze abge- vision … In jenen Tagen lebt Henry in ei-
blick, der wusste, wer wo Geschäfte mit uns richtet hat. So läuft Olivers Swag: ein Hoch- nem der feudalsten Apartments in Monaco.
macht. Markus irgendwann wohl nicht mehr. gesang auf das Dritte Reich, auf die Über- Ihm gehören in dem Luxus-Stadtstaat Res-
SPIEGEL: Weil er es nicht wissen wollte? legenheit der arischen Rasse gegenüber den taurants und Nachtklubs. Er nennt darüber
Leogrande: Natürlich wusste er noch ge- Juden und überhaupt auf Österreich und hinaus auch ein Hotel auf einer Insel vor
nug, schließlich hat er das Ganze ja nach Deutschland. Und all das präsentiert Oliver der Küste Afrikas, einen Privatjet und ein
außen präsentiert. Aber wie es unter der so lustbetont offen und ungezwungen – goldenes Rolls Royce Cabrio sein Eigen.
Oberfläche genau lief, wer da vor Ort ar- gerne auch in Meetings mit Kunden und
beitete, wer die wichtigen Kunden waren Partnern –, dass man sich oft fragt, ob das SPIEGEL: Was hielt die Gruppe zusammen:
– all das durchschaute er wohl nicht mehr. in seiner Überhöhung nicht auch nur ein der Wunsch, Wirecard auszuplündern?
SPIEGEL: Das zu großen Teilen erfundene Joke, eine gezielte Provokation ist. Leogrande: Das weiß ich nicht. Klar ist,
Drittpartnergeschäft kann ihm doch nicht dass sie alle den gleichen Spirit hatten, die-
durchgerutscht sein. SPIEGEL: Hat Braun ein solch angeblich selben Kunden und Strategien. Sie haben
Leogrande: Vielleicht hat er wirklich da- bizarres Verhalten von B. nie gestört? 24 Stunden durchgearbeitet und hart ge-
ran geglaubt. Leogrande: Markus’ Haltung war: jeder feiert, meistens in Singapur. Die haben sich
SPIEGEL: Da müssen wir nachhaken. Mar- wie er mag. Das war eines der Probleme, wie eine Elitetruppe aufgeführt. Es gab da
salek knüpft ein Lizenzpartnernetz in alle haben gemacht, was sie wollten. Su- dieses Abendessen, zu dem ich eingeladen
Asien. Er benötigt dafür nur ein paar Mit- sanne Steidl war ins Micromanagement war. Henry und Jan hatten ein Restaurant
arbeiter, sorgt aber für einen Großteil von verliebt und mit ihrer pingeligen Art oft oben im Marina Bay Sands Hotel gemietet.
Gewinn und Umsatz und düpiert fast im recht anspruchsvoll. Oliver B. hat »Call of Zwölf Leute saßen um einen runden Tisch,
Alleingang die Konkurrenz – und intern Duty« gezockt, Markus hatte Welterobe- Starkoch Wolfgang Puck kam rein, es wur-
wird niemand misstrauisch? rungsfantasien und hing ständig am Ak- de eine Flasche Champagner nach der an-
Leogrande: Misstrauisch war ich schon. tienkurs. Und Jan fädelte an allen vorbei deren geköpft. Als ich da um vier Uhr mor-
Ich habe auch nicht geglaubt, dass Wire- Geschäfte ein, die niemand durchschaute. gens rauskam, dachte ich mir: Wenn es
card den Stein der Weisen gefunden hat. SPIEGEL: Zum Marsalek-Kreis gehörte heute so eine moderne Version der Mafia
Ich habe zu meiner Chefin Susanne Steidl auch Henry O’Sullivan, ein Brite, Soft- gibt, dann dürfte sie so aussehen.
gesagt: Wenn das so gut läuft dort, dann wareentwickler, jedoch nie Wirecard-Mit- SPIEGEL: War Braun in Singapur dabei?
holt doch noch viel mehr Drittpartner an arbeiter. Er soll von Singapur aus mit Mar- Leogrande: Nie. Der war meines Wissens
Bord! Was brauchen wir 5000 Leute, salek das Firmennetz aufgebaut haben, nur einmal in Singapur, als der Aufsichtsrat
wenn in Asien oder Dubai 5 bis 10 Leute das den großen Schwindel kaschierte, und dort tagte.
Monsterumsätze machen? er soll Firmen völlig überteuert an Wire- SPIEGEL: Wir fassen zusammen: Braun
SPIEGEL: Und? card verkauft haben. Auch davon will nie- war ein autistischer Visionär, Marsalek ein
Leogrande: Susanne war ebenfalls skep- mand etwas bemerkt haben? intelligenter Aufschneider mit Hang zum
tisch, hat nach eigener Aussage immer wie- Leogrande: Bei Wirecard in Aschheim hat Protz, Dubai-Chef B. ein spielsüchtiger
der Jan gefragt, wer diese Wunderhändler den ja niemand gekannt, selbst Markus Nazisympathisant und O’Sullivan ein feier-
in Asien seien. Wir haben es nie erfahren. hat Henry dem Vernehmen nach nur ein wütiger Ex-Hooligan. Das klingt nach
Dabei muss jedem die Diskrepanz aufge- einziges Mal getroffen. Das war der ganz einer irren Netflix-Serie. Bereuen Sie, so
fallen sein. Selbst die Zahlungsabwicklung enge Kreis: Jan, Henry, Oliver B., dazu lange dabei gewesen zu sein?
für die wildesten Pornoseiten wirft nicht Carlos Häuser und dessen Frau Brigitte. Leogrande: Natürlich verspüre ich Reue,
so viel ab. Wenn Henry in München war, dann hat vor allem weil so viele Kleinanleger und
SPIEGEL: Als Schlüsselfigur des Betrugsmo- er regelmäßig mit der Truppe im Mandarin auch Mitarbeiter Geld und ihre Jobs verlo-
dells gilt neben Marsalek und mutmaßlich Oriental oder im Brenner gefeiert. Ich ren haben. Ich glaube aber nicht, dass es die
Braun vor allem Oliver B., Wirecards Statt- habe Henry auch in Singapur gesehen, Schuld der normalen Wirecard-Angestellten
halter in Dubai. Wie haben Sie den erlebt? aber was genau der wirklich mit Jan ge- war. Die glaubten ja an eine tolle Unterneh-
Leogrande: Oliver B. war Jans Typ für die macht hat, wusste ich nie. Ich wusste le- mensstory in einem Wachstumsmarkt.
groben Sachen. diglich, dass man ihm besser aus dem Weg SPIEGEL: Sehen Sie sich nicht auch als ein
geht, wenn er getrunken hat. Der Mann wichtiges Rädchen in diesem Betrug?
Von all den … merkwürdigen Schatten- Leogrande: Nein, ich war nicht daran be-
gestalten, die in jenen Tagen über die Flure teiligt. In der Innovationsabteilung, die ich
des Firmensitzes … schweben, ist Oliver »Es entsprach Jans geleitet habe, haben wir Dinge entwickelt,
mit einigem Abstand die größte Freakshow die technologisch »next level« waren – es
… B. ist der Meinung, dass ein ausgespro- elitärem Denken, dass ging um die Zukunft des Bezahlens. Es
chener Gettoslang seine Persönlichkeit per- fühlte sich gut an, für ein so schnell wach-
fekt unterstreicht. So geht es dann endlos
er von den Leuten in sendes Technologieunternehmen zu arbei-
über Bitches und Hoes, Fucker und Loser Aschheim nichts hielt.« ten, das gab es so in Deutschland ja nicht.
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Babiradpicture
Don Pasquale
»24 S T U N D E N D U R C H G E A R B E I T E T U N D H A RT G E F E I E RT«
Manager Marsalek (oben), Eingang Münchner Diskothek P1, Mitarbeiter Häuser, Geschäftspartner O’Sullivan
SPIEGEL: Anfang 2019 hat die »Financial Der Trick war, das alles so undurchsichtig Meeting, bei dem Markus über Shortseller
Times« (»FT«) aus allen Rohren auf Wire- aufzuziehen, dass selbst engste Mitarbei- scherzte, die seinen Kopf forderten, und
card gefeuert. Hat das im Unternehmen ter nicht mehr durchblicken. Selbst als die Jan in perfektem Business-Englisch und
irgendetwas verändert? Corona-Pandemie begann, die Wirtschaft ohne einmal zu stottern einfach alles weg-
Leogrande: Wenig. Die Mitarbeiter haben lahmzulegen, erklärte Markus ja noch: moderierte. Meine Mitarbeiter, von denen
reagiert wie die Öffentlichkeit, nach dem Das macht uns nichts aus. Er hat wirklich die meisten Markus und Jan noch nie ge-
Motto: »Das kann doch alles gar nicht Nerven gehabt. Auch als er sich dann vor sehen hatten, haben anschließend gesagt:
sein.« Uns ist sogar die Bafin zur Seite die Investoren gestellt und ihnen etwas Be- »Das sind ja Supertypen!«
gesprungen, die Analysten waren weiter ruhigendes erzählt hat. SPIEGEL: Dann kam der 18. Juni und Wire-
positiv und völlig unbeeindruckt. SPIEGEL: Hat Braun seine Visionen und cards Eingeständnis, dass auf philippini-
SPIEGEL: Wie haben Braun und Marsalek Wachstumszahlen denn selbst geglaubt? schen Bankkonten 1,9 Milliarden Euro
reagiert? Die »FT« war schließlich auf der Leogrande: Davon bin ich überzeugt. Sol- fehlten, Wirtschaftsprüfer EY die Bilanz
richtigen Spur. che aberwitzigen Visionen kann nur ver- nicht testiere und die Insolvenz drohe. Wie
Leogrande: Markus hat meiner Ansicht breiten, wer das selbst glaubt. haben Sie den Tag erlebt?
nach viel zu schnell und viel zu scharf ge- SPIEGEL: Das ist doch nicht normal … Leogrande: Um 7.30 Uhr sollte eigentlich
schossen. Kaum hatte die »FT« etwas ge- Leogrande: Warum? Es haben ja auch alle die Ad-hoc-Meldung zum Testat raus.
schrieben, gab es sofort ein aggressives Wirecard-Mitarbeiter daran geglaubt. Mar- Als das nicht passierte, war mir klar,
Statement. Die »FT« betreibe Verleum- kus und Jan hatten einfach diese irre Über- dass es ein Problem geben könnte.
dung, kooperiere mit Shortsellern und so zeugungskraft. Zugleich umgab sie etwas Ich habe allerdings die Dramatik nicht
weiter. Andererseits: Die Bafin und die Geheimnisvolles. Das wurde überdeutlich, richtig erfasst, außer dem Vorstand waren
Analysten hat er damit tatsächlich be- nachdem die KPMG-Wirtschaftsprüfer wir ja alle im Homeoffice. Als die Mel-
eindruckt. Ende April ihr Sondergutachten zu Wire- dung über die Ticker lief, dass das Geld
SPIEGEL: Und Marsalek? card veröffentlicht hatten. fehlt, haben wir noch gedacht: Dann
Leogrande: Der blieb lässig. Er hat sich SPIEGEL: Eine einzigartige Abrechnung fährt halt jemand nach Manila und verifi-
vermutlich darauf verlassen, dass niemand mit dem Management. ziert das.
den Fake entlarvt, weil es enorm schwierig Leogrande: Ja, und was haben Markus SPIEGEL: Wann reifte bei Ihnen die Er-
zu verstehen war, wie die Gelder flossen. und Jan gemacht? Ein virtuelles Townhall- kenntnis, dass alles aus ist?
20
ALS VOLL-, MILD-
UND PLUG-IN HYBRID.
WELCHER ANTRIEB PASST ZU IHNEN?
MEHR INFOS AUF FORD.DE
Kraftstoffverbrauch (in l/100 km nach § 2 Nrn. 5, 6, 6 a Pkw-EnVKV in der jeweils geltenden Fassung): 2,9–1,2
(kombiniert); CO2-Emissionen: 66–26 g/km (kombiniert); Stromverbrauch: 20,53–15,8 kWh/100 km (kombiniert)*.
* Die Angabe zum Stromverbrauch bezieht sich ausschließlich auf den Ford Kuga Plug-in-Hybrid.
Deutschland
Michael Probst / AP
Land unter Ein Zug überquert am Mittwoch im hessischen Nidderau bei Frankfurt überflutete Wiesen und Felder –
so dramatisch war die Hochwasserlage in Deutschland lange nicht mehr. Tauwetter mit bis zu 15 Grad Celsius und
das Regentief »Siegbert« lassen Flüsse und Seen über die Ufer treten. Während im Norden Winterchaos angesagt ist,
versinkt der Südwesten vielerorts im Hochwasser. Am Rhein sollen die Pegel erst Anfang der Woche zurückgehen.
11%
China
43%
Deutschland
für ein neues »Förder- und Ordnungsrecht« bereit; so viel
zum Thema Freiwilligkeit. Und steckt nicht auch ein gewisser
Widerspruch darin, wenn sich eine Partei bei Hühnern und
Schweinen dafür einsetzt, Käfig- durch Freilandhaltung zu
9% insgesamt ersetzen, bei Menschen aber nicht?
Frankreich »Die Mitglieder einer freien, demokratischen Gesellschaft
437
Produkte Von insgesamt
brauchen Wohn- und Arbeitsräume, die Wertschätzung,
Gleichheit und positive Gestaltungskraft ausdrücken«, heißt es
im Grünen-Beschluss. So ähnlich klang die Propaganda in der
8% 188 Meldungen
zu deutschen DDR für den Plattenbau. Der ostdeutsche Dramatiker Heiner
USA Produkten betreffen
183 Fahrzeuge
Müller drückte es damals anders aus. Wohnungen in der Platte,
29% und Fahrzeugteile. das seien »Fickzellen mit Fernheizung«.
Sonstige/
k. A. An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen und Alexander Neubacher
Quelle: Bundesanstalt für
Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin im Wechsel.
23
Roma und Sinti Impfung brechen zusammen. Der Frust gerade bei
alten Menschen ist groß.
Bildung auf »Wie bei einem Konzert Schulenberg: Uns war klar, dass die Soft-
Sechzigerjahre-Niveau der Rolling Stones« ware der Kassenärztlichen Vereinigungen,
auf die mehrere Länder setzen, mit der zu
Sinti und Roma erleben im deut- Eventim-Chef Klaus-Peter erwartenden Last überfordert sein würde.
schen Schul- und Ausbildungssystem Schulenberg, 69, über In Schleswig-Holstein ist noch kein Server
nach wie vor »extreme Benachteili- seine neue Rolle als Impf- zusammengebrochen. Wir können beim
gung«. So lautet das Fazit der noch Organisator Ticketverkauf bis zu drei Millionen Anfra-
unveröffentlichten RomnoKher-Studie gen, online und per Telefon, gleichzeitig
2021, für die 614 Interviews geführt SPIEGEL: Eventim ist der größte Ticket- betreuen. In Schleswig-Holstein gab es in
wurden und deren Ergebnisse dem verkäufer Europas, jetzt vergeben Sie in der Spitze pro Minute etwa 190 000
SPIEGEL vorliegen. Demnach verfügen Schleswig-Holstein die Termine für Coro- Onlinezugriffe und 1100 Anrufe.
40 Prozent der 18- bis 50-jährigen na-Impfungen. Wie kam es dazu? SPIEGEL: Wie bewältigen Sie das?
Angehörigen der Minderheiten über Schulenberg: Im November haben wir Schulenberg: 100 Mitarbeiter in zwei
keine abgeschlossene Berufsausbildung, den Gesundheitsministern aus Bund und Callcentern können 100 Termine gleich-
knapp 15 Prozent der 18- bis 25-Jähri- Ländern schriftlich unser Know-how zeitig vereinbaren. Alle weiteren Anrufer
angeboten. Unsere Systeme sind darauf erhalten eine Ansage mit der Bitte, in der
eingestellt, dass eine Million Menschen Leitung zu warten. Sind keine Termine
gleichzeitig ein Ticket buchen wollen – mehr verfügbar, wird auch das angesagt.
wie bei einem Konzert der Rolling Jeder weiß mit einem Anruf, woran er ist.
Stones. Ähnlich läuft es beim Run auf Wer online buchen will, erfährt umge-
Impftermine. Wir sprechen da von Last- hend, ob er Erfolg hat.
spitzen. Leider haben wir nur aus zwei SPIEGEL: Auch in Schleswig-Holstein gab
Bundesländern überhaupt eine Antwort es Klagen älterer Menschen.
bekommen. Ein Vertrag kam bislang Schulenberg: Die Landesregierung hatte
allein mit Schleswig-Holstein zustande. sich zunächst für ein Verfahren entschie-
SPIEGEL: Lag es am Geld? den, bei dem der Erste auch zuerst
Schulenberg: Von Geld war erst mal gar bedient wird. Mittlerweile gibt es für
nicht die Rede. Bei den Impfterminen Menschen ab 80 ein vereinfachtes
verdienen wir weniger als in unserem Buchungsverfahren mit einem garantier-
Dominik Asbach
24
Ufos und Außerirdische 56-Jährige, der sich zu den
»Ufo-Verschwörungstheo-
Offenbarungen aus retikern« zählt, Mitglied der
dem Rathaus CDU und Social-Media-
Beauftragter der erzkonser-
Der stellvertretende Bür- vativen Gruppe »Werte-
germeister und Leiter des union«. Bundestagsabgeord-
Rechtsamts in Burg in Sach- nete, die den Kurs der
sen-Anhalt, Jens Vogler, Bundeskanzlerin stützten,
verbreitet im Internet bizarre bezeichnete er als »verach-
Verschwörungserzählungen. tungswürdig«. In seinem
tionär Horst R. Schmidt, eine gekommen, als ich vor siebeneinhalb Jahren ein neues Prothe-
der Schlüsselfiguren der Som- senknie erhalten hatte. Die Krankenkasse wollte wissen, was
mermärchen-Affäre, hat offen- das Knie taugt und ob es besser für mich geeignet ist.
bar jahrelang Geld vor den Um es größeren Belastungen auszusetzen, begann ich, als
deutschen Finanzbehörden Fahrradkurier zu arbeiten. Mit dem Knie hat das gut funk-
versteckt. Dies geht aus bis- tioniert, der Job hat Spaß gemacht. Seitdem fahre ich zwei-
lang unbekannten Akten der Schmidt, Beckenbauer 2007 bis dreimal die Woche etwa drei bis vier Stunden lang als
Staatsanwaltschaft Frankfurt Kurier mit dem Rad.
hervor, die gegen Schmidt, 79, dent des deutschen WM-Orga- Mittlerweile erkennen mich die Menschen in Würzburg,
und andere ehemalige Fußball- nisationskomitees (WM-OK) vor allem wenn ich in kurzer Hose unterwegs bin. Die Pro-
funktionäre im Zusammen- war. In dieser Zeit war er feder- thesen sind ziemlich auffällig, zumal ich sie ohne Kosmetik
hang mit der dubiosen 6,7- führend an der Rückzahlung trage – also ohne Verkleidung. Es gibt ja auch Prothesen, die
Millionen-Euro-Zahlung des des 6,7-Millionen-Kredits aussehen wie echte Körperteile. Aber dann sind sie schwerer.
DFB im Vorfeld der Fußball- beteiligt, den der ehemalige Je leichter die Prothese ist, umso besser kann ich sie bewegen.
WM 2006 ermittelt. Den Adidas-Chef Robert Louis- Nach sechs Jahren habe ich mein Politikstudium abgebro-
Dokumenten zufolge hat der Dreyfus dem OK-Präsidenten chen, ich wollte etwas Handfestes machen und endlich Geld
langjährige DFB-Generalse- Franz Beckenbauer gewährt verdienen. Deswegen habe ich mich zum Orthopädietechniker
kretär »für seine persönliche hatte. Das Geld war, wie sich ausbilden lassen. Ich arbeite jetzt für ein Sanitätshaus, das
Einkommensteuer der Jahre 2015 herausstellte (SPIEGEL Arm- und Beinprothesen anfertigt sowie Schienen für Men-
2000 bis 2008« eine »Selbst- 44/2015), auf einem Konto des schen mit Lähmungen und Fehlstellungen. Die Firma hat ihren
anzeige im Jahr 2011 erstat- notorisch korrupten ehemali- Sitz mit ihrer Hauptwerkstatt direkt im Krankenhaus. Natür-
tet«. Im Klartext: Schmidt, gen Fifa-Funktionärs Moha- lich komme ich da schnell mit Menschen ins Gespräch, die
dem die Frankfurter Staatsan- med Bin Hammam gelandet. einen Körperteil verloren haben. Meine Firma bittet mich auch
wälte »hohe kriminelle Ener- Die dem SPIEGEL vorliegen- oft zu Beratungsgesprächen, um Patienten mit Prothesen see-
gie« attestieren, hat als Privat- den Hinweise, dass Schmidt lisch beizustehen und ihnen Kniffe für den Alltag zu zeigen.
mann augenscheinlich acht eine sechsstellige Summe auf Beim Fahrradfahren nutze ich spezielle Magnetpedale, weil
Jahre lang Steuern hinterzo- einem Schweizer Konto ver- meine Prothesen sonst öfter mal vom Pedal rutschen würden.
gen. Und zwar überwiegend steckt hatte, wies sein Anwalt Ich bin jetzt auch viel bei Schnee, Eis und Glätte unterwegs.
in jenen Jahren, als er ge- Tilman Reichling als »unzu- Ich habe keine Angst hinzufallen. Wenn ich laufe, rutsche ich
schäftsführender Vizepräsi- treffend« zurück. AMP, GLA schneller aus.« Aufgezeichnet von Kristin Haug
Ein Blick genügt, um das wichtigste Ziel des neuen Hyundai TUCSON zu erkennen: die
Zukunft. Mit seinen teilverspiegelten und in den Kühlergrill integrierten Tagfahrlichtern
präsentiert er sich schon von außen futuristisch. Das offene Innenraumdesign bietet
erstmals in einem Hyundai eine Mittelkonsole mit reiner Touch-Bedienung1. Und mit dem
10,25 Zoll großen digitalen Cockpit1 sowie einer Auswahl an alternativen Antrieben setzt
der neue Hyundai TUCSON weitere progressive Impulse in der SUV-Klasse. On to better.
Kraftstoffverbrauch für den Hyundai TUCSON Pure 1.6 T-GDI Frontantrieb, MT 110 kW (150 PS): innerorts: 7,6 l/100 km; außerorts: 5,5 l/100 km; kombiniert:
6,3 l/100 km; CO2-Emission kombiniert: 144 g/km; CO2-Effizienzklasse: C. Die angegebenen Verbrauchs- und CO2-Emissionswerte wurden nach dem vorg-
eschriebenen WLTP-Messverfahren ermittelt und in NEFZ-Werte umgerechnet.
1
Ein unverbindliches Leasingbeispiel der HYUNDAI Finance, ein Geschäftsbereich der Hyundai Capital Bank Europe GmbH, Friedrich-Ebert-Anlage 35–37, 60327 Frankfurt am Main.
Verbraucher haben ein gesetzliches Widerrufsrecht. Nach den Leasingbedingungen besteht die Verpflichtung zum Abschluss einer Vollkaskoversicherung. Hyundai TUCSON Pure 1.6 T-GDI
6-Gang-MT, 110 kW (150 PS), Fahrzeugpreis 26.800,00 EUR, einmalige Leasingsonderzahlung 2.680,00 EUR, Laufzeit 48 Monate, Gesamtlaufleistung 40.000 km, 48 mtl. Rate à 199,00 EUR,
Gesamtbetrag 12.232,00 EUR, effektiver Jahreszins 1,99 %, gebundener Sollzinssatz p.a. 1,97 %. Kostenpflichtige Sonderausstattung möglich. Zuzüglich Überführungskosten. Alle Preise inkl.
gesetzlicher MwSt. Angebot gültig bis 31.03.2021.
* Ohne Aufpreis und ohne Kilometerlimit: die Hyundai Herstellergarantie mit 5 Jahren Fahrzeuggarantie (3 Jahre für Car-Audio-Gerät inkl. Navigation
bzw. Multimedia), 5 Jahren Lackgarantie sowie 5 Jahren Mobilitätsgarantie mit kostenlosem Pannen- und Abschleppdienst (gemäß den jeweiligen
Bedingungen im Garantie- und Serviceheft). 5 kostenlose Sicherheits-Checks in den ersten 5 Jahren gemäß Hyundai Sicherheits-Check-Heft.
Für Taxis und Mietwagen gelten generell abweichende Regelungen. Die Hyundai 5 Jahre-Garantie für das Fahrzeug gilt nur, wenn dieses ursprünglich
von einem autorisierten Hyundai Vertragshändler an einen Endkunden verkauft wurde. 1 Nicht in der Ausstattungslinie Pure enthalten.
Deutschland
Schwarzes Loch
Parteien Nach der Niederlage von Friedrich Merz sehnen sich die Konservativen
in der CDU nach einem Neustart. Doch dem wirtschaftsnahen
Flügel fehlt so ziemlich alles – eine Führungsfigur, eine Idee, ein Projekt.
F
riedrich Merz ist abgetaucht. Kein und Wirtschaftsliberalen in der CDU, all ner Held, Friedrich Merz, 65 Jahre alt,
Auftritt, keine Interviews, statt- jene also, die die Partei kantiger und streit- wird vielleicht in der Partei bald keine Rol-
dessen Urlaub im eigenen Ferien- barer machen wollten, die lange von einer le mehr spielen. Und wenn Merz weg sein
haus. Dem Vernehmen nach fährt Anti-Merkel-Welt geträumt haben, von ei- sollte, so die Befürchtung, dann verlöre
er Rennrad, telefoniert mit Freunden. Merz nem Neuanfang. Zweimal hat der Merz- der gesamte Flügel endgültig an Einfluss.
wolle eine Weile schweigen, heißt es. Die Flügel den Umsturz versucht, 2018 und Man gehöre »nicht mehr so selbst-
Partei, so soll er es Vertrauten gesagt haben, nun im Januar. Zweimal ist er gescheitert, verständlich wie früher« zum Spektrum
sei »aufgerieben«, strapaziert durch den eine dritte Gelegenheit wird sich so schnell der Union, klagt Wolfgang Bosbach, eine
langen Wettkampf um den Vorsitz. Alle in nicht bieten. der konservativen Identifikationsfiguren:
der CDU müssten jetzt mal durchschnau- Plötzlich müssen sich diejenigen, die »Heute haben wir eher so einen Duldungs-
fen. Er sowieso. den Sauerländer an der Spitze wollten, mit status. Das betrübt viele.«
Die Niederlage bei der Wahl des Partei- der Realität arrangieren. Mit Armin La- Wahr ist aber auch, dass die anderen
vorsitzenden schmerzt ihn, vor allem aber schet, dem neuen Parteichef, den manchen Gruppen und Strömungen in der CDU in
schmerzt sie sein Lager, die Konservativen als Kopie Angela Merkels sehen. Ihr eige- den 15 Jahren Merkel-Regierung an Be-
denburg, eine Gemeinde südlich von Ber- selbst zu überlassen ist dabei keine Option.
lin. Jana Schimke empfängt in einem histo- Mit nur einer halben CDU lässt sich die
rischen Backsteinbau, ihrem Wahlkreis- Wahl nicht gewinnen.
büro. Schimke ist Bundestagsabgeordnete, Bundestagsabgeordnete Schimke Noch aber fehlt ein Ansprechpartner,
sie gehört zu jenen in der CDU, die in In- »Wir können auf Merz nicht verzichten« ein neuer Merz. Jemand, der für Zusam-
29
menhalt sorgen kann und trotzdem kon- vor. Darin plädiert er für ein beherztes Ein-
servative Positionen hart vertritt. Merz greifen des Staates bis hin zur Teilverstaat-
konnte sagen, was er wollte: Weil er als lichung, wenn ein bedeutendes Unterneh-
Outsider antrat, hofften die einen, er führe men in ausländische Hände zu geraten
sie zurück in die gute alte Zeit, andere droht. Es mag dafür Gründe geben, aber
glaubten, er könne das Land nach vorn für den Wirtschaftsflügel der CDU sind
bringen. Merz war für viele Konservative solche Schritte eigentlich ein No-Go.
eine Projektionsfläche. Derzeit gibt es nie- Krümmt sich da nicht der Magen? Lin-
manden, der diese Rolle übernimmt. nemann winkt ab. »Wir müssen mal mit
Jens Spahn war mal ein Hoffnungsträ- einem Missverständnis aufräumen in der
ger. Aber unter den Wirtschaftsliberalen CDU«, sagt er. »Manche glauben, für gute
ist der Gesundheitsminister mittlerweile Wirtschaftspolitik reiche es aus, das Wirt-
als »Sozialminister« verschrien. Außer- schaftsministerium zu haben. Bei Ludwig
dem gilt er wegen des Bündnisses mit Erhard war das vielleicht noch so. Heute
Laschet für manche als eine Art Verräter. ist Wirtschaftspolitik ein Querschnittsthe-
Andere wie Parteivize Volker Bouffier ma.« Finanzen, Arbeit, Bildung – alles sei
oder Agrarministerin Julia Klöckner ha- betroffen. »Nehmen Sie die Digitalisie-
ben die besten Zeiten hinter sich. Wieder rung. Die gab es vor 30 Jahren noch gar
E
nde Januar sieht Hamburgs Erster Belastung der Menschen leicht in Verzweif- Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans
Bürgermeister Peter Tschentscher lung und Protest umschlagen.« etwa über die Untätigkeit des CDU-geführ-
den Kanzleramtschef in einer Die Empörung des Hamburgers illus- ten Bildungsministeriums, wie man aus
Talkshow, und was er da hört, triert eine Entwicklung, die seit Jahres- Parteikreisen hört.
macht ihn wütend. Helge Braun (CDU) beginn von Woche zu Woche an Heftigkeit Tatsächlich hat die SPD längst in den
sagt sinngemäß, die Bundesregierung gewinnt: Zwischen den Koalitionsparteien Angriffsmodus geschaltet und nimmt
habe bei der Impfstoffbestellung keine CDU und CSU auf der einen und der SPD kaum noch Rücksicht auf den Koalitions-
Fehler gemacht. Tschentscher sieht das auf der anderen Seite klafft ein tiefer Riss. partner. Zur Abwechslung gehen die Ge-
völlig anders. Viel Zeit verbringen die Partner damit, nossen dabei abgestimmt vor, mit Frontal-
Der Sozialdemokrat hat das Papier vor sich gegenseitig Versäumnisse beim Kampf angriffen aus den Landesregierungen und
Augen, das der Bundesgesundheitsminis- gegen die Pandemie vorzuwerfen. der Parteizentrale und gelegentlichen Na-
ter im Oktober verschickt hatte und in Den Eindruck können auch die jüngsten delstichen aus der Bundesregierung durch
dem 5 Millionen bis 12,5 Millionen Dosen Beschlüsse für neue Hilfen in der Pande- Finanzminister Scholz.
des Biontech-Impfstoffs bis Ende 2020 in mie nicht verwischen, den die Koalitionäre Die Union bemüht sich, die Kritik als
Aussicht gestellt wurden. Tschentscher bei ihrem Gipfel am Mittwoch fassten. Wahlkampfmanöver der SPD abzutun.
erinnert sich, wie er sich damals für Ham- Nach diesen Runden betonen zwar beide Doch jedenfalls im Fall von Tschentscher
burg mindestens 7000 Impfungen pro Tag Seiten gern die große Einigkeit und Har- verfängt das nicht. Der Hamburger muss
ausrechnete und dann in wenigen Wochen monie in der Koalition. Doch hinter den in nächster Zeit keine Wahl gewinnen, hat
ein Impfzentrum mit Ärzten und Pflegern Kulissen schimpfen die SPD-Vorsitzenden also kein Profilierungsproblem. Sein Ärger,
organisierte. Um später zu er- für Fehler in Haftung genommen
fahren, dass Deutschland vor- zu werden, die er der Union zu-
erst doch nur sehr wenige Impf- schreibt, wiegt schwerer.
dosen von Biontech bekom- Genervt sind die Sozialdemo-
men würde. kraten auch von Gesundheits-
Aus seiner Sicht hat Tschen- minister Jens Spahn (CDU).
tscher seinen Job gemacht, an- Der sei immer schnell zur Stelle,
ders als der Bundesgesundheits- wenn es Erfolge in der Pande-
minister und das Kanzleramt, miebekämpfung zu vermelden
die für die Impfstoffbeschaffung gebe, schimpfen sie. Beim ver-
zuständig sind. Und jetzt hört patzten Impfstart stehle er sich
er, wie Braun im Fernsehen das aber aus der Verantwortung.
Gegenteil behauptet. »Unsere Ministerpräsidenten
Aber es gibt etwas, das den bekommen Prügel für Sachen,
eigentlich zurückhaltenden Han- die Spahn und Merkel verbockt
seaten Tschentscher noch mehr haben«, sagt Daniel Stich, SPD-
aufbringt. Seit Januar verbreite Generalsekretär in Rheinland-
das Kanzleramt eine Deutung, Pfalz. »Das lassen wir uns nicht
die der SPD-Mann brandgefähr- mehr gefallen.«
lich findet: Die Infektionszah- Der ganze Frust entlud sich
len seien so hoch, weil die Mi- bereits in der letzten Januar-
nisterpräsidenten im Herbst woche bei einer Videokonfe-
härtere Maßnahmen verhindert renz. Am Dienstag tagte die so-
hätten. genannte A-Länder-Runde mit
Als Tschentscher am Telefon den SPD-Ministerpräsidenten,
davon erzählt, wird er emo- der Partei- und Fraktionsspitze
tional: »Sehen Sie sich die Be- sowie Vizekanzler und Finanz-
schlussvorlage des Kanzleramts minister Olaf Scholz. Die Füh-
vom 14. Oktober an. Das haben rung lag eigentlich bei der rhein-
wir fast wortgleich so beschlos- land-pfälzischen Regierungs-
Hans Christian Plambeck / laif
sen!« Dennoch sei später ver- chefin Malu Dreyer. Doch diese
breitet worden, die Minister- Runde hatte Manuela Schwesig
präsidenten hätten die Infek- eingefordert. Neben Lars Kling-
tionslage auf die leichte Schul- beil und Carsten Schneider
ter genommen, und deswegen treibt sie seit Wochen die An-
sei jetzt alles noch schwerer. griffe gegen die Union voran.
»Das untergräbt das Vertrauen »Wir hatten eine klare Aufga-
der Bevölkerung in unsere Ent- Genossen Esken, Scholz benteilung«, sagt Schwesig dem
scheidungen. Dadurch kann die »Nicht derselbe Scheiß« SPIEGEL: »Die Länder küm-
31
mern sich um die Impfzentren und die mo- Scholz will die SPD auch BASF-Chef Martin Brudermüller zu-
bilen Teams und der Bund um den Impf- geschaltet werden. Er wird der Runde be-
stoff. An Letzterem mangelt es.« wegführen vom Image richten, welche Herausforderungen auf ein
Die Genossen einigten sich in der Vi- des Quengelpartners Unternehmen zukommen, das sich dauer-
deoschalte, einen Impfgipfel zu fordern, haft von fossilen Energieträgern verab-
mit Vertretern der Hersteller und der EU- in der Koalition. schieden will.
Kommission. Tenor der Runde: Wir müs- Die Runde am Sonntag beschäftigt sich
sen das jetzt eskalieren. Am nächsten Tag EU sei »scheiße gelaufen«, wetterte Scholz, zudem mit der Wende zur Elektromobili-
machte Dreyer die Forderung öffentlich. jetzt komme es darauf an, dass bei der Ver- tät und der Förderung des öffentlichen
»Wir brauchen einen klaren und transpa- impfung »nicht derselbe Scheiß« passiere. Nahverkehrs auf dem Land. Insgesamt sol-
renten Impfstoffplan für die kommenden Der Ausbruch motivierte sogar Merkel zu len vier bis fünf »Missionen« definiert wer-
Monate«, sagte sie. Merkels Versprechen, einem seltenen Widerspruch gegen ihren den, mit denen die Sozialdemokraten ihre
allen bis zum 21. September ein Impfan- Vizekanzler: Die EU habe doch doppelt Zukunftsfähigkeit beweisen wollen.
gebot zu machen, stehe auf dem Spiel. so viel Impfstoff bestellt, wie sie Einwoh- Unter die Leute bringen will Scholz sei-
Mehrere von Dreyers Kollegen zogen ner habe, ob das nicht genug sei. ne Strategie in 299 virtuellen »Townhall-
nach. Zwei Tage später schaltete sich die Den Einwand, er habe als Vizekanzler Meetings«. Bis zum Sommer wird er jeden
Runde erneut zusammen. Michael Müller den Kurs mitgetragen und sei in alle Ent- Wahlkreis per Videoschalte besuchen. Ein-
wurde beauftragt, einen Brief an Merkel scheidungen eingebunden gewesen, lässt wählen dürfen sich die örtlichen Direkt-
zu schreiben. Man erhoffe sich »einen Im- Scholz nicht gelten. Er habe immer wieder kandidaten und Parteimitglieder.
puls für unsere weitere Arbeit«, schrieb nachgefragt, heißt es in seinem Umfeld, Für die Wahlkampfstrategen der SPD
Berlins Regierender Bürgermeister. Des- doch die entscheidende Information, dass steht fest, dass Scholz in den kommenden
halb wäre es »wichtig, wenn diese Punkte die EU mehr Impfstoff hätte bestellen kön- Wochen und Monaten als Kandidat stär-
möglichst konkret besprochen werden«. nen, sei ihm vorenthalten worden. ker in den Vordergrund treten muss.
Die Frage ist: Wo steht Scholz? Der Dass sich die rote Offensive noch nicht Schwierig wird es, die Botschaften des
Kanzlerkandidat gab sich zunächst vor- in den Umfragen bemerkbar macht, beun- Kanzleranwärters auf die möglichen Stim-
sichtig. Erstmals trat er als Kritiker in Er- ruhigt Scholz dem Vernehmen nach nicht. mungslagen des Wahlvolks zuzuschnei-
scheinung, als die SPD-Länderchefs Spahn Wichtig sei jetzt, heißt es, dass die SPD den. Niemand weiß, wie sich die Corona-
den Fragenkatalog zur Impfstoffbestellung Rheinland-Pfalz bei der Landtagswahl im pandemie entwickelt. Gut möglich, dass
schickten. Scholz sprach Spahn vor allen März halten könne. Den Durchbruch er- die Wähler den Sommer in Partystimmung
Ministerkollegen darauf an. wartet Scholz erst für den Sommer. verbringen, weil immer mehr geimpft wer-
Vertrauten erklärte er, dass seine Unter- Und er hat schon einen Plan geschmie- den. Im schlimmsten Fall aber reiht sich
stützung für die Fragenliste nötig sei, damit det, wie er die SPD wegführen will vom Shutdown an Shutdown, weil Vakzinen
die enttäuschten Bürger nicht dächten, in Image des Quengelpartners in der Koali- fehlen und Mutanten grassieren.
der Regierung steckten alle unter einer tion. Am Sonntag bei der Vorstandsklau- »Für Wahlkämpfer gibt es nichts Ge-
Decke. Normalerweise bemüht sich Scholz, sur geht es vor allem um Zukunftsfragen. fährlicheres, als mit ihren Botschaften an
offene Attacken auf Ministerkollegen zu Dann will Scholz mit den Spitzengenos- den Gefühlen und am Denken der Wähler
vermeiden. Aber jetzt nahm er das Risiko sen diskutieren, was das Land und seine vorbeizusenden«, sagt das Scholz-Lager.
in Kauf. Muss ein sozialdemokratischer Wirtschaft dem drohenden Klimawandel Doch die Frage ist, wie konsequent die
Kanzlerkandidat nicht zeigen, dass ihm entgegensetzen sollen. Was ist zu tun, da- Strategie in Scholz’ eigenem Fachgebiet
das Schicksal der Menschen am Herzen mit Deutschland tatsächlich bis zur Mitte ausfällt: der Steuerpolitik.
liegt, deren Existenzen in unterschiedlichs- des Jahrhunderts klimaneutral wirtschaf- Auf jeden Fall werden die Sozialdemo-
ter Weise von Corona bedroht werden? tet, und was kann die Politik dazu beitra- kraten einen Klassiker aufwärmen, der für
Seitdem agiert Scholz mal subtil, indem gen? Vor allem wird es um die Wasserstoff- sie immer funktioniert. Untere und mitt-
er in einem Interview Zweifel anmeldet, technologie gehen, für die sich Scholz in lere Einkommen will Scholz bei der Ein-
ob das Versprechen der Kanzlerin, »bis jüngster Zeit nachhaltig erwärmt hat. kommensteuer entlasten, für höhere Ein-
Ende des Sommer« alle Deutschen zu imp- Bei den Diskussionen verlässt er sich kommen den Spitzensteuersatz erhöhen.
fen, wohl zu halten sei. Mal geht es deftiger nicht allein auf die Kenntnis seiner Genos- Auch die Vermögensteuer will er wieder-
zu, wie am Montag im Corona-Kabinett. sen. Wie aus dem Willy-Brandt-Haus zu beleben. Zugleich plant er aber just in die-
Die Beschaffung der Impfstoffe durch die hören ist, soll bei der virtuellen Sitzung sen Tagen eine Steuererhöhung, die eher
nicht die Besserverdienenden treffen wird:
Der Finanzminister bringt eine Tabaksteu-
Großer Graben ererhöhung auf den Weg. Vom 1. Januar
»Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?« 2022 soll die Packung mit 20 Zigaretten
40 % fünf Jahre lang jeweils um 5 Cent teurer
Bundestagswahl 24. Sept. 2017 werden, Drehtabak um bis zu 15 Cent je
37% Packung. Der Preis für Zigarren und Zi-
32,9%
CDU/CSU garillos soll entsprechend steigen.
30 Sogar die beliebten E-Zigaretten will
der Minister erstmals besteuern. Jeder
Schritt bringt dem Bund zusätzlich zwei
20
20,5% Milliarden Euro.
Die gute Nachricht: Das Geld kann jede
SPD
Regierung, gleich welcher Couleur, nach
15% der Coronakrise gut gebrauchen.
10
Christian Reiermann, Lydia Rosenfelder,
29. Sept. 2017 6. März 2020 28. Jan. 2021 Christian Teevs
Quelle: Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF; rund 1250 Befragte; Schwankungsbreite bei einem Anteilswert von 40 Prozent rund +/- drei Prozentpunkte.
32
Deutschland
In der Parallelwelt
Bundeswehr Die geheime »Finanzbedarfsanalyse 2022« des Verteidigungsministeriums zeigt:
Den Streitkräften geht das Geld aus. Für ihre längst überfällige Modernisierung
fehlen die Mittel, und Deutschland wird seine Bündniszusagen kaum erfüllen können.
I
n der Hauptstadt kennt man das amerikanischen Beziehungen. Der Titel: wird.« Der Mann gehört zu den wenigen
Phänomen schon länger. Jene »Vier- »Das transatlantische Band wieder stär- in der Bundeswehrführung, denen in die-
Augen-Gesellschaft«, die der dama- ken«. sen Tagen die vertrauliche »Finanzbedarfs-
lige Kanzleramtschef Bodo Hom- Unter Punkt zwei heißt es da, man wer- analyse 2022« des Verteidigungsministe-
bach schon 1998 beschrieb. Gerade in de die Nato »als Rückgrat der eurotrans- riums zugesandt wurde.
Wahljahren, so Hombach, werde fein un- atlantischen Sicherheit« zukunftsfest ma- »Es wird deutlich«, schreibt General-
terschieden zwischen einer öffentlichen chen: »Deshalb werden wir unsere Inves- inspekteur Eberhard Zorn in seinem Be-
Debatte, »in der Illusionen ungestraft ver- titionen in Verteidigung konsequent im gleitbrief zu diesem Dokument des Schre-
breitet werden können«, und der privaten Sinne unserer Zusagen vom Nato-Gipfel ckens, »dass die erforderlichen Ressour-
Diskussion unter vier Augen zwischen Ex- in Wales (darunter das Zweiprozent-Ziel) cen nicht in Deckung mit den zur Verfü-
perten und Politikern, in der man sich weiter erhöhen und damit auch künftig gung stehenden und vor allem perspek-
»stöhnend die Wahrheit sagt«. der Nato zehn Prozent ihrer Fähigkeiten tivischen Finanzmitteln in Einklang zu
Wie die Berliner »Vier-Augen-Gesell- zur Verfügung stellen.« bringen sind.«
schaft« im Wahljahr 2021 funktioniert, Ein hoher Offizier, der wie alle Infor- So funktioniert sie, die »Vier-Augen-
ließ sich am 26. Januar besichtigen. Da manten in dieser Geschichte nicht genannt Gesellschaft« der Hauptstadt. Die Unions-
verabschiedete die CDU/CSU-Bundes- werden darf, war verblüfft, als er das fraktion versichert der Nato und damit
tagsfraktion wenige Tage nach der Amts- Unionspapier las. »Das hat mir fast die auch den Amerikanern öffentlich, man
einführung des neuen US-Präsidenten Joe Beine weggerissen«, sagt er, »diese Paral- werde alle Zusagen gegenüber dem Bünd-
Biden ein Positionspapier zu den deutsch- lelwelten, in denen da im Moment operiert nis einhalten. Und gleichzeitig schreibt der
34
Deutschland
Es ist ein Teufelskreis. Der Bundeswehr nungsziele und EU-Vorgaben«) heißt es tegie, die Ursula von der Leyen als Minis-
fehlt das Geld, um ihre Ausrüstung zu mo- nüchtern, »zahlreiche zur Erfüllung der terin zur Perfektion entwickelt hatte. Sie
dernisieren. Die Panzer und Kampfflug- Nato-Planungsziele erforderliche Rüs- hatte schnell erkannt, dass prestigereiche
zeuge werden immer älter und anfälliger, tungsprojekte« ließen sich mit der derzei- Großprojekte nicht nur bei den Verbünde-
ihr Unterhalt wird immer teurer. Damit tigen Finanzplanung »nicht oder nicht ten gut ankamen, sondern auch in Haus-
wird im Verteidigungshaushalt der Anteil mehr zeitgerecht realisieren beziehungs- haltsverhandlungen als Druckmittel ge-
der Betriebskosten immer größer, wäh- weise initiieren«. So werde es »abermals nutzt werden konnten.
rend gleichzeitig die Investitionsquote nicht gelingen«, den Finanzbedarf »zur Er- Das Von-der-Leyen-Prinzip war simpel.
sinkt. Der Effekt verstärkt sich also selbst. füllung der gegenüber der Nato gemachten Erst gigantische Forderungen stellen, um
Zudem droht den Militärs in den nächs- Zusagen und Verpflichtungen ausreichend dann am Ende zumindest etwas mehr
ten Jahren ein gewaltiger Investitions- mit Ressourcen zu hinterlegen«. Geld als geplant zu bekommen. Als ihre
tsunami, weil wichtige Waffensysteme Dann werden die Planer konkret. So Generäle vorschlugen, die Bundeswehr
dann nach Jahrzehnten endgültig ver- fehle bisher das Geld, um den altersschwa- von 180 000 auf 200 000 Männer und
schlissen sind und auf einen Schlag ersetzt chen Transporthubschrauber CH-53 zu Frauen aufzupumpen, willigte die Minis-
werden müssen. Allein die Nachfolge- ersetzen. Doch das habe die Bundeswehr terin sofort ein. Mit den Folgen wird die
lösung für das Kampfflugzeug »Tornado« der Nato gleich für vier Szenarien zuge- Bundeswehr noch Jahre kämpfen. Wenn
wird deutlich mehr als zehn Milliarden sagt: den schnellen Transport von Solda- diese Personalstärke irgendwann erreicht
Euro kosten, die Nachfolge des Uralt- ten zum Gefecht, die Bergung von Ver- ist, belasten allein die zusätzlichen Perso-
hubschraubers CH-53 fünf bis zehn Mil- wundeten, die Rettung von Soldaten aus nalkosten für diese 20 000 Soldaten die
liarden, der Ersatz für das alternde Luft- Gefahr und die Verlegung von Spezial- Truppe jedes Jahr mit zwei Milliarden
abwehrsystem »Patriot« noch einmal um kräften. Euro.
die zehn Milliarden. Auch beim Seekampf beispielsweise Mithilfe ihrer Rüstungsmanagerin, der
Doch woher soll das Geld plötzlich kom- werde man seine Zusagen nicht einhalten früheren McKinsey-Beraterin Katrin Suder,
men? »Zur Deckung des unabdingbaren können. Die Projektverzögerung bei der versuchte die Ministerin, die desaströse
Bedarfs und der Vorbelastungen wird ein neuen Fregatte 126 »wird die zeitgerechte Rüstungsbürokratie zu reformieren. Ein
Finanzbedarf von rund 50,7 Milliarden Erreichung der Planungsziele erheblich guter Ansatz, aber als sie nach mehr als
Euro in 2022 bis rund 49,6 Milliarden Euro einschränken«, schreiben die Planer, die fünf Jahren im Berliner Bendlerblock nach
in 2026 erforderlich«, schreiben die Bun- sich über die Reaktion der Nato-Partner Brüssel wechselte, war das Projekt geschei-
deswehrplaner in ihrer Analyse. Allein keine Illusionen machen. tert. Und hinterließ den Kollateralschaden,
schon diese »Minimallinie« liegt mehrere So habe Deutschland auf dem Nato-Ver- dass sich fast alle großen Rüstungsprojekte
Milliarden über dem bisherigen Finanz- teidigungsminister-Treffen im Juni 2020 auf Jahre verzögern sollten.
plan. »Maßnahmen zur Stärkung der Integrier- Mit den Folgen kämpft jetzt die Nach-
Will die Bundeswehr die Nato-Quote ten Luftverteidigung zugestimmt«. Doch folgerin. Am Mittwoch schickte Kramp-
von 20 Prozent für Rüstungsinvestitionen wenn die Finanzierung für das entspre- Karrenbauers Staatssekretär den Haushäl-
einhalten, ist die Lage noch düsterer. chende Projekt jetzt nicht gesichert sei, tern im Bundestag eine vertrauliche Liste
Selbst wenn der Verteidigungshaushalt, »wird dies in der Allianz zu erheblicher mit zentralen Großprojekten, die gestri-
wie von der Bundesregierung versprochen, Kritik führen«. chen werden könnten, »weil die Finanzie-
bis 2024 auf 1,5 Prozent der jährlichen Mit leichter Verzögerung wird die Bun- rung zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesi-
Wirtschaftsleistung und danach in Rich- deswehr nun auch spätes Opfer einer Stra- chert ist«. Es scheint so, als wollte Kramp-
tung 2 Prozent ansteigen würde, reiche Karrenbauer die Methode ihrer Vorgänge-
das »zur Deckung des Bedarfs nicht aus«, rin kopieren und mit einem Horrorszena-
heißt es in dem Dokument. Auf verlorenem Posten rio maximalen Druck vor den Haushalts-
Um aber den kompletten Bedarf bis Jährlicher Finanzbedarf der Bundeswehr in Mrd. € verhandlungen aufbauen.
2026 zu decken, schreiben die Planer, In der Tabelle sind 15 Projekte aufge-
müsste der Verteidigungshaushalt auf eine Q Rüstungsinvestitionen Q Betrieb listet, von denen die meisten unentbehr-
»rechnerische ›Maximallinie‹« erhöht wer- bisher geplanter Haushalt lich sind für die Bundeswehr. Da steht das
den, und die hat es in sich. Die Steigerun- Bei Ausgaben von 1,5% des BIP Nachfolgemodell für den überalterten
gen, um die es geht, sind astronomisch. Im im Jahr 2024 und 2% des BIP bis 2031* »Tornado«-Kampfjet genauso wie der
nächsten Jahr müsste der Wehretat um neue Transporthubschrauber, die Moder-
9 Milliarden Euro erhöht werden, 2024 100 nisierung des »Eurofighters« oder die
um 15,9 und zwei Jahre später sogar um neue Raketenabwehr, in die schon Hun-
20,7 Milliarden. Völlig undenkbar, vor al- derte Millionen investiert wurden. Alles
lem nachdem Corona die öffentlichen 80 scheint zur Disposition zu stehen.
87
Haushalte verwüstet hat. Es ist ein riskanter Erpressungsversuch.
Was also tun? Man müsse untersuchen, Scheitert die Ministerin, sind die Folgen
heißt es in der Geheimanalyse, ob es nicht 60 für das deutsch-amerikanische Verhältnis
bei einem zeitlich begrenzten »Verzicht 53 und das transatlantische Bündnis unüber-
auf Fähigkeiten« möglich sei, die »Rea- 46 sehbar. Doch werden sich der Finanzmi-
lisierung der Bedarfe wieder beherrschbar 40 nister und am Ende auch die Kanzlerin so
zu machen«. Einfach gesagt: Die Bundes- beeindrucken lassen?
wehr sollte den Offenbarungseid leisten. Die Planer in Kramp-Karrenbauers Mi-
Die internen Berechnungen zeigen, wie 20 nisterium sind nicht sonderlich hoffnungs-
dramatisch die Lage der Streitkräfte inzwi- froh. Sie rechnen sicherheitshalber schon
schen ist. Chronisch unterfinanziert, wird mal mit dem Schlimmsten.
die Bundeswehr auch die deutschen Zusa- 0
Matthias Gebauer, Konstantin
gen an die Nato kaum erfüllen können. 2021 2026 2031
von Hammerstein
Unter Punkt 5.4 (»Erreichen Nato-Pla- * Herbstprojektion des BMWi; Quelle: BMVg
Unterlassene
Erzählung die Schattenseite dieser Ruhe: die Passivität.
Das Problem ist nicht, dass Angela Merkel in der Corona-
Zeit vieles falsch entschieden hätte. Das Problem ist all
das, was sie gar nicht erst versucht hat. Es ist die politi-
Hilfeleistung
sche Version der unterlassenen Hilfeleistung.
Fast nichts, was den Verlauf der zweiten Welle rechtzei-
tig hätte abmildern oder sie gar verhindern können, wur-
de in Deutschland früh und entschlossen eingesetzt. Die
Corona-Warn-App ist und bleibt, so wie sie konzipiert ist,
Essay Der lange gerühmte Führungsstil von Angela ein Witz. Bis heute sind die Bürger nicht ausreichend mit
Merkel wird in der Pandemie zum Problem. medizinischen Masken versorgt, von besser schützenden
FFP2-Masken ganz zu schweigen. Dass Alten- und Pflege-
Es fehlen Kreativität, Elan und Ambition. Das hat heime mit allem erdenklichen Engagement geschützt
gravierende Folgen fürs Land. werden müssten, ist schon seit dem Frühjahr Allgemein-
wissen. Um die dafür notwendigen Mittel wird bis heute
gerungen. Schnelltests sind bereits seit dem Frühsommer
B
auf dem Markt. Doch statt sie von staatlicher Seite zu
evor die Pandemie einsetzte, war das Skript für erwerben, und zwar milliardenfach, um sie dann unters
die Endphase der Kanzlerschaft Angela Merkels Volk zu bringen, wurden bei den Herstellern nur gewisse
so gut wie geschrieben. Bewunderung würde sich Kontingente für Pflegeheime reserviert – und der Rest
mit vorauseilender Wehmut mischen. Jeder Ver- dem freien Markt überlassen.
gleich mit ihren potenziellen Nachfolgern würde Merkel Die Gesundheitsämter, deren Nachverfolgungskapazi-
noch etwas heller strahlen lassen. tät zum zentralen Faktor für Schließungen und Lockerun-
In der ersten Phase der Pandemie erreichte die Merkel- gen erkoren wurde, sind noch immer personell und digital
Verehrung bereits ihren frühzeitigen Höhepunkt. Deutsch- so mies ausgestattet wie eine herkömmliche Amtsstube
land kam besser als andere Länder durch die Krise, auch der Neunzigerjahre. Und wo blieb der Auftrag für Stu-
weil es Glück hatte, aber nicht nur. Angela Merkel hatte dien, um präziser herauszufinden, in welchen Bereichen
früh die Gefährlichkeit des Virus verstanden und die rich- der Gesellschaft viele Ansteckungen erfolgen und wo
tigen Maßnahmen eingeleitet. In einer ihrer eher seltenen eher nicht? Ohne sie tappt die Politik weiter im Dunkeln
großen Reden traf sie im Frühjahr den richtigen Ton und muss das Virus mit dem Hammer bekämpfen statt
und motivierte so Millionen Bürger, tatsächlich zu Hause mit gezielten Stichen. Die Liste der verschlummerten
zu bleiben. Wäre sie im vergangenen Sommer zurück- Gelegenheiten ließe sich fortsetzen, würde aber den Rah-
getreten, was sich mitten in einer Krise natürlich ohnehin men dieses Textes sprengen.
verboten hätte, wäre Merkel nur schwer an der Heilig- Nicht jeden der vielen Fälle staatlichen Versagens hat
sprechung vorbeigekommen. die Kanzlerin zu verantworten. Auch Landräte, Daten-
Im Frühjahr, als man noch sehr wenig über das Virus schutzbeauftragte, Länderminister, Ministerpräsidenten
wusste, waren Schließungen das einzige wirksame oder manche Bundesminister tragen zum Ausfall bei. Für
Instrument, das der Politik zur Verfügung stand. Man einige Bereiche, die Schulen etwa, besitzt die Bundes-
brauchte weder Kreativität noch kanzlerin formal gar keine Zuständigkeit. Aber niemand
besonderen Elan, um das Richtige zu hätte sich beschwert, wenn auch sie mal skizziert hätte,
Noch immer unter- tun. Man musste den Laden einfach wie es sich in Pandemiezeiten besser unterrichten ließe.
liegt die Angela- dichtmachen. Und das tat die deutsche Es gab keinen App-Gipfel unter ihrer Leitung. Keinen
Kanzlerin hinreichend beherzt. Schnelltest-Gipfel. Keinen Masken-Gipfel. Keinen Alters-
Merkel-Betrachtung Die frühe Schließung ist bis heute heim-Gipfel. Keinen Gesundheitsämter-Gipfel. Keinen
einer gewissen Merkels Paradedisziplin. Das kann sie Schul-Gipfel. Und ein Impf-Gipfel der Bundeskanzlerin
besser als alle anderen im Land, gera- fand nicht etwa im vergangenen Juli statt. Auch nicht
Verklärung. de im Vergleich zu vielen Minister- im September. Nicht vor Weihnachten. Ja, nicht mal zu
präsidenten. »Dann sitzen wir in zwei Jahresbeginn, als längst offensichtlich war, dass es viel
Wochen eben wieder hier.« Ihr trot- zu wenig Impfstoff gibt und es nichts bringen würde, sich
ziger Satz von Mitte Oktober, als ein Großteil der Länder- selbst weiter auf die Schulter zu klopfen.
chefs schärfere Maßnahmen nicht für nötig hielt, ist
I
bereits heute legendär. Sie sollte recht behalten. Während
andere Entscheidungsträger längst der Hybris erlagen, m Sommer drängte die Kanzlerin darauf, die Verhand-
sich von den Erkenntnissen der Wissenschaft zu eman- lungen mit den Impfstoffherstellern der EU-Kom-
zipieren, blieb Merkel erfreulich stur bei den Fakten. Lei- mission zu überlassen. In der Folge ließ ihr Interesse an
der ist das Drängen auf rechtzeitige und ausdauernde deren Fortgang rapide nach. Daran vermochte auch
Schließungen und Shutdown-Verlängerungen bis heute der Umstand nichts zu ändern, dass Deutschland im ent-
ihre einzige richtige Antwort auf die Krise geblieben. Es scheidenden Zeitraum die EU-Ratspräsidentschaft innehatte.
kam nichts hinzu. Was für die erste Welle genügte, ist Dabei hätte es für das Wohlergehen des Landes und des Kon-
für die zweite oder dritte aber bei Weitem zu wenig. Der tinents keine wichtigere Aufgabe gegeben. So stand am Ende
aufwendigere Teil der Pandemiebekämpfung misslang. ein Einkaufsprozess, der zögerlicher und knausriger nicht
Irgendwie hatte sich über die Jahre die Erzählung ver- hätte sein können. Mit dem allseits bekannten Ergebnis.
festigt, Angela Merkel sei eine begnadete Krisenkanzlerin. Ein Impfgipfel im Kanzleramt fand dann doch noch
Vermutlich lag das an ihrer unbestreitbaren Gabe, auch statt: in dieser Woche. Aber auch nur, weil er der Kanzle-
D
das in den unteren Etagen selten zu größerer Betriebsam-
keit. Ambition muss vorgelebt werden, ein Anspruch och noch immer unterliegt die Angela-Merkel-
muss formuliert, ein Ziel ausgegeben, Initiativen gestartet Betrachtung weiter Teile der Bevölkerung – Jour-
werden. Welche Folgen es hat, wenn all das ausbleibt, nalisten eingeschlossen – einer gewissen Ver-
konnte man vorigen Sonntag am Beispiel von Wirtschafts- klärung. Jede Kritik an ihr wird vom gesättigte-
minister Peter Altmaier in der Talkshow »Anne Will« ren Teil der Gesellschaft als unschicklich empfunden. Viel-
beobachten. Der gab zu verstehen, dass die Regierung bis leicht weil Merkel die erste Frau in diesem Amt ist, was
heute keinen Überblick habe, welche bereits bestehenden nach Jahrhunderten der Männerherrschaft überfällig war.
Werke eventuell für die Impfstoffproduktion genutzt wer- Vielleicht weil sie als extrem fleißig gilt und viele Themen
den könnten. »Ich weiß nicht, wie viele Menschen es bis ins Detail durchdringt. Vielleicht weil ihre bescheiden-
gibt, die wissen, wo in Deutschland solche Dinge verfüg- geerdete Art im Vergleich zu vielen Mitentscheidern eine
bar gemacht werden können«, sagte Altmaier. Eine solche Wohltat ist. Gerade im Kontrast zu testosterongesteuer-
Aussage ist in diesem Stadium der Krise eine Bankrott- ten Urviechern auf nationaler wie internationaler Bühne
erklärung. Sie ist auch das Dokument einer für die Ära wirkt ihre unprätentiöse Nüchternheit wohltuend. Trotz-
Merkel nicht untypischen Bräsigkeit. Anne Will beendete dem verhindern all diese Faktoren einen nüchternen
die Sendung übrigens mit einem süffisanten Appell an Blick auf ihre Bilanz.
die Zuschauerinnen und Zuschauer: »Wenn Sie zufällig Gerhard Schröders Führungsstil der ruppigen Hemds-
ein Pharmaunternehmen haben, das sich jetzt angespro- ärmeligkeit war 2005 an sein Ende gekommen, der Zeit-
chen fühlt, dann bitte melden Sie sich!« geist war über ihn hinweggefegt, es brauchte etwas Neues.
Das vorletzte Mal, dass Angela Merkel wirklich etwas Angela Merkel wusste dieses Bedürfnis zu bedienen.
gestalten und verändern wollte, war in den Jahren zwi- Nach fast 16 Jahren ist auch ihr Führungsstil nicht mehr
schen 2003 und 2005. Damals wollte sie dem Land weit- zeitgemäß. I
37
Deutschland
Münch, 59, ist seit 2014 Präsident des Personen mit hoher Reichweite in den so- SPIEGEL: Eine Pandemie bedeutet Stress,
Bundeskriminalamts (BKA). Der gebürtige zialen Medien auch hierzulande dazu bei, Unsicherheit, Angst. Macht das die Men-
Bremer machte zuvor in der Polizei seiner diese kruden Botschaften weiter zu ver- schen anfälliger für Extremismus?
Heimatstadt Karriere. breiten. Die Dynamik ist groß, und grund- Münch: Das ist eine schwierige Frage, die
sätzlich können Verschwörungstheorien wir noch nicht abschließend beantworten
SPIEGEL: Herr Münch, die Erstürmung des eine gefährliche Wirkung haben. Wir müs- können. Demonstranten bilden eine hete-
Kapitols in Washington mit fünf Toten hat sen diese Szene deshalb im Blick behalten. rogene Mischszene mit unterschiedlichen
die Welt entsetzt. Wäre so etwas auch in SPIEGEL: Bemerken Sie eine erhöhte Ge- ideologischen Ausrichtungen: Unter den
Deutschland möglich? fährdung von Politikern und Wissenschaft- Querdenkern sind Verschwörungstheore-
Münch: Die Geschehnisse sind für mich lern durch Corona-Leugner? tiker, Esoteriker, aber auch Reichsbürger
so nicht unmittelbar auf Deutschland über- Münch: Wir sehen mit Sorge, dass die und Rechtsextremisten. Es gibt also eine
tragbar. Zum einen weil es in den USA um Zahl der Bedrohungen und Anfeindungen Nähe zu Radikalen, aber bislang keine Un-
angebliche Wahlmanipulation ging, wäh- stetig zunimmt. Das betrifft Politiker, aber terwanderung der kompletten Protestbe-
rend sich der Protest bei uns überwiegend auch andere Personen wie etwa Virologen, wegung. Wichtig wird weiterhin sein, dass
gegen Corona-bedingte Einschränkungen die während der Pandemie in den Medien die Politik ihre Maßnahmen gut erklärt.
richtet. Zum anderen wurden die Demons- besonders präsent sind. Immer häufiger Auch die Unterstützung für Menschen, die
tranten in Washington offenkundig von registrieren wir Angriffe auf Journalisten. wegen Corona wirtschaftlich in Not gera-
politischen Verantwortungsträgern an der Die Emotionalisierung ist groß. Wir haben ten sind, stabilisiert die Gesellschaft. Zu-
Spitze der Regierung in die Irre geleitet unsere Schutzkonzepte deswegen in enger gleich zeichnet sich ab, dass die Zahl der
und aufgewiegelt. Abstimmung mit den Ländern angepasst, politisch motivierten Straftaten im vergan-
SPIEGEL: Im Sommer schien nur die Ent- sie werden flexibler. genen Jahr deutlich gestiegen ist – darun-
schlossenheit weniger Polizisten wütende SPIEGEL: Bekommen Wissenschaftler nun ter auch die der fremdenfeindlichen, ras-
Protestler daran zu hindern, in das deut- Bodyguards? sistischen und antisemitischen Delikte.
sche Parlament einzudringen. Haben die Münch: Das liegt in der Entscheidung der Das alarmiert uns sehr.
Sicherheitsbehörden die Militanz der Co- zuständigen Landespolizeien. Für unsere SPIEGEL: Nach dem Mord an dem Kasse-
rona-Leugner unterschätzt? Schutzpersonen, Abgeordnete etwa und ler Regierungspräsidenten Walter Lübcke
Münch: Während der Proteste gegen die Mitglieder der Bundesregierung, beurtei- hat die Politik versprochen, den Hass im
Corona-Maßnahmen wurde wiederholt len wir ständig deren individuelle Gefähr- Internet einzudämmen. Wenn das entspre-
versucht, symbolträchtige Bilder zu schaf- dungslage, auch im Hinblick auf konkrete chende Gesetz demnächst in Kraft tritt,
fen. Wir beobachten die Entwicklung der Situationen und Termine. Dabei werden soll eine neue Zentralstelle des BKA diese
Szene daher sehr genau. Was häufig mit natürlich auch emotionalisierte Debatten Aufgabe übernehmen. Ist das Vorhaben
Mobilisierung und Radikalisierung im berücksichtigt, die öffentlich in den sozia- nicht zum Scheitern verurteilt?
Netz beginnt, zeigt Auswirkungen auch in len Medien geführt werden. Münch: Das sehe ich absolut nicht. Wir
der analogen Welt. Dennoch sehen wir sind auf einem guten Weg und haben für
derzeit nicht, dass Proteste hierzulande uns wichtige Vorarbeiten geleistet. Wenn
eine ähnliche Brisanz und Militanz errei- wir der Verbreitung von Hass und Hetze
chen könnten wie in den USA. Die Polizei im Netz entgegentreten wollen, müssen
hat aber aus der Besetzung der Reichs- wir die rote Linie zwischen Meinungs-
tagstreppe gelernt. Symbolträchtige Orte freiheit und Straftat eindeutiger ziehen
werden bei Demonstrationen stärker ge- als bislang. Es darf nicht sein, dass Hass
schützt als vor einigen Monaten. und Hetze im Internet keine Reaktion des
SPIEGEL: In den Vereinigten Staaten hat Staats nach sich ziehen und Betroffene
sich QAnon zu einer hochgefährlichen Be- alleingelassen werden. Wir müssen da
wegung entwickelt. Auch in Deutschland Flagge zeigen. Deshalb haben wir den Vor-
greift diese wirre Theorie immer stärker schlag einer Zentralstelle gemacht.
um sich. Geht von den Verschwörungs- SPIEGEL: Twitter, YouTube, Facebook,
Stefan Boness / IPON
ideologen eine Terrorgefahr aus? Instagram und TikTok werden Ihnen Hun-
Münch: Eine solche Gefahr stellen wir mit derttausende problematische Posts ihrer
Blick auf QAnon in Deutschland bislang Nutzer schicken, die Sie dann bewerten
nicht fest. Allerdings tragen prominente und gegebenenfalls strafrechtlich verfol-
gen sollen. Wie kann das gelingen?
Das Gespräch führten die Redakteure Jörg Diehl, BKA-Präsident Münch Münch: Wir haben gemeinsam mit den
Roman Lehberger und Wolf Wiedmann-Schmidt. »Wir müssen Flagge zeigen« Ländern und der Justiz ein abgestimmtes
38
men wirklich Hilfsermittler des Bundes-
kriminalamts sein?
Münch: Wir werden in der Praxis sehen,
welche Qualität die Meldungen der An-
bieter haben. Die Firmen werden durch
den Austausch mit uns lernen, was für
das BKA und damit für die Strafverfolgung
relevant ist.
SPIEGEL: Die Unternehmen wehren sich
gegen das Gesetz, das sie zur Kooperation
mit dem BKA zwingen soll. Sie sehen die
Verfassung verletzt. Stimmt es, dass sich
Facebook und andere bislang weigern, mit
Ihnen einen Probebetrieb zu starten?
Münch: Richtig ist, dass alle großen Fir-
men abwarten wollen, bis das Gesetz in
Kraft getreten ist, ehe sie mit uns in kon-
krete Absprachen gehen. Eine Zusammen-
arbeit mit Strafverfolgungsbehörden ist
für die Unternehmen nicht leicht. Es geht
für sie immerhin um Daten ihrer Kunden.
Deshalb habe ich Verständnis dafür, dass
sie erst einmal zögern. Sobald das Gesetz
in Kraft tritt, erwarte ich aber eine Koope-
ration. Ein erfolgreiches Vorgehen gegen
Hass und Hetze im Netz bedingt ein gutes
Zusammenwirken aller.
SPIEGEL: Haben Sie die Hoffnung, dass
das Internet ein besserer Ort wird, wenn
das BKA dort Streife geht?
Münch: Ich erhoffe mir weniger hass-
erfüllte Auswüchse auf den großen Platt-
formen. Dabei könnte helfen, dass betrof-
fene Nutzerinnen und Nutzer benachrich-
tigt werden, wenn ihr Kommentar an die
Polizei übermittelt wurde. So wird für de-
ren Verfasser auch im Netz sichtbar, dass
es keine rechtsfreien Räume gibt.
SPIEGEL: Was ist aber gewonnen, wenn
solche Hetzer dann einfach von Facebook
zu Telegram wechseln?
Münch: Es gibt immer Verdrängungseffek-
te. Wenn Hetzer von den großen Plattfor-
men in geschlossene Chatgruppen abwan-
dern, führt das auch dazu, dass öffentliche
Lutz Jäkel / laif
wickelt. Im kommenden Jahr werden wir SPIEGEL: Wenn Sie auf das Krisenjahr
es dann zur Bewertung des Gefahren- 2020 zurückblicken und auf die Pande-
potenzials von Rechtsextremisten einset- mie – wie hat Corona die Kriminalität in
zen können. Schon jetzt tauschen wir uns Deutschland verändert?
aber zu bestimmten Personen ständig mit Münch: In verschiedenen Phänomenbe-
den Experten in den Ländern aus, die ihre reichen verzeichnen wir einen Rückgang
lokalen Szenen am besten kennen. Trotz- der polizeilich erfassten Fallzahlen für
dem sehen wir nicht alles. Viele überführte 2020. Besonders während der Lockdown-
Täter, die etwa Volksverhetzungen began- Monate sind Tatgelegenheiten für Krimi-
gen haben, waren der Polizei vorher nicht nelle entfallen. Wenn die Menschen zu
bekannt. Wir stocken unsere Kapazitäten Hause bleiben, ist etwa ein Wohnungsein-
in diesem Bereich deshalb deutlich auf, um bruch riskanter. Und wenn es keine Men-
bislang unbekannte Personen, Verbindun- schenansammlungen gibt, haben Taschen-
gen oder gar Netzwerke besser zu erken- diebe keine Chance.
nen und zu bekämpfen. Dieses Ziel ver- SPIEGEL: Das klingt nach einer guten
folgen wir auch in einer neuen Fachgruppe Nachricht, so etwas ist derzeit selten.
Internet. Wahr ist aber auch: Es wird sehr Münch: Nur zum Teil. Kriminelle sind lei-
schwierig sein, jeden potenziellen Atten- der anpassungsfähig und verlagern ihre Ta-
täter im Vorhinein zu erkennen. ten dahin, wo die Menschen während des
SPIEGEL: Immer größere Bedeutung für Lockdowns noch präsenter sind, nämlich
die Radikalisierung junger Rechtsextremis- ins Netz. Sie haben zum Beispiel falsche In-
ten haben Internetforen wie etwa 8kun. ternetseiten aufgebaut, auf denen die Men-
Versteht Ihre Behörde diese Subkultur in- schen angeblich Corona-Soforthilfen bean-
zwischen gut genug? tragen können. In Wirklichkeit werden dort
Münch: Es wäre anmaßend zu behaupten, Daten abgegriffen, um damit Betrügereien
dass wir schon am Ziel sind. Das sind sehr im Netz zu begehen. Generell hat die Cy-
dynamische Szenen. Wir erhöhen unsere berkriminalität im vergangenen Jahr erheb-
Lerngeschwindigkeit und stellen zum Bei- lich zugenommen. Wir verzeichnen mitt-
spiel Analystinnen und Analysten mit spe- lerweile zwischen 8 Millionen und 17 Mil-
ziellen IT-Kenntnissen ein, die dann nicht lionen neue Malware-Varianten pro Monat
erst drei Jahre durch die Polizeiausbildung – das sind fast unvorstellbare Dimensionen.
gehen müssen, sondern schnell eingesetzt SPIEGEL: Wie gelingt Verbrecherjagd in
werden können. Zugespitzt gesagt: Auch Pandemiezeiten? Immerhin arbeitet ein
ein Gamingexperte soll sich eine Karriere beträchtlicher Teil der Polizei aktuell von
im BKA vorstellen können. Wir investie- zu Hause aus.
ren in Spezialisten, die solche Phänomene Münch: Unsere aktuelle Homeoffice-Quo-
schnell und systematisch erfassen können. te liegt bei gut 50 Prozent. Das ist für eine
SPIEGEL: Hätten Sie gern einen General- Sicherheitsbehörde sehr hoch. Wir haben
schlüssel für die kryptierten Telefonate die Zahl der gesicherten Laptops, die un-
und Chats von WhatsApp und anderen sere Mitarbeiter zu Hause einsetzen kön-
Messengern? nen, vervierfacht. Aber natürlich geht das
Münch: Den Sicherheitsbehörden muss nicht in allen Bereichen. Unsere Personen-
auch im digitalen Zeitalter die ganze Band- schützer etwa können ihre Arbeit nicht im
breite der Strafverfolgungsinstrumente zur Homeoffice machen. Und Vernehmungen
Verfügung stehen. Sie müssen im Einzel- können wir nicht im eigenen Wohnzim-
fall, nach einem Beschluss eines Richters, mer durchführen.
die Kommunikation eines Straftäters über- SPIEGEL: Kann ein BKA-Präsident denn
wachen können – auf allen Kanälen. Das Homeoffice machen?
ist derzeit nur unter erheblichem techni- Münch: Ja, das mache ich auch. Ein bis drei
schen Aufwand möglich, indem wir in Tage pro Woche arbeite ich aktuell von zu
Einzelfällen entsprechende Software auf Hause aus. Wir haben die Marschroute, per-
Endgeräte aufspielen. Das allein ist keine sönliche Kontakte so weit wie möglich zu
zukunftsfähige Strategie. reduzieren. Das gilt auch für mich.
SPIEGEL: Und deshalb wollen Sie nun die SPIEGEL: Und wenn die Videokonferenz
Verschlüsselung vollständig knacken und mal wieder streikt, ärgern Sie sich wie Mil-
die Messengerdienste für alle Nutzer unsi- lionen Arbeitnehmer in Deutschland?
cherer machen? Münch: Es läuft nicht immer alles perfekt.
Münch: Nein, wir wollen keine Hintertü- Aber es kann niemand erwarten, dass wir
ren ausnutzen. Wir wollen einen Zugang jetzt in Rekordzeit aufholen, was wir in
durch die Vordertür. Anbieter etwa von den vergangenen zehn Jahren bei der Di-
Messengerdiensten sollen ihre Systeme so gitalisierung noch nicht gemacht haben.
gestalten, dass sie im Fall einer richterlich Am Ende werden wir aus dieser Krise je-
genehmigten Überwachung unverschlüs- doch deutlich moderner herauskommen,
selte Daten an die Ermittler ausleiten kön- als wir hineingegangen sind.
nen. Wir haben das technisch analysiert SPIEGEL: Herr Münch, wir danken Ihnen
und glauben, dass das geht, ohne die Ver- für dieses Gespräch.
schlüsselung insgesamt aufzubrechen.
Alternative Volkspartei
Baden-Württemberg Unter dem konservativen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann
sind die Südwestgrünen längst Teil des politischen Establishments geworden. Bei der
Landtagswahl machen den einstigen Ökopionieren jetzt junge Klimaschützer Konkurrenz.
J
ohanna Legnar verzichtet auf eine getroffen, Corona-bedingt muss nun der andere Prognosen sagen ein Kopf-an-
Bewerbungsrede. »Schließlich wis- Parkplatz des Bahnhofs in Neckargemünd Kopf-Rennen voraus, an dessen Ende die
sen ja alle, worum es geht«, sagt sie. bei Heidelberg als Treffpunkt herhalten. Klimaliste womöglich einen entscheiden-
Es ist kalt an diesem Donnerstag- Die Klimaliste Baden-Württemberg den Ausschlag geben könnte. Es würde
abend im Dezember, das Thermometer wurde erst im September gegründet. In- schon reichen, wenn die junge Partei den
zeigt null Grad. Legnar trinkt Tee aus einer zwischen zählt sie rund 400 Mitglieder, Grünen ein paar Prozentpunkte klaut.
Thermoskanne. »Eigentlich müssten die darunter viele Fridays-for-Future-Aktivis- Während sich die meisten Südwestgrü-
Grünen der Seniorpartner des Klimas sein. ten. In den vergangenen vier Monaten ist nen nach außen entspannt geben, sieht es
Doch das sind sie nicht«, sagt sie. es der jungen Partei gelungen, in 67 von intern bei manchen anders aus. »Wer seine
Legnar ist Angehörige der Klimaliste 70 baden-württembergischen Wahlkreisen Stimme an die Klimaliste verschenkt, kann
Baden-Württemberg, einer neuen Partei, eine Kandidatin oder einen Kandidaten dem Klimaschutz einen echten Bären-
die dem grünen Ministerpräsidenten Win- für die Landtagswahl aufzustellen. dienst erweisen«, sagt Grünen-Landeschef
fried Kretschmann bei der Landtagswahl Legnar und ihre Mitstreiter wollen Oliver Hildenbrand. »Wir sind die Klima-
am 14. März Konkurrenz machen will. Vor Druck auf die etablierten Parteien aus- schutzpartei.«
ihr stehen zwei Parteifreunde, die Legnar üben. Und genau das könnte zum Problem Viele in der Landespartei wurmt es,
zur Kandidatin für den Wahlkreis Sins- für Kretschmann werden. Der jüngsten dass die Klimaaktivisten mit ihrer Forde-
heim küren möchten. Das Landtagswahl- Umfrage von Infratest dimap zufolge lie- rung nach mehr Umweltschutz aufs Herz
gesetz schreibt eine solche Aufstellungs- gen die Landesgrünen zwar mit 34 Pro- der Grünen zielen. Die jungen Wilden füh-
versammlung vor. In normalen Zeiten zent noch vor der CDU und deren Spit- ren ihnen schmerzlich vor Augen, dass sie
hätten sich die drei wohl in einem Café zenkandidatin Susanne Eisenmann. Doch schon lange nicht mehr zur politischen
41
Deutschland
Avantgarde zählen, sondern selbst zum Kretschmanns Image Auto-Kaufprämie ein. Und im Dezember
Establishment geworden sind. Dass aus verschickte er einen Brief an EU-Abgeord-
ihrem flirrigen »Projekt alternative Partei« als souverän-präsidialer nete, mit dem er verhindern wollte, dass
der Achtzigerjahre ein gewöhnlicher Regierungschef soll die Automobilhersteller durch schärfere
Machtapparat geworden ist. Vorschriften beim Klimaschutz überfor-
Und so lässt sich in Baden-Württemberg keine Dellen bekommen. dert werden.
schon jetzt beobachten, was den Grünen »Winfried Kretschmann weiß, dass die
im Bund bald bevorstehen könnte. Im Süd- die Pampa« schicken müsse, mal wetterte nötige Veränderung für eine klimaneutrale
westen sind die Grünen längst Volkspartei. er beim Thema gendergerechte Sprache Wirtschaft nur mit der Industrie gelingen
Seit nunmehr einem Jahrzehnt regieren gegen »Sprachpolizisten«. An den Stamm- kann. Das auszubauen ist sehr wichtig«, sagt
sie das Land, bis 2016 in einer Koalition tischen des Landes kommt das gut an. Kon- der Grünen-Bundesvorsitzende Habeck.
mit der SPD, seitdem mit der CDU. Minis- servative, die früher CDU gewählt hätten, Klimalisten-Politikerin Legnar spricht
terpräsident Winfried Kretschmann resi- wählen jetzt Kretschmann – nicht wegen, von Lobbyismus für eine Branche, die den
diert in der Villa Reitzenstein, dem präch- sondern trotz seiner Partei. Wandel zur Elektromobilität verschlafen
tigen Amtssitz in Halbhöhenlage über Für die Grünen gleicht die Daueraffäre habe. In Klimafragen hält sie Kretsch-
Stuttgart, als wäre es nie anders gewesen. mit dem Konservatismus einem schmalen mann, der privat eine E-Klasse mit Die-
Die Landtagswahl in Baden-Württem- Grat zwischen Machterhalt und Selbstauf- selmotor fährt, deshalb für wenig authen-
berg sei »natürlich wichtig«, sagt der Bun- gabe. Für viele in der Partei war das Re- tisch.
desvorsitzende Robert Habeck. Sein Ver- gieren mit dem schwarzen Koalitionspart- Legnar ist 32 Jahre alt und Grafik-
hältnis zu Kretschmann beschreibt er als ner in den vergangenen fünf Jahren nicht designerin. Bevor sie zur Politik fand,
»vertrauensvoll und eng«. Früher war die immer einfach. Beim Klimaschutz sei nahm sie in Heidelberg an den Demons-
Beziehung zwischen den Grünen in Ba- die CDU ein »Klotz am Bein« gewesen, trationen von Fridays for Future teil und
den-Württemberg und den Bundesgrünen schimpfte der zum linken Grünenflügel engagierte sich bei der Umweltschutz-
mindestens angespannt. Die Südwestgrü- gehörende Landeschef Hildenbrand kürz- bewegung Extinction Rebellion. Die Akti-
nen wurden belächelt und bewundert. Be- lich. Kretschmann dagegen hatte mit visten organisierten Protestaktionen, um
lächelt, weil sie daherkamen wie die den Schwarzen weit weniger Probleme, auf die »Umweltverbrechen« eines Heidel-
schwäbische Hausfrau, die gern die Schöp- schließlich ist er selbst bekennend konser- berger Zementunternehmens mit hohem
fung bewahrt, aber mit dem grünen Kos- vativ. In Streitfragen war der Ministerprä- CO -Ausstoß aufmerksam zu machen.
²
mopolitismus nicht viel anfangen kann. sident derjenige, der die Koalition zusam- Der Ministerpräsident sitzt beim Video-
Bewundert, weil sie damit schon früh er- menhielt. Unter seiner Führung machten telefonat vor einer schwarz-goldenen Ba-
folgreicher waren als alle anderen Grünen die Grünen häufig Zugeständnisse, sei es den-Württemberg-Flagge. »Die jungen
in der Republik. bei Abschiebungen gut integrierter, aber Leute beziehen sich auf globale Szenarien,
Ihr Zugpferd ist heute 72 Jahre alt und bereits abgelehnter Asylbewerber oder nicht auf die Landespolitik«, sagt Kretsch-
heißt Winfried Kretschmann. Er ist der bei der Ausweitung polizeilicher Befug- mann. »Aber mit Szenarien spart man
Typ Vertrauenslehrer, einer von der Sorte, nisse. kein CO ein.« Dann wird er emotional:
²
der mit seinen Schülern abends noch ein Auch was die Verkehrspolitik betrifft, »In der Politik braucht man wirksame In-
Bier trinken geht. Bevor er Politiker wurde, ist Baden-Württemberg mit seiner mäch- strumente, Mehrheiten und Bündnisse,
unterrichtete Kretschmann Biologie, Che- tigen Automobilindustrie nicht gerade grü- um seine Ziele zu erreichen. Denn am
mie und Ethik. Jetzt gibt er gern den do- nes Kernland. Als Landeschef muss Ende zählt, was wir tatsächlich bewirken.
zierenden Landesvater, nah am Menschen, Kretschmann Rücksicht auf die fast Nicht, was wir bewirken wollen.« Um das
gutmütig. Und immer das passende Sprich- 500 000 Arbeitsplätze in der Branche neh- zu erkennen, bedürfe es politischer Erfah-
wort auf den Lippen. men. Auch deshalb setzte er sich für eine rung. »Die Argumentation der Klimaakti-
Gespielt ist das nicht. Wenn Kretsch- visten ist mir aber absolut geläufig, ich
mann auf seine Bürger trifft, nimmt er sich habe ja die Grünen mitbegründet.«
Zeit, hört zu. Er zeigt aufrichtiges Interesse Grüne Hochburg Damals, im Januar 1980, war Kretsch-
an anderen Meinungen. Die Baden-Würt- »Welche Partei würden Sie wählen, wenn am mann 31 Jahre alt. Zur Gründungsver-
temberger schätzen das. Laut einer Um- kommenden Sonntag in Baden-Württemberg sammlung in Karlsruhe fand sich ein bun-
frage sind 69 Prozent mit der Arbeit des Landtagswahl wäre?«, Ergebnisse der Grünen ter Haufen zusammen, darunter undog-
Ministerpräsidenten zufrieden. Bei einer matische Linke, Christen und ökologisch
Direktwahl würden sich sogar 69 Prozent 40 Orientierte. Kretschmann zählte zu den
der CDU-Wähler für ihn entscheiden. Landtagswahl- 34 % »Ökolibertären«, die den rechten Rand der
ergebnis 2016
Der Katholik ist für seine Partei Segen 30,3% linken Partei bildeten und früh realpoli-
und Fluch zugleich. Vom linken bis zum 30
tisch dachten. Noch im selben Jahr zog er
rechten Flügel wissen alle, dass sie ohne mit den Grünen ins Stuttgarter Parlament
Kretschmann keine Chance hätten, bei ein. Es waren die ersten Parlamentarier
der nächsten Landtagswahl wieder stärks- 21 % der Ökopartei in einem Flächenstaat.
te Kraft zu werden. Der Wahlkampf ist 20 zum Vergleich: Sonntags- Die Prägung der grünen Abgeordneten
frage zur Bundestagswahl
deshalb komplett auf ihn zugeschnitten. für die Grünen war von Beginn an vergleichsweise kon-
»Grün wählen für Kretschmann« steht auf 12% servativ und liberal. Das passte zur Men-
allen Plakaten. Vom politischen Gegner talität im Ländle. Bei Kretschmanns Grü-
werden die Landesgrünen als »Kretsch- 10 nen hatten Fundis und Realos nie Be-
mann-Wahlverein« verhöhnt. Bundestagswahl- rührungsängste. »Nicht links, nicht rechts,
ergebnis 2017
Parteiinterne Kritik am allmächtigen 8,9% sondern vorne«, lautete das Motto. So
Landesvater wird nur zaghaft geäußert. 0
fuhren die Südwestgrünen in den Acht-
Dabei gibt es dafür durchaus Anlass. Mal zigerjahren gute Ergebnisse ein. Schon
bezeichnete Kretschmann straffällige 2016 2017 2018 2019 2020 2021 damals sahen sie sich als »Steigbügelhal-
Flüchtlinge als »Tunichtgute«, die man »in Quelle: Infratest dimap; jeweils mindestens 1000 Befragte ter« für die Bundespartei. Kretschmann,
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1983 Sprecher der Grünen im Landtag, nichts, die FDP hatte damals kein Interes-
dachte früh über eine Zusammenarbeit mit se. Inzwischen hat sich das aber geändert.
der SPD nach. Ihr Spitzenkandidat, Hans-Ulrich Rülke,
Der schwäbische Oberpragmatiker woll- macht den Grünen jetzt Avancen.
te immer an die Regierung, und er bewies Wenn es erneut für den ersten Platz
einen langen Atem. Im Mai 2011 beendete reicht, dürfte wohl Kretschmann selbst
Kretschmann mithilfe der SPD die 57-jäh- entscheiden, mit wem er koaliert – und
rige Vorherrschaft der CDU im Ländle. wie lange. Stets hat er betont, er trete für
Seitdem ist der Ministerpräsident der eine volle Legislaturperiode an, also bis
mächtigste Grüne in Deutschland. Bei sei- 2026. Dann wäre er 77 Jahre alt. Insge-
ner ersten Wahl spielten ihm die gesell- heim hoffen manche Grüne, dass er vor-
schaftlichen Konflikte um das Bahnprojekt her aufhört – und bis dahin endlich einen
Stuttgart 21 und die Atomkatastrophe im potenziellen Nachfolger aufbaut. Denn
japanischen Fukushima in die Hände. im Schatten des 1,93 Meter großen
Doch anders als von der CDU lange ge- Kretschmann gedieh bislang kein Nach-
hofft, war der Triumph der Grünen kein wuchstalent.
Betriebsunfall. 2016 gelang Kretschmann Auf einen grünen Schwaben, der bislang
Antigen im Marmeladenglas
Karrieren Der Arzt Winfried Stöcker entwickelte einen Impfstoff gegen Corona,
renommierte Virologen bestätigten eine Wirkung. Doch anstatt eine erfolgreiche Produktion zu
starten, sieht sich der schwerreiche Unternehmer nun einem Strafverfahren ausgesetzt.
D
as Geheimnis seiner Marmela- ladekochens reden hört, könnte ihn für Konzern verkauft – für insgesamt 1,2 Mil-
den, sagt Winfried Stöcker, sei einen exzentrischen Hobbytüftler halten. liarden Euro, 600 Millionen kassierte er
ein Rotationsverdampfer. Der Wäre da nicht die Tür, durch die man von selbst.
entziehe den Früchten bis zur seinen Wohnräumen in eine Welt mit Der Laborpionier hat also viel Geld und
Hälfte des Wassers. Für seine Fruchtsäfte Hochleistungsmikroskopen und Behältern nicht mehr ganz so viel Lebenszeit. So er-
hingegen benutze er eine Zentrifuge mit mit flüssigem Stickstoff gelangt. »Klinisch- klärt sich seine Ungeduld, seine Dickköp-
einer Beschleunigung von 30 000 g, der immunologisches Labor Professor Dr. med. figkeit – und der Ärger, den er sich mit sei-
30 000-fachen Erdbeschleunigung. Der Winfried Stöcker« steht auf einem Schild, ner neuesten Entwicklung eingehandelt
74-Jährige holt aus dem Kühlraum neben 50 Angestellte arbeiten hier. hat: ein Antigen gegen das Sars-CoV-2-
seinem Wohnzimmer verschiedene Gläser: Der Arzt Winfried Stöcker hat es mit Virus. Was wie der Beginn einer Erfolgs-
Quitte, Erdbeere, Hagebutte. Erfindungen weit gebracht. 1987 gründete geschichte im Kampf gegen die Pandemie
Zur Verkostung legt Stöcker Volkslieder er die Firma Euroimmun. Das Unterneh- klingt, endete vorläufig mit einem Ermitt-
auf, seine Frau serviert Thymiankekse und men entwickelte Verfahren zur Erken- lungsverfahren des Landeskriminalamts
Birnenkuchen. Wer den Mann mit der wei- nung von Autoimmun- und Infektions- Schleswig-Holstein. Doch dazu später.
ßen Haarpracht und den buschigen Augen- krankheiten. Es hat heute 3100 Mitarbei- Stöcker steht jetzt in einem Raum seines
brauen bei sich zu Hause in Groß Grönau ter und Niederlassungen in 17 Ländern. Labors, er hat zwei Marmeladengläser mit-
bei Lübeck über die Kunst des Marme- 2017 hatte Stöcker die Firma an einen US- gebracht. In dem Glas mit dem Erdbeer-
deckel befindet sich eine Ampulle mit
einem blauen Verschluss. »Da ist das An-
tigen drin«, sagt Stöcker. »Damit könnte
man innerhalb eines halben Jahres drei
Viertel der Bevölkerung Deutschlands ge-
gen Corona immunisieren.«
Es klingt zu schön, um wahr zu sein. Da
versinkt Deutschland im Impfchaos, und
ein 74-jähriger Arzt behauptet, den idea-
len Impfstoff gegen Corona gefunden zu
haben? Noch dazu einen, der sich leicht
und in großen Mengen produzieren ließe?
Und der nicht bei minus 70 Grad gekühlt
werden muss, sondern in einem Marmela-
denglas im Kühlschrank lagern kann?
Die Idee sei eigentlich ganz einfach, sagt
Stöcker. Die Wissenschaftler von Euro-
immun hätten über Jahre Tests gegen ge-
fährliche Viruserkrankungen entwickelt.
Denguefieber zum Beispiel, Zika, auch
Sars-CoV-1 und Mers. Nachdem der Co-
vid-19-Erreger in China entdeckt worden
sei, habe Euroimmun als eines der ersten
Unternehmen verschiedene Corona-Tests
entwickelt. Einige basieren auf einem
Antigenkonstrukt, mit dem sich Antikör-
per gegen Sars-CoV-2 nachweisen lassen.
Stöckers Privatlabor kooperiert noch im-
mer mit seinem ehemaligen Unternehmen,
deshalb ist er über jede neue Entwicklung
gut informiert.
Rafael Heygster / DER SPIEGEL
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Rafael Heygster / DER SPIEGEL
liche Genehmigung bitten« wollen, wie er senschaftler und bot an, Neutralisations- bisher gemessenen Immunantworten ge-
sagt. »Stattdessen habe ich mir ein auf dem tests durchzuführen. Durch sie kann über- gen Sars-CoV-2.«
Euroimmun-Konstrukt basierendes re- prüft werden, ob sich tatsächlich spezifi- Drosten sagt dem SPIEGEL, er habe da-
kombinantes Antigen hergestellt. Wenn sche Antikörper gebildet haben, die in der mals »kollegialiter« Stöckers Serum auf
ich mich mit diesem Antigen immunisiere, Lage sind, das Coronavirus zu neutralisie- Antikörper getestet. Er legt aber Wert auf
bekomme ich Antikörper, die das Virus ren. »Insgesamt kann ich Ihren Selbstver- die Feststellung, dass er keine umfassende
daran hindern, sich an die Rezeptoren zu such gut nachvollziehen, aber man muss Befundung oder Begleitung von Stöckers
binden, sie können ihre Zielzellen nicht natürlich beachten, dass die Produktion Selbstversuch gemacht habe. Auf die Fra-
mehr infizieren.« eines Impfantigens sehr hohe Qualitäts- ge, ob eine klinische Studie mit dem Anti-
Es sei ein Verfahren, das sich schon bei ansprüche erfüllt, wenn man den Impfstoff gen sinnvoll wäre, schreibt der Virologe,
anderen Viruserkrankungen bewährt habe, vermarkten will«, schrieb Drosten. »Ha- dass sich ähnliche oder möglicherweise
sagt Stöcker. In die Schlagzeilen schaffen ben Sie denn Pläne, in eine wie auch im- auch identische Konzepte mittlerweile in
es derzeit vor allem neuartige Verfahren mer angedachte Antigenproduktion ein- klinischer Erprobung befänden.
wie die mRNA-Impfstoffe von Biontech/ zusteigen?« »Die Maske können Sie abnehmen«,
Pfizer und Moderna oder die sogenannte Stöcker antwortete, er wolle die Pro- sagt Stöcker bei der Marmeladenverkos-
Vektortechnologie, wie sie der britisch- duktion den Firmen überlassen, die darin tung am heimischen Esstisch, »wir können
schwedische Konzern AstraZeneca nutzt. mehr Übung hätten. »Aber ich würde die uns nicht mehr anstecken.« Denn mittler-
Wesentlich älter sind hingegen sogenannte Sache gerne beschleunigen und sowohl die weile habe er auch seine Frau und seine
Totimpfungen. Dabei werden dem Körper Unbedenklichkeit an einigen Freiwilligen Kinder mit dem Antigen gespritzt. Neben-
abgetötete Krankheitserreger oder Be- aufzeigen wie auch die Schutzwirkung an wirkungen habe keiner gehabt, sagt Stö-
standteile von Erregern gespritzt. Das Im- einem begrenzten Kollektiv von Exponier- cker, außer ein paar Reizungen oder
munsystem erkennt sie als fremd und bil- ten.« Drosten antwortete, er würde das Schmerzen an der Einstichstelle, aber alle
det Antikörper. Die gängigen Impfungen Ganze jetzt als »diagnostische Untersu- hätten die Impfungen gut vertragen.
gegen Polio oder Tetanus funktionieren chung sehen, weniger als einen Test einer Am 2. September wendete sich Stöcker
auf diese Weise. Impfstoff-Wirksamkeit«. Dazu müsse man an den Präsidenten des Paul-Ehrlich-Insti-
Im März und April vergangenen Jahres viel mehr machen. »Aber ich verstehe Ihre tuts (PEI), Klaus Cichutek. Die Behörde
spritzte sich der Mediziner das Antigen gute Intention und bin generell interessiert mit Sitz in Hessen ist unter anderem zu-
insgesamt viermal selbst in den Oberschen- zu sehen, wie die neutralisierende Ant- ständig für die Zulassung von Impfstoffen
kelmuskel. Am 8. Mai meldete Stöcker auf wort auf dieses Antigen aussieht.« und biomedizinischen Arzneimitteln.
seinem Internetblog: »ICH BIN JETZT Die Ergebnisse der Neutralisationstests Stöcker mailte dem PEI die Testergeb-
IMMUN GEGEN SARS-CoV-2!« waren eindeutig: Die Immunisierung hatte nisse und schrieb: »Sehr geehrter Herr Prof.
Mehrere Medien berichteten über Stö- funktioniert. Auch das Institut des Viro- Cichutek! Die Wucht, mit der uns Corona
ckers Selbstversuch. »Lübecker Unterneh- logen Hendrik Streeck in Bonn kam zu überrollt, erfordert ein unkonventionelles
mer spritzt sich Wirkstoff gegen Corona- ähnlichen Ergebnissen. »Wir haben Ihre Vorgehen.« Es könne umgehend mit einem
virus«, titelten die »Lübecker Nachrich- Proben analysiert. Wirklich sehr span- wirksamen Impfprogramm gestartet wer-
ten«. »Dieser Milliardär setzt sich selbst nend!«, schrieb Streeck. »Die IgG/IgA- den. »Wir würden gerne Ihre Zustimmung
die Corona-Impfung«, schrieb »Bild«. Antworten sind recht hoch, und wir sehen dafür erlangen, dass wir umgehend diese
»Gefährlicher Selbstversuch mit Corona- im Plaque Assay eine unerwartet starke bagatellartige Immunisierung mit einer grö-
Impfung«, meldete RTL. Zahlreiche Men- Reduktion. Damit sind Ihre Neutralisa- ßeren Zahl Freiwilliger nachvollziehen, um
schen kontaktierten daraufhin den Unter- tionswerte im oberen Drittel der von uns festzustellen, ob es auch bei diesen keine
nehmer und boten sich als Freiwillige an. Nebenwirkungen gibt«, schrieb der Arzt.
Stöcker vertröstete sie – vorerst. Mit einem einzigen 2000-Liter-Reaktor
Stattdessen schickte er im Mai eine »Die Wucht, mit der uns könne man 35 Gramm Antigen pro Tag
E-Mail an Christian Drosten, den Chef- Corona überrollt, produzieren. »Das würde für 350 000 Per-
virologen der Berliner Charité. »Ich habe sonen reichen.« Stöcker bot an, nach Hes-
von Ihrem Selbstversuch in den Lübecker erfordert ein unkonven- sen zu kommen, »um diese Thematik zu
Nachrichten gelesen«, antwortete der Wis- tionelles Vorgehen.« erörtern«. Der Institutschef antwortete
GANGSTER
liche Beratungen von pharmazeutischen zustellen. Sein Mandant, argumentiert der
Unternehmern und Start-ups zuständige FDP-Politiker, habe keine klinische Prü-
Innovationsbüro des Instituts. Was in fung durchgeführt. Er habe vielmehr das
von dem Gespräch verabredet wurde – da- Antigen im Rahmen »individueller Heil-
NEBENAN
rüber gehen die Aussagen auseinander. versuche« gespritzt. Daher habe er auch
Stöcker jedenfalls erwartete, dass sich keine Herstellungserlaubnis benötigt.
das Paul-Ehrlich-Institut wieder bei ihm Da Professor Stöcker die Substanz nur
melden würde. sich selbst und seinen Patienten auf deren
Stattdessen erhielt Stöcker Anfang Wunsch und nach entsprechender Aufklä-
Dezember eine Vorladung vom Landes- rung verabreicht habe, sei ihm arzneimit-
kriminalamt Schleswig-Holstein. Gegen telrechtlich kein Strafvorwurf zu machen,
ihn laufe ein Ermittlungsverfahren wegen schrieb Kubicki an die zuständige Staats-
Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz, anwältin. Professor Stöcker habe gegen-
teilte der zuständige Kriminalhauptkom- über dem PEI lediglich seine wissenschaft-
missar mit. liche Idee kommunizieren und das Institut
Nachdem er über seinen Anwalt Akten- veranlassen wollen, dieser Idee zum
einsicht beantragt hatte, kam heraus, dass Durchbruch zu verhelfen. »Warum das
ihn Cichutek selbst gemeldet hatte. Fünf Paul-Ehrlich-Institut nicht auf den Wunsch
Tage nachdem das Institut Stöckers E-Mail nach Kontaktaufnahme reagiert hat, son-
erhalten hatte, schrieb der PEI-Präsident dern mit einer Strafanzeige«, so Kubicki,
an das Landesamt für soziale Dienste »bleibt das Geheimnis des Paul-Ehrlich-
(LAsD) in Kiel: »Es besteht aus Sicht des Instituts.«
PEI der Verdacht strafbaren Handelns.« Eine Sprecherin des PEI allerdings weist
Das entwickelte Antigen sei »als Arznei- den Vorwurf zurück. Für die arzneimittel-
mittel, nämlich als Impfstoff gegen Co- rechtlichen Behörden bestünden »gegen-
vid-19, zum Einsatz gekommen«. Es be- seitige Unterrichtungsverpflichtungen«,
stehe der Verdacht, »dass hier eine klini- daher habe man das Landesamt für soziale
sche Prüfung mit diesem experimentellen Dienste in Kiel über Stöckers E-Mail in-
Arzneimittel stattgefunden hat – ohne zu- formiert. Stöcker sei von der Innovations-
352 Seiten, gebunden · 20,00 € vor die erforderlichen Genehmigungen abteilung darüber informiert worden, dass
Auch als E-Book erhältlich einzuholen«. die Durchführung einer klinischen Prüfung
Das LAsD erstattete daraufhin Strafan- ohne die erforderlichen Genehmigungen
zeige beim Landeskriminalamt. »Aus Sicht strafrechtlich relevant sei. Das Innova-
Kriminelle arabisch-stämmige des LAsD ist Eile geboten, da nicht ausge- tionsbüro habe Stöcker dann am 6. Januar
schlossen werden kann, dass weitere Her- per E-Mail angeboten, sein Konzept »im
Clans kontrollieren inzwischen stellungen und Impfungen, die evtl die Ge- Rahmen eines strukturierten Beratungsge-
in deutschen Großstädten sundheit der Probanden schwer gefährden sprächs« zu präsentieren. Dieses Angebot
ganze Stadtteile. können, durchgeführt werden«, hieß es. habe Stöcker abgelehnt.
Stöckers Anwalt ist der stellvertretende Stöcker sagt, das Angebot sei »viel zu
Polizei und Justiz sind FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki. Der spät« und deutlich nach der Strafanzeige
oft machtlos gegen Unternehmer hat ihn engagiert, als er ei- gegen ihn gekommen. Er vertraue dem In-
die um sich greifende Gewalt. nen Bolzplatz für seine Beschäftigten und stitut nicht mehr und glaube, dass man ihn
deren Kinder errichtete – eine Genehmi- ausbremsen wolle. »Wenn sich herausstellt,
Die SPIEGEL-TV-Reporter gung hatte er nicht abgewartet. Er musste dass mein Verfahren funktioniert, dann
Thomas Heise und ein Bußgeld von mehr als 50 000 Euro zah- sind die Patente der anderen hinfällig. Weil
Claas Meyer-Heuer len. Mit Regeln nahm es der Mediziner dann jeder einen Impfstoff herstellen
noch nie so genau. Zumindest, so sieht er könnte.«
recherchieren seit vielen Jahren es, wenn es um ein »höheres Gut« gehe. Stöcker will deshalb nicht mehr mit dem
live vor Ort, bei Razzien, Er wolle, sagt Stöcker, kein Geld verdie- Institut zusammenarbeiten, sondern die
Gerichtsverhandlungen und nen mit seinem Impfstoff. Er wolle ihn so Rezeptur für das Antigen ins Internet stel-
schnell wie möglich der Allgemeinheit zur len. Er hofft, dass Pharmafirmen es pro-
Beerdigungen. Ihr Buch gibt Verfügung stellen, deshalb sei er den un- duzieren. Ärzte könnten es dann ihren Pa-
exklusive Einblicke in konventionellen Weg gegangen. »Ich habe tienten verabreichen, natürlich nur im Rah-
die Machenschaften der Clans das mit Absicht in die Zeitung setzen las- men individueller Heilbehandlungen.
sen«, sagt er. »Ich wollte nicht, dass irgend- In dieser Woche seien auch die Ergeb-
und zeigt, was passieren muss, jemand ein Patent darauf anmeldet, und nisse der Tests an den mehr als 60 Freiwil-
damit der Staat die Kontrolle ich selbst hatte das auch nicht vor.« ligen gekommen, denen er das Antigen im
zurückerlangt. Dann senkt er die Stimme. Noch habe Dezember und Januar in mehreren Dosen
er nicht alle Corona-Experimente veröf- gespritzt habe. »Die banale Impfung war
fentlicht. Er habe das Antigen nämlich nahezu nebenwirkungsfrei und äußerst
nicht nur sich und seiner Familie gespritzt, effektiv«, sagt Stöcker. »Mehr als 90 Pro-
sondern auch weiteren hundert Freiwilli- zent hatten schützende Antikörper in ho-
gen. »Wenn die Ergebnisse bei denen auch her Konzentration entwickelt.«
so gut sind, dann haue ich mal richtig auf Christoph Schult
den Putz«, sagt er.
sind zwar in der Unterzahl. Doch weil die Die Umweltressorts sehen das anders und
nicht lockerlassen.«
In dieser Woche haben die Umweltres-
sorts wieder ein Schreiben verfasst, dies-
mal direkt an Julia Klöckner. Die Forde-
rung, erneut: eine gemeinsame Konferenz
zur europäischen Agrarpolitik.
Philipp Kollenbroich, Jonas Schaible
Traktor beim Pflügen: »Schlicht nicht zuständig«
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Deutschland
Impfzentrum im Kurhaus von Baden-Baden: »Experten müssten Fragen beantworten, wie sie in dubiosen Videos gestellt werden«
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zu einem akuten Fall von »false balance«, nicht alle das Ziel erreicht hatten. Erst als
einer falschen Ausgewogenheit in der die WHO eine Art Ranking erstellte, das
Berichterstattung. anzeigte, wie sich die einzelnen Länder
SPIEGEL: Was meinen Sie damit? im Kampf gegen Masern schlugen, war der
Betsch: Voraussichtlich würden dann jene Ehrgeiz deutlich stärker.
verstärkt zu Wort kommen, die Impfun- SPIEGEL: Wie ließe sich dieses Prinzip auf
gen grundsätzlich ablehnen. Und ihre Deutschland und Corona übertragen?
Ansichten würden in der Öffentlichkeit so Betsch: Ich denke an einen Stufenplan,
diskutiert, als stünden sie gleichberechtigt der Einschränkungen im öffentlichen Le-
neben dem wissenschaftlichen Konsens – ben vorsieht und sich an den Inzidenzwer-
Marco Borggreve
also dem übereinstimmenden Urteil zahl- ten und vielleicht an weiteren wichtigen
reicher Wissenschaftler über die Sicherheit Indikatoren orientiert. Wenn man dann
und den Nutzen von Impfungen. Wer Imp- im eigenen Ort immer noch nicht Pizza
fungen befürwortet, argumentiert auf der essen gehen darf, im benachbarten Land-
Basis dieses Konsenses, der auf den Impf- Impfexpertin Betsch kreis aber die Restaurants geöffnet haben,
daten beruht und ständig überprüft wird. »Jemanden abzuwatschen ist kein Weg« weil die Fallzahlen dort niedrig und die
Impfgegner hingegen ändern ihre Mei- meisten Einwohner geimpft sind, könnte
nung in der Regel nicht, auch wenn die schen impfen lassen, müsste dafür gesorgt das zu einem Anstieg der Impfbereitschaft
Daten ihren Ansichten widersprechen. werden, dass die Termine schnell verfüg- führen. Die Leute würden merken, dass
Aber auf die Öffentlichkeit wirkt es so, als bar sind und man nicht weit fahren muss. mögliche Lockerungen vom eigenen Ver-
hätte ihre vereinzelte Meinung die gleiche SPIEGEL: Momentan scheint die Frage halten abhängen – und nicht von einem
Aussagekraft. Das verunsichert Menschen. dringlicher, wo und wann überhaupt genü- Datum, das dann doch wieder verschoben
SPIEGEL: Soll das heißen, Sie plädieren gend Impfstoff zur Verfügung stehen wird. wird. Es gäbe ein planbares Ziel. Das mo-
dafür, Impfskeptiker gar nicht erst zu Wort Betsch: Dennoch darf man die Logistik tiviert und würde sich wohl auch positiv
kommen zu lassen? wegen der Lieferengpässe nicht hinten- auf die Akzeptanz der anderen Maßnah-
Betsch: Wäre ich für Talkshows oder die anstellen. Der Impfstoff wird kommen, men auswirken.
Gesprächssendung eines Radiosenders ver- und dann muss alles gut funktionieren. Das SPIEGEL: Ihre jüngste Umfrage zeigt, dass
antwortlich, würde ich sie eher nicht einla- trägt entscheidend dazu bei, dass die Impf- die Deutschen der Regierung derzeit so
den. Der Aufklärung ist nicht gedient, wenn willigen sich tatsächlich impfen lassen. wenig Vertrauen schenken wie noch nie
man Impfgegnern eine Bühne bietet. Men- SPIEGEL: Welche weiteren Ratschläge ha- seit Beginn der Pandemie.
schen mit Bedenken einfach abzuwatschen ben Sie an die Politik? Betsch: Ja, und das macht all solche Vor-
ist aber auch kein Weg. Daher müssten Ex- Betsch: Wenn der Impfstoff in ausreichen- haben nicht leichter. Es gibt jede Menge
perten Fragen beantworten, wie sie in du- der Menge verfügbar sein wird, kann ein Leute, die sich von der Regierung nicht
biosen, aber viel geklickten Videos gestellt bisschen mehr Wettbewerb nicht schaden. über Corona informieren lassen wollen,
werden. In unseren Umfragen geben die SPIEGEL: Von welchem Wettbewerb spre- weil sie sich bevormundet oder manipu-
meisten an, dass sie am liebsten durch chen Sie? liert fühlen. Das ist ein wirkliches Problem,
Rundfunkprogramme und von ihren Ärz- Betsch: Man könnte sich zunutze machen, denn sämtliche Erkenntnisse über die Si-
ten über Corona-Impfungen informiert wer- dass niemand gern als Versager dastehen cherheit der Impfung und den Nutzen der
den wollen. Dort sollten sie Antworten fin- will. Als die Mitgliedsländer der Weltge- anderen Maßnahmen laufen zuerst bei der
den. Außerdem müsste man bekannter ma- sundheitsorganisation (WHO) vereinbar- Regierung zusammen und werden momen-
chen, dass Impfen ein sozialer Vertrag ist. ten, die Masern auszurotten, verpflichte- tan fast ausschließlich von ihr verkündet.
SPIEGEL: Inwiefern? ten sie sich auf ein Erfolgsdatum, das dann SPIEGEL: Wer sollte stattdessen sprechen?
Betsch: Wir profitieren alle davon. Man aber mehrfach verschoben wurde, weil Betsch: Vereinsvorsitzende, Spitzensport-
vereinbart mit einer Impfung ja gewisser- ler, Religionsgemeinschaften, Arbeitgeber.
maßen, dass man sich gegenseitig vor einer Im Grunde Angehörige aller gesellschaft-
Ansteckung schützt. Und wenn man sich Schwankende Impfbereitschaft lichen Gruppen. Viele sitzen bislang die
an diesen Vertrag nicht hält, bringt das Anteil der Befragten in Deutschland, die … Zeit bis zu den Lockerungen ab oder
nicht nur eine möglicherweise tödliche ... bereit sind, sich gegen das Coronavirus suchen nach Schlupflöchern, um ihre
Krankheit, sondern auch soziale Unruhe impfen zu lassen Interessen zu wahren. Auch da würde ein
in eine Gesellschaft. Noch immer ist einem ... für eine Corona-Impfpflicht sind Stufenplan hoffentlich bewirken, dass alle
Drittel der Bevölkerung nicht bewusst, dass 80% mehr an einem Strang ziehen.
Corona durch Aerosole übertragen werden SPIEGEL: Wäre eine Impfpflicht eine Al-
kann. Wenig bekannt ist außerdem, dass ternative?
inzwischen immer mehr jüngere Menschen 60 61 % Betsch: Die sollte zu den letzten Mitteln
mit Covid-19 auf den Intensivstationen lie- der Politik gehören. Zahlreiche Menschen
gen. Wer all das weiß, wird empfänglicher setzen eine Impfpflicht mit einem elemen-
für den Nutzen einer Impfung. Und es ist 40 taren Eingriff in ihre Freiheitsrechte gleich.
wichtig, die Ärzte jetzt in ihrer Rolle als Und nach allen Erkenntnissen kann sie so-
Aufklärer zu unterstützen. Es ist aber wohl 42 % gar dazu führen, dass sich Menschen dann
nicht damit getan, sie mit Broschüren fürs 20 aus purem Ärger weniger an die anderen
Wartezimmer auszustatten. Regeln zum Schutz vor einer Ansteckung
SPIEGEL: Sondern? halten. Deswegen wäre ich als Politiker in
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Betsch: Es könnte sinnvoll sein, dass sie dieser Frage sehr zurückhaltend und wür-
es mit den Krankenkassen abrechnen kön- 14. 21. 27. 26. de mich vielmehr dafür interessieren, was
nen, wenn sie Fragen zur Corona-Impfung April Juli Oktober Januar Leute davon abhält, sich impfen zu lassen.
Zwischen dem 19. Mai und dem 9. Juni wurde keine Zustimmung zu einer
beantworten. Und wenn man erreichen Impfpflicht erfasst; Quelle: Cosmo Covid-19 Snapshot Monitoring; Interview: Katja Thimm
möchte, dass sich möglichst viele Men- Onlinebefragung; rund 1000 Befragte zwischen 18 und 74 Jahren
50
wahrten, glaubten die Māori, blieben sie mit ihren Ahnen in
Eine Meldung und ihre Geschichte
Kontakt.
Ferkelzüchter Hansen
52
W
er über Schweinezüchter Die Zahl der Veganer nig & kernig«), sagt: »Hier im Landkreis
schreiben möchte, muss vor- gibt es mehr Millionäre pro 1000 Einwoh-
sichtig sein. Das Ansehen die- in den Bauernschaften ner als in Hannover.«
ses Berufes – Max Hansen dürfte sich an der Die Zahl der Veganer in den Bauern-
würde sagen: dieser Berufung – liegt hier- schaften dürfte sich allerdings an der Nach-
zulande irgendwo zwischen Salafist und Nachweisgrenze bewegen. weisgrenze bewegen. Wer hier aufwächst,
Kinderschänder. der wird über die Existenz einer »Gülle-
»Ich sach mal«, sagt Hansen, »das sind Andere Kinder erinnern sich an den Ur- Börse« in Vechta nicht staunen, der spricht
wohl Welten, die sich da gegenüber- laub auf Amrum, das Buddeln mit den El- wie selbstverständlich von »Abferkeln«
stehen.« tern. Max Hansen bekam in jener Nacht und »Deckställen«, von »Gesäuge« und
Feindlich und verständnislos: die Welt erstmals eine Ahnung davon, dass Land- »Aufziehleistung«, von »Saugferkelver-
der »Tierproduktion« und die Welt derer, wirtschaft nichts mit Bullerbü zu tun hat. lust« und »Vollwertschwein«.
die allein bei diesem Wort schon Gänse- »Wenn du Spaß an der Sache hast, dann Wenige hier werden im Zusammenhang
haut bekommen. Wenn überhaupt, dann mach es, habe ich ihm immer gesagt«, er- mit Ferkelmast von »Qualhaltung« und
begegnen sich die zwei Welten nur bei Lidl, zählt Wolfgang Hansen, der Vater, 68. Schwei- »herausgequetschten Hoden« reden oder
an der Kasse. nemäster aus Überzeugung, bisher vier- sonstige Gruselwörter verwenden. Unter
Auch wer über Schweinezucht reden mal Urlaub gemacht im Leben, zweimal »wachstumswilligen Schweinehaltern« (so
möchte – und Max Hansen möchte das, Berlin, einmal Hamburg und dann die paar heißt es im Verbandsorgan »Schweine-
weil es so, wie es ist, ja auch nicht weiter- Tage auf Rügen: »Geschenk vom Sohn.« zucht und Schweinemast«) ist das, was mit
geht –, muss vorsichtig sein. Keinen Na- Es ist immer noch derselbe Hof, hinter den Sauen gemacht wird, »Kastenstand«;
men, kein Foto bitte, auf dem er zu erken- Birken am Ortsrand, natürlich wertig um- was mit ihren Ringelschwänzchen ge-
nen ist. Nicht dass er was zu verbergen gebaut. Die Küche ist Design, der Tisch schieht, heißt »Kupieren«.
habe, aber: »Ich lass mir unseren Betrieb verwittertes Brett unter Glas. Auf der Zwei Welten, zwei Sprachen.
nicht von militanten Tierschützern blockie- Kochinsel stehen zwei Packungen Protein- Zur Dammer Landschaft gehört neben
ren oder sonst wie kaputt machen«, sagt präparat. Richtige Ernährung ist wichtig. den Dammer Bergen (146 Meter hoch)
er. Das Wort »Tierschützer« setzt Max »Künstliche Erzeugnisse des Menschen und dem See Dümmer ein Geruch, der bis-
Hansen, der in Wirklichkeit anders heißt, sind sie alle«, schrieb Alfred Brehm weilen schwer auf dem Land liegt. Was da
mit vier Fingern in Anführungszeichen. (»Brehms Tierleben«) über Schweineras- stinkt, heißt in Damme »Emission«.
Heimliche Aufnahmen, »Stallpornos« sen, »das stämmige Berkshire- wie das fett- Es sei doch so, sagt Max Hansen: Solan-
mit Nahaufnahmen aus der Kadavertonne leibige Harrisson- oder das quappliche ge jeder einen Misthaufen vor der Haustür
und sich mühsam aufstützenden Sauen, Zwergschwein; ein Kunstprodukt auch ist hatte und 80 Schweine hinterm Haus,
und schon kann er den Laden dicht- das Maskenschwein, in welchem die Laune habe der Geruch keine Sau interessiert.
machen. Sei im Emsland neulich wieder japanesischer Züchter ihren Ausdruck ge- »Jetzt stinkt es, weil in der ganzen Bauern-
vorgekommen. funden hat.« Brehm berichtete auch von schaft nur noch ein Stall steht.«
Damme im Landkreis Vechta, Südolden- rechnenden, buchstabierenden, jagenden Bereits im Jahr 1410 versuchten Städte
burg, ist gefühlt Deutschlands Schweine- und zum Dudelsack tanzenden Schweinen. wie Ulm, die Zahl der Schweine pro Ein-
hauptstadt. In Damme kommen auf jeden Vom Schwein als Glied einer Produktions- wohner zu begrenzen. Nur eine Stunde zur
Einwohner statistisch 21 Schweine, also kette konnte er noch nichts wissen. Mittagszeit durften die Tiere frei in der
Sauen, Ferkel und Mastschweine. Max Südoldenburg war früher eine Sorgen- Stadt herumlaufen. Heute heißt das »Emis-
Hansen ist hier vor 32 Jahren geboren. gegend unter den ländlichen Regionen sionsradius«. Heute sagt Max Hansen: »Ich
Eine seiner Kindheitserinnerungen ist Deutschlands, mit mageren Böden und kann den Betrieb ohne teure Filtertechnik
ein früher Morgen im März 1993. Da wa- Schweineställen, die nach dem Krieg erst nicht vergrößern, weil ich sonst über den
ren so komische Geräusche im Hof: »Ich mal zu Unterkünften umgebaut wurden, Emissionsradius hinausschießen würde.«
bin ins Schlafzimmer der Eltern, aber die für die Vertriebenen aus Pommern. Mit Der Boden in Niedersachsen ist mit
waren nicht da. Dann bin ich nach unten dem Marshall-Aufbauplan kamen Mais Gülle getränkt. 30 Prozent der Agrarfläche
gegangen. Wir haben im ersten Stock ge- und Milokorn in die Bremer Häfen, Mast- sind als rote Zone ausgewiesen. Das heißt,
wohnt, unten lebten die Großeltern. Da futter, später auch Maniok dass die Landwirte vom
wurden die Tiere auf den Hof getrieben. aus Westafrika, eine leicht kommenden Jahr an dem
Das Bild habe ich nie vergessen.« gebogene Wurzel, die in Boden aktiv Stickstoff ent-
1993 begannen die Jahre der Schweine- Damme »Pimmel« hieß.
Preisschlacht ziehen müssen. In betroffe-
pest. Die Kleinbauern schlos- Preise je Kilogramm Schweine- nen Gebieten muss 20 Pro-
fleisch in Deutschland, in Euro
»Alles, was Mastschwein war, wurde tot- sen Mastverträge ab. Sie zent weniger gedüngt wer-
Quellen: AMI, BLE
geschlagen.« Es ist Wolfgang Hansen, kauften Ferkel auf Kredit, den, den Rest sollen sich
Max’ Vater, der jetzt weitererzählt, die mästeten sie mit Dorsch- 7,19 die Pflanzen aus den Alt-
für
beiden sitzen beim Bier am Küchentisch. mehl, Maniok, Weizen- Verbraucher lasten im Erdreich holen.
6,07
»Rausgetrieben auf einen großen Platz, kleie. Und weil die Deut- »Gülle ist erst mal ein
und da waren Kolonnen von Russen, die schen nicht mehr hungern, Naturprodukt«, sagt Han-
die Tiere mit Elektrozangen getötet haben. sondern satt sein wollten, sen dazu, und wenn man
Das ging drunter und drüber. Die erste war in den Achtzigern das so sieht, »dann ist
Lage lag da, und die anderen wurden da- das ganze Südoldenburger 4,74 Differenz 5,97 das nur ein Verteilungspro-
rüber hergejagt. Das ging einem so was Land satt und prall, in blem. Es gibt Gegenden,
von an die Nieren. Man hat die Tiere ge- den Ställen und außerhalb. wo Gülle fehlt«. Deswe-
füttert und gepflegt im Stall, und dann alle So prall, dass Bernhard gr. für gen gibt es im Landkreis
mit dem Radlader rein in den Container.« Austing, ein Freund der 1,33 1,22 auch die »Gülle-Börse«,
Erzeuger
Er räuspert sich. »Also das kann man sich Familie und außerdem mit Charts wie beim Dax.
gar nicht vorstellen. Wir haben die Kinder Chef des Mischfutterwerks Dezember Dezember
Er habe nichts zu verber-
dann weggeschickt.« Austing (»100 Jahre kör- 2014 2020 gen, sagt Max Hansen. Er
55
der nicht mehr weiterkann. Die Familien-
betriebe gäben auf, sagt er, auch weil
sie mit den Vorschriften, Dokumenta-
tionen, Stoffstrombilanzen überfordert
seien. »Und wenn ein Großer aufgibt, wird
er von einem noch Größeren übernom-
men. Sodass die Strukturen immer größer
werden.«
Man macht also weiter und hofft, dass
der Markt sich erholt, man rennt und
ackert, weil es bisher stets weitergegangen
ist. »Es wird immer Leute geben, die
Schwein essen und sich kein Biofleisch leis-
ten können«, sagt sich Hansen, wenn er
merkt, dass die Zeit ihm entgleitet. Wird
schon, sagt er sich. Der Betrieb ist groß ge-
Für viele andere Familien aber sieht es schlecht aus mit dem
Die Ferienfluglinie Condor plant weite- drängt werden. Nach Ansicht der Condor- tet. Eine Condor-Sprecherin will sich zu
re juristische Schritte gegen die Lufthansa. Führung geschieht genau dies. Im Novem- der Darstellung nicht äußern, bestätigt
Condor-Chef Ralf Teckentrup will bei ber hatte die Lufthansa überraschend aber, man prüfe »alle juristischen Optio-
der EU-Kommission gegen die milliarden- einen langjährigen Vertrag über Zubrin- nen«. Bisher kamen sich die beiden Flug-
schwere Staatshilfe der Bundesregierung gerflüge für ihre einstige Ferienflugtochter gesellschaften kaum in die Quere, weil
für den Konkurrenten intervenieren. Brüs- gekündigt. Damit drohe eine marktbeherr- die Lufthansa vor allem auf Geschäftskun-
sel hatte die Lufthansa-Hilfen im Sommer schende Stellung der Lufthansa bei tou- den setzte. Da das Segment einbricht, will
2020 nur unter der Bedingung genehmigt, ristischen Fernstrecken. Teckentrup hat das Unternehmen künftig mehr Urlaubs-
dass kleinere Wettbewerber nicht ver- bereits das Bundeskartellamt eingeschal- ziele ansteuern. DID, GT, MGB
Medien hatte der Tageszeitung »Junge »Panikschleudern in Sachen Kollegen anlege. Ähnlich
Ärger von rechts Freiheit« ein Interview gege- Corona«. Beim Sender zeigt äußert sich ein Sprecher des
ben, in dem er seinen Arbeit- man sich angesichts der Äuße- Deutschlandradios, wo Ullrich
Der Südwestrundfunk geber scharf kritisiert. Unter rungen irritiert. Zwar gebe es gelegentlich eine Presseschau
(SWR) und das Deutschland- anderem klagte er über die »keinen Anlass, an der journa- moderiert. Ein fairer und rück-
radio haben Schwierigkeiten »Dummheit und Charakter- listischen Integrität von Mül- sichtsvoller Umgang sei die
mit einem langjährigen freien losigkeit« vieler Kollegen und ler-Ullrich zu zweifeln«, aller- Basis für eine interne Diskus-
Mitarbeiter. Burkhard Müller- die »zunehmende Gleich- dings entsprächen die durch sionskultur. »Dieser respektvol-
Ullrich, seit mehr als 30 Jah- geschaltetheit« der Rundfunk- das Interview ausgelösten le Umgang ist in den aktuellen
ren Moderator der Diskus- räte. Vor allem die öffentlich- »Suggestionen« nicht den Stan- Äußerungen von Herrn Müller-
sionssendung »SWR2 Forum«, rechtlichen Medien seien dards, die der Sender an seine Ullrich nicht zu erkennen.« RAI
59
SOPA Images / Zuma Wire / action press
Demonstranten von »Re-Occupy Wall Street« in New York City Ende Januar: »Wenn wir gewinnen, wird es für immer sein«
N
och ist nicht entschieden, wie das Achtfache des Startkapitals. Inspira- Motiviation: Sie wollten Hedgefonds wie
viele Verlierer dieser Zocker- tion für sein nächstes Investment fand er Melvin Capital eins auswischen, den sie
krieg hinterlässt, wer alles zu im Internetforum Reddit, Untergruppe zu ihrem Feind erklärt hatten, weil er auf
den Gewinnern zählt und wie es WallStreetBets (WSB). den Absturz der Aktie wettete. Auch
weitergeht. Max F.* aus Berlin zumindest Dort bespötteln Nutzer einander als Teenager Max erwarb GameStop-Anteile,
hat es richtig gemacht. Der 14-Jährige ist »Autisten« oder »Zurückgebliebene«, fach- im Wert von 15 000 Euro. Binnen Tagen
jetzt reich. Weil er rechtzeitig mitlief beim simplen über Wertpapiere und veröffent- ging ihr Wert durch die Decke. Ende
Sturm auf die GameStop-Aktie, aber klug lichen neben lustigen Videos auch ihre De- Januar trennte er sich wieder davon –
genug war, sich zurückzuziehen, bevor es potauszüge. Er habe etwas Geld übrig, und bekam dafür 260 000 Euro, wie er
wieder bergab ging. »Ich hatte Schiss, mich fragte der Gymnasiast in die Runde, was sagt. Wenige Tage später schmierte die
zu verspekulieren«, sagt er. tun? Etwa ein Dutzend Foristen empfahl Aktie ab.
Alles begann damit, dass seine Mutter ihm die Aktie des strauchelnden, aus ihrer Der GameStop-Coup der WSB-Ge-
voriges Jahr 2000 Euro in Bitcoin anlegte Sicht jedoch unterbewerteten Videospie- meinde wird in die Finanzgeschichte ein-
und ihm die Passwörter für das Depot gab. lehändlers GameStop. Ein Geheimtipp, gehen. Er führt vor, was geschehen kann,
Der Junge sollte sein erstaunliches Inte- der binnen Tagen zum Hype wurde. wenn Schwarmintelligenz auf dem Finanz-
resse für Geldanlagen ausleben. Als er das Weltweit rotteten sich WSB-Nutzer zu- markt ein gemeinsames Ziel entschlossen
Kryptogeld vor einigen Wochen wieder sammen und kauften sich bei GameStop verfolgt. Es war eine Umkehr der Macht-
veräußerte, erlöste er mit diversen Wetten ein, auf Profit hoffend oder weil sie Fans verhältnisse, zumindest für ein paar Wo-
der US-Filialkette sind. Ein beträchtlicher chen. Melvin Capital verspielte die Hälfte
* Name geändert. Teil von ihnen hatte noch eine andere seines Kapitals, andere Fonds mussten mit
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Wirtschaft
2,75 Milliarden Dollar unter die Arme raumte für den 18. Februar eine Anhörung losenunterstützung warten, die Börsen ver-
greifen. an, die sich mit dem »Raubtierverhalten« meldeten derweil Kursrekorde. Die Coro-
»Was in diesen Foren passiert, ist wun- der Hedgefonds beschäftigen soll. na-Hilfen, die dann doch noch bei den Leu-
dervoll«, sagt US-Börsenanalyst Michael Wer verstehen will, wer die Leute sind, ten eintrafen, hätten das Spielgeld für den
Pachter. Er schwärmt von einer »Demo- die Hedgefonds vor sich hertreiben, kann Sturm auf die Märkte geliefert, so Massa-
kratisierung der Finanzwelt«. Wirtschafts- mit Adrienne Massanari sprechen, Kom- nari. Und das Homeoffice die nötige Zeit.
ethiker Thomas Beschorner von der Univer- munikationswissenschaftlerin aus Chicago. Zu denen, die ihren Zorn nach außen
sität St. Gallen spricht von einem »Warn- Reddit ist ihr Spezialgebiet. Massanari hat tragen, gehört »keenfeed«, wie er sich auf
schuss für die Hedgefonds«. in dem Netzwerk zu toxischer Männlich- WSB nennt. Der Politikberater aus Kanada,
Andere Beobachter fürchten hingegen, keit und zu Onlinetrollen geforscht. der in seiner Freizeit Papageien und Rehe
die wütenden Kleinanleger könnten den »Es ist kein Zufall, dass diese Dinge ge- fotografiert, postete Ende Januar ein Video:
gesamten Finanzmarkt destabilisieren. Die rade hier passieren und gerade jetzt«, sagt Frauen im Cocktailkleid, Männer im Smo-
US-Aufsichtsbehörde SEC kündigte eine Massanari. »Es gibt eine große Wut auf king mit Fliege und mit Drink in der Hand,
Untersuchung an. Zu klären sei, ob es sich das System.« Begründet liege sie in der aufgenommen mutmaßlich während der
bei den Onlineabsprachen um eine verbo- Finanzkrise 2008, als Banken mit Milliar- Finanzkrise. Dazu schrieb er: »Vor 13 Jah-
tene Kursmanipulation handelte. den vor der Pleite gerettet wurden, wäh- ren: WallStreet Hedgefonds lacht und
Der Mythos jedenfalls ist schon geboren. rend Menschen massenhaft ihren Job ver- trinkt, während die Welt zusammenbricht.
Mehrere Produzenten haben angekündigt, loren. Das vergangene Jahr habe den Frust Nie VERGESSEN.« Er selbst habe vor vier
die Story verfilmen zu wollen. Wäre es verstärkt. Mitten in der Pandemie mussten Jahren an der Börse seine gesamten Er-
ein Thriller oder eher eine Gaunerkomö- Millionen Amerikaner auf ihre Arbeits- sparnisse verloren, erzählt er im Chat.
die? Die WSB-Foristen selbst posten Sze- Als er durch WSB von GameStop erfuhr,
nen aus dem Historienfilm »300«, in dem war »keenfeed« angefixt: »Zum ersten
300 Spartaner gegen Zigtausende Perser Voller Einsatz Mal konnte ich direkt gegen diese Männer
aufbegehren. So sehen sie sich: Klein gegen Das Ringen um die GameStop-Aktie in ihren Smokings kämpfen.« Er investierte
Groß, Hobbyanleger gegen Hedgefonds, und verkündete, es sei Zeit, Rache zu
Rebellen gegen Establishment. Eine schöne 1.
GameStop nehmen. Mitte der Woche schrieb er dem
Erzählung, aber zu simpel. Die Aktien des Videospiel- SPIEGEL, der Absturz der Aktie habe ihn
Unter den Neozockern finden sich nicht verkäufers fallen am tief in die roten Zahlen rutschen lassen.
3. April 2020 auf einen
nur Kapitalismuskritiker, sondern Glücks- Tiefststand von 2,80$. »Aber so ist es nun mal. Wenn wir gewin-
ritter, digitale Goldgräber sowie Nerds, die nen, wird es für immer sein. Wenn sie ge-
in der GameStop-Wette einen groß ange- Investoren winnen, werden wir damit klarkommen
legten Spaß sehen. Weil der Andrang auf 2. Investoren kaufen vermehrt müssen.«
die Aktie vielfältige Interessen bediente, Aktien. Der Kurs steigt bis Nicht alle GameStop-Neuaktionäre ver-
war die Masse leicht zu mobilisieren. Jahresende auf 18,84 $. stehen sich als Revoluzzer. Da ist der Stu-
Müssen sich die Börsen also auf weitere dent aus der Nähe von Hamburg, beken-
Flashmobs organisierter Wutanleger ein- nender Opportunist, der 30 Aktien für
stellen? Bringt die Kleinanlegerarmee gar Hedgefonds 800 Euro kaufte. 20 davon veräußerte er
den Finanzmarkt in Gefahr? Oder zerstreut Hedgefonds wetten nun gegen wieder mit einem Gewinn von 4000 Euro.
3. eine dauerhafte Erholung von
sie sich schnell, weil viele Mitläufer Geld Da ist der Leipziger Germanist, der aus
GameStop. Sie leihen sich
versenkt haben, seit die gepushte Aktie Aktien, verkaufen sie und hoffen, Shutdown-Langeweile ins Kleinanleger-
wieder abgestürzt ist? diese nach einem Kurseinbruch, tum stolperte und seine Anteile trotz des
Im politischen Washington jedenfalls den solche Verkäufe meist Kurseinbruchs behält, weil er »nicht so un-
schuf der Aufstand etwas, was es dort seit auslösen, billig wieder zurück- moralisch« sein will wie ein Hedgefonds.
Jahren nicht mehr gab: parteiübergreifen- kaufen zu können (Short-Seller). Dabei würde seine Freundin mit dem Geld
de Einigkeit. Kaum hatte Linken-Ikone lieber verreisen, sobald das wieder geht.
Alexandria Ocasio-Cortez Sympathien für 4. Kleinanleger Da ist der Inder, 20 Jahre alt, der in Du-
die Kleinanleger bekundet, twit- Im Internetforum Reddit bai lebt und sich auf WSB »exoticoptions«
werden diese »short«-Positionen
terte der erzkonservative republi- der Hedgefonds bemerkt. nennt. Vor ein paar Monaten habe er seine
kanische Senator Ted Cruz aus Te- GameStop-Fans und Börsen- Stelle bei einem Private-Equity-Fonds ver-
xas, der sonst gern gegen die »ra- kritiker verabreden sich, loren, sagt er im Chat. Die Aktiengewinne
dikale sozialistische Agenda« der Aktien und Optionen zu kaufen, seien gerade sein einziges Einkommen.
Demokraten hetzt: »Ich stimme um den Kurs durch die verstärkte Der GameStop-Streich war keine spon-
voll zu.« Beide wollen auf der rich- Nachfrage in die Höhe zu tane Aktion, sondern ein kalkulierter An-
treiben – und den Hedgefonds
tigen Seite der Geschichte stehen: bei den so ihr Geschäft zu verderben. griff. Was der Schwarm vollzog, war ein
kleinen Leuten und nicht beim Großkapi- Aufbegehren gegen Hedgefonds und deren
tal, an dessen Nutzen für die Gesellschaft Geschäftsmodell, auf den Niedergang von
inzwischen viele Amerikaner zweifeln. Firmen zu wetten. Die WSBler schlugen
Hedgefonds
Für die neue Regierung kommt der das System mit seinen eigenen Mitteln.
Der Kurs der Aktie steigt zeit-
GameStop-Coup zur rechten Zeit, sie 5. weise auf 347,50$, was einigen Es ist nicht das erste Mal, dass Nerds
plant ohnehin, die Finanzbranche stärker Hedgefonds hohe Verluste und Netzaktivisten die Wirtschaft auf-
zu regulieren. Die Vorfälle zeigten einmal beschert hat. Denn sie müssen schrecken. 2010 bekamen es Finanzdienst-
mehr, dass der Aktienmarkt »nicht spie- die geliehenen Aktien meist nach leister mit der Bewegung Anonymous zu
gelt, wie es den Arbeiter- und Mittelklas- kurzer Zeit an den Verleiher tun. Sie attackierte die Websites der Kre-
sefamilien geht«, ließ US-Präsident Joe Bi- zurückliefern – und dafür teurer ditkartenfirmen Visa und Mastercard so-
am Markt wieder einkaufen
den seine Sprecherin Jen Psaki erklären. als erhofft. wie der Bank of America. Als Vergeltung
Die Vorsitzende des Finanzausschusses im Kursangaben: jeweils Tagesschlusskurse,
dafür, dass die verkündet hatten, keine
Repräsentantenhaus, Maxine Waters, be- Quelle: Refinitiv Datastream Spenden mehr an die Whistleblower-Platt-
form Wikileaks weiterzuleiten. Zuletzt wa- gen gierige Hedgefondsmanager geht. Un- weiß, was passiert, wenn Menschen viel
ren Twitter-Shitstorms ein beliebtes Mittel, terschlagen wird dabei gern, dass Game- Geld verlieren.« Vielleicht hilft es, die
Unternehmen schlecht dastehen zu lassen. Stop kein Underdog ist, so mau die Geschäf- Bewegung in einem größeren Zusammen-
Doch diesmal geht es um mehr als die Re- te zuletzt auch liefen. Immerhin gehören hang zu sehen. So wie es Martin Gurri tut.
putation von Konzernen. Es geht um Geld. die Vermögensverwalter BlackRock und Der US-Medientheoretiker stellt WSB
Um Macht. In Teilen wird auch ein Kampf Fidelity zu den Hauptgesellschaftern. Und in eine Reihe mit weiteren Revolten der
der Generationen ausgetragen. Die WSB- wie erste Einschätzungen zeigen, zockten jüngsten Vergangenheit. »Black Lives Mat-
Community setzt sich vorwiegend aus Mil- Anleger mit großen Budgets ebenfalls ter«. QAnon. Dem Sturm aufs Kapitol. Es
lennials zusammen, Mitte-20- bis -40-Jäh- munter mit. Dem Hedgefonds Senvest Ma- seien weniger gemeinsame Pläne, die jede
rigen. Sie treffen Anlageentscheidungen nagement bescherte das laut »Wall Street dieser Bewegungen zusammenhalten, son-
nicht beim Sparkassenberater, sondern Journal« 700 Millionen Dollar Gewinn. dern Slogans, sagt Gurri. Ihre Haltung sei
richten sich nach Leuten wie »DeepFu- Das reale Börsengeschäft ist zu kom- es, dagegen zu sein. »Sie greifen Institutio-
ckingValue«, einem Mann von 34 Jahren, plex, um immer sauber zwischen Guten nen an, setzen an deren Stelle aber nichts
der ein rotes Stirnband trägt und eigentlich und Bösen trennen zu können. Zwischen Neues.« Beim Sturm auf das Kapitol
Keith Gill heißt. Monatelang postete der die Fronten geriet etwa das Gebaren von posierten die Eindringlinge an Schreibti-
Finanzexperte auf WSB nichts anderes als populären Trading-Apps wie Robinhood, schen von Abgeordneten und machten
Screenshots seines Investmentportfolios, Drohgesten, darin erschöpfte es sich. Ähn-
in dem sich nur ein einziges Unternehmen lich sei es bei GameStop: »Sie haben keine
befand: GameStop. Es geht um Geld. Um Forderungen, keine kohärente Ideologie.
Bereits im Sommer 2019 kaufte er Ak- Macht. In Teilen wird Deshalb hat diese Bewegung auch keine
tien, zunächst 50, dann 200, ein halbes Hoffnung.«
Jahr später waren es 1000. Gill hatte einen auch ein Kampf der Der Frankfurter Wirtschaftswissen-
Narren an GameStop gefressen. Weniger Generationen ausgetragen. schaftler Andreas Hackethal glaubt sogar,
aus nostalgischen Gefühlen, sondern weil sie sei bereits am Ende, nachdem Anleger
er in dem Investment enormes Potenzial hohe Verluste hinnehmen mussten. »Die
sah. »Du solltest verkaufen«, appellierten über die viele WSB-Nutzer ihre Käufe ab- Party ist vorbei, weil keine Massen an neu-
andere Nutzer. Gill weigerte sich, seine wickelten. Die locken insbesondere junge en Käufern mehr nachkommen werden.«
Posts markiert er mit YOLO, der Abkür- Nutzer mit ihrem kostenlosen Angebot, Es sei nur eine Frage der Zeit, bis der
zung für »You Only Live Once«, man lebt saugen dafür aber deren Daten ab, die sie GameStop-Kurs ins Bodenlose falle. »Das
nur einmal. unter anderem an Hedgefonds verkaufen. war bisher bei jeder Spekulationsblase so.«
Im Juli vorigen Jahres begann er, live Doch Robinhood fiel seinen eigenen Und wenn sich der Schwarm einfach ein
aus seiner Wohnung zu senden. In You- Kunden in den Rücken und schränkte auf nächstes Ziel sucht? »Ein zweites GameStop
Tube-Videos, in denen er im Katzenshirt dem Höhepunkt des Börsenspektakels den wird es nicht geben«, sagt Hackethal. Eine
Excel-Tabellen erläutert, nennt er sich Handel mit GameStop- und weiteren Ak- erneute Mobilisierung gelinge der Commu-
»Roaring Kitty«, brüllendes Kätzchen. Früh tien massiv ein. Erst da schien den Anle- nity nicht, weil die Plattformen leicht von
äußerte er die Hoffnung auf einen Short gern bewusst zu werden, dass dieselben Profis zu unterwandern seien. »Längst
Squeeze, die Angebotsknappheit eines Hedgefonds, die auf den Niedergang von durchkämmen vermutlich Hedgefonds Red-
Wertpapiers, das zuvor in großer Zahl leer- GameStop gewettet hatten, Geschäftspart- dit-Foren oder befüllen sie selbst.« Schon
gekauft wurde. Die Debatte begann. ner von Robinhood sind. Ihre Wut wuchs. der Versuch der WSB-Community, die Game-
In den folgenden Monaten waren auf Und nun? Wissenschaftlerin Massanari Stop-Geschichte Anfang der Woche mit dem
WSB nicht nur Diagramme und Analysen sieht WallStreetBets an einem riskanten angeblich stark unterbewerteten Rohstoff
zu finden, sondern zunehmend Verach- Punkt angelangt: »Manche Leute in die- Silber zu wiederholen, gestaltete sich schwie-
tung für Hedgefonds. Das Forum radikali- sem Forum glaubten offensichtlich, man rig. Tatsächlich stieg der Silberpreis auffal-
sierte sich. Ende Dezember schrieb je- könne diese Aktie bis in die Unendlichkeit lend stark, die Aktien großer Minen legten
mand: »Lasst uns Melvin Capital zerstö- treiben.« Die Frage sei, was geschehe, binnen 24 Stunden um rund 20 Prozent zu.
ren.« Im Januar rief ein User namens »gar- wenn ihnen klar wird, dass das eine absur- In der Community wurde das neue Ziel
deeon« zu den Waffen: »Macht die Trup- de Vorstellung ist. Werden sie aggressiver, dann allerdings kontrovers diskutiert und
pen bereit, meine Brüder.« Wenige Stun- greifen sie zu härteren Mitteln? »Niemand sorgte für erste Verschwörungserzählungen.
den später würden die Märkte GameStop Denn diesmal sind Hedgefonds, die auf
»nicht nur zum Mond tragen«, sondern bis einen Anstieg des Silberpreises gewettet ha-
ans »Ende des fucking beobachtbaren Uni- ben, mit von der Partie; darunter die Finanz-
versums«. Er war einer von vielen Nut- firma Citadel, die Melvin Capital nach dem
zern, die zum Angriff bliesen. GameStop-Debakel aus der Patsche half.
Der Kurs der GameStop-Aktie stieg. Citadel besitzt sechs Millionen Anteile
Die Taktik der WSB-Armee brachte die am Ishares Silver Trust sowie Beteiligun-
Shortseller in Bedrängnis, jene Fonds, die gen an mehr als einem Dutzend weiteren
mit Leerverkäufen auf einen sinkenden Silberfonds und Minen. Durch den Silber-
Kurs setzten. Sie leihen sich eine Aktie, Push der Wallstreet-Wetter holte der
um sie danach sofort wieder zu verkaufen. Hedgefonds einen Teil seiner Verluste aus
Fällt der Kurs wie erwartet, können die der Vorwoche wieder herein.
Shortseller die Aktie für weniger Geld zu- Am Ende, so scheint es auch diesmal,
rückkaufen. Die Differenz ist ihr Gewinn. gewinnt immer das Kapital.
Wenn eine mit Mobiltelefonen bewaff- Patrick Beuth, Michael Brächer, Henning
nete Horde Millennials Kurse bewegt und Jauernig, Janne Knödler, Alexander Kühn,
Anleger weltweit zum Mitmachen moti- Anton Rainer, Marcel Rosenbach, Stefan
viert, mag das sympathisch wirken. Zumal Finanzexperte Gill Schultz, Ines Zöttl
wenn es vermeintlich um den Kampf ge- »Man lebt nur einmal«
D
ie Hoffnung entsteht zwischen bestellt. Vielleicht dauere es etwas länger, wirtschaft: zusätzliche Pharmaproduktion
dem Naturfreundehaus Stein- alle zu impfen, wie die Bundeskanzlerin per Dekret. Und sogar EU-Kommissions-
kautenhütte und dem Mauso- diese Woche erklärte, bis Ende September präsidentin Ursula von der Leyen, die für
leum von Emil von Behring: eine sollte eine erste Impfung für alle indes mög- das Beschaffungsdebakel der EU in der
Handvoll Fabrikhallen und Verwaltungs- lich sein. 323 Millionen Dosen sollen es Kritik steht, schlägt die Umwidmung be-
gebäude am Stadtrand von Marburg, man- werden, insgesamt, bis Ende des Jahres. stehender Produktionsstätten mit Geld aus
che von ihnen sind mehr als hundert Jahre Vermutlich. dem EU-Haushalt vor.
alt. Damals wurden darin noch die ersten Dabei haben die vergangenen Wochen Aber sollte sich der Staat tatsächlich
Ampullen gegen Tetanus abgefüllt. Nun gezeigt: Die Wahrscheinlichkeit, dass es direkt einmischen? Bundesgesundheits-
errichtet Biontech hier eine neue Impfstoff- immer wieder zu Rückschlägen bei der minister Jens Spahn hätte es lieber, dass
produktion. Ab März sollen jeden Monat Vakzine-Entwicklung kommt, ist hoch. die Unternehmen selbst für den nötigen
rund 70 Millionen Dosen das Werk ver- Lieferschwierigkeiten können dazu führen, Nachschub sorgen.
lassen. dass Millionen Dosen plötzlich ausfallen. Aus Sicht der Ökonomen wird es ganz
Die Anlage wurde in wenigen Monaten Immer schneller verbreiten sich mutierte ohne Staat nicht gehen. Er müsste die Her-
aufgebaut, ein Rekordtempo. Und wann Virusvarianten und könnten eine dritte steller motivieren, stimulieren, antreiben,
immer in diesen Tagen darüber diskutiert Dosis erfordern oder gar einen ganz neuen helfen. Ein bisschen Zuckerbrot, ein biss-
wird, wie Deutschland endlich an mehr Impfstoff notwendig machen. chen Peitsche.
Impfstoff kommt, dann nennen alle das Führende Ökonomen fordern daher »Ein Aufbau von Produktionskapazitä-
Werk in Marburg. Es könnte zur Blau- erweiterte Produktionskapazitäten, ange- ten ist extrem teuer«, sagt Marcel Fratz-
pause und zum Vorbild werden. schoben vom Staat. Es brauche ein Milliar- scher, Präsident des Deutschen Instituts für
Theoretisch. Praktisch fehlt es Europa deninvestment für mehr Fabriken, damit Wirtschaftsforschung. Solche Risiken ge-
an eigenen Produktionskapazitäten, um ge- Deutschland wenigstens zum Jahresende hen Unternehmen, zumal wenn sie an der
nügend Impfstoffe herzustellen, nicht nur sicher aus der Pandemie herauskomme. Börse notiert sind, nicht einfach ein.
für die ersten Monate, sondern auch für die Das hieße, den ohnehin strapazierten Wenn schon das erste Halbjahr nicht
zweite Jahreshälfte und die kommenden Staatshaushalt noch einmal zu belasten. mehr zu retten sei, so Fratzscher, müsse
Jahre. Das wird mit jeder Woche deutlicher. Andererseits kostet jeder Monat Pandemie der Staat jetzt wenigstens Versäumtes nach-
Daran ändert auch Marburg wenig. die globale Wirtschaft 420 Milliarden Euro. holen. »In diesem Fall ist es ein Irrglaube,
Seit Monaten aber hält die Bundesregie- Der CSU-Vorsitzende Markus Söder der Markt allein könne das schon richten.«
rung unverdrossen an ihrem immer glei- und Grünenchef Robert Habeck verlangen Die Meinungen darüber, wie der Staat
chen Credo fest: Deutschland habe genug deshalb unisono eine Art Not-Impfstoff- am besten helfen könne, gehen jedoch aus-
63
Pharmaindustrie Biontech-Vorstand Sierk Poetting fordert die Politik ben von Anfang an damit gerechnet,
dass es mit den USA schwierig werden
auf, die Impfstoffproduktion mit Geld anzuschieben. könnte, mit oder ohne Trump, wenn es
zu Abschottungen kommt. Also haben
»250 Gramm mehr Moleküle wir gesagt: Wir müssen auch woanders
bestellen, bauen und herstellen.
SPIEGEL: EU-Kommissionspräsidentin
sind eine Million Dosen mehr« Ursula von der Leyen hat vorgeschlagen,
mit Geldern aus dem EU-Haushalt den
Ausbau oder die Umwidmung bestehen-
der Produktionsstätten zu unterstützen.
Wie ernst nehmen Sie das?
SPIEGEL: Herr Poetting, Biontech und Poetting: Den Vorschlag müsste man prü-
sein Partner Pfizer haben diese Woche fen. Er könnte idealerweise dazu führen,
pünktlich zum Impfgipfel bekannt gege- dass mittelfristig Kapazitäten erhöht wer-
ben, die weltweite Produktion in diesem den könnten.
Jahr deutlich zu erhöhen, von 1,3 Milliar- SPIEGEL: Fürchten Sie, dass Materialien
den geplanten Dosen auf 2 Milliarden Do- aus den USA nicht mehr exportiert wer-
sen. Haben Sie kurzfristig ein halbes Dut- den, weil sich die Amerikaner erst mal
zend neuer Fabriken gebaut, oder wie ist selbst versorgen?
das möglich? Poetting: Es gibt eine Executive Order
Poetting: Das Produktionsziel haben wir von Donald Trump, die Joe Biden
Mitte Januar bekannt gegeben und diese aufrechterhalten hat. Sie sagt im Wesent-
Woche erneut bestätigt. Dafür haben lichen, dass der Impfstoff im Land bleibt.
wir im Herbst schon angefangen, eine Darüber hinaus gibt es den Defence Pro-
deutliche Ausweitung der Kapazitäten duction Act. Der sieht vor, dass bestimm-
zu planen. Wir haben uns gefragt: te Stoffe für heimische Unternehmen
Welche bestehenden Werke können wir priorisiert werden. Wir hätten damit bei-
ausbauen, wo können wir mit Partnern nahe Probleme gehabt, konnten die Liefe-
BioNTech
zusammenarbeiten, die Kapazitäten rung aber nach Europa holen. Es gibt
haben, was kann unser neues Werk in noch ein paar Materialien auf der Liste.
Marburg beitragen? Das musste alles Manager Poetting Wir stehen im Kontakt mit dem Kanzler-
zusammenkommen. »Der Bedarf wird größer« amt, um im Fall des Falles freie Bahn zu
SPIEGEL: Wie viele Dosen wird das haben.
Marburger Werk im Monat produzieren? lionen Dosen, die wir 2020 produziert SPIEGEL: Um welches Material handelt es
Poetting: 750 Millionen Dosen im Jahr, haben, waren das, was maximal möglich sich konkret?
also circa 65 bis 70 Millionen pro Monat, war. Auch mit Milliarden Euro und Poetting: Zum Teil um ganz Banales. Ste-
wenn die Fabrik richtig hochgelaufen ist. Tausenden zusätzlichen Mitarbeitern rile Plastiktüten zum Beispiel. Die sind
Damit wäre sie eine der größten Produk- wäre es nicht mehr geworden. Jetzt für eine bestimmte Produktion zugelas-
tionsstätten für mRNA-basierte Impfstoffe aber würde Geld helfen. Erst recht, wenn sen, ohne sie kann der Zulieferer nicht
in Europa. Bis zur vollen Leistung dauert wir für nächstes Jahr eine Kapazität von ohne Verzögerung arbeiten.
es aber noch einige Monate. drei Milliarden Dosen antizipieren sollen, SPIEGEL: Wo ist der größte Flaschenhals
SPIEGEL: Sind zwei Milliarden Dosen das wie es diese Woche bereits angefragt in der Produktion?
Maximum, oder könnten Sie im Sommer wurde. Poetting: Der wechselt. Derzeit sind es
noch mal aufstocken, auf dann vielleicht SPIEGEL: Wie könnte der Staat am besten zwei synthetische Moleküle. Hätte man
2,5 Milliarden Dosen? helfen? Rohstoffe vorfinanzieren? Oder nur 250 Gramm mehr davon, könnte man
Poetting: Erst mal rechnen wir für dieses sich mit Geld direkt am Aufbau von Fabri- eine Million Dosen mehr herstellen. Wir
Jahr mit den zwei Milliarden Dosen. Aber ken beteiligen? sollten also den freien Warenverkehr mit
ich glaube, wir müssen uns darauf vor- Poetting: All das würde natürlich helfen. Ländern außerhalb der EU sichern. Im
bereiten, dass der Bedarf größer wird. Es Nun ist die Politik gefragt. Es braucht zweiten Quartal werden weitere Lieferan-
gibt unterversorgte Länder, es könnte einen Ansatz, wie sich die Pharmaindus- ten ihre Kapazitäten hochfahren. Dann
eine dritte Impfdosis gegen mutierte Vari- trie in Europa aufstellen will. In den ver- entspannt sich auch hier die Lage.
anten des Virus notwendig werden, oder gangenen Tagen hatten wir dazu gute SPIEGEL: Was passiert, wenn der Impf-
es könnten sich ganz neue Mutationen Gespräche. stoff wegen Mutationen verändert wer-
entwickeln. Deswegen arbeiten wir daran, SPIEGEL: Sie denken an ein europäisches den muss: Braucht es dann einen ganz
weitere Standorte auszubauen und neue Zuliefernetzwerk? neuen Zulassungsprozess, der über Mona-
Partner in unser Netzwerk zu nehmen. Poetting: Ja, das wäre ein Weg, den wir te geht und erneut für Knappheit sorgt?
SPIEGEL: Würde es Ihnen helfen, wenn bereits verfolgen. Wir haben Pfizer als Poetting: Das ist noch nicht ganz klar
die EU oder die Bundesregierung nicht strategischen Partner dazugenommen, und abhängig von den Regulierungsbehör-
bloß die Abnahme der Impfdosen garan- weil wir wussten, dass wir es am Anfang den. Gut möglich, dass man eine kleine
tieren würden, sondern direkt in die Pro- nicht allein schaffen. Inzwischen haben klinische Studie machen muss, um die Si-
duktion investieren? wir ein Netzwerk mit 13 Produktions- cherheit nachzuweisen. Es kann aber
Poetting: Im vergangenen Jahr hätte uns partnern hochgezogen, mit Marburg als auch sein, dass der Impfstoff wie beim
mehr Geld nicht geholfen, weil wir den großer Produktionsstätte im Zentrum. Grippe-Vakzin ohne Studien angepasst
Produktionsprozess im großen Maßstab Das könnten wir weiter ausbauen zu werden kann.
erst sicher aufstellen mussten. Die 50 Mil- einem europäischen Netzwerk. Wir ha- Interview: Martin U. Müller, Thomas Schulz
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Wirtschaft
Ex-Führungskraft Schmidt vor dem VW-Stammwerk in Wolfsburg: In der Konzernhierarchie ein relativ kleines Rad
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Managerkollegen, er hat erst in diesem Freunde geschickt. Er schildert, wie er sich finanziell überfordern. Die Geldstrafe von
Herbst begonnen. Sowohl Stadler als auch im Alltag mit Mördern, Bankräubern und 400 000 Dollar, die er in den USA zusätz-
Winterkorn beteuern ihre Unschuld. Drogendealern arrangieren musste. lich zur Haft bezahlen musste, haben seine
Schmidt wurde belangt, weil er sich Monatelang schlief der VW-Manager in Ersparnisse weitgehend aufgefressen.
nicht wegduckte. Als die US-Behörden im einem 130-Mann-Saal, ehe er eine Zweier- Eine geplante außergerichtliche Eini-
Sommer 2015 die Zulassung neuer VW- zelle beziehen durfte. An Schlaf war kaum gung ist unlängst geplatzt – weil Schmidt
Modelle verweigerten, stellte er sich als zu denken, weil seine Mithäftlinge bis tief angeblich nicht bereit war, eine Verschwie-
Problemlöser zur Verfügung. Am 5. Au- in die Nacht lautstark Karten spielten und genheitserklärung zu unterzeichnen, die
gust sollte er der kalifornischen Umwelt- Domino-Spielsteine auf den Tisch knallten. VW-Anwälte von ihm gefordert haben
behörde Carb erklären, warum VWs Die- Der Knastalltag war ein krasser Kontrast sollen. Weder Schmidt noch VW wollen
selautos auf dem Prüfstand scheinbar sau- zu Schmidts Leben als VW- das laufende arbeitsrechtliche
ber, auf der Straße aber Dreckschleudern Führungskraft, in dem er zu- Verfahren kommentieren.
waren. Sie stießen teils das 40-fache der letzt rund 130 000 Euro pro Fest steht: VW hat keiner-
erlaubten Schadstoffgrenzwerte aus.
Schmidt war zu diesem Zeitpunkt am
Konzernsitz Wolfsburg stationiert, er hätte
die heiklen Gespräche einfach seinen zu-
ständigen Fachkollegen aus Wolfsburg
Jahr verdiente und Dienst-
wagen fuhr. Bei seiner Ver-
haftung musste er alle Wert-
sachen – Handy, Schlüssel,
Portemonnaie – an seine mit-
100
Beschuldigte
lei Interesse daran, dass der
prominent gewordene Ex-
Häftling hierzulande für wei-
tere Schlagzeilen sorgt. Der
Konzern will die Dieselaffäre
oder den USA überlassen können. Doch reisende Frau übergeben. Das führt die endlich abhaken. Da wäre
er erklärte sich bereit, persönlich an dem Geld für Einkäufe im Gefäng- Staatsanwaltschaft es hinderlich, wenn Schmidt
Treffen mit dem Carb-Verantwortlichen in nisshop – Burritos, Cheese- Braunschweig durch Talkshows tingeln und
Traverse City, Michigan, teilzunehmen. cakes, Freizeitkleidung – muss- im VW- einem Millionenpublikum sei-
Schmidt hatte, mit Unterbrechungen, te Schmidt selbst verdienen. Dieselverfahren. ne Leidensgeschichte erzählen
mehr als vier Jahre lang für VW in den Der Ex-Manager passte sich Quelle: Justiz Niedersachsen würde.
Vereinigten Staaten gearbeitet. Anderthalb schnell an. Schmidt program- Jeder Auftritt eines redseli-
Jahre als Teilnehmer des VW-Projekts mierte unter anderem Dreh- gen Ex-Managers erhöht für
»Moonraker«, das die Vorlieben von US- bänke und Fräsmaschinen in der Gefäng- VW zudem das Risiko, den Klägeranwäl-
Kunden erforschte, drei Jahre als Leiter niswerkstatt, brachte anderen Sträflingen ten frisches Futter zu bieten. Aktionäre
des konzerneigenen Technik- und Umwelt- die Bedienung der Geräte bei und repa- verlangen von dem Konzern milliarden-
büros in Michigan. In dieser Funktion hielt rierte Fahrräder. Sein Gefängnislohn, be- schweren Schadensersatz, weil er sie nicht
er Kontakt zu den Umweltbehörden, den richtet Schmidt nicht ohne Stolz, sei im rechtzeitig über den Skandal informiert
zuständigen Sachbearbeiter kannte er gut. Lauf der Jahre von 23 Cent auf 1,30 Dollar haben soll, was VW bestreitet. Selbst eine
Dass Schmidt bei dem Gespräch Un- pro Stunde gestiegen. In der Haft entdeck- öffentliche Verhandlung vor dem Arbeits-
regelmäßigkeiten einräumte, aber nicht te der Deutsche außerdem seine Vorliebe gericht wäre riskant, sollten sich beide Sei-
zugab, dass der Konzern eine illegale Ab- für Yoga, gegen Ende gab er sogar Kurse. ten nicht zuvor einigen.
schalteinrichtung eingebaut hatte, sollte Den Job hatte er von einem Mithäftling Tatsächlich will auch Schmidt die Ver-
ihm später zum Verhängnis werden. In der übernommen, der wegen Kidnapping und gangenheit schnell hinter sich lassen. Di-
Rechtskultur der USA wird die Vertu- Bankraubs einsaß. Er gibt sich geläutert: rekt nach seiner Entlassung hat er begon-
schung einer Straftat oft härter geahndet »Ich habe gelernt, worauf es wirklich an- nen, einen neuen Job zu suchen. Dabei
als das Vergehen selbst: »The cover-up is kommt.« geht der Ex-Häftling offen mit seinem Ma-
worse than the crime«, lautet ein gängiges Vor zwei Wochen hat Schmidt ein neues kel um. Als erster Punkt in seinem Lebens-
Sprichwort unter US-Juristen. Leben begonnen. Am 18. Januar bewilligte lauf steht »Inhaftierung«, von Januar 2017
Später gestand Schmidt, er habe den das Landgericht Lüneburg seinen Antrag bis Januar 2021, »Haftstrafe wegen Ver-
Begriff »Defeat Device« gegenüber der auf vorzeitige Haftentlassung auf Bewäh- schwörung zum Betrug und Verstoß gegen
Umweltaufsicht absichtlich nicht verwen- rung, zwei Tage später kam er frei. Die die Luftreinhaltegesetze der USA«.
det, weil er »vom VW-Management instru- vergangenen Monate hatte Schmidt in Erste Angebote branchenfremder Fir-
iert« gewesen sei, dies nicht zu tun. Das einem Gefängnis in Uelzen verbracht. Er men hat Schmidt schon erhalten. Doch er
Geständnis führte dazu, dass sich Schmidts darf sich jetzt wieder weitgehend frei be- will eigentlich zurück in die Autoindustrie.
Gefängnisstrafe von angedrohten, hypo- wegen, Zeit mit seiner Frau verbringen, An ihr hänge sein Herz, sagt er. Es müsse
thetischen 169 Jahren auf 7 Jahre reduzier- mit Freunden joggen gehen, soweit es die kein Autobauer sein, aber vielleicht ein
te, nach gut der Hälfte der Haftzeit wurde Corona-Regeln erlauben. Schmidt wohnt Zulieferer oder ein Job als Berater. Außer-
er nach Deutschland überstellt. in seiner alten Heimat nahe dem nieder- dem wolle er einen Verein gründen, der
Der VW-Konzern sagt zu Schmidts sächsischen Gifhorn, nur wenige Kilome- sich um Gefangene im Ausland und deren
Schilderungen, sie ließen sich »nicht voll- ter vom VW-Hauptsitz Wolfsburg entfernt. Angehörige kümmert.
ständig und zweifelsfrei rekonstruieren«. Bei der Wahl des Autos ist er seinem alten Noch ist sein Fall nicht ganz abgeschlos-
Daher könne man »die Richtigkeit der Arbeitgeber loyal geblieben: VW Polo, sen. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig
betreffenden Aussagen nicht bestätigen«. Baujahr 2002, 55 PS, Benziner. führt ihn nach wie vor als Beschuldigten.
Doch auch der damalige Vizechef der Ansonsten verbindet Schmidt nicht Theoretisch könnte Schmidt ein zweites
US-Behörde Carb, Alberto Ayala, hält mehr viel mit dem Konzern. Er wehrt sich Mal verurteilt werden, weil Deutschland
Schmidt nicht für den Hauptschuldigen: dagegen, dass VW ihm im Dezember 2017, mit den USA kein Abkommen hat, das eine
Er habe nur versucht, ein Problem für sein unmittelbar nach seiner Verurteilung, frist- Doppelbestrafung ausschließt.
Unternehmen zu lösen. los kündigte. Es geht um seinen Ruf – und Eine weitere Verhaftung in den USA hat
Mittlerweile spricht Schmidt nicht mehr um viel Geld. Schmidt dagegen definitiv nicht mehr zu
über Volkswagen und den Dieselbetrug, Schmidts Anwaltskosten summieren befürchten. Die dortige Justiz hat ein le-
aus juristischen Gründen. Seine Erlebnisse sich auf knapp vier Millionen Euro. VW benslanges Einreiseverbot gegen ihn ver-
im US-Knast hingegen hat er genau proto- hat das Geld zwar vorgestreckt, fordert es hängt. Simon Hage
kolliert und teils per Post an Familie und jedoch in Teilen zurück. Das könnte ihn
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Medien
Programm
manchmal so unkritisch, dass sich der Jour-
nalist Friedrich Küppersbusch – früher
selbst beim WDR – über »sechs scharfe Fra-
gen an Armin Laschet« in der WDR-Talk-
show »Kölner Treff« lustig gemacht hat.
Beispielsweise über diese: »Sind Sie des-
halb der beste Kanzlerkandidat möglicher-
weise, weil Sie mehr abwägen als andere?«
Die Düsseldorfer Landesregierung jeden-
falls hat im neuen WDR-Gesetz Gutes für
die Anstalt bewirkt. Statt, wie einst be-
schlossen, die Werbung im Hörfunk auf
60 Minuten zu reduzieren, darf der Sender
weiterhin 75 Minuten lang werben – und
das in zwei Programmen statt in einem.
»Landesrundfunkanstalt und Landesregie-
SPIEGEL TV
rung haben sich gut eingerichtet und ar-
rangiert«, sagt Volker Lilienthal, Journa-
listikprofessor der Universität Hamburg. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel (M.) bei Kapitulation in Berlin-Karlshorst 1945
In dieser harmonischen Beziehung wür-
den Journalisten wie Döschner offenbar
als »Störenfriede« wahrgenommen. SPIEGEL GESCHICHTE SPIEGEL TV WISSEN
Hat die NRW-Landesregierung selbst SAMSTAG, 6. 2., 20.15 – 22.45 UHR, SKY DONNERSTAG, 11. 2., 17.55 – 18.40 UHR, SKY
versucht, die Berichte zu stoppen? Die und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern
Staatskanzlei erklärt auf SPIEGEL-Anfra- Countdown zum Kriegsende
ge, es lägen »keine Informationen« zu Ge- Am 8. Mai 1945 kapituliert Adolf Die Abriss-Profis
sprächen zwischen Landesregierung und Hitlers Wehrmacht bedingungslos. Wenn Gebäude einsturzgefährdet
WDR-Intendanz am Tag vor der geplan- Die drei letzten Monate von Diktatur sind oder neuen weichen müssen,
ten Veröffentlichung von Jürgen Döschner und Krieg davor bedeuten Fanatis- schlägt die Stunde der Abriss-Profis.
vor. Der Austausch mit den Journalisten mus, Chaos und Massenmord, aber Das vermeintlich brachiale Gewerbe
gehöre zum Alltag. es zeigt sich auch Zivilcourage. benötigt Menschen mit Finger-
Jürgen Döschner wurde mittlerweile Die Sieger entdecken das Ausmaß spitzengefühl und Sachverstand.
zum Spartenkanal Cosmo versetzt. Früher der Verbrechen in den Konzentrations-
sendete der WDR täglich ein bis zwei Bei- lagern. Kindersoldaten sterben
träge von ihm, seit dem unerwünschten sinnlos, Flüchtlinge ertrinken in der
Videovorfall ist seine Stimme nur noch sel- Ostsee, Menschen verbrennen im DONNERSTAG, 11. 2., 20.15 – 21.45 UHR,
ten zu hören, Dienstreisen zu Recherchen Inferno des Feuersturms. RTL ZWEI
wurden abgelehnt.
Der Schlichtungsausschuss forderte den
Sender auf, für ihn eine »angemessene re-
daktionelle Anbindung« zu finden; Dösch- SPIEGEL TV
ner sei mit seinen »anerkannten Kompe- MONTAG, 8. 2., 23.15 – 0.00 UHR, RTL
tenzen im Bereich Energie und Umwelt«
auch »im Newsroom ein wertvoller An- Attilas Absturz
sprechpartner und Autor«. WDR-Inten- Der steile Weg vom Koch zum
dant Tom Buhrow wollte dazu keine Corona-Verschwörer
SPIEGEL TV
Stellung beziehen.
Wie Schönenborn auf den Journalismus Tödliche Spaßpille
aus seinem Haus blickt, zeigt eine interne Ecstasy ist vor allem bei Obdachloser Daniel in Hannover
»Programmpost«. Darin fordert er seine Jugendlichen lebensgefährlich
Mitarbeiter auf, künftig eine »Multiper- Hartes Deutschland –
spektivität« einzunehmen. Viele geäußer- Balkanroute 2.0 Leben im Brennpunkt
te Meinungen lägen nicht unbedingt in der Warum die EU-Gelder nicht bei den In der Messestadt Hannover kon-
Mitte der Gesellschaft, heißt es in seiner Flüchtlingen ankommen zentriert sich rund um den
Mail. Als Beispiel wählt er das Kohlekraft- Hauptbahnhof eine der härtesten
werk in Datteln, ein bis in die Bundesre- Drogenszenen der Republik.
gierung hinein umstrittenes Riesenprojekt. Crack, Kokain und Heroin – diese
»Wo ist der Kommentar, dass besser ein und andere Suchtmittel bestimmen
modernes Kohlekraftwerk wenig CO2 aus- das Dasein der Abhängigen am
stößt als viele ältere Kraftwerke viel?«, Rande der Gesellschaft. Sie sind
fragt Schönenborn. Welcher Kommentar obdachlos und ohne Perspektive,
erkenne an, dass die Bundesregierung ih- jeder Tag dreht sich nur um die
SPIEGEL TV
ren Klimazielen »viel näher gekommen ist Jagd nach dem nächsten Rausch.
als erwartet«? Sein »Durst nach neuen, Ein Kreislauf ohne Ausweg, ein
anderen Argumenten« sei groß. Grab einer Ecstasy-Toten Kampf ums Überleben.
Susanne Götze, Annika Joeres
Streit der Separatisten suchen noch immer den Konflikt mit Madrid, andere, wie die
linksrepublikanische ERC, haben sich gemäßigt und setzen
auf Dialog. Gut möglich, dass die Separatisten bei der Wahl eine
Analyse Bei der Regionalwahl in Katalonien Mehrheit erringen – und die Linksrepublikaner trotzdem eine
erneute Eskalation des Konflikts verhindern. Nur 44,5 Prozent
könnte die Bindung an Madrid gestärkt werden. der Katalanen sprechen sich aktuell für die Unabhängigkeit ihrer
Region aus. Dass sich damit keine Sezession erzwingen lässt,
Da war er wieder, der leidenschaftliche Aufruf, als wäre die weiß die ERC. Gerade sei nicht der richtige Zeitpunkt, heißt es in
Zeit stehen geblieben: Katalonien müsse sich endlich von ihren Reihen.
Spanien lösen, erklärte Laura Borràs vergangene Woche. Bei Richtungweisend könnte die Regionalwahl trotzdem werden.
der Regionalwahl am 14. Februar werde der Weg dafür frei, Salvador Illa, bis vor ein paar Tagen noch spanischer Gesund-
falls sie selbst gewinnen sollte und die separatistischen Parteien heitsminister, ist zurückgetreten, um in Katalonien zu kandidieren.
zusammen mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten. Die spanische Corona-Bekämpfung ist keine Erfolgsgeschichte,
Als Spitzenkandidatin der konservativ-nationalistischen Junts Illa hat sich trotzdem profiliert. Er gilt als moderater Mittler, der
per Catalunya vertritt Borràs den ehemaligen katalanischen sich nie aus der Ruhe bringen lässt. Illas Sozialisten sind gegen
Ministerpräsidenten Carles Puigdemont, der nach Brüssel geflo- eine Abspaltung Kataloniens. Mit ihm an der Spitze haben sie die
hen ist. Borràs bezeichnet sich als »Tochter des 1. Oktober«, Chance, eine Koalition der beiden großen separatistischen Par-
in Anspielung auf das Referendum über die katalanische Unab- teien zu verhindern. Wären die Linksrepublikaner künftig auf
hängigkeit, das an diesem Tag 2017 stattfand. Allerdings ist sozialistische Stimmen angewiesen, würde der Konflikt um Kata-
das separatistische Lager zerstritten. Puigdemonts Anhänger lonien wohl in eine längere Ruhephase eintreten. Steffen Lüdke
mit Corona- Kamin-Friedman: Israel sollte haben Aufstellung genommen, Bauern zu den Feierlichkeiten
Impfungen ver- Impfstoff finanzieren, bereit- die Straßen sind mit Durch- zum »Tag der Republik« in
sorgt werden, warten viele stellen und logistisch helfen, fahrtsperren aus Stacheldraht die Hauptstadt marschierten
Palästinenser noch auf eine zum Beispiel bei der Aufrecht- und Nagelbrettern gegen und es zu gewalttätigen Aus-
Vakzine. Shelly Kamin-Fried- erhaltung der Kühlketten. Eindringlinge gesichert. Das einandersetzungen mit
man, 48, ist Expertin für So könnten die Palästinenser Internet im Sperrgebiet ist der Polizei kam. Anfang der
Medizin- und Gesundheits- den Impfstoff selbst in den teilweise abgeschaltet. Jenseits Woche drückten dann meh-
recht und unterrichtet an Gazastreifen bringen, wo Israel der Abriegelung kampieren rere Prominente ihre Solidari-
der Ben-Gurion-Universität keinen Zugang hat. Diese Zehntausende Bauern, tät mit den demonstrieren-
in Beer Sheva und an der Schritte wären auch in unserem die dort seit mehr als zwei den Bauern auf Twitter aus,
Universität Haifa. eigenen Interesse. Monaten gegen die Regierung darunter die Popsängerin
SPIEGEL: Warum? protestieren. Rihanna und die Klimaschutz-
SPIEGEL: Frau Kamin-Fried- Kamin-Friedman: Die Pa- Der Streit hat sich an Refor- aktivistin Greta Thunberg
man, Israel hat angekündigt, lästinenser und wir sind Nach- men entzündet, bei denen (»Ich unterstütze ihren friedli-
erstmals 5000 Dosen Covid- barn, es gibt regelmäßigen es sich im Kern um eine Teil- chen Protest«). Die Reaktion
Impfstoff an die Palästinen- Kontakt. Viele arbeiten in Is- liberalisierung der Landwirt- der Regierung lässt auf
sische Autonomiebehörde zu rael. Das Coronavirus stoppt schaft handelt. Viele Ökono- Nervosität schließen: Dem
liefern. Ist das genug? nicht an Grenzen. Wenn men halten die im September Außenministerium war
Kamin-Friedman: Natürlich wir eine Herdenimmunität er- begonnenen Reformen für Rihannas Tweet eine eigene
nicht. Im Westjordanland reichen wollen, müssen wir notwendig, da die indische Stellungnahme wert. LH
leben rund drei Millionen Pa- beide Seiten impfen – Israelis
lästinenser, im Gazastreifen und Palästinenser.
weitere zwei Millionen. Die SPIEGEL: Glauben Sie,
5000 Dosen reichen nicht ein- dass Israel sich darauf einlas-
mal für medizinisches Per- sen wird?
sonal, ganz zu schweigen vom Kamin-Friedman: Ich weiß,
Rest der Bevölkerung. dass es Gespräche gibt, aber
SPIEGEL: Israel sagt, es könne sie sind vertraulich. Jetzt
nur dann mit Impfstoff helfen, ist ein guter Zeitpunkt: Ein
wenn es die palästinensische großer Teil der israelischen
Führung offiziell beantragt. Bevölkerung ist bereits ge-
Das sei nicht geschehen. An- impft. Israel kann stolz auf
Türkei worden, allein auf Twitter gemacht. Fakultätsmitglieder tiert. Unterstützung bekom-
wurde der Clip mehr als fünf und Studierende sehen darin men die Istanbuler Studenten
Studenten gegen Millionen Mal aufgerufen. einen Eingriff in die institutio- inzwischen aus anderen Städ-
Erdoğan Daraus entstanden ist ein nelle Unabhängigkeit, sie fürch- ten, von Prominenten und
Slogan für den Widerstand: ten, dass die Regierung künftig Oppositionellen, auch ein Rap-
»Schau nach unten«, ruft »Aşağı bakmayacağız« – stärkeren Einfluss auf die Istan- song bestärkt sie in ihrem
ein in Zivil gekleideter Polizist »Wir werden nicht nach unten buler Hochschule nimmt. anhaltenden Protest. Die Risse
einem jungen Mann zu, der schauen«. Auslöser der Pro- Seit mehr als einem Monat in Erdoğans Machtbasis könn-
sich friedlichen Studentenpro- teste ist eine Personalentschei- kommt es zu Demonstratio- ten sich dadurch vergrößern.
testen in Istanbul angeschlos- dung des türkischen Präsiden- nen, auf die der Staat mit Poli- Wegen der angespannten Wirt-
sen hat. Zweimal ruft er, wäh- ten Recep Tayyip Erdoğan. Am zeigewalt und Festnahmen schaftslage steht der Staats-
rend er auf den Studenten 1. Januar hat Erdoğan seinen reagiert. Erdoğan sieht sich präsident bereits unter Druck.
zugeht, der kurz darauf von Parteifreund Melih Bulu von inzwischen mit einer der größ- Umfragen zeigen, dass sich
mehreren Polizisten bedrängt der AKP zum Rektor der ange- ten Protestwellen seit der vor allem die jungen Wähler
wird. Die Szene ist gefilmt sehenen Bosporus-Universität Gezi-Bewegung 2013 konfron- von ihm abwenden. ASC
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Ausland
Direktor Leggeri: »So kann man eine internationale Organisation nicht führen«
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Ausland
Nationale d’Administration in Straßburg. greifen interne Kontrollmechanismen wohl gen in der Ägäis und empfahl ihm, die Mis-
Die Universität bildet seit je die französi- immer schlechter. sion in Ungarn abzubrechen. Dort hatte
sche Elite aus. Von 2013 an arbeitete er im Inmaculada Arnáez hat mehr als 20 Jah- Premier Viktor Orbán Pushbacks 2016
Pariser Innenministerium in der Abteilung re lang Erfahrung in Menschenrechtsfra- legalisiert.
für irreguläre Migration. Damals setzte gen. Die Anwältin aus Spanien hat bei der Leggeri ignorierte die Berichte der
sich die Regierung für den Ausbau von Uno gearbeitet und der OSZE, seit 2012 Grundrechtsbeauftragten und führte den
Frontex ein. Zwei Jahre später wurde Leg- ist sie bei Frontex. Als Grundrechtsbeauf- Einsatz in der Ägäis fort. Aus Ungarn zog
geri zum Chef der Agentur ernannt. tragte sollte sie unabhängig vom Exekutiv- er seine Beamten erst ab, als ihn ein Urteil
Wegbegleiter beschreiben Leggeri als direktor operieren – und die Agentur von des Europäischen Gerichtshofs vor weni-
Technokraten. Bei einer Weihnachtsfeier innen kontrollieren. Doch als Leggeri 2015 gen Wochen dazu zwang. Auf Anfrage ließ
habe er vor versammelter Mannschaft die Macht übernahm, bekam sie schnell Leggeri mitteilen, er habe die Kooperation
eine Rede gehalten, pathetisch von den zu spüren, wie wenig der neue Chef offen- mit Arnáez stets wertgeschätzt. Manage-
Errungenschaften der »Frontex-Familie« bar für Menschenrechte übrighat. menterfahrung sei auf dem Posten wegen
gesprochen. Doch Leggeri las von seinem Arnáez sei links liegen gelassen worden, des stark gestiegenen Budgets nötig.
Notizzettel ab. »Es wirkte, als wäre die berichten ehemalige Frontex-Mitarbeiter. Die 40 Menschenrechtsbeobachter hat
ganze Sache eine Nummer zu groß für »Wir hatten das Gefühl, dass Leggeri sie Leggeri immer noch nicht eingestellt. Vor
ihn«, erinnert sich ein Zuhörer. einfach überging.« Menschenrechte seien dem Europaparlament machte er die Kom-
Im Zuge der Frontex-Expansion schnitt nie seine Priorität gewesen. mission für die Verzögerungen verantwort-
Leggeri die Agentur ganz auf sich zu. Er Zum endgültigen Bruch zwischen Leg- lich. Die zuständige Kommissarin Ylva
vergrößerte sein Kabinett. Viele der wich- geri und Arnáez kam es, als das Europa- Johansson warf ihm daraufhin vor, das Par-
tigen Stellen besetzte er mit Landsleuten. parlament der Grundrechtsbeauftragten lament in die Irre geführt zu haben.
Leggeri, so erzählen es Mitarbeiter, sehe 2019 mehr Kompetenzen zusprach. Arnáez Arnáez ist seit vergangenem März er-
man nur selten auf den Fluren. Alle wich- sollten 40 Menschenrechtsbeobachter zur neut krankgeschrieben. Der Frontex-Ver-
tigen Entscheidungen würden in kleinstem Seite gestellt werden. Sie hätte eigene Un- waltungsrat ersetzte sie interimsmäßig
Kreis getroffen. Von Kontrollwahn ist die tersuchungen an Europas Grenzen durch- durch die Deutsche Annegret Kohler, die
Rede, einige ehemalige Mitarbeiter be- führen können. Für Leggeri allem An- zuvor im Kabinett von Leggeri arbeitete.
zeichnen ihn als »Diktator«. »Leggeri schein nach undenkbar. »Ein klarer Interessenkonflikt«, sagt ein
führt die Agentur wie eine Unterpräfek- Am 19. November 2019, Arnáez war ge- Frontex-Beamter.
tur«, sagt jemand, der lange mit ihm gear- rade nach längerer Krankheit zurückge-
beitet hat. »So kann man vielleicht ein kehrt, schrieb der Frontex-Chef ihre Stelle
Die Pushback-Affäre:
französisches Ministerium leiten, aber öffentlich aus. Leggeri überging damit den
Wie Frontex Menschenrechts-
nicht eine internationale Organisation.« Frontex-Verwaltungsrat. Der hätte der
verstöße vertuscht
Leggeris Kabinett nennen Frontex-Leu- Stellenausschreibung zustimmen müssen.
te hinter vorgehaltener Hand »France Arnáez selbst informierte er erst kurz vor- An den Wänden des Frontex-Lagezen-
Télécom«. Die Bezeichnung ist eine An- her. Die EU-Kommission bezeichnete Leg- trums sind Monitore angebracht. Über-
spielung auf den Skandal bei der fran- geris Manöver in einer schriftlichen Ein- wachungsflugzeuge und -satelliten über-
zösischen Telekommunikationsbehörde: schätzung, die dem SPIEGEL vorliegt, als mitteln Bilder aus den Grenzregionen in
Systematisches Mobbing trieb damals zahl- »schlicht und einfach illegal«, es könne als Echtzeit. Von ihren Schreibtischen aus
reiche Mitarbeiter in den Selbstmord. Versuch wahrgenommen werden, Arnáez können die Frontex-Beamten mitverfol-
Der Unmut vieler Frontex-Mitarbeiter zu schwächen oder zu diskreditieren. gen, was an Europas Rändern geschieht.
richtet sich vor allem gegen einen von Leg- Die EU-Kommission zwang Leggeri, die »Man erkennt, wie viele Menschen in ei-
geris engsten Vertrauten: Thibauld de la Ausschreibung zurückziehen. Doch der nem Flüchtlingsboot sitzen«, sagt jemand,
Haye Jousselin. Der Franzose entstammt Frontex-Chef gab nicht auf: Arnáez müsse der den Raum gut kennt.
einer Adelsfamilie aus dem Süden des Lan- ersetzt werden, sie habe nicht genug Ma- Die Bilder, die hier in der Nacht vom
des. Einst arbeitete er für den französi- nagementerfahrung, um die 40 Mitarbei- 18. auf den 19. April 2020 über die Bild-
schen Abgeordneten Bernard Carayon, ter anzuleiten, behauptete er. schirme flimmerten, beschäftigen das
der früher Mitglied einer rechtsextremen In Wahrheit dürfte dem Frontex-Chef EU-Parlament bis heute. Sie stammen von
Studentenvereinigung war. Er ist Reserve- Arnáez vor allem durch ihr Eintreten für einem Frontex-Überwachungsflugzeug
offizier der französischen Armee und hat Menschenrechte lästig sein. Arnáez warn- über der Ägäis. So geht es aus mehreren
einen Fimmel für Militär und Uniformen. te Leggeri wiederholt vor Rechtsbrüchen. internen Frontex-Berichten hervor, die
»De la Haye Jousselin steht politisch klar Sie habe an die Kraft ihrer Berichte ge- dem SPIEGEL vorliegen.
rechts«, sagt einer, der ihn lange kennt. glaubt, so Kollegen. Regelmäßig informier- Kurz vor Mitternacht hatten griechische
Jetzt dient er Leggeri als Kabinettschef. te sie ihn über Menschenrechtsverletzun- Grenzschützer nördlich der Insel Lesbos
De la Haye Jousselin regiert offenbar ein Schlauchboot mit 20 bis 30 Flüchtlin-
mit harter Hand. Er fahre schnell aus der gen gestoppt und die Menschen an Bord
Haut, heißt es. Mitarbeiter berichten von genommen. Sie hätten die Schutzsuchen-
Beleidigungen und respektlosem Verhal- den nach geltendem Recht nach Lesbos
ten. Offizielle Beschwerden über de la bringen müssen, wo diese einen Asyl-
Haye Jousselin habe Frontex nicht erhal- antrag stellen können. Stattdessen setzten
ten, teilte die Agentur mit. Keines der sie die Migrantinnen und Migranten wie-
Kabinettsmitglieder sei aufgrund seiner Na- der auf das Schlauchboot und schleppten
tionalität eingestellt worden. De la Haye sie in Richtung Türkei.
Jousselin selbst weist die Anschuldigungen, Griechische Beamte im Koordinierungs-
Frontex
als »falsch und unbegründet« zurück. zentrum in Piräus wiesen den Frontex-
Das Verhalten von Leggeri und seinem Piloten an, eine andere Route einzuschla-
Kabinettschef hat Folgen. Widerspruch Kabinettschef de la Haye Jousselin gen, weg vom Schlauchboot. Ob es für die
scheint nicht gern gesehen. Auch deshalb »Politisch klar rechts« Kursänderung einen besonderen Grund
76
Emin Ozmen / Magnum Photos / Agentur Focus
gebe, fragte der Frontex-Teamleiter. »Ne- paparlament stellte Leggeri die Angelegen- ren, es brauche ein individuelles Verfahren
gativ«, erwiderten die Griechen. heit später als Missverständnis dar. an Land. Zudem habe die griechische Küs-
Um 3.15 Uhr ging dem Frontex-Flug- Den Pushback vor Lesbos vom 18. auf tenwache das Leben der Geflüchteten ge-
zeug der Sprit aus. Der Pilot nahm ein letz- den 19. April haben Frontex-Beamte selbst fährdet, indem sie die Menschen auf ein
tes Bild auf. Es zeigte die Flüchtlinge allein lückenlos dokumentiert. Die Fakten stüt- Schlauchboot ohne Motor setzte und auf
auf dem Meer, ein paar Hundert Meter zen den »Vorwurf einer möglichen Verlet- dem Meer zurückließ.
von der türkischen Küste entfernt. Türki- zung von Grundrechten oder internatio- Doch Leggeri gab sich mit dem Bericht
sche Einheiten seien nicht in der Nähe, nalen Schutzverpflichtungen«, heißt es in zufrieden. Das Urteil: kein Pushback, keine
meldete der Pilot. Das Schlauchboot habe einem internen Frontex-Bericht, der dem Grundrechtsverletzung. Der Frontex-Chef
keinen Motor. Die griechische Küsten- SPIEGEL vorliegt. begrub auch diesen Vorfall geräuschlos.
wache sei weggefahren. Erst am nächsten Der Fall war offenbar so heikel, dass »Leggeri hat uns schon mehrmals nicht an-
Morgen um 6.32 Uhr rettete die türkische Leggeri selbst die Aufklärung übernahm gemessen informiert, obwohl er gesetzlich
Marine nach eigenen Angaben die Men- und ihn nicht, wie üblich, seiner Grund- dazu verpflichtet ist«, sagt die niederlän-
schen, darunter vier Kinder. rechtsbeauftragten überließ. Am 8. Mai dische Europaabgeordnete Tineke Strik.
Die griechische Küstenwache führt seit schrieb er an Ioannis Plakiotakis, den grie- Auf Anfrage sagt Frontex dazu: Die grie-
Monaten systematisch Pushbacks durch. chischen Schifffahrtsminister. Der Brief chische Regierung habe keine Rechtsver-
Sie stoppt Flüchtlingsboote in griechischen liegt dem SPIEGEL vor. Leggeri zeigte sich stöße feststellen können. Man müsse sich
Gewässern, zerstört teilweise die Motoren, darin besorgt. Er bat um eine interne Un- auf nationale Behörden verlassen, um sol-
schleppt die Flüchtlinge zurück in Rich- tersuchung. Die Einhaltung von Grund- che Vorfälle zu untersuchen. Die Agentur
tung Türkei. »Aggressive Überwachung« rechten, insbesondere dem Grundsatz dürfe das gemäß ihrer Regularien nicht.
nennt die Regierung in Athen die Strategie der Nichtzurückweisung, sei »ultimative Eigentlich müssen Frontex-Beamte
offiziell. Tatsächlich ist sie illegal. Voraussetzung« des Frontex-Einsatzes. schon den Verdacht von Menschenrechts-
Die Frontex-Regularien verpflichten Die Antwort der griechischen Regie- verletzungen melden, in sogenannte
Leggeri, Missionen zu beenden, wenn er rung ist ein Sammelsurium aus Relati- »Serious Incident Reports«. Doch solche
von schwerwiegenden und anhaltenden vierungen. Die Migrationsströme in der Berichte werden kaum geschrieben. Seit
Menschenrechtsverletzungen erfährt. Sei- Ägäis stellten eine »hybride Gefahr« dar, Jahren agieren Frontex-Beamte so, wie ihr
ne Truppe soll Menschenrechte schützen. heißt es darin. Wegen der Coronakrise Chef Leggeri es ihnen vorlebt: Im Zweifel
Leggeri aber behauptet beharrlich, keine sei es wichtiger denn je, illegale Grenz- schweigen sie.
belastbaren Kenntnisse über Pushbacks überquerungen zu verhindern. Keiner der Insider beschreiben die Regeln als eine
zu besitzen – und das, obwohl der SPIEGEL Migranten habe um Asyl gebeten. Laut Art Omertà. Kaum jemand will seine Kar-
und seine Recherchepartner lückenlos do- vorläufiger Einschätzung der griechischen riere gefährden oder den Kollegen im Gast-
kumentiert haben, dass Frontex-Einheiten Beamten sei keiner von ihnen besonders geberland Probleme bereiten. In einem
bei mindestens sieben illegalen Rückfüh- schutzbedürftig gewesen. Fall habe ein Beamter versucht, seinen
rungen in der Nähe waren. Juristinnen und Juristen betrachten das schwedischen Kollegen daran zu hindern,
Die Frontex-Kräfte unterstehen bei ihren Antwortschreiben der Griechen als wert- einen »Serious Incident Report« zu schrei-
Operationen dem Kommando der griechi- los. »Die griechische Küstenwache hat in ben, sagte der Chef der schwedischen
schen Grenzbeamten. Bereits vergangenen dem Fall ohne jeden Zweifel Menschen- Grenzpolizei dem Frontex-Verwaltungsrat.
März befahl ein griechischer Verbindungs- rechte verletzt«, sagt Dana Schmalz, Völ- Ein deutscher Bundespolizist ist einer
offizier einer dänischen Frontex-Crew, kerrechtlerin am Max-Planck-Institut in der wenigen, die widersprachen. Seinen
schon gerettete Flüchtlinge auf dem Meer Heidelberg. Aus ihrer Sicht handelt es sich richtigen Namen möchte er nicht veröf-
auszusetzen. Das geht aus internen E-Mails klar um einen illegalen Pushback. Ob je- fentlicht sehen. Am 28. November 2020,
hervor, die der SPIEGEL einsehen konnte. mand schutzbedürftig sei oder ihm in der seinem ersten Tag im Frontex-Einsatz auf
Frontex legte den Fall trotzdem innerhalb Türkei Gefahr drohe, könne man nicht an der griechischen Insel Samos, ploppte auf
eines Tages zu den Akten. Vor dem Euro- Bord eines wackeligen Schlauchboots klä- seinem Handy ein Artikel des SPIEGEL
Murat Türemis
ße Zweifel an seinem Führungsstil auf.
In Brüssel wird Leggeri auch »Fabrice
Teflon« genannt. Egal ob es um die Betei-
Grenzschützer im Frontex-Einsatz: »Aggressive Überwachung« ligung seiner Beamten an Pushbacks oder
Missmanagement in der Agentur ging, der
Frontex-Chef hat bislang sämtliche Vor-
auf. In dem Bericht ging es um die »Ucker- Büros von Leggeri und dessen Kabinetts- würfe an sich abprallen lassen. Nun aber
mark«, das Boot, auf dem er noch am chef de la Haye Jousselin ein. nimmt der Druck auf ihn zu.
selben Abend Dienst schieben sollte. Die Leggeri hat sich bislang nicht öffentlich EU-Innenkommissarin Ylva Johansson
Deutschen hatten am 10. August ein zu den Ermittlungen geäußert. Vor dem hat mehr oder weniger klargemacht, dass
Flüchtlingsboot gestoppt und an die grie- Innenausschuss des Bundestags sprach er sie Leggeri für nicht länger tragbar hält.
chische Küstenwache übergeben. Danach nach Angaben von Abgeordneten im Ja- »Es ist schwierig, bei Leggeris Fehltritten
setzten die Griechen die Menschen auf nuar davon, dass es in dem Verfahren um noch mitzukommen«, sagt ein hochrangi-
dem Meer aus. die Pushback-Vorwürfe gehe, mehr könne ger Kommissionsbeamter. »Die Priorität
Der Bundespolizist ging zu seinen Vor- er nicht sagen. Doch das ist allenfalls die muss sein, das Ansehen der Agentur zu
gesetzten. Er könne bei der Sache nicht halbe Wahrheit. schützen. Leggeris Handlungen sind damit
mitmachen, sagte er sinngemäß, er wolle Nach SPIEGEL-Informationen ist das nur schwer in Einklang zu bringen.«
keine Beihilfe zu Verbrechen leisten. Spä- Mandat tatsächlich viel breiter angelegt. Über Leggeris Zukunft entscheidet je-
ter erklärte er sich seinen Kameraden per Seit Wochen laden Olaf-Beamte Zeugen doch nicht die EU-Kommission, sondern
WhatsApp: »Ich selbst habe für mich ent- vor, befragen Frontex-Mitarbeiter. der Frontex-Verwaltungsrat. In ihm sind
schieden, dass ich die Maßnahmen der Im Mittelpunkt der Ermittlungen steht vor allem die Regierungen der Schengen-
Griechen nicht tolerieren und schon gar offenbar unter anderem ein möglicher staaten vertreten, die Kommission entsen-
nicht unterstützen kann«, schrieb er. Betrugsfall: Eine polnische IT-Firma ver- det lediglich zwei Vertreter. Die EU-Staa-
Sein Vorgesetzter antwortete ein paar kaufte der Agentur für Hunderttausende ten haben Leggeri in der Vergangenheit
Minuten später: »Fakt ist, dass unser Han- Euro Business-Software, unter anderem stets gestützt. Viele dürften insgesamt froh
deln rechtmäßig ist! Abgedeckt durch das sollte sie für die Ausbildung von Grenz- sein, dass Frontex Schutzsuchende mit
Frontex-Mandat.« Gemeint war offenbar beamten verwendet werden. Frontex-Mit- zum Teil rabiaten Methoden am Grenz-
die Pflicht, sich an die Anweisungen der arbeiter bemängelten bei ihren Chefs, übertritt hindert, glaubt Giulia Laganà,
griechischen Küstenwache zu halten. dass die Software schlecht funktionierte. Migrationsexpertin am Open Society
Die Bundespolizei widerspricht der Dar- Die Agentur zahlte trotzdem einen gro- European Policy Institute.
stellung des Mannes nicht, weist auf An- ßen Teil der vereinbarten Summe. Mit- Die Frage ist, ob der Verwaltungsrat
frage aber darauf hin, dass sie sich nicht arbeiter wiesen das Management 2018 auch dann noch zu Leggeri hält, wenn nun
an rechtswidrigem Verhalten beteiligt darauf hin, dass die Unregelmäßigkeiten immer mehr Vorwürfe von Mobbing und
habe. Der Bundespolizist selbst sah das einen Betrugsfall darstellen könnten. So womöglich sogar Betrug im Umfeld von
jedoch anders. Er weigerte sich, an der geht es aus Dokumenten hervor, die der Frontex öffentlich werden. Das Europa-
Mission teilzunehmen. Stattdessen schob SPIEGEL einsehen konnte. parlament hat bereits angekündigt, die
er an Land Wache. Für einen Frontex-Ein- Auch Leggeri erfuhr von den Vorwür- Agentur in einem Prüfverfahren vier Mo-
satz will er sich nie wieder melden. fen. Es gab zumindest eine interne Unter- nate lang durchleuchten zu wollen. Das
suchung. »Der Frontex-Direktor ist aber Mandat ist absichtlich breit angelegt. Auch
laut EU-Regularien verpflichtet, poten- Leggeris Führungsstil und die Arbeitskul-
Auffällige Amtsgeschäfte:
zielle Betrugsfälle unverzüglich an Olaf tur bei Frontex sollen untersucht werden.
Wie Leggeri ins Visier der Anti-
zu melden«, sagt Valentina Azarova vom Selbst die eigenen Mitarbeiter in War-
betrugsbehörde geriet
Manchester International Law Centre. Auf schau rätseln, wie lang ihr Chef sich noch
Die Antibetrugsbehörde schreitet immer Anfrage wollte sich Frontex zu den Olaf- an seinen Posten klammert. »Olaf hat uns
dann ein, wenn sie vermutet, dass finan- Ermittlungen nicht äußern. Die Firma im Visier, die Moral der Leute liegt am
zielle Interessen der EU verletzt werden. teilte mit, alle bisherigen IT-Dienstleis- Boden«, sagt ein Beamter. »Ich frage mich,
Nun hat Olaf ein Verfahren gegen Fron- tungsverträge mit Frontex korrekt und warum er nicht endlich geht.«
tex eröffnet. Am 7. Dezember durchsuch- vertragsgemäß ausgeführt zu haben. Bis Giorgos Christides, Klaas van Dijken,
ten Olaf-Fahnder die Frontex-Zentrale in heute bekommt sie Aufträge von Frontex Steffen Lüdke, Maximilian Popp
Warschau, drangen unter anderem in die in Millionenhöhe.
publik zu verteidigen. »Whatever it takes«, Twitter. »Wir alle müssen ihn anfeuern,
79
Ausland
D
er Morgen danach beginnt mit den Hausarrest zahlen, den er 2014 absaß. Humanität« und darüber, dass der Verur-
bitteren Scherzen im Frühstücks- Der angebliche Verstoß gegen die Bewäh- teilte dennoch nicht »auf den Weg der Bes-
radio. »Hallo Minskau«, ruft der rungsauflagen wiederum fällt in das Jahr serung getreten« sei.
Moderator des liberalen Senders 2020, in dem Nawalny in Deutschland in Es ist, als wollte der Kreml verkünden:
Echo Moskau. Seine Kollegin sagt: »Es medizinischer Behandlung war – und zwar Wenn unsere Justiz ein Problem hat, dann
sendet: Echo Minsk«. nach einer Vergiftung mit dem Nerven- ist es nicht übergroße Härte, sondern über-
Es ist Mittwoch, der Tag nach dem Ge- kampfstoff Nowitschok, für die nach Re- große Milde. Am Ende der Verhandlung
richtsurteil gegen den Oppositionspolitiker cherchen von SPIEGEL und Bellingcat der steht eine doppelte Entscheidung: Zum
Alexej Nawalny, und manche Moskauer Geheimdienst FSB verantwortlich ist. einen muss Nawalny seine einst zur Be-
haben den Eindruck, sie seien an diesem Immerhin: Der Kreml hat Nawalny an währung ausgesetzte Freiheitsstrafe antre-
Morgen nicht in der Hauptstadt Russlands diesem Dienstag eine Bühne gegeben, auf ten – nach Anrechnung seines Hausarrests
aufgewacht, sondern in der Hauptstadt des der er noch einmal zur Öffentlichkeit re- muss er zwei Jahre und acht Monate in ei-
Nachbarlands Belarus, in der düsteren Dik- den kann. Aber er hat zugleich sich selbst nem Straflager absitzen. Aber die Richte-
tatur von Alexander Lukaschenko. eine Bühne gegeben, um der Gesellschaft rin straft auch die Gegenseite: Der Vertre-
Mehr als tausend Festnahmen hat es am zu erläutern, was er tut. ter der russischen Justizvollzugsbehörde
Vortag und in der Nacht gegeben, als junge Und so sieht man an diesem Dienstag Fsin, die Nawalnys Inhaftierung beantragt
Menschen gegen die Haftstrafe für Nawal- zwei Figuren gegeneinander antreten. Da hat, soll eine offizielle Rüge bekommen,
ny protestiert hatten. Die Bilder aus jenen ist einerseits Nawalny selbst. Man hat ihn weil er schon viel früher gegen den Verur-
Stunden haben sich tief eingegraben: Wie in Handschellen in einen Glaskasten ge- teilten hätte vorgehen sollen.
ein Heer von Polizisten in schwerer Aus- führt, da steht er in seinem blauen Kapu- »Das ist auch die Linie im Fernsehen:
rüstung wenige friedliche Demonstranten zenpulli und mischt sich mal mit kühlem Dass man milder mit Nawalny umgegan-
durch die Gassen jagt; wie die Sicherheits- Spott, mal mit ohnmächtiger Wut in die gen sei als mit jedem anderen Russen«,
kräfte auf jene einprügeln, die bereits die Verhandlung ein. Seiner Frau Julija schickt sagt die Politologin Tatjana Stanowaja.
Hände hochhalten; wie sie Passanten fest- er per Handzeichen Herzen. »Ich glaube, diese These stammt von ei-
nehmen, einen Journalisten niederknüp- Seine Botschaft ist: Dies ist ein politi- nem Menschen: von Putin. Das ist sein
peln, einen Mann aus dem Taxi zerren. scher Prozess, eine persönliche Rache Pu- persönliches Verhältnis zu Nawalny: ›Wir
Moskaus Innenstadt wirkt für eine tins. Den habe er gekränkt, weil er seine waren viel zu nachsichtig mit ihm, viel zu
Nacht wie die Kulisse eines dystopischen Vergiftung durch den FSB erstens überlebt, großzügig.‹«
Science-Fiction-Films. Es ist nicht nur die zweitens sich nicht versteckt, drittens diese Stanowaja glaubt zwar nicht, dass das
Gewalt, es ist das schiere Missverhältnis Vergiftung auch noch mitaufgeklärt habe. Urteil von Putins Rache zeuge. Aber Pu-
der Kräfte, das schockiert. Dieser Schock »Das treibt diesen kleinen Betrüger in sei- tins Regime, sagt sie, habe »eine rote Linie
ist beabsichtigt. Widerstand ist zwecklos, nem Bunker in den Wahnsinn«, sagt Na- überschritten, und das wird ernste Folgen
so scheint Wladimir Putins Regime an die- walny und spottet: »Nun ist er gekränkt, haben. Nur konnte es nicht anders, als die-
sem Dienstag seinen Gegnern zu sagen. dass er in die Geschichte als Vergifter ein- se Linie zu überschreiten«. Vor allem die
Es hat nach zwei Wochenenden landeswei- gehen wird. Es gab Alexander den Befreier Eliten hätten nun ein Problem: »Die ver-
ter Proteste die Schrauben in dieser Woche und Jaroslaw den Weisen, künftig gibt es stehen jetzt, dass es ein politisches Milieu
noch einmal deutlich angezogen. Aber Wladimir den Unterhosenvergifter.« von Systemgegnern gibt, das kriminalisiert
man wird den Eindruck nicht los, dass da- Der Kreml spricht an diesem Tag mit und von der Staatsmacht nicht mehr aner-
bei etwas kaputtgegangen ist in diesem der Stimme der jungen, fernsehtauglichen kannt wird. Das wirft die Frage auf: Wer
System. Was ist es genau? Staatsanwältin Jekaterina Frolowa. Sie ist entscheidet, was erlaubt ist? Das entschei-
Der Tag, an dem Wladimir Putin ein in blauer Uniform und strenger Frisur det der FSB. Und damit sind viele unzu-
altes Problem loswerden will und sich da- erschienen und spricht mit herausfordern- frieden.«
für ein Neues schafft, beginnt im Moskau- der Fröhlichkeit, wie eine Erzieherin im Im Protestwinter 2011/2012, als Putins
er Stadtgericht, einem modernen Bau im Kindergarten. In Frolowas Rede ist Nawal- Regime erstmals kurz ins Wanken geriet,
Osten der Stadt. Es ist schon morgens weit- ny ein Mann, der einzigartige Privilegien konnte die Führung noch nachgeben,
räumig abgeriegelt, als würde hier ein ge- in Russland genossen, aber leider nicht ge- Druck abfedern, Reformen anbieten, und
fährlicher Terrorist abgeurteilt. Verhandelt würdigt habe. »Als einziger Mensch in der sei es nur zum Schein. Jetzt ist es dafür zu
wird die Frage, ob Alexej Nawalny, der Russischen Föderation ist er zweimal nur starr. Eine Spaltung oder auch nur Risse
Kremlgegner, Politiker und Antikorrup- zu Bewährungsstrafen verurteilt worden«, in der Elite, wie sie sich 2011 immerhin an-
tionsaktivist, eine mehrjährige Freiheits- sagt sie. Sie spricht von »beispielloser deuteten, sind diesmal nicht zu sehen.
strafe antreten muss, die bisher zur Bewäh- Nachsicht« des Gerichts, von »bewiesener Noch 2019, bei Protesten gegen den Aus-
rung ausgesetzt war. schluss der Opposition von der Wahl ins
Juristisch ist der Fall absurd: Die bereits Moskauer Stadtparlament, hatte sich im-
2014 verhängte Bewährungsstrafe wegen Festgenommene verbrin- merhin Putins ehemaliger KGB-Kollege
Betrugs wurde vom Europäischen Ge- gen 24 Stunden im Gefan- Sergej Tschemesow getraut zu warnen –
richtshof für Menschenrechte längst als das Land brauche eine »gesunde Opposi-
»willkürlich« abgeschmettert. Russland genentransporter, weil tion«, sagte der Manager der Staatshol-
musste Nawalny sogar Entschädigung für die Gefängnisse voll sind. ding Rostec. Heute ist von der Unzufrie-
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Moscow City Court press service / AFP
Oppositionspolitiker Nawalny im Moskauer Stadtgericht: Ein Herz für Ehefrau Julija
denheit an der Spitze nichts zu hören. Die schen bei uns. Ich fürchte mich vor Kon- es früher im diktatorisch regierten Tsche-
Angst der Elite vor dem FSB zu groß. flikten.« tschenien.
Und der Druck von unten ist zu gering. Das ist das Spannende, Beunruhigende Am härtesten geht das Regime gegen
In Moskau demonstrierten Zehntausende an dieser neuen Phase der russischen Poli- Nawalnys Mitarbeiter vor. »Und trotzdem
Menschen für Nawalnys Freilassung – das tik: dass zu der Angst vor dem Staat die hat keiner, weder in den Regionen noch
ist viel, aber nicht genug. »Wenn 150 000 Angst voreinander kommt. Putins Umfra- in Moskau, gekündigt oder Angst bekom-
Menschen in Moskau auf die Straße gehen, gewerte sinken unter den 18- bis 24-Jähri- men oder gesagt: ›Leute, ich gehe‹«, sagt
dann wird die Führung einen anderen Ton gen schneller als unter den Alten, das Ruslan Schaweddinow stolz. Er ist einer
wählen. Aber das sehe ich derzeit nicht«, macht Streit absehbar. Aber es ist unklar, der wenigen engen Mitstreiter Nawalnys
sagt die Politologin Stanowaja. wie das Kräfteverhältnis der drei etwa im Land, die noch in Freiheit sind. Warum
Ob die Unzufriedenheit noch zu gering gleich großen Gruppen, in die man die rus- sie ihn nicht festgenommen haben, weiß
oder die Angst schon zu groß ist, darüber sische Gesellschaft grob teilen kann – Pu- er nicht. Es kann jeden Moment passieren,
kann man mutmaßen. Sicher ist, dass die tin-Anhänger, Putin-Gegner, dazwischen sagt er – »aber ich versuche, nicht daran
russische Gesellschaft auseinanderdriftet. das große Feld der Unentschiedenen oder zu denken, sonst würde ich wahnsinnig«.
Man spürt die Kluft in Gesprächen. Unpolitischen – genau aussieht. Natürlich seien nicht alle automatisch
Da ist der Moskauer Unternehmer, 24 Klar ist: Wer sich den Nawalny-Protes- für Nawalny, die auf die Straße gingen, sagt
Jahre alt, der die Organisatoren der Pro- ten anschließt, riskiert heute mehr als Schaweddinow. »Manche protestieren ge-
teste »Feinde« nennt, »die das Land zer- früher. Mit Entsetzen haben liberale Mos- gen Willkür, nicht für Nawalny.« Aber die
stören wollen. Ich als Mann finde, die darf kauer die neuen Sitten von Polizei und Unpolitischen, Neutralen, Lauen, die wer-
man foltern oder schlagen. Aber es ist na- Strafjustiz beobachtet. Einer jungen Akti- den gerade politisiert, davon ist er über-
türlich besser, die Gesetze anzuwenden.« vistin wird eine Plastiktüte über den Kopf zeugt. Zehntausend Festnahmen im Land
Da ist die Kassiererin aus Petersburg, gezogen, um sie zum Entsperren ihres Te- in nur zehn Tagen, so etwas habe es noch
31 Jahre alt, die sich zum ersten Mal über- lefons zu zwingen. Festgenommene ver- nie gegeben, sagt Schaweddinow. Als im
haupt auf eine ungenehmigte Kundgebung bringen 24 Stunden im Gefangenentrans- Frühjahr 2020 die Proteste im Nachbar-
gewagt hat und beunruhigt ist über die porter, weil die Gefängnisse voll sind. Der land Belarus losgegangen seien, da hätten
Leute auf dem Land, die nur Staatsfern- hoch angesehene Chefredakteur des Inter- sie noch gescherzt: »Heute Minsk, morgen
sehen schauen: »Die glauben den Unsinn. netmediums Mediazona, der gar nicht auf Moskau.«
Mit denen kann man nicht diskutieren.« der Kundgebung war, erhält 25 Tage Ar- »Aber heute ist das kein Scherz mehr.
Da ist die Alleinerziehende, 42 Jahre rest, weil er auf Twitter einen Witz geteilt Wir haben in zwei Wochen den Weg
alt, die sich mit ihrer Mutter über Putin hat, der als Demo-Aufruf gedeutet wird. zurückgelegt, für den andere Länder Jahr-
streitet, aber zugleich findet, »Nawalny Demonstranten werden auf der Polizeiwa- zehnte brauchen – den Weg in die Dik-
spielt mit Gefühlen«, er ziehe Kinder in che gezwungen, ihre Missetaten zu bereu- tatur.« Christian Esch, Christina Hebel
die Politik. »Es gibt viele wütende Men- en, vor laufender Kamera. So etwas gab
Lynn Bo Bo / epa
hung schnell verfliegen.
Die Strategie der Generäle hatte eine
Schwachstelle: Suu Kyi ist eine Frau von
General Min Aung Hlaing, Politikerin Suu Kyi 2015: Zusammenprall zweier großer Egos legendärer Sturheit, sie ließ sich nicht so
einfach ausbooten. Nach ihrem Wahlsieg
2015 setzte sie einen Getreuen als Präsi-
hat den Armeechef mehrfach getroffen. ihr und dem abgesetzten Präsidenten Win in Mandalay. Darüber hinaus sollen rund
»Ich erinnere mich an ihn als intelligenten Myint schweben bereits Strafverfahren: tausend Mediziner in 70 Krankenhäusern
Mann, der immer gut vorbereitet war«, er- In Suu Kyis Haus seien illegal importierte im ganzen Land in Streik getreten sein.
zählt er. Andere beschreiben den General Walkie-Talkies gefunden worden; Win International fallen die Reaktionen auf
als eher unauffällige Erscheinung. Myint wird vorgeworfen, er habe sich im den Putsch deutlich aus. US-Präsident Joe
Diesem Mann stand also eine stolze, stu- Wahlkampf über die geltenden Corona- Biden sprach von einem »direkten
re Frau gegenüber, die in jeder Hinsicht Regeln hinweggesetzt. Beide Vergehen Anschlag auf die Demokratie und die
herausragt. Schon vor Monaten soll es zwi- können mit jeweils drei Jahren Haft be- Rechtsstaatlichkeit des Landes«. Die EU
schen Suu Kyi und dem General zum straft werden. forderte die Freilassung der festgesetzten
Bruch gekommen sein. Aus Altersgründen Zeitgleich versucht das Militär, die Politiker. Sanktionen sind im Gespräch,
hätte der 64-Jährige eigentlich 2021 aus Gunst der buddhistischen Mönche zu er- möglicherweise wird Brüssel Handels-
dem Militärdienst ausscheiden sollen. Ver- ringen, die in Myanmar eine politische privilegien für Myanmar streichen. Denk-
bündete verbreiteten, er interessiere sich Macht sind. Tempel und Pagoden, zuvor bar wäre ebenso, Sanktionen gegen ein-
für eine politische Anschlussverwendung. wegen Corona gesperrt, sind wieder offen. zelne Generäle zu verhängen, wie es die
Vielleicht als Präsident? Die große Frage ist nun, ob sich die myan- Menschenrechtsorganisation Human
Suu Kyi soll diesem Ansinnen eine Ab- marische Bevölkerung dem Willen der Rights Watch fordert.
sage erteilt haben. »In gewisser Hinsicht Generäle fügen wird. Die Erinnerung an Das Problem ist, dass Strafmaßnahmen
hat sich die Lady so verhalten, wie der vergangenes Leid sitzt tief: Die Aufstände aus Europa und den USA wenig bewirken
Westen es immer von ihr gefordert hat: von 1988 und 2007 endeten blutig und mit dürften. »Die meisten dieser Herrschaften
Sie hat dem Militär die Stirn geboten«, Tausenden politischen Gefangenen, die haben ihr Geld nicht im Westen, sondern
sagt ein gut vernetzter Beobachter in My- teils jahrzehntelang im Knast saßen. in Asien gebunkert«, sagt Ex-Botschafter
anmar, der anonym bleiben will, weil er Inzwischen sind die Myanmaren besser Weber-Lortsch. Sanktionen sieht er skep-
Folgen für seine Arbeit fürchtet. In dieser vernetzt, zum Nachteil des Militärs. Auf tisch: »Was soll das nützen, solange die
Lesart war der Staatsstreich ein Zusam- Facebook posteten Nutzer Fotos mit aus- Nachbarn nicht mitmachen?«
menprall zweier großer Egos. Eine Lady gestrecktem Mittelfinger. »Sie haben sich China ist Myanmars größter Handels-
gegen einen General. wie Schweine und Hunde verhalten. Dann partner, eine erste Stellungnahme aus Pe-
Derzeit gilt in Myanmar ein einjähriger werden sie auch wie Schweine und Hunde king fiel zurückhaltend aus. Die staatliche
Ausnahmezustand. Der Analyst Khin Zaw sterben«, lautete einer der Kommentare. Nachrichtenagentur Xinhua beschönigte
Win vom Tampadipa Institute in Yangon, Seit Donnerstag ist die Plattform geblockt, den Militärputsch gar als »Kabinettsum-
einem Thinktank, hält es durchaus für mög- angeblich nur vorübergehend. bildung«. Ein Treffen des Uno-Sicherheits-
lich, dass bald Neuwahlen stattfinden könn- Nach Einbruch der Dunkelheit stellen rats endete ergebnislos, weil Russland und
ten, womöglich auch unter Beteiligung der viele Myanmaren brennende Kerzen in China einer gemeinsamen Erklärung nicht
NLD – allerdings ohne Suu Kyi. »Um es die Fenster. Um 20 Uhr erhebt sich Lärm zustimmen wollten.
ganz offen zu sagen: Ich glaube, wir erleben über den großen Städten, Menschen schla- Fürs Erste sind die Myanmaren auf sich
das Ende ihrer politischen Karriere«, sagt gen auf Töpfe und Mülleimer, Autofahrer gestellt. Einer von ihnen sitzt Mittwoch-
Khin Zaw Win. hupen. Von ihren Balkonen aus singen nacht vor seinem Rechner, im Videofenster
Seit dem Putsch stehen Soldaten und Bürgerinnen und Bürger gemeinsam ein erscheinen eine Haartolle und ein dünner
Militärfahrzeuge an wichtigen Orten der altes Revolutionslied: »Bis zum Weltun- Schnurrbart, seine Mimik schwankt zwi-
großen Städte. Augenzeugen zufolge zie- tergang werden wir uns nicht beruhigen schen Erschütterung und Kampfeslust.
hen Schlägerbanden durch die Straßen können, die Geschichte schreiben wir mit Nan Lin, 25, erinnert sich an seine Ge-
und verprügeln NLD-Sympathisanten. unserem Blut.« fühle in der Putschnacht: »Ich war sehr
Quellen im Land sprechen von 40 bis Am Mittwochabend zog eine Gruppe wütend, weil meine persönlichen Träume
50 Festnahmen, darunter Suu Kyi, die sich Aktivisten singend durch Yangon, tags da- und die aller jungen Leute in Myanmar
inzwischen in Hausarrest befindet. Über rauf protestierten 20 Frauen und Männer zerstört worden waren.« Zu gern würde
der angehende Politikwissenschaftler im
Ausland studieren. »Das muss ich zur Seite
legen. Derzeit ist mein stärkster Wunsch,
etwas gegen das Militär zu tun.«
Für seine Überzeugungen hat Nan Lin
bereits gelitten, nach Studierendenprotes-
ten gegen ein neues Bildungsgesetz 2015
steckte man ihn für ein halbes Jahr ins Ge-
fängnis. Auch damals stand der Strafvoll-
zug unter Kontrolle der Generäle, doch
die NLD war auf dem Weg in die Regie-
rung und das politische Klima liberaler.
Diesmal, fürchtet er, droht ihm ein dunk-
leres Schicksal. »Würde ich sagen, dass ich
keine Angst habe, wäre es eine Lüge«, sagt
Nan Lin. »Jetzt festgenommen zu werden
wird natürlich viel schlimmer sein als da-
mals.« Seine Gruppe plane friedliche Ak-
tionen, sagt er. Aber wenn Menschenmas-
sen auf den Straßen seien, könne man die
Lage ja nicht kontrollieren.
AFP
83
Ausland
I
n einem Appartement am Stadtrand Französisch erschienen ist*. Die 54-Jähri- Seit Mitte 2016 nimmt die systemati-
von Paris erzählt eine Frau eine Ge- ge will, dass die Welt ihre Geschichte hört. sche Auslöschung der uigurischen Identi-
schichte über Chinas Versuch, die Mehr als eine Million Uiguren werden tät und Kultur immer gravierendere Aus-
Identität eines Volks auszulöschen. den Vereinten Nationen zufolge in chine- maße an. China inhaftiert die Uiguren
Sie erzählt von Umerziehungslagern, en- sischen Straflagern festgehalten. Sie wer- nicht nur in den geschätzt bis zu 1200
gen Gefängniszellen, von Zwangsimpfun- den geschlagen und zum Teil brutal gefol- Umerziehungscamps, sondern unterwirft
gen. Aber auch von der Kraft des Yoga tert. Immer wieder gibt es Berichte über sie auch durch Zwangsarbeit. Hundert-
und stiller Freundschaft in Haft – und von extremste, systematische Vergewaltigungen, tausende müssen auf Baumwollfeldern
der Frage, wann der Wille eines Menschen die Frauen brechen sollen, und über oder in der Gemüseproduktion schuften.
bricht. Es ist ihre Geschichte. Zwangssterilisierungen. Die US-Regierung Frauen und Mädchen werden zwangsste-
Die Frau lebt in Boulogne-Billancourt, nennt das Vorgehen der chinesischen Be- rilisiert. Die Geburtenrate der Uiguren
einem wohlhabenden Pariser Vorort. Von hörden einen Genozid. Gulbahar Haitiwajis sinkt merklich.
ihrem Haus kann sie zur Seine spazieren. Erzählung deckt sich mit denen anderer Gulbahar Haitiwaji wurde 1966 in der
Ein paar Kilometer weiter sieht sie den Eif- Überlebender und Einschätzungen von Ex- Stadt Ghulja in Xinjiang als fünftes von
felturm. Sie hat das Leben hier stets genos- perten wie Adrian Zenz, der seit Jahren acht Kindern geboren. »Kulturell haben
sen. Bis sie in die Fänge des chinesischen über die Uiguren forscht. wir nichts mit den Chinesen zu tun«, er-
Regimes geriet und für Jahre in seinem Un- Wie geht es Haitiwaji heute? »China hat zählen die beiden im Wohnzimmer in Bou-
terdrückungsapparat verschwand. mir drei Jahre meines Lebens gestohlen«, logne. »Wir haben eine andere Schrift,
Gulbahar Haitiwaji nimmt am Wohn- sagt sie. »Am Anfang war ich sehr ge- eine andere Sprache, eigene Bräuche, Tän-
zimmertisch Platz, ihr kleines Apparte- stresst. Jetzt distanziere ich mich. Wenn ze und Speisen.« Haitiwaji springt auf und
ment ist mit einem weißen Sofa und Kunst- ich erzähle, fühlt es sich an, als gehörte holt Naan-Brot vom Fenstersims, das sie
pflanzen eingerichtet. Sie hat Kuchen auf- diese Geschichte nicht zu mir.« Suchend gebacken hat. »Unsere Beilage statt Reis.
geschnitten und fünf Sorten Trockenobst schaut sie zu ihrer 29-jährigen Tochter Gul- Für China sehr exotisch!« Sie lacht.
ordentlich nebeneinander auf einer Platte humar, die ins Französische übersetzt, was Peking kontrolliert das Gebiet seit 1949.
angerichtet. Das leichte Make-up betont ihre Mutter auf Uigurisch erzählt. Haitiwaji kann sich nicht erinnern, dass
ihre dunklen Augen. Die schwarzen Haare Die beiden wollen von ihrer Heimat sie als Kind je Diskriminierung erfahren
rahmen ihre sanften Gesichtszüge ein. Xinjiang im Nordwesten Chinas berichten,. hätte. Das ändert sich, als sie ihren Mann
Haitiwaji stammt aus der nordwestchi- Eine Region mit 24 Millionen Einwohnern, kennenlernt. Kerim, mit dem sie heute in
nesischen Region Xinjang, 2006 verlässt dreimal so groß wie Frankreich. Viel Wüs- Boulogne lebt, wäre gern Journalist gewor-
sie ihre Heimat, um in Paris in einer Kan- te, durchzogen von Flüssen und Bergen. den. Gulbahar sah sich als Ärztin. Beide
tine zu arbeiten. Sie kümmert sich um ihre Peking hatte schon vor rund 70 Jahren bekommen aber eine Einladung der Fakul-
beiden Töchter und ihren Mann, der als begonnen, in Xinjiang Öl und Gas zu tät der ortsansässigen Ölindustrie. In der
Uber-Fahrer Geld verdient. Wenn sie frei fördern. Die Wirtschaft wuchs, aber die Ui- Stadt Karamay überprüft Haitiwaji später
habe, sagt sie, gehe sie schwimmen. guren profitierten kaum. Immer wieder gab die gigantischen Metallrohre, durch die
Dann aber, im November 2016, wird es Unruhen. Weil muslimische Extremisten das Erdöl aus dem Boden kommt.
Haitiwaji unter einem Vorwand zurück in in der Region Anschläge begangen haben, Die beiden heiraten, bekommen zwei
ihre Heimat gelockt. Sie landet als Insassin sieht Peking alle Uiguren als Staatsfeinde, Töchter und verdienen gutes Geld. Doch
Nummer 9 in einem der staatlichen Umer- die den Aufbau einer »harmonischen Ge- als Uiguren stoßen sie an eine Decke. »Bei
ziehungslager für Uiguren, die den Gefan- sellschaft« verhinderten. Uiguren, Kasa- Jobausschreibungen für zehn Stellen hieß
genen die Errungenschaften der Kommu- chen und Angehörige anderer muslimischer es, dass neun Han-Chinesen und ein Uigure
nistischen Partei einhämmern sollen. Minderheiten sollen in Lagern zu staats- gesucht werden«, erzählt Haitiwaji. Einige
Etliche Male fürchtet sie zu sterben. treuen Bürgern umerzogen werden. Stellenangebote schlossen Uiguren explizit
Nur wenige Zeugen haben bislang Die Führung in Peking sorgt sich auch aus. Ihr Mann Kerim habe das nicht mehr
ausführlich über die Unterdrückung der wegen der Unabhängigkeitsbestrebungen ausgehalten. Im Jahr 2002 verlässt er Xin-
uigurischen Minderheit in China berich- einiger Uiguren. Chinas Megainfrastruk- jiang und wird in Frankreich als politischer
tet, das macht die Geschichte von Hai- turprojekt »Neue Seidenstraße«, das Flüchtling anerkannt. Seine Frau folgt ihm
tiwaji besonders. Kaum jemand ent- Asien über den Nahen Osten mit Europa 2006 mit den Kindern nach Paris.
kommt den Lagern in Xinjiang. verbinden soll, führt durch Xinjiang. Anders als ihr Mann behält sie die chi-
Bei Gulbahar Haitiwaji ist das anders, nesische Staatsbürgerschaft. »Falls meine
sie hat den Mut gefunden, über ihre Folter Mutter in Xinjiang krank werden sollte,
öffentlich zu sprechen. Zusammen mit Neonlampen wollte ich zu ihr reisen können.«
der Journalistin Rozenn Morgat des fran- brennen ohne Pause,
zösischen »Figaro« hat sie über ihre Erfah-
rungen in Xinjiang ein beeindruckendes ihre Füße sind * Gulbahar Haitiwaji, Rozenn Morgat: »Rescapée du
goulag chinois« (Überlebende des chinesischen Gu-
Buch geschrieben, das bislang nur auf zeitweise angekettet. lag –Red.). Éditions des Équateurs; 244 Seiten; 18 Euro.
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ist Gulhumar zu sehen, damals noch min-
derjährig, wie sie in eine Flagge Ostturkes-
tans gehüllt an der Place du Trocadéro
in Paris steht, bei einer Demonstration.
Es ist die Flagge der uigurischen Befürwor-
ter eines unabhängigen Staats. Gulhumar
sagt: »Der Protest war für mich bloß ein
soziales Event.« Die Polizisten in Xinjiang
interessiert das nicht. Sie werfen Haitiwaji
vor, ihre Tochter sei eine »Terroristin«.
Ende Januar 2017 verschwindet Gulba-
har Haitiwaji im Gefängnis von Karamay.
Vier Monate harrt sie in der Zelle 202 aus.
Die Neonlampen brennen ohne Unterlass.
An den Fußgelenken ketten ihre Bewacher
sie zeitweise an einer Pritsche fest.
Mit ihr im Gefängnis sind Uigurinnen,
die Verwandte im Ausland haben oder
dort lebten. Frauen, die beim Beten er-
wischt wurden oder die ausländische Apps
auf ihre Handys runtergeladen hatten, was
inzwischen für sie verboten ist.
Die sogenannte Karakax-Liste der chi-
nesischen Regierung, ein im Februar 2020
geleaktes Dokument, belegt Haitiwajis
Schilderung. Uiguren stehen in China un-
ter Generalverdacht. Eingesperrt werden
sie schon dann, wenn sie mehr Kinder ha-
ben, als der Staat erlaubt – auf dem Land
drei, in den Städten zwei. Oder weil sie
sich einen Bart wachsen lassen oder die
falschen Bücher lesen.
Am 9. Juni 2017 wird Haitiwaji zur
»Schule geschickt«, wie ihre Bewacher be-
schönigend formulieren: Man verlegt sie
nach Baijiantan in ein Umerziehungslager.
»Bei guter Führung sollte ich nach ein paar
Monaten entlassen werden«, erzählt sie.
Aber das Martyrium beginnt erst.
Im Umerziehungslager am Stadtrand
von Karamay sind mit ihr etwa 200 Frauen
Laura Stevens / DER SPIEGEL
privat
Mittag kochen würde. Ihre Freundinnen in Die Männer zwingen Haitiwaji, ihre Fami-
Haft fragen sie nach dem Aufwachen, was Haitiwaji mit Töchtern in Versailles 2015 lie auszuhorchen, und diktieren ihr eine
es im Traum zu essen gab. Die restliche »Wir dachten, dass sie tot ist« Liste von Artikeln, die ihre Tochter im In-
Zeit lernt sie, um zu überleben. Schreibt ternet löschen soll. Der Fall Haitiwaji soll
Aufsätze in den drei verlangten Stilformen: gen, dass der Staat Millionen in Geburten- aus dem Netz verschwinden.
»Selbstkritik, Geständnis, Bedauern«. kontrolle bei Uigurinnen investiert. Je mehr Haitiwaji kooperiert, desto mehr
Noch immer hat Haitiwaji nicht vor Ge- In den Zellen hängen Kameras, die die Freiheiten bekommt sie. Im Sommer 2019
richt gestanden. Sie hat keinen Anwalt ge- Frauen permanent überwachen. Haitiwaji helfen ihr die Beamten, einen Reisepass zu
sehen. Niemand sagt ihr, wie es weitergeht. verliert an Gewicht. Ihre Erinnerungen besorgen. Es gebe die Anweisung, ihren
In Frankreich ist Haitiwajis Familie lösen sich langsam auf. Es gibt nur noch Fall zu schließen. Das Regime will sie of-
krank vor Sorge. Kerim und seine beiden die Propaganda aus Peking. Zwar erfährt fenbar loswerden, vermutlich dank Frank-
Töchter hören monatelang nichts. Ihre sie keine extreme physische Gewalt. Aber reichs diplomatischer Anstrengungen.
Tochter Gulhumar ruft Bekannte in Xin- die psychische Gewalt zermürbt sie. Am 21. August 2019 fällt Haitiwaji nach
jiang an, die ihre Anrufe abblocken. In ihrer Zelle spricht Haitiwaji mit Gott zwei Jahren und neun Monaten ihrer Fa-
Als auf sozialen Netzwerken die ersten in einer tiefen Vorbeuge des Yoga. Das Ge- milie in die Arme. Gulhumar hat geträumt,
Berichte über die Camps auftauchen, habe sicht zu den Schienbeinen gerichtet, ver- dass sie in einem Rollstuhl ankommt.
Gulhumar verzweifelt E-Mails an den fran- birgt sie vor der Kamera in ihrer Zelle, dass Doch sie sieht fast wie früher aus. »Sehr
zösischen Vizekonsul in Peking geschrie- sie die Lippen im Gebet lautlos bewegt. dünn, aber glücklich, uns zu sehen.«
ben. Ihr Hilferuf sei zunächst verhallt. Haitiwaji steht auf, um die Übung vor- Wenige Monate nach Haitiwajis Rück-
Im Oktober 2017 findet der 19. Partei- zumachen. Sie steht kerzengerade, dann kehr werden geheime chinesische Doku-
kongress statt, bei dem Xi Jinping als KP- lässt sie ihren Kopf nach unten sinken. Ihre mente publik, die erstmals die offizielle
Chef bestätigt wird. Haitiwaji und ihre Mit- schwarzen Haare berühren den Teppich. Politik hinter den Lagern explizit beschrei-
gefangenen gestalten im Lager eine Feier »Wir dachten lange, dass sie tot ist«, sagt ben. Die »China Cables« belegen den Ver-
mit einem Singwettbewerb. Sie hoffen, Gulhumar am Wohnzimmertisch. such der Regierung in Peking, den Willen
dass danach die Regeln locker werden, Erst als sich im Jahr 2018 die Berichte ihrer uigurischen Häftlinge zu brechen.
doch alles sei schlimmer geworden. »Wir von Experten und den Vereinten Nationen Bis heute hat sich an dieser Praxis nichts
durften nicht mehr miteinander sprechen«, zu der systematischen Internierung meh- geändert. China bemüht sich nach außen
erzählt Haitiwaji. Aufseher verteilen Tage- ren, als die ersten Uiguren aus den Lagern um Unterstützung für seine Xinjiang-Poli-
bücher, die alle zwei bis drei Tage einge- entkommen, schöpft die Familie Hoffnung. tik – auch um die Olympischen Winter-
sammelt und benotet werden. Peking kann nun die Existenz der Lager spiele 2022 in Peking nicht zu gefährden.
Was hat sie geschrieben? »Dass China nicht mehr leugnen, behauptet aber Ende Doch die Lager werden immer mehr in
groß ist. Dass ich glücklich bin, hier zu 2018, es handle sich bei den Lagern um Hochsicherheitsgefängnisse verwandelt.
sein.« Pause. Dann verstellt sie die Stimme freiwillige »Berufsbildungszentren«. Für Gulbahar Haitiwaji hat ein zartes Zu-
und sagt mit gespielter Freude: »Ich bin Tochter Gulhumar startet eine Online- rücktasten ins Leben begonnen. Leicht hat
entzückt, Chinesin zu sein.« petition, nimmt Kontakt mit Journalisten sie es nicht. In der uigurischen Exilgemeinde
Fitnessübungen in der Zelle hätten ihr und mit der französischen Regierung auf. in Paris erzähle man sich, sie sei nur freige-
geholfen, nicht krank zu werden. Sie zeigt, Im Oktober 2018 wird Gulbahar Haiti- kommen, weil sie den chinesischen Behör-
wie sie die Schultern unmerkbar nach hin- waji in ein größeres Umerziehungslager ver- den Informationen geliefert habe.
ten dehnte oder ihren Beckenboden leicht legt. Hier erwartet sie nach anderthalb Jah- Haitiwaji ist politischer geworden.
hin und her kippte, wenn die Wächter sie ren Haft ihr sogenannter Prozess. Er dauert »Europa muss mehr tun, um die Camps zu
zum Stehen zwangen. Ein Überlebens- neun Minuten. Polizisten ziehen wieder das schließen«, sagt Gulhumar, ihre Tochter.
kampf, der sich auf Millimetern abspielte. Foto ihrer Tochter hervor. Der Richter wirft »Das Ziel kann nicht sein, einen Menschen
Ist sie dieselbe Frau, die sie vor dem La- ihr Verfehlungen rund um ihre Auswande- nach dem anderen rauszuholen.«
ger war? »Ich finde keine echte Ruhe mehr. rung vor. Er verurteilt Haitiwaji zu sieben Gulbahar Haitiwaji hat die Hölle über-
In mir wohnt immer eine Angst.« Jahren im Lager. Danach muss sie der Partei lebt. Daran zerbrochen ist sie nicht. Zeit
Im Lager in Xinjiang wird Haitiwaji für diese Chance zur Umerziehung danken. und Routine werden sie heilen, glaubt sie.
2017 zwangsgeimpft, erzählt sie. Angeb- Haitiwaji lacht in ihrer Wohnung bitter auf. Wenn der Lockdown vorbei ist, will
lich sollen die Spritzen gegen Grippe sein. »Danke«, sagt sie. »Danke.« Haitiwaji endlich Französisch lernen. Sie
»Doch viele Frauen bekamen danach ihre In Frankreich hat ihre Tochter beschlos- möchte wieder arbeiten gehen. Ihre Toch-
Periode nicht mehr.« Die Angst vor Steri- sen, die Öffentlichkeit einzuschalten, sie ter schlägt eine Ausbildung als Floristin
lisierungen geht um. Haitiwaji erzählt von gibt dem Sender France24 ein Interview. vor. In Blumen liege so viel Schönheit. Sie
verzweifelten jungen Frauen, die eine Fa- »Ich verlange die Freiheit meiner Mutter«, findet, zu ihrer Mutter passe das sehr gut.
milie gründen wollten. Recherchen bele- sagt sie. »Einer unschuldigen Frau.«
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Sport
Die Topverdienerinnen im Tennis . .. ... und beim Ski alpin
Preisgelder 2019/20, in Euro
Picture Alliance
Henrik Kristoffersen
Daniil Medwedew Russland 6,6 Mio. Quellen: Forbes, Fis Norwegen
275 132
Die ungleiche Bezahlung von Sportlerinnen und Sportlern wird in diesem Jahr ein wichtiges Thema bleiben. Bei großen
Tennisveranstaltungen wie etwa den Australian Open, die in der kommenden Woche beginnen, sind die Preisgelder
zwar identisch, bei anderen jedoch klaffen sie noch auseinander. Im Ski alpin liegen die Prämien bei den meisten
Weltcuprennen gleichauf, allerdings bei insgesamt weit geringeren Summen. Bei der Nordischen Kombination, in
der es in diesem Winter erstmals einen Weltcup für Frauen gibt, bekommen die Männer deutlich mehr.
Gut zu wissen
verglichen mit Wettkämpfen im Ausland«, Trotz der Stille schossen die deutschen
sagt Krumer. Männer nicht gut. Krumer erklärt das
Der Druck, die Angst zu versagen – das damit, dass die Erwartungen zu Hause
seien die Gründe, weshalb die Athleten etwa durch die Presse oder Sponsoren
vor heimischem Publikum öfter daneben- hoch seien – auch ohne Publikum an der
zielten. Konkret schossen die Männer auf Stefanie Scherer im Januar in Polen Strecke. MAS
T
homas Hitzlsperger ist eine Le- der der in eine AG ausgegliederten Profi- zwei Männern um Macht und Einfluss. Es
gende des VfB Stuttgart. Die Fans fußballabteilung. Ende Dezember hatte er geht im Kern um die Frage, wer über den
verehren den Mittelfeldmann für angekündigt, zusätzlich Vereinspräsident Fußball bestimmen darf: ein kleiner Kreis
seinen wuchtigen Schuss im letz- werden zu wollen. Er hätte sich damit von Mächtigen oder die Fans? Was setzt
ten Meisterschaftsspiel der Saison 2006/07. selbst kontrolliert, wäre allmächtig beim sich durch im Fußballgeschäft – die Inte-
Aus 22 Metern schlug der Ball im Tor des Bundesligisten geworden. Viele Anhänger ressen des Kapitals oder die der Kurve?
FC Energie Cottbus ein. nennen Hitzlsperger seitdem »Spalter« Fragen, die auch die Anhänger von Han-
Wenig später feierte eine ganze Stadt. oder »Sonnenkönig«. nover 96, dem Hamburger SV und von
Der VfB Stuttgart war deutscher Meister Der Mann, der im Oktober für sein so- Schalke 04 bewegen. Beim VfB Stuttgart
geworden. Es war eine Sensation. ziales Engagement das Bundesverdienst- sind die Methoden der Auseinanderset-
»Das Beieinandersein, diese Kamerad- kreuz erhielt, steht im Mittelpunkt einer zung aber hinterlistiger, es wird getrickst,
schaft« seien der Schlüssel zum Erfolg ge- der größten Vereinskrisen des VfB Stutt- getäuscht und gelogen.
wesen, so beschrieb Hitzlsperger den größ- gart. Die Spitze des Vereins ist heillos Die Vereinsmitglieder wählten Hitzls-
ten Triumph der jüngeren Vereinsgeschich- zerstritten: auf der einen Seite Hitzls- pergers Gegenspieler im Dezember 2019
te, so etwas »habe ich vorher und nachher perger, den weite Kreise des Führungszir- zum Präsidenten, weil er die Nähe zu den
so nicht mehr erlebt«. kels unterstützen; auf der anderen Seite Fans verkörpert. Claus Vogt geht mit VfB-
Die Harmonie bei dem Bundesligisten Vereinspräsident Claus Vogt, 51, der die Schal in die Stadionkurven.
ist längst Vergangenheit, und dazu hat der Basis der 71 500 Vereinsmitglieder hinter Im Hauptberuf führt er ein Unterneh-
Fußballheld von einst viel beigetragen. sich weiß. men für Facility-Dienstleistungen. Im Auf-
Der ehemalige Nationalspieler, 38, ist heu- Was den Verein seit einigen Wochen trag von Großkunden wie Metro oder Bur-
te Sportvorstand und Vorstandsvorsitzen- durchschüttelt, ist mehr als der Streit von ger King organisiert er den Betrieb von
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Büro- und Geschäftsräumen. Lange vor kehr zwischen der Behörde und dem AG- aller Störfeuer kamen die Prüfer zu einem
seiner Wahl hat er den Verein »FC Play- Vorstand belegt. klaren Urteil: Es sei zutreffend, dass der
Fair!« gegründet. »Wir hatten die Idee, Vergangenen Mittwoch bestellte Daten- Verein Zehntausende Mitgliederdaten wei-
rund um den Fußball die Sinnfrage zu stel- schützer Brink Hitzlsperger und Vogt ein tergegeben habe – und es sei »sehr wahr-
len«, erklärte Vogt, PlayFair sei eine Platt- und eröffnete ihnen, dass er nach erster scheinlich«, dass die Daten auch für Gue-
form für Fans, »die mit ihrer Hingabe und Prüfung erhebliche Datenschutzverstöße rilla-Marketing genutzt worden seien.
Treue den Zuschauersport Fußball erst beim VfB sehe. Brink hat deshalb ein Buß- Dies, so schreibt Esecon, stelle »sicherlich
groß gemacht haben.« geldverfahren eingeleitet. einen Täuschungsversuch ggü. den Mitglie-
Männer wie Vogt werden im Bundesliga- Vogt hatte zügig auf die Vorwürfe rea- dern und damit einen Vertrauensbruch dar.
business oft als Fußballromantiker verspot- giert und eine »externe, transparente, kri- Dies gilt umso mehr, als die Untersuchun-
tet. Beim VfB rückte er an die Spitze, als tische, neutrale und unabhängige Auf- gen klare Hinweise darauf gaben, dass Pla-
der Verein im Begriff war, weitere Anteile arbeitung« der Affäre angekündigt. Wie nung und Umsetzung dieser Maßnahmen
an Investoren zu verkaufen. interne Dokumente nun belegen, stand er auf der Führungsebene des VfB bekannt wa-
Vogt war rund drei Monate im Amt, als vereinsintern mit diesem Bestreben aber ren und zumindest geduldet wurden«.
die Pandemie um sich griff. Der Verein von Beginn an auf verlorenem Posten. Die Liste der von Esecon belasteten
schickte Mitarbeiter in Kurzarbeit, bean- Ende September mandatierte der VfB Funktionäre ist lang. Die zwei leitenden
tragte später Staatshilfen. Und es kam auf Vogts Initiative die Berliner Beratungs- Angestellten Oliver Schraft und Uwe Fi-
noch schlimmer. firma Esecon mit der Aufklärung. Deren scher verschickten demnach die Daten-
Im September 2020 berichtete das Ermittler sind erprobt beim Durchleuch- pakete an den Betreiber der Facebook-
Sportmagazin »Kicker« von skandalösen ten von Funktionärsfilz; zuletzt gingen sie Seite. In die Pläne für das »Guerilla-Mar-
Vorgängen in Stuttgart. Demnach habe der für den Deutschen Fußball-Bund der Frage keting« sollen die Vorstände Stefan Heim
Verein in den Jahren 2016 und 2017 sein nach, wie im Verband halbseidene Deals und Jochen Röttgermann sowie das heuti-
kostbarstes Gut verkauft – seine Fans. Der mit dem Sportvermarkter Infront einge- ge Präsidiumsmitglied Rainer Mutschler
Vorwurf: VfB-Mitarbeiter hätten mehr- stielt worden waren. eingeweiht gewesen sein.
mals per Mail Zehntausende Daten von Beim VfB gestaltete sich die Arbeit kom- Mutschler kommt bei der Affäre eine
Mitgliedern an einen externen Dienstleis- pliziert für die Prüfer, so steht es in einem zentrale Rolle zu. Der Esecon-Bericht legt
ter weitergeleitet, ohne die Betroffenen Abschlussbericht, den die Ermittler diese nahe, dass der Dienstleister, an den die
darüber zu informieren. Empfänger der Woche intern vorgelegt haben. Esecon be- Mitgliederdaten versendet wurden, aus ei-
brisanten Mails sei der Betreiber einer ver- nem von Mutschler verantworteten Bud-
einsnahen Facebook-Seite gewesen. gettopf bezahlt wurde. Mutschler leitete
Hinter dem Deal, so die Vermutung, Eine unabhängige zu dem Zeitpunkt eine vereinsinterne Pro-
habe ein perfider Plan gesteckt: kritische jektgruppe, die den Ausgliederungspro-
Anhänger umzudrehen, die gegen die ge-
Aufarbeitung sei »nicht zess vorbereiten sollte.
plante Ausgliederung der Profiabteilung gewährleistet« gewesen, Auf Anfrage teilte der VfB mit, man wer-
in eine AG stimmen wollten. Erst mit der schreiben die Ermittler. de sich bis zur »Bekanntgabe der Ergeb-
neuen Kapitalgesellschaft konnte sich der nisse zur Aufarbeitung« nicht öffentlich
VfB für Investoren öffnen. äußern. Hitzlsperger und Vogt lehnten die-
Vogts Vorgänger in der Vereinsspitze mängelt in dem streng vertraulichen Pa- se Woche ein Gespräch zu dem Thema ab.
hatten die Ausgliederung gewollt. Der ex- pier, dass Es ist auffällig, wie viel Energie die Ver-
terne Dienstleister sollte dafür Stimmung ‣ die Präsidiumsmitglieder Bernd Gaiser einsbosse seinerzeit investierten, um die
machen und mithilfe der Mitgliederdaten und Rainer Mutschler »zahlreiche Ver- Ausgliederung des Profifußballs in die AG
»glaubwürdiges Guerilla-Marketing« be- suche« unternommen hätten, Esecons voranzutreiben. So gab es bei der entschei-
treiben. So steht es in einer VfB-internen Mandat zu beschneiden, sie hätten da- denden Mitgliederversammlung von mehr
Präsentation von damals. Es sei das Ziel mit »erhebliche Verzögerungen des Un- als 12 000 Stimmberechtigten im Juni 2017
gewesen, die Vereinsanhänger subtil auf tersuchungsablaufs« verursacht, im Stuttgarter Stadion weitere Ungereimt-
Facebook zu beeinflussen, zugunsten einer ‣ der AG-Vorstand sowie das Vereinsprä- heiten. Rund ein Viertel der Anwesenden
möglichen Ausgliederung. sidium »nachhaltig« Einfluss »auf die beteiligte sich nicht an der wohl wichtigs-
Ein Schritt, der bei einer Mitgliederver- Untersuchung genommen« hätten. Un- ten Abstimmung der Vereinsgeschichte.
sammlung im Juni 2017 dann tatsächlich ter den zahlreichen Beispielen, die Ese- Warum Tausende ihr Stimmrecht nicht
vollzogen wurde, Monate nach der Daten- con auflistet, finden sich E-Mails, in wahrnahmen, ist schleierhaft.
weitergabe. denen Hitzlsperger VfB-Mitarbeiter da- Eine mögliche Erklärung geben zwei
Durch das Votum war der Weg frei für rüber informierte, dass sie sich der Be- Augenzeugen, von denen sich einer nun
die Ausgliederung. Und er war frei für den fragung durch die Ermittler verweigern an die Esecon-Ermittler gewandt hat.
ersten VfB-Investor: Daimler. Der Auto- könnten, Schriftlich berichtet er von »massiven Pro-
bauer zahlte 41,5 Millionen Euro für ‣ eine unabhängige Aufarbeitung beim blemen« bei den elektronischen Geräten,
11,75 Prozent der AG-Anteile. Laut Mit- VfB »nicht gewährleistet« gewesen sei. mit denen die Abstimmung durchgeführt
gliederbeschluss stehen weitere 13,15 Pro- Denn in den Vereinsgremien säßen Per- wurde, »zahlreiche Mitglieder« hätten sich
zent der AG-Anteile im geschätzten Wert sonen, die »direkt mit den zu untersu- deshalb vor Ort beschwert. Besonders
von rund 50 Millionen Euro zum Verkauf. chenden Vorgängen in Verbindung ste- dort, wo die eher kommerzkritischen VfB-
Wenige Tage nach dem »Kicker«-Be- hen«. Daher seien »Glaubwürdigkeit Anhänger saßen, habe die Technik ge-
richt meldete sich das Büro des baden- und Verwertbarkeit der Untersuchungs- streikt. »Obwohl das Problem weiterhin
württembergischen Landesdatenschutzbe- ergebnisse« eingeschränkt. flächendeckend bestand und Offizielle da-
auftragten Stefan Brink bei Hitzlsperger Beim VfB, so suggeriert es der Esecon- rüber informiert waren«, sei die Veranstal-
mit einem Fragenkatalog. Wie konnten Bericht, bewachte der Fuchs den Hühner- tung fortgesetzt worden, heißt es in dem
mutmaßlich Tausende Daten den Verein stall. Offenbar wussten einige Funktions- Schreiben.
verlassen? Hitzlsperger lieferte nur schlep- träger, dass ihnen die Untersuchungsergeb- Alles nur Zufall – oder waren die Wahl-
pend Informationen, wie der Schriftver- nisse nicht gefallen dürften. Denn trotz geräte manipuliert, um das Abstimmungs-
Leben ist
ergebnis zu beeinflussen? Der Verein kostet. Laut einer Umfrage der Nachrich-
schweigt auch dazu. tenagentur Kyodo sind 80 Prozent der an-
Auffallend ruhig im Chaos der vergan- fangs euphorischen Japaner mittlerweile
wichtiger
genen Monate ist Ankerinvestor Daimler. gegen die Austragung des Megaevents in
Dabei ist der Einfluss des Stuttgarter Un- diesem Sommer.
ternehmens traditionell hoch beim VfB. »Tokyo 2020« hat das Potenzial, zu den
Seit mehr als sechs Jahren sitzt Wilfried unbeliebtesten Spielen der Geschichte zu
Porth, Daimlers Personalvorstand, im Auf- Olympia Jetzt zweifeln sogar werden. Trotzdem verkünden die Olym-
sichtsrat des Fußballklubs. Porth, 62, lob- japanische Sportler an »Tokyo piaplaner beständig Durchhalteparolen.
byiert offen dafür, Investoren an den Ver- 2020«. Die Spiele werden »Ganz egal, wie es sich mit der Corona-
ein zu binden. Dafür spannt der Manager virus-Pandemie entwickelt, wir halten
auch seinen Arbeitgeber ein. zunehmend zu einer Belastung die Spiele ab«, erklärt Organisationschef
Vor einer VfB-Mitgliederversammlung für das Gastgeberland. Yoshiro Mori.
im Juli 2019 warb Porth im Daimler-Intra- Ein Jahrzehnt nach dem Atomreaktor-
net für den damaligen Vereinspräsidenten unfall von Fukushima sollte Olympia in
und Großkapital-Fürsprecher Wolfgang
Dietrich, dem das Aus drohte. »Die An-
träge auf Abwahl des Präsidenten lehnen
wir ab«, richtete sich Porth an die VfB-Mit-
H itomi Niiya ist in Japan ein Star. Im
Halbmarathon und über 10 000
Meter hatte sie zwei mehr als zehn
Jahre alte Landesrekorde gebrochen. Der
Japan das Ende des Wiederaufbaus mar-
kieren. »›Tokyo 2020‹ galt als großes pa-
triotisches Projekt«, sagt Hiroki Ogasa-
wara, Soziologieprofessor an der Kobe-
glieder in der Daimler-Belegschaft. Leichtathletikverband kürte die 32-Jährige Universität. »Sportler haben in Japan
Der Appell war vergebens. Dietrich trat deshalb zur Sportlerin des Jahres 2020. nicht die Rolle von Akteuren, die ihre Mei-
zurück, nachdem bei der Mitgliederver- Als Niiya gefragt wurde, wie sie eigent- nung kundtun und damit die Gesellschaft
sammlung das WLAN ausgefallen war und lich zu »Tokyo 2020« stehe, den Olympi- beeinflussen«, so Ogasawara, von Athle-
die Veranstaltung vor Dietrichs wahrschein- schen Spielen, die Ende Juli eröffnet wer- ten erwarte man: »Halt den Mund, und
licher Abwahl im Chaos abgebrochen wer- den sollen, erwiderte sie: »Als Sportlerin mach dein Spiel.«
den musste. Bis heute ist ungeklärt, wie will ich es durchziehen, als Mensch will Im vergangenen März, als die Spiele
es zu der Störung kommen konnte. ich es nicht.« Im Zweifel müsse man die erst nach lauten Protesten von Sportlern
Seitdem zermürben Machtkämpfe den Veranstaltung absagen: »Das Leben ist anderer Länder verschoben wurden, blieb
Verein. Richtig schmutzig wurde es zur wichtiger als die Olympischen Spiele.« Japans Sportszene stumm. Umso bedroh-
Jahreswende. Nachdem im November Für die Veranstalter von »Tokyo 2020« licher ist es für die Organisatoren, wenn
durch einen Zwischenbericht von Esecon sind solche Aussagen prominenter Sportler sich jetzt selbst im Gastgeberland Wider-
klar geworden war, dass Verfehlungen ak- wie Tiefschläge im Boxen. Das Internatio- stand formiert. Um den Jahreswechsel hat-
tueller Führungskräfte aufgedeckt werden nale Olympische Komitee (IOC) und das te der Sender NHK 42 japanische Athleten
könnten, eskalierte intern der Widerstand Tokioter Organisationskomitee bemühen zu Olympia befragt. 38 Prozent gaben an,
gegen den aufklärungswilligen Vogt. sich seit Monaten, der anschwellenden dass ihre Motivation nachlasse. 26 Prozent
Einige Funktionäre bedrängten den Prä- Skepsis Herr zu werden. Nach rasant stei- sagten, die öffentliche Debatte im Land
sidenten, sich zurückzuziehen. Als Vogt genden Infektionszahlen befindet sich auch schlage auf ihr Gemüt.
sich weigerte, putzte ihn Hitzlsperger in der Großraum Tokio seit Beginn des Jahres Die kritischen Athleten bekamen Ende
einem offenen Brief einen Tag vor Silves- im Ausnahmezustand, der Anfang Februar Januar zudem Unterstützung von Haruo
ter herunter und kündigte seine eigene noch einmal verlängert werden musste. Ozaki, dem Präsidenten des Tokioter Ärz-
Kandidatur zum Vereinschef an. Nachdem Es mehren sich die Stimmen, auf Olym- teverbands: »Die Spiele zu veranstalten,
sich große Teile der Fanszene mit Vogt so- pia zu verzichten – zumal die Verschie- nur weil man sie veranstalten will, ist sinn-
lidarisiert hatten, entschuldigte sich Hitzls- bung der Spiele um ein Jahr Milliarden los.« Das begrenzte Ärztepersonal werde
perger erst für seine Attacke und zog bald anderswo gebraucht. Ozaki forderte zu-
darauf seine Kandidatur zurück. Es war dem ein Hygienekonzept für Olympia ein.
ein peinlicher Vorgang – aber der Zweck Zumindest in diesem Punkt hat sich das
war womöglich erfüllt. Der Riss in der Füh- IOC bewegt. In dieser Woche hat es den
rungsmannschaft war nunmehr für jeder- Sommersportverbänden die erste Version
mann so offensichtlich, dass der Beirat des der sogenannten Playbooks zugestellt, aus
Vereins mittlerweile einen neuen Präsi- denen ansatzweise hervorgeht, wie die
dentschaftskandidaten sucht. Amtsinha- Spiele aussehen könnten.
ber Vogt läuft somit Gefahr, für die nächste Insgesamt waren für Tokio rund
Wahl nicht einmal nominiert zu werden. 130 000 Personen eingeplant, Athleten,
Und der Kleinkrieg geht weiter. Er dreht Betreuer, Funktionäre, Medienleute. Sie
sich inzwischen etwa um die Frage, wer den müssen eine App auf ihrem Smartphone
PCN Photography / Alamy / Mauritius Images
Auftrag erhält, die rechtliche Bewertung des installieren, mit der sich Kontakt- und Be-
brisanten Esecon-Berichts vorzunehmen. wegungsprotokolle erstellen lassen. Zu-
Vogt wurde bearbeitet, den Zuschlag der dem sind für sämtliche Sportler die öffent-
Kanzlei Gleiss Lutz zu übertragen. Daimler- lichen Transportmittel tabu, sie sollen die
Mann Porth versuchte Ende Januar, per Blase generell nicht verlassen. Im Olym-
Umlaufbeschluss im Aufsichtsrat durchzu- pischen Dorf ist ein Abstand von zwei Me-
drücken, dass die Stuttgarter Rechtsanwälte tern vorgeschrieben.
mandatiert werden. Gegen den Willen Vogts. Wer gegen die Corona-Regeln verstößt,
Die Kanzlei Gleiss Lutz ist eng mit wird bestraft – bis zum Olympiaausschluss.
Daimler verbunden. Die olympische Idee sah einmal anders
Udo Ludwig, Thilo Neumann Langstreckenläuferin Niiya 2012 in London aus. Felix Lill, Jens Weinreich
»Als Mensch will ich die Spiele nicht«
Neues aus der SPIEGEL-Welt: Wie die Brüder Grimm mit ihren Märchen eine deutsche
Tradition erfanden und so gegen den Eroberer Napoleon kämpften, erklärt die
aktuelle Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE.
S
echs Jahre vor Erscheinen der »Kinder- und Haus- »Alles ist fast nur in Hessen und den Main- und Kinzig-
märchen« hatte Napoleon Bonaparte dem Heiligen gegenden in der Grafschaft Hanau, wo wir her sind, nach
Römischen Reich den Todesstoß versetzt. Seit mündlicher Überlieferung gesammelt«, verkünden sie
dem 15. November 1807 war Kassel, wo die Brü- in der Vorrede ihrer Märchensammlung. Das stimmte nicht
der Grimm wohnten, Hauptstadt des Königreichs West- ganz: Zwar hatten sie die Märchen ringsum in ihrer Heimat
phalen, das der Kaiser für seinen kleinen Bruder Jérôme aufgespürt, nur waren die Geschichten dort meist nicht
eingerichtet hatte. entstanden, sondern zu großen Teilen eingewandert – aus-
Der tägliche Anblick französischer Soldaten, die anti- gerechnet aus Frankreich.
französischen Ressentiments, die auf den Straßen und
in den Stuben die Gespräche beherrschten, weckten ein
deutsches Nationalgefühl, das es im bis dahin föderal orga- Weitere Themen
nisierten Heiligen Römischen Reich nicht gegeben hatte. Nützliche Verbindungen:
Viele Intellektuelle fahndeten nach Anknüpfungspunkten Wie Joséphine Napoleon
in der Geschichte und spürten einer vermeintlichen deut- zur Macht verhalf
schen Tradition nach. Gute Gesetze: Warum der
Auch die Grimms stöberten tief in der Vergangenheit – und »Code Civil« bis heute
begannen, nach möglichst alten »Volksmärchen« zu suchen. in Deutschland nachwirkt
»In diesen Volks-Märchen«, behaupteten die Brüder Grimm Gefährlicher Guru: Die Deutsch-
1814 im Vorwort zum zweiten Band ihrer Märchensamm- tümelei von »Turnvater« Jahn
lung, »liegt lauter urdeutscher Mythus, den man für verloren
gehalten.« Tatsächlich hatten sie ihre Märchen aus vielen SPIEGEL GESCHICHTE erscheint sechsmal im Jahr, fächert
Dokumenten zusammengetragen: mittelalterlichen Legenden, jeweils ein historisches Thema unterhaltsam und analytisch
Schwank- und Anekdotenbüchern, Tierfabeln mit antiken auf und liefert immer auch Erkenntnisse für die Gegenwart.
Wurzeln, Wunderzeichenbüchern und manch anderem litera- Erhältlich im Abonnement (abo.spiegel-geschichte.de),
rischen Werk des 17. und 18. Jahrhunderts. Vor allem aber in der SPIEGEL-Kiosk-App, im Zeitschriftenhandel und unter
wurden ihnen Märchen von Frauen zugetragen. amazon.de/spiegel. 148 Seiten; 9,90 Euro.
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Wissen
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Fachten Stürme wüteten. Das beschreibt ein »Aber drei innerhalb von nur
Team um den Klimaforscher zwei Wochen? Das war schon
in Asien Brände in Jin-Ho Yoon vom Gwangju historisch.« Die tropischen
Institute of Science and Tech- Wirbelstürme hatten eine der-
Amerika an? nology in der Zeitschrift artige Wucht, dass sie in der
G Mehr als 10 000 Waldbrän- »Geophysical Research Let- Lage waren, den Jetstream zu Galaxien hat ein Forscherteam
de verheerten im vorigen ters«. »Ein Taifun dieser verformen, jenen Höhenwind, am Anglo-Australian Telescope
Sommer und Herbst die US- Stärke ist in Korea nicht un- der wie ein Förderband um in New South Wales vermes-
Westküste, über 150 000 den Planeten kreist. Das ver- sen, um ihr Verhalten zu verste-
Menschen mussten fliehen. Es stärkte die Wetterfront zwi- hen. 250 Nächte lang durch-
kam dabei sogar zu einem schen einem Hochdruckge- forstete es mithilfe des speziell
»Gigafeuer«, einem Brand auf biet über Kanada- und einem angefertigten Spektrografen
einer Fläche von mehr als Tiefdruckgebiet über der US- »Sami« den Südhimmel. Nun
4000 Quadratkilometern, Westküste. »Der Taifun ›Hai- veröffentlichen die Forscher
deutlich größer als die Fläche shen‹ verlängerte die anfäng- die Beobachtungsdaten und
Luxemburgs. Angefacht wur- liche Ausbreitung der Feuer«, erstaunliche Einsichten: Das
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Jörg Müller / Agentur FOCUS / DER SPIEGEL
Corona-Expertin Brinkmann
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Wissen
zu verlängern. Mitte Oktober hat mich die »Als zöge man sich ein Brinkmann: Die Idee ist, dass »No Covid«
Kanzlerin angerufen. Ich habe gesagt: Es als Strategie von unten funktioniert: Ein-
ist nicht fünf vor zwölf, Frau Merkel, es ist Pflaster quälend langsam zelne Landkreise oder Gemeinden neh-
zwölf. Am Ende haben dann aber wohl vie- ab – oder einmal schnell, men sich vor, möglichst schnell zur grünen
le Ministerpräsidenten nicht mitgespielt. So Zone zu werden. Dazu müssen sie nicht
haben wir wertvolle Zeit verloren. Die zack!, weg ist es.« ganz runter auf null, 10 ist das Zwischen-
Schulen blieben auf, die Mobilität blieb ziel. Dann können erste Lockerungen fol-
hoch. Allein diese zwei Wochen Verzöge- gen. Zum Beispiel in Kita und Schule!
rung bis Anfang November haben uns in Brinkmann: Unsere Initiative hat mit SPIEGEL: Wie lang ist der Weg für Gemein-
den letzten drei Monaten etwa 30 000 Men- »Zero Covid« nur gemeinsam, dass wir auf den, die mit Inzidenzen von mehr als 200
schenleben gekostet. Jetzt, mit den neuen die Null zusteuern wollen. Der größte Un- zu kämpfen haben?
Varianten, passiert wieder das Gleiche. terschied ist, dass die Unterzeichner der Brinkmann: Was exponentiell steigt, kann
SPIEGEL: Dass die Politik zu spät ..? »Zero Covid«-Kampagne Bürger aus allen auch exponentiell sinken. Bei einer R-Zahl
Brinkmann: Ich fürchte, ja. Wir alle wol- Lebensbereichen sind, denen es darum von 0,9 dauert es einen Monat, bis sich
len aus diesem verdammten Lockdown geht, eine bessere Welt zu erschaffen. Dazu die Zahlen halbieren, bei 0,7 nur eine Wo-
raus – aber die Kanzlerin hat am Dienstag wollen sie zum Beispiel die Wirtschaft kom- che. Das ist, als würde man sich ein Pflas-
leider verkündet, dass die 50er-Inzidenz plett lahmlegen. Genau das wollen wir auf ter quälend langsam abziehen – oder ein-
weiterhin als Richtschnur dienen soll. Mit gar keinen Fall, der Schaden wäre zu groß. mal schnell, zack!, und weg ist es.
diesem Kurs haben wir keine Chance. Wir sind eine Gruppe von Wissenschaftlern, SPIEGEL: Gut, aber wie schnell geht
SPIEGEL: Woher wissen Sie das so sicher? die ein evidenzbasiertes Konzept vorlegt, »zack« in diesem Fall?
Brinkmann: Dazu müssen wir nur in an- wie es möglich wäre, die Pandemie zu ma- Brinkmann: Mit der »No Covid«-Strategie
dere Länder blicken, die bei Inzidenzen nagen, ohne solche drastischen Einschnitte. könnten wir das bis Ostern geschafft haben.
um die 50 geöffnet haben – und prompt SPIEGEL: Auf der anderen Seite stehen SPIEGEL: Welchen Beleg haben Sie dafür,
sind die Zahlen wieder hochgegangen. In Wissenschaftler wie der Epidemiologe dass das funktionieren würde?
Irland zum Beispiel nach Weihnachten; da- Klaus Stöhr, der sagt, im Winter seien die Brinkmann: Einer unserer Mitstreiter in der
ran war nicht nur die neue Variante schuld, Inzidenzzahlen sowieso nicht auf 10 oder Initiative ist ein Helmholtz-Kollege, Michael
die zu der Zeit dort zu zirkulieren begann. weniger zu drosseln. Meyer-Hermann. Er hat mir gerade seine
Und selbst wenn man es am Ende einiger- Brinkmann: Das kann er gern stoisch wie- Modellierungen gezeigt, und mir stockte
maßen hinbekäme, die Zahl der Neuinfek- derholen. Aber er hat unrecht. In Irland gin- der Atem, als ich sah, dass seine Zahlen aus
tionen nicht allzu hoch schießen zu lassen, gen die Zahlen zunächst im Winter herunter; dem Dezember 2020 fast genau überein-
die Zahl der Toten auch in der jüngeren das funktioniert also. Und umgekehrt: In stimmen mit dem, was danach kam. Wenn
Bevölkerung wäre viel zu hoch. Afrika ist es heiß, aber das Virus wütet trotz- wir seine Kurven nun verlängern, kommt
SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf? dem. Der saisonale Effekt – dazu gibt es eine heraus: In sechs Wochen könnten wir durch
Brinkmann: Das kann sich jeder mit dem Studie – macht 20 Prozent aus. Mehr nicht. sein, wenn wir im Lockdown blieben.
Taschenrechner selbst ausrechnen. Wir ha- Außerdem wissen wir aus 15, 16 Ländern SPIEGEL: Bei vielen Menschen schleicht
ben das für das »No Covid«-Papier ge- weltweit, die die Pandemie unter Kontrolle sich ein Gefühl der Hilflosigkeit ein: Egal
macht – und kamen auf 180 000 Men- haben, dass es funktioniert. Nehmen Sie wie sehr wir uns einschränken, es bringt
schen in Deutschland unter 60 Jahren, die Australien, Neuseeland, Vietnam, Taiwan… nichts. Wie wollen Sie die motivieren?
das nächste Frühjahr nicht erleben würden. SPIEGEL: … alles Inseln, halten Ihnen Kri- Brinkmann: Wir entwickeln gerade soge-
Auch Kinder würden sterben. tiker entgegen, beziehungsweise … nannte Toolboxes, Werkzeugkästen, in
SPIEGEL: Wenn man jetzt plötzlich alles Brinkmann: … autoritäre Regime, ich weiß denen wir smarte Methoden zusammen-
aufmacht und das Virus laufen lässt? Das schon. Ich kenne die Argumentation. Aber tragen, um die Fallzahlen zu senken und
hat ja bisher niemand vor. man muss doch schauen: Wie haben die niedrig zu halten. Zum Beispiel kann man
Brinkmann: Dennoch, diese Zahl, die das gemacht? Dann kann man immer noch Menschen mit Antigen-Schnelltests ver-
180 000, gehört auf den Tisch, wenn über sehen, inwieweit sich deren Strategien sorgen, die sie selbst vornehmen können,
die nächsten Wochen entschieden werden übertragen lassen. Und siehe da: In Aus- ganz einfach, vorn in der Nase, nicht tief
soll. Stattdessen suggerieren einige Regie- tralien ist die Situation durchaus in Teilen hinten im Rachen. Es gibt auch kluge Soft-
rungsmitglieder: Der Impfstoff ist da, bald vergleichbar. Auch da hat es heftigen Streit ware, mit der die Gesundheitsämter Kon-
können wir lockern. Immerhin, RKI-Chef um »No Covid« gegeben, es ging hin und takte besser nachverfolgen können.
Lothar Wieler hat in der Expertenrunde her, aber am Schluss waren alle happy. SPIEGEL: Das alles dauert. Ab wann greift
vorgerechnet, dass bei einer Infektions- SPIEGEL: Aber schon Deutschland unter- die »No Covid«-Strategie nicht mehr?
sterblichkeit von einem Prozent 800 000 teilt sich in 401 Kreise und kreisfreie Städ- Brinkmann: Eigentlich kann man damit
Menschen in Deutschland sterben würden te, alle mit eigenem Corona-Management. immer anfangen. Wenn wir allerdings
– falls die Krankenhauskapazitäten ausrei- noch vier Wochen warten, geht es hier
chen. Was sie aber nicht tun. Die Zahl der demnächst zu wie in London, dann gibt
Covid-19-Toten läge deshalb nach aktuellen es eine Tausender-Inzidenz, und alle sind
Jörg Müller / Agentur FOCUS / DER SPIEGEL
Schätzungen noch um 30, 40 Prozent hö- ganz erschrocken. Je später man anfängt,
her; das wären eine Million Tote oder mehr. auf die Null zuzusteuern, desto mehr Tote
SPIEGEL: Trotz dieses Horrorszenarios – haben wir, desto größer ist der wirtschaft-
die Politik hat spitze Finger bei Ihrer »No liche, soziale und gesundheitliche Schaden.
Covid«-Initiative. Vielleicht auch, weil der Und desto länger dauert es.
Name so klingt wie »Zero Covid«, eine SPIEGEL: Haben Sie Angst vor dem Virus?
Kampagne, die mit einem radikalen Um- Brinkmann: Angst nicht. Aber einen
bau der Gesellschaft einhergehen soll. Wahnsinnsrespekt.
SPIEGEL: Frau Professorin Brinkmann,
* Jürgen Dahlkamp und Rafaela von Bredow in der Brinkmann, SPIEGEL-Redakteure* wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
SPIEGEL-Redaktion in Hamburg. »Das hat 30 000 Menschenleben gekostet«
97
Der Prof des
Präsidenten
Karrieren Der Biologe Eric
Lander ist der »Science
Advisor« von Joe Biden. Er soll
den Führungsanspruch der
von Politik und Wissenschaft – »für die anstrengungen im Begriff sei, Amerika zu
nächsten 75 Jahre«. überflügeln. Während Vannevar Bush
Bush ist ein Mythos in den USA. Wie nach Washington ging, als die Sonne der
Lander war er Professor an der Eliteuni amerikanischen Wissenschaft aufging,
MIT; wie Lander war er zugleich Macher, scheint es nun, als übernähme Eric Lander
Manager und Universalgelehrter; wie Lan- zum Zeitpunkt der Abenddämmerung.
der erhielt er vom Präsidenten einen Brief US-Präsident Biden, Berater Lander Lander ist blitzgescheit, zupackend, mit-
mit Fragen zur Bearbeitung. Als Antwort Abenddämmerung der Forschung? reißend, und er denkt unkonventionell.
98
Wissen
Schon seine ungewöhnliche Laufbahn schützen zu können, muss man ihre Le-
spricht für sich: Lander wuchs im New Yor-
ker Stadtteil Brooklyn auf, in einem Vier-
tel, in dem kaum einer aufs College ging.
Sex in der bensweise gut verstehen.
Sollten Biologen statt nur in der Sargas-
sosee lieber an einem anderen Ort nach
Trotzdem brachte er es schon in der
Highschool so weit, dass er sein Land bei
der internationalen Mathematik-Olympia-
Tiefsee der Kinderstube der Aale suchen? Und
zwar weiter östlich, irgendwo in der Tief-
see über dem Mittelatlantischen Rücken?
de vertreten durfte. Tiere Aale sind rätselhafte Dies vermutet ein französisch-japanisches
Mit 23 promovierte Lander in einem Geschöpfe, bis heute sind Forscher Forscherteam im Wissenschaftsmagazin
esoterischen Teilgebiet der Algebra. Doch »Scientific Reports«. Die Gelehrten stüt-
statt eine Karriere als Mathematikprofes- uneins, wo die schlangen- zen sich dabei unter anderem auf eine 3-D-
sor einzuschlagen, ging er an die Harvard förmigen Fische herkommen. Computersimulation, in der sie virtuelle
Business School, um dort Management- Nun gibt es neue Hinweise. Larven östlich der Sargassosee »aussetz-
kurse zu geben. Wenig später fand er sich ten«. Ihre simulierte Wanderung im Rech-
dann in einem Labor der Fadenwurm- nermodell passte recht gut zur realen Reise
genetik wieder.
Der Genforschung blieb er treu: Lander
war eine zentrale Figur bei der Entschlüs-
selung des menschlichen Genoms und
S eit Jahrtausenden zählen Aale zu
den geheimnisvollsten aller Lebewe-
sen. Die klügsten Köpfe machten
sich Gedanken über ihre Herkunft, von
der Fische Richtung Europa.
Die überraschende neue Hypothese
sorgt in der Fachwelt für Aufsehen, weil
einer der Mitautoren kein Geringerer ist
gründete 2004 das Broad Institute, das Aristoteles über Plinius den Älteren bis als der japanische Biologe Katsumi Tsuka-
rasch an die Weltspitze der Genomfor- hin zu Sigmund Freud. Doch es blieb wie moto, Emeritus der Universität von Tokio.
schung aufstieg. Seither leitete er es als verhext: Weder ihre Geschlechtsorgane Er gilt als Star seiner Zunft. Nach vielen
dessen Präsident. noch ihre Laichgründe waren auffindbar. Expeditionsfahrten beschrieb Tsukamoto
Wissenschaftlich ist Lander unumstrit- Erst vor rund hundert Jahren gelang es 1992 erstmalig die Laichgründe des Japa-
ten – aber es gibt andere Gründe, die ge- dem dänischen Biologen Johannes Schmidt, nischen Aals. Sie liegen in der Nähe un-
gen ihn sprechen. »Eric Lander ist keine nach jahrelangen Expeditionen kreuz und terseeischer Berge (»seamounts«) westlich
optimale Besetzung«, heißt es zum Bei- quer über den Atlantik einzugrenzen, wo des Marianengrabens. Laichen, wie es die
spiel in der Zeitschrift »Scientific Ameri- sich die Europäischen Aale mutmaßlich Computersimulation nahelegt, nicht nur
can«. Verfasst wurde der Beitrag von einer fortpflanzen: nicht weit von Bermuda, in die Japanischen Aale in der Nähe solcher
Gruppe von Aktivistinnen, die für die der relativ warmen und ruhigen Sargasso- Tiefseeberge, sondern auch ihre europäi-
Rechte von Frauen und Minderheiten in see, die ihren Namen der Überfülle an Braun- schen Verwandten?
der Wissenschaft kämpft. algen (»Sargassum«) verdankt. Deutsche Aalforscher, die schon mit
Bei der Kritik, die jetzt laut wird, geht Aber stimmt das auch? Bis heute ist es dem Meister aus Japan zusammengearbei-
es vor allem um die Antworten auf die keinem Forscher gelungen, die schlangen- tet haben, sind skeptisch. »Mit diesem
vierte der insgesamt fünf Fragen, die Biden förmigen Fische auch nur ein einziges Mal Paper haben sich unsere Kollegen leider
seinem Berater aufgegeben hat: »Wie kön- beim Sex oder beim Laichen in freier Wild- verrannt«, meint etwa Reinhold Hanel
nen wir garantieren, dass ganz Amerika bahn zu beobachten. vom Thünen-Institut für Fischereiökolo-
und alle Amerikaner die Früchte von Wis- Die Frage ist nicht rein akademisch, gie in Bremerhaven. Der Wissenschaftler
senschaft und Technik teilen?« Biden be- denn die Bestände sind in den vergange- verweist auf wichtige Unterschiede zwi-
klagt, dass die Wissenschaft noch immer nen Jahrzehnten dramatisch eingebrochen, schen den beiden Weltmeeren: »Im Atlan-
ein elitäres Unterfangen sei, an dem teilweise um 95 Prozent. Und um eine Art tik reichen die unterseeischen Berge selbst
Schwarze und Latinos, aber auch Frauen entlang des genannten Abschnitts des mit-
zu wenig Anteil hätten. telozeanischen Rückens nicht näher als
Ist Lander berufen, das zu ändern? Zwei Lange Reise 2000 Meter an die Meeresoberfläche he-
Vorfälle belasten ihn. Im Patentstreit um Wanderung und Lebenszyklus ran«, so der Fischforscher. »Doch Aale
die bahnbrechende Crispr-Technik hat er des Europäischen Aals schwimmen nicht tiefer als 1000 Meter.
Europäisches
die Beiträge der beiden inzwischen mit Nordmeer Das passt nicht zusammen.«
dem Nobelpreis geehrten Forscherinnen Mittlerweile klingen die Autoren der
Emmanuelle Charpentier und Jennifer Nord- Aalsimulation etwas verhaltener, etwa Eric
see
Doudna kleingeredet. Und anlässlich von Atlantik Feunteun, Biologe am Muséum National
3
Jim Watsons 90. Geburtstag hat Lander d’Histoire Naturelle im französischen Di-
einen Toast auf den wegen seiner rassisti- 2 nard, der federführend an der Veröffentli-
schen Äußerungen in Verruf geratenen 4 chung beteiligt war: »Es ist klar, dass Aale
Entdecker der DNA-Struktur ausgebracht. Sargasso- in der Sargassosee laichen«, erklärt Feun-
Die Geringschätzung der Leistung zwei- 1 see teun auf Anfrage. »Aber wir vermuten,
er Kolleginnen macht Lander noch nicht dass sie wohl auch östlich davon laichen.«
zum Macho; und seine Würdigung von Er würde gern eine Expedition unterneh-
Watson nicht zum Rassisten. Dennoch 1 In der Sargassosee schlüpfen die Aallarven men, um seine Hypothese zu überprüfen.
werfen die beiden Episoden Fragen auf. aus ihren Eiern. Auch Professor Hanel aus Bremerhaven
Vielleicht neigt selbst ein Querkopf wie 2 Mittels des Golfstroms driften die Larven plant schon seine nächste Forschungsreise.
Lander dazu, im Zweifel alten weißen in europäische Gewässer. Im Jahr 2023 will er in See stechen. Wie
Männern den Vorzug zu geben – nicht 3 Als sogenannte Glasaale wandern sie in die Flüsse Dutzende Forscher vor ihm in die Sargas-
weil er alte weiße Männer für klüger, fähi- ein und verbringen anschließend den Großteil ihres sosee. Um als erster Mensch der Geschich-
ger oder sonst wie besser als andere hielte, Lebens im Süßwasser. te endlich Europäischen Aalen in ihrer
sondern schlicht deshalb, weil er selbst ein 4 Die ausgewachsenen Aale kehren zurück ins Meer natürlichen Umgebung beim Sex zuzu-
alter weißer Mann ist. Johann Grolle und migrieren zum Laichen wieder in die Sargasso- schauen. Hilmar Schmundt
see, wo sie auch sterben.
Auntspray / Shutterstock
sichts der schwindelerregend schnellen
technischen Entwicklung bedarf es schon
großen Optimismus, um anzunehmen,
dass es noch viele Jahrhunderte oder gar
Jahrtausende so weitergehen kann.
Loeb sieht das Dilemma. Er fürchtet so-
gar, es könne so etwas wie ein Naturgesetz
des zivilisatorischen Kollapses geben: Um
eine interstellare Raumfahrtindustrie be-
gründen zu können, bedürfe es einer ra-
santen technischen Entwicklung. Mögli-
cherweise aber wohne dieser stets eine
exponentielle Dynamik inne, die unwei-
gerlich in den Untergang führt. Mit ande-
ren Worten: Zivilisationen neigen dazu,
sich auf dem Weg zur interstellaren Kom-
munikation selbst zu zerstören.
Für die Menschheit ist das bedauerlich.
Für die Astronomen eröffnet es Loeb zu-
folge neue Perspektiven: Statt nach den
Signalen ferner Intelligenzen zu fahnden,
empfiehlt er, nach ihren Relikten zu suchen.
Im Rahmen des sogenannten Seti-Pro-
gramms durchforstet eine unverdrossene
Gemeinde E.T.-Gläubiger den Himmel
nach Radiosignalen, die erkennbar intel-
ligenten Ursprungs sind. Loeb wendet
Adam Glanzman / The Washington Post / Getty Images
101
Kultur
Apple TV+
Timberlake, Allen
Filme moderator und später als Popstar bekannt gerade frisch aus dem Knast, trägt häss-
geworden, spielt in diesem von Fisher liche Tattoos und hat dicke Muskeln, aber
Perfekter Stevens inszenierten Film einen harten
Kerl, der sich mit einem siebenjährigen
auch Schlag bei den Frauen. Im Not-
quartier im Haus seiner Großmutter lernt
Ersatzdaddy Jungen anfreundet. Der gut genährte Kna-
be namens Sam trägt gern Rosa, spielt
er den schwer vernachlässigten Sohn
einer Drogensüchtigen kennen, eben Sam.
Nur boshafte Menschen dürften behaup- mit Puppen, ist das Mobbingopfer seiner Die Story des nun beim Streamingdienst
ten, dass in »Palmer« zwei Kinderstars Schulkameraden – und wird wirklich Apple TV+ präsentierten Unterschicht-
einander die Schau stehlen. Der 40-jähri- herzzerreißend gespielt von dem achtjäh- dramas mag ein bisschen absehbar sein,
ge Justin Timberlake, im Kindesalter rigen Kinderdarsteller Ryder Allen. Tim- aber der kleine Sam und sein Ersatzdaddy
als »The Mickey Mouse Club«-Fernseh- berlake kommt als Titelheld in »Palmer« sind ein perfektes, anrührendes Paar. HÖB
Im Herbst 2017 warfen zahlreiche Frauen dem US-Filmpro- pulation gefügig gemacht. Mehrere Frauen, die ebenfalls mit ihm
duzenten Harvey Weinstein vor, sie belästigt oder vergewaltigt liiert waren, berichten Ähnliches. Manson streitet alles ab.
zu haben. Aus Angst um ihre Karriere hätten sie zuvor lange Es gibt offenbar eine Entwicklung in der Diskussion um
geschwiegen. Weinstein ist inzwischen zu 23 Jahren Haft ver- Machtmissbrauch. Der Unterschied zu Weinstein und der
urteilt worden. Die Berichterstattung war Auslöser für eine #MeToo-Debatte ist: Seinen Vorgesetzten kann man sich nicht
Debatte über sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch am aussuchen, seinen Partner in der Regel schon. Deshalb ist es
Arbeitsplatz, unter dem Hashtag #MeToo schilderten Frauen manchmal noch schwieriger, über Vorfälle in einer Beziehung zu
auf der ganzen Welt, wie mächtige Personen sie begrapscht, zu sprechen. Dabei gibt es dafür einen – denkbar unglamourösen –
Besprechungen in Hotelzimmer eingeladen oder ihnen gegen- Namen: häusliche Gewalt. Dass die Anschuldigungen gegen
über sexistische Sprüche gemacht hatten. Manson nicht als Privatsache oder Rosenkrieg abgetan werden,
Auch dem Musiker Marilyn Manson wird jetzt Machtmiss- zeigt anderen Betroffenen, dass selbst von außen starke, erfolg-
brauch vorgeworfen. Doch die Kronzeugin, die Schauspielerin reiche Menschen in toxische Beziehungen geraten können – und
Evan Rachel Wood, hat nicht mit Manson zusammengearbeitet; es gar nicht so leicht ist, da wieder rauszukommen. Und die
sie war seine Freundin, kurzzeitig sogar seine Verlobte. Manson Solidarität, die Evan Rachel Wood in der Öffentlichkeit erfährt,
habe sie »jahrelang schrecklich missbraucht« und durch Mani- zeigt, dass es sich lohnt, diesen Schritt zu gehen. Laura Backes
MiQua
damit verbunden sind. »Es ten Mal konfrontiert sei, sagt
ist ein schönes Kompliment, Alderton, Erfahrungen, die sie Mittelalterlicher Goldohrring, Einsteinturm in Potsdam
aber ich weiß nicht, ob die verbinden. Ghosting gehöre
Idee einer Generation außer- dazu. Auch wenn die Britin Ausstellungen ganze Geschichte der Simson
halb des Journalismus wirk- nicht die Stimme ihrer Genera- Erinnern im Netz Schwalbe, eines in der DDR
lich existiert«, sagt die bri- tion sein will, ist sie gut darin, produzierten Mopeds? Das
tische Autorin. Alderton hat das, was in dieser Gegenwart Wer an dieser Zeitreise teil- Vorgängerunternehmen hatte
über 100 000 Follower auf in der Luft liegt, unterhaltsam nimmt, ist eine Weile unter- der jüdischen Familie Simson
Twitter und bezeichnet sich zu schildern. CLV wegs. Ein Jahr lang wird das gehört und war von den
dort als Kolumnistin, als Co- New Yorker Leo Baeck Insti- Nationalsozialisten »arisiert«
Gastgeberin der »High Low«- Dolly Alderton: »Gespenster«. tute im Internet jede Woche worden. »Shared History Pro-
Show, eines sehr erfolgreichen Atlantik; 384 Seiten; 22 Euro. ein Objekt präsentieren ject« nennt sich das Projekt,
Podcasts (der im Dezember und so 1700 Jahre jüdisches zu jeder Spur gibt es ein Bild
endete), sowie als Best- Leben im (heute) deutschspra- und einen Text, wer sich
sellerautorin. Gerade ist ihr chigen Raum veranschau- anmeldet, wird regelmäßig
erster Roman »Gespenster« lichen. Den Auftakt bildet ein auf den neuesten Stand ge-
erschienen, und er hat das Dekret Kaiser Konstantins bracht. Darüber hinaus star-
Potenzial, ein Nachfolger der aus dem Jahr 321; er hatte es tet Ende Februar eine virtuel-
weltbekannten »Bridget auf Bitte jener Siedlung er- le Schau. Sobald es die Coro-
Jones«-Reihe zu werden. lassen, aus der später Köln na-Bestimmungen erlauben,
Alderton erzählt von Nina, wurde. Gezeigt wird als Zeug- zeigt der Bundestag Besu-
die 32 wird und wie jedes Jahr nis mittelalterlicher Gold- chern seines Abgeordneten-
einen Song von Wham! hört, schmiedekunst ein Ohrring, hauses eine Auswahl der
weil der am Tag ihrer Geburt eine Brille erinnert an Moses Objekte im realen Raum. Das
auf Platz eins der Charts Mendelssohn, einen Philo- Vorhaben hat viel mit der Ver-
stand. Der Tradition britischer sophen der Aufklärung. In gangenheit und noch mehr
Alexandra Cameron
Romantic Novels gehorchend, Potsdam steht der kantenlose, mit der Gegenwart zu tun: Es
ist Nina auf der Suche nach aber moderne Einsteinturm sei eines gegen Geschichts-
Mr Right. Über eine Dating- des Architekten Erich Men- vergessenheit und den wach-
App kommt sie in Kontakt mit delsohn aus den Zwanziger- senden Antisemitismus, sagen
Max, der ihr bereits am ersten Alderton jahren. Und wer kennt die die Veranstalter. UK
103
Journalist Baron im Newsroom der »Post« Justin T. Gellerson / NYT / Redux / laif
Martin (»Marty«) Baron, 66, zählt zu den »Die Drohungen SPIEGEL: Sie waren während Donald
einflussreichsten Journalisten der USA. Er Trumps gesamter Amtszeit Chefredakteur
arbeitete bei der »New York Times« und kommen ja immer noch. der »Post«. Haben die Medien den Lü-
der »Los Angeles Times«, leitete den Es ist schlimmer und gen Trumps zu viel Aufmerksamkeit ge-
»Miami Herald« und den »Boston Globe«; schenkt?
die Enthüllung des Missbrauchsskandals schlimmer geworden.« Baron: Er war Präsident der Vereinigten
der katholischen Kirche im Erzbistum Bos- Staaten, das ist der mächtigste Job der
ton durch den »Globe« wurde unter dem Welt. Er hatte einen enormen Einfluss auf
Titel »Spotlight« verfilmt und mit dem Os- sie davon zu überzeugen, dass sie von der das, was hier bei uns und auf der ganzen
car ausgezeichnet. Seit 2013 ist Baron Chef- Realität abgekoppelt sind. Sie sehen uns Welt geschah. Es war unsere Pflicht, darü-
redakteur der renommierten »Washington Mainstream-Medien als diejenigen, die lü- ber zu berichten.
Post«. Das Blatt, das in den Siebzigerjahren gen. Und sie sehen sich selbst als diejeni- SPIEGEL: Welche Fehler haben Journalis-
den Watergate-Skandal und die Pentagon- gen, die im Besitz der Wahrheit sind. ten im Umgang mit ihm gemacht?
Papiere enthüllt hatte und 2013 von Ama- SPIEGEL: Hilft dagegen mehr Transparenz Baron: Wir machen ständig Fehler, un-
zon-Gründer Jeff Bezos gekauft wurde, war der Redaktionen – indem diese etwa of- abhängig davon, wer Präsident ist. Wir
vor Barons Ankunft zu einer Regionalzei- fenlegen, wie die Geschichten entstehen, sind eine höchst unvollkommene Profes-
tung geschrumpft, er führte es zu neuer, in- die publiziert werden? sion. Wie jede Profession. Also müssen
ternationaler Bedeutung. Jetzt hört Baron Baron: Wir könnten unsere Geschichten wir ehrlich damit umgehen. Wir müssen
als Chefredakteur auf. Mit dem SPIEGEL anders schreiben. Wir könnten mehr da- uns eingestehen, dass wir gewisse Schwä-
sprach er wegen der Corona-Pandemie im rüber offenbaren, wie wir unsere Geschich- chen haben. Wir treffen Entscheidungen
Videochat von zu Hause aus. ten angehen, wie wir unsere Berichterstat- in Echtzeit, wir müssen schnell handeln,
tung machen. Wir könnten transparenter wir haben keine Zeit, uns zurückzulehnen
SPIEGEL: Mr Baron, Sie beenden Ihre Zeit sein. Das sollten wir tun, und das haben und über die Auswirkungen unseres Tuns
als Chefredakteur bei der »Post« in einer wir auch schon getan. Aber am Ende nachzudenken. Das sollten wir zwar öfter
politisch schwierigen Zeit. Machen Sie sich scheint es keinen großen Unterschied zu machen, aber die Dinge bewegen sich in
Sorgen um Ihr Land? machen. Wir verstärken eben nicht das fes- einem sehr schnellen Tempo.
Baron: Ich mache mir Sorgen um den Zu- te Weltbild von Verschwörungstheoreti- SPIEGEL: Aber noch mal: Worin bestan-
stand unserer Demokratie. Sie steht vor kern – und weil wir das nicht tun, sehen den die Fehler im Umgang mit Trump?
enormen Herausforderungen. Und als ihre Anhänger uns als Feinde, als Lügner, Baron: Wir hätten Trumps Lügen schon
Journalisten spielen wir in dieser Demo- als bezahlte Agenten ihrer Gegner. früher offener ansprechen müssen, hätten
kratie eine wichtige Rolle: Wir versorgen SPIEGEL: Sie klingen sehr pessimistisch. sie viel klarer benennen müssen. Wir
die Menschen mit den Informationen, die Inzwischen sitzen die Verschwörungstheo- haben ihn anfangs noch wie jeden norma-
für sie wichtig sind und die sie kennen retiker selbst im Kongress, etwa die neue len Präsidenten behandelt, er war ja ord-
sollten. republikanische Abgeordnete Marjorie nungsgemäß gewählt. Das hat er ausge-
SPIEGEL: Millionen Amerikaner glauben Taylor Greene, die Anhängerin von QAnon nutzt.
heute lieber an Verschwörungstheorien, ist und an einen globalen linksliberalen SPIEGEL: Haben Sie ihn unterschätzt?
statt Nachrichten zu lesen. Wie kam es Kult pädophiler Satanisten glaubt. Baron: Viele Leute gingen davon aus,
dazu? Baron: Der Journalismus als Beruf ist nicht dass er autoritäre Instinkte hat, aber dafür
Baron: Das passiert auch in anderen Län- sonderlich gut darauf vorbereitet, über so mussten wir handfeste Beweise sehen. Es
dern, ich halte es für eine Folge des Inter- etwas zu berichten. Wir müssen aufpassen, ist nicht unsere Aufgabe, nur darüber zu
nets. Die Leute können sich heute Infor- dass wir Menschen wie Greene nicht zu spekulieren, was er tun könnte. Unsere
mationen zusammensuchen, die nur ihren viel Aufmerksamkeit schenken. Anderer- Aufgabe ist es, darüber zu berichten, was
Standpunkt bestätigen. Das ist auch das seits: Wenn diese Leute die Republikani- der Präsident getan hat und was er zu tun
Geschäftsmodell einiger Medien: Sie lie- sche Partei repräsentieren, wenn sie einen gedenkt. Und für die längste Zeit hatten
fern sogenannte Nachrichten, die den bedeutenden Teil der Parteibasis vertreten wir keine harten Beweise für seine autori-
Menschen den Eindruck vermitteln, dass und wenn sie dann auch noch zu Gewalt tären Instinkte. Jetzt haben wir sie. Ich
ihre Gefühle richtig sind, dass ihre Instink- anstiften, zuletzt beim Angriff auf das Ka- glaube also nicht, dass die Leute ihn un-
te richtig sind, dass es andere gibt, die pitol – dann müssen wir darüber berichten. terschätzt haben.
genau so denken wie sie. Solche Medien Wir müssen zeigen, wie sie die Partei be- SPIEGEL: Trump hat die »Post« während
stören sich nicht an Fakten oder an der einflussen, wie sie die Partei in ihre Rich- seiner Präsidentschaft häufig angegriffen.
Wahrheit. tung ziehen statt dorthin, wo die Republi- Was war für Sie der denkwürdigste Mo-
SPIEGEL: Sie spielen da unter anderem auf kaner traditionell mal standen. ment?
Fox News an, den früheren Lieblingssen-
der Donald Trumps.
Baron: Ich werde keine Namen nennen.
SPIEGEL: Wie lassen sich Menschen errei- CNN.com 147
chen, die an Verschwörungstheorien glau- Vox Media 106
ben? Gibt es überhaupt noch eine Chance,
The New York Times Brand 95
sie zu erreichen?
Baron: Ich habe keine Antwort auf diese Washingtonpost.com 93
Frage. Ich hoffe, dass es einen Weg gibt. USAToday.com 85
Aber das Verschwörungsdenken ist tief
Buzzfeed 64
verwurzelt. Wenn Menschen einmal an-
fangen, so zu denken, ist es sehr schwer, The Wall Street Journal Online 51
US-Zeitungsmarkt 2.0
The Guardian US 44 Website-Besucher monatlich in Mio., Dez. 2020
Das Gespräch führten die Redakteure Roland Nelles HuffPost US 32
und Marc Pitzke. Quelle: Comscore Media Metrix Multi-Platform, Unique Visitors; Auswahl
105
Kultur
nicht kostenlos ist: Es kostet uns Geld, wurde vor hundert Jahren von Walter
diese Art von Arbeit zu leisten, unsere Lippmann geprägt, einem der bemerkens-
Mitarbeiter zu bezahlen, anspruchsvolle wertesten Journalisten Amerikas. Objek-
Berichterstattung zu betreiben, investi- tivität heißt nicht, neutral zu sein oder
gative Recherchen durchzuführen, Stan- immer beide Seiten wiederzugeben. Sie
dards durchzusetzen. Wenn Sie also Jour- berücksichtigt, dass wir alle vorgefasste
nalismus von diesem Kaliber wollen, soll- Meinungen haben und versuchen sollten,
ten Sie auch dafür bezahlen. Hinzu diese so weit wie möglich beiseitezulassen,
kommt: Ein großer Teil der Bevölkerung wenn wir an unsere Berichterstattung ge-
wünscht sich, journalistische Institutionen hen. Gute Berichterstattung heißt, dass wir
zu unterstützen, die es richtig machen. den Leuten erklären, was wir herausgefun-
Sie wollen, dass wir weiter existieren. Publizist Baron, Unternehmer Bezos den haben – und dass wir dies direkt, ehr-
Sie sorgen sich darum, was aus unserer »Keine Wohltätigkeitsorganisation« lich und unbeirrt tun. Wir reden nicht um
106
den heißen Brei herum. Wir tun nicht so,
als könnten wir nichts Definitives sagen.
Ich halte einen solchen Objektivitätsbe- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
griff für ein gutes Prinzip, das wir befolgen nähere Informationen finden Sie online unter: spiegel.de/bestseller
sollten. Wir sollten für nichts anderes ein-
treten als für die Fakten und die Wahrheit. Belletristik Sachbuch
SPIEGEL: Sollten Journalisten auf Twitter
ihre persönlichen Meinungen verbreiten? 1 (–) Haruki Murakami 1 (1) Barack Obama
Baron: Ich habe nichts dagegen, dass Jour- Erste Person Singular DuMont; 22 Euro Ein verheißenes Land Penguin; 42 Euro
nalisten eine Social-Media-Präsenz haben.
Fast alle von uns haben die. Aber es ist 2 (–) T. C. Boyle 2 (10) Dan Morain
wichtig, dass sie vorsichtig und zurückhal- Sprich mit mir Hanser; 25 Euro Kamala Harris Heyne; 22 Euro
tend sind. Es ist wichtig, dass das Social- 3 (–) Horst Evers Wer alles weiß, 3 (2) Robert Habeck
Media-Verhalten unserer Journalisten hat keine Ahnung Rowohlt Berlin; 20 Euro Von hier an anders
nicht gegen unsere Grundprinzipien und Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
Standards verstößt. 4 (2) Sebastian Fitzek
SPIEGEL: Was heißt das? Der Heimweg Droemer; 22,99 Euro 4 (4) Gustav Dobos
Baron: Wir achten stark darauf, dass das,
Die gestresste Seele Scorpio; 20 Euro
5 (1) Dirk Rossmann Der neunte Arm
was wir Print und Online veröffentlichen, des Oktopus Lübbe; 20 Euro 5 (3) Julian Barnes Der Mann im roten Rock
unseren Ruf als hochkarätiges Medium Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
stärkt. Wir beschäftigen Redakteure, die 6 (3) Charlotte Link
sicherstellen, dass unsere Berichterstat- Ohne Schuld Blanvalet; 24 Euro 6 (5) Monika Gruber / Andreas Hock
tung diese Standards erfüllt. Wenn Jour-
Und erlöse uns von den Blöden
7 (4) Elke Heidenreich Männer Piper; 20 Euro
nalisten jedoch auf Twitter oder Facebook in Kamelhaarmänteln Hanser; 22 Euro
posten, sind keine Redakteure daran be- 7 (6) Michelle Obama
teiligt. Die Journalisten müssen sich selbst 8 (–) Martin Mosebach Becoming Goldmann; 26 Euro
redigieren. Sie müssen auch dann unsere Krass Rowohlt; 25 Euro
8 (7) Markus Rex Eingefroren am Nordpol
Standards einhalten, genauso wie es von 9 (6) Martin Suter / Benjamin C. Bertelsmann; 28 Euro
ihnen erwartet wird, wenn sie im Fernse- von Stuckrad-Barre
hen oder Radio auftreten oder eine Rede Alle sind so ernst geworden 9 (12) Bas Kast Der Ernährungskompass
Diogenes; 22 Euro
halten. C. Bertelsmann; 20 Euro
SPIEGEL: Ende Februar ziehen Sie sich aus 10 (14) Bernardine Evaristo 10 (9) Philippa Perry Das Buch,
der Chefredaktion zurück. Welche Quali- Mädchen, Frau etc. Tropen; 25 Euro von dem du dir wünschst, deine Eltern
fikationen muss der nächste Chefredak- hätten es gelesen Ullstein; 19,99 Euro
teur oder die nächste Chefredakteurin 11 (–) Jennifer L. Armentrout
der »Post« mitbringen? Redemption – Nachtsturm 11 (11) Maja Göpel Unsere Welt neu denken
Carlsen; 23,99 Euro
Baron: Diese Person sollte Integrität be- Ullstein; 17,99 Euro
sitzen. Um diesen Job richtig zu machen, 12 (–) Carsten Henn 12 (18) James Nestor
um Journalismus richtig zu machen, muss Der Buchspazierer Pendo; 14 Euro Breath – Atem Piper; 22 Euro
man sowohl Seele als auch Rückgrat ha-
ben. Seele heißt, dass man mit Leiden- 13 (–) Monika Helfer 13 (–) Andreas Englisch Der Pakt
schaft bei der Sache ist, und Rückgrat, dass Vati Hanser; 20 Euro gegen den Papst C. Bertelsmann; 22 Euro
man dem Druck standhält. Auch muss 14 (–) Andrea Camilleri Das Karussell 14 (–) Gregor Schöllgen / Gerhard Schröder
man jemand sein, der die Mitarbeiter mo- der Verwechslungen Lübbe; 22 Euro Letzte Chance DVA; 22 Euro
tivieren kann, der es ihnen ermöglicht, ihr
Bestes zu geben. Ich wurde zum Gesicht 15 (5) Mark Benecke / Kat Menschik 15 (–) Mischa Meier Geschichte
Illustrirtes Thierleben der Völkerwanderung
und zur Stimme der »Post«. Aber ich bin Galiani Berlin; 20 Euro C. H. Beck; 58 Euro
auf ein riesiges Team angewiesen, aus
der Redaktion, aus dem Unternehmen, 16 (12) Alena Schröder Der Historiker beweist
aus der Technik. Das ist keine Top-down- Junge Frau, am Fenster stehend, Sinn für Details, aber
Situation. Abendlicht, blaues Kleid dtv; 22 Euro auch für die großen Linien:
SPIEGEL: Wie geht es für Sie selbst weiter Völker wanderten oft
17 (11) Tove Ditlevsen nicht, sie veränderten
nach dem Rückzug? Werden Sie sich erst Kindheit Aufbau; 18 Euro sich vielmehr – bis heute.
mal ausruhen?
Baron: Es wäre toll, Zeit zu haben, ein 18 (10) David Schalko 16 (8) Gerhard Wisnewski
Buch zu lesen. Ich werde eine kleine Pause Bad Regina Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
verheimlicht – vertuscht –
einlegen und darüber nachdenken, was ich 19 (–) Jan Seghers vergessen 2021 Kopp; 14,99 Euro
als Nächstes tun möchte. Ich möchte wei- Der Solist Rowohlt; 20 Euro
ter aktiv bleiben und mich im Journalis- 17 (–) Bill Buford
20 (–) Joachim B. Schmidt Dreck Hanser; 26 Euro
mus einbringen. Ich möchte nur einen Weg
finden, der nicht erfordert, dass ich jede Kalmann
Diogenes; 22 Euro 18 (15) Christopher Clark
Minute jedes Tages, jeder Woche, jedes Gefangene der Zeit DVA; 26 Euro
Jahres arbeite. Aber auf dem Golfplatz
werden Sie mich nicht sehen. Ein Dorf in Island, Blut im 19 (–) Benjamin Ferencz »Sag immer
Schnee. Der gute Kalmann, Deine Wahrheit« Heyne; 17 Euro
SPIEGEL: Mr Baron, wir danken Ihnen für mehr Forrest Gump als Miss
dieses Gespräch. Marple, nimmt sich der Sache 20 (–) Joe Biden
an. Das ist so heiter wie eisig.
Versprich es mir C. H. Beck; 22 Euro
108
auch die Nazis umarmten. »Das hat mich
überhaupt nicht interessiert. Ich habe mich
null identifiziert mit dem Lifestyle dieser
Leute.«
Das ist wichtig: Natürlich geht es um
reale Bedrohung durch Rassismus, wenn
Yaghoobifarah davon erzählt, wie es war,
als Kind iranischer Eltern in der Provinz
aufzuwachsen. Es geht aber auch um Style.
Politik und Ästhetik lassen sich hier nicht
trennen. Deshalb wird man Yaghoobifa-
rahs Geschichte auch nicht gerecht, wenn
man diese als geradlinige Entwicklung von
Ausgrenzung zu Aktivismus erzählt.
Ähnlich viel Empörung wie die Müll-
kolumne verursachte wenig später ein
Foto, das riesengroß im Schaufenster des
KaDeWe in Berlin prangte: Yaghoobifarah
in einem knapp 4000 Euro teuren Leder-
mantel der Luxusmarke Marni. Das Model
hat die Augen geschlossen und träumt viel-
leicht vom Ende des Kapitalismus, denn
dazu steht der Slogan: »Alles allen!«
Der Widerspruch war so offensichtlich,
dass es überrascht, wie reflexartig die Kri-
tik kam. »Was ich da gemacht habe, war
weder widerständig noch revolutionär. Es
war einfach ein Job. Man warf mir dann
vor, ich würde jetzt selbst in Luxusklamot-
ten rumlaufen. Als ob ich diesen Mantel
behalten durfte. Den kann ich mir doch
selbst nicht leisten. Auch da wieder: feh-
lende Media-Literacy. Die Leute haben
keine Ahnung davon, wie Modeln funk-
tioniert.«
Es ist bezeichnend, dass Yaghoobifarah
nicht nur die Texte, sondern auch sich
selbst als Zeichen sieht, das gelesen wer-
den will. Koketterie ist da natürlich eben-
falls mit im Spiel. Denn auch, wenn
Yaghoobifarah ständig betont, dass die
Aufregung um die Kolumne, das Modeln
oder um die eigene Person nicht beabsich-
Tarek Mohamed Mawad
Trostpflaster für
Teil. Viele Hilfen haben ein Verfallsdatum,
und es war – was im Rückblick naiv wirkt –
der zweite Lockdown nicht einkalkuliert
Auserwählte
worden. Manche Veranstaltung ist bis Jah-
resende nicht mehr zu realisieren. Doch
wenn ungenutzte Zuschüsse nicht binnen
sechs Wochen zurückgezahlt werden, dro-
hen Zinsaufschläge.
Corona-Hilfen Wer von Kunst und Kultur lebt, bekommt kaum Dann ist da noch die schwierige Situation
Unterstützung – und Staatsministerin Grütters ändert daran wenig. der Freischaffenden in der Kultur. Den Ber-
liner Kabarettisten und Schauspieler Ale-
xander Pluquett, 38, ärgert, dass das Finanz-
110
rys treffen. Und obgleich die Entscheider
Fachleute sind, ist ein objektives Urteil da
nie möglich. Als die Malerin Doleschal ge-
meinsam mit Kolleginnen nachfragte, wa-
rum sie nicht zu den Stipendiatinnen ge-
hörten, wurde ihnen vermittelt, sie hätten
dem »bundesweit herausragenden Quali-
tätsmaßstab« nicht entsprochen. Das fand
Doleschal, die am bekannten Goldsmiths-
College in London und bei renommierten
Professoren in Münster und Berlin studiert
hat, eher unverschämt.
Eine gerechte soziale Verteilung der Gel-
der kann nach solchen individuellen Er-
messensvorstellungen nicht funktionieren,
für »Wirtschaftshilfen« fühlte sich Grütters
als Kulturpolitikerin – trotz versprochener
»Rettung« – aber gar nicht zuständig.
Dabei wäre es nur vernünftig, die Kul-
turindustrie in der Breite zu fördern: Jah-
relang wuchs die Kultur- und Kreativwirt-
schaft laut Bundeswirtschaftsministerium
besonders dynamisch. Mehr als 100 Mil-
liarden Euro trug sie 2019 zur Wertschöp-
fung des Landes bei. Dieser Bereich lebt
stärker als andere Wirtschaftsfelder vom
Austausch. Künstler, Filmemacher und
Hersteller von Computerspielen inspirie-
ren sich gegenseitig, arbeiten sich quasi zu.
»Ein Tänzchen aufführen« nennt Martin
Ehrhardt, 55, aus Leverkusen, die Bewer-
bung vor einer Grütters-Jury. Auch er be-
warb sich vergebens um ein Stipendium. Jetzt die F.A.Z. abonnieren
Der Geiger, der schon mit Berühmtheiten und Zusammenhänge
wie Herbie Hancock und Anna Netrebko besser verstehen.
auf der Bühne stand, sagt, Kultur sei der
Ab 14,90 Euro/4 Wochen –
Klebstoff der Gesellschaft. Ehrhardt be-
freiheitimkopf.de
tont, er habe seine fünfköpfige Familie im-
mer gut ernähren können »und jede Men-
ge Steuern bezahlt«. Damit finanzierten
er und andere Soloselbstständige nun auch
die Kurzarbeit für die Festangestellten mit.
2020 sanken Ehrhardts Einnahmen um
75 Prozent, zuletzt beantragte er die vom Weil man Märkte verstehen
muss, bevor man von
Finanzministerium ermöglichte Novem-
ber- und Dezemberhilfe, die sich immer-
hin an seinen Umsätzen vom Vorjahr ori-
entiert. Aber wie geht es weiter? Weil er
sich bei der Gewerkschaft ver.di engagiert,
weiß Ehrhardt, dass auch viele Kollegen
ihnen profitieren kann.
»echte Angst« haben. Schließlich werde es
Jahre dauern, bis in seiner Branche wieder
Normalität einkehre. »Bis dahin können Die Frankfurter Allgemeine leistet sich eines der besten Kompetenznetzwerke
viele zum Sozialfall werden, ihre Erspar- der Welt. 350 Redakteurinnen und Redakteure im In- und Ausland stellen täglich
nisse fürs Alter verlieren.« eine tiefgehende Durchdringung des Geschehens sicher.
»Passgenau« ist die Vokabel, mit der
Grütters ihre Hilfen beschreibt und die Mit einem Abonnement der F.A.Z. investieren Sie in intelligente Analysen und
davon ablenken soll, dass ein echter, vor Einordnungen unserer Redaktion. Sie fördern Ihr fundiertes Verständnis der
allem ein gerechter Plan fehlt. Die oberste wirtschaftlichen Zusammenhänge. Und Sie fördern die freie Marktwirtschaft.
Kulturpolitikerin bietet nur Trostpflaster – – Freiheit beginnt im Kopf.
für Auserwählte. Kürzlich hielt sie eine di-
gitale Pressekonferenz ab, eine zugeschal-
tete Expertin sagte, vielen in der Musik-
branche stehe »das Wasser bis zum Hals«.
Mit Mitgefühl geizte Grütters nicht. Sie sag-
te, ihr blute das Herz. Ulrike Knöfel
Macht der Evidenz Wenn es um den Einsatz von Pestiziden in der Land-
wirtschaft (Glyphosat), um Grenzwerte der Feinstaubbe-
lastung, um Risiken elektromagnetischer Felder (5G-Netz)
geht – in all diesen Fragen ist wissenschaftliche Expertise
Debatte In der Coronakrise folgen die Regierenden die zentrale Ressource.
wissenschaftlichem Rat. Das ist richtig – und zugleich
A
problematisch. Denn alternative Fakten haben uch bei der Bewältigung der Klimakrise konzen-
Konjunktur, wenn Politik alternativlos scheint. triert sich der Streit primär auf Wissensfragen: Ist
der Anstieg der globalen Durchschnittstempera-
tur eine Folge menschlicher Aktivitäten oder nur
ein Indiz für natürliche Klimaschwankungen? So lautete
D
lange die Frage, die verhandelt wurde. Heute: Wie hoch
ie Coronakrise ist eine Sternstunde der Wissen- wird die Temperatur steigen, wenn die Weltwirtschaft
schaft. Ohne die Wissenschaft wäre das Corona- ohne klimapolitische Restriktionen weiterläuft, und wel-
virus kein Virus, sondern eine dunkle Heimsu- che Folgen würden sich daraus ergeben? Der Dissens
chung des Schicksals. Und ohne die Wissenschaft bezieht sich hier – anders als in Wertkonflikten – nicht
gäbe es auch wenig Hoffnung, Covid-19 so weit eindäm- auf die normative Bewertung dieser Folgen. Es ist unum-
men zu können, dass ein halbwegs verträgliches Zusam- stritten, dass eine globale Erwärmung von vier oder fünf
menleben mit dem neuen Virus auf Dauer möglich Grad Celsius bis zum Jahr 2100 für einen Großteil der
erscheint. Weltbevölkerung katastrophale Folgen hätte. Im Vorder-
Im Februar 2020 richtete sich der hilfesuchende Blick grund steht die Frage, ob die Prognosen über die Eintritts-
der vom Virus überraschten Politik auf Virologie und wahrscheinlichkeit allgemein als negativ bewerteter Ereig-
Epidemiologie. Die maßgeblichen Statements, Interviews nisse zuverlässig sind. Es geht also primär darum, wer das
und Podcasts kommen seither von den Virologen, die bessere Wissen hat. Was dabei womöglich auf der Strecke
zwischenzeitlich fast als Popstars gehandelt wurden. bleibt, ist eine offene Debatte darüber, welche Zukunft
Anthony Fauci, Anders Tegnell oder Christian Drosten wir eigentlich wollen und welche Einschränkungen wir
sind in den internationalen Medien allgegenwärtig, sie dafür in Kauf zu nehmen bereit sind.
klären über Ansteckungswege, Viruslastschwellenwerte Der Yale-Politologe Robert E. Lane prognostizierte
und Verdoppelungszeiten auf und liefern den Regierenden schon vor 50 Jahren, dass die klassische Interessenpolitik
das Rüstzeug für ihr politisches Krisenmanagement; in naher Zukunft rapide an Bedeutung verlieren werde.
Daten, Modelle und Prognosen weisen der Politik den Das Größenwachstum der Wissenschaft, also die unauf-
Weg. hörliche Steigerung von Forschungsgeldern, Akademiker-
Bildungsministerin Anja Karliczek hielt im vergangenen quoten, Publikationen und Thinktanks trage nicht nur zur
April fest: »Wissenschaftliche Erkenntnisse leiten die Verbreitung eines typisch wissenschaftlichen Habitus in
Politik und leiten uns wie selten zuvor.« Das waren der Bevölkerung bei, sondern führe auch zu erhöhter Sen-
damals – gerade mit Blick auf Corona-Populismus von sibilität für Probleme, die sich durch rationales Denken
Männern wie Donald Trump und Jair Bolsonaro und und Expertise lösen lassen.
die dramatische Situation in ihren Ländern – beruhigende Die Durchsetzung der Wissensgesellschaft (»know-
Worte. Taten folgten, und Deutschland erzielte anfangs ledgeable society«), so Lanes Erwartung, werde den
Spitzenplätze in der Pandemiebekämpfung. Vor diesem Bereich der uns vertrauten, ideologisch motivierten Poli-
Hintergrund war es kein Wunder, dass sich bald die tik zusammenschrumpfen lassen. Letztlich werde der
Vorstellung verfestigte: Wer auf die Wissenschaft hört, politische Handlungsspielraum immer enger werden, weil
wer der Mehrheit der Experten folgt, wird die das bessere Wissen der Experten eine unerbittliche Sach-
richtige Politik machen. zwangwirkung entfaltet.
Innerhalb der Wissenschaft entwi- Diese Vision wurde von vielen Sozialwissenschaftlern
ckelten sich bald offen ausgetragene als Fortschritt empfunden: An die Stelle partikularer
Auseinandersetzungen über mögli- Aspekte (Interessen) tritt ein universalistisches Prinzip
che Ansteckungswege, die Übertra- (Wissen). Kämpfe zwischen Ideologien und Weltanschau-
gung durch Kinder oder den Nutzen ungen gehören damit der Vergangenheit an, die alten
von Masken, wodurch sich manche Zerreißproben der Gesellschaft bleiben erspart. Die Wis-
Politikempfehlungen mit der Zeit sensgesellschaft wird nicht länger durch Leidenschaften
Universität Innsbruck
änderten. Auch wenn die Schlüsse, und Eigennutz gesteuert, so die Hoffnung, sondern durch
die daraus gezogen wurden, sich Vernunft und Gemeinwohlorientierung.
unterschieden, interpretierten Politik Der schöne Traum von einer ideologiefreien, rein
und Öffentlichkeit die Krise doch wissensgesteuerten Politik hat jedoch einen Haken: Er
entlang jener Begrifflichkeiten, die basiert auf der irrigen Annahme, dass es auf politische
Bogner, 51, ist Soziologe aus Virologie und Epidemiologie Streitfragen stets »richtige« oder wahre Antworten
an der Österreichischen Aka- stammten. Konflikte um die Verhält- gibt. Doch das ist nicht der Fall. Selbst wenn wir zuver-
demie der Wissenschaften. nismäßigkeit der politischen Maß- lässige Zahlen über die Infektiosität des Virus oder
Aktuell ist von ihm erschie- nahmen wurden im Deutungsrah- über das Ausmaß der globalen Erwärmung haben, so
nen: »Die Epistemisierung men der Wissenschaft ausgetragen, steckt in diesen Zahlen doch noch kein politisches Hand-
des Politischen« (Reclam). also im Rückgriff auf Daten, lungsprogramm.
E
ines ist offensichtlich: Wenn politische Auseinan-
dersetzungen als Streit um die bessere Expertise
ausgetragen werden, dann muss, wer an solchen
Konflikten ernsthaft teilhaben will, über extrem
S
Impfgegner interpretierten die Krise als politisches Kom-
o etwas wie ein politischer Sachzwang ergibt sich plott zur Durchsetzung von Zwangsimpfungen. Die Pro-
nur auf der Basis allgemein geteilter Werte, auch teste der Anti-Corona-Bewegung sind nicht nur gegen die
das hat die Coronakrise deutlich gemacht: Ange- Regierung gerichtet, sie haben immer auch eine antiwis-
sichts der dramatischen Bilder aus der Lombardei senschaftliche Schlagseite. Es geht gegen eine vermeint-
im März 2020 erhielt der Lebens- und Gesundheitsschutz lich autoritative Instanz, die mittels überlegener Rationa-
oberste Priorität. Alle Gesellschaftsbereiche wurden lität festzulegen beansprucht, was real ist, was rational
einem einzigen Imperativ, dem Lebensschutz unterwor- und politisch geboten. Verschwörungstheorien sind eine
fen, und erst Wolfgang Schäuble erinnerte Ende April zwangsläufige Begleiterscheinung der Epistemisierung
2020 als einer der Ersten daran, dass auch dieser Wert kei- des Politischen, also einer Konstellation, in der Fakten,
neswegs absolute Gültigkeit hat, sondern im Einzelfall Evidenzen und Expertise sowohl maßgebliche Ressource
gegen andere Werte abgewogen werden muss. als auch zentraler Gegenstand politischer Kontroversen
Der verständliche Wunsch nach einer rationalen, fak- sind. Ihr Boom lässt sich als ideologische Reaktion auf
tenfesten Politik fördert die Bereitschaft, auf politische eine Politik verstehen, die stark im Einvernehmen mit der
Abwägungs- und Kompromissbildungsprozesse zu ver- Wissenschaft handelt und daher im Rahmen eines Wis-
zichten, weil sich die Debatte irgendwann auf die Frage senskonflikts von den Ungebildeten, Uninformierten oder
beschränkt, wer das bessere Wissen auf seiner Seite hat. einfach nur Ungehaltenen nicht mehr wirkungsvoll
Politik wird auf diese Weise mit der Wahrheitsidee kurz- herausgefordert werden kann. Alternative Fakten haben
geschlossen. Ein solches Wahrheitsmodell der Politik ganz offensichtlich Konjunktur, wenn Politik als alterna-
wäre aber demokratiepolitisch langfristig gesehen viel- tivlos erscheint.
leicht gar noch gefährlicher als das leichter durchschau- Es kann nicht darum gehen, den Diskurs für Ver-
bare Spiel mit Fake News und Twitter-Lügen im politi- schwörungstheoretiker zu öffnen oder jede Auseinander-
schen Alltag, das uns in den vergangenen Jahren so stark setzung um politikrelevante Fakten und Wahrheits-
beschäftigt hat. Denn im Zuge einer Politik, die sich über behauptungen zu vermeiden. Wir sollten aber bei unseren
Wissen und Wahrheit legitimiert, muss Bürgerbeteiligung nüchternen Erwägungen über Risiken, Reproduktions-
als Ballast erscheinen. Wohin aber kämen wir mit der zahlen und Grenzwerte nicht vergessen, dass es letztlich
Auffassung, dass die Demokratie eigentlich nur eine Dik- immer konkrete Ängste, Zukunftsbilder und Nutzener-
tatur der Dummen ist? Ja: Politik soll auf Fakten und wartungen sind, die Konflikte anheizen, auch Wissens-
wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Doch eine konflikte. Damit diese nicht in langwierigen Abnützungs-
Politik, die sich im Rausch der Ideologiefreiheit der gefechten zwischen wissenschaftlichen Expertisen und
Macht der Evidenz oder der Herrschaft der Algorithmen Gegenexpertisen überhitzen, sollte man auch der kon-
unterwirft, macht sich überflüssig. struktiven Vermittlung widerstreitender Meinungen,
In der öffentlichen Rede wird die Wissenslastigkeit vie- Wertüberzeugungen und Interessen Raum geben – sozu-
ler Politdebatten auch in den Begriffen greifbar, die wir sagen: mehr Politik wagen. I
113
Chinas
Blockbuster
Kino Die Filmindustrie der
Volksrepublik fordert Hollywood
heraus. Das Kriegsepos
»The Eight Hundred« war 2020 die
weltweit erfolgreichste Produktion.
Koch Films
über die Köpfe der Soldaten hinweg und
erfasst hinter ihnen eine Ruinenlandschaft,
die sich bis zum Horizont erstreckt. Selten Szene aus »The Eight Hundred«: Großer Aufwand, noch mehr Einfallsreichtum
war die Front zwischen Leben und Tod in
einem Film so klar und scharf gezogen.
Das Lagerhaus ist der Schauplatz der auf amerikanische Blockbuster wie »Fast mehr und mehr der Empathie. Irgendwann
weltweit erfolgreichsten Kinoproduktion & Furious 8« oder »Avengers: Endgame« schleudern sie mit selbst gebauten Kata-
des vergangenen Jahres. Das Kriegsepos zurück, waren 2020 vor allem inländische pulten Lebensmittel auf die andere Seite.
»The Eight Hundred«, das in Deutschland Produktionen erfolgreich. Für Hollywood Der Film zeigt die vier Tage im Oktober
nun als Stream herauskommt, erzählt von ist diese Entwicklung gefährlich, denn die 1937, die mit einem verlustreichen Rück-
einer legendären Schlacht. Im Oktober Einnahmen aus China sind notwendig, um zug der chinesischen Truppen endeten,
1937 verteidigten Hunderte chinesische die enormen Produktionskosten wieder aus verschiedenen Perspektiven, zumeist
Soldaten das Gebäude vier Tage lang ge- hereinzuholen. aus der Innensicht der Eingeschlossenen,
gen eine japanische Übermacht. In China Auch in Guan Hus Film ist die Unab- aber auch aus dem Blickwinkel von »Wo-
werden sie noch heute für ihren Opfermut hängigkeit Chinas ein Thema. 1937 be- chenschau«-Reportern, die das Geschehen
verehrt. saßen die europäischen Kolonialmächte damals von einem Zeppelin aus filmten.
»The Eight Hundred« startete im Au- noch großen Einfluss in China und hatten Guan bemüht sich um eine komplexe Re-
gust, als die chinesischen Kinos nach dem die Hoheit über einzelne Stadtviertel, konstruktion der Ereignisse.
Lockdown wieder geöffnet hatten, und »Konzessionen« genannt. Während des Eher selten verfällt er in allzu lautes
spielte fast eine halbe Milliarde Dollar ein. Krieges wurden sie von japanischen Bom- patriotisches Pathos. Tatsächlich bekam
Hollywoods größter Sommer-Blockbuster berpiloten weitgehend verschont. Die Guan mit seinem Film Ärger mit der chi-
»Tenet«, der wenig später herauskam, Viertel mit Bars, Spielbanken und Bor- nesischen Zensur. Denn die Soldaten, die
brachte es in China nur auf ein Siebtel die- dellen begannen direkt vis-à-vis dem La- das Lagerhaus damals hielten, gehörten
ser Summe. Auch weltweit liegt Christo- gerhaus. zu den Kuomintang, chinesischen Natio-
pher Nolans Agententhriller deutlich hin- Guan stellt die brutalen Kämpfe dem nalisten, die von Maos Truppen bekämpft
ter »The Eight Hundred« zurück. ausgelassenen Nachtleben gegenüber. Nur wurden und sich nach der kommunisti-
Der Erfolg des wuchtigen, packenden ein schmaler Fluss liegt zwischen Krieg schen Machtübernahme 1949 nach Taiwan
Films, den der 52-jährige Regisseur Guan und Frieden, zwischen Blutbad und Amü- zurückzogen.
Hu mit großem Aufwand, aber noch mehr sierbetrieb. Europäer und reiche Chinesen Wenn Guan nun im fertigen Film zeigt,
Einfallsreichtum in Szene setzte, zeigt, wie stehen am Ufer und verfolgen die Schlacht wie seine Helden auf dem Dach des La-
stark sich die Machtverhältnisse im inter- auf der anderen Seite. Über ihnen prangen gerhauses versuchen, im Kugelhagel ihre
nationalen Filmgeschäft verschieben. Seit Leuchtschriften für Firmen wie Siemens, Flagge zu hissen, dürfte das aus Sicht der
Jahren prognostizieren Branchenexperten, die damals in China Geschäfte machten. heutigen Pekinger Machthaber die falsche
dass China Nordamerika als größten Film- Guan nutzt diese simple, auf den ersten sein. Entsprechend dezent wird sie von
markt der Welt ablösen wird. Dies geschah Blick fast propagandistische Zweiteilung, Guan ins Bild gesetzt, meist aus weiter Fer-
nun früher als vermutet. um seine Zuschauer in seinen Film hinein- ne. Das gibt der ultraheroischen Aktion
Hauptgrund dafür ist die Pandemie. In zuziehen. Denn der anfängliche Voyeuris- eine gewisse Beiläufigkeit.
den USA sind die Kinos in besucherstar- mus und Zynismus der reichen Zaungäste, Guan macht aus dem Vorbild, auf das
ken Bundesstaaten wie Kalifornien oder die das Sterben und Leiden mit Cham- er sich in der Flaggenszene bezieht, keinen
New York seit März fast durchgehend ge- pagner in der Hand betrachten, weicht Hehl: Clint Eastwoods Kriegsfilm »Flags
schlossen, um mehr als 80 Prozent bra- of Our Fathers«. Er verarbeitet das ameri-
chen die Einnahmen auf dem heimischen kanische Kino, erschafft dennoch ein eige-
Markt gegenüber 2019 ein. China kam mit Die Machtverhältnisse nes Werk – und entwickelt das Genre so
Einbußen von etwa 70 Prozent etwas bes- im internationalen weiter. Vielleicht kommen die besseren
ser davon. Hollywoodfilme in Zukunft aus China.
Ging der chinesische Kinoboom der ver-
Filmgeschäft verschieben
Lars-Olav Beier
gangenen Jahre bislang nicht unerheblich sich gerade.
114 DER SPIEGEL Nr. 6 / 6. 2. 2021
Kultur
Die Rächerin
ren Hunger, Armut und das Teenagerdasein an sich nicht schon
schlimm genug, besitzt Shae auch noch eine Zauberkraft, die
ihr Todesurteil bedeuten könnte: Was sie auf ein Stück Stoff
stickt, wird wahr. Verziert sie ein Taschentuch mit Tulpen,
blüht die trockene Erde. Bringt sie einen kleinen Hasen auf
Buchkritik Dylan Farrow, die Adoptivtochter ein Kopfkissen, hüpft dieser schließlich durch die Steppe.
von Woody Allen, hat einen Fantasyroman Was in einer anderen Fantasywelt für eine Einladung nach
geschrieben. Geht es darin auch um ihr Leben? Hogwarts sorgen würde, ist in Montane gefährlich, denn in
der hierarchischen Gesellschaft wird Anderssein bestraft: von
den Barden, autokratischen Magiern, die durch das Land
115
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hen, wird er nicht mehr view, habe ihr Vater sie
dabei sein. Aber beinahe auf Veranstaltungen der bri-
alles andere, was die Grü- tischen Rave-Szene mitge-
nen von heute ausmacht, nommen, und bereits da-
hat Wilhelm Knabe mitge- mals habe sie elektronische
staltet. Zum Beispiel die Musik machen wollen. Es
schwarz-grüne Zusammen- dauerte dann doch ein biss-
arbeit, Avantgarde zu sei- chen länger – aber nachdem
ner Zeit als Bürgermeister sie 2013 ihre Debütsingle
Rolf Vennebernd / picture alliance / dpa
Serien wie »How to Get Away with Murder« (2014 bis 2020) kon einer Wohnung ge-
mit. Zwei Tage vor ihrem Tod erschienen ihre Memoiren: stürzt. Sophie Xeon starb
»Just as I Am«. Cicely Tyson starb am 28. Januar. LOB am 30. Januar in Athen. TOB
die Nummer eins bei Netflix fen, setzen große Hoffnungen clever, er klaut, er ist von Frau-
in Frankreich, Deutschland, auf Sy, weil er jenseits der Ste- en umgeben. Außerdem ist er
den Niederlanden, Spanien reotype besetzt wird: nicht als eine Figur, die in andere Rol-
und Italien. Sogar in den USA Terrorist, Hilfsarbeiter, Dro- len schlüpft. Für einen Schau-
stand sie auf den ersten Plät- gendealer, sondern als Held. spieler ist er der Beste.« KS
Haupterben Lagerfelds. des Selbst nähern. McCo- immer als schönen Beweis
Noch seien Notare dabei, naughey schreibt außerdem, für die tiefe Liebe zwischen
dessen zahlreiche Wohnun- Männlichkeit dürfe man Mutter und Vater angesehen,
gen und Häuser zu inventari- nicht mit Macho-Gehabe sagte McConaughey dem
sieren, sagt Giabiconi. »Es verwechseln, und merkt an, »Men’s Journal«. Aber
ist so viel, das braucht noch dass der Mann nach der er räumte ein, dass es für
Zeit. Insofern warte ich ein- Geburt des ersten Kindes die Leser und Leserinnen
fach gelassen ab und lebe am männlichsten sei. vielleicht schockierend
mein Leben, bis mir irgend- Beim Schreiben griff der wirke. »Oder es lässt sie den-
2013 wann jemand erklärt, wie es Schauspieler auch auf ken, ich sollte zum Psychia-
nun weitergeht.« BSA Tagebücher zurück, darun- ter gehen.« KS
119
»Eine der vielen Lehren aus Corona sollte ein besserer Umgang
mit unseren tierischen Mitgeschöpfen sein, nicht nur mit
Fledermäusen. Sonst steht die nächste Pandemie schon vor der Tür.«
Michael Schneider, Siegburg (Nordrhein-Westfalen)
Die Machtlosigkeit der Tiere Verkauf der Tiere nicht zu unterstützen brutalst misshandeln und töten – unter an-
und stattdessen mit der Aufnahme eines derem, um unsere süßen Haustiere mit
Nr. 5/2021 Wir bleiben Zoohause!
heimatlosen Tieres etwas Gutes zu tun. ihnen zu füttern. Bekanntlich belastet die
Krisenhelfer: Warum Haustiere uns gesünder
und glücklicher machen Johanna Lebbedies, Stuttgart Nutztierhaltung massiv unser Klima. Die-
se negative CO -Bilanz wird durch fleisch-
²
Endlich nach langer Zeit mal ein Titelbild, Unüberlegt angeschaffte Haustiere lande- fressende Hunde und Katzen zusätzlich
über das man schmunzeln kann. Danke! ten schon vor dem Lockdown oft genug im verschlechtert. Wenn schon tierisches Fut-
Klaus Oßwald, Haste (Nieders.) Tierheim. Darum hat der Zentralverband ter, dann sollten Haustiere ausschließlich
Zoologischer Fachbetriebe den Schaufens- Fleischabfälle bekommen, damit das Kli-
Es mag ja einige Gründe geben, sich in der ma nicht noch weiter belastet wird. Dieser
Coronakrise ein Haustier anzuschaffen. Aspekt wird von Haustierfreunden oft aus-
Mit Tierliebe hat das in den meisten Fällen geblendet. Es scheint ein echtes Tabu-
aber nichts zu tun, sondern eher mit Ego- thema zu sein, die Klimabilanz der Haus-
ismus. Außerdem fördert die erhöhte Nach- tierhaltung kritisch zu beleuchten.
frage wohl auch die Angebote aus undurch- Katrin Baum, Hamburg
sichtigen Quellen und Qualzucht. Und
nach Ende der Krise werden viele der Tiere Die 25 Millionen Lieblinge sind erhebliche
Mario Wezel
ausgesetzt werden oder in den ohnehin Umweltsünder. Laut internationaler Stu-
schon überforderten Tierheimen landen. dien liegt ihr CO -Ausstoß bei bis zu zwei
²
Heinz Dammers, Kiel Hund bei Bewegungstherapie Tonnen je Tier und Jahr, etwa so viel wie
ein Auto der Golfklasse für 10 000 bis
Unser Windhund Kalle bringt unserer von terverkauf von Hunde- und Katzenwelpen 12 000 Kilometer Fahrt emittiert. Dazu
Dauer-Homeschooling und Kita-Ausfall 2005 endlich abgeschafft. Viele Menschen kommt der Verbrauch von Ressourcen für
genervten fünfköpfigen Familie Freude we- sind schon mit der artgerechten Haltung Haltung und Pflege sowie die Produktion
gen der täglichen Bewegung im Freien und von Zwergkaninchen überfordert. Wie von beträchtlichen Abfallmengen. Laut
Beruhigung allein durch den Anblick des sieht es da wohl erst bei Brillenkaimanen amerikanischer Studie verspeisen die
tiefenentspannten Tieres in den eigenen und Alligatoren aus? dortigen »Pets« mehr Kalorien als über
vier Wänden. Allerdings frage ich mich, Dr. med. vet. Claudia Veit, Heidelberg 60 Millionen Amerikaner und emittieren
ob diese Effekte auch mit der Anschaffung mehr CO als 13 Millionen Autos.
²
von Brillenkaimanen oder Vogelspinnen Sie beginnen Ihre Titelstory mit dem um- Prof. Dr. Herbert Ströbel, Triesdorf (Bayern)
zu erreichen sind und warum die legale strittensten Tierhändler Deutschlands. Der
Haltungsmöglichkeit solcher Exoten im erste Abschnitt des Textes ist ohne jegliche Zur Kehrseite der Hundehaltung gehört,
Artikel nicht kritisch hinterfragt wurde. Kritik an diesem Handel, da hätte ich mir dass größere Tiere eine reale Gefahr für
Henrik Michels, Oberhausen (NRW) etwas anderes gewünscht. Menschen darstellen. In Deutschland
Detlef Mitschke, Georgsmarienhütte (Nieders.) werden durchschnittlich 50 000 Hunde-
Ein beträchtlicher Teil dieser Tiere fristet attacken pro Jahr polizeilich gemeldet.
ein jämmerliches Leben – und in den meis- Tiere sind es wert, auf dem Cover des Fünf bis zehn Menschen jährlich kommen
ten Fällen sind sich die Tierhalter*innen SPIEGEL zu sein. Was mir aber gefehlt hat: durch Hundebiss zu Tode, Hunderte wer-
dessen nicht einmal bewusst. Während der was wir Menschen den Tieren alles an- den schwer verletzt. Nicht zu vergessen
Status von Hunden und Katzen überwie- tun – Massentierhaltung, Fleischindustrie, Tausende Rehe, Hasen, Fasane et cetera,
gend der eines zwar oft verkannten, aber Tierversuche, Jagd, Waldrodung … Vor 30 die gerissen werden. Und schließlich die
halbwegs »freien« Familienmitgliedes oder Jahren veröffentlichte Peter Singer sein Hinterlassenschaft der Hunde beim Gassi-
Partnerersatzes ist, dienen die meisten Werk »Animal Liberation«. Heute ist es gehen: Viele Hundebesitzer lassen die
Kleintiere als billiges, wegsperrbares Kin- aktueller denn je. Von daher ist es ziemlich Stinkbombe einfach liegen.
derspielzeug, Vögel als pfeifende Pausen- scheinheilig, von »der Macht der Tiere« Herbert Jakob, Bad Tölz (Bayern)
clowns hinter Gittern und Reptilien als zu sprechen. Es ist eher die Machtlosigkeit
lebende Dekorationsobjekte. Zoohandel – der Tiere, ihr Ausgeliefertsein. Und ich darf das alles bezahlen!
das Tier ist zum Konsumgut geworden. Ein Natalia Kulenko, Berlin
Nr. 5/2021 Leitartikel – Warum der Bau der
Tier »einzukaufen« wie andere Dinge auch
Ostseepipeline Nord Stream 2 gestoppt
ist legal. Doch Tiere sind weder Lebensmit- Gewiss kann gerade in der Pandemie ein werden sollte
tel noch Ware. Unterstützen Sie weder Tier viel Trost spenden und Freude berei-
Züchter*innen noch Händler*innen in ih- ten. Gleichzeitig fehlt mir der kritische Nord Stream 2 sollte zu Ende gebaut wer-
ren Geschäften mit der »Ware Tier«, son- Blick auf den Wunsch, sich ein Haustier den. Nach seiner Fertigstellung kann man
dern übernehmen Sie bitte ausschließlich zu halten: Ich finde es bedenklich, dass dann Russland unter Druck setzen, indem
ein Tier aus dem Tierschutz. Nur so können wir Menschen gezüchtete Tiere in zwei man bei Nichteinhaltung von Wertevorstel-
Sie sicher sein, die oft unwürdigen Bedin- Klassen einteilen. Die »Haustiere«, die wir lungen, Unterdrucksetzung von Regime-
gungen bei »Produktion«, Transport und süß finden, und die »Nutztiere«, die wir gegnern et cetera die Abnahme von Gas
verweigert. Deutschland und das weitere Transitgebühren kassiert, raubt mir nicht Männer in den verschiedenen franziskani-
Europa haben ja noch die Alternative, Gas den Schlaf. Es geht doch vorrangig um schen Ordensgemeinschaften folgen, ohne
aus den Niederlanden, aus Norwegen oder Geld: Die Amis wollen ihr Fracking-Gas deshalb ein furchtbares Leben zu führen.
anderen Staaten zu beziehen. Durch den verkaufen, Belarus, Polen und die Ukraine Hans Otto Brans, Stolberg (NRW)
Abschluss des Projekts Nord Stream 2 kön- wollen partout nicht auf die happigen
nen wir die Machtverhältnisse umdrehen. Durchleitungsgebühren verzichten – und Schonungslose Analyse
Felix Kötting, Havixbeck (NRW) ich darf das alles über meine Heizkosten-
Nr. 4/2021 Der Autor Richard Ford über
abrechnung bezahlen!
Amerikas Zukunft unter Joe Biden
Es sollte nicht in Vergessenheit geraten, Wolfgang Schmidt, Lage/Lippe (NRW)
was der ursprüngliche Grund für den Bau Es ist wohltuend, wenn ein amerikanischer
der Nord-Stream-Pipeline war: die Ukrai- Der ganze Leitartikel ist eine Aneinander- Bürger, der nicht gerade zu den Erfolg-
ne, die mitten im Winter die Durchleitung reihung von polemischen Aussagen. Alles losen des Landes gehört, diejenigen, die
von Erdgas aus Russland nach Europa blo- lässt sich widerlegen. Ich habe den Ein- in den vergangenen vier Jahren politischen
ckiert hat, um höhere Transitgebühren zu druck, dass auch der SPIEGEL alles unter- Wahnsinn betrieben haben, als das be-
erhalten. Wie war da die Panik hier im nimmt, um unser Verhältnis zu Russland nennt, was sie waren und sind: »finstere,
Lande groß, dass im Winter plötzlich die weiter einzutrüben. Weshalb ausgerechnet durchgeknallte Mitverschwörer«, die einer
Heizungen ausgehen könnten. Nawalny unser Wohlwollen hat, erschließt »verstrahlten Sumpfkreatur« hinterherge-
Florian Mock, Lingen (Ems) sich mir nicht, da er doch ein rechtskon- hechelt sind. Gepaart mit gewählten Volks-
servativer Nationalist sein soll. Mein Trost vertretern, die wie die »Irren und Verbre-
Der Beschluss, Nord Stream 2 zu bauen, ist, dass die überwiegende Mehrheit der cher« eine demokratisch korrekt abgelau-
könnte ein Fehler gewesen sein, weil er Russen und der Deutschen eine positive fene Wahl für ungültig erklären wollten,
die Interessenlage Osteuropas ignorierte. Meinung voneinander haben. weil ihnen das Ergebnis nicht gefiel. Eine
Ein Baustopp kurz vor Fertigstellung ist Dieter Reck, Jade (Nieders.) schonungslose und treffende Analyse.
mit Sicherheit ein Fehler, weil er aller Welt Andreas Antoniuk, Heidenheim (Bad.-Württ.)
demonstrieren würde, dass es mit der Sou- Eine Frage des Respekts
veränität des vereinigten Deutschland Es gab und gibt viele Essays und State-
Nr. 4/2021 Warum ein Mann nach fast
nicht weit her ist. Darum geht es inzwi- 70 Jahren Ehe seine Frau tötete ments von Schriftstellern zur politischen
schen, ergänzt um die Frage, ob Deutsch- Situation in den USA. Aber in diesen Wor-
land bei internationalen Großprojekten Bei diesem Artikel sind mir die Tränen ge- ten spürt man endlich einmal die deutliche
vertragstreu ist. Die Zukunft wird erwei- kommen. In welcher ausweglosen Situa- Wut, die eigentlich jeder empfinden müss-
sen, ob sich die Pipeline wirtschaftlich tion muss dieser Mann gewesen sein. Ei-
trägt. Um eins geht es bei Nord Stream 2 nen Menschen umzubringen – aus Mitleid.
dass sie mit Familiennamen Assisi hieß liment auch an Herrn Heibert für die
(»Assisi war die Gründerin des Ordens«). sehr gute Übersetzung, so etwas liest man
Das ist natürlich Unsinn. Ich kenne die Le- nicht alle Tage.
bensgeschichte der Heiligen nicht, ob aber Thomas Große, Erfurt
ein Klosterleben, zumal ein selbst gewähl-
tes, im 13. Jahrhundert von »furchtbarer« Danke für eine weitere bedenkenswerte
Armut geprägt und voll des »Grauens« mahnende Stimme zur aktuellen Stim-
war, ist doch zu bezweifeln. Die in den fol- mung und Einschätzung Intellektueller in
Pipeline-Bau nahe Kingissepp genden Jahrhunderten geschriebenen Hei- den USA nach der Amtseinführung von
ligenviten helfen in der Regel nicht weiter, Präsident Biden.
noch ernst nehmen, wenn heute aufgrund da sie eher legendenhaften Charakter tra- Björn Heymer, Wetzlar (Hessen)
der allgemeinen Kritik mal einfach ein Pro- gen. Man sollte eher würdigen, dass Klara
jekt beerdigt würde, das bereits Milliarden und auch ihr berühmterer Zeitgenosse, der
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
Euro verschlungen hat, und anschließend heilige Franziskus von Assisi, nicht nur (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
weitere Milliarden an Steuergeldern als freiwillig ein entsagungsvolles Leben führ- sowie digital zu veröffentlichen und unter
Entschädigungen verbrannt würden? Dass ten, sondern auch Ordensregeln schufen, www.spiegel.de zu archivieren.
ein Herr Lukaschenko deshalb weniger denen bis heute zahlreiche Frauen und
121
Hohlspiegel Rückspiegel
Zitate
Das Wissen Die »Neue Zürcher Zeitung« zum
Interview von SPIEGEL
der Besten und »Süddeutscher Zeitung« mit
dem Filmer des Ibiza-Videos,
über das Österreichs Vizekanzler
Heinz-Christian Strache stürzte
(»Dieses Video hat mein
Aus dem »Bonner General-Anzeiger« Leben gefressen«, SPIEGEL PLUS
am 27. Januar 2021):
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